Aus Politik Und Zeitgeschichte Mensch Und Tier

Aus Politik Und Zeitgeschichte Mensch Und Tier

APuZAus Politik und Zeitgeschichte 62. Jahrgang · 8–9/2012 · 20. Februar 2012 Mensch und Tier Hilal Sezgin Dürfen wir Tiere für unsere Zwecke nutzen? Thilo Spahl Das Bein in meiner Küche Carola Otterstedt Bedeutung des Tieres für unsere Gesellschaft Sonja Buschka · Julia Gutjahr · Marcel Sebastian Grundlagen und Perspektiven der Human-Animal Studies Peter Dinzelbacher Mensch und Tier in der europäischen Geschichte Mieke Roscher Tierschutz- und Tierrechtsbewegung – ein historischer Abriss Kathrin Voss Kampagnen der Tierrechtsorganisation PETA Wolf-Michael Catenhusen Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung Editorial Vegetarismus ist „in“. Bücher wie „Tiere essen“ von Jonathan Safran Foer und „Anständig essen“ von Karen Duve stehen wo- chenlang in den Bestsellerlisten. Immer mehr Menschen ent- scheiden sich für eine fleischärmere oder fleischlose Ernährung; manche verzichten sogar auf alle tierischen Produkte und leben vegan. Die Motive sind vielfältig. Neben gesundheitlichen Er- wägungen oder Kritik an der Massentierhaltung – etwa an Kli- ma- und Umweltschäden, dem Leiden der Tiere, den Einbußen in der Qualität durch Zugabe von Antibiotika – stellt sich für viele die grundsätzliche Frage, ob wir Tiere für unsere Zwecke (und wenn ja, in welcher Weise) nutzen dürfen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Menschen sich schon immer Tiere zu nutzen gemacht haben – als Nahrungsquelle, für schwere Arbeiten in der Landwirtschaft, im Krieg und bei der Jagd, als Statussymbole und zum Vergnügen, für medizi- nische Versuche, als Haustiere. Die Tierschutz- und die Tier- rechtsbewegungen haben in den vergangenen Jahrzehnten für einen Bewusstseinswandel beim Umgang mit Tieren gesorgt. So wurde der Tierschutz als Verfassungsziel ins Grundgesetz auf- genommen und in der Schweiz sogar der Verfassungsgrundsatz der Tierwürde festgeschrieben. Die allgegenwärtige Präsenz von Tieren in unserer Gesell- schaft, die vielfältigen Beziehungen zwischen Mensch und Tier und die sich darin spiegelnden Machtverhältnisse haben im eng- lischsprachigen Raum schon seit Längerem soziologisch domi- nierte, interdisziplinär angelegte „(Human-)Animal Studies“ inspiriert. Allmählich beginnt sich dieses Forschungsfeld auch in Deutschland zu etablieren. Inwiefern seine Erkenntnisse un- ser Bild vom Tier beeinflussen oder Veränderungen im Verhält- nis von Mensch und Tier bewirken, ist offen. Anne Seibring Hilal Sezgin ethik“ unter dieser Bezeichnung eine zeitge- nössische Debatte. Sie entstand zunächst im Kontext der englischsprachigen Philosophie in den 1970er Jahren. Selbstverständlich kann Dürfen wir sie hier nicht annähernd vollständig abgebil- det werden; vielmehr will ich Argumente und Situationen herausgreifen und zuspitzen, die Tiere für unsere uns im Alltag besonders oft begegnen, begin- nend bei der Nutzung von Tieren zu Nah- rungszwecken und bei dem Hinweis auf die Zwecke nutzen? menschliche „Natur“, mit der der Fleischver- Essay zehr oft begründet wird. Wieso Fleischessen nicht natürlich ist er nach Dürfen und Sollen fragt, bewegt Wsich im Bereich der Moral. Und das wird Wenn man fragt, warum sich Menschen be- für alle folgenden Überlegungen auch voraus- rechtigt fühlen, Tiere um ihres Fleisches wil- gesetzt: dass es Mo- len zu töten, obwohl es in unseren reichen Hilal Sezgin ral zwischen Men- industrialisierten Gesellschaften viele ande- Geb. 1970; Studium der Philo- schen gibt. Wir versu- re Möglichkeiten gibt, sich zu ernähren, hört sophie in Frankfurt am Main, chen, andere Menschen man einige Standard-Antworten immer wie- danach mehrere Jahre Autorin nicht zu schädigen, wir der: „Fressen und gefressen werden.“ „Auch im Feuilleton der Frankfurter achten ihr Eigentum, wir Menschen sind Teil der Natur, und es hat Rundschau; seit 2006 Freie ihre körperliche Un- keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen.“ – Schriftstellerin und Journalistin; versehrtheit; dürfen sie Das reine Naturwesen Mensch wird oft idea- zuletzt erschienen: „Mani- nicht töten, nicht ohne lisiert, doch wir kennen es nicht, und es taugt fest der Vielen. Deutschland Not schlagen etc. Bei nicht zur Rechtfertigung unserer kulturellen erfindet sich neu“ (2011) und Tieren scheint all das Gewohnheiten, denn zwischen uns und den „Landleben. Von einer, die hingegen völlig in Jägern und Sammlern der grauen Vorzeit lie- rauszog“ (2011). Ordnung zu sein: Wir gen Welten. www.hilalsezgin.de sperren sie ein, fügen ihnen Schmerzen zu, Frühere Menschen haben auch Artgenos- nehmen ihnen ihren Nachwuchs weg, töten sen gegessen, vor allem Gefangene anderer sie, ohne dass sie uns angegriffen hätten. Wa- Stämme; sie haben Aas verzehrt oder Res- rum? Ist das in Ordnung? te von Tieren, die von anderen Tieren geris- sen wurden. All das finden wir heute absto- Dass Menschen schon immer Tiere für ihre ßend, ästhetisch wie moralisch. Im Übrigen Zwecke eingesetzt hätten, kann dabei wohl dürfte, wer heute wirklich „natürlich“ leben kaum ein Argument sein. Menschen haben will, nicht einmal Auto oder Bus benutzen, immer Kriege geführt, hielten menschliche sondern müsste zu Fuß gehen; und zwar bar- Sklaven. Doch Gesellschaften entwickeln sich fuß. Er dürfte weder Fernsehen schauen noch weiter, unsere Moral entwickelt sich ebenfalls gedruckte Mitteilungen wie diese hier lesen, weiter, und immer deutlicher tut sich ein Zwie- denn all dies verdankt sich hochspezialisier- spalt vor uns auf: Wir haben heute mehr Mög- ten Kulturleistungen und industrialisierten lichkeiten denn je, Tiere nach unserem Gut- Herstellungsprozessen. Doch der Mensch dünken zu manipulieren und zu benutzen. kämpft nun einmal für seine Bequemlichkeit Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) wo er kann – der kalten, anstrengenden, bis- beschleicht viele die Ahnung, dass die Unter- weilen grausamen Natur setzt er die Kultur ordnung der Tiere unter den Menschen, die so der Zentralheizung, der geglätteten Straßen, lange Zeit selbstverständlich schien, auf den der Telefone und Rettungswagen entgegen. moralischen Prüfstein der Tierethik gehört. Es ist sonderbar, wenn er sich ausgerechnet in dem Moment auf die „Natur“ zurückbe- Obwohl einige Denker von der Antike sinnt, wo es wiederum der eigenen Bequem- übers Mittelalter bis in die Neuzeit Mitge- lichkeit dient – nämlich der Verteidigung des fühl für Tiere proklamiert haben, ist „Tier- gewohnten Genusses des Fleischessens. APuZ 8–9/2012 3 Umgekehrt sind auch die Tiere, die wir in lesen, als ob der Mensch befugt sei, Tiere nach den Industriegesellschaften heute verzehren, eigenem Gutdünken zu nutzen. ❙4 Und so hing keine reinen Naturwesen mehr in dem Sinne, das Verhältnis des Menschen zum Tier im- dass nicht der Mensch, sondern die Evolution mer davon ab, welche kosmologischen, religi- sie geschaffen hätte. Unsere heutigen Nutz- ösen oder sonstigen Mythen er darum webte. tiere sind im Gegenteil Produkte menschli- Und wie sehen wir es heute? Das Argument, cher Züchtungsanstrengungen. Diese Züch- dass der Mensch als Krone der Schöpfung tungen gehen teilweise (insbesondere bei eine Art Generalvollmacht von Gott erhalten Hühnern, Schweinen und Rindern) so weit, habe, wird im Kontext einer modernen demo- dass die Tiere allein kaum lebensfähig, nur kratischen Öffentlichkeit kaum noch jemand eingeschränkt fortpflanzungsfähig sind und vertreten. Unser Weltbild wird vom Huma- sich teilweise aus eigener Kraft nicht oder nismus, der Aufklärung und der modernen nicht ohne starke Schmerzen bewegen kön- Biologie bestimmt. Trotzdem zehren wir ins- nen. ❙1 Die Reproduktion liegt fast vollständig geheim immer noch von der Idee einer absolu- in menschlicher Hand (Rinder und Schwei- ten Vorrangstellung des Menschen, auch wenn ne werden künstlich besamt, die Hühnereier diese inzwischen eine andere, eine sozusagen maschinell ausgebrütet), dann verbringen die säkularisierte Form angenommen hat. Tiere ihr kurzes Leben in zu engen Ställen, oft ohne Tageslicht, auf Betonboden, fres- sen industriell hergestelltes Futter, werden in Was „Speziezismus“ bedeutet LKW abtransportiert und am Fließband ge- tötet. ❙2 Mit „Natur“ hat das Fleisch, das man In der Frühen Neuzeit und in der Zeit der im Supermarkt kauft, herzlich wenig zu tun. Aufklärung wurde ein vorwiegend religiös bestimmtes Weltbild von einem naturwis- Der Blick auf vorindustrielle Jägergesell- senschaftlichen abgelöst und schuf neue Er- schaften und ihre Rituale zeigt, dass das Tö- klärungsmuster für eine scharfe Trennung ten von Tieren keineswegs selbstverständlich zwischen Mensch und Tier. Die Naturwis- war, sondern jeweils im Rahmen damaliger senschaften machten rasante Fortschrit- Vorstellungswelten erklärt und gerechtfer- te und setzten ein mechanistisches Welt- tigt wurde. Laut mancher Mythen zum Bei- bild durch, in dem Organismen zunehmend spiel durfte ein Tier trotz offensichtlicher To- durch physikalische und chemische Pro- desangst und Verwandtschaft zum Menschen zesse erklärt wurden. Das Phänomen „Le- doch getötet werden, weil es sich den Men- ben“ wurde gleichsam entzaubert, und zwar schen „schenkte“; manche Stämme gingen von so weit, dass man annahm, dass Tiere nichts einer Seelenwanderung zwischen Menschen weiter als hochkomplexe Maschinen seien. und Tieren aus. ❙3 Im christlichen Mittelalter Man begeisterte sich für die Vivisektion, be- dagegen hat man Tieren den Besitz einer Seele obachtete die Funktion von Herz, Muskeln abgesprochen und die Schöpfungslehre so ge- und Nerven am aufgeschnittenen lebenden Organismus. Laut René Descartes, der seine physiologische Sammlung seine „Bibliothek“ ❙1 Für einen kurzen Überblick vgl. die Beiträge von nannte, funktioniert

View Full Text

Details

  • File Type
    pdf
  • Upload Time
    -
  • Content Languages
    English
  • Upload User
    Anonymous/Not logged-in
  • File Pages
    56 Page
  • File Size
    -

Download

Channel Download Status
Express Download Enable

Copyright

We respect the copyrights and intellectual property rights of all users. All uploaded documents are either original works of the uploader or authorized works of the rightful owners.

  • Not to be reproduced or distributed without explicit permission.
  • Not used for commercial purposes outside of approved use cases.
  • Not used to infringe on the rights of the original creators.
  • If you believe any content infringes your copyright, please contact us immediately.

Support

For help with questions, suggestions, or problems, please contact us