APuZAus Politik und Zeitgeschichte 62. Jahrgang · 8–9/2012 · 20. Februar 2012

Mensch und Tier

Hilal Sezgin Dürfen wir Tiere für unsere Zwecke nutzen?

Thilo Spahl Das Bein in meiner Küche

Carola Otterstedt Bedeutung des Tieres für unsere Gesellschaft

Sonja Buschka · Julia Gutjahr · Marcel Sebastian Grundlagen und Perspektiven der Human-Animal Studies

Peter Dinzelbacher Mensch und Tier in der europäischen Geschichte

Mieke Roscher Tierschutz- und Tierrechtsbewegung – ein historischer Abriss

Kathrin Voss Kampagnen der Tierrechtsorganisation PETA

Wolf-Michael Catenhusen Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung Editorial Vegetarismus ist „in“. Bücher wie „Tiere essen“ von Jonathan Safran Foer und „Anständig essen“ von Karen Duve stehen wo- chenlang in den Bestsellerlisten. Immer mehr Menschen ent- scheiden sich für eine fleischärmere oder fleischlose Ernährung; manche verzichten sogar auf alle tierischen Produkte und leben vegan. Die Motive sind vielfältig. Neben gesundheitlichen Er- wägungen oder Kritik an der Massentierhaltung – etwa an Kli- ma- und Umweltschäden, dem Leiden der Tiere, den Einbußen in der Qualität durch Zugabe von Antibiotika – stellt sich für viele die grundsätzliche Frage, ob wir Tiere für unsere Zwecke (und wenn ja, in welcher Weise) nutzen dürfen.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Menschen sich schon immer Tiere zu nutzen gemacht haben – als Nahrungsquelle, für schwere Arbeiten in der Landwirtschaft, im Krieg und bei der Jagd, als Statussymbole und zum Vergnügen, für medizi- nische Versuche, als Haustiere. Die Tierschutz- und die Tier- rechtsbewegungen haben in den vergangenen Jahrzehnten für einen Bewusstseinswandel beim Umgang mit Tieren gesorgt. So wurde der Tierschutz als Verfassungsziel ins Grundgesetz auf- genommen und in der Schweiz sogar der Verfassungsgrundsatz der Tierwürde festgeschrieben.

Die allgegenwärtige Präsenz von Tieren in unserer Gesell- schaft, die vielfältigen Beziehungen zwischen Mensch und Tier und die sich darin spiegelnden Machtverhältnisse haben im eng- lischsprachigen Raum schon seit Längerem soziologisch domi- nierte, interdisziplinär angelegte „(Human-)Animal Studies“ inspiriert. Allmählich beginnt sich dieses Forschungsfeld auch in Deutschland zu etablieren. Inwiefern seine Erkenntnisse un- ser Bild vom Tier beeinflussen oder Veränderungen im Verhält- nis von Mensch und Tier bewirken, ist offen.

Anne Seibring Hilal Sezgin ethik“ unter dieser Bezeichnung eine zeitge- nössische Debatte. Sie entstand zunächst im Kontext der englischsprachigen Philosophie in den 1970er Jahren. Selbstverständlich kann Dürfen wir sie hier nicht annähernd vollständig abgebil- det werden; vielmehr will ich Argumente und Situationen herausgreifen und zuspitzen, die Tiere für unsere uns im Alltag besonders oft begegnen, begin- nend bei der Nutzung von Tieren zu Nah- rungszwecken und bei dem Hinweis auf die Zwecke nutzen? menschliche „Natur“, mit der der Fleischver- Essay zehr oft begründet wird. Wieso Fleischessen nicht natürlich ist er nach Dürfen und Sollen fragt, bewegt Wsich im Bereich der Moral. Und das wird Wenn man fragt, warum sich Menschen be- für alle folgenden Überlegungen auch voraus- rechtigt fühlen, Tiere um ihres Fleisches wil- gesetzt: dass es Mo- len zu töten, obwohl es in unseren reichen Hilal Sezgin ral zwischen Men- industrialisierten Gesellschaften viele ande- Geb. 1970; Studium der Philo- schen gibt. Wir versu- re Möglichkeiten gibt, sich zu ernähren, hört sophie in Frankfurt am Main, chen, andere Menschen man einige Standard-Antworten immer wie- danach mehrere Jahre Autorin nicht zu schädigen, wir der: „Fressen und gefressen werden.“ „Auch im Feuilleton der Frankfurter achten ihr Eigentum, wir Menschen sind Teil der Natur, und es hat Rundschau; seit 2006 Freie ihre körperliche Un- keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen.“ – Schriftstellerin und Journalistin; versehrtheit; dürfen sie Das reine Naturwesen Mensch wird oft idea- zuletzt erschienen: „Mani- nicht töten, nicht ohne lisiert, doch wir kennen es nicht, und es taugt fest der Vielen. Deutschland Not schlagen etc. Bei nicht zur Rechtfertigung unserer kulturellen erfindet sich neu“ (2011) und Tieren scheint all das Gewohnheiten, denn zwischen uns und den „Landleben. Von einer, die hingegen völlig in Jägern und Sammlern der grauen Vorzeit lie- rauszog“ (2011). Ordnung zu sein: Wir gen Welten. www.hilalsezgin.de sperren sie ein, fügen ihnen Schmerzen zu, Frühere Menschen haben auch Artgenos- nehmen ihnen ihren Nachwuchs weg, töten sen gegessen, vor allem Gefangene anderer sie, ohne dass sie uns angegriffen hätten. Wa- Stämme; sie haben Aas verzehrt oder Res- rum? Ist das in Ordnung? te von Tieren, die von anderen Tieren geris- sen wurden. All das finden wir heute absto- Dass Menschen schon immer Tiere für ihre ßend, ästhetisch wie moralisch. Im Übrigen Zwecke eingesetzt hätten, kann dabei wohl dürfte, wer heute wirklich „natürlich“ leben kaum ein Argument sein. Menschen haben will, nicht einmal Auto oder Bus benutzen, immer Kriege geführt, hielten menschliche sondern müsste zu Fuß gehen; und zwar bar- Sklaven. Doch Gesellschaften entwickeln sich fuß. Er dürfte weder Fernsehen schauen noch weiter, unsere Moral entwickelt sich ebenfalls gedruckte Mitteilungen wie diese hier lesen, weiter, und immer deutlicher tut sich ein Zwie- denn all dies verdankt sich hochspezialisier- spalt vor uns auf: Wir haben heute mehr Mög- ten Kulturleistungen und industrialisierten lichkeiten denn je, Tiere nach unserem Gut- Herstellungsprozessen. Doch der Mensch dünken zu manipulieren und zu benutzen. kämpft nun einmal für seine Bequemlichkeit Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) wo er kann – der kalten, anstrengenden, bis- beschleicht viele die Ahnung, dass die Unter- weilen grausamen Natur setzt er die Kultur ordnung der Tiere unter den Menschen, die so der Zentralheizung, der geglätteten Straßen, lange Zeit selbstverständlich schien, auf den der Telefone und Rettungswagen entgegen. moralischen Prüfstein der Tierethik gehört. Es ist sonderbar, wenn er sich ausgerechnet in dem Moment auf die „Natur“ zurückbe- Obwohl einige Denker von der Antike sinnt, wo es wiederum der eigenen Bequem- übers Mittelalter bis in die Neuzeit Mitge- lichkeit dient – nämlich der Verteidigung des fühl für Tiere proklamiert haben, ist „Tier­ gewohnten Genusses des Fleischessens.

APuZ 8–9/2012 3 Umgekehrt sind auch die Tiere, die wir in lesen, als ob der Mensch befugt sei, Tiere nach den Industriegesellschaften heute verzehren, eigenem Gutdünken zu nutzen. ❙4 Und so hing keine reinen Naturwesen mehr in dem Sinne, das Verhältnis des Menschen zum Tier im- dass nicht der Mensch, sondern die Evolution mer davon ab, welche kosmologischen, religi- sie geschaffen hätte. Unsere heutigen Nutz- ösen oder sonstigen Mythen er darum webte. tiere sind im Gegenteil Produkte menschli- Und wie sehen wir es heute? Das Argument, cher Züchtungsanstrengungen. Diese Züch- dass der Mensch als Krone der Schöpfung tungen gehen teilweise (insbesondere bei eine Art Generalvollmacht von Gott erhalten Hühnern, Schweinen und Rindern) so weit, habe, wird im Kontext einer modernen demo- dass die Tiere allein kaum lebensfähig, nur kratischen Öffentlichkeit kaum noch jemand eingeschränkt fortpflanzungsfähig sind und vertreten. Unser Weltbild wird vom Huma- sich teilweise aus eigener Kraft nicht oder nismus, der Aufklärung und der modernen nicht ohne starke Schmerzen bewegen kön- Biologie bestimmt. Trotzdem zehren wir ins- nen. ❙1 Die Reproduktion liegt fast vollständig geheim immer noch von der Idee einer absolu- in menschlicher Hand (Rinder und Schwei- ten Vorrangstellung des Menschen, auch wenn ne werden künstlich besamt, die Hühnereier diese inzwischen eine andere, eine sozusagen maschinell ausgebrütet), dann verbringen die säkularisierte Form angenommen hat. Tiere ihr kurzes Leben in zu engen Ställen, oft ohne Tageslicht, auf Betonboden, fres- sen industriell hergestelltes Futter, werden in Was „Speziezismus“ bedeutet LKW abtransportiert und am Fließband ge- tötet. ❙2 Mit „Natur“ hat das Fleisch, das man In der Frühen Neuzeit und in der Zeit der im Supermarkt kauft, herzlich wenig zu tun. Aufklärung wurde ein vorwiegend religiös bestimmtes Weltbild von einem naturwis- Der Blick auf vorindustrielle Jägergesell- senschaftlichen abgelöst und schuf neue Er- schaften und ihre Rituale zeigt, dass das Tö- klärungsmuster für eine scharfe Trennung ten von Tieren keineswegs selbstverständlich zwischen Mensch und Tier. Die Naturwis- war, sondern jeweils im Rahmen damaliger senschaften machten rasante Fortschrit- Vorstellungswelten erklärt und gerechtfer- te und setzten ein mechanistisches Welt- tigt wurde. Laut mancher Mythen zum Bei- bild durch, in dem Organismen zunehmend spiel durfte ein Tier trotz offensichtlicher To- durch physikalische und chemische Pro- desangst und Verwandtschaft zum Menschen zesse erklärt wurden. Das Phänomen „Le- doch getötet werden, weil es sich den Men- ben“ wurde gleichsam entzaubert, und zwar schen „schenkte“; manche Stämme gingen von so weit, dass man annahm, dass Tiere nichts einer Seelenwanderung zwischen Menschen weiter als hochkomplexe Maschinen seien. und Tieren aus. ❙3 Im christlichen Mittelalter Man begeisterte sich für die Vivisektion, be- dagegen hat man Tieren den Besitz einer Seele obachtete die Funktion von Herz, Muskeln abgesprochen und die Schöpfungslehre so ge- und Nerven am aufgeschnittenen lebenden Organismus. Laut René Descartes, der seine physiologische Sammlung seine „Bibliothek“ ❙1 Für einen kurzen Überblick vgl. die Beiträge von nannte, funktioniert der tierische Körper mit Michael Erhard (Ludwig-Maximilians-Universität München), Bernhard Hörning (Hochschule Ebers- all seinen Nervenimpulsen und Aktionen wie walde) und Lars Schrader (Friedrich-Löffler-Insti- ein Uhrwerk oder ein anderer Automat. Das tut) bei einem von Bündnis 90/Die Grünen initiierten Erbe solcher Vorstellungen findet sich bis in Fachgespräch am 23. Mai 2011, online: www.gruene- die Verhaltensbiologie der ersten Hälfte des bundestag.de/cms/tierschutz/dok/​384/​384370.wenn_ 20. Jahrhunderts wieder, in der das Tier als [email protected] (17. 1. 2012). ❙2 spricht daher vom „tierindustriel- len Komplex“, vgl. Barbara Noske, Die Entfremdung ❙4 Es bestehen begründete Zweifel, ob diese schlich- der Lebewesen: Die Ausbeutung im tierindustriellen te Lesart biblischer Texte theologisch angemessen ist. Komplex und die gesellschaftlichen Konstruktionen Vgl. u. a. Karl-Josef Kuschel, Juden, Christen, Musli- von Speziesgrenzen, Wien–Mülheim/R. 2008; ich me. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, S. 235– selbst habe es an anderer Stelle „Die Frankenstein- 243. Für ein modernes jüdisches Verständnis des Ve- Industrie“ genannt, vgl. Hilal Sezgin, Die Franken- ganismus vgl. Hanna Rheinz, Zwischen Streichelzoo stein-Industrie, in: Le Monde Diplomatique, (2011) und Schlachthof. Über das ambivalente Verhältnis 10, S. 33–37. zwischen Mensch und Tier, München 2011. Für den ❙3 Vgl. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kul- Islam vgl. Richard C. Foltz, Animals in Islamic Tra- tur, Berlin 2011. ditions and Muslim Cultures, Oxford 2006.

4 APuZ 8–9/2012 von „blinden Instinkten gesteuert“ galt. ❙5 Je zu reden? Aber ein ausgewachsenes Pferd nach Terminologie galt und gilt der Mensch oder ein Hund sind unvergleichlich vernünf- im Unterschied dazu als mit einer Seele, mit tigere sowie mitteilsamere Tiere als ein einen Vernunft oder mit einem freien Willen ausge- Tag, eine Woche, oder gar einen Monat alter stattet. Der freie, willentliche Gebrauch der Säugling. Aber angenommen dies wäre nicht Vernunft wurde seit der Aufklärung zum be- so, was würde das ausmachen? Die Frage ist deutendsten Unterscheidungsmerkmal zwi- nicht ‚Können sie denken?‘ oder ‚Können sie schen Mensch und Tier. Die Moralphiloso- reden?‘, sondern ‚Können sie leiden?‘.“ ❙6 phie Immanuel Kants beispielsweise, die bis heute das kontinental-europäische Nachden- Gewiss sind die allermeisten Tiere keine ken über Moral prägt, leitet Moral allein aus autonomen Personen wie gesunde erwachse- der Vernunftbegabung des Menschen ab. ne Menschen, die miteinander über Gott und die Welt diskutieren, sich zwischen Partei- Dieselben Aufklärer, die damals die Idee ei- programmen entscheiden und Autos steuern ner Republik proklamierten, sahen allerdings können; dies ist zwar ein Grund, Tieren kein erst viel später ein, dass Freiheit auch für die Wahlrecht und keine Führerscheine zuzubilli- Sklaven aus und in den Kolonien zu gelten gen, nicht aber, ihnen gleich jede andere Form habe; auch Frauen waren von dem Postulat von Selbstbestimmung abzusprechen. Und der Freiheit lange ausgeschlossen (angeblich gewiss trifft ein Mensch im Vollbesitz seiner besaßen sie weniger Vernunft). Und dass diese Kräfte mehr und flexiblere Entscheidungen früheren Verfechter der Gleichheit und Ge- als eine Ratte – aber wenn die Empfindungen rechtigkeit Tiere erst recht außen vor ließen, beider so ähnlich sind, dass man die eine Spe- kann man ihnen in gewisser Weise nicht vor- zies zum Wohle der Anderen qualvollen Ver- werfen: Sie waren damit beschäftigt, die mo- suchen unterzieht, muss man sie dann nicht narchische Herrschaftsform durch die demo- auch moralisch annähernd gleich gewichten? kratische abzulösen, revolutionär genug! Es ist widersinnig, bei Laborratten Gefühle wie Depressionen, Angst, Stress zu provozie- Von heute aus gesehen muss man allerdings ren, um an ihnen entsprechende Psychophar- fragen, ob der kategorische Ausschluss von maka zu testen – im selben Atemzug aber zu Tieren nicht ähnlich beschränkt ist wie sei- behaupten, dass diese Angst, dieser Stress und nerzeit der von Sklaven und Frauen. Genau diese Depressionen, kurz: das gesamte Innen- das ist mit dem Begriff „Speziezismus“ ge- leben der Ratte verglichen mit dem des Men- meint, mit dem Tierrechtler seit Mitte der schen nicht ins Gewicht falle. 1970er die ungerechtfertigte Bevorzugung der menschlichen Spezies gegenüber anderen Der medizinische Nutzen von Tierversu- Tierarten bezeichnen; die Ausbeutung und chen sei einmal dahingestellt; ❙7 jedenfalls be- Rechtlosigkeit von nicht-menschlichen Tie- haupten die Befürworter von Tierversuchen ren ähnele in ihrer (Un-)Logik dem Rassis- nicht etwa, dass die Interessen von Tieren da- mus und Sexismus. Den moralischen Kern- bei überhaupt nicht in Betracht gezogen wer- gedanken, dass die Ähnlichkeit mit uns den müssten. Nur gilt bisher: Wo immer das Menschen genau besehen keinen Grund lie- Interesse eines Menschen gegen das von egal fert, ein Lebewesen besser oder schlechter zu wie vielen Tieren steht, die zudem egal wel- behandeln als ein anderes, hat bereits Jeremy che entsetzlichen Qualen zu durchleiden ha- Bentham 1828 in einer berühmten Fußno- ben, scheint bisher das des Menschen die an- te formuliert: „Es mag der Tag kommen, an deren zu übertrumpfen. Doch warum? Wenn dem man begreift, dass die Anzahl der Bei- es nicht Gott war, der uns Menschen erlaubt ne, die Behaarung der Haut oder das Ende hat, mit dem Tierreich anzustellen, was uns des Kreuzbeins gleichermaßen ungenügen- beliebt, wenn Tiere mehr sind als Maschinen, de Argumente sind, um ein empfindendes und wenn das Recht des höheren IQ mora- Wesen dem gleichen Schicksal zu überlas- sen. Warum soll sonst die unüberwindbare 6 Grenze gerade hier liegen? Ist es die Fähig- ❙ , An Introduction to the Princip- keit zu denken oder vielleicht die Fähigkeit les of Morals and Legislation, London 1823 (zuerst: 1789), S. 235. ❙7 Vgl. Corina Gericke, Was Sie schon immer über ❙5 Vgl. Jean-Claude Wolff, Tierethik. Neue Perspek- Tierversuche wissen wollten. Ein Blick hinter die tiven für Menschen und Tiere, Erlangen 20052. Kulissen, Göttingen 2011.

APuZ 8–9/2012 5 lisch genauso wenig überzeugend ist wie das Empfindungen sozusagen aus Innensicht der Recht des Stärkeren – dann dürfen die Inte- Pflanzen oder Bakterien entsprechen würden. ressen des Menschen nicht immer Vorrang haben, nur weil sie eben menschlich sind. Um den Kerngedanken mit den Worten un- terschiedlicher Philosophen wiederzugeben: Entscheidend für die moralische Berücksichti- Welche Tiere – wofür berücksichtigen? gung ist, dass das Wesen über eine Art von „In- nenleben“ verfügt, wie Johann S. Ach meint; Bis hierher sind wir in der Argumentation oder dass „es ihnen gut oder schlecht gehen vorwiegend negativ verfahren, haben also die kann bzw. insofern sie nach ihrem subjektiven Gründe betrachtet, weswegen Tiere traditio- Wohl streben“ – so schreibt Ursula Wolf. Tho- nell nicht oder kaum bei moralischen Über- mas Nagl formulierte einmal, es gehe um We- legungen in Betracht gezogen oder, wie es in sen, für die es „irgendwie ist, dieser Organis- der Philosophie heißt: moralisch berücksich- mus zu sein“. ❙9 Anders ausgedrückt: Wenn ich tigt werden. Diese Argumentation ex negativo die andere Entität schädige (und man kann ge- ist in der Tierethik ein klassisches Verfahren. wiss auch Pflanzen, ja sogar Maschinen oder Man „erspart“ sich sozusagen die Diskussion, Steine schädigen oder zerstören), ist die ent- warum es Moral überhaupt gibt, und dreht die scheidende Frage: Macht es diesem Gegen- Sachlage um: Wenn wir keine überzeugenden über etwas aus? Existiert ein „Jemand“ oder Gründe finden, Tiere auszuschließen, müssen ein „Etwas“, das meine Handlungen und de- wir wohl auch ihnen einen Platz in unserem ren Effekte spürt oder für das die Zerstörung moralischen Handeln einräumen. – Was ist auch subjektiv einen Unterschied macht? denn nun das positive Merkmal, also die not- wendige Basis für moralische Rücksicht (auf Nun ist das Tierreich groß, und man kann Tiere wie auf Menschen)? sich fragen, ob denn mit „Tieren“ wirklich alle Spezies gemeint sind. Viele Menschen, zumal In dem Zitat von Jeremy Bentham wur- mit christlich geprägtem Hintergrund, zie- de das relevante Merkmal bereits angespro- hen eine Grenze zwischen Säugetieren und chen: Es besteht nicht in Intelligenz oder im Fischen (nennen sich selbst beispielsweise Besitz einer (menschlichen) Sprache, sondern Vegetarier, die Fisch äßen); eine Unterschei- in der Leidens- oder Empfindungsfähigkeit. dung, für deren moralische Relevanz es keine Zwar ist anzunehmen, dass höhere Intelligenz Gründe gibt. Nach derzeitigem biologischen und Sprachbesitz Gefühle und Bewusstsein Wissen ist das Vorhandensein eines zentralen formen; aus diesem Grund wissen wir nicht, Nervensystems ein hinreichender Grund für wie es sich anfühlt, ein „Ich“ ohne sprachlich die Annahme, dass wir es mit einem solchen verfasste Gedanken zu sein. ❙8 Das heißt aber empfindungsfähigen Wesen zu tun haben, nicht, dass Tierarten ohne (menschliche) Spra- also bei allen Wirbeltieren, sprich Säugetieren, che kein Bewusstsein und keine Gefühle hät- Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien. ten. Tiere sind empfindungsfähige Lebewe- sen, die Bewusstseinszustände wie Schmerz, Darüber hinaus besitzen aber auch weite- Angst, Lust, Befriedigung haben und ihre re Tiere Nerven und sogar zentralisierte Ner- Aktionen entsprechend ausrichten. Biologi- vensysteme. Das europäische Tierschutzge- sche Grundlage dafür sind Nerven, die Wahr- setz hebt daher aus der Masse der wirbellosen nehmungen generieren und weiterleiten und Tiere zwei Ordnungen heraus, nämlich Ce- unter Umständen die Bewegung von Muskeln phalopoden (Kopffüßer, also zum Beispiel steuern. Zwar wissen wir auch von Pflanzen Tintenfische) und Dekapoden (Schalenkreb- und Bakterien, dass sie auf Außenreize „re- se). Und natürlich besitzen auch Weichtiere agieren“, diese mithin auch „wahrnehmen“ und Insekten Nerven und mentale und sozi- können; doch sind diese Begriffe hier in An- ale Fähigkeiten. Wer E. O. Wilsons Ameisen- führungszeichen gesetzt, weil es bisher kei- Studien liest oder den Bericht der Biologin ne Grundlage für die Annahme gibt, dass Elisabeth Tova Bailey, die während jahre- den Reizen der Außenwelt auch subjektive langer Krankheit vom Bett aus täglich eine

❙8 Zur Diskussion um Geist und Innenleben der Tie- ❙9 Vgl. Johann S. Ach, Warum man Lassie nicht quä- re vgl. z. B. Markus Wild, Tierphilosophie zur Ein- len darf. Tierversuche und moralischer Individualis- führung, Hamburg 2008. mus, Erlangen 1999, bes. S. 48 ff.

6 APuZ 8–9/2012 Schnecke beobachtete, ❙10 wird sich schwer tun nach allem, was oben gesagt wurde, auch für mit der kategorischen Behauptung, diese Tie- Tiere. Dass es allerdings überhaupt Leid gibt re würden nichts fühlen. Wenn sie aber füh- auf der Welt, und Krankheit und Tod, können len – inwieweit sind sie sich dessen bewusst? wir nicht ändern, und dies zu ändern ist auch Bilden sie zukunftsbezogene Intentionen, nicht unsere moralische Pflicht. Wir kommen verfolgen sie Wünsche, oder reagieren sie nur hier paradoxerweise wieder auf den Gedan- auf Lust- und Unlust-Empfindungen? ken der Natürlichkeit zurück, mit dem dieser Text begann und den wir dort so vehement Zugegeben, in diesem Bereich fällt es zuneh- zurückwiesen. In einer einzigen, ganz be- mend schwer, anhand von Analogie- und Plau- stimmten Form hat dieser Gedanke nämlich sibilitätsüberlegungen eine scharfe Grenze an- seine Berechtigung: Es wird immer Leid ge- zugeben, wo subjektive Wahrnehmung vorliegt ben in dieser Welt, und jeder von uns wird da- und wo nicht. Wichtig ist festzuhalten: Zu den ran beteiligt sein. Jemand verliebt sich in uns, empfindungsfähigen und damit berücksichti- wir können seine Gefühle nicht erwidern. genswerten Wesen zählen auf jeden Fall sämt- Wir machen einen Spaziergang und treten auf liche Wirbeltiere plus Cephalopoden und De- einen Käfer. Wir bauen ein Haus und vertrei- kapoden. Es kann allerdings sein, dass wir bald ben Maus und Maulwurf, wir bewerben uns entweder biologische oder moralische Grün- erfolgreich um einen Job, und ein anderer de finden werden, warum wir auch Insekten, wird unglücklich sein, ihn nicht zu bekom- Schnecken und weitere Tiere voll berücksich- men. Daran lässt sich leider wenig ändern. tigen müssten. Bis dahin sollten wir zumindest „vorsichtig“ mit ihnen umgehen, also sie nicht Und so kommen wir immer wieder in die quälen oder ohne Not schädigen. Situation, Leid zufügen zu müssen, weil un- ser elementares Interesse gegen das eines An- deren steht. Nun gibt in meinen Augen nur ei- Interessen, Wohl nen denkbaren Grund, warum wir Menschen und Wünsche fair abwägen in solchen Fällen eventuell gegenüber Tieren bevorzugen dürften, nämlich sozusagen auf- Es war bereits so oft von „Quälen“ oder „Schä- grund von Nähe oder Verwandtschaft. ❙11 Auch digen“ die Rede, dass eine grundsätzliche Be- den eigenen Familienangehörigen gegenüber merkung notwendig ist: Bei der moralischen haben wir ja mehr Pflichten als gegenüber ei- Bewertung machen wir im Allgemeinen einen nem völlig Fremden. Gestehen wir zu, in ähn- großen Unterschied zwischen dem aktiven Zu- licher Weise sei der Mensch allen Menschen fügen von Leid und dem bloßen Geschehen- verwandt und dürfe seine Artgenossen den Lassen von unverschuldetem Leiden. Erste- Tieren gegenüber im Konfliktfall bevorzugen. res wiegt moralisch ungleich schwerer. So sind wir zwar in Notsituationen, zum Beispiel bei Aber dieses Recht zur Bevorzugung gilt einem Unfall, verpflichtet zu helfen; doch wir eben nicht unbegrenzt, nicht maßlos. Nach müssen nicht überall herumlaufen und jedem allem, was wir oben über die Pflicht zur mo- Menschen (und Tier) jeden Wunsch erfüllen. ralischen Berücksichtigung von Tieren ge- Subjektives Leid dagegen, das wir einem ande- sagt haben, kommt es nicht bereits zum ren Wesen zufügen, ist per se erklärungs- be- Zuge, wenn ein geringfügiges menschliches ziehungsweise rechtfertigungsbedürftig. An Interesse gegen das vitale Interesse von Tie- einem etwas plakativen Beispiel: Wir müssen ren steht. Das Recht zur Bevorzugung von nicht jedem Kind, das Lust auf Erdbeereis hat, Menschen gegenüber Tieren ist auf drastische eines spendieren; doch einem Kind, das an sei- Interessenkonflikte beschränkt, wenn also nem Eis leckt, dürfen wir dieses nicht wegneh- ein vitales Interesse gegen ein anderes steht. men. Moralphilosophen sprechen von „positi- Noch weiter eingeschränkt wird die Bevor- ven“ versus „negativen“ Pflichten. zugung durch die obige Unterscheidung zwi- schen positiven und negativen Pflichten. Außer in Notwehr dürfen wir nieman- den schlagen, verletzen oder töten; und diese ❙11 grundsätzlichen negativen Pflichten gelten Besser noch sollte man den Kontext der Verant- wortung heranziehen. Trotz ihres kontextbasierten Ansatzes gelangt keineswegs zu einer ❙10 Elisabeth Tova Bailey, Das Geräusch einer Schne- generellen Bevorzugung des Menschen, vgl. Clare cke beim Essen, Berlin 2012. Palmer, Animal in Context, New York 2010.

APuZ 8–9/2012 7 Buchstabieren wir diese abstrakten Über- Dürfen wir Tiere nutzen? legungen einmal an zwei Beispielen aus, das erste sei die Milchwirtschaft. Milchkü- Wagen wir abschließend noch eine Antwort he sind so stark auf Leistung gezüchtet, dass auf die sehr grundsätzliche Ausgangsfrage: ihr Skelett Schaden nimmt; damit der Milch- Dürfen wir Tiere für unsere Zwecke nutzen? fluss nicht zum Stocken kommt, müssen sie Ich habe argumentiert, dass wir Tiere mora- immer wieder neu trächtig gemacht werden, lisch berücksichtigen müssen, insofern sie ihre Lebensspanne ist dadurch von früher 20, Empfindungen, Wünsche und ein individuel- 30 Jahren auf fünf, sechs Jahre verkürzt. Das les Wohl besitzen; und dass wir darüber hinaus Kalb, das ja die Muttermilch nicht trinken keine guten Gründe besitzen (etwa: das Tier darf, kommt nach der Geburt in eine Kunst- als Maschine, der Mensch als die Krone der stoffhütte; seine Bewegungsfreiheit ist einge- Schöpfung, das Recht des Intelligenteren), tie- schränkt, und die Mutter schreit in den ers- rische Interessen per se den menschlichen ein- ten Tagen nach ihrem Kalb. Kurz gesagt: Die fach unterzuordnen. Insofern lautet die Ant- beteiligten Tiere sind deutlichen körperli- wort auf die Ausgangsfrage zunächst: nein. chen wie psychischen Schmerzen ausgesetzt und in ihrem artgemäßen Leben ❙12 stark ein- Dann aber wurde eingeräumt, dass es Fälle geschränkt; unser Genuss durch Milchkaffee, von drastischen Interessenkonflikten geben Joghurt und Pudding wiegt dies nicht auf. kann, in denen vitale (!) menschliche Interes- sen gegenüber tierischen bevorzugt werden Nehmen wir als zweites Beispiel einen me- dürften. Dann hieße die Antwort: in wenigen dizinischen Tierversuch, der, hypothetisch, Fällen, ja. in der Lage wäre, uns Krankheiten zu erspa- ren. Weil es eben um ganz vitale Interessen Doch auf die bei Weitem meisten Fälle, in von Menschen geht, könnte dies womöglich denen wir Tiere nutzen, trifft dies nicht zu. der seltene Fall sein, in dem die Nutzung von Es trifft nicht auf die Vorabendserie mit dres- Tieren gerechtfertigt wäre – doch auch er ist es sierten Schimpansen zu und nicht für das bei genauerem Hinsehen nicht. Zunächst ein- von der Mutter isolierte Kalb, nicht für den mal werden Tiere dafür eines eigenen artgemä- lebendig zu Tode gekochten Hummer und ßen Lebens komplett beraubt, werden in engen nicht einmal für die Millionen von „Krebs- sterilen Käfigen gehalten, haben keine Sozial- mäusen“, die laut dem Krebsforscher Ri- kontakte etc. Außerdem müssen wir, um das chard Klausner geholfen haben, herauszufin- Leid der menschlichen Krankheit zu minimie- den, „wie man Krebs bei Mäusen heilt“, nicht ren, Tieren in der Forschung ein Vielfaches die- aber bei Menschen. ❙13 Zudem müssen wir be- ses Leids aktiv zufügen. Und schließlich „ver- rücksichtigen, dass es moralisch viel schwe- brauchen“ wir dabei ein Etliches an Tieren. Im rer wiegt, Leid aktiv zuzufügen, als welches Grunde ist die Überlegung ähnlich wie bei der (zum Beispiel durch Alter oder Krankheit) Ablehnung der Folter: Darf man etwa einen geschehen zu lassen. Doch eine Situation, Unschuldigen foltern, um zehn andere zu ret- in der wenige Tiere nur unter geringfügigen ten? Wenn nein, dann vielleicht, um 100 andere Einbußen zu leiden hätten, um ähnlich vie- zu retten? Doch im Fall der Tierversuche ver- len oder mehr Menschen starkes Leid zu er- halten sich die Zahlen sogar genau umgekehrt: sparen, kommt in der Praxis nicht vor und ist Dürfen wir tausend Unschuldige foltern, um auch mit etwas Fantasie schwer zu konstru- eventuell einen Anderen, der uns persönlich ieren. Insofern gelangen wir zur ersten Ant- näher steht, zu retten? Mit Sicherheit nicht. wort zurück. In Notsituationen dürfen wir uns gegen Tiere zur Wehr setzen, wir müs- sen auch nicht alle oder überhaupt irgendwel- ❙12 Mit „artgemäßem Leben“ ist nicht das Werbeprä- dikat auf Supermarkt-Etiketten gemeint. Für eine che Tiere lieben, aber: Nein, wir dürfen Tiere philosophisch anspruchsvolle Konzeption menschli- nicht nutzen. chen und tierischen guten Lebens vgl. Martha Nuss- baum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2010. Ich gehe hier aber von der „schlankeren“ Alltagsin- tuition aus, mit der basale Dinge wie ausreichendes ❙13 Richard Klausner, zit. nach: C. Gericke (Anm. 7), und gesundes Futter, Freiheit der Bewegung, soziale S. 71. Kontakte, Freisein von permanenten Schmerzen etc. gemeint sind.

8 APuZ 8–9/2012 Thilo Spahl rismus hat in den vergangenen Jahren wach- senden Raum in öffentlichen Debatten bean- sprucht. Das in den 1970er Jahren entwickelte Das Bein in Konzept von Tierrechten scheint endlich in Küchen, Kantinen und Feuilletons angekom- men zu sein. Dabei ist der Verzicht auf Fleisch, ­meiner Küche wenn er mehr sein will als eine individuelle Geschmacksfrage oder vermeintliche Darm- krebsprävention, eine durchaus komplizierte Essay Angelegenheit. Der Tübinger Neuropsycho- loge Boris Kotchoubey fasst kurz die Ver- ch gehöre zur großen Mehrheit der Super- wirrung zusammen, die entsteht, wenn man Imarktkäufer, die Fleisch in kleinen, fertig versucht, die Tierrechtsdebatte in politischen verpackten Einheiten erwerben, welche ei- Kategorien zu fassen. Er schreibt: „Einerseits nen nicht dazu auf- steht rechts die konservative Kirche, allen vo- Thilo Spahl fordern, an die leben- ran die verhassten Evangelikalen, die jegliche Dipl.-Psych., geb. 1966; Wissen- dige Quelle der Nah- Ähnlichkeit des Menschen als Abbild Gottes schaftsautor und Redakteur der rung zu denken. Sogar mit niederen Geschöpfen leugnen, denen ge- Zeitschrift „Novo ­Argumente“; ein komplettes Tier, genüber auf der guten, linken Seite die Na- Novo Argumente Verlag ein kleiner Hahn, hat turwissenschaft als die Kraft des Fortschrit- GmbH, Postfach 600 843, in seiner Plastikbox, tes steht, die uns schwarz auf weiß beweist, 60338 ­Frankfurt/Main. die umgehend in den dass jeder von uns nichts anderes ist als ein thilo.spahl@ Kühlschrank wandert, haarloser Schimpanse. Andererseits steht ge- novo-argumente.com etwas Abstraktes, und nau umgekehrt rechts die ‚Biologisierung‘, die lässt einen unberührt. den Menschen von seinem Erbgut determi- Vor Weihnachten gibt es jedoch, selbst in den niert sieht, deren Position direkt an Rassismus Discountern, Teile von Tieren, die etwas Vor- grenzt und Assoziationen mit der Praxis des nehmes haben und uns als besonderer Genuss Nationalsozialismus weckt, während links die für die Feiertage angeboten werden. So kam es, postmoderne Auffassung vom Menschen als dass ich in den Besitz eines Serrano-Schinkens sozialhistorischem und daher sich immer in gelangte, also eines Beins vom Schwein samt Veränderung befindendem Wesen steht ­Sartre:( Huf, das ich umgehend mit Hilfe des mitgelie- ‚Der Mensch hat keine Natur.‘).“ ❙1 Dass die po- ferten Gestells in der Küche installierte. Nach litische Verortung nicht recht glücken will, hat Entfernen der Plastikfolien wickelte ich wie- einen einfachen Grund. Der Aufstieg des „Ve- der die dekorative rot-grün-gelbe Kordel um getarismus zum allgemeinen Stilvorbild“ ❙2 ist den Huf, schnitt den Schinken an, kostete und erst durch eine wachsende Entpolitisierung war zufrieden. In den nächsten Tagen konn- und Moralisierung gesellschaftlicher Debat- te ich an mir ein Gefühl beobachten. Es kam ten möglich geworden. auf, wenn ich das Bein betrachtete. Es war kein Gefühl des Ekels, kein Schuldgefühl, sondern Mit Tieren hatte Politik bis vor Kurzem etwas Positives. Ich vermute, dass ich es als nichts zu tun. Als 1975 sein Buch Derivat eines Instinktes einzustufen habe, der „“ veröffentlichte, lockte den Prozess der Zivilisation überstanden hat- die Idee der „Befreiung der Tiere“ keine Kat- te. Ich erfreute mich am erlegten Bein, das ich ze hinter dem Ofen vor. „Amerika hatte ge- in Wirklichkeit nur gekauft hatte. Auch meine rade den schwarzen Bürgern das Wahlrecht Kinder, neun und elf Jahre alt, schnitten sich zugestanden, nationale Befreiungskämpfe mit Vergnügen und erkennbar ohne Schuld- entbrannten überall auf der Welt, und Frau- bewusstsein schöne Schinkenscheiben ab. en verbrannten ihre BHs. Die Gleichheit aller Die Beobachtung führt zur Frage: Ist Familie Menschen hatte Vorrang. Niemandem lag et- Spahl moralisch noch auf der Höhe der Zeit? was daran, die Lebensbedingungen der Go-

❙1 Boris Kotchoubey, Yes, we can, and they cannot, Politische Nahrung in: NovoArgumente, 104 (2010) 1–2, S. 58–60. ❙2 Thomas Thiel, Das Blickregime durchbrechen, in: Die Frage der richtigen Ernährung und dabei Frank­furter Allgemeine Zeitung vom 26. 11. 2011, auch der moralische Stellenwert des Vegeta- S. L24.

APuZ 8–9/2012 9 rillas im westafrikanischen Dschungel zu Warum sollte die Erkenntnis enger biolo- verbessern“, schreibt die britische Bürger- gischer Verwandtschaft davon abhalten? – rechtlerin Josie Appleton. ❙3 so lautet die Gegenfrage. Der Philosoph Otfried Höffe beantwortet sie: „Daraus zu Warum ist das heute anders? Wie kommt es, folgern, Menschen teilten mit Mäusen 95 %, dass sich heute Pfarrer, Popstars, Literaturkri- mit Schimpansen sogar 98 % des geistigen tiker, Feministen und Politiker aller Parteien Lebens, wäre (…) methodisch ein offensicht- fürs Tier engagieren? Zum einen liegt es sicher licher Fehlschluss und widerspräche aller an der Schwäche der alten Argumente. In der Erfahrung. Die auf den ersten Blick überra- Tat liefern weder Gott noch Natur eine Legi- schend enge genetische Übereinstimmung ist timierung menschlicher Superiorität. Der na- kein Argument für eine auch nur annähernd turalistische Fehlschluss, wonach nichts des- enge kognitive Verwandtschaft.“ ❙5 Wenn die halb gut ist, weil es natürlich ist, gilt auch für Literaturkritikerin Radisch dem entgegen- die Beziehung von Mensch und Tier. Ob der hält, „abgesehen von den kognitiven Fähig- Mensch „von Natur aus“ Fleisch- oder Pflan- keiten“ seien „Tiere genauso Menschen wie zen- oder Allesfresser ist, ist wissenschaftlich Menschen umgekehrt Tiere sind“, so kann zu beantworten, aber hier irrelevant. Ebenso man das vielleicht am besten als trotzig be- irrelevant wie jede menschliche Interpretati- zeichnen. Und ergänzen: Abgesehen vom In- on eines „göttlichen“ Willens, der besagt, der halt sind Telefonbücher genauso Romane wie Mensch solle sich die Natur untertan machen. umgekehrt Romane Telefonbücher sind. Zum anderen haben wir es aber auch mit einer sehr bedenklichen Tendenz zu tun: der wach- Warum ist das so? Warum sind wir und die senden Geringschätzung des Menschen und Tiere so gleich und doch so anders? Weil Bio- der Apotheose der Natur. Heute ist vielen logie eben nicht alles ist. Der Mensch zeich- die Natur als solche das Gute, der menschli- net sich dadurch aus, dass er, im Zuge der che Eingriff in die Natur das Problematische. Menschwerdung, aus der rein biologischen Vor dem Hintergrund dieser neuen Natur- Evolution ausgeschert und ins Reich der Kul- verehrung ist der gute alte Tierschutz politi- tur eingetreten ist. Wir haben uns in Jahrtau- siert worden. Es geht nicht mehr nur um das senden vom Affen biologisch kaum, aber kul- Wohl des Tieres, es geht nun auch darum, den turell ganz gewaltig entfernt. Wie genau der Menschen in die Grenzen zu weisen. Daher Schritt ausgesehen hat, mit dem wir die biolo- der Angriff auf die Sonderstellung als „Krone gische Laufbahn verlassen haben, ist letztlich der Schöpfung“. nicht entscheidend. Viele Forscher sind heu- te mit dem Entwicklungspsychologen Mi- chael Tomasello der Auffassung, dass es die Menschen sind auch Tiere. aufmerksamkeitsheischende Geste als kom- Sind sie auch nur Tiere? munikatives Grundwerkzeug echter Koope- ration war, die es uns erlaubt hat, die biolo- Argumentative Schützenhilfe zum Sturz des gische Schwerkraft zu überwinden und das Menschen lieferte vor allem die Genomfor- Tierreich unter uns zu lassen. Entscheidend schung, die uns Anfang des Jahrtausends ist, dass wir, offensichtlich, über das tierische zeigte, dass wir auf der Ebene unseres Erb- Dasein hinausgewachsen sind. Menschen guts sehr weitgehend mit anderen Säugetieren sind in erster Linie Kulturwesen. übereinstimmen. „Was für ein Hochmut!“, ruft „Die Zeit“-Redakteurin Iris Radisch aus. „Ein paar minimale Unterschiede im ge- Fähigkeit zur Vermenschlichung netischen Code sollen uns dazu berechtigen, unsere nahen Verwandten, die Kühe, Schwei- Neben der biologistischen Reduktion des ne, Pferde und Schafe, essen zu dürfen?“ ❙4 Menschen auf seinen Säugetierkörper lebt die Debatte vor allem umgekehrt von der Ver- ❙3 Josie Appleton, : a beastly concept. Why menschlichung des Tieres, dem Anthropo- it is morally right to use animals to our ends, 2 3 . 2 . ​ morphismus, der auf der genuin menschlichen 2006, online: www.spiked-online.com/index. ​p h p /site/ a r t i c l e / ​1 3 3 / (17. 1. 2012). ❙4 Iris Radisch, Tiere sind auch nur Menschen, in: ❙5 Otfried Höffe, Wie stark ähneln wir unseren Die Zeit, Nr. 33 vom 12. 8. 2010, online: www.zeit.de/​ biologischen Verwandten?, in: Merkur, 731 (2010), 2010/​33/Vegetarismus-Essay (17. 1. 2012). S. 331–336.

10 APuZ 8–9/2012 Fähigkeit beruht, sich das Tier als Mensch der Pflanzen“ zu den „Geheimnissen des Le- vorzustellen. Das ist im Kinderbuch ein schö- bens“ gehöre, die „im Dunkeln“ blieben. Und nes Stilmittel, welches erlaubt, Fragen des was ist mit dem Stein, der uns an Härte, und menschlichen (!) Zusammenlebens anhand dem Erdöl, das uns an Brennwert übertrifft? der Abenteuer nichtmenschlicher Fabelwesen zu erörtern. Es wird aber dann zum Problem, wenn im wirklichen Leben das Tier zum Men- Jeder kennt den Unterschied schen (der etwas anderen Art) erklärt wird. Der nachgerade schrullige Anthropomor- Um die Gleichsetzung von Mensch und Tier phismus, der uns erklärt, Tiere seien „nur an- zu begründen, nutzt die Tierrechtsphilosophie ders schlau“ als wir, birgt gefährlichen Relati- als alternatives Legitimationsinstrument ne- vismus. Radisch versucht, uns zu überzeugen, ben dem DNA-Biologismus eine Spielart des dass es keine nennenswerten Unterschiede Essentialismus, die besagt, solange man die Es- gibt, nur die Begabungen eben interindivi- senz des Menschlichen nicht zweifelsfrei be- duell ein wenig variieren: „Die Unterschiede, stimmen könne, gebe es keine Trennlinie zwi- die zwischen uns und ihnen bestehen bleiben, schen Mensch und Tier, womit gleichsam die sind nur gradueller, aber keineswegs prinzi- Unterschiede irrelevant seien. Damit gelangen pieller Natur.“ ❙6 Mehr noch: In vielem seien wir dann zum Glaubensbekenntnis der Grün- die Tiere uns sogar weit überlegen: „Der Seh-, derin der Tierrechtsorganisation PETA, Ingrid Hör- und Tastsinn ist bei den meisten Säuge- Newkirk: „Eine Ratte ist ein Schwein ist ein tieren höher entwickelt als bei uns. Vom ge- Hund ist ein Junge. Sie sind alle Säugetiere.“ ❙8 nialen tierischen Navigationssystem, von den Feinheiten der Brutpflege, der beneidens- Letztlich ist bei aller Begeisterung für das werten animalischen Work-Life-Balance, der Tier jedoch jedem, der sich damit beschäftigt, Schönheit und Eleganz der Bewegung, dem vollkommen klar, dass Mensch und Tier in un- bewundernswert genügsamen Lebensstil der terschiedlichen Ligen spielen. Wenn Tierfor- Tiere gar nicht erst zu reden.“ ❙7 scher „intelligentes“ Verhalten beschreiben, legen sie ganz selbstverständlich zwei verschie- Wer einmal ernsthaft (oder doch lieber dene Maßstäbe an. Ein Beispiel: „Ein A ffe spitz- spaßhaft) versucht, sich die „beneidenswerte te einen Stock zu und stocherte dann damit in Work-Life-Balance“ der glücklichen Kuh auf Baumhöhlen. Die ersten beiden Höhlen waren der Alm vorzustellen (Arbeit gleich Grasen anscheinend leer, doch aus dem dritten zog er und Leben gleich Wiederkäuen, oder vielleicht einen aufgespießten Galago, auch Buschbaby umgekehrt?), dem dürften Zweifel kommen, genannt, einen kleinen Halbaffen. Ähnlich raf- ob hier noch alles mit rechten Dingen zugeht, finiertes Verhalten kannte man bis dahin nur oder „Die Zeit“-Redakteurin uns vielleicht beim Menschen.“ ❙9 Seien wir ehrlich. Würden doch eine Satire unterzuschieben versucht. wir einen Menschen als „raffiniert“ bezeich- Man möchte fragen, wo der Unterschied zwi- nen, weil er oder sie in Baumlöchern nach klei- schen dem genügsamen Lebensstil der Kuh nen Äffchen stochert, um sie umzubringen? und dem eines Audi A2 liegt. Man möchte fra- gen, welche Rechte wir aus den genialen Na- Im wirklichen Leben käme niemand auf die vigationsfähigkeiten unseres GPS-Systems für Idee, den Unterschied zwischen Mensch und das kleine Gerät ableiten sollen. Man möchte Tier zu ignorieren oder auch nur eine Sekun- sie auffordern, darüber zu spekulieren, welche de zu vergessen. Selbst aktiven Tierrechtlern Bedeutung für die Antilope die Eleganz ihrer möchte ich nicht unterstellen, dass sie in der Bewegung hat, ob sie hart daran gearbeitet hat, Praxis, wenn es darauf ankäme, die Gleichbe- ob sie stolz darauf ist. Man möchte fragen, ob handlung von Mensch und Tier nicht aufge- sie wirklich keine großen Unterschiede zwi- ben würden. Sie würden in einem brennen- schen uns und unseren „nächsten Verwand- den Haus erst ein menschliches Kind und ten“, den Tieren, sieht. Man möchte fragen, wie dann, wenn noch Zeit ist, einen Affen ret- sie die Distanz zu unseren zweitnächsten Ver- wandten, den Pflanzen, einschätzt – bekommt ❙8 aber nur die Antwort, dass das „Seelenleben , zit. nach: Michael Miersch, Eine Ratte ist ein Schwein ist ein Hund ist ein Junge, in: Novo, 60 (2002) 9–10, S. 17–19. ❙6 I. Radisch (Anm. 4). ❙9 Maddalena Bearzi/Craig Stanford, Intelligenzbesti- ❙7 Ebd. en, in: Spektrum der Wissenschaft, (2011) 11, S. 22–29.

APuZ 8–9/2012 11 ten – von Ratten ganz zu schweigen. Kein daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes PETA-Aktivist würde, selbst wenn er bei der reißende Thier das lebendige Grab tausend Wortwahl seiner Kampagnen jegliches Ge- anderer und seine Selbsterhaltung eine Ket- spür vermissen lässt, erst ein „Hühner KZ“ te von Martertoden ist, wo sodann mit der befreien und dann ein wirkliches Konzentra- Erkenntniß die Fähigkeit Schmerz zu emp- tionslager. Es gibt Kriminelle, die Anschlä- finden wächst, welche daher im Menschen ge auf Forscherinnen oder Forscher verüben. ihren höchsten Grad erreicht und einen um Doch solche Extremisten der Tat werden im- so höheren, je intelligenter er ist (…)“. ❙10 Man mer selten bleiben, auch wenn sie sich leider beachte: Im Gegensatz zur heute verbreite- einer wachsenden Schar von Sympathisan- ten Auffassung hatte bei Schopenhauer ins- ten gewiss sein dürfen. Wir haben es nicht besondere der intelligente Mensch unter der mit der Unfähigkeit zu tun, die fundamenta- Grausamkeit der Natur zu leiden, und nicht len Unterschiede zwischen Mensch und Tier die Natur unter der Grausamkeit des intelli- zu erkennen, sondern mit der Weigerung, genten Menschen. Auch wies der Philosoph diese zu akzeptieren. Dennoch stellt die Tier- darauf hin, dass menschlicher Schmerz höher rechtsbewegung ein Problem dar: Die theo- zu werten sei als tierischer. retische Leugnung des Unterschieds, der im wirklichen Leben unleugbar ist, führt dazu, dass die Würde des Menschen antastbar wird. Ich an deiner Stelle Der moderne Tierfreund, der sein Haustier nicht nur krault, sondern ihm und dem Rest Was ist eine Gemeinschaft wert, die auf dem der Fauna zu ihrem Recht verhelfen will, ist kleinsten gemeinsamen Nenner einer wie auch ein Menschenfeind. immer gearteten Leidensfähigkeit beruht? Wenn fast alle Rechte nur für einen Teil der Gemeinschaft gelten, werden sie plötzlich alle Einheit und Gleichheit wieder verhandelbar. Was ist eine Moral wert, die in erster Linie auf die Vermeidung von Tierrechtler sehen sich gerne in der Traditi- Schmerz ausgerichtet ist? Wenn zudem für ei- on der Bürgerrechtsbewegung, des Antiras- nen Teil der Gemeinschaft die Rechte grund- sismus und Feminismus. Sie erkennen nicht, sätzlich durch Dritte wahrgenommen werden, dass das große Verdienst dieser Bewegungen wird die Idee der Bevormundung aufgewertet. gerade darin besteht, dazu beigetragen zu ha- Ein vermeintliches Interesse eines Tieres kann ben, alle Menschen in die Gemeinschaft der nur durch einen Vormund vertreten werden. Gleichen aufzunehmen und so die Mensch- Das Huhn kann sich nicht dazu äußern, ob es heit zu einen. Wenn wir nun damit begännen, die Käfighaltung oder die Bodenhaltung be- Nichtmenschen in diese Gemeinschaft auf- vorzugt. Also entscheidet der Tierschützer zunehmen, würden wir das Konzept der Ein- für das Huhn. Hierfür versucht er, sich in die heit und Gleichheit aufgeben. In der Praxis Lage des Huhns zu versetzen. Da er das nicht würde das heißen, dass wieder Unterschiede kann, muss er das Huhn vermenschlichen. gemacht werden dürfen. Er versetzt sich also in die Lage eines Men- schen, der in der Lage des Huhns ist. So wird Da die meisten Rechte – etwa das Recht das „Ich an deiner Stelle“ zum Maß der Din- auf Meinungsfreiheit, auf Bildung, auf Arbeit ge. Es kommt nicht darauf an, ob jemand seine oder das Wahlrecht – für Tiere (weil sie „an- „wahren“ Interessen kennt. Da dem Fleisch­ ders schlau“ sind) keinen Sinn ergeben, ha- esser, dem Raucher, dem Masochisten die Ein- ben Tierrechtler als konstitutives Kriterium sicht fehlt, nehmen andere seine Interessen der erweiterten Gemeinschaft die Leidensfä- wahr, die grundsätzlich darin zu bestehen ha- higkeit gewählt. Im Leiden, so die auch schon ben, Schmerzen zu vermeiden. Kein Problem, sehr gewagte These, sind wir alle gleich, und machen wir ja bei Tieren auch so. sollten mit Blick auf das Leiden alle gleich behandelt werden. Das hat der große Tier- Mehr noch: Wenn wir ernsthaft damit be- freund und engagierte Pessimist Arthur ginnen würden, Rechte für Tiere wahrzuneh- Schopenhauer schon einmal differenzierter ausgedrückt, als er die Welt als „Tummel- ❙10 , Die Welt als Wille und Vor- platz gequälter und geängstigter Wesen“ cha- stellung (1819), online: www.zeno.org/nid/​2000926​ rakterisierte, „welche nur dadurch bestehn, 6798 (17. 1. 2012).

12 APuZ 8–9/2012 men, dann müssten wir das nicht nur gegen- Wir behandeln Menschen nicht wegen ih- über dem Menschen, sondern auch gegenüber rer DNA anders als Tiere, sondern weil sie anderen Tieren, nicht nur beim Nutztier, Teil der Familie sind, die wir beim Menschen, sondern auch beim Wildtier. Wenn ich Tieren und nur beim Menschen, als Gesellschaft be- Rechte einräume, dann muss ich sie auch vor zeichnen. Nur Menschen können am gesell- ihresgleichen schützen! Die Mäuse vor den schaftlichen Leben teilnehmen. Tiere können Katzen, die Würmer vor den Vögeln, die Ha- daher nur Objekt, nie Subjekt menschlicher sen vor den Füchsen. Moral sein. Sie können geschützt werden, aber keine Rechte haben. Wohin gerieten wir? In eine irreale Zukunft, in der Autoren wie Theodor Storm wegen der Unter Tieren bewegen sich nur die Haustie- Gewalt verharmlosenden Schilderung grau- re und unter ihnen eigentlich nur der Hund in samer Morde auf dem Index jugendgefähr- der menschlichen Gesellschaft. Deshalb ha- dender Schriften landen müssten. In der No- ben wir zum Hund eine sehr viel engere Be- velle „Bulemanns Haus“ richten Graps und ziehung als zu einer Maus, einem Huhn oder Schnores ein veritables Massaker an: „Die einer Kuh. Und deshalb ergibt es auch Sinn, großen Katzen kamen herabgesprungen, öff- Haustiere besser zu behandeln als andere neten mit einem Schlage ihrer Tatze die Tür Tiere. Denn sie befinden sich in menschlicher des Zimmers und begannen ihre Jagd. Da Gesellschaft, daher ist der Umgang mit ihnen hatte alle Herrlichkeit ein Ende. Quieksend Teil des gesellschaftlichen Umgangs, und sie und pfeiffend rannten die fetten Mäuse um- können, gewissermaßen als Gäste, von mora- her und strebten ratlos an den Wänden hin- lischen Regeln profitieren, die dazu dienen, auf. Es war vergebens; sie verstummten eine den gesellschaftlichen Umgang in der Familie nach der andern zwischen den zermalmenden der Gleichen zu gestalten. Zähnen der beiden Raubtiere.“ ❙11 Tierschutz als Ausdruck Subjekte der menschlichen Gesellschaft der Menschlichkeit

Wenn die menschliche Moral eine ­Funktion Die Verteidigung der Sonderstellung des hat, dann die, dass wir uns als Gleiche unter Menschen und des Rechts, Tiere zu nutzen, Gleichen begegnen und unser Zusammenle- bedeutet keinesfalls, dass Tierquälerei nicht ben auf der Höhe unserer geistigen Fähigkeiten moralisch abzulehnen sei. Tiere sind nicht und mit dem Respekt, den nur vernunftbegabte zum Tierschutz fähig, Menschen sind es. Wesen gegenseitig aufbringen können, gestal- Unsere Menschlichkeit zeigt sich auch da- ten. Für die Inklusion des Tieres in die Familie rin, dass wir Tiere bewusst behandeln. Sie der Menschen würden wir einen hohen Preis aus niederen Beweggründen zu quälen, ist bezahlen. „Die Versuche, Gleichheit zwischen moralisch abzulehnen. Ein gewisses Maß an Mensch und Tier herzustellen“, so Appleton, Schmerz in Kauf zu nehmen, wenn uns da- „gründen auf einem Verlust der moralischen raus ein Nutzen erwächst, ist dagegen legi- Orientierung und einer heftigen Abneigung tim. Wir sollten uns nicht selbst erniedrigen, gegen den Menschen. Sie stehen im Wider- indem wir Tiere unnötig quälen. Wir soll- spruch zu den historischen Versuchen, für die ten uns aber auch nicht dadurch erniedri- Gleichheit der Menschen zu kämpfen. Darü- gen, dass wir uns selbst zu Tieren erklären. ber hinaus ist es unser Gespür für die Mensch- PETA-Chefin Ingrid Newkirk schrieb in ih- heit als große Familie, das uns lehrt, denen, die rem Testament, dass zu Kampagnenzwecken Handlungsfreiheit und Ratio­nalität nicht in Teile ihrer Leiche gegrillt, ihre Haut zu Leder vollem Maße besitzen – wie etwa Behinderte und ihre Füße zu Schirmständern verarbeitet und Kinder –, mit Liebe und Respekt zu be- werden sollen. ❙13 Tierquäler und Tierrechtler gegnen. Solche Menschen leben in einem Netz- zeigen beide einen Hang zum Animalischen. werk von Beziehungen und erfahren Liebe und Wertschätzung von ihren Mitmenschen.“ ❙12 ❙13 Vgl. Directions for the dispositions of the remains of Ingrid Newkirk, online: www.peta.org/features/ ❙11 Theodor Storm, Bulemanns Haus, in: ders., Erzäh- Ingrid-Newkirks-Unique-Will.aspx (8. 1. 2012). lungen, hrsg. von Rüdiger Frommholz, Stuttgart 1997. ❙12 J. Appleton (Anm. 3).

APuZ 8–9/2012 13 Carola Otterstedt ge der Mensch-Tier-Beziehung innerhalb ei- ner geschichtlichen Epoche sichtbar wer- den lässt. Die Mensch-Tier-Beziehung kann somit nicht losgelöst vom Gesamtkontext Bedeutung des menschlicher Kultur und Gesellschaft gese- hen ­werden. ❙4

Tieres für unsere Die Erforschung der Mensch-Tier-Bezie- hung erhält derzeit wichtige neue Impulse gerade auch aus der deutschsprachigen Wis- Gesellschaft senschaftslandschaft. Dieses Forschungsge- biet profitiert von einem interdisziplinären ir leben in einer Gesellschaft mit ei- Diskurs der natur- und geisteswissenschaft- Wner Vielzahl von Heim-, Nutz- und lichen Disziplinen. Der Literaturwissen- Wildtieren: allein 8,2 Millionen Katzen und schaftler Roland Borgards beschreibt das 5,3 Millionen Hun- Tierbild aus der Sicht der aktuellen geistes- Carola Otterstedt de in Deutschland, ❙1 wissenschaftlichen Forschung wie folgt: „Ei- Dr. phil., geb. 1962; Kulturwis- knapp 90 Millionen nerseits können Tiere als biologische Gege- senschaftlerin und Verhaltens- Rinder und 150 Milli- benheiten verstanden werden. Andererseits forscherin; Autorin und Heraus- onen Schweine in Eu- jedoch erscheinen Tiere auch als Projektions- geberin von wissenschaftlichen ropa. ❙2 Der gemeinsa- flächen für menschliche Vorstellungen: Das Fachbüchern zur Mensch-Tier- me Lebensraum Natur Tier ist das, was der Mensch daraus macht, es Beziehung, u. a. „Gefährten- und ethische Grund- ist Produkt seiner Züchtungen, seiner Imagi- Konkurrenten-Verwandte, Die sätze verpflichten uns nationen, seiner Experimente, seiner Verwis- Mensch-Tier-Beziehung im inter- zu einem stetigen Ab- senschaftlichung, seiner menschlichen Reprä- disziplinären Diskurs“ (2009); wägen der Verwirk- sentationen. Und schließlich sind Tiere auch Leiterin der Stiftung Bündnis lichung eigener Inte- immer wieder eigenständige Agenten inner- Mensch & Tier, Luganoweg 15, ressen und dem alt- halb historischer, sozialer, kultureller Pro- 81475 München. ruistischen Handeln zesse: Tiere haben vielleicht keine Geschichte otterstedt@ zur Sicherung nach- (so wie Menschen geschichtliche Wesen sind), buendnis-mensch-und-tier.de haltiger Ressourcen. sie machen aber Geschichte, z. B. wenn der www.buendnis-mensch- Auf welcher kulturel- Hund an der Domestizierung des Menschen ­und-tier.de len Grundlage han- mitwirkt oder Hühner bei der globalen Ver- deln wir mit Tieren? teilung von Krankheiten.“ ❙5 Wie verändert sich das Tierbild und welche ökonomische, ökologische und soziale Rele- Trotz hervorragender Forschung zum vanz besitzt die Mensch-Tier-Beziehung für menschlichen und tierlichen Verhalten in den unsere Gesellschaft? Der vorliegende Bei- trag gibt einen Einblick in die Vielfalt der ❙1 Vgl. Industrieverband Heimtierbedarf, Der deut- Korrelation menschlichen und tierlichen ❙3 sche Heimtiermarkt 2010, online: www.ivh-on- Lebens in unserer Gesellschaft. line.de/fileadmin/user_upload/Der_Deutsche_ Heimtiermarkt_2010_A4.pdf (26. 1. 2012). ❙2 Vgl. http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/ portal/agriculture/data/main_tables (2. 2. 2012) Unser Bild vom Tier ❙3 Der Begriff „tierlich“ wird im Sinne von das Tier betreffend verwendet. Bewusst wird an dieser Stel- Der Wandel der gesellschaftlichen Stellung le der Begriff „tierisch“ vermieden, da dieser nicht des Tieres sowie seine Nutzung sind von selten in der Literatur missverständlich und wertend verwendet wird. der sozialen und kulturellen Entwicklung ❙4 Vgl. Carola Otterstedt, Kultur- und religionsphi- des Menschen stark beeinflusst. Der von der losophische Gedanken zur Mensch-Tier-Beziehung, Gesellschaft dem Tier zugeordnete ökono- in: Erhard Olbrich/dies. (Hrsg.), Menschen brauchen mische und kulturelle Stellenwert bestimmt Tiere. Grundlagen und Praxis der tiergestützten Pä- auch die Haltung dieser Gesellschaft gegen- dagogik und Therapie, Stuttgart 2003, S. 15–31. ❙5 über dem Leben des einzelnen Tieres und Roland Borgards, Tiere in der Literatur, in: Her- wig Grimm/Carola Otterstedt (Hrsg.), Das Tier an seiner Art. Darüber hinaus ist es aber vor al- sich – Disziplinen übergreifende Perspektiven für lem die menschliche Vorstellung vom Wesen neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, des Tieres, welche die emotionale Grundla- Göttingen 2012 (i. E.).

14 APuZ 8–9/2012 vergangenen 50 Jahren beeinflusst das veral- ten-Nutzen-Bilanz gibt es auch eine Kos- tete Bild über das Tier, welches nur auf Rei- ten-Nutzen-Rechnung auf der emotiona- ze reagiert, nach wie vor unser Handeln. Das len und geistigen Ebene: Wie viel Empathie Bild von einem Tier, welches nur bedingt lei- investiere ich in die Versorgung eines Tie- densfähig sei, scheint uns Menschen vertraut res und welche Auswirkungen hat dies auf und fördert die Akzeptanz eigener Interes- die Nachhaltigkeit meines Handelns und sen (beispielsweise Einzel-Heimtierhaltung, auf meine eigenen emotionalen Bedürfnis- Intensivhaltung, Tierversuche) unabhängig se? ❙9 Was sagen diese Investitionen über den vom Wohlbefinden des Tieres. Neueste For- ökonomischen beziehungsweise sozioemo- schung im Bereich der Neuro- und Verhal- tionalen Wert des Tieres hinaus aus? Sehen tensbiologie zeigen jedoch, dass Tiere sehr wir das Tier als Objekt, als Sache, welches wohl einen erheblichen Teil des affektiven wir be- und ausnutzen können? Oder ist Geschehens bewusst wahrnehmen und regu- das Tier eher ein eigenständiges Subjekt mit lieren können, darüber hinaus mit umfang- Persönlichkeitsrechten? ❙10 Das Tierrecht be- reichen Lern- und Gedächtnisfunktionen wertet dies in den deutschsprachigen Län- ausgestattet sind und daher auch die Voraus- dern sehr unterschiedlich. ❙11 Die neueren setzungen zur Reflexion besitzen können. ❙6 Ansätze der Tier­ethik betrachten hingegen Der Unterschied von menschlichen und das Tier bereits eindeutig als ein eigenstän- nicht-menschlichen Tieren besteht in ihren diges Subjekt: Da das Tier Entscheidungen arttypischen Fähigkeiten. Die Möglichkeit, trifft und Wertungen vollzieht, ist es selbst Emotionen zu empfinden, besitzen sowohl wertvoll, besitzt einen Eigenwert und eine Mensch als auch Tier. Der Verhaltensbiolo- Würde. ❙12 Die christliche theologische Ethik ge Kurt Kotrschal sieht aufgrund seiner Kog- verweist auf Genesis 9, wo der Bund zwi- nitionsforschung bei Tieren eine weitere Ge- schen Gott und den Menschen die ­Tiere meinsamkeit zwischen Mensch und Tier: Sie als autonome Bundesgenossen eindring- teilten „die Grundprinzipien der individuel- lich und dreifach mit einschließt. Mensch len Sozialentwicklung, der Ausbildung un- und Tier sind hier wichtige Vertragspart- terschiedlicher Temperamente und Persön- ner, wenn auch mit unterschiedlichen Rech- lichkeiten, sowie die besonders im sozialen ten und Pflichten ausgestattet. So erhält der Kontext wichtigen Stresssysteme“. ❙7 Dies be- Mensch im sogenannten Schöpfungsauf- deutet auch, dass wir das menschliche Ver- trag (Genesis 1,28) nicht einen Freibrief, die halten gegenüber dem Tier neu überdenken Erde (und damit auch die Tiere) sich unter- müssen, dass Intelligenz, soziale Interessen, tan zu machen, vielmehr erfahren wir von Wohlbefinden, Stress und Leid nicht allein einem Bündnis, das Gott mit dem Menschen dem Tier Mensch vorbehalten sind. schließt und diesen auffordert, für die Tie- re zu sorgen. ❙13 Dies schließt sogar das Sab- batgebot der Ruhe mit ein und hat bereits Vom Wert und von der Würde der Tiere ❙9 Vgl. Monika Vernooij/Carola Otterstedt: Von Die Haltung von Heim- und Nutztieren, Kosten und Nutzen der Mensch-Tier-Beziehung, aber auch die Hege von Wildtieren kostet in: Carola Otterstedt/Michael Rosenberger (Hrsg.), Gefährten–Konkurrenten–Verwandte. Die Mensch- ❙8 Geld, Raum und Zeit. Neben dieser Kos- Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göt- tingen 2009, S. 182–187. ❙6 Vgl. Jaak Panksepp, Affective consciousness: Core ❙10 Vgl. Wechselnde Perspektiven – Das Tier als emotional feelings in animals and humans, in: Con- Subjekt und als Objekt. Dialog im Kolloquium, in: sciousness and Cognition, 14 (2005), S. 30–80; ders., C. Otterstedt/M. Rosenberger (Anm. 9), S. 209–214. Cross-Species Affective Neuroscience Decoding of ❙11 Vgl. Antoine F. Goetschel: Die Mensch-Tier-Be- the Primal Affective Experiences of Humans and ziehung im Recht, in: C. Otterstedt/M. Rosenberger Related Animals, online: www.plosone.org/article/ (Anm. 9), S. 316–340; Christof Maisack, Tierschutz- info:doi/​10.1371/journal.pone.0021236 (25. 1. 2012). recht, in: H. Grimm/C. Otterstedt (Anm. 5). ❙7 Kurt Kotrschal, Argumente für einen wissens- ❙12 Vgl. , The Case for , und empathiegestützten Tierschutz: Biologie, So- Berkeley–Los Angeles 2004; Michael Rosenber- ziales und Kognition, in: H. Grimm/C. Otterstedt ger: Mit Noach in der Arche – mit Jesus im Para- (Anm. 5). dies. Neuere Ansätze der theologischen Tierethik, in: ❙8 Vgl. Kostenpläne zur Tierhaltung, online: www. H. Grimm/C. Otterstedt (Anm. 5). buendnis-mensch-und-tier.de/pages/bibliothek/ ❙13 Vgl. ders., Mensch und Tier in einem Boot – Eck- was_​kostet_mich_mein_Tier.htm#Was_kostet_mich_ punkte einer modernen theologischen Tierethik, in: mein_ ​T i e r (4. 1. 2012). C. Otterstedt/M. Rosenberger (Anm. 9), S. 368–389.

APuZ 8–9/2012 15 damals einen tierschutzrelevanten Rück- Tierliche Präsenz zugsraum für die Tiere definiert. Der Mo- raltheologe Michael Rosenberger fordert zu in unserer Gesellschaft einem Umdenken im Handeln gegenüber dem Tier auf: „Wenn wir dem Tier aber Ei- Wie die Tabelle zeigt, sind Tiere in vielen Be- genwert oder Würde zuerkennen müssen, reichen der Gesellschaft präsent. In dieser dann ist der Mensch zugleich verpflichtet, Aufführung wird deutlich, dass Mensch und es entsprechend zu behandeln: Den Träger Tier sich gegenseitig ­beeinflussen. von Würde gilt es in seiner Eigenständigkeit zu achten. Wer Würde hat, verdient Respekt Am Beispiel einiger ausgewählter gesell- und Ehrfurcht. Der Mensch darf ihn benüt- schaftlicher Bereich soll im Folgenden nä- zen, aber nicht ausschließlich unter Nut- her erläutert werden, welche Bedeutung die zenaspekten betrachten.“ ❙14 Mensch-Tier-Beziehung besitzen kann.

Tier am Arbeitsmarkt. Mit einer Erneu- Der Mensch: in sich gespaltenes Tier erung von tierlichen Einsätzen im Arbeits- prozess wird nicht nur das Bild des Tieres Tiere sind für uns heute authentisches Kum- aufgewertet: Ein Polizeihundeführer, ein Ret- pantier, verlässlicher Arbeitskollege, Ersatz tungshundestaffelleiter, ein Therapeut, der für vermisste menschliche Beziehungen, my- tiergestützt arbeitet oder ein Lehrer, der mit thisches Vorbild, aber auch exotischer und einem Hund seine Hauptschulklasse erfolg- zirzensischer Adrenalinkick, eine Schuh- reich leitet, wird durchaus mehr beachtet als sohle, ein Winterpelz oder ein in Plastik ein- Kollegen ohne Tier. Das Führen von Tieren, geschweißtes Nahrungselement. Tiere be- mehr noch eine gute kollegiale Arbeitswei- eindrucken uns in Naturfilmen durch ihre se mit Tieren, wird in der Gesellschaft durch Fähigkeiten des Überlebens, als Kunstfigu- soziale beziehungsweise mediale Aufmerk- ren und Akteure im Fernsehen. Sie sind uns samkeit belohnt. Dies kann mitunter dazu häufig eher fremd in ihren eigenen natürli- führen, dass Menschen sich zu Tiereinsätzen chen Verhaltensweisen und Ausdrucksfor- verleiten lassen, um so ihre eigene Person auf- men, in ihrer Intelligenz, ihren arttypischen zuwerten. Wichtiger sind jedoch die positiven und individuellen Bedürfnissen. Der Mensch Impulse, die durch Re-Integration des Tieres ist nicht so sehr in seiner Wahrnehmung ge- in unserem Arbeitsleben entstehen: Arbeits- spalten, vielmehr in der Akzeptanz, was er schutzmaßnahmen für Mensch und Tier, In- von Urzeiten her in sich als sinnliches Wis- tensivierung sozialer und kommunikativer sen trägt, was er im Tier erkennen kann: Das Fähigkeiten über die eigene Art hinaus sowie Tier ist ein Geschöpf, das dem Menschen Ge- verstärkte Präsenz von Tieren mit einem Be- fährte und Konkurrent ist, letztlich aber im- ruf in der Gesellschaft. Das Tier bleibt nicht mer auch Verwandter sein wird. Diese Viel- arbeitslos, es erhält durch seinen Einsatz in ei- falt der Beziehungen zum Tier fordert den nem Beruf die Möglichkeit, seine Persönlich- Menschen heraus, fordert, dass der Mensch keit, seine Intelligenz, seine Fähigkeiten zu sich seiner Verantwortung gegenüber sei- zeigen. Dies ermöglicht Menschen, das neue nem Mitgeschöpf (Mensch wie Tier) be- Tierbild im Alltag zu erleben, die Würde des wusst wird. Das Bewusstsein dieser Verant- Tieres für sich zu entdecken. wortung ist die Grundlage seines achtsamen Handelns. Ein reifer Mensch wird den Be- Wirtschaftsfaktor Tier. Der Mensch ist dürfnissen des Tieres gerecht werden, solan- aufgefordert, seine eigenen Interessen gegen- ge dieses Tier lebt. Und er wird die Tötung über denen der Tiere sowie der Erhaltung der des Tieres als einen bewussten Akt des Han- Arten abzuwägen: beim Bau von Straßen und delns mit verantworten. Der Dank gegen- Brücken, die den Lebensraum der Tiere zer- über dem Tier bei der Mahlzeit ist Ausdruck schneiden oder zerstören, bei der Gestaltung der Verantwortung der Beendigung des Le- von Agrarflächen, die die Vielfalt der Nah- bens des Tieres und des Annehmens dieses rungspflanzen der Wildtiere reduzieren, bei Geschenkes. der Förderung der Nutztierhaltung oder auch bei der Verbreitung von Lärm, Luft- und ❙14 Ders., Ethik der Jagd und Fischerei, in: H. Grimm/​ Lichtverschmutzung. Die Sicherung mensch- C. Otterstedt (Anm. 5). licher Ressourcen kann nur vor dem Hinter-

16 APuZ 8–9/2012 Tabelle: Tierliche Präsenz in unserer Gesellschaft Arbeitsmarkt Tierhaltung als Arbeitsmarkt, Assistenztiere für Arbeitnehmer (Blindenführ-, Behindertenhund) Bildung Schulhunde, Bauernhöfe als außerschulische Lernorte Energie & Klima Einfluss von Kernenergie (Kühlwasser) auf den Fischbesatz der Flüsse/Meere, Wind- kraftanlage und Behinderungen im Vogelflug, Tiermist als Brennstoff, Monokulturen für Bio-Brennstoffe führt zu Reduzierung der Wildtiernahrung und der Artenvielfalt Ernährung Überfischung, Fischfarmen und Intensivhaltung von Nutztieren haben Einfluss auf menschliche wie tierliche Umwelt, Tierwohlsiegel, Slow Food Finanzen Steuereinnahmen aus der Hundehaltung, Anlageobjekt Turnierpferd, Futtermittel als Handelsobjekt Forschung Tiere als Forschungsobjekt, Tierversuche als Möglichkeit der Reduzierung von Krankheiten bei Mensch wie Tier, Alternativen zu Tierversuchen Freizeit & Sport Freizeit- und Leistungssport mit Tieren, (nicht adäquate) Haltung und zirzensischer Einsatz von Exoten in Zoos und im Zirkus Gesundheitswesen Tierische Produkte in der Pharmazie, Tiere in der medizinischen Therapie, tier­ gestützte Intervention, Zoonosen, Hightech-Tiermedizin Infrastruktur Wildunfälle auf Straßen, Pferde als Zugtiere, Arterhaltung und -vielfalt beim ­Straßen-/Brückenbau Kultur & Medien Tiere als medialer Eye-Catcher, als Werbeträger, als Thema in Literatur, Musik, Film und Fernsehen, tierische Produkte als Teil kultureller Instrumente (Geigenbogen, Trommelfell) Landwirtschaft Tiere als Arbeitspartner in der Landwirtschaft (Pferde, Regenwurm, Bienen etc.) und als Produkt der Landwirtschaft, Schul- und Erlebnisbauernhöfe Religion Tiersegnungen, Tiere als Symbol Sicherheit Tiere im Wach-, Schutz-, Sicherheits- und Rettungsdienst Soziales Haustiere als soziale Katalysatoren, tiergestützte Therapie, Pädagogik und Förderung in Altenheimen, in der Kinder- und Jugendarbeit sowie in Sozialprojekten Technik Tiere als technisches Vorbild, Entwicklung neuer Produkte (z. B. Materialien, Karos- serien, Architektur, Statikkonzepte) Tourismus Zoos, Erlebnisbauernhöfe, Bio-Tourismus Umwelt Wildtierhege, Tiere als Landschaftspfleger, Biodiversität Wirtschaft Handel mit Tieren, Heimtierbedarf und tierischen Produkten, sekundäre Produkte (z. B. verarbeitende Betriebe, Versicherungen, Spielzeug-Tiere), Events (Turniere, Shows) grund langfristiger und nachhaltiger Kon- Gewinn schaut, statt auf eine vorausschau- zepte gelingen, die unsere natürliche Umwelt ende und nachhaltige Erhaltung der Grund- und ihre Bewohner mit ins Boot nehmen. lage unserer Lebensmittel zu achten: gesunde Acker- und Weideböden, gesunde Tiere, die in Das Wirtschaftsprodukt „Lebensmittel artgemäßer und qualitätsvoller Haltung auf- vom Tier“ (Milch, Fleisch, Eier sowie verar- wachsen. Ländliche Strukturen und ökolo- beitete Produkte wie Kuchen, Nudeln etc.) hat gisch nachhaltige landwirtschaftliche Betrie- in Deutschland einen hohen ökonomischen be laufen derzeit Gefahr, durch Genehmigung Stellenwert und ist gleichzeitig ein wichti- von Intensivmastanlagen zerstört zu werden. ges Exportgut. ❙15 Dieses Produkt „Made in Germany“ wird bisher überwiegend auf der Die Achtung vor dem Mitgeschöpf fordert Grundlage einer durch Hormone und Anti- von uns ein Nachdenken darüber, ob wir ei- biotika unterstützten Intensivhaltung erzeugt nem Landwirt Vertrauen schenken wollen, und staatlich gefördert. Als Gesellschaft ver- der seinen Tieren vor dem Schlachttod ein harren wir nach wie bei einer Lebensmittel- unwürdiges Dasein zumutet: zu enger Raum, produktion, die allein auf den finanziellen Spaltenböden, fehlender Auslauf und Sozi- alkontakt, Verletzungen durch Stressverhal- ten etc. Es gibt bereits erfolgreiche und pro- ❙15 Europaweit besitzt Deutschland die höchste Ex- portdichte bezüglich tierischen Lebensmitteln, vgl. fitable Alternativen, die uns jedoch nötigen, Agrar­statistik online: http://epp.eurostat.ec.europa. umzudenken und unser Verhalten zu verän- eu.de (6. 1. 2012). dern. Unsere technikorientierte Lebensmit-

APuZ 8–9/2012 17 telindustrie ist herausgefordert, neue Wege umzustrukturieren, dass es für seine Interes- des achtsamen Umgangs mit dem kostbaren sen nutzbar wird, ist sicherlich eine der gro- Produkt Nutztier zu finden. ßen Stärken des Menschen. Eine grenzenlose Nutzung dieses Talentes ist jedoch gleichzei- Es ist kein Luxus vom „immer mehr“ produ- tig auch eine der großen Gefahren für den zieren zu einem „qualitätsvoll besser“ erzeu- Menschen und seine natürliche Umwelt. gen zu kommen. Es ist vielmehr eine soziale wie ökologische, damit auch eine ökonomi- sche Notwendigkeit und die eigentliche Zu- Beziehung zu Tieren kunft einer gewinnorientierten Wirtschaft. als Grundbedürfnis des Menschen

Das Tier, dessen Fleisch auf unserem Tel- Was erwarten Menschen in Deutschland von ler liegt, sollte ein gutes Leben gehabt haben. der Begegnung mit einem Tier? Welche Be- Die Mahlzeit sollte uns wieder wertvoll wer- dürfnisse haben sie in einer Beziehung zum den. Dies bedarf aber auch einer Bemühung, Tier? In einer Studie zur Mensch-Tier-Bezie- Menschen heute wieder zu zeigen, wie man hung in unserer Gesellschaft ❙16 hat sich unter mit Lebensmitteln achtsam gute Mahlzeiten anderem gezeigt, dass die meisten Menschen zaubert. Die Menschen in unserer Gesellschaft ein Tier besitzen möchten, dies auf Grund sind meiner Meinung nach reif, ein Tierwohl- von Lebensumständen (unregelmäßige Ar- label zu fordern und ausschließlich ökologisch beitszeit, Wohnsituation, andere Lebenspri- nachhaltige Tierhaltung zu unterstützen. Es ist oritäten, finanzielle Situation) aber nicht re- eine ethische wie zukunftsgerichtete ökologi- alisieren. Der Kontakt und die Beziehung zu sche und ökonomische Entscheidung unserer Tieren ist ein Grundbedürfnis des Menschen; Gesellschaft, die weit über Landesgrenzen Im- das Thema Tier besitzt für Menschen einen pulse setzen und auch Deutschland als Export- hohen emotionalen Wert. Unabhängig von nation langfristig positiv förderlich sein wird. der Quantität oder Qualität der Erfahrung mit Tieren waren alle Teilnehmer der Studie Der Heimtierbedarf ist ein weiterer wichti- hoch motiviert, sich zu äußern. Die Antwor- ger Wirtschaftsbereich in europäischen Län- ten zeigten, dass die Begegnung mit Tieren dern. Mit vielfältigen Produkten der Nah- in großer Vielfalt gelebt werden kann. Dabei rung und des Zubehörs werben die Hersteller stehen die Beobachtung von Tieren in freier und der Zoofachhandel um die Gunst der Wildbahn, die artgerechte Lebensweise von Heimtierhalter. Auf Grund ihrer eigenen Be- Heim- und Nutztieren und der Respekt ge- dürfnisse gestalten Menschen die Fürsorge genüber der eigenen Persönlichkeit des Tie- für ein anderes Geschöpf gerne mit Fütte- res im Vordergrund. Hier spiegeln sich auch rung und der Ausgestaltung des Nestes. Die- die Ansprüche des Menschen an sein eige- ses menschliche Bedürfnis bedient die Heim- nes Leben wider: Erhalt von natürlichen Res- tierbranche mit ihren Produkten. Qualitativ sourcen, Lebensqualität im Einklang mit den gute Produkte legen dabei mehr Wert auf natürlichen Bedürfnissen des Menschen, Ent- die physiologischen und sozialen Bedürfnis- wicklung der eigenen Persönlichkeit. se des Tieres, insbesondere auch seitdem er- kannt wurde, dass Erkenntnisse aus der Ver- Das praktische Zusammenleben zwischen haltensforschung nicht zum Nachteil eines Mensch und Tier ist mangels alternativer Er- ökonomischen Gewinns führen müssen. fahrungen derzeit noch von alten Verhaltens- mustern geprägt. Die Tendenz, mit dem Tier Technisches Vorbild Tier. Das Tier ist seit achtsam und respektvoll umgehen zu wollen, jeher auch Vorbild für den Menschen und sei- ist deutlich erkennbar. Hier bedarf es jedoch ne Träume (beispielsweise vom Fliegen, Tau- in der Gesellschaft einer eindeutigen Positio- chen, Bergsteigen). Der Mensch beobach- nierung und vor allem deutlicher Vorbilder, tet tierliche Fähigkeiten und versucht, diese die praktische Wege im achtsamen und res- mit Hilfe der Technik für sich nutzbar zu pektvollen, vor allem im artgemäßen Umgang machen. Im Rahmen der Bionik entstanden mit Tieren aufzeigen. Der Kontakt zu Tie- nach Vorbildern aus der Natur eine Vielzahl neuer künstlicher Oberflächen und techni- ❙16 Vgl. Carola Otterstedt, Die Mensch-Tier-Bezie- scher Konstruktionen. Das in der Natur vor- hung in der Gesellschaft, Studienbericht 2008, on- handene Wissen für sich zu entdecken und so line: www.buendnis-mensch-und-tier.de (4. 1. 2012).

18 APuZ 8–9/2012 ren ist nicht auf einen Ersatz für menschliche Sache, als Objekt wahrgenommen denn als Beziehung zu reduzieren. Es ist vielmehr ein individuelle Persönlichkeit und Subjekt, dem Grundbedürfnis des Menschen, über die Be- als Mitgeschöpf angemessen Sympathie und ziehung zum Tier mit sich selber, mit einem Mitgefühl entgegengebracht wird. Das Tier anderen Lebewesen und mit der gemeinsamen muss Tier bleiben dürfen, es wird seiner Art natürlichen Umwelt in Kontakt zu treten.­ und seinen Bedürfnissen gemäß gehalten und mit ihm umgegangen. Nur dann kann es als In einer interkulturellen Gesellschaft wie Tier im Sinne einer Persönlichkeit wirken. Deutschland ist der Kontakt zu Tieren geprägt von vielfältigen sozialen, kulturellen und reli- Ein präventiver Tierschutz baut auf nach- giösen Einflüssen. In einer weiteren Studie ❙17 haltige Strukturen, die Leid von Tieren früh- wurde nach dem Tierbild von Menschen aus zeitig vermeiden helfen. „Erkenntnisse aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen der Neuro- und Verhaltensbiologie legen Lebensräumen dieser Welt geforscht. Die Stu- nahe, dass Tierschutz heute nicht mehr al- die weist auf die Bedeutung kultureller, religi- lein Wert auf eine artgemäße physiologisch- öser, sozialer und biografischer Aspekte in der ökologische Haltung legen darf, vielmehr die Mensch-Tier-Beziehung hin und berücksich- sozialen, mentalen und emotionalen Bedürf- tigt kulturelle Traditionen, ethische Orientie- nisse der Tiere und den sozialen Kontext der rung, soziokommunikative Verhaltensweisen Mensch-Tier-Beziehung nicht außer Acht las- und emotionale Bindungen. Es konnte aufzeigt sen darf. Konkret: Das Wohlbefinden von Tie- werden, dass die individuelle Einschätzung ei- ren in menschlicher Obhut ist entscheidend ner Tierart abhängig ist von deren gängiger davon abhängig, dass es nicht nur satt, sauber Bewertung im jeweiligen kulturellen Lebens- und trocken gehalten wird. Das Tier braucht raum des Menschen, dass aber darüber hinaus eine adäquate arteigene Sozialgemeinschaft die individuelle Beziehung zu einem Tier­indi­ und eine gute Beziehung zu seinem Kumpan- vi­duum geprägt ist von der Quantität und Menschen“, ❙18 fordert der Leiter der Konrad- Qualität von Tierbeziehungen im Alltag (vor Lorenz-Forschungsstelle Kurt Kotrschal. allem in der Kindheit). Die Teilnehmer die- ser Studie erachten den Mensch-Tier-Kontakt Der Wandel im Tierbild läuft den ökonomi- als wichtig, da Tiere einen positiven Einfluss schen, sozialen wie emotionalen Interessen des auf körperliche und seelische Befindlichkeit Menschen nicht selten zuwider; dies ist Teil hätten, kommunikative und soziale Aktivitä- natürlicher sozialer Interessenskonflikte, die ten förderten und dem Menschen Freund und sowohl innerartlich (zwischen Mensch und Arbeits- beziehungsweise Sozialpartner sei- Mensch beziehungsweise Tier und Tier) wie en. Tiere sind ihrer Meinung nach nicht nur artübergreifend (zwischen Mensch und Tier) eine wichtige Nahrungs- und Rohstoffquelle, bekannt sind. Diesen Interessenskonflikten sie sind vor allem ein wichtiger Teil des öko- müssen wir uns stellen, Lösungen im Sinne ei- logischen Gleichgewichts. Es ist somit weni- nes Schutzes des gemeinsamen Lebensraumes ger der Unterschied, wie man vor dem Hinter- von Mensch und Tier, der Natur, finden. Nur grund einer religiösen Tradition einem Hund wenn wir den Herausforderungen des Zusam- oder einem Schwein begegnet, vielmehr steht menlebens von Mensch, Tier und Natur unter im Vordergrund die Chance, das verbinden- Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnis- de Element zu nutzen: Die Bewahrung des ge- se angemessen begegnen, können wir von ei- meinsamen Lebensraumes Natur im gemein- ner Beziehung zu Tier und Natur profitieren. samen Handeln von Mensch und Tier. Nur wenn Tiere ihren Bedürfnissen gemäß le- ben können, werden Mensch und Tier öko- logisch, emotional, sozial und letztlich auch Resümee ökonomisch voneinander profitieren können. Das sich verändernde Tierbild fordert somit Nicht das Tier hat sich verändert, vielmehr eine soziale Kultur des Miteinanders, in der ist unser Bild vom Tier dabei, sich zu verän- das Fremde (hier: das Tier) als potenzielle Be- dern. Das Tier wird zunehmend weniger als reicherung erforscht und begrüßt wird.

❙17 Vgl. Carola Otterstedt, Interkultureller Vergleich ❙18 K. Kotrschal (Anm. 7). zur Mensch-Tier-Beziehung, Studienbericht 2009, on- line: www.buendnis-mensch-und-tier.de (4. 1. 2012).

APuZ 8–9/2012 19 Sonja Buschka · Julia Gutjahr · dem Mensch-Tier-Verhältnis, beeinflusst Marcel Sebastian durch gesellschaftliche Debatten über den ethischen und sozialen Status von Tieren, zu, und es entwickelte sich das Forschungs- Gesellschaft und feld der Human-Animal Studies (HAS). ❙5 Die Forschungsthemen sind dabei so viel- fältig wie das komplexe Verhältnis der Men- Tiere – Grundlagen schen zu den Tieren selbst. Zu den in den HAS agierenden Disziplinen gehören etwa und Perspektiven Soziologie, Philosophie und Anthropologie sowie die Kultur-, Literatur- und Rechts­ der Human-Animal wissenschaften. In der Soziologie wurden Tiere bisher weit- Studies gehend ausgeblendet, was sich unter anderem anhand des Selbstverständnisses der Soziolo- gie als Humanwissenschaft, welche die Tie- ngesichts der Bedeutung von Tieren für re der „Natur“ zuordnet, ❙6 erklären lässt. So A die menschliche Gesellschaft scheint es spielte bei der Etablierung und Identifikati- verwunderlich, dass dieses Verhältnis bisher on der Soziologie als eigenständiger Wissen- innerhalb der Sozial- schaft die Ausgrenzung „der Natur“ aus so- Sonja Buschka, wissenschaften kaum zialen Prozessen eine entscheidende Rolle, ❙7 M. A., geb. 1977; Soziologin; reflektiert wurde. Da- so dass von einem anthropozentrischen Aus- wissenschaftliche Mitarbeiterin bei hat jeder Mensch am Centrum für Globalisierung individuelle oder kol- ❙1 Laut dem Industrieverband Heimtierbedarf leb- und Governance der Univer- lektive Beziehungen ten 2010 in deutschen Haushalten 8,2 Millionen Kat- sität Hamburg; Gründungs- zu Tieren. In fast je- zen, 5,3 Millionen Hunde, 5,3 Millionen Kleintiere mitglied der Group for Society dem dritten deutschen und 3,5 Millionen Ziervögel. Vgl. Industrieverband and Animals Studies (GSA), Haushalt lebt ein so- Heimtierbedarf, Der deutsche Heimtiermarkt 2010, online: www.ivh-online.de/fileadmin/user_​upload/ Universität Hamburg, Institut ❙1 genanntes Haustier; Der_Deutsche_Heimtiermarkt_2010_A4.pdf (26. 1. für Soziologie, Allende Platz 1, seine Rolle kann da- 2012). 20146 Hamburg. bei vom „lebenden ❙2 Vgl. Statistik des Statistischen Bundesamtes, online: [email protected] Spielzeug“ bis zum www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/ Familienmitglied und Internet/DE/Presse/pm/​2011/​02/PD11__062__​413,​ Julia Gutjahr template​Id=​renderPrint.psml (25. 1. 2012). Partner reichen. Auf ❙3 Geb. 1982; Studium der Vgl. Statistik des Deutschen Jagdschutz Verban- der anderen Seite ste- des, online: www.jagd-online.de/datenfakten/zahlen​ Soziologie an der Universität hen diese Zahlen: 2010 zurjagd/?meta_id=116 (26. 1. 2012). Hamburg; Gründungsmitglied wurden laut dem sta- ❙4 Vgl. Tierschutzbericht 2011, online: http://dip.bun- der GSA (s. o.). tistischen Bundesamt destag.de/ b t d / ​1 7 / ​0 6 8 / ​1 7 0 6 8 2 6 .pdf (26. 1. 2012), S. 52. 5 im Rahmen gewerb- ❙ Alternative und inhaltlich sich zuweilen in As- Marcel Sebastian licher Schlachtungen pekten unterscheidende Begriffe sind Animal Stu- Geb. 1984; Studium der dies, Critical-Animal Studies oder Anthrozoo­ 58 138 900 Schweine, logie. Soziologie an der Universität 3 737 900 Rinder und ❙6 Vgl. Rainer Wiedenmann, Tiervergessenheit in Hamburg; Gründungsmitglied 974 100 Schafe getötet. der Soziologie, in: PraxisSoziologie: Zwischen an- der GSA (s. o.). Die Anzahl getöte- gewandter Sozialforschung und neuen Organisati- ten „Geflügels“ wird onskulturen. Verhandlungen der XII. Tagung für nicht individuell beziffert, sondern anhand angewandte Soziologie des Berufsverbandes Deut- scher Soziologinnen und Soziologen in Dortmund des addierten Körpergewichts (1 379 600 2003. CD-Rom, Recklinghausen 2003; Julia Gutjahr/ 2 Tonnen) ausgedrückt. ❙ Zudem besaßen im Marcel Sebastian, Die vergessenen Anderen. Zur Jagdjahr 2009/2010 350 538 Deutsche einen (Nicht-)­An­wesen­heit der Mensch-Tier-Beziehung in Jagdschein. ❙3 Ferner wurden im Jahr 2009 der Soziologie, in: Birgit Pfau-Effinger/Sonja Busch- 2 786 331 Wirbeltiere in Tierversuchen ver- ka (Hrsg.), Gesellschaft und Tiere – Soziologische wendet. ❙4 Analysen eines ambivalenten Verhältnisses, Wiesba- den 2012 (i. E.). ❙7 Vgl. Thomas Lemke, Die Natur der Soziologie. Erst in den vergangenen Jahren nahm die Versuch einer Positionsbestimmung, in: Leviathan, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit 35 (2007) 2, S. 248–255, hier: S. 248.

20 APuZ 8–9/2012 gangspunkt der Soziologie gesprochen wer- plinäre) Journals publiziert. Darüber hinaus den kann. Dieser Ausgrenzung entsprechend werden regelmäßig internationale Tagungen werden grundlegende Kategorien der So- abgehalten. Die Zahl der Publikationen und ziologie exklusiv auf Menschen angewandt, Dissertationen im Fachgebiet steigt stetig an, ohne dass diese Exklusivität aus der Defi- und es hat sich bereits in mehrere unterglie- nition ihrer Begriffe (beispielsweise „sozia- derte Forschungsschwerpunkte differenziert. les Handeln“, „soziale Normen“) ❙8 notwen- Dennoch haben HAS noch nicht den Status dig abzuleiten wäre. Die Ausklammerung einer allgemein anerkannten Disziplin in den der Tiere aus der Soziologie ist ferner nicht Sozialwissenschaften erlangt. ❙10 Trotz ihrer plausibel, da Tiere innerhalb der gesellschaft- bisherigen Marginalität nehmen die HAS lichen Symbol-, Wert- und Ordnungssyste- durch ihre Forschungsergebnisse beabsich- me, in der Ökonomie und der Sprache, bei tigt oder unbeabsichtigt Einfluss auf die Ent- der Entwicklung menschlicher Identität so- wicklung des Umgangs der Gesellschaft mit wie als Interaktionspartner eine zentrale Rol- den Tieren. ❙11 le spielen und somit zweifelsfrei Teil des So- zialen sind. Aktueller Forschungsstand Mit dem gestiegenen Forschungsinteresse beginnt sich das Feld der sozialwissenschaft- Obwohl Human-Animal Studies akademisch lichen HAS auch in Deutschland zu institu- gesehen insbesondere in Deutschland eine tionalisieren: An der Universität Hamburg junge Disziplin sind, haben sich bereits eini- wurde 2010 mit der Group for Society and ge dominante Forschungsschwerpunkte her- Animals Studies (GSA) die erste soziologi- ausgebildet, die wir im Folgenden mit ihren sche Forschungsgruppe zum Thema gegrün- Ansätzen und zentralen Werken beschrei- det. 2011 erschien ein erster Sammelband mit ben. Auch wenn der Fokus nachfolgend auf sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt des das deutschsprachige Forschungsfeld – er- Chimaira-Arbeitskreises für Human-Ani- gänzt durch relevante englischsprachige Ar- mal Studies und 2012 werden darüber hi- beiten – begrenzt wird, kann die Übersicht naus zwei weitere soziologische Sammel- natürlich keinen Anspruch auf Vollständig- bände publiziert. ❙9 Seit diesem Jahr erscheint keit ­erheben. mit „Tierstudien“ die erste deutschsprachige Zeitschrift für Human-Animal Studies. Fer- Forschungsschwerpunkt „Soziale Kon- ner nimmt das Lehrangebot an deutschen struktion des Tieres“. Bei diesem For- Hochschulen zu. schungsschwerpunkt werden gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse mittels theoreti- Im englischsprachigen, wissenschaftlichen scher Ansätze der sozialen Konstruktion von Raum ist die Etablierung der sozialwissen- Wirklichkeit, insbesondere der sozialen Kon- schaftlichen HAS bereits weiter fortgeschrit- struktion des Anderen, untersucht und es wird ten. So gibt es beispielsweise die Animal/ analysiert, wie und wozu das Bild „des Tieres“ Human Studies Group in der British Socio- sowie damit einhergehende Identitätskonzep- logical Association und die Animals and So- te sozial hergestellt werden. Es wird gezeigt, ciety-Sektion in der American Sociological wie die Aufstellung natürlich erscheinender Association sowie diverse universitäre Grup- Gegensatzpaare, wie „Kultur-Natur“, „Geist- pen und Akteure, die sich dem Mensch-Tier- Instinkt“ oder „Essen-Fressen“ und die Zu- Verhältnis widmen. Zudem werden mit „An- schreibung der jeweils „negativen“ Attribute throzoös“, „Society and Animals“, „Journal zu den Tieren eine fundamentale Trennlinie for “ und „Humani- zwischen Menschen und Tieren zieht und malia“ mehrere wissenschaftliche (interdiszi- so „das Tier“ als grundsätzlich Anderes be- stimmt. ❙12 Durch die Wertgeladenheit der Zu- ❙8 Vgl. R. Wiedenmann (Anm. 6). ❙9 Vgl. Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal ❙10 Vgl. R. Wiedenmann (Anm. 6). Studies (Hrsg.), Human-Animal Studies. Über die ❙11 Vgl. Kenneth Shapiro, Editor’s Introduction to So- gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnis- ciety and Animals, in: Society & Animals, 1 (1993) 1, sen, Bielefeld 2011; Renate Brucker et al. (Hrsg.), Das S. 1 f. Mensch-Tier-Verhältnis: Eine sozialwissenschaft- ❙12 Vgl. Birgit Mütherich, Die Soziale Konstruktion liche Einführung, Wiesbaden 2012 (i. E.); B. Pfau- des Anderen – zur soziologischen Frage nach dem Effinger/S. Buschka (Anm. 6). Tier, in: PraxisSoziologie (Anm. 6).

APuZ 8–9/2012 21 schreibungen entsteht ein hierarchisches Ver- beispielsweise um die Frage, wie sich emoti- hältnis zwischen den beiden Gruppen, wobei onale Hinwendung zu „Haustieren“ und An- die Zuschreibung der jeweils positiven Attri- erkennung ihrer Subjektivität beziehungswei- bute zu den Menschen legitimatorischen Cha- se „Personalisierungs­tendenzen“ ❙15 einerseits rakter für ihre Machtposition gegenüber Tie- mit massenhafter Einsperrung, Instrumen- ren hat. Für diese Form der Strukturierung talisierung, Ausbeutung und Tötung von von Gesellschaft wurde von Richard Ryder „Nutztieren“ andererseits in Einklang brin- und Peter Singer der Begriff „Speziesismus“ gen lassen. Relevante Arbeiten stammen hier geprägt, der bis heute (in weiterentwickel- von Wiedenmann, der Ambivalenzkonstruk- ter Form) genutzt wird. ❙13 Arbeiten, die hier tionen und divergierende Tierkonzepte als einen Fokus haben, stammen beispielsweise typische Erscheinung von Modernisierungs- von Birgit Mütherich, Barbara Noske, Rai- prozessen sowie deren gesellschaftliche Ori- ner Wiedenmann, Michael Fischer und Sonja entierungsfunktionen analysiert. ❙16 Weitere Buschka/Jasmine Rouamba. ❙14 Arbeiten stammen von Matthew Cole, Karen Morgan und Kate Stewart, die zur ambivalen- Die sozialen Konstruktionsprozesse setzen ten Konstruktion verschiedener Tierkonzep- sich fort in der Schaffung spezifischer Tier- te ein Schema zur „materiellen und diskur- bilder, in denen verschiedene Tierarten nach siven Positionierung“ vorlegen, mit dem sich ihrer Nutzbarkeit für menschliche Zwecke in die soziokulturellen Ambivalenzen innerhalb vermeintlich homogene Untergruppen ein- verschiedener Tierkonstruktionen und damit geteilt werden: So ist im alltäglichen Sprach- verbundene Empathie-Potenziale und Be- gebrauch von „Haustieren“, „Nutztieren“, handlungsweisen erfassen lassen. ❙17 Die GSA „Zootieren“ oder „Versuchstieren“ die Rede. forscht zur Frage der Erklärung dieser Diffe- Die Zuordnung tierlicher Individuen zu ei- renzen in Gegenwartsgesellschaften theore- ner dieser Gruppen bestimmt dabei, welche tisch und empirisch. ❙18 Art von Behandlung für sie als gesellschaft- lich legitim angesehen wird. Aus dem Blick- Forschungsschwerpunkt „Tiere in sozia- winkel der sozialen Konstruktion des Ande- len Interaktionen“. Ein zentraler Versuch, ren wird hier insbesondere analysiert, wie die die Mensch-Tier-Beziehung auf Handlungs- in postindustriellen Gesellschaften vorfindli- und Interaktionsebene soziologisch-theore- chen Ambivalenzen innerhalb von Mensch- tisch zu fassen, wurde von Theodor Geiger Tier-Verhältnissen erklärbar sind. So geht es unternommen. ❙19 Er analysiert die Möglich- keit einer sozialen Beziehung zwischen tier- lichen und menschlichen Individuen, und ❙13 Vgl. Richard Ryder, The Political Animal: The kommt zu der Ansicht, dass eine solche Be- Conquest of Speciesism, Jefferson, NC 1998; Peter Singer, A Utilitarian Defense of Animal Liberation, ziehung auf der Grundlage der gegenseiti- in: Louis Pojman (ed.), , Stam- ford, CT 2001. ❙14 Vgl. B. Mütherich (Anm. 12); dies., Die Proble- ❙15 Vgl. R. Wiedenmann (Anm. 6). matik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie: ❙16 Vgl. ebd. Weber, Marx und die Frankfurter Schule, in: Dort- ❙17 Vgl. Karen Morgan/Matthew Cole, The Discur- munder Beiträge zur Sozial- und Gesellschaftspoli- sive Representation of Nonhuman Animals in a Cul- tik, 28 (2004); Barbara Noske, Die Entfremdung der ture of Denial, in: Robert Carter/Nickie Charles Lebewesen: Die Ausbeutung im tierindustriellen (eds.), Humans and Other Animals: Critical Perspec- Komplex und die gesellschaftliche Konstruktion tives, London 2011; Kate Stewart/Matthew Cole, von Speziesgrenzen, Wien 2008; Rainer Wieden- The Conceptual Separation of Food and Animals in mann, Tiere, Moral und Gesellschaft, Wiesbaden Childhood, in: Food, Culture and Society, 12 (2009) 2008; ders., Die Tiere der Gesellschaft: Studien zur 4, S. 457–476. Soziologie und Semantik von Mensch-Tier-Bezie- ❙18 Vgl. S. Buschka/J. Rouamba (Anm. 14); Achim Sau- hungen, Konstanz 2002; Michael Fischer, Tierstra- erberg/Tim Wierzbitza, Das Tierbild in der Agrar­ fen und Tierprozesse – zur sozialen Konstruktion ökonomie. Eine Diskursanalyse zum Mensch-Tier- von Rechtssubjekten, Hamburg 2005; ders., Dif- Verhältnis, in: B. Pfau-Effinger/S. Buschka (Anm. 6); ferenz, Indifferenz, Gewalt: Die Kategorie „Tier“ Maren Westensee, Die soziale Konstruktion des Er- als Prototyp sozialer Ausschließung, in: Krimi- ziehungsverhältnisses am Beispiel der Erziehung von nologisches Journal, 33 (2001) 3, S. 170 ff.; Sonja Kindern und Hunden in der Gegenwartsgesellschaft, Buschka/Jasmine Rouamba, Hirnloser Affe, blö- in: ebd. der Hund? „Geist“ als sozial konstruiertes Unter- ❙19 Vgl. Theodor Geiger, Das Tier als geselliges Sub- scheidungsmerkmal, in: B. Pfau-Effinger/S. Busch- jekt, in: Forschungen zur Völkerpsychologie und ka (Anm. 6). Sozio­logie, 10 (1931), S. 283–307.

22 APuZ 8–9/2012 gen Anerkennung ❙20 als ein Wesen mit Sub- Mensch-„Haustier“-Beziehungen von Am- jektqualität (Du-Evidenz), aufgebaut ist. bivalenzen und anthropozentrischen Zugän- Eine weitere Arbeit stammt von Gotthard gen geprägt sind, analysiert Esther Knoth. ❙28 Teutsch, ❙21 der von Geiger den Begriff der Auch im Rahmen der Forschung der GSA Du-Evidenz aufnimmt und eine Systematik sind Analysen zur Mensch-Tier-Interaktion der potenziellen Mensch-Tier-Beziehungen entstanden, insbesondere zur Kommunikati- entwirft. ❙22 Gegenwärtig betont vor allem on von Familien mit ihren Hunden und zum Wiedenmann in einer Theorie humanimali- Einfluss von Geschlecht auf den Umgang mit scher Interaktionssysteme, dass und wie Tie- „­Haustieren“. ❙29 re an gesellschaftlichen Kommunikations- und Interaktionsprozessen teil­nehmen. ❙23 Forschungsschwerpunkt „Das Mensch- Tier-Verhältnis als Herrschafts- und Ge- Auch die US-amerikanische Wissen- waltverhältnis“. Ein weiterer Schwerpunkt schaftshistorikerin Donna Haraway analy- der Analysen der Gesellschaft-Tier-Verhält- siert das Zusammenleben zwischen Men- nisse betrachtet diejenigen Bereiche, die sich schen und Tieren, speziell mit Hunden. ❙24 Sie durch Herrschafts-, Gewalt- oder Ausbeu- fasst die hier entstehende Form der interspe- tungsstrukturen kennzeichnen. Zurückge- zifischen Beziehung mit dem Begriff dercom - griffen wird in diesem Zusammenhang auf panion species, in welcher Hund und Mensch verschiedene soziologische Ansätze zu Ge- sich wechselseitig als Akteure konstituieren. walt und Herrschaft und es wird deren An- Du-evidente/individuelle Beziehungen zwi- wendbarkeit geprüft, etwa auf die Kritik der schen Menschen und Tieren sind vor allem politischen Ökonomie von Karl Marx, ❙30 auf im Bereich der „Haustierhaltung“ anzutref- körpersoziologische Ansätze, ❙31 auf kritisch- fen, welche bisher häufiger Untersuchungs- sozialtheoretische Ansätze, ❙32 auf die Fou- gegenstand war. In den hier zu nennenden caultsche Machtanalytik ❙33 und auf die kriti- Studien geht es einerseits um Kommunika- tions- und Interaktionssituationen zwischen Menschen und tierlichen Akteuren, ❙25 speziell ❙28 Vgl. Esther Knoth, Die Beziehung vom Menschen innerhalb der Mensch-Hund-Beziehung, ❙26 zum Heimtier zwischen Anthropozentrismus und Individualisierung – Ein Gegensatz?, in: Ilse Model- aber auch um die Funktionen, die „Haus- mog/Diana Lengersdorf/Mona Motakef (Hrsg.), An- tiere“ in verschiedenen sozialen und symbo- näherung und Grenzüberschreitung: Konvergenzen lischen Kontexten oder Kommunikations­ Gesten Verortungen, Essen 2008. situationen erfüllen. ❙27 Inwiefern dabei auch ❙29 Vgl. Judith Badel, Welchen kommunikativen Stel- lenwert haben Haustiere? Eine kommunikationsso- ziologische Betrachtung der Mensch-Tier-Beziehung, ❙20 Vgl. ebd., S. 293. in: B. Pfau-Effinger/S. Buschka (Anm. 6); Anne Bee- ❙21 Vgl. Gotthard Martin Teutsch, Soziologie und ger-Naroska/Tom Töpfer, Geschlecht als Prädik- Ethik der Lebewesen. Eine Materialsammlung, tor für Einstellungsunterschiede gegenüber eigenen Frankfurt/M.–Bern 1975. Haustieren, in: ebd. ❙22 Vgl. ebd., S. 49 f. ❙30 Vgl. , Making a killing: the political ❙23 Vgl. R. Wiedenmann 2008 (Anm. 14), S. 173–241. economy of animal rights, Oakland, CA–Edinburgh ❙24 Vgl. Donna Haraway, The Companion Species 2008; Marco Maurizi, Marxismus und Tierbefreiung, Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, in: Susann Witt-Stahl (Hrsg.), Das steinerne Herz Chicago 2003; dies., When Species Meet, Minneapo- der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu einer kri- lis 2007. tischen Theorie für die Befreiung der Tiere, Aschaf- ❙25 Vgl. Clinton Sanders, Actions Speak Louder than fenburg 2007, S. 97–108. Words: Close Relationships Between Humans and ❙31 Vgl. Melanie Bujok, Die Somatisierung der Na- Nonhuman Animals, in: Symbolic Interaction, 26 turbeherrschung. Körpersoziologische Aspekte der (2003) 3, S. 405–426; Leslie Irvine, A Model of Ani- Mensch-Tier-Beziehung, in: Karl-Siegbert Rehberg mal Selfhood: Expanding Interactionist Possibilities, (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlun- in: Symbolic Interaction, 27 (2004) 1, S. 3–21. gen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft ❙26 Vgl. Clinton Sanders, Understanding Dogs, für Soziologie in Kassel 2006, 2 Bde., Frankfurt/M. Caretaker’s Attributions of Mindedness in Cani- 2008, S. 5116–5128. ne-Human Relationships, in: Journal of Contem- ❙32 Vgl. John Sanbonmatsu (ed.), Critical Theory and porary Ethnography, 22 (1993) 2, S. 205–226; ders., Animal Liberation, Lanham, MD 2011. Understanding Dogs: Living and Working with ❙33 Vgl. Sven Wirth, Fragmente einer anthropozentris- Canine Companions, Philadelphia 1999. mus-kritischen Herrschaftsanalytik – Zur Frage der ❙27 Vgl. Jörg R. Bergmann, Haustiere als kommuni- Anwendbarkeit von Foucaults Machtkonzepten für die kative Ressourcen, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Kritik der hegemonialen Gesellschaftlichen Mensch- Kultur und Alltag, Göttingen 1988, S. 299–312. Tier-Verhältnisse, in: Chimaira AK (Anm. 9), S. 43–84.

APuZ 8–9/2012 23 sche Theorie Max Horkheimers und Theo- du­zieren. ❙40 Diese Techniken greifen sowohl dor W. Adornos. ❙34 Als empfindungsfähige auf der materiellen Ebene, ❙41 als auch auf ei- Subjekte können Tiere grundsätzlich Opfer ner kulturell-symbolischen, hier insbesonde- von Gewalt und Machthandlungen werden. re auch sprachlichen Ebene. ❙42 Besonders sind Fischer beleuchtet, wie in der Moderne die diese Sozialtechniken und Strategien auch im ihr eigenen Mechanismen und Transforma- Hinblick auf das Phänomen der Normalisie- tionsprozesse zu einer Institutionalisierung rung des Fleischkonsums beziehungsweise von Macht- und Gewalthandlungen an Tie- der Fleischproduktion beschrieben worden. ❙43 ren beitragen und verwendet hierfür den Be- griff der „Gewaltherrschaft über Tiere“. ❙35 Während die zuvor dargestellten Arbeiten sich theoretisch-allgemein dem Phänomen der verwendet den Begriff des institutionellen Gewalt gegen Tiere widmen, Unterdrückungsverhältnisses und legt hier- befassen sich andere Arbeiten mit deren em- für eine historisch-materialistische Theorie pirischer Untersuchung. Es wurde untersucht, vor. ❙36 Melanie Bujok wirft dabei die Frage wie verschiedene Gewaltverhältnisse jeweils auf, ob der Herrschaftsbegriff noch zurei- durch eine bestimmte soziale Konstruktion chend sei, um „das quantitative und quali- der Tiere legitimiert werden und welche Um- tative Ausmaß der institutionalisierten und gangsstrategien die menschlichen Akteure bei privaten Gewalt gegen Tiere begrifflich ein- einer gewaltförmigen Interaktion jeweils wäh- zufangen“. ❙37 Aus solchen Gründen schlagen len. Dazu gehören unter anderem die Berei- einzelne Autoren und Autorinnen die Ein- che der Vivisektion, der agrarökonomischen führung neuer sozialwissenschaftlicher Ka- „Tierproduktion“ und der Jagd. ❙44 Auch priva- tegorien vor, um die Komplexität der Herr- te, in der Regel negativ sanktionierte Gewalt schaftsbeziehungen gegenüber Tieren zu gegenüber Haustieren wird beleuchtet. ❙45 fassen. Von Noske etwa stammt der Begriff des „tierindustriellen Komplexes“, ❙38 Erika ❙40 Vgl. M. Bujok (Anm. 37); M. Fischer 2001 Cudworth führt das Konzept der Anthropar- (Anm. 14). chy als Alternative für den bisher vor allem ❙41 Vgl. ebd., S. 179; R. Wiedenmann 2002 (Anm. 14), moralphilosophisch gefassten Speziesimus- S. 37 f. ❙42 Vgl. B. Mütherich (Anm. 12); , Ani- ❙39 Begriff ein. mal Equality. Language and Liberation, Derwood 2001; Arran Stibbe, Language, power and the soci- Einen weiteren Schwerpunkt stellt die Ana- al construction of animals, in: Society & Animals, lyse sozialer Bedingungen, Mechanismen, 9 (2001) 2, S. 145–161. 43 Denkformen und Praktiken dar, die eine Ge- ❙ Vgl. Nick Fiddes, Fleisch. Symbol der Macht, Af- waltherrschaft über Tiere – etwa durch unter- foltern 2001; Carol J. Adams, The sexual politics of meat. A feminist-vegetarian critical theory, New schiedliche Rationalisierungs-, Normalisie­ York 1998, S. 40 f.; K. Stewart/M. Cole (Anm. 17); rungs- und Distanzierungsstrategien – (re)pro- , Why we Love Dogs, Eat Pigs, and Wear Cows, San Francisco 2010. ❙44 Vgl. Lynda Birke/Arnold Arluke/M. Michaels, ❙34 Vgl. B. Mütherich 2004 (Anm. 14); Julia Gutjahr/ The Sacrifice: How Scientific Experiments Trans- Marcel Sebastian, Kritische Ansätze zum Mensch- form Animals and People, West Lafayette 2006; Ar- Tier-Verhältnis in der deutschsprachigen Soziologie, nold Arluke/Clinton Sanders, Regarding Animals, in: B. Pfau-Effinger/S. Buschka (Anm. 6); S. Witt- Philadelphia 1996; T. Philips, Savages, Drunks, Stahl (Anm. 30). and Lab Animals: The Researcher’s Perception of ❙35 M. Fischer 2001 (Anm. 14). Pain, in: Society & Animals, 1 (1993) 1, S. 61–81; ❙36 Vgl. David Nibert, Animal rights/human rights: Rhoda Wilkie, deadstock: food animals, entanglements of oppression and liberation, Lenham ambiguous relations, and productive contexts, Phil- 2002. adelphia 2010; Richard Twine, Animals as biotechno- ❙37 Melanie Bujok, Zur Verteidigung des tierlichen logy ethics, sustainability and critical animal studies, und menschlichen Individuums. Das Widerstands- London–Washington 2010; Gary Marvin, Wild Kil- recht als legitimer und vernünftiger Vorbehalt des In- ling. Contesting the Animal in , in: Animal dividuums gegenüber dem Sozialen, in: S. Witt-Stahl Studies Group (ed.), Killing animals, Urbana 2006; (Anm. 30), S. 325. Jan E. Dizard, Mortal stakes. Hunters and hunting in ❙38 B. Noske (Anm. 14). contemporary America, Amherst 2003. ❙39 Vgl. Erika Cudworth, Complexity Theory and the ❙45 Vgl. Arnold Arluke, Just a Dog: Animal Cruel- Sociology of Natures, in: International Journal of In- ty, Self, and Society, Philadelphia 2006; Clifton P. terdisciplinary Social Sciences, 2 (2007) 3, S. 351 ff.; Flynn, Acknowledging the ‚zoological connection‘: dies., Social lives with other animals. Tales of sex, A sociological analysis of animal cruelty, in: Socie- death and love, Basingstoke 2011. ty & ­Animals, 9 (2001) 1, S. 71–87.

24 APuZ 8–9/2012 Ein weiterer Teil der Arbeiten lässt sich Untersuchungen zum Zusammenhang von einem intersektionalen Paradigma ❙46 zuord- Fleischkonsum und Geschlechterverhältnis nen, gemäß dem untersucht wird, inwiefern beziehungsweise Konstruktion von Männ- eine durch Herrschaft und Unterdrückung lichkeit vorgelegt. ❙52 geprägte Mensch-Tier-Beziehung in direk- tem Zusammenhang mit innermenschlichen Forschungsschwerpunkt „Wandel gesell- Ausgrenzungsprozessen und Gewaltprak- schaftlicher Mensch-Tier-Verhältnisse“. Hier tiken steht. Den Autorinnen und Autoren wird untersucht, wie sich die Muster des ge- zufolge verlaufen diese zum einen auf einer sellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisses symbolischen Ebene, beispielsweise inner- über die Zeit wandeln. Zentrale Beiträge wur- halb von Diskursen, Ideologien, Metaphern den hierzu von Wiedenmann geleistet, der und Differenzkonstruktionen, ❙47 zum ande- derartige Muster und die ihnen zugrunde lie- ren auf einer materiellen Ebene, innerhalb genden Semantiken in ihrer historischen Ver- derer beispielsweise Gewalt- und Ausbeu- änderung wissenssoziologisch analysiert und tungspraktiken gegen Tiere und Menschen dabei auch Verbindungen zu zivilisationsthe- ineinandergreifen oder aufeinander folgen. oretischen Ansätzen herstellt. ❙53 Umfassende So untersucht Marjorie Spiegel die Verbin- Untersuchungen über den Wandel der Ide- dungen zwischen Sklaverei und Tierausbeu- en- und Wissensgeschichte des Mensch-Tier- tung, ❙48 Nibert analysiert Parallelen in der Verhältnisses sowie über das gegenseitige Unterdrückung von Tieren und Menschen Aufeinander-Bezogen-Sein von Tieren und aus zivilisationsgeschichtlicher Perspek- Menschen in der gesellschaftlichen Entwick- tive, ❙49 und mit dem Konzept des Human- lung stammen von Hartmut Böhme et al. und Animal-Violence Links wird die Verbindung Paul Münch. ❙54 illegalisierter Gewalthandlungen gegenüber Tieren und gegenüber Menschen unter- In einer weiteren Forschungsrichtung sucht. ❙50 Weiterhin wurde aus feministischer dieses Schwerpunkts werden soziale Bewe- Perspektive versucht, die Interdependenzen gungen erforscht, die auf den Wandel gesell- zwischen der Herrschaft über Tiere und ei- schaftlicher Mensch-Tier-Verhältnisse ab­ nem hierarchisch geprägten Geschlechter- zielen. Im Vordergrund stehen dabei die verhältnis zu analysieren, und es wurde auf Typisierung derartiger Bewegungen, ihre Parallelen zwischen Konstruktion von Ge- Entstehung und Entwicklung, ihre theore- schlechtlichkeit und Konstruktion „des Tie- res“ hingewiesen. ❙51 Insbesondere wurden Feminist theoretical explorations, Durham–London 2006; Brian Luke, Brutal. Manhood and the exploi- ❙46 Der Begriff der Intersektionalität bezeichnet die tation of animals, Urbana 2007; Lynda Birke, Fe- Interdependenzen und Überschneidungen verschie- minism, Animals and Science: The Naming of the dener Machtverhältnisse. Shrew, Buckingham–Philadelphia 1994; Doris Jan- ❙47 Vgl. B. Mütherich (Anm. 12). shen, Frauen, Männer und dann auch noch Tiere. Zur ❙48 Vgl. Marjorie Spiegel, The Dreaded Comparison: kulturellen Integration des „Animalischen“, in: Ilse Human and Animal Slavery, New York 1997. Modelmog/Edit Kirsch-Auwärter (Hrsg.), Kultur in ❙49 Vgl. D. Nibert (Anm. 36). Bewegung. Beharrliche Ermächtigungen, Freiburg/ ❙50 Vgl. (Hrsg), The Link between Br. 1996. Animal Abuse and Human Violence, Eastbourne ❙52 Vgl. C. J. Adams (Anm. 51); Julia Gutjahr, In- 2009; Frank Ascione, The abuse of animals and hu- terdependenzen zwischen Tierausbeutung und man interpersonal violence: Making the connection, Geschlechterverhältnis – Fleischkonsum und die in: ders./Phil Arok (eds.), Child abuse, domestic vio- soziale Konstruktion von Männlichkeit, unveröf- lence and animal abuse: Linking the circles of com- fentlichte Diplomarbeit, Universität Hamburg 2012; passion for prevention and intervention, West Lafay- Jovian Parry, Gender and slaughter in popular gas- ette 1999; Clifton P. Flynn, Woman’s best friend: pet tronomy, in: Feminism & Psychology, 20 (2010) 3, abuse and the role of companion animals in the lives S. 381–396; Erika Cudworth, ‚Most farmers prefer of battered women, in: Violence Against Women, 6 Blondes‘: The Dynamics of Anthroparchy in Ani- (2000) 2, S. 162–177; Frank Ascione/Claudia Weber/ mals Becoming Meat, in: Journal for Critical Animal David S. Wood, The Abuse of Animals and Domestic Studies, 6 (2008) 1, S. 32–45. Violence: A National Survey of Shelters for Women ❙53 Vgl. R. Wiedenmann 2008 (Anm. 14); ders. Who Are Battered, in: Society & Animals, 5 (1997) 3, (Anm. 6). S. 205–218. ❙54 Vgl. Hartmut Böhme et al., Tiere. Eine andere An- ❙51 Vgl. Carol J. Adams, Neither Man nor Beast. Fe- thropologie, Köln u. a. 2004; Paul Münch, Tiere und minism and the Defense of Animals, New York 1995; Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären dies./ (eds.), Animals & Women. Verhältnisses, Paderborn 1998.

APuZ 8–9/2012 25 tische Fundierung, ihre Methoden und die dieser sozialen Bewegungen, der Analyse Reaktionen ihrer Opponenten. Weiter geht von Kampagnen, ihren Wirkungen und Er- es um ihren Beitrag zum Wandel des Gesell- folgsbedingungen. ❙59 schaft-Tier-Verhältnisses. Während Strategien der TRBB meist das Die Bewegungen lassen sich demnach in gesamte Spektrum gesellschaftlicher Akteu- zwei unterschiedliche Strömungen untertei- rinnen und Akteure adressieren, richten sich len, in die Tierschutzbewegung (TSB), de- die Strategien von TSB oft an die Politik mit ren Ziel die Minderung von Tierleid durch der Forderung, (wirksamere) Tierschutz- Reformierung tiernutzender Praktiken und gesetze zu erlassen. Erin Evans arbeitete in Industrien ist, und in die Tierrechts-/be- einer komparativen Studie heraus, wie kul- freiungsbewegung (TRBB), deren Ziel die turelle Faktoren, institutionelle Arrange- Abschaffung tiernutzender Praktiken und ments und ungeplante Ereignisse im Zu- Industrien ist. ❙55 In der Forschung zur Ent- sammenspiel mit der Bewegungsarbeit des stehung und Entwicklung von TSB und Frame-Bridgings ❙60 eine Verankerung von TRBB wird die Geschichte spezifischer Or- Tierschutzaspekten in der deutschen und ganisationen untersucht, wofür theoretische schweizerischen Verfassung ermöglicht ha- Ansätze der sozialen Bewegungsforschung ben. ❙61 Ein weiterer Strang der Erforschung genutzt werden. ❙56 Wichtige Arbeiten zur von TSB und TRBB betrifft deren Wahr- deutschen TRBB stammen von Bujok und nehmung in der Öffentlichkeit und die Re- Aiyana Rosen, die theoretische Ansätze der aktion ihrer Opponenten sowie staatlicher sozialen Bewegungsforschung auf die TRBB ­O r g a n e . ❙62 ­anwenden. ❙57

Ein weiterer Aspekt der Erforschung von Resümee und Perspektiven TSBs und TRBBs ist deren ideologische be- der Human-Animal Studies ziehungsweise theoretische Fundierung. Hier sind Arbeiten von Lyle Munro und Human-Animal Studies sind ein aufstreben- / zu nennen, des Forschungsgebiet, dessen akademische die mittels Interviews und New Social Mo- Etablierung insbesondere im deutschspra- vement- und Resource Mobilization-Theo- chigen Raum noch in den ersten Zügen liegt. rien philosophische, (öko)feministische und Dennoch wurde bereits eine nennenswerte ökologische Argumentationsfiguren heraus- arbeiten. ❙58 Ferner befasst sich die Forschung ❙59 zu den TSB und TRBB mit den Strategien Vgl. Mieke Roscher, Bildgeschichtliche Analy- se der visuellen Repräsentation der Tierrechtsbe- wegung, in: Chimaira AK (Anm. 9), S. 335–376; ❙55 Zur Typisierung vgl. James Jasper/Dorothy Nel- J. Jasper/D. Nelkin (Anm. 55); L. Munro (Anm. 55); kin, The Animal Rights Crusade: The Growth of a L. Finsen/S. Finsen (Anm. 55). Moral Protest, New York 1992; Lawrence Finsen/Su- ❙60 Frame-Bridging ist eine Strategie, welche die For- san Finsen, The in Ame- derung nach Rechten für Tiere mit aktuellen (mensch- rica From Compassion to Respect, New York 1994; lichen) gesellschaftlichen Interessen oder Problemen Lyle Munro, Confronting Cruelty: Moral Ortho- verbindet, um so ein größeres Mobilisationspotenzial doxy and The Challenge Of The Animal Rights Mo- zu erzeugen. vement, Leiden 2005. ❙61 Vgl. Erin Evans, Constitutional Inclusion of ❙56 Vgl. J. Jasper/D. Nelkin (Anm. 55); L. Finsen/​ Animal Rights in Germany and Switzerland: How S. Finsen (Anm. 55); Mieke Roscher, Ein Königreich Did Animal Protection Become an Issue of Natio- für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechts- nal Importance?, in: Society & Animals, 18 (2010) 3, bewegung, Marburg 2009. Vgl. auch den Beitrag ders. S. 231–250. in dieser Ausgabe. ❙62 Vgl. J. Jasper/D. Nelkin (Anm. 55); L. Finsen/​ ❙57 Vgl. Melanie Bujok, In sozialer Bewegung für Tie- S. Finsen (Anm. 55); John Sorensen, Constructing re. Die Tierrechtsbewegung und die Tierbefreiungs- Terrorists: Propaganda about Animal Rights, in: Cri- bewegung, in: PraxisSoziologie (Anm. 6); Aiyana tical Studies on Terrorism, 2 (2009) 2, S. 237–256; Ro- Rosen, Vom moralischen Aufschrei gegen Tierversu- ger Yates, Criminalizing protests about animal abuse: che zu radikaler Gesellschaftskritik – Zur Bedeutung Recent Irish experience in global context, in: Crime, von Framing-Prozessen in der entstehenden Tier- Law, and Social Change, 55 (2011), S. 469–482; ders., rechtsbewegung der BRD 1980–1995, in: Chimaira Debating Animal Rights Online: The Movement- AK (Anm. 9), S. 279–334. Countermovement Dialectic Revisited, in: Piers ❙58 Vgl. L. Munro (Anm. 55); L. Finsen/S. Finsen Beirne/Nigel South (eds.), Issues in Green Crimino- (Anm. 55). logy, New York 2007.

26 APuZ 8–9/2012 Zahl wissenschaftlicher Forschungen mit un- Peter Dinzelbacher terschiedlichen thematischen Schwerpunkten zum gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhält- nis geleistet und publiziert. Wie bei einem Gebrauchstiere jungen Forschungsgebiet nicht anders zu er- warten, gibt es jedoch noch viele Forschungs- lücken, die insbesondere auch die Sozialwis- und Tierfantasien. senschaften betreffen. Mensch und Tier So mangelt es bisher aus unserer Sicht an empirischer Forschung, mit deren Hilfe die bisherigen theoretischen Ansätze überprüft in der europäischen und weiterentwickelt werden können. Zum Beispiel ist trotz einiger theoretischer oder empirischer Vorarbeiten zu den jeweiligen Geschichte Faktoren das systematische Zusammenwir- ken zwischen institutionellen Konstellatio- iemand wird glauben, es ließe sich auf nen, gesellschaftlichen Akteuren, kulturellen Nden wenigen folgenden Seiten das Ver- Leitbildern und sozialen Mechanismen im ge- hältnis des Menschen zur Tierwelt anders als sellschaftliche Mensch-„Nutztier“-Verhältnis in einigen ausgewähl- des gegenwärtigen Deutschlands weitgehend ten Aspekten und dif- Peter Dinzelbacher unerforscht. ferenzierter als in holz- Dr. phil., geb. 1948; Professor schnittartiger Manier für Sozial- und Mentalitäts­ Weiterhin verspricht eine Erforschung von darlegen. Wie aber in geschichte (pensioniert); spezifischen Ambivalenzen als Ausgangs- der Geografie zu einer Hirschenhöh 6, 5450 Werfen punkt für gesellschaftlichen Wandel von ersten Orientierung in Salzburg/Österreich. Mensch-Tier-Verhältnissen Aufschluss über die kleinmaßstäblichen [email protected] dessen Richtung, Dynamiken und konstitu- Übersichtskarten, auf tive Elemente. Auch eine Einbeziehung einer denen eine Stadt zu einem Punkt zusammen- historischen oder internationalen Vergleichs- schrumpft, genauso unentbehrlich sind wie dimension sowie transnationaler Rahmenbe- die großmaßstäblichen Detailwerke, die jedes dingungen erscheint für eine tiefergehende einzelne Haus dieser Stadt verzeichnen, so hat Analyse gesellschaftlicher Mensch-Tier-Ver- auch in der Geschichtsschreibung die generali- hältnisse geboten. sierende Übersicht ihre Berechtigung. In die- sem Sinne sei sie für die Zeit vom Mittelalter Natürlich können dies nur unvollständi- bis zum 19. Jahrhundert gewagt. ❙1 Es ist evi- ge Beispiele und Hinweise für weitere For- dent, dass die genannten Beispiele beliebig ver- schungen darstellen, denn das potenzielle vielfacht und ergänzt werden ­könnten. Forschungsfeld der HAS ist vielfältig, genau wie es die menschlichen Beziehungen zu Tie- ren und die gesellschaftlichen Bedeutungen Realitäten von Tieren sind. Das primäre Verhalten des Menschen gegen- über seinen Mitgeschöpfen war stets das Be- streben, sie seinen Bedürfnissen dienstbar zu machen. Sich von Tieren zu ernähren, ist dem Menschen biologisch vorgegeben, und seine beiden Eckzähne, eigentlich Fangzäh- ne, erinnern an jene Phase der Phylogenese, in er seine lebende Beute noch ohne künst- liche Hilfsmittel festhalten musste. Die Ge- schichte der Jagd – Schule für den Kampf und das Töten wie für erfolgsorientiertes Zusam- menwirken – zeigt keine große Eigendyna- mik während der hier betrachteten Epochen. Feuerwaffen beispielsweise wurden zuerst

APuZ 8–9/2012 27 Abbildung 1: Bei der älteren Form des Anschirrens unter anderem von Ungarn bis Frankreich lag die ganze Belastung auf dem Nacken und Kopf geführt wurden. des Tieres, statt wie beim jüngeren Kummet auf dem ganzen Rumpf. Generell wird man sich die Symbiose zwi- schen Mensch und domestiziertem Tier sehr intensiv vorstellen müssen: Im bäuerlichen Bereich war vielfach ein Zusammenleben im selben Raum oder unmittelbar angrenzend üblich (Hühner wurden noch bis vor Kurzem in der Bauernstube unter die Bänke gesperrt). Auf erstaunlich vielen Bilder von Kirchenin- nenräumen aus Renaissance und Barock sieht man Hunde frei im Sakralbau herumlaufen.

Quelle: Fresko im Kreuzgang des Doms zu Brixen, um 1410; Durchaus gab es schon eine gezielte Zucht ­Peter Dinzelbacher. bei allen Haus- und Nutztieren, wobei nicht ästhetisch interessante, sondern leistungs- für den Krieg entwickelt und erst sekundär fähige Rassen das Ergebnis sein sollten. zum Erlegen des Wildes angewandt. Wenigs- Frühmittelalterliche Gesetze kannten be- tens seit der Intensivierung des Ackerbaus reits an die zehn nach Aufgaben differen- im hohen Mittelalter (11. bis 13. Jahrhundert) zierte Hundetypen. ❙2 Wie beim Obst- und wurde die Jagd auf Hochwild mehr und mehr Weinbau spielten auch hier die Klöster eine ein Privileg des Adels, wie der Fleischgenuss bemerkenswerte Rolle: Ihnen dürfte neben generell eher den Oberschichten vorbehal- der Karpfenhaltung die Kaninchenzucht zu ten war. Dass in der Frühneuzeit von wohl verdanken sein. Noch schwerer lastete die allen Herrscherhäusern sehr gern Hof- und Hand des Menschen auf jenen Rassen, denen Schaujagden veranstaltet wurden, bei denen er Arbeit aufbürden konnte. Im agra­ri­schen man weit über den Bedarf hinaus Tiere töte- Bereich waren die Bedingungen für einige te, zeigt sowohl die Umfunktionierung ei- Tiere wohl in etwa artgerecht, die Schwei- nes einst lebensnotwendigen Verhaltens zur ne beispielsweise hatten viel Auslauf, da man Unterhaltung und Demonstration des sozia- sie in die Wälder trieb, wo sie sich ihr Futter, len Ranges als auch die weitgehende Absenz besonders Eicheln, selber suchten. Auch mag ökologischer Planung. das gemeinsame Leben der bäuerlichen Fa- milie mit den Tieren, von deren Gesundheit Für das Insgesamt der Ernährung wesent- und Leistungsfähigkeit man abhing, einer lich wichtiger war die Haustierhaltung, wo- schrankenlosen Ausnutzung Grenzen ge- bei Kleinvieh lange auch von den Bürgern in setzt und ein eher symbiotisches Verhältnis den Städten gehalten wurde. Die Nutztiere ermöglicht haben. Aber etwa zur Arbeit der waren kleiner als heute und deutlich weniger Ochsen und Pferde vor dem Pflug verwende- produktiv; von einer Kuh molk man im Mit- te man jahrhundertelang ­Joche, die nicht nur telalter kaum ein Zehntel der Milch, die heu- ergologisch sehr ungünstig waren, sondern te zu erhalten ist. Vieh züchteten neben den die Tiere auch sinnlose Anstrengung und sesshaften Bauern ebenso die wandernden Schmerzen kosteten (Abbildung 1). Hirten; zwischen ihnen kam es oft zu Kon- flikten. Ein schwieriges logistisches Problem Es ist kaum vorstellbar, was etwa an Reit- stellten beispielsweise die bis zu 3000 Kilo- pferden verbraucht wurde. Seit der Karolin- meter zurücklegenden Ochsenzüge des spä- gerzeit bis zur Renaissance wurden Schlach- ten Mittelalters und der frühen Neuzeit dar, ten ganz vorwiegend zu Pferd ausgefochten, wie sie in vielen Hundert zählenden Herden und bis zum Ersten Weltkrieg blieb die Ka- vallerie ein stets präsenter Truppenteil. Un- geachtet ihres Preises galten seine Tiere dem ❙1 Für eingehendere Informationen vgl. Peter Din- zelbacher (Hrsg.), Mensch und Tier in der Geschich- te Europas, Stuttgart 2000 (mit ausführlichen Li- ❙2 Vgl. Adelheid Krah, Tiere in den langobardi- teraturhinweisen). Im Folgenden werden nur dort schen und süddeutschen Leges, in: Sieglinde Hart- nicht nachgewiesene Einzelheiten und Quellenzitate mann (ed.), Fauna and Flora in the Middle Ages, ­belegt. Frankfurt/M. 2007, S. 33–52, hier: S. 46.

28 APuZ 8–9/2012 Abbildung 2: Pferdemühle in einer Brauerei

Quelle: Kupferstich in Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Planches II/1, Livourne 17723, Pl. 3/86; Peter Dinzelbacher.

Ritter kaum mehr als seine Eisenwaffen; den Menschen verrichten sehen, Hunde un- ein Pferd war selten ein Partner, ❙3 sondern ter Tage vor die Förderwagen gespannt oder ein Nutzobjekt, mit dessen Wert man prah- Pferde in der ewigen Eintönigkeit der mecha- len konnte. Ein extremer, aber symptomati- nischen Mühlen, vom Einsatz in der Land- scher Fall: Bei einem Adelstreffen verbrann- wirtschaft und im Verkehrswesen ganz abge- te im 12. Jahrhundert ein Teilnehmer „aus sehen (Abbildung 2). Angeberei“ vor aller Öffentlichkeit 30 seiner Pferde. ❙4 Aber wie oft liest man auch in den Auch die Medizin schon vor Beginn der Quellen, so und so viele Pferde seien von ihm wissenschaftlichen Tierversuche ­benutzte zu Schanden geritten worden, wenn ein be- diese Lebewesen bedenkenlos. Als Beispiel sonders schneller Reiter gelobt werden soll- sei zitiert, was die heilige Hildegard von Bin- te, und wie vollkommen normal waren Tod gen (die ihre naturkundlichen Einsichten und Verstümmlung von Pferden auf dem auch dort, wo sie nachweisbar früheren Au- Schlachtfeld! toren entnommen sind, als göttliche Offen- barungen bezeichnete ❙5) als Mittel gegen das In der gesamten hier betrachteten Zeit, aber Wechselfieber vorschreibt: Man nehme eine noch im frühen 20. Jahrhundert, ehe sie die Maus, versetze ihr einen Schlag und binde sie Maschine endgültig unnötig machten, konn- zwischen die Schultern des Patienten, bis sie te man Tiere vielfältigst schwerste Arbeit für stirbt. So wird dieser Mensch geheilt sein. ❙6 Ähnliche Rezepte waren in der Volksmedi- zin fast bis in die Gegenwart verbreitet. ❙3 Eine extreme Ausnahme ist die Zuneigung des Willehalm (im gleichnamigen Roman des Wolfram von Eschenbach) zu seinem Ross Pussat. ❙5 Vgl. Laurence Moulinier, Naturkunde und Mys- ❙4 Vgl. Gaufridus de Bruil, Chronica 1, 69: Nach der tik bei Hildegard von Bingen, in: Peter Dinzelbacher Ausgabe bei Bouquet, online: www.guyenne.fr/Ar- (Hrsg.), Mystik und Natur, Berlin 2009, S. 39–60. chivesPerigord/Varia1/Documents/Gaufredi_Vosi- ❙6 Vgl. Hildegard von Bingen, Das Buch von den Tie- ensis1.htm (25. 1. 2012). ren, übers. von Peter Riethe, Salzburg 1996, S. 123.

APuZ 8–9/2012 29 Die ohnehin auf den natürlichen Macht- ihrer Bedürfnisse und Biologie, zum anderen verhältnissen basierende Überlegenheit des Teil aber mit Absicht, da Tierquälerei ein we- Menschen hätte auch ohne jeden ideologi- der gesellschaftlich, noch rechtlich und schon schen Überbau zu der faktisch zu beobach- gar nicht religiös abgelehntes Verhalten war. tenden Nutzung der Tiere in jeder Form Vielmehr zählte es zu den populären Vergnü- geführt. Aber in Alteuropa wurde diese Ein- gungen: Ein Lieblingssport der Skandinavier stellung noch zementiert durch die alle Le- war es, ihre Pferde zu blutigen Kämpfen auf- bensbereiche durchdringenden Vorgaben einander zu hetzen (in Norwegen bis in die der christlichen Religion. Sie lieferte für die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts ❙8), die Eng- Nachdenkenden die Legitimation für jede länder taten dasselbe mit Hähnen und züch- Rücksichtslosigkeit: Hätte Christus die unrei- ten spezialisierte Kampfhunde, Bulldoggen, nen Geister in Schweine gebannt, die sich im für grausame Attacken gegen Stiere und Bä- Wasser des Sees Genezareth ersäufen muss- ren, in Frankreich pflegte man Katzenmassa- ten (Matthäus 8, 28 ff.), wenn sie nicht an sich ker als Brauchtum. Wer weiß heute, dass sich böse wären? Hatte der Apostel nicht betont, in Wien zur Zeit Maria Theresias eine eige- dass Gott sich keineswegs um Tiere kümmere ne Arena für Stierhetzen großer Beliebtheit (1 Korinther 9, 10)? Wie sehr eine solche Ein- ­erfreute? stellung den Katholizismus geprägt hat, zeigt am besten das Verbot des seliggesprochenen Ansätze dazu, Tiere als fühlende Wesen Papstes Pius IX. (reg. 1846 bis 1878), in Rom zu betrachten, denen man keinen unnötigen einen Tierschutzverein zu errichten. Dagegen Schmerz zufügen solle, entwickelten sich mit waren die ersten in Deutschland, die damals der Aufklärung und nicht zufällig in Paral- den Tierschutzgedanken aufnahmen, evange- lele mit der Befürwortung der Abschaffung lische Pastoren, die sich auf eine Stelle des Al- der gerichtlichen Tortur und der Emanzi- ten Testaments beriefen (Sprüche 12, 10). pation der Sklaven, fanden aber erst ab 1822 Eingang in die nationalen Gesetze (zuerst in Tiere wie fühllose Sachen zu behandeln, England). Ob hier nicht auch ein Zusammen- muss als Grundeinstellung des alt­euro­pä­ hang mit der Kampagne ❙9 gegen das bisher al- ischen Menschen qualifiziert werden. Die lenthalben praktizierte strenge Wickeln der Stellung des Tieres als res, als Sache im römi- Kleinkinder und ihrem langsamen Erfolg an- schen Recht ist nur der juridische Ausdruck zunehmen ist? dieser Einstellung, ihre bis ins 20. Jahrhun- dert nachwirkende Legitimierung. Zwar Tierliebe hätte es also früher nicht gege- scheint es nicht üblich gewesen zu sein, Kin- ben? Zweifelsohne ja, aber es handelt sich der regelrecht zu Tierquälern zu erziehen, zuallermeist um Beziehungen eines Einzel- wie bei den Hopi- und Navajo-Indianern, ❙7 nen zu einem bestimmten Lebewesen, das aber Tiere als misshandeltes Spielzeug (wie an die Stelle eines menschlichen Gesprächs- der „Vogel am Faden“) waren auch bei uns im partner trat. Nicht zufällig wurde es im Mit- Mittelalter und der Frühneuzeit ganz üblich. telalter als Zeichen der Heiligkeit – also ei- nes Ausnahmephänomens – angesehen, wenn Wenn es richtig ist, dass die Funktion der jemand Mitleid für hungernde Vögel oder Spiegelneuronen uns angeboren ist, näm- Waldtiere empfinden konnte. ❙10 Ähnlich sol- lich mit anderen Wesen Mitleid zu empfin- len sogar die wilden Tiere die „Milde“ eines den, dann muss man sich fragen, wieso diese Herrschers erkannt haben und ihm zugelau- Funktion in den hier betrachteten Epochen fen sein, wie etwa ein Zeitgenosse von Kaiser nur bei sehr wenigen Ausnahmen wirkte, Friedrich III. erzählt. ❙11 wogegen heute doch die Mehrzahl der Eu- ropäer entsprechende Empfindungen kennt und berücksichtigt. Denn die Geschichte des ❙8 Vgl. Svale Solheim, Hestekamp, in: Kulturhisto- Gebrauchs der Tiere ist zugleich eine Ge- risk leksikon for nordisk middelalder, Bd. 6, 1961, schichte ihrer Qualen. Diese wurden ihnen Sp. 538–540. 9 zum Teil zugefügt aus schlichter Unkenntnis ❙ Vgl. R. Frenken (Anm. 7), S. 267 ff. ❙10 Vgl. Gabriela Kompatscher/Albrecht Classen/Pe- ter Dinzelbacher, Tiere als Freunde im Mittelalter, ❙7 Vgl. Ralph Frenken, Gefesselte Kinder. Geschich- Badenweiler 2010. te und Psychologie des Wickelns, Badenweiler 2011, ❙11 Vgl. A. F. Kollarius, Analecta monumentorum S. 79 ff. omnis aevi Vindobonensia II, Wien 1762, Sp. 564 f.

30 APuZ 8–9/2012 Während in einigen Teilen Europas Tiere Abbildung 3: Die dritte Person Gottes in Tauben- immer noch öffentlich zur Belustigung ge- gestalt erleuchtet eine Heilige, während sie der martert werden (Spanien), ist allenthalben Dämon in Schlangengestalt bedrängt. eine Einstellung entschwunden, die notwen- digerweise die früheren Generationen ent- wickeln mussten, nämlich die, im Tier einen unheimlichen und grausamen Feind zu se- hen. Es ist keine Übertreibung, sondern his- torische Tatsache, dass früher Wölfe in kal- ten Wintern in Dörfer und Städte einbrachen und Kinder aus der Wiege rissen oder Bären ganze Viehherden dezimierten; die Ausrot- tung solcher Tiere war verständlicher Selbst- schutz, ihre künstliche Wiedereinführung in der Gegenwart ist unverantwortliche Macht- demonstration nach dem Motto: Was wir Menschen vernichtet haben, können wir auch neu beleben, wie es uns gerade beliebt. We- gen dieser Ideologie werden nun wiederum Herdentiere qualvoll gerissen, nur damit der ausschließlich menschliche Wert der Plurali- tät gefördert wird – dem Bären ist es völlig egal, ob er noch 20 seinesgleichen in der Regi- on hat oder 2000. Wer heute die höheren Tie- re als „Mitgeschöpfe“ ansieht, kann die ma- nipulierte Neuverbreitung von Raubtieren nicht wollen.

Vorstellungen

In allen Kulturen hat man die Tierwelt auch Quelle: Kupferstich aus der Vita der hl. Wilbirg von St. Flori- als Projektionsfläche für menschliche Äng- an: Triumphus castitatis, ed. B. Pez, Augustae 1715, Frontispiz; ­Peter Dinzelbacher. ste und Wünsche gebraucht, und tut es bis- weilen noch immer, wie die eben genannten Bestrebung zeigen. Einer älteren Mentali- tät gehört das Tier als Träger einer religiö- Entscheidungen abhängig machte; Ähnli- sen Macht an (Abbildung 3). Dass Tiere Er- ches wird auch von den älteren Germanen scheinungsformen einer Gottheit sind oder berichtet. ❙13 ihr zugeordnet werden, kennt man aus wohl allen polytheistischen Religionen. Äußerst Obwohl der neue Glaube die Götter aller verbreitet war auch die Opferung von Tie- anderen Religionen verwarf oder zu Dämo- ren und der Verzehr ihres Fleisches zur Eh- nen erklärte, blieben in ihm doch Reste the- ren der Götter. Solche Traditionen wur- riomorpher Vorstellungen erhalten. Der hei- den bei der Christianisierung unterdrückt; lige Geist erscheint bis heute als Taube und bei der Islands im Jahr 1000 beispielswei- Jesus als Lamm, drei der Evangelisten als Tie- se scheint das Verbot, Pferdefleisch zu es- re. Theologen bezeichnen solches als Allego- sen, von gleicher Wichtigkeit zu sein, wie rien, aber im religiösen Erleben konnte dies das Verbot, Kinder auszusetzen. ❙12 Bei den ganz real werden: Die bekannte Mystikerin Westslaven war vor der Christianisierung Mechthild von Magdeburg (zweite Hälfte des das Pferd ein so geheiligtes Orakeltier, dass 13. Jahrhunderts) schaute Jesus als „ein bluti- man von seinem Verhalten lebenswichtige ges Lamm, gehangen an einem roten Kreuze.

❙12 Vgl. Brita Egardt, Hästkött, in: Kulturhistorisk lek- ❙13 Vgl. Marc-André Wagner, Le cheval dans les sikon for nordisk middelalder, Band 7, 1962, Sp. 280 f. croyances germaniques, Paris 2005, S. 182 ff.

APuZ 8–9/2012 31 Abbildung 4: Der Christ im Kampf mit dem Teufel ther, Pferde zählten auch Adler zu den meist- in Löwengestalt, hinter ihm ein Affe als Symbol der verwendeten Wappentieren ❙16 zunächst des Unzucht, dem er den Rücken zuwendet. Adels und der Ritterschaft, später auch des gehobenen Bürgerstand. Schon früher hatten Namen wie Arnold, Bernhard oder Wolfgang dem Träger die Kräfte des Raubvogels bezie- hungsweise der Raubtiere übertragen wol- len, nun drohten sie augenfällig von Schild, Fahne und Waffenrock. Als Rodrigo Borgia 1492 seine Erhebung zum Papst feierte, er- schien sein Wappentier, der Stier, „in so vie- len Emblemen und Figuren und wurde mit so viel Epigrammen besunden, daß ein Satiri- ker hätte sagen dürfen, man feiere in Rom die Auffindung des heiligen Apis“, ❙17 des altägyp- tischen Stier-Gottes.

Symbolische Bedeutungen von Tieren konn- ten gleichermaßen in die positive wie die ne- Quelle: Bauplastik an der Liebfrauenpforte des Mainzer Doms, gative Sphäre zielen, sogar für ein und das- um 1115; Peter Dinzelbacher. selbe Tier. Der Löwe beispielsweise war nach der Bibel einerseits als Christus, andererseits als der Teufel zu verstehen. Der Hund galt als Mit so süßen Augen sah es uns an, dass ich es Emblem der Treue nicht seltener denn als Zei- nimmer mehr vergessen kann“. ❙14 Andere Eks- chen der Unzucht oder des Neides. Andere tatikerinnen erlebten noch eindrücklichere Vi- Lebewesen wie der Skorpion oder das Lamm sionen, etwa das Lamm Gottes mit menschli- waren dagegen, wieder durch die Bibel, auf cher Haut statt des Felles. Über der Porta della eine eindeutig böse oder gute Rolle festgelegt. Carta des gotischen Dogenpalastes kniet der Als Beispiel für die primär negative Konnota- Doge vor einem großen Löwen – dem Stadt- tion der Tiersymbolik im christlichen Europa patron Markus. Häufiger treten vor allem die seien die gemalten Schandbriefe genannt, öf- gefallenen Engel und Satan in Tiergestalt auf. fentlich angeheftete Rufschädigungen etwa So war der Kampf mit dem Löwen in der ro- im Zuge einer Fehde. Die Gescholtenen wer- manischen Kunst ein beliebter Ausdruck für den am Galgen, Rad oder Pranger dargestellt, den Streit des Christen gegen den Teufel, wie Galgenvögel nähern sich ihnen, sie müssen beispielsweise am Mainzer Dom zu sehen verkehrt auf einem negativ konnotierten Tier (Abbildung 4). ❙15 In unzähligen Berichten von reiten, sind dabei, einem Schwein oder einem Visionen seit der Spätantike (Leben des hei- Esel ihre Petschaft (Siegelstempel) auf den ligen Abtes Antonius, ins Bild gebracht u. a. Hintern zu drücken – sinnfälliger Ausdruck von Grünewald) erscheinen die Dämonen in des „Wertes“, den der Ankläger ihrem Siegel Tiergestalt, die Höllenbilder nicht nur eines zuschreibt. ❙18 Hieronymus Bosch sind voll davon. Ein uns fremd gewordener Vorstellungs- Wenn über den Abgeordneten des Bun- komplex ist der, Mensch und Tier könnten destages in Berlin wie über jenen des Parla- sich vermischen. Hier ist nicht an Sodomie ments in Wien mächtige Adlerreliefs thro- zu denken, wie man im Mittelalter den meist nen, so sind dies anscheinend immer noch mit dem Tod bestraften Geschlechtsverkehr unverzichtbare survivials einer erst um 1100 entwickelten Tiersymbolik. Wie Löwen, Pan- ❙16 Vgl. Heiko Hartmann, Tiere in der historischen und literarischen Heraldik des Mittelalters, in: S. Obermaier (Anm. 15), S. 147–179. ❙14 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht ❙17 Ferdinand Gregorovius, Lucrezia Borgia, Mün- der Gottheit 2, 4. chen 1982, S. 52. ❙15 Vgl. Anette Pelizaeus, Greif, Löwe und Drache. ❙18 Vgl. Matthias Lentz, Konflikt, Ehre, Ordnung. Die Tierdarstellungen am Mainzer Dom, in: Sabine Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schand- Obermaier (Hrsg.), Tiere und Fabelwesen im Mittel- bildern des späten Mittelalters und der frühen Neu- alter, Berlin 2009, S. 181–205. zeit (ca. 1350 bis 1600), Hannover 2004.

32 APuZ 8–9/2012 zwischen den Spezies nannte, sondern an jene hatten (was nicht ganz selten vorkam), zum Zwischenwesen, die schon der Antike nicht Tode verurteilt, oder Mäusen, die Flurschä- unbekannt waren, beispielsweise die Sphinx den verursachten, mit bestimmter Fristset- oder der Kentaur. Das frühe Mittelalter hat- zung der Umzug auf ein unbebautes Grund- te solche Vorstellungen weitestgehend tabui- stück geboten – als ob diese die Aussprüche siert; seit dem 12. Jahrhundert kommen da- der Advokaten und Richter hätten verstehen gegen die vielfältigsten Zusammensetzungen können, als ob sie bewusst schuldhaft ge- in der bildenden Kunst vor, namentlich in der handelt hätten. Diese rein situationsbeding- Buchmalerei und der Bauplastik. Seit damals te Ausstattung der Tiere mit einer Rechtsper- waren auch satirische Romane verbreitet, in sönlichkeit scheint im Zuge der damals sehr denen die verschiedenen Tiere Menschen mit expandierenden Verrechtlichung fast aller ihren Lastern verkörpern – am bekanntesten Lebensbereiche erfolgt zu sein und hat mit die epischen Texte über Reineke Fuchs, die heutigen Erwägungen einer juridischen Per- noch auf Gottsched und Goethe ihre Faszi- sonenstellung für Tiere nichts zu tun, denn nation ausübten. Der Löwe als Repräsentant in allen Fällen wurde das gelehrte Recht ge- des leichtgläubigen bis brutalen Monarchen, gen diese eingesetzt. der Fuchs als der raffinierte Betrüger, der Wolf Isegrim als gieriger, aber dummer Ver- Das Zeitalter des Rationalismus projizierte lierertyp. Mickey Mouse und Donald Duck ganz andere Konzepte auf die Fauna: Wie die sind ferne Nachfahren jener hochmittelalter- Biologie des Menschen als Funktionieren ei- lichen Tierdichtung. ner Maschine interpretiert wurde, so auch die der Tiere – „L’homme Machine“ war der pro- Doch wird die an sich schon ältere Vor- grammatische Titel eines Buches, das der Arzt stellung, Menschen könnten sich wirklich in und Philosoph Julien de La ­Mettrie 1748 ver- Tiere verwandeln, erst ab dem 12. Jahrhun- öffentlichte. Dies führte schon damals, und dert verbreitet und hält sich bis in die Auf- im folgenden Jahrhundert ins Gigantische klärungsepoche. Nicht nur kursierten seit vermehrt, zu einer völlig unbeteiligten Hal- damals neu erfundene Werwolfgeschichten, tung den Schmerzen jener Lebewesen gegen- sondern es wurden auch Menschen tatsäch- über, deren Geheul als Quietschen schlecht lich hingerichtet, denen man blutige Über- arbeitender Maschinenteile verharmlost wur- fälle in dieser Gestalt vorwarf. Dass eine be- de. Belege für sadistisches Handeln, als wis- stimmte psychische Erkrankung Anlass zu senschaftliche Experimente legitimiert, sind dieser Vorstellung bot, wurde manchmal seit damals Legion. schon früher vermutet, setzte sich aber erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Erklärung In der Aufklärung, namentlich bei Imma- durch. ❙19 nuel Kant, wurden teilweise wohl Grausam- keiten gegen Tiere verurteilt, aber mit einem Während uns derartiges noch einigerma- ganz typischen anthropozentrischen Argu- ßen begreifbar ist, gilt dies kaum mehr für die ment: der Mensch würde so auch gegenüber wohl seltsamste Projektion menschlicher Ei- seinen Artgenossen abgestumpft und eher genschaften auf Tiere: Zwischen dem 13. und zu unmoralischem Betragen geneigt. Gleich- 17. Jahrhundert liegen die Zeugnisse für die zeitig bestand das Bedürfnis, die Herrschaft in mehreren Ländern Europas durchgeführ- des Menschen über die sonstige Kreatur vor- ten Tierprozesse. ❙20 Es handelte sich um völlig zuführen: Die Menage in Paris, die Lud- ernst gemeinte Verfahren vor weltlichen oder wig IX. unter anderem für exotische Vögel geistlichen Gerichten, von denen die ersteren und Krokodile 1662 einrichten ließ, wur- Vergehen von Haus- und Nutztieren ahnde- de vorbildhaft, Schausteller demonstrierten ten, und letztere Schädlinge mittels des Kir- domestizierte Tiere anderer Kontinente (das chenbanns zu vertreiben suchten. So wurden bengalische Nashorn Clara zeigte man Mit- etwa Schweine, die ein Wickelkind gefressen te des 18. Jahrhunderts 17 Jahre lang in ganz Europa). ❙21 Damals verdrängte eine immer realitätsgerechtere Kenntnis der außer­euro­ ❙19 Vgl. Rudolph Leubuscher, Ueber die Wehrwölfe pä­ischen Tierarten die vielen gern an den und Thierverwandlungen im Mittelalter: Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie, Berlin 1850. ❙20 Vgl. Peter Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter. ❙21 Vgl. Bea Lundt, Europas Aufbruch in die Neuzeit Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006. 1500–1800, Darmstadt 2009, S. 128 f.

APuZ 8–9/2012 33 ­Rändern der Welt angesiedelten Fantasietiere Mieke Roscher vom Phönix bis zum Einhorn. Die von Jean- ­Jacques Rousseau ausgehende positive Natur- sicht, nach der Tiere am Naturrecht teilhaben würden, beeinflusste freilich nur langsam das Tierschutz- und tatsächliche Verhalten. Tierrechtsbewe- Fazit und Ausblick

Wir haben gesehen, wie im alten Europa ver- gung – ein histo- gleichsweise viel mehr Menschen in einem viel unmittelbareren Kontakt zu den Tieren stan- den, mit denen sie täglich zusammenarbeiteten, rischer Abriss die ihrem Vergnügen dienten, die aber auch in ihrer Vorstellungswelt in religiösen und sym- ie moderne Tierrechtsbewegung gehört bolischen Gestalten präsent waren. Dass diese Dgegenwärtig zu einer der brisantesten ge- beiden Welten mehr und mehr auseinander- sellschaftspolitischen Erscheinungen. Dabei rückten, ist primär eine Folge der Technisie- greift sie – oft in radi- rung unserer Welt. Die meisten Tierarten sind kalisierter Form – auf Mieke Roscher real nur mehr im Zoo zu besichtigen. praktische Erfahrun- Dr. phil., geb. 1973; Mitbegrün- gen, Methoden und derin des „Forums Tiere und Ge- Aus der Perspektive der Fauna betrach- Ideologien zurück, die schichte“; Bibliotheksreferen- tet ist diese Distanzierung gewiss ein Vor- sie seit ihrer Konstitu- darin an der Landesbibliothek teil. Wenn auch bis heute viele der einfachs- ierung ab dem ersten Oldenburg, Pferdemarkt 15, ten humanen Forderungen nach artgerechter Drittel des 19. Jahr- 26121 Oldenburg. Haltung und Verzicht auf unnötige Versu- hunderts sammelte. ❙1 [email protected] che immer noch nicht erfüllt sind, darf hier Begleitet wurde diese der Historiker doch berechtigterweise „Fort- Entwicklung von einem Bewusstseinswandel schritt“ konstatieren (wie sehr auch in seiner im Umgang mit dem Tier in teils religiöser, Zunft dieser Begriff nicht mehr à la mode ist). teils säkularisierter Ausformung. Gleichzei- Denn sieht man einerseits in unsere Vergan- tig ist dieser Wandel auch in der Genese des genheit zurück und andererseits auf die ge- Fürsorgegedankens samt seinen ideologisch genwärtige Realität in anderen Kontinenten, geprägten Absichten und politischen Impli- muss man zugeben, dass die Idee, im Tier ein kationen im Übergang zum Industriezeital- zu schonendes und schützendes Mitwesen zu ter und dem Ausbau der urbanen Gesellschaft erkennen, nirgendwo so weit gekommen ist zu verorten. Tierschutz wurde zu einem re- wie im Europa von heute. formistischen Imperativ, Zeichen für phil- anthropische Geisteshaltung. Beispielhaft Andererseits ist das Tier in der gegenwär- avancierte der Vegetarismus in der öffentli- tigen Vorstellungswelt viel weniger präsent, chen Wahrnehmung von einer Marotte zur und wenn, viel nüchterner. Überfällen von Mode. Mit ihren Kampagnen gegen „Tier- Raubtieren ist man auch auf dem Land nicht missbrauch“, insbesondere in Form der Vivi- mehr ausgesetzt, Fabeltiere leben nur gele- sektion, den Versuchen am lebendigen, nicht gentlich im Kinderfilm wieder auf, eine Tier- betäubten Tier, gelang es der Tierschutz- und symbolik gibt es praktisch nicht mehr. Das der Tierrechtsbewegung, auf die Legislative mag man als psychische Entlastung beurtei- Einfluss zu nehmen und eine öffentliche Mei- len, aber auch als Verlust. Für eine bestimmte nung zu mobilisieren, die insgesamt über das Altersstufe ist die die Welt der Roboter, Ali- „richtige“ Verhältnis vom Mensch zum Tier ens und Dementoren an ihre Stelle getreten. zu reflektieren begann. Diese Diskurse prägt Ob es nicht eine sinnvolle Aufgabe moderner sie bis heute nachhaltig. Pädagogik sein sollte, stattdessen den Kon- takt mit realen Wesen, mit Tieren als Mitge- Nach einem Überblick über die Entwick- schöpfen, zu fördern? lung der Tierschutzbewegungen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wird sich die- ser Beitrag insbesondere der Tierrechtsbewe-

34 APuZ 8–9/2012 gung ab den 1970er Jahren widmen, auf nati- einen, seine Vorreiterrolle sollte jedoch bis onaler wie insbesondere auch internationaler zur heutigen Zeit bestehen bleiben. Teils über Ebene. Dazu wird eine Unterscheidung der persönliche Begegnungen mit britischen Tier- Konzepte vorgenommen, die dem Tierschutz schützerinnen und Tierschützern, teils durch respektive Tierrechten zu Grunde liegen, ei- deren Veröffentlichungen wurden deutsche nerseits im Bezug zu philosophischen Be- Aktivisten inspiriert. ❙2 Der erste deutsche gründungen, andererseits im Bezug auf das Tierschutzverein, der Vaterländische Verein Hand­lungs­reper­toire, das Tierschutz/Tier- zur Verhütung von Tierquälerei, wurde 1837 recht als soziale Bewegung charakterisiert. in Stuttgart von dem Pfarrer Albert Knapp gegründet. Kurz darauf institutionalisierten sich in anderen Städten ähnliche Vereine. Ein Tierschutz Hauptziel dieser Tierschutzvereine war rein im 19. und frühen 20. Jahrhundert anthropozentrisch: die sittlich-moralische Besserung der Bevölkerung. ❙3 Auf interna- Der organisierte Tierschutz lässt sich bis in tionaler Ebene zogen im letzten Drittel des das frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen. 19. Jahrhunderts nahezu alle europäischen In Großbritannien wurden zu diesem Zeit- Länder – die protestantischen früher als die punkt Versuche unternommen, Tierschutz katholischen – und deren Kolonien sowie die grundsätzlich in den Gesetzbüchern fest- Vereinigten Staaten 1866 mit der Gründung zuschreiben. Mit Erfolg. Als weltweit ers- von Tierschutzvereinigungen nach. tes Tierschutzgesetz wurde 1822 der Act for the Prevention of Cruel and Improper Die deutschen Tierschutzgruppen wuch- Treatment of Cattle vom britischen Parla- sen rasch und verfügten bald über die zah- ment verabschiedet. Begleitend gründeten lenmäßig größten Vereine in Europa. In der sich Gruppen, die sich dem Schutz der Tie- Geschlechterfrage hielten sich die meisten re und der Durchsetzung der gesetzlichen deutschen Vereine an die Vorgabe des deut- Grundlagen verpflichtet fühlten. 1824 wur- schen Vereinswesens, Frauen nicht als wahl- de die ­Royal Society for the Prevention of berechtigte Vollmitglieder zuzulassen. An- (RSPCA) gegründet, ders in Großbritannien: Hier dominierten 1847 die Vegetarian Society. Die Motivati- Frauen von Beginn an das Vereinsgeschehen. ❙4 on, sich für Tiere einzusetzen, war durchaus Ähnlich wie in Großbritannien spaltete sich vielschichtiger Natur. Die religiösen Erwe- zum Ende des 19. Jahrhunderts die Bewegung ckungstheorien im sogenannten Evangelika- auf nahezu globaler Ebene in bürgerlichen lismus etwa nahmen Tierschutz als Element Tierschutz und radikalen Antivivisektionis- von Heilsversprechen mit auf. Insbesonde- mus. ❙5 Als erste deutsche Tierrechtsgruppe re Methodisten und Quäker führten Tier- im modernen Sinne kann der 1907 gegründete barmherzigkeit ins Feld. Des Weiteren wur- Bund für radikale Ethik betrachtet werden. ❙6 den Klassenantagonismen sowie Fragen zur gesellschaftlichen Stellung der Frau über das 2 Thema Tierschutz ausgetragen. Frühe Urba- ❙ Vgl. Hildegund Sauer, Über die Geschichte der nisierungs- und Industrialisierungsprozesse Mensch-Tier-Beziehungen und die historische Ent- wicklung des Tierschutzes in Deutschland, Diss. halfen außerdem dabei, dem Tier einen an- Universität Giessen, 1983, S. 39. deren Stellenwert als den als bloßes Nutz- ❙3 Vgl. Miriam Zerbel, Tierschutz im Kaiserreich. objekt zuzugestehen. Darüber hinaus fand, Ein Beitrag zur Geschichte des Vereinswesens, insbesondere durch den englischen Empiris- Frankfurt/M. 1993, S. 37. 4 mus angeregt, auch ein säkular-philosophi- ❙ Vgl. Mieke Roscher, Engagement und Emanzipati- scher Paradigmenwechsel statt, der das Tier on: Frauen in der englischen Tierschutzbewegung, in: Dorothee Brantz/Christof Mauch (Hrsg.), Tierische in den Kreis der moralisch zu Berücksichti- Geschichte: Die Beziehung von Mensch und Tier in genden mit einbezog. der Kultur der Moderne, Paderborn 2010, S. 286–303. ❙5 Vgl. Pascal Eitler, Ambivalente Urbanimalität: Großbritannien blieb nicht lange das ein- Tierversuche in der Großstadt (Deutschland 1879– zige Land mit organisierten Tierschutzver- 1914), in: Informationen zur modernen Stadtge- schichte, 40 (2009), S. 80–93. ❙6 Vgl. Renate Bruckner, Tierrechte und Friedens- ❙1 Vgl. Mieke Roscher, Ein Königreich für Tiere: Die bewegung: „Radikale Ethik“ und gesellschaftli- Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Mar- cher Fortschritt in der deutschen Geschichte, in: burg 2009. D. Brantz/​C. Mauch (Anm. 4), S. 269–285.

APuZ 8–9/2012 35 Auch zu ihm gab es ein britisches Pendant: Vor allem die Bekämpfung der Massentier- Die 1891 gegründete . ❙7 haltung und der Schutz von Versuchstieren Beiden Vereinen ging es um die grundsätzli- bildeten fortan eine Achse, an der sich die che Ablehnung der Tiernutzung, die sie in ei- Aktivistinnen und Aktivisten inhaltlich ori- nen breiteren gesellschaftspolitischen Kon- entierten. Deutscher Tierschutz blieb jedoch text ­setzten. zunächst international isoliert. Der Deut- sche Tierschutzbund, der Rechtsnachfolger In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts des Reichstierschutzbundes, versäumte es, entdeckten die Tierschutzvereine das inter- sich den neuen Zeiten anzupassen. Auf per- nationale Parkett und drängten auf grenz- soneller Ebene blieb man dem nationalsozia- übergreifende Lösungen tierschützerischer listischen Vorgänger verbunden. ❙11 Inhaltlich Probleme, etwa des Viehtransports. Nicht gab sich der Verein pragmatisch, verzichtete nur die nationalen Regierungen wurden nun- zunächst auf eine Kritik an Tierversuchen, mehr Adressat von Lobbyarbeit, auch der Massentierhaltung und der Jagd, und ver- Völkerbund als erstes globales Gremium urteilte radikalere Tierschützerinnen und wurde in den Fokus tierschützerischer Ar- Tierschützer und Vegetarierinnen und Ve- beit gerückt. ❙8 Allerdings sorgte der Zweite getarier als Extremisten. ❙12 Immerhin: An Weltkrieg für eine Zäsur. Tiere gerieten im Mitgliedern sollte es dem Verein auch in der Angesicht der Gräueltaten von Menschen an Nachkriegszeit nicht mangeln. Insbesonde- Menschen in den Weltkriegen zu einem Ne- re der Jugend wollte man mit der beliebten benschauplatz, ihr Schutz war politisch nur Publikation „Der kleine Tierfreund“ den schwer durchsetzbar. Das nationalsozialis- richtigen Umgang mit dem Haustier näher tische Deutschland hatte zwar am 24. No- bringen. ❙13 Was geboten wurde, war ein an- vember 1933 ein weitreichendes Tierschutz- thropozentrischer Tierschutz: Tierschutz, gesetz verabschiedet, gleichzeitig aber den der einer moralischen Verpflichtung im organisierten Tierschutz gleichgeschaltet und Hinblick auf das menschliche Gegenüber um alle radikal-progressiven Mitglieder be- folgte. reinigt. Zudem hatten fast alle Maßnahmen eher biologistisch-antisemitische und rassis- Nicht so in Großbritannien: Tierschutz tische Motivation als das Wohl der Tiere im reihte sich in die Gemengelage der ab den Auge, ❙9 und gerade im Bezug zu Tierversu- 1960er Jahren insbesondere von der Friedens-, chen existierte das Gesetz praktisch nur auf Studierenden- und Frauenbewegung initiierte dem ­Papier. ❙10 Welle sogenannter Neuer Sozialer Bewegun- gen ein, übernahm deren Aktionsformen und auch rhetorisch näherte sich die Tierrechts- Tierschutz als Neue Soziale Bewegung bewegung deren Protagonistinnen und Pro- tagonisten an. Tierrechte wurden zum ersten Nach dem Krieg formierte sich als erstes in Mal außerhalb eines kleinen Kreises intellek- Großbritannien die Tierschutz-/Tierrechts- tueller Vegetarierinnen und Vegetarier disku- bewegung neu und setzte sich neue Ziele. tiert, man organisierte Demonstrationen und Sit-Ins. Insbesondere die Anti-Tierversuchs- ❙7 Vgl. , Animal Rights: Political and gruppen versuchten, sich einen modernen Social Change in Britain since 1800, London 1998, Anstrich zu geben. Es folgte etwa eine Ver- S. 134 f. jüngung der Vorstandsmitglieder etablierter ❙8 Vgl. Anna-Katharina Wöbse, Weltnaturschutz: Umweltdiplomatie in Völkerbund und Vereinten Na- tionen 1920–1950, Frankfurt/M. u. a. 2012. ❙11 Vgl. Madeleine Martin, Die Entwicklung des Tier- ❙9 Vgl. Maren Möhring, „Herrentiere“ und „Unter- schutzes und seiner Organisationen in der Bundesre- menschen“: Zu den Transformationen des Mensch- publik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Tier-Verhältnisses im nationalsozialistischen Deutsch- Republik und dem deutschsprachigen Ausland, Diss. land, in: Historische Anthropologie, 19 (2011) 2, Freie Universität Berlin, 1989, S. 30. S. 229–244; Birgit Pack, Tierschutz und Antisemi- ❙12 Vgl. B. Rusche, „Autonome“: Tierschutzterror?, tismus, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität in: Du und das Tier, (1985) 2, S. 39; Andreas Gras- Wien 2008. müller, Tierschutz-Terrorismus? in: Du und das Tier, ❙10 Vgl. Mieke Roscher, Westfälischer Tierschutz (1985) 4, S. 57. zwischen bürgerlichem Aktivismus und ideologi- ❙13 Vgl. Anna-Katharina Wöbse, Der Kleine Tier- scher Vereinnahmung (1880–1945), in: Westfälische freund – zur Jugend der deutschen Ökobewegung, Forschungen, 62 (2012) (i. E.). in: Jahrbuch Ökologie, (2007), S. 131–141.

36 APuZ 8–9/2012 Vereine, und auch die Magazine warteten mit Ausbau einer medialen Infrastruktur ent- einer modernen Aufmachung, zeitgemäßem sprechend neu nutzen. Dies erkennend Vokabular und radikaleren Forderungen auf. suchte die Tierrechtsbewegung nach Mög- In Deutschland kam es in den 1970er Jahren lichkeiten, noch näher vom Geschehen der zwar zu zahlreichen Neugründungen einzel- Tierausbeutung zu berichten. Ermöglichen ner Vereine, die einerseits die Hegemonie des ließ sich derartige Berichterstattung nur da- Deutschen Tierschutzbundes brechen woll- durch, dass Aktivistinnen und Aktivisten ten, andererseits ihre Themen nicht richtig Zeugnis vom Missbrauch ablegten. Die Me- vertreten sahen und Handlungsbedarf – etwa thode der Infiltration stellte somit eine Re- bei der Thematisierung der Jagd – erkann- aktion auf die Wirksamkeit der Illustration ten. Doch erst 1984 formierte sich mit dem des Vergehens Tiernutzung hinsichtlich öf- Bundesverband der Tierversuchsgegner eine fentlicher Agitation dar. bundesweit operierende Anti­vivi­sektions­ gruppierung. ❙14 Andere Elemente des Methodenrepertoires nahmen lediglich moderne, zeitgemäße For- Mit dem Aufkommen neuer philosophi- men an: Demonstrationen und andere Groß- scher Ansätze, genannt seien hier Peter Sin- veranstaltungen erhielten kosmetische Über- gers Präferenzutilitarismus ❙15 und Tom Re- arbeitungen. Sie wurden lauter, aggressiver, gans Rechtsprinzip ❙16, und gruppeninterner frecher. Auch den legislativen Weg beschritt Radikalisierung ging die Entwicklung be- man weiterhin, erkannte doch der Großteil ziehungsweise Weiterentwicklung eines der Bewegung, dass ohne entscheidende ge- methodischen Repertoires einher. Dieses setzestechnische Änderungen der Tiernut- Umstandes bediente sich die Tierrechtsbe- zung kein Ende gesetzt würde. Entsprechend wegung, um ihr Anliegen an die Öffentlich- formierte man sich in neuen Netzwerken, um keit und den Gesetzgeber weiterzureichen auf den politischen Prozess Einfluss nehmen beziehungsweise um aktiven Tierschutz zu zu können. betreiben. Nicht alle Methoden waren neu, viele hatten bereits zuvor Anwendung ge- funden. Sie wurden jedoch von der Bewe- Radikalisierung der Tierrechtsbewegung gung radikalisiert und strukturellen Ände- rungsprozessen angepasst. So ließ sich die Dass sich jedoch auch in Großbritannien Verwendung von Tierbildnissen für Propa- durchaus nicht alle Aktivistinnen und Akti- gandazwecke nur mit der Weiterentwick- visten mit den Aktionsformen der bestehen- lung fotografischer Möglichkeiten und dem den Verbände einverstanden zeigten, demons- trierte 1972 eine kleine Gruppe Militanter, ❙14 Vgl. M. Martin (Anm. 11), S. 50. die sich selbst die Band of Mercy nannte. Sie ❙15 Peter Singers Präferenzutilitarismus stellt eine verübte über einen Zeitraum von zwei Jah- Erweiterung von Jeremy Benthams Utilitarismus- ren insgesamt acht Anschläge auf Laborato- konzept dar, nachdem das größtmögliche Glück für rien, Tiertransporter und Jagdgerätschaften. die größtmögliche Anzahl von Individuen in einer Bereits seit 1963 hatte sich zudem die Hunt Gesellschaft anzustreben sei. Nach Singer ist eine Saboteurs Association Jägern in den Weg ge- Handlung immer dann moralisch falsch, wenn sie der ❙17 Präferenz einer Person entgegensteht, ohne dass die stellt. Als zwei Köpfe der Gruppe, Cliff Präferenz durch entgegenstehende Präferenzen aus- Goodman und , verhaftet und zu geglichen werden kann. Die Tötung eines Tieres sei einer einjährigen Haftstrafe verurteilt wur- deshalb immer dann – und nur dann – zu legitimie- den, bedeutete dies jedoch keineswegs das ren, wenn dies für sie vorteilhafter sei, als sie am Le- Ende radikaler direkter Aktionen für Tier- ben zu lassen. rechte. Im Gegenteil: 1976 wurde von etwa 30 ❙16 Tom Regan konstatiert, dass das autonome Indi- viduum einen inhärenten Wert besäße und über sein/ Personen, darunter Lee und Goodman, die ihr Leben selbst bestimmen können müsse. Es habe (ALF) gegründet, das Recht darauf, sein/ihr Dasein nicht zum Vor- deren erklärtes Ziel die „Befreiung der Tiere teil oder Nutzen anderer zu fristen. Die Rechtsver- von menschlicher Herrschaft“ mittels Sabo- pflichtung ist nach Regan dem Tier direkt geschul- tageaktionen war. Eindrücklichste Beispiele det. Nicht nur die brutalen beziehungsweise letalen Ausformungen ihres Gebrauches würden gegen seine Rechte verstoßen, so Regan weiter, sondern alle ex- ❙17 Vgl. Mark Gold, Animal Century: a celebration ternen Einwirkungen, die das Lebewesen nicht von of changing attitudes to animals, Charlbury 1998, sich aus anstrebe. S. 82–97.

APuZ 8–9/2012 37 derartiger Aktionen in der Tierrechtsbewe- über die autonomen Medien der radikalen gung waren wohl vor allem die Befreiungen Linken. ❙19 von Tieren aus Käfigen. Daneben kam es zu Brand- sowie Farbanschlägen und Besetzun- In den Vereinigten Staaten vermochte ins- gen. Noch radikalere Gruppen, wie die Ani- besondere die 1980 gegründete Gruppe Peo- mal Rights Militia, schreckten auch vor der ple for the Ethical Treatment of Animals Versendung von Briefbomben an vermeint- (PETA) als ein Bindeglied zwischen den Ra- liche Tierausbeuterinnen und Tierausbeuter dikalen um die ALF und den traditionelle- nicht zurück. ren Vereinigung wie der American Socie- ty for the Prevention of Cruelty to Animals Das Konzept der ALF blieb nicht auf Groß- oder der Humane Society zu fungieren. ❙20 Ih- britannien beschränkt, sondern fand Nach- ren steigenden Bekanntheitsgrad verdankte ahmung. Zum Ende der 1980er Jahre hatte PETA aggressiven Vermarktungsstrategien sich die ALF als weltweites Phänomen aus- (Vegetarismus als Lifestyle) und dem Einge- gebreitet. In Deutschland wurden militante hen ungewöhnlicher Koalitionen (mit Super- Tierrechtlerinnen und -rechtler erstmals 1981 stars, Models). ❙21 Diese Kommerzialisierung aktiv. Sie befreiten 48 Hunde aus einem La- der Tierrechtsidee war indes vor allem auch in boratorium in Mienenbüttel bei Hamburg. der radikalen Tierrechtsbewegung nicht un- Unter dem Akronym ALF beziehungsweise umstritten. Der autoritäre Führungsstil stieß Tierbefreiungsfront wurde ein radikaler Teil bei den antihierarchischen Graswurzelorga- der deutschen Tierrechtsbewegung jedoch nisationen, als die sich die meisten Tierrechts- erst in den 1990er Jahren aktiv. gruppen verstanden, auf Unverständnis, der Vergleich mit der Shoah zu Vermarktungs- Die Reaktionen in der weiteren Tier- zwecken auf internationale Ablehnung. ❙22 rechtsbewegung auf die Herausbildung ei- nes militanten Flügels waren national un- In Deutschland versuchte in den 1990er terschiedlich gelagert. In Großbritannien Jahren die Gruppe Animal Peace mit ähn- kam es zu einer Radikalisierung in Zielvor- lich Aufsehen erregenden Aktionen öffent- stellung und Methodenrepertoire der ge- liche Aufmerksamkeit zu erlangen. Ab 1994 samten Tierrechtsbewegung, die selbst die wurde zudem PETA auch in Deutschland altehrwürdige königliche Tierschutzverei- aktiv. Daneben übernahm ab 1985 der Bun- nigung RSPCA erfasste. Diese Radikalisie- desverband der TierbefreierInnen (heute: Die rungstendenzen sorgten zum einen für de- Tier­befreier) die Vermittlung radikaler Akti- mokratischere Strukturen innerhalb der onsformen, indem er den militanten Grup- Gruppierungen, zum anderen wurden we- pierungen in seinem Magazin „Tierbefreiung niger die politischen Entscheidungsträger Aktuell“ eine Plattform bot und ihnen die als die Öffentlichkeit zum Adressaten der Pressearbeit abnahm. Ab den 2000er Jahren ­Kampagnen. definierten sich zahlreiche Tierrechtsgrup- pen in Deutschland als „Antispe-Gruppen“. In Deutschland führte die Radikalisierung Mit dem Bezug zum Antispeziesismus soll- hingegen zu einer eindeutigen Spaltung der Bewegung, nachdem der Tierschutzbund ❙19 Vgl. Mieke Roscher, „Animal Liberation … or sich 1985 von Tierrechtlerinnen und -recht- else!“ Die britische Tierbefreiungsbewegung als Im- lern losgesagt hatte. ❙18 Zudem kamen die Ak- pulsgeber autonomer Politik und kollektiven Kon- tiven der Tierbefreiungsgruppen, wie die der sumverhaltens, in: Hanno Balz/Jan-Hendrik Fried- 1987 in Hamburg gegründeten Tierrechts- richs (Hrsg.), „This Town Is Gonna Blow …“. Eine Aktion Nord, nicht wie in Großbritannien Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre, Berlin 2012 (i. E.). aus der Tierschutzbewegung, sondern aus ❙20 Vgl. James M. Jasper/Dorothy Nelkin, The Ani- verwandten sozialen Bewegungen. Zugang mal Rights Crusade: The Growth of a Moral Protest, zu Tierbefreiungsthematiken wurde insge- New York 1992. samt auf dem europäischen Kontinent nicht ❙21 Vgl. dazu den Beitrag von Kathrin Voss in dieser über die traditionelleren Tierschutzgruppen Ausgabe. ❙22 und Tierschutzvereine vermittelt, sondern 2003 initiierte PETA die Kampagne „Der Holo- caust auf Deinem Teller“. Der Kampagne war eine Ausstellung beigestellt, in der Fotografien in Ausch- witz ermordeter Juden neben Schlachthofbildern po- ❙18 Vgl. B. Rusche (Anm. 12); A. Grasmüller (Anm. 12). sitioniert waren.

38 APuZ 8–9/2012 te zum einen die Kritik der gesellschaftlichen Als allen unterschiedlichen Ansichten ge- Nichtbeachtung aufgrund der Zugehörig- mein kann jedoch vereinfachend festgestellt keit zu einer Spezies und damit implizit des werden, dass Tierschützerinnen und -schüt- Anthropozentrismus aufgegriffen werden. ❙23 zer darum bemüht sind, „unnötiges Leiden“ Gleichsam wollte man mit dem Rückgriff auf von Tieren abzuwenden. „Notwendiges Lei- dieses Prinzip den häufig als positivistisch den“ wiederum wird auf einer weiten Skala gedeuteten Rechtsbegriff umgehen. platziert, die zumeist von der individuellen Bereitschaft geprägt ist, auf tierische Produk- Methodisch setze sich ab dem Jahr 2000 te zu verzichten, beziehungsweise die Um- der Campaigning-Ansatz durch: Konzertier- stände bemisst, unter denen ihre Produktion te, zeitlich befristete Aktionen gegen einzel- stattfindet. So mag der Konsum von Fleisch ne, identifizierbare, des Tiermissbrauchs ver- beispielsweise für einige gerechtfertigt er- dächtigte Unternehmen bei Zusammenarbeit scheinen, nicht aber Tierversuche, oder nur vieler Gruppen und Individuen. Als Parade- dann, wenn der unmittelbare Nutzen für beispiel hierfür dient die Kampagne gegen den Menschen nachvollziehbar ist. Es gilt Huntington Life Science, ein Tierversuchs- für den Tierschutz daher vor allem, die Um- laboratorium im Süden Englands, gegen das stände, unter denen Tiernutzung vonstatten die Kampagne „Stop Huntington Animal geht, so zu modifizieren, dass das daraus fol- Cruelty“ seit 1999 mobil macht. Manche Ak- gende Leid auf ein Minimum reduziert wird. tionen befanden sich allerdings am Rande der Das bedeutet, dass Tierschutz grundsätzlich Legalität oder verstießen gegen geltendes Ge- anthropozentrisch orientiert ist und das In- setz, etwa durch die Entwendung von Tie- teresse des Menschen am Tier über das Inte- ren, Sachbeschädigungen und Nötigungen. resse des Tieres an einem tiergerechten Leben In einigen, teils spektakulären Fällen wurden gestellt wird. Weder wird ein fundamentaler Tierrechtlerinnen und -rechtler, insbesonde- Unterschied zwischen Tier und Mensch in re Angehörige der ALF, vor allem in Groß- ihrer moralischen Berücksichtigung negiert, britannien und den USA, zu langjährigen noch wird am paternalistischen Umgang mit Haftstrafen verurteilt. anderen Spezies gezweifelt. Allerdings er- klärt man die Herrschaft über das Tier zu ei- ner moralischen Verpflichtung. Die Legitimi- Tierschutz vs. Tierrecht – tät der Herrschaft vom Menschen über das What’s in the name? Tier wird damit vom Tierschutz nicht per se in Frage gestellt. Tierschutz- und Tierrechtsbewegung wer- den fälschlicherweise oft gleichgesetzt, da- Tierrecht hingegen, zumindest in seiner ra- bei unterscheiden sie sich in einigen Punkten dikalsten Auslegung, will die Speziesbarrie- so grundsätzlich, dass man es eigentlich mit ren gänzlich auflösen, und das sowohl in ih- zwei voneinander getrennten sozialen Bewe- rer moralischen Bewertung als auch in den gungen zu tun hat. Auch wenn einige Akteu- daraus abgeleiteten Behandlungsmaßstäben. rinnen und Akteure der Bewegungen selbst Das heißt, die Tiere werden unabhängig von die Begriffe austauschbar verwenden, dürfte ihrem Nutzen als mit eigenen Interessen aus- dies wohl eher an Vereinfachungsversuchen gestattete Individuen betrachtet, deren Inte- liegen. Dazu kommt, dass, je nachdem ob ressen denen der Menschen gleichwertig seien. die Unterscheidung auf das philosophische Dies bedeutet nicht, dass alle gleich behan- Grundgerüst, die politische Ausrichtung delt werden sollen. Vielmehr impliziert dies oder das Aktionsspektrum zurückgeführt die Einforderung fundamentaler ­Rechte. ❙24 wird, auch innerhalb der unterschiedlichen Diese Rechte können abstrakter ❙25 oder lega- Begrifflichkeiten durchaus Variationen iden- tifiziert werden können. ❙24 Vgl. Gary Francione, Rain without Thunder: The of the Animal Rights Movement, Philadel- ❙23 Der Begriff des Speziesismus wurde in den 1970er phia 1996. Jahren von dem britischen Psychologen und Tier- ❙25 Der am breitest rezipierte Rechtsansatz, der den schutzaktivisten Richard Ryder eingeführt. Spezie- inhärenten Werte jedes Lebewesens bemisst, wurde sismus ist nach Ryder die Annahme, dass der Mensch 1983 von dem amerikanischen Philosophen Tom Re- allen anderen Spezies überlegen sei und daher berech- gan formuliert, vgl. Tom Regan, The Case for Animal tigt wäre, sie zu seinem Vorteil auszunutzen. Rights, Berkeley u. a. 1983.

APuZ 8–9/2012 39 listischer Form sein. Das bedeutet, dass das denrepertoire und versammelte ein weites Töten, Quälen, ja, der Gebrauch eines Tieres Spektrum an Akteuren. Diese Bandbreite schlechthin immer als falsch erachtet wird, verdankte sich historisch gewachsenen Struk- wenn dies nicht dem Selbstschutz dient. In turen, auf welche die Bewegung zurückgrei- weniger radikaler Form gilt es, zumindest die fen konnte. Die Motivation für das Enga- Interessen der Tiere und Menschen gegenei- gement für die Kreatur war vielschichtiger nander abzuwägen und eben nicht per se die Natur. Letztlich war jedoch ein mögliches Interessen der Menschen höher zu bewerten. Durchsetzungsdefizit sowie die Entwicklung der modernen Massentierhaltung ein Grund Die Grundidee des Tierrechtsgedankens ba- für die Radikalisierung der Bewegung seit sierte auf der Annahme und impliziten Forde- den 1970er Jahren, sowohl in der Rhetorik als rung, dass Tiere und Menschen fundamentale auch in der Praxis. Diese hatten Auswirkun- Rechte haben und daher als moralisch gleich- gen auf Struktur, Sendungsbewusstsein und wertig betrachtet werden müssen. Tierrechtle- methodisches Vorgehen. r in nen und -rechtler bekämpften da her a lle A r- ten der Tiernutzung durch den Menschen – sei Die bestehende Bewegung wurde damit es für Nahrung, Kleidung oder in der Heim- nicht nur revitalisiert; einher ging dies mit tier- und Zoohaltung. Veganismus ist daher einer Welle von Neugründungen von Tier- die einzig zu akzeptierende Ernährungsform rechtsgruppen – national wie international, für Tierrechtlerinnen und -rechtler. Tierrecht und hier insbesondere im angloamerikani- verlangt zudem nach politischen Maßnahmen, schen Raum – sowie der deutlichen Diffe- die sich beispielsweise in der Rechtserweite- renzierung von Tierschutz und Tierrecht als rung auf Tiere ausdrücken sollen. Ziele politischer Forderungen. Einige der neuen Gruppen, wie die Animal Liberati- Tierschützerinnen und -schützer hingegen on Front, bedienten sich auch militanter und sehen in den Tieren häufig einen Teil der Na- rechtswidriger Mittel, was in Strafverfolgung tur, den es zu erhalten galt. Tierschutz neigt durch staatliche Behörden bis hin zur Klas- zudem dazu, sich in seinen Schutzforderun- sifizierung als „terroristische Vereinigungen“ gen auf solche Tiere zu beschränken, die sich mündete. im direkten Umfeld der Menschen befinden, oder der „sympathischen Megafauna“ ange- Es kann jedoch als Erfolg der gesamten Bewe- hören, wie Wale oder Elefanten. gung gewertet werden, dass sie Diskurse über das Mensch-Tier-Verhältnis thematisiert, die Der zusätzliche Begriff der „Tierbefrei- vor allem auch im Kontext von bioethischen ung“, der seit Mitte der 1970er Jahre von Pe- Debatten Eingang in wissenschaftliche Re- ter Singer ❙26 und der Animal Liberation Front flexionen erfahren und sich mittlerweile zu gebraucht wurde, deren jeweilige Definitio- einem allgemein beachteten sozialwissen- nen des Begriffes sich jedoch erheblich unter- schaftlichen Paradigma entwickelt haben. scheiden, ist sicherlich den Befreiungsdiskur- Dies zeigt sich unter anderem in der wissen- sen der Zeit zuzuschreiben. In gleicher Weise schaftlichen Anerkennung der Human-Ani- hatte sich der Tierrechtsbegriff anlehnend an mal Studies. Diskussionen über Menschenrechte entwi- ckelt. Zudem möchte der Begriff der Tierbe- freiung die unzulängliche Trennung zwischen Tierschutz und Tierrecht umgehen sowie die eigene radikalere Position unterstreichen.

Fazit

Zu Beginn des neuen Jahrtausends stellte sich die Tierrechtsbewegung in facettenrei- cher Form dar. Sie besaß ein großes Metho-

❙26 Vgl. Peter Singer, Animal Liberation, New York 1975.

40 APuZ 8–9/2012 Kathrin Voss tiere hingegen werden meist bewusst nicht mit einbezogen. PETA distanziert sich aus- drücklich vom Thema Artenschutz. ❙8 Trotz- Kontrovers und sexy – dem gibt es durchaus Überschneidungen mit Umwelt- und Naturschutzorganisationen, Kampagnen der denn auch Organisationen wie Greenpeace oder der BUND beschäftigen sich mit Nutz- tieren. Allerdings konzentrieren sich diese Tierrechtsorganisation NGOs eher auf die Auswirkungen der in- dustriellen Landwirtschaft und der Massen- PETA tierhaltung auf Mensch und Umwelt. Über- schneidungen gibt es in diesem Bereich auch zu einigen Verbraucherschutzorganisationen, in Krieg für Tiere“ ❙1, „Wo Tiere die bes- wie zum Beispiel Foodwatch. Aber auch hier Eseren Menschen sind“ ❙2, „al-Qaida für steht der Mensch im Mittelpunkt, das Wohl die Tiere“ ❙3, „Ungemeinnützig“ ❙4 – so betitel- der Tiere ist nur eine sekundäre Argumenta- ten deutsche Medien tionslinie. Bei PETA und anderen Tierrechts- Kathrin Voss Artikel über die Tier- organisationen hingegen liegt das Hauptau- Dr. phil., geb. 1974; selbststän- rechtsorgan isation genmerk auf dem Tier, auch wenn vereinzelt dige Beraterin, spezialisiert PETA (People for the andere Argumente verwendet werden. ❙9 auf den Non-Profit-Bereich; Ethical Treatment of Lehrbeauftragte an der Univer- Animals). Wie kaum sität Hamburg und Mitglied der eine andere Nicht- Rhetorik der Tierrechtsbewegung Arbeitsstelle Medien & Politik regierungsorganisa- der Universität Hamburg. tion (NGO) polari- Wie andere soziale Bewegungen auch will [email protected] siert PETA, schockiert die Tierrechtsbewegung einen grundsätzli- durch extreme Bilder, chen kulturellen Wandel anstoßen, in diesem setzt auf prominente Unterstützung und ver- Fall die Sicht der Menschen auf Tiere ver- steht es, mediale Aufmerksamkeit zu generie- ändern. Tierrechtsorganisationen gelten als ren. Durch ihre aufsehenerregenden Kampag- post-­citizenship movement organizations, das nen steht PETA inzwischen fast synonym für heißt als Bewegungsorganisationen, bei de- die Tierrechtsbewegung und ist zum Vorbild nen nicht der persönliche Vorteil der Mitglie- für andere Organisationen geworden. ❙5

❙1 Der Spiegel, Nr. 12 vom 15. 3. 2004, S. 226 ff. ❙2 Die Tageszeitung vom 14. 8. 2006, S. 13. Tierrecht – nicht Tierschutz ❙3 Focus Magazin, Nr. 41 vom 11. 10. 2010, S. 54 ff. ❙4 Die Welt vom 26. 1. 2005, S. 21. PETA versteht sich als Tierrechtsorganisation ❙5 Vgl. James M. Jasper/Dorothy Nelkin, The Ani- und beschreibt die Leitidee wie folgt: „PETA mal Rights Crusade: The Growth of a Moral Protest, handelt nach dem einfachen Prinzip, dass wir New York 1992, S. 31 f.; Mieke Roscher, Ein König- Menschen nicht das Recht haben, Tiere in ir- reich für Tiere: Die Geschichte der britischen Tier- rechtsbewegung, Bremen 2009, S. 406. gendeiner Form auszubeuten, zu misshan- ❙6 Online: www.peta.de/web/home.cfm?p=33 (9. 1. 6 deln oder zu verwerten.“ ❙ Die Organisation 2012). wurde 1980 in den USA gegründet. Daneben ❙7 PETA gibt an, weltweit über drei Millionen Un- gibt es PETA in weiteren Ländern, seit 1994 terstützer zu haben; Angaben zur Mitgliederzahl in auch in Deutschland. PETA selbst bezeich- Deutschland werden nicht gemacht. Im Vergleich net sich als weltweit größte Tierrechtsorgani- dazu hat die Humane Society of the United States elf Millionen Mitglieder, der Deutsche Tierschutz- sation, wobei klassische Tierschutzorganisa- bund 800 000 Mitglieder. Vgl. online: www.peta.de, tionen zum Teil deutlich mehr Unterstützer www.humanesociety.org, www.tierschutzbund.de haben. ❙7 Während sich allerdings Tierschutz- (9. 1. 2012). organisationen in erster Linie für eine Ver- ❙8 Vgl. Interview mit Harald Ullmann, 2. Vorsitzen- besserung der Lebensumstände von Tieren der PETA Deutschland, in: Der Spiegel, Nr. 31 vom engagieren, sind Tierrechtsorganisationen 30. 7. 2001, S. 160. ❙9 Vgl. Karl-Werner Brand, Umweltbewegung (inkl. wie PETA generell gegen die Nutzung von Tierschutz), in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Tieren. Nutz- und Haustiere stehen aber bei Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. beiden Organisationstypen im Fokus. Wild- Ein Handbuch, Frankfurt/M. 2008, S. 232 f.

APuZ 8–9/2012 41 der das Ziel ist, sondern sich die Mitglieder Politik und Wirtschaft ausüben. NGOs ste- für die Belange Dritter, in diesem Fall Tiere, hen dabei vor einer grundlegenden strategi- einsetzen. ❙10 Hauptargumentationslinie von schen Entscheidung – zwischen einer eher Tierrechtsorganisationen wie PETA ist die dialogorientierten oder einer eher konfronta- grundsätzliche Infragestellung der Unter- tiven Öffentlichkeitsarbeit. Beide Strategien schiede zwischen Menschen und Tieren. Ent- haben Vorteile und bergen Risiken. sprechend arbeitet PETA in Kampagnen oft mit einer gemeinsamen Identität von Mensch Vorbild für die konfrontative Öffentlich- und Tier. Dabei wird eine neue Identität des keitsarbeit vieler NGOs ist sicherlich Green- Menschen artikuliert, denn auch wenn der peace. Wie kaum eine andere NGO basiert Fokus auf eine andere Wahrnehmung von die Arbeit von Greenpeace auf Öffentlich- Tieren abzielt, so wird doch gleichzeitig auch keitsarbeit mit spektakulären Aktionen, In- die bisherige Vorstellung über die mensch- szenierungen und Konfrontation. „Schutz liche Identität in Frage gestellt und der Be- durch Öffentlichkeit“ oder bearing wit- trachter aufgefordert, die eigene Identität zu ness (Zeugnis ablegen) sind Grundlage aller überdenken. Greenpeace-Aktivitäten. ❙12 „Die Greenpeace- Kommunikation ist eine Verlängerung des Die gemeinsame Identität von Mensch und ‚Bearing Witness‘ mit den Mitteln moderner Tier wird vor allem durch aussagekräftige vi- Medientechnik. Die Anwendung der Technik suelle Appelle und durch einprägsame Slo- zielt darauf ab, den Kreis derjenigen immens gans dargestellt. Anzeigen und Spots beto- zu erweitern, die an einer Konfrontation An- nen die Gemeinsamkeiten von Menschen und teil nehmen können.“ ❙13 In diesem Sinne agie- Tieren. Insbesondere die Visualisierung der ren auch viele Organisationen innerhalb der Ähnlichkeiten soll dazu führen, die Anderen, Tierrechtsbewegung, die die Bedeutung von also Tiere, nicht als Andere zu sehen. PETA Medienberichterstattung für ihre Arbeit er- setzt dabei bewusst auf Emotionen und ver- kannt haben und ihre Aktivitäten gezielt so menschlicht Tiere, um deren Gleichwertigkeit gestalten, dass sie für die Medien interessant zu betonen. Die Bilder sollen dem Betrachter sind. ❙14 Auch PETA setzt auf Konfrontation vermitteln, dass Tiere Gefühle wie Menschen und enthüllt beispielsweise mit schockieren- erleben, und ihn dazu bringen, sich in die Lage den Bildern, wie in der industriellen Land- der Tiere zu versetzen. Dazu dient auch die wirtschaft Tiere gehalten oder unter welchen Darstellung von Menschen als Tiere, zum Bei- Bedingungen Pelztiere gezüchtet werden. spiel indem ein Mensch, bei PETA-Kampag- nen meist eine attraktive Frau, in einem Käfig Konfrontative Öffentlichkeitsarbeit setzt abgebildet oder mit Fleischbezeichnungen be- als Strategie meist darauf, dass ein öffentlich- malt wird. Auch bei diesen Kampagnenmoti- keitswirksamer Gegner gefunden wird. Dieser ven steht die Visualität im Mittelpunkt. ❙11 wird dann durchgehend negativ dargestellt; manchmal werden Handlungsalternativen aufgezeigt, die der Gegner übernehmen soll. Konfrontation und Kontroverse Die ausgemachten Gegner von PETA sind oft als Strategie Unternehmen, wobei einzelne Unternehmen stellvertretend für eine gesamte Branche ste- Grundsätzlich stehen alle NGOs, ob im Tier- hen. Die Politik ist selten ein direkter Geg- schutz oder in anderen Bereichen, vor der ner, sondern vielmehr ein indirekter Akteur, Frage, wie sie in der Öffentlichkeit Gehör für der Unternehmen oder Verbraucher durch ihre Botschaften bekommen. Eine entspre- chend hohe Bedeutung hat Öffentlichkeitsar- ❙12 Vgl. Svenja Koch, Greenpeace: Umweltkampagnen beit, denn nur über öffentliche Aufmerksam- mit Herz und Verstand, in: Ulrike Röttger (Hrsg.), keit können NGOs Druck auf Entscheider in PR-Kampagnen – Über die Inszenierung von Öffent- lichkeit, Opladen 2001, S. 264. ❙10 Vgl. Brian M. Lowe/Caryn F. Ginsberg, Animal ❙13 Fouad Hamdan, Wie kommt die Bohrinsel ins Rights as a Post-Citizenship Movement, in: Society TV? Internationale Kommunikation zum Schutz der & Animals, 10 (2002) 2, S. 203–215. Umwelt. Manuskript, Universität der Künste Berlin, ❙11 Vgl. Wendy Atkins-Sayrem, Articulating Identi- Berlin 2003, S. 4. ty: People for the Ethical Treatment of Animals and ❙14 Vgl. Lyle Munro, Strategies, Action Repertoires the Animal/Human Divide, in: Western Journal of and DIY Activism in the Animal Rights Movement, Communication, 74 (2010) 3, S. 309–328. in: Social Movement Studies, 4 (2005) 1, S. 75–94.

42 APuZ 8–9/2012 gesetzliche Regelungen zu Handlungsverän- stellen, ist nicht ohne Risiko. Die Fokussie- derungen zwingen soll, wie beispielweise bei rung auf den namhaften Gegner, meist noch der Kampagne zur Abschaffung der Wild- verknüpft mit aufsehenerregenden Aktionen, tierhaltung in Zirkussen oder beim Thema ist meist nur bedingt geeignet, um komplexere Tierversuche. Ein weiteres Kennzeichen der Themen zu transportieren. Allgemeine For- konfrontativen Strategie ist, dass die kom- derungen können untergehen, wenn der Geg- munizierten Forderungen meist absolut sind, ner den Forderungen der NGO nachkommt. das heißt kein Kompromiss angestrebt wird. Wird beispielsweise eine Kampagne an den Tierrechtsorganisationen fordern meist die Zustände in den Betrieben eines einzelnen generelle Abschaffung jeglicher Tiernutzung. Geflügelzüchters oder an dem Einkaufsver- Auch PETA stellt vielfach absolute Forde- halten einer Fastfoodkette festgemacht, so ist rungen, kämpft allerdings vereinzelt auch für die Gefahr groß, dass das Grundthema, das Verbesserungen der Tierhaltung und weicht Leid der Tiere in der Massentierhaltung insge- damit von der eigenen ­Leitidee ab. samt, aus der öffentlichen Debatte verschwin- det, sobald das eine Unternehmen den Forde- Der Vorteil der konfrontativen Strategie rungen der NGO nachgegeben hat. Hier stößt liegt vor allem in der hohen medialen Wirk- die konfrontative Strategie an ihre Grenzen. samkeit. Negativität, Konfrontation und Konflikte haben einen hohen Nachrichten- Die Konfrontation, wie sie PETA und an- wert, der sich nochmals steigern lässt, je hö- dere Tierrechtsorganisationen betreiben, ist her die Bekanntheit der beteiligten Akteure auch in anderer Hinsicht problematisch. Das ist. ❙15 Deshalb ist es für NGOs so interessant, Aufdecken von Missständen ist meist nur große Marken und bekannte Unternehmen durch geheime Überwachung, durch das Ein- in den Mittelpunkt ihrer Öffentlichkeitsar- dringen in Ställen oder anderen Einrichtun- beit zu stellen. PETA griff beispielweise 2011 gen möglich und damit oft nur durch illegale die Tierhaltung des größten deutschen Geflü- Aktivitäten. Manche Videos und Bilder, die gelzüchters Wiesenhof an. Die Kombination PETA für die Öffentlichkeitsarbeit verwen- aus schockierenden Bildern aus der Massen- det, stammen beispielsweise von der Animal tierhaltung und dem bekannten Markenna- Liberation Front (ALF), eine aus Großbri- men brachte der Kampagne eine hohe media- tannien stammende, aber inzwischen auch in le Resonanz ein. ❙16 vielen anderen Ländern aktive radikale Tier- rechtsgruppierung. ❙17 Die ALF, organisiert Doch die konfrontative Strategie birgt auch in kleinen autonomen Zellen, bricht immer Risiken. Da meist die Kritik an einem Gegner wieder in Ställe und Forschungslaboratorien im Mittelpunkt steht, besteht immer die Ge- ein und lässt dort gehaltene Tiere frei. Weil fahr, lediglich als Kritiker in der Öffentlich- die ALF aber auch Forschungseinrichtungen keit aufzutauchen und nicht mit der Lösung und Tierhaltungsanlagen zerstört, wird die des Problems in Verbindung gebracht zu wer- Gruppierung in den USA als terroristische den. Ein Vorwurf, der PETA auch immer wie- Organisation eingestuft. ❙18 Während sich die der gemacht wird, da der vollkommene Ver- meisten Tierschutz- und Tierrechtsorgani- zicht auf tierische Nahrungsmittel oder auf sationen von den Aktionen der ALF distan- Tierversuche in der medizinischen Forschung zieren, äußern Vertreter von PETA immer von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als wieder Verständnis für diese Art von gewalt- Lösung angesehen wird. Auch eine benenn- tätigem Protest. ❙19 bare, bekannte Marke in den Mittelpunkt zu

❙15 Für weitergehende Informationen zu Nachrich- Tierrecht als Lifestyle tenwerten vgl. Walter Lippmann, Public Opinion, New York 1922; Johan Galtung/Maria Holmboe Bis Ende der 1980er Jahre setzte PETA fast Ruge, The Structure of Foreign News. The Presen- ausschließlich auf konfrontative Kampagnen tation of the Congo, Cuba and Cyprus Crisis in Four Norwegian Newspapers, in: Journal of Peace Re- search, 2 (1965), S. 64–91; Winfried Schulz, Die Kon- ❙17 Vgl. M. Roscher (Anm. 5), S. 507. struktion von Realität in den Nachrichtenmedien, ❙18 Vgl. Kevin R. Grubbs, Saving Lives or Spreading Freiburg–München 1976. Fear: The Terroristic nature of Eco-Extremism, in: ❙16 Vgl. online: www.peta.de/web/wiesenhof.4817.html , 16 (2010), S. 351–370. (9. 1. 2012). ❙19 Vgl. M. Roscher (Anm. 5), S. 507.

APuZ 8–9/2012 43 mit schockierenden Bildern. Mit den 1990er pagne mit der Rockband „The Go-Go’s“ be- Jahren kam der Strategiewechsel. Zwar blieb gann. Seitdem wurde das Kampagnenmo- die konfrontative Herangehensweise in Tei- tiv mit unterschiedlichen Prominenten, vor len erhalten, aber in den Vordergrund rück- allem mit bekannten Models, und verschie- te eine eher lifestyleorientierte Strategie und denen Slogans immer wieder neu aufgelegt. insbesondere die Kooperation mit Promi- Später wurden ähnliche Motive mit halb- nenten. Am Anfang stand die Zusammenar- nackten Models und Schauspielerinnen auch beit mit Musikern und später mit Schauspie- für Kampagnen gegen den Fleischverzehr lern und Models. ❙20 Ein deutliches Zeichen eingesetzt. für den Strategiewechsel war die Verände- rung des PETA-Magazins in den USA. Bis In der PR-Strategie auf Lifestyle zu setzen 1988 noch ein rein thematischer Newsletter, birgt aber auch Risiken. PETA verknüpft in wurde es sukzessive zu einem Hochglanz- Kampagnen für vegetarische Ernährung die magazin, das die PETA-Themen mit der Un- meist nur spärlich bekleideten Prominenten terhaltungskultur verknüpfte und sich in der mit Argumenten hinsichtlich Gesundheit, Optik an Frauen- und Modezeitschriften Aussehen und Sex Appeal. Wenn jedoch Ve- ­orientierte. ❙21 getarismus nur als ein gesunder und attrak- tiver Lebensstil dargestellt wird und mit Die Zusammenarbeit mit Prominenten hat- perfekt aussehenden Models oder Schauspie- te für PETA mehrere Vorteile. Zum einen er- lerinnen in Verbindung gebracht wird, ver- schloss sich die Organisation damit Medien liert der Aufruf dazu seine eigentliche Bedeu- und Zielgruppen, die sie bisher nicht errei- tung. Die Botschaft, dass Tiere nicht genutzt chen konnte. Kaum ein Modemagazin oder werden dürfen, also die moralische Kernidee, eine Illustrierte hätte über die kontroversen könnte so verloren gehen. ❙23 PETA-Kampagnen mit den schockierenden Bilder berichtet, aber das Engagement Pro- minenter für PETA war und ist für sie sehr Für jede Zielgruppe ein Angebot wohl ein Thema. Insofern erwiesen sich die Prominenten als ideale und weltweit agieren- Mit der Mischung aus konfrontativen und de Multiplikatoren, denn die Lifestyle-Kam- lifestyleorientieren Kampagnen hat sich pagnen sind weit weniger abschreckend und PETA ganz unterschiedliche Zielgruppen bescherten der Organisation einen erhebli- erschlossen. Wie kaum eine andere NGO chen Mitgliederzuwachs. ❙22 schafft es die Tierrechtsorganisation, mit speziellen Angeboten ganz unterschiedliche Bei diesen Kampagnen steht auch nicht Zielgruppen anzusprechen. Fast zu jedem mehr ein bestimmter Gegner im Mittelpunkt. Themenfeld gibt es eigene Websites. Speziel- Stattdessen werden die Konsumenten ange- le Zielgruppen haben ebenfalls eigene Inter- sprochen. Sie sollen ihr Verhalten ändern, netportale, so zum Beispiel Menschen über zum Beispiel durch den Umstieg auf vegetari- 50. Dort werden Themen wie vegane Ernäh- sche Ernährung oder durch den Boykott be- rung, Gesundheit und Haustiere behandelt. ❙24 stimmter Produkte wie Pelze. Um dies zu er- Schockierende Bilder oder Anzeigenmotive reichen, werden die Verbraucher zwar immer mit halb nackten Frauen sind dort nicht zu noch mit zum Teil schockierenden Bildern finden. konfrontiert, aber im Vordergrund steht die Vorbildfunktion von Prominenten. Die wohl Besonders viele Angebote richten sich an bekannteste Kampagne von PETA in die- Kinder und Jugendliche. In den USA gibt sem Bereich ist die Anti-Pelz-Kampagne „I’d PETA ein eigenes Magazin für Jugendliche Rather Go Naked Than Wear Fur“ („Lieber heraus, das die PETA-Themen geschickt mit nackt als Pelz“), die 1991 als Anzeigenkam- Teenager-Themen vermischt. Hinzu kommt

❙20 Ebd., S. 309 f. ❙23 Vgl. Carrie Packwood Freeman, Framing Ani- ❙21 Vgl. Peter Simonson, Social noise and segmented mal Rights in the „Go Veg“ Campaigns of U. S. Ani- rhythms: News, entertainment, and celebrity in the mal Rights Organizations, in: Society & Animals, 18 crusade for animal rights, in: The Communication (2010) 2, S. 163–182. Review, 4 (2001) 3, S. 399–420. ❙24 Vgl. www.peta50plus.de (9. 1. 2012), in den USA ❙22 Vgl. ebd. http://prime.peta.org (9. 1. 2012).

44 APuZ 8–9/2012 spezielles Info-Material für Kinder und Ju- Aber nicht alle Kampagnen sind von Erfolg gendliche und auch der PETA-Onlineshop gekrönt. Seit 2001 versucht PETA Kentucky hat eigene Angebote für Kinder. Extra für die Fried Chicken wie zuvor andere Fastfood- jugendliche Zielgruppe wurde das Internet- ketten dazu zu bringen, ihre Einkaufspo- portal PETA2 mit eigener Online-Communi- litik zu verändern, bisher nur mit kleine- ty geschaffen. ❙25 Die Organisation setzt dabei ren Teilerfolgen. ❙29 Diese eher kooperativen bewusst auf Markenbildung und Lifestyle- Kampagnen brachten der Organisation zu- Angebote und orientiert sich an dem, was Ju- dem Kritik von anderen Tierrechtsorgani- gendliche interessiert. ❙26 Ein besonderes An- sationen, die in der Schaffung besserer Le- gebot sind die sogenannten Streetteams, die bensbedingungen für Nutztiere einen Verrat sich regelmäßig treffen, sich über PETA2 ver- der eigentlichen Ziele der Tierrechtsbewe- netzen und gemeinsam Aktionen planen und gung sehen. ❙30 umsetzen, wie das Verteilen von Info-Mate­ rial, Demonstrationen oder das Einstellen von Auch die wohl bekannteste Dauerkam- PETA-Material auf Social-Web-Plattformen.­ pagne von PETA gegen das Tragen von Pel- Dafür gibt es ein Belohnungssystem, das zen ist keine hundertprozentige Erfolgsge- motivieren soll, durch bestimmte Aktionen schichte. Zwar trugen die Kampagne und Punkte zu sammeln, die dann im PETA-Shop die spektakulären Aktionen maßgeblich eingelöst werden ­können. ❙27 dazu bei, das Tragen von Pelzen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre zu einem Tabu zu machen – allerdings nicht auf Dau- Erfolg oder Misserfolg? er. In den vergangenen Jahren verwenden viele Designer wieder Pelz, und einige Mo- In den meisten westlichen Ländern gibt es in- dels, die sich in den 1990er Jahren noch für zwischen zahlreiche Gesetze, die den Tier- die PETA-Kampagne auszogen, machen in- schutz regeln, wie Vorschriften zur Tier- zwischen wieder Werbung für Mode mit haltung in der Landwirtschaft oder zu Tierfellen. Dies offenbart ein weiteres Pro- Tierversuchen in der Forschung. Diese wären blem der lifestyleorientieren Kampagnen, ohne die Tierschutz- und Tierrechtsbewe- die auf Prominente als Vorbild setzen. Die gung sicherlich nicht zustande gekommen, Prominenten werden eingesetzt, weil sie öf- denn diese hat maßgeblich dazu beigetra- fentliche Aufmerksamkeit garantieren, aber gen, das von Menschen verursachte Leiden diese ist eben auch gewiss, wenn sie ent- von Tieren in das öffentliche Bewusstsein gegen ihrer ursprünglichen Werbeaussage zu bringen. Hinzu kommen zahlreiche Ein- handeln. Auch arbeitet PETA bei anderen zelerfolge. PETA konnte vor allem in den Themen mit Prominenten zusammen, die USA einige große Unternehmen zur Ände- ganz offensichtlich bestimmte Ziele der Or- rung ihrer Tierversuchspolitik bringen und ganisation nicht unterstützen und beispiels- Bekleidungsunternehmen dazu, auf Pelz zu weise offen Pelz tragen. Solche Vorfälle re- verzichten. In der medizinischen und wissen- duzieren nicht nur die Glaubwürdigkeit der schaftlichen Forschung ist PETA zu einem Prominenten, sondern auch die von PETA. gefürchteten Gegner geworden. Auch Fast- Für Kritiker ist das eine Bestätigung, dass foodketten haben ihre Einkaufs- und Ange- es PETA nur um öffentliche Aufmerksam- botspolitik auf Druck von PETA verändert. ❙28 keit geht.

Stellt sich die Frage, wie die schockieren- 25 ❙ Vgl. online: www.peta2.de (9. 1. 2012), in den USA den Bilder, aber auch die Lifestyle-Kampa- www.peta2.com (9. 1. 2012). gnen ankommen. Verschiedene Studien, vor ❙26 Vgl. Annegret März, Einbinden/Identität stiften: Virtualisierte kollektive Identität und Gemeinschaft allem aus den USA, kommen zu unterschied- in: Sigrid Baringhorst et al. (Hrsg.), Unternehmeri- sche Kampagnen. Politischer Protest im Zeichen di- gitaler Kommunikation, Wiesbaden 2010, S. 194. ❙29 Vgl. Heather M. Griffiths/Christopher Steinbre- ❙27 Vgl. dies., Mobilisieren: Partizipation – vom ‚klas- cher, The Colonel’s Strategy: KFC, PETA, and Su- sischen Aktivismus‘ zum Cyberprotest, in: S. Baring- perficial Appeasement, in: Sociological Spectrum, 30 horst (Anm. 26), S. 248 (2010) 6, S. 725–741. ❙28 Vgl. online: www.peta.de/erfolge und www.peta. ❙30 Vgl. Gary Francione, Rain Without Thunder: The org/​about/learn-about-peta/success-stories.aspx (9. 1. ​ Ideology of the Animal Rights Movement, Philadel- 2012). phia 1996, S. 34 f.

APuZ 8–9/2012 45 lichen Ergebnissen. Studien über die Mit- würde durch die sexualisierte Werbung in glieder von Tierrechtsorganisationen zei- den Hintergrund rücken und PETA-Kam- gen, dass Info-Material von Organisationen, pagnen den eigentlichen Zielen daher eher vor allem auch solches mit schockierenden ­schaden. ❙33 Bildern, nicht nur einen hohen Einfluss auf die Entscheidung hatte, sich in diesem Feld Dass PETA mit schockierenden Kampag- zu engagieren, sondern meist auch eine ve- nen den schmalen Grad zwischen positiver gane oder vegetarische Ernährung zur Fol- Aufmerksamkeit und Ablehnung zu über- ge hatte. ❙31 Doch wie sieht es beim Rest der schreiten weiß, verdeutlicht wohl kein Bei- Bevölkerung aus? Viele Anzeigenmotive von spiel besser als die Ausstellung „Der Holo- PETA bewirken wohl eher das Gegenteil und caust auf Ihrem Teller“. Die verglich Bilder schrecken Menschen ab, weil sie deren kul- vom Holocaust mit Bildern aus der Mas- turelle Vorstellungen angreifen. Als abschre- sentierhaltung und wurde 2003 erstmals in ckend werden dabei nicht nur die schockie- den USA gezeigt und ging später dann auch renden Bilder empfunden, abgelehnt werden in andere Länder. Nicht nur in Deutsch- auch die patriotischen, religiösen und sexua- land löste der Vergleich Proteste aus. In den lisierten Motive. ❙32 USA wurde die Ausstellung 2005 beendet. In Deutschland wurde PETA die Verbrei- Zu der am häufigsten geäußerten Kritik tung der Ausstellung 2005 gerichtlich un- gegenüber den Kampagnen von PETA ge- tersagt. Mit einer Klage vor dem Bundesver- hört der Vorwurf des Sexismus, der sich in fassungsgericht ist PETA 2009 gescheitert. erster Linie darauf bezieht, dass PETA in Der Ausstellung „Der Holocaust auf Ihrem Kampagnen immer wieder nackte oder halb- Teller“ folgte in den USA eine weitere kon- nackte Frauen zeigt. Dazu enthalten die Slo- troverse Ausstellung mit dem Titel „Animal gans häufig sexuelle Anspielungen und die Liberation Project: We Are All Animals“, Gestaltung der Motive erinnert nicht sel- dass Bilder von Massentierhaltung mit Bil- ten an softpornografische Bilder. Kritiker dern des Leidens von Sklaven und anderen werfen der Organisation daher vor, Frauen unterdrückten Menschen verglich. Auch zu Objekten zu machen, Geschlechterste- diese Ausstellung führte zu massiven Pro- reotypen zu reproduzieren und das gängi- testen. Analogien zwischen Tierausbeutung ge Schön­heits­ zu propagieren. Einige und Holocaust und Sklaverei hat es in der Kritiker werfen der Organisation zudem Tierrechtsbewegung bereits zuvor gegeben. vor, rassistisch zu sein, da die meisten An- Viele Tierrechtler bezeichnen sich beispiels- zeigenmotive weiße, blonde Frauen zeigen. weise als „Abolitionisten“, um damit ihre PETA-Gründerin Ingrid Newkirk vertei- Verbindung zu der historischen Anti-Skla- digt diese Vorgehensweise als legitimes Mit- verei-Bewegung zu signalisieren und Grup- tel, um öffentliche Aufmerksamkeit zu er- pierungen wie die Animal Liberation Front regen und verweist darauf, dass alle Models haben schon immer Vergleiche zum Holo- und Prominente in solchen Anzeigen Frei- caust genutzt. ❙34 Doch kaum eine Organi- willige seien. Aber wohl auch als Reaktion sation nutzt den Vergleich so plakativ wie auf die anhaltende Kritik sind die PETA- Kampagnen zunehmend geschlechtsneut- ❙33 Vgl. Andrea Heubach, Der Fleischvergleich – Se- ral geworden und bilden inzwischen sowohl xismuskritik in der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewe- Männer als auch Frauen ab. Geblieben ist al- gung, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal lerdings die sexualisierte Darstellung. Kriti- Studies (Hrsg.), Human-Animal Studies – Über die ker sehen darin eine Bagatellisierung des ei- gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnis- gentlichen Anliegens. Das Thema Tierrecht sen, Bielefeld 2011, S. 243–277; Carol J. Adams, The Pornography of Meat, New York, 2003; Maneesha Deckha, Disturbing Images. Peta and the of Animal Advocacy, in: Ethics & the Envi- ❙31 Vgl. B. M. Lowe/C. F. Ginsberg (Anm. 10); James ronment, 13 (2008) 2, S. 35–76; Nikki Craft, PETA – M. Jasper/Jane D. Poulsen, Recruiting Strangers and Where Only Women Are Treated Like Meat, online: Friends: Moral Shocks and Social Networks in Ani- http://nostatusquo.com/ACLU/PETA/peta.html mal Rights and Anti-Nuclear Protests, in: Social Pro- (9. 1. ​2 012). blems, 42 (1995) 4, S. 493-551. ❙34 Vgl. Claire Jean Kim, ��������������������������Moral Extensionism or Rac- ❙32 Vgl. Marie Mika, Framing the Issue: Religion, Se- ist Exploitation? The Use of Holocaust and Slavery cular Ethics and the Case of Animal Rights Mobili- Analogies in the Animal Liberation Movement, in: zation, in: Social Forces, 85 (2006) 2, S. 915–941. New Political Science, 33 (2011) 3, S. 311–333.

46 APuZ 8–9/2012 PETA. Bleibt die Frage, ob und in welchem Wolf-Michael Catenhusen Maße die Ausstellungen und solche Verglei- che das eigentliche Ziel, die Neubewertung der Sichtweise auf Mensch und Tier zu ver- Tiere und Mensch- ändern, erreicht hat. Tier-Mischwesen Auffallen um jeden Preis?

Der amerikanische Journalist Michael Spec- in der Forschung ter hat PETAs Strategie treffend beschrie- ben: „PETA’s publicity formula – eighty per cent outrage, ten per cent each of celebrity chon in der Antike ging die Ausbildung der and truth – insures that everything it does of- SMedizin in Griechenland nicht nur mit der fends someone.“ ❙35 PETA-Gründerin Ingrid Sektion toter Tiere, sondern auch mit Eingrif- Newkirk gibt im selben Artikel zu, dass sie fen an lebenden Tie- bei PETA alles tun, um mediale Aufmerk- ren, mit Tierversuchen Wolf-Michael Catenhusen samkeit zu erlangen. Das gelingt ihnen ohne einher. In der Ent- Geb. 1945; Staatssekretär a. D.; Frage. PETA hat dafür einen interessanten wicklung der moder- 1980 bis 2002 Mitglied des Mix von Strategien entwickelt. Wie Green- nen Medizin seit dem Deutschen Bundestages mit peace setzt PETA zum einen darauf, Miss- 16. Jahrhundert wur- Schwerpunkt Forschungspolitik; stände durch drastische Bilder und Aktionen den Tierversuche nach 2006 bis 2011 Vorsitzender der zu dokumentieren und einzelne Gegner in einer Pause von mehr Nanokommission der Bundesre- großen Kampagnen gezielt anzugreifen. Mit als 1000 Jahren wie- gierung; seit 2008 Mitglied des dieser Herangehensweise hat PETA auch ei- der aufgenommen. Im Deutschen Ethikrates, Sprecher nige Erfolge erzielt und sicherlich dazu bei- 19. Jahrhundert wur- der Arbeitsgruppe „Forschung getragen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf de die Medizin wie die an Mensch-Tier-Mischwesen“. Grausamkeiten gegen Tiere in der Landwirt- Physik und die Che- www.ethikrat.org schaft und in Forschungseinrichtungen zu mie zu einer experi- lenken. Zum anderen schafft es PETA wie mentellen Wissenschaft, die sich auf die Er- keine andere NGO, sich selbst als eine Mar- gebnisse von Tierversuchen stützt. ke mit Lifestyle-Charakter zu etablieren. Da- für werden vor allem Prominente geschickt in Seitdem ist es zu einem stetigen Anstieg Szene gesetzt und auf das Prinzip Sex sells ge- wissenschaftlicher Tierversuche gekommen. setzt. Diese Strategie hat PETA viel öffentli- Ihre Ergebnisse lieferten wichtige Beiträge che Aufmerksamkeit beschert, auch außer- bei der Erforschung von Krankheiten sowie halb der klassischen Nachrichtenmedien. der Entwicklung von Impfstoffen und Arz- PETA konnte so Zielgruppen erreichen, die neimitteln. Mit der Ausbildung der moder- sich vorher kaum für Tierrechtsfragen inter- nen biomedizinischen Grundlagenforschung essiert haben. Ob diese Strategie auch lang- kam es zu einer stetigen Ausweitung wissen- fristig funktioniert und vor allem, ob sie auch schaftlicher Fragestellungen als Begründung das Thema Tierrechte selbst transportieren von wissenschaftlichen Tierversuchen. Heute kann, ist fraglich. Die Lifestyle-Strategie hat findet Forschung an Tieren im Wesentlichen PETA auch viel Kritik eingebracht. In Arti- an speziell zu Forschungszwecken gezüchte- keln über PETA geht es oft mehr um die Me- ten Tieren statt. 2009 wurden in Deutschland thoden der Organisation und um ihre pro- 2,78 Millionen Wirbeltiere für Versuche und minenten Fürsprecher denn um das Thema andere wissenschaftliche Zwecke verwandt Tierrechte selbst. sowie 690 000 Wirbeltiere zu wissenschaftli- chen Zwecken getötet. ❙1

Forschung an Mensch-Tier-Mischwesen ❙35 Michael Specter, The extremist – The woman be- hind the most successful radical group in America, in: The New Yorker vom 14. 4. 2003, S. 52–67. Neue Wissenschaftsfelder, etwa die Gen- technik und die Stammzellforschung, geben neue Impulse für wissenschaftliche Tierver-

APuZ 8–9/2012 47 suche und haben zur Schaffung von Mensch- fische. ❙2 Geringfügig sind aber auch Kanin- Tier-Mischwesen geführt, von Tieren, in die chen und Schweine vertreten. 1998 wurde menschliche Gene, Zellen oder menschliches erstmals ein Affe zum Tiermodell für eine Gewebe übertragen werden. Es kommt dabei menschliche Krankheit. Dies geschah durch insbesondere zur gezielten artübergreifen- Übertragung des menschlichen Gens, das für den Übertragung menschlicher Erbfaktoren die Huntington-Krankheit verantwortlich in Tiere, die weitervererbt werden. Dies wirft ist. ❙3 die Frage auf, wie dies mit unserem Selbstver- ständnis, das traditionell von der Vorstellung Gene kodieren zum einen für einzelne Pro- einer klaren Grenzziehung zwischen Mensch teine. Einzelne Gene können zum anderen und Tier ausgeht ist, vereinbar ist. aber auch die Steuerung der Entstehung von Geweben oder Organen übernehmen. Gera- Bei der Verschmelzung von zwei Embryo- de die Funktion solcher Steuerungsgene kann nen unterschiedlicher Art in einem sehr frü- nur im lebenden Organismus analysiert und hen Entwicklungsstadium können Chimären verstanden werden. Bei ihrer Manipulation entstehen, die zu etwa gleichen Anteilen Zel- kann es durchaus zu einer Veränderung kom- len zweier Arten trägt. Ein so entstehendes plexer Systeme im Tier kommen. 1997 wur- Mischwesen (in der Tierwelt die „Schiege“, de weltweit erstmals ein ganzes menschli- die 1984 durch Verschmelzung von Schaf- und ches Chromosom in den Erbgang einer Maus Ziegenembryo entstand) könnte keiner Art übertragen. Angesichts der weit entfernten zugewiesen werden. Es gibt allerdings keiner- Verwandtschaft transgener Tiere wie Fisch, lei Hinweise dafür, dass diese Technik unter Maus, Ratte, Kaninchen oder Schwein ist Einsatz menschlicher Embryonen derzeit in aber nicht davon auszugehen, dass sich wei- der Forschung untersucht oder auch nur an- tergehende Fragen des Tierschutzes stellen. gestrebt wird. Im Folgenden wird ein Über- Aspekte des Schutzes der Menschenwürde blick über die wichtigsten Forschungsfelder könnten sich jedoch bei der Erzeugung trans- gegeben, in denen unterschiedliche Mensch- gener Primaten, insbesondere bei Menschen- Tier-Mischwesen erschaffen ­werden. affen, stellen.

Transgene Tiere mit menschlichem Erb- Zytoplasmische Hybride (Zybride). In material. Die Gentechnik schaffte die Mög- diesem Forschungsfeld geht es um die Ver- lichkeit, Gene als Träger von Erbanlagen schmelzung einer entkernten tierischen Ei- eines Lebewesens gezielt über Artengren- zelle mit dem Zellkern einer Zelle eines In- zen hinweg auszutauschen. Dies führte seit dividuums einer andern Art. Im Experiment etwa 30 Jahren zur millionenfachen Schaf- wurde dabei eine entkernte Rindereizelle mit fung transgener Tiere, vor allem Mäuse und einem menschlichen Zellkern verschmolzen. Ratten, denen einzelne menschliche krank- Die so entstandene vermehrungsfähige Zelle heitsspezifische Gene eingefügt wurden, die weist damit ein fast komplettes menschliches im Tier weitervererbt werden. Die Schaffung Genom auf. In dieser Zelle sind nach wie vor transgener Tiere ist sowohl in der Grundla- die Mitochondrien aus tierischem Material genforschung wie auch in der medizinischen mit insgesamt 39 tierischen Genen enthalten. Forschung weit verbreitet, um die Funktion Allerdings übernimmt das menschliche Ge- menschlicher Gene zu erforschen. Es wer- nom sofort die Steuerung der Zellentwick- den Tiermodelle menschlicher Krankheiten lung. Aus einem solchen zytoplasmischen (beispielsweise die „Krebsmaus“) geschaffen, Zybrid, so hofft man, lassen sich künftig in um die molekularen Zusammenhänge einer den ersten Stadien der Zellteilung humane Krankheit untersuchen und besser verstehen embry­onale Stammzelllinien gewinnen. Da- zu können. Die transgene Maus entwickelt mit eröffnet sich die Möglichkeit, humane dann oft ein ähnliches Krankheitsbild. 2009 em­bryonale Stammzellen ohne Verwendung wurden in Deutschland in der Forschung 607 000 transgene Tiere eingesetzt, davon ❙2 Vgl. ebd., S. 62. 3 591 000 (97 Prozent) transgene Mäuse, 8300 ❙ Die Huntington-Krankheit ist eine seltene, vererb- transgene Ratten und 1300 transgene Zebra­ bare und fortschreitende Erkrankung des Gehirns, die meist zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr aus- bricht. Ursache ist ein verändertes Gen. Es gibt bis- ❙1 Vgl. Tierschutzbericht der Bundesregierung 2011, her keine Heilmethode. Vgl. online: www.hunting- Bundestags-Drucksache 17/6826, S. 52, S. 63. ton-hilfe.de (3. 2. 2012).

48 APuZ 8–9/2012 von gespendeten menschlichen Eizellen aus Wege kognitive Fähigkeiten des Tieres gestei- Zybriden vor der Einpflanzung in eine Ge- gert, „vermenschlicht“ werden? bärmutter herzustellen. Dies stellt insofern einen Fortschritt dar, als das Spenden von Ei- Im vergleichsweise sehr kleinen Hirn zellen durchaus mit gesundheitlichen Risiken von Nagetieren spricht alles dagegen, dass verbunden ist. menschlich geprägte Nervennetzwerke räum- lich überhaupt entstehen können. In Tierver- Zweifellos hätte diese Methode der Ge- suchen gibt es aber auch den Hinweis darauf, winnung pluripotenter embryonaler Stamm- dass Transplantationen von unreifem Ner- zelllinien, aus denen verschiedene Gewebe- vengewebe zwischen verwandten Arten mit typen entwickelt werden können, durchaus vergleichbarem Hirnvolumen, mit vergleich- Bedeutung für die medizinische Forschung – barer Hirnstruktur durchaus zu Mischwesen zum besseren Verständnis der molekularen mit chimärischem Hirn führen können, die Grundlagen für Erkrankungen und für die Verhaltensweisen der Spenderart zeigen. So Entwicklung neuer Zell- und Gewebethera- äußerten Hühner nach einer Transplantation pien. Auf diesem Gebiet hat es nach ersten von Wachtel-Hirngewebe wachtelartige Lau- Vorhaben bis 2005 allerdings einen Stillstand te. Deshalb ist für die Zukunft durchaus ein gegeben. Dazu gibt es mittlerweile eine mög- wachsendes Interesse an der Transplantation liche technische Alternative: Seit 2007 lassen menschlicher Hirnzellen, von menschlichem sich menschliche Zellen mithilfe spezieller Hirngewebe in Primaten, insbesondere Men- molekularer Signale in induzierte pluripoten- schenaffen, denkbar. Solche Versuche könn- te Stammzellen (IPs-Zellen) verwandeln. Es ten zu einem chimärischen Hirn eines Men- ist heute trotz wichtiger Fortschritte nicht schenaffen führen, der Verhaltensweisen des abschließend zu bewerten, ob sich die hohen Menschen zeigt. Wir verfügen aber bislang Erwartungen an die IPs-Zellen erfüllen las- nicht über angemessene verhaltensbiologi- sen. Bei den Zybriden stellt sich die Grund- sche Untersuchungen zu der Frage, ob es zu satzfrage: Sind die Zybride noch mensch- qualitativen Verhaltensänderungen bei Tieren lich, gehen wir bei ihnen davon aus, dass der mit menschlichen Zellen im Gehirn kommt. Schutz menschlichen Lebens von Beginn an geboten ist – oder sind sie ein technisches Konstrukt ohne moralischen Status, das auf Zum moralischen Status anderem Wege als durch Zeugung im Ver- von Mensch und Tier ständnis des Embryonenschutzgesetzes ent- steht? Moralischer Status und Menschenwürde. Der Mensch hat sich selbst immer wieder in Übertragung menschlicher Zellen, auch Abgrenzung zum Tier, zum Säugetier, als Stammzellen, in ungeborene oder ge­borene „Nicht-Tier“ definiert, sein Selbstverständ- Tiere – Hirnchimären. Zur Vorbereitung nis ist von der Einzigartigkeit des Menschen klinischer Studien am Menschen, um The- als Vernunftwesen, als moralfähiges Wesen rapien gegen eine unfall- oder krankheits- geprägt. Nur dem Menschen kommt Wür- bedingter Zell- oder Gewebezerstörung zu de als Wesensmerkmal zu. Nach dem Ver- entwickeln, werden in präklinischen Studi- ständnis unserer Verfassung kommt sie je- en menschliche Zellen, auch unreife, in Tie- dem einzelnen Mensch und allen Menschen re verpflanzt, um die therapeutischen Effekte gemeinsam (Gattungswürde) zu. Das Bun- einer solchen Transplantation zu untersu- desverfassungsgericht hat dazu festgestellt: chen. Solche Studien werden am Hirn zur Er- „Menschenwürde (…) ist nicht nur die indivi- forschung von Krankheiten wie etwa Alzhei- duelle Würde der jeweiligen Person, sondern mer-Demenz, Schlaganfall oder Parkinson die Würde des Menschen als Gattungswesen. mit der Hoffnung auf spätere Behandlungs- Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine ansätze vorgenommen. Damit wird auch die Eigenschaften, seine Leistungen und seinen Frage aufgeworfen, ob durch die Verpflan- sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der zung menschlicher Nervenzellen oder ihrer aufgrund seines körperlichen oder geistigen Vorläufer in Tiergehirne menschliche Befä- Zustands nicht sinnhaft handeln kann.“ ❙4 Der higungen im Tier entstehen können, welche Mensch ist um seiner selbst willen zu achten. die Frage nach dem moralischen Status des Tieres aufwerfen. Könnten etwa auf diesem ❙4 BVerfGE 87, 209 (228).

APuZ 8–9/2012 49 Status und Schutz des Tieres. Aus dem ren, insbesondere Wirbeltieren, gebührt mo- Verständnis eines grundsätzlichen Unter- ralische Rücksicht von Seiten der moralfähi- schiedes zwischen Mensch und Tier hat der gen Menschen. Mensch das Recht abgeleitet, Tiere zu essen und zu töten, sie zu besitzen, als Mittel zum Paragraf 7 des Tierschutzgesetzes defi- Zweck zum Nutzen der Menschheit zu er- niert den Tierversuch als Eingriff oder Be- zeugen und zu verwenden. handlung zu Versuchszwecken „1. an Tie- ren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Die Tierwelt umfasst eine große Brei- Schäden für diese Tiere oder 2. am Erbgut te von niedrig bis hoch entwickelten Arten. von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Lei- Von menschlicher Sensibilität und Fragen des den oder Schäden für die erbgutveränderten Tierschutzes werden vorrangig Wirbeltiere Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein (etwa Fische, Reptilien, Vögel) erfasst, da ih- können“. Das Tierschutzgesetz konzentriert nen Schmerz und Leidensfähigkeit zuerkannt sich auf den Schutz von Wirbeltieren. Tier- wird. Zu den Wirbeltieren zählen auch die versuche sind nach Paragraf 7 Absatz 3 nur Säugetiere – warmblütig, meist behaart, mit zulässig, wenn die zu erwartenden Schmer- ausgeprägter Hirnfunktion und in der Regel zen Leiden oder Schäden der Versuchstiere mit vier Gliedmaßen versehen. im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Dies ist der Fall, wenn davon Weitgehend durchgesetzt hat sich seit dem auszugehen ist, dass die angestrebten For- 19. Jahrhundert die Auffassung, dass allen schungsergebnisse für wesentliche Bedürf- schmerz- und leidensfähigen Wesen – zu de- nisse von Tier und Mensch einschließlich nen neben dem Menschen vor allem auch die der Lösung wissenschaftlicher Probleme von Wirbeltiere zählen – moralische Rücksicht hervorragender Bedeutung sind. Es muss gebührt. In dieser Zeit setzte auch die Forde- also eine Abwägung zwischen Schutz und rung nach gesetzlichen Grenzen für die Ver- Wohlergehen des Tieres und Hochrangig- wendung von Tieren zu Forschungszwecken keit der Forschungsziele vorgenommen wer- ein. 1876 wurde in Großbritannien das Ge- den. Diese erfolgt bei Forschungsprojekten setz zur Verhinderung der Grausamkeit gegen mit Wirbeltieren im Rahmen eines Antrags- Tiere (Cruelty to Animal Act) erlassen, das verfahrens unter Einschaltung einer Tier- die Zulassung von Labors für Tierversuche schutzkommission. und die Genehmigungspflicht für bestimmte Tierversuche festlegte. Vergleichbare Bestim- Zur besonderen Stellung von ­Primaten mungen wurden 1880 in Bayern und 1885 in und Menschenaffen. Der moralfähige Mensch, Preußen in Ministerialerlassen festgelegt. Al- dem Würde als Vernunftwesen zukommt, bert Schweitzer weitete in seiner „Ethik der gewichtet seine Verpflichtung zum Schutz Ehrfurcht vor dem Leben“ den Gedanken von Tieren durchaus differenziert. Immer der ethisch begründeten Rücksichtnahme auf häufiger wird die Forderung erhoben – nicht Tiere auf eine Ethik der Verantwortung für zuletzt durch die Ergebnisse der Verhaltens- die Tiere als Teil der Schöpfung, als Mitge- forschung –, dass Tiere, die uns biologisch schöpfe der Menschen, aus. und in moralisch relevanten Eigenschaften nahestehen, eine besonders starke Rück- Seitdem hat der Schutz von Tieren große sichtnahme verdienen. Primaten, insbeson- Fortschritte gemacht. 2002 wurde das Staats- dere Menschenaffen, die als Tiere besonders ziel Tierschutz in Artikel 20a unseres Grund- ausgeprägte Leidensfähigkeit und Schmerz- gesetzes aufgenommen. Das geltende deut- empfinden besitzen, werden in immer stär- sche Tierschutzgesetz geht durchaus von kerem Maße als Adressaten spezieller mo- einer Sonderstellung des Menschen in der ralischer Schutzpflichten von Seiten des Natur, als Vernunftwesen mit Moralfähigkeit Menschen gesehen. Zu den Menschenaffen aus, aber mit Verantwortung für den Schutz zählen der Gorilla, der Orang-Utan und der von Tieren als Teil der Schöpfung. In Para- Schimpanse. graf 1 wird als Ziel des Tierschutzes genannt: „aus der Verantwortung des Menschen für Insbesondere Verhaltensforschung an und das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und mit Primaten hat die Frage aufgeworfen, ob Wohlbefinden zu schützen“. Schmerz- und auch Menschenaffen kulturfähig seien, in leidensfähigen Wesen, also auch vielen Tie- die Zukunft hinein denken und über eine

50 APuZ 8–9/2012 Vorstufe von Moral verfügen. Aufgrund ih- den einzelnen Arten bestehenden Grenzen rer verwandtschaftlichen Nähe zum Men- nicht zu überschreiten. schen müssten besondere Schutzpflichten für sie gelten. In diesem Sinne haben etwa die Zur Sonderstellung der Art „Homo Sapi- Schweiz, Österreich, die Niederlande und ens“. Wenn es um die Artengrenze zwischen Neuseeland Versuche an Menschenaffen ver- Mensch und Tier geht, bewegen wir uns in boten. Auf EU-Ebene ist dies seit 2010 bis auf einer verbreiteten kulturellen Tradition der wenige Ausnahmefälle untersagt. Solche Ver- Menschheit, die von einer deutlichen Tren- suche fanden seit 1991 auch in Deutschland nung von Mensch und Tier ausgeht. Der nicht mehr statt. Manche, etwa Utilitaristen, Mensch-Tier-Grenze wird eine besondere ziehen die Schlussfolgerung, dass Menschen- ethische Bedeutung zugewiesen. Biologisch affen den gleichen moralischen Status wie gesehen ist der Mensch den Tieren zuzuord- Menschen hätten und ihnen auch Würde zu- nen. Kulturell herrscht das Verständnis einer komme. Der Gedanke des Tierschutzes müs- Sonderstellung des Menschen im Tierreich se daher auf die Durchsetzung von Tierrech- vor, begründet durch die menschenspezi- ten ausgeweitet werden. fische Ausprägung bestimmter Befähigun- gen. Zu diesen Befähigungen gehören vor al- lem Sprache, Selbstbewusstsein und Kultur. Aspekte der ethischen Beurteilung Von besonderer ethischer Relevanz ist da- von Mensch-Tier-Mischwesen bei, dass nur ihm das Vermögen, moralisch motiviert zu handeln, gegeben sei. Hierauf Überschreiten der Artengrenze – ein grund- gründen Befähigungen und Besonderheiten sätzliches ethisches Problem? Jedes Lebewe- des menschlichen Lebens und Zusammen­ sen wird in der Biologie einer bestimmten lebens. Art zugeordnet, die in der Evolutionsbiologie als Fortpflanzungsgemeinschaft verstanden Die moderne Verhaltensbiologie geht in- wird. Zwischen den Arten kommt es nicht tensiv der Frage nach, ob nicht auch einzel- zu Paarungen, in Ausnahmefällen entstehen ne Tierarten, insbesondere Primaten, Ansät- dabei nur unfruchtbare Nachkommen. Eine ze derartiger Fähigkeiten aufweisen. Hier biologische Art ist eine in sich geschlossene kommt der Deutsche Ethikrat zu der Bewer- Fortpflanzungs- und Abstammungsgemein- tung, dass solche Befähigungen in Ansätzen schaft, die eine genetische, evolutionäre und zweifellos auch bei Tieren vorhanden sind. ökologische Einheit bildet. Diese natürliche Sie sind aber beim Menschen ungleich kom- Ordnung muss aber nicht zwangsläufig un- plexer, mit einer anderen Qualität ausgeprägt angetastet bleiben. Wohl sollte sie den Men- und beruhen auf bewusster Reflexion. Die schen dazu bewegen, eine sorgfältige Ab- biologische Evolution hat sich beim Men- wägung zwischen den Zielen eines solchen schen offenkundig durch kulturelle Evoluti- Vorgehens und dem Respekt vor natürlich ge- on beschleunigt und an Komplexität deutlich wachsenen Artengrenzen vorzunehmen. Bei zugelegt. Dies wird besonders bei Kommu- niederen Lebensformen wie Bakterien oder nikation und Sprache deutlich. Nur beim Viren stellt sich diese ethische Frage ohnehin Menschen ist von Sprachfähigkeit in vollem nicht. Die beobachtbare Eigenschaft von Vi- Sinne zu sprechen: Sie ermöglicht die Aus- ren, also Krankheitserregern, Artengrenzen bildung von Wissen, das über Generationen überwinden zu können, stellt aber eine deut- hinweg weitergegeben wird. Beim Menschen liche Gefährdung der Gesundheit von Men- haben sich Laut-, Schrift-, Kunst- und Wis- schen, aber auch von Tieren, dar. senschaftssprache ausgebildet, eine entschei- dende Grundlage für die Ausbildung von Der Gedanke des Artenschutzes setzt nicht Recht, Wissenschaft, Technik, Kunst und in erster Linie bei der einzelnen Art an, es Religion. geht hier um den Erhalt der Artenvielfalt, der genetischen Vielfalt in der Natur. Auf diesem Ergebnisse der modernen Soziobiologie Verständnis baut beispielsweise die Biodiver- werfen durchaus die Frage auf, ob mensch- sitätskonvention der Vereinten Nationen auf. liche Moralfähigkeit nach den gleichen evo- Aus einer moralischen Pflicht, die Artenviel- lutionären Prinzipien wie die menschliche falt als Ganzes zu erhalten, lässt sich aber Gestalt oder physiologische Eigenschaften kein unbedingtes Gebot ableiten, die unter entstanden sind. Dem ist aber entgegenzu-

APuZ 8–9/2012 51 halten, dass das entscheidende Kriterium für sondere solche, die Leistungen des Gehirns die Moralfähigkeit des Menschen nicht allein betreffen) sich erst nach der Geburt aus- eine empirisch zu beobachtende „morali- prägen. Man müsste also Experimente und sche“ Handlungsweise ist. Sie begründet sich Züchtungen vornehmen, um ex post ihre zentral in dem geistigen Reflexionsprozess ethische Zulässigkeit bewerten zu können. und in vernunftgeleiteten Überlegungen, die Allerdings lassen sich schon ex ante Aussa- sich auf Gründe berufen und sich an mora- gen zur Eingriffstiefe des geplanten Vorge- lisch gebotenen Vorgaben orientieren, die ei- hens treffen. Es geht zum einen um das quan- ner solchen Handlung – oder ihrem Unter- titative Verhältnis von menschlichem und lassen – vorausgehen. Daraus ergibt sich aber tierischem Beitrag zum Mischwesen, nach auch, dass der Mensch – und nur er – im Kon- dem Prinzip minimaler Anteil, geringe Wir- text seiner kulturellen Entwicklung Verant- kung. Welcher Anteil artfremden Materials wortung nicht nur für sich, sondern auch für wird integriert? Diese Frage hat bei informa- den Erhalt und die Entfaltung seiner natür- tionsgebenden Molekülen wie Genen, Prote- lichen und kulturellen Lebensgrundlagen inen, DNA oder RNA durchaus eine gewisse übernehmen kann und übernehmen soll. Das Bedeutung. Bei einer transgenen Maus wer- schließt den Respekt vor der Tierwelt, den den heute nur ein Gen oder wenige Gene des Tierschutz ein. Menschen in das 30 000 Gene umfassende Mäusegenom eingefügt. Der transgene Bei- trag liegt also unter ein Promille. Vergleich- Ethische Relevanz der Erzeugung bare Mischungsverhältnisse können sich bei von Mensch-Tier-Mischwesen der Einfügung von Zellen in das Hirn eines Mäuseembryos ergeben. Bei der Einfügung Im Allgemeinen wird nicht davon ausgegan- eines ganzen Chromosoms in das Maus­ gen, der ethisch bedeutsame Unterschied genom würde sich das Mischungsverhältnis zwischen Mensch und Tier beruhe auf der schon spürbar ändern. Quantitative Anga- biologischen Zugehörigkeit zur Art als sol- ben allein sind aber meistens nicht überzeu- cher. Die Artzugehörigkeit ist aber insofern gend, sie müssen durch qualitative Attribute relevant, als sie die biologischen Vorausset- ergänzt werden. zungen jener artspezifischen Befähigungen anzeigt, die Grundlage für die Sonderstel- Relevant ist die Frage, auf welcher Ebene lung des Menschen sind. In diesem Sinne eines Organismus (Zelle, Gewebe, Organ), ist die Artzugehörigkeit, die Gattungszuge- in welchem Entwicklungsstadium des Tie- hörigkeit Bestandteil des Begriffs der Men- res der Eingriff erfolgt. Im Frühstadium der schenwürde. Menschenwürde kommt in un- Embryonalentwicklung, vor Ausbildung der serer Verfassung nicht nur dem einzelnen Organanlagen kann das Implantat (Gen, Menschen, sondern auch dem Menschen als Chromosom oder Stammzelle) den gesam- Gattung zu, sie wird aber nicht nur aus der ten Organismus einschließlich Keimbahn Artzugehörigkeit begründet. und Gehirn beeinflussen, ja dominierend ge- stalten. Insgesamt werfen bei der Herstellung Die Erzeugung von Mensch-Tier-Mischwe- von Mensch-Tier-Mischwesen Eingriffe in sen, die in weit erheblicherem Umfang als das die Erbanlagen, sowie Eingriffe mit Auswir- eingesetzte Versuchstier eine Annäherung an kungen auf Befähigungen, die für den mora- die typisch menschlichen Befähigungen auf- lischen Status eines Wesens relevant sind, die weisen, würde diese kulturell verankerte gat- Frage der Verantwortbarkeit auf. Dies gilt tungsbezogene Basis unseres Verständnisses aber auch für einschneidende Veränderungen von Menschenwürde berühren, ja in Frage des Aussehens, da sie die Basis intuitiver Ab- stellen. Daraus können sich Konsequenzen grenzungen ­berühren. für den Umfang der Schutzpflichten gegen- über den veränderten Tieren, aber auch für die Einschätzung des moralischen Status des Empfehlungen des Deutschen Ethikrates Mensch-Tier-Mischwesens ergeben. Die Empfehlungen des Ethikrates verste- Ein grundlegendes Problem bei der Schaf- hen sich als Bausteine eines von Vorsicht und fung von Mischwesen besteht darin, dass Vorsorge getragenen Vorgehens auf dem Feld ethisch höchst relevante Merkmale (insbe- der Forschung an Mensch-Tier-Mischwesen.

52 APuZ 8–9/2012 1. Der Deutsche Ethikrat will den Weg gen, insbesondere im Hinblick auf ihren zu zur Erzeugung von Mensch-Tier-Mischwe- erwartenden medizinischen Nutzen für die sen unklarer Artzuordnung grundsätzlich Menschheit sehr gut begründet sein und auf untersagen und fordert deshalb, „dass keine ihre möglichen Auswirkungen auf den mo- Mensch-Tier-Mischwesen in eine Gebärmut- ralischen Status des Mischwesens bewertet ter überragen werden dürfen, bei denen man werden.“ ❙8 Hochrangigkeit der Grundlagen- vorweg absehen kann, dass ihre Zuordnung forschung soll als alleinige Begründung nicht zu Tier oder Mensch nicht hinreichend sicher ausreichen. möglich ist (‚echte Mischwesen‘)“. ❙5 5. Bei Forschungsvorhaben an Primaten 2. Der Deutsche Ethikrat begrüßt, dass sollten Anträge „aufgrund unseres vorläufi- in Paragraf 7 des Embryonenschutzgesetzes gen und begrenzten Wissens über mögliche schon Bestimmungen enthalten sind, die das Auswirkungen auf Aussehen, Verhalten und Entstehen von Mensch-Tier-Mischwesen ver- Befähigungen“ ❙9 einem interdisziplinären Be- hindern sollen, insbesondere durch das Ver- gutachtungsverfahren unterliegen. Der nach bot der Übertragung menschlicher Embryo- Paragraf 49 der EU-Tierschutzrichtlinie auch nen auf ein Tier sowie der Erzeugung von in Deutschland zu bildende Nationale Aus- Lebewesen durch Befruchtung, insbeson- schuss sollte bundesweite Richtlinien dazu dere unter Verwendung von menschlichen erarbeiten und an Grundsatzentscheidungen und tierischen Keimzellen oder Fusion eines auf diesem Gebiet beteiligt werden. ❙10 menschlichen Embryos mit einem tierischen Embryo. Die Bestimmungen des Paragraf 7 6. Der Deutsche Ethikrat spricht sich für ein des Embryonenschutzgesetzes sind durch Verbot „der Schaffung transgener Mensch- folgende Verbote zu erweitern: das Verbot Tier-Mischwesen mit Menschen­affen“ und der Übertragung tierischer Embryonen auf für ein Verbot der „Einfügung hirnspezifi- den Menschen und das Verbot des Einbrin- scher menschlicher Zellen speziell in das Ge- gens tierischen Materials in den Erbgang des hirn von Menschenaffen“ aus. ❙11 Menschen. 7. Der Ethikrat fordert mehr interdiszip- 3. Ein Teil des Ethikrates spricht sich für linäre Forschung zu den Auswirkungen des ein Verbot der Herstellung von Mensch-Tier- Einbringens menschlicher Gene, Chromo- Zybriden aus, da „in seinem Zellkern alle We- somen, Zellen und Gewebe in den tierischen sensmerkmale für ein menschliches Individu- Organismus. Diese „muss verstärkt ethische um angelegt sind“. ❙6 Ein Teil des Ethikrates Fragestellungen berücksichtigen und dabei lehnt ein Verbot ab, da „das Verfahren des auch die Auswirkungen auf das Verhalten Zellkerntransfers (…) in einem völlig anderen und die Befähigungen sowie phänotypische Kontext als die Erzeugung von Nachkom- Veränderungen einbeziehen“. ❙12 men“ geschehe. ❙7 Das experimentelle Zell- konstrukt sei nicht als menschliches Leben 8. Notwendig ist vor allem eine größe- anzusehen. Der gesamte Ethikrat spricht sich re gesellschaftliche Transparenz auf diesem für ein Verbot einer Einpflanzung eines Zy­ Forschungsgebiet. Deshalb sollten die Tier- brids in eine Gebärmutter aus. schutzberichte der Bundesregierung künftig detaillierte Informationen dazu enthalten. 4. Bei weiteren Entwicklungen auf dem Feld transgener Tiere und bei der Einbrin- gung menschlicher Zellen in das Hirn von Säugetieren sollten Experimente mit gro- ßer Eingriffstiefe „insbesondere bei Einfü- gung von Genen oder Injektion von Zellen in der Embryonalentwicklung, in der Hoch- ❙8 Ebd., S. 121. rangigkeit wissenschaftlicher Zielsetzun- ❙9 Ebd., S. 123. ❙10 Vgl. ebd., S. 120; EU-Tierschutzrichtlinie: Amts- blatt EG Nr. L 276/33 vom 20. 10. 2010. ❙5 Deutscher Ethikrat, Mensch-Tier-Mischwesen in ❙11 Ebd., S. 123, S. 124. der Forschung. Stellungnahme, Berlin 2011, S. 119. ❙12 Ebd., S. 121. ❙6 Ebd., S. 102. ❙7 Ebd., S. 100.

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Hilal Sezgin 3–8 Dürfen wir Tiere für unsere Zwecke nutzen? Tiere müssen moralisch berücksichtigt werden, insofern sie Empfindungen und ein individuelles Wohl besitzen. In Notsituationen dürfen wir uns gegen sie zur Wehr setzen, wir müssen sie auch nicht lieben, aber regulär nutzen dürfen wir sie nicht.

Thilo Spahl 9–13 Das Bein in meiner Küche Der moderne Tierfreund, der sein Haustier nicht nur krault, sondern ihm und dem Rest der Fauna zu ihrem Recht verhelfen will, ist ein Menschenfeind. Tiere können nur Objekt, nie Subjekt menschlicher Moral sein.

Carola Otterstedt 14–19 Bedeutung des Tieres für unsere Gesellschaft Tiere sind in fast allen gesellschaftlichen Bereichen präsent. Der dem Tier zuge- ordnete ökonomische und kulturelle Stellenwert bestimmt auch die Haltung der Gesellschaft gegenüber dem Leben des einzelnen Tieres und seiner Art.

Sonja Buschka · Julia Gutjahr · Marcel Sebastian 20–27 Grundlagen und Perspektiven der Human-Animal Studies Die vielfältigen gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren wurden in der Vergangenheit wissenschaftlich wenig beachtet. Dies ändert sich durch die Etablierung des Forschungsfelds der Human-Animal Studies.

Peter Dinzelbacher 27–34 Mensch und Tier in der europäischen Geschichte Früher standen viele Menschen in einem unmittelbareren Kontakt zu Tieren als heute. Dennoch: Tiere wie fühllose Sachen zu behandeln, muss als Grundeinstel- lung des alteuropäischen Menschen qualifiziert werden.

Mieke Roscher 34–40 Tierschutz- und Tierrechtsbewegung – ein historischer Abriss Die moderne Tierrechtsbewegung, in Abgrenzung zur früher entstandenen Tier- schutzbewegung, fordert durch ihr radikales Gebaren eine Diskussion über das menschliche Verhältnis zum Tier und dessen rechtliche Besserstellung heraus.

Kathrin Voss 41–47 Kampagnen der Tierrechtsorganisation PETA Die Tierrechtsorganisation People for the Ethical Treatment of Animals ist be- kannt für aufsehenerregende und polarisierende Kampagnen. PETA setzt dabei auf Konfrontation, schockierende Bilder, Lifestyle und Prominente.

Wolf-Michael Catenhusen 47–53 Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung Neue Wissenschaftsfelder haben zur Schaffung von Mensch-Tier-Mischwesen ­geführt. Ist dies mit unserem Selbstverständnis, das traditionell von einer klaren Grenzziehung zwischen Mensch und Tier ausgeht, vereinbar?