Universiteit Gent Academiejaar 2006-2007

“worin lag dieses lockende und drohende Geheimnis im Leben [...] ?”

Eine Untersuchung nach dem ästhetizistischen und dekadenten Gehalt von Leopold von Andrians Der Garten der Erkenntnis

Promotor: Prof. Dr. J. De Vos Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van licentiaat in de Taal- en Letterkunde: Germaanse talen

door

Sofie Van Damme 2

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Mein aufrichtiger Dank gilt jedem, der irgendwie zu dieser Arbeit beigetragen hat, an erster Stelle meinem Promotor Prof. Dr. Jaak De Vos, auf den ich mich jederzeit verlassen konnte, und dessen wertvolle inhaltliche und stilistische Suggestionen und Hilfe bei der sprachlichen Korrektur eine andauernde Ermutigung bedeuteten. Auch darf ich innerhalb des Fachbereiches Deutsch sicherlich nicht unerwähnt lassen: Frau Annelies Lefebvre, für die Verfügbarkeit der herangezogenen Literatur, und Prof. Dr. Benjamin Biebuyck, für seine Ratschläge beim ersten Beginn dieser Arbeit. Auch meinen Eltern und meinem Freundenkreis, die mir den Rücken gestärkt haben, will ich herzlich bedanken. 4 5

Inhalt 1. Einleitung ...... 7 2. Das sozial-politische Leben ...... 13 2.1. Werteverlust und Wertesuche ...... 14 2.1.1. Erwins Streben nach Orientierung ...... 15 2.1.2. Identitätssuche ...... 17 2.1.3. Rückfall oder Fortschritt? ...... 18 2.2. Narzissmus ...... 20 2.2.1. Die narzisstische Selbstspiegelung ...... 22 2.2.2. Innere Welt versus reale Welt ...... 27 2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung ...... 30 3. Das scheinhafte Leben ...... 39 3.1. Tabuisierung ...... 40 3.1.1. Homosexualität ...... 40 3.1.1.1. Das Andere...... 41 3.1.1.2. Clemens ...... 51 3.1.1.3. Das Konvikt ...... 55 3.1.1.4. Der Fremde ...... 60 3.1.1.5. Eine weibliche Erzählung ...... 63 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter ...... 69 3.2. Das Schauspielmotiv ...... 80 3.2.1. Rollenspiel, Wirklichkeit und Lüge ...... 81 3.2.2. Zuschauer ...... 87 3.2.3. Bühne oder Leben? ...... 92 4. Leben und Kunst ...... 98 4.1. Der Garten der Erkenntnis als dekadentes Werk? ...... 99 4.1.1. Das Unnatürliche: “Es ist ihre Natur, unnatürlich zu sein” ...... 101 4.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis) ...... 104 4.1.1.2. Das Fest (des Lebens/der Jugend) ...... 109 4.1.2. Das Krankhafte: “Sie lieben alles was seltsam und krank ist” ...... 112 4.2. Der Garten der Erkenntnis als ästhetizistisches Werk? ...... 121 4.2.1. Lockruf der Schönheit ...... 122 6

4.2.2. Gesellschaftliche Anspielungen ...... 130 5. Schluss ...... 140 6. Bibliographie...... 144

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1. Einleitung Der Garten der Erkenntnis, Leopold von Andrians Prosadichtung, entstanden 1893/1894 und 1895 bei S. Fischer in erschienen, wurde zum Kultbuch der Zeit um die Jahrhundertwende.1 Vor allem durch diese kurze Erzählung bekam Andrian den Ruf eines tonangebenden Poeten vom Jung Wien, der literarischen Gruppe, die sich in Café Griensteidl traf.2 Die Erzählung wurde von Hermann Bahr – “Organisator” des Jung Wien-Kreises, und verantwortlich für die Veröffentlichung der Erzählung3 – als “das beste Werk nach meinem Urteile, was bisher die europäische Moderne hervorgebracht hat, unsäglich tief und schön” gelobt.4 Auch die Jung Wiener und schätzten es. Hofmannsthal, der in einem Brief aus 1913 an Andrian schrieb, dass er das Werk “fast in jedem Jahr einmal”5 wiederlas, komponierte das Gedicht Mit Handschuhen für Leopold Andrian, in dem die Bewunderung für Andrian ausgesprochen wird.6 George, von dem die Aussage “Wenn der Poldi [Andrian] wüsste, wie ich ihn lobe!”7 stammt, und der während eines Spaziergangs in 1905 Passagen aus der Erzählung zitierte, nahm nicht nur einige von Andrians frühen Gedichten in seine Blätter für die Kunst auf, er übersetzte auch die Erzählung ins Niederländische.8 Andere bewerteten Der Garten der Erkenntnis und seinen Verfasser aber weniger positiv. So sah , auch ein prominenter

1 Vgl. Leopold Andrian: Der Garten der Erkenntnis und andere Dichtungen. Mit einem Nachwort herausgegeben von Dieter Sudhoff. Oldenburg: Igel Verlag Literatur 2003, S. 197. / Christiane Bucher- Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”. In: Erzählkunst der Vormoderne. Hg. von Rolf Tarot unter Mitarbeit von Gabriela Scherer. Narratio Band 11. Bern e.a.: Peter Lang 1996, S. 305. 2 Vgl. Allan Janik / Stephen Toulmin: Wittgenstein’s Vienna. New York: Simon and Schuster 1973, S. 45. / Hans Rudolf Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”. In: The Modern Language Review 80 (1985), S. 622. 3 Bahr wurde von den Zeitgenossen als “Organisator” des Jung Wien-Kreises betrachtet, weil er die Werke des Jungen Wien immer wieder propagierte. So erschien Andrians Erzählung Der Garten der Erkenntnis – die Bahr sehr schätzte – beim Fischer Verlag (in Berlin), weil er das Werk dem Verleger empfohlen hat. Vgl. Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 1986, S. 85-87. 4 Zitiert nach Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. S. 87. Rieckmann übernimmt das Zitat – Hermann Bahr hat es am 25. Januar 1895 an S. Fischer geschrieben – von Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt: S. Fischer 1970, S. 210. 5 Zitiert nach Andrian: Garten, Nachwort, S. 215. Sudhoff deutet für dieses Zitat keine Quelle an. Er teilt nur mit, dass Hofmannsthal diese Worte am 24. August 1913 in einem Brief an Andrian geschrieben hat. 6 Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 625. 7 Zitiert nach Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 626. Klieneberger übernimmt das Zitat von Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Düsseldorf/München: Helmut Küpper vormals Georg Bondi 1967, S. 51. 8 Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 197, 214. / Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 626. 8

Jung Wiener, Andrian nur als einen “unreife[n] Loris [Hofmannsthal]”9 und , Gegner der Jung Wiener, benannte die Erzählung zu Der Kindergarten der Unkenntnis um.10 Bemerkenswert ist, dass diese Erzählung, die Andrian als 19jähriger geschrieben hat, nicht am Anfang, sondern am Ende seiner dichterischen Produktion zu situieren ist.11 Nach diesem Werk ist er nämlich dichterisch verstummt.12 Obwohl Andrian in den Jahren nach dem Garten der Erkenntnis eine Fortsetzung der Erzählung beabsichtigte, schrieb er nur noch kleinere theoretische Werke und zwei große Werke, deren patriotischer und religiöser Konservatismus stark kontrastieren mit seinen früheren modernen Gedichten, und mit dem Garten der Erkenntnis: Die Ständeordnung des Alls, Weltbild eines katholischen Dichters (1930), ein philosophisch-theologisches Buch, und Österreich im Prisma der Idee (1937), das aus Gesprächen dreier Abende besteht und in der Art von platonischen Dialogen geschrieben ist; Andrian widmete es seinem verstorbenen Freund Hofmannsthal.13 Trotz allem kannte Der Garten der Erkenntnis eine starke Nachwirkung bei verschiedenen Autoren. So wird ihm nicht nur ein direkter Einfluss auf Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895) und auf sein Andreas-Fragment (ab 1907) attestiert, sondern auch eine Einwirkung auf unter anderem Beer-Hofmanns Tod Georgs (1900) und Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906).14 Obwohl Der Garten der Erkenntnis in den Wiener literarischen Kreisen großes Aufsehen erregte, eine Zeitlang berühmt war, von den Zeitgenossen diskutiert wurde und also eine ausgewiesene Nachwirkung kannte bei verschiedenen Autoren,15 bekam

9 Arthur Schnitzler: Hugo von Hofmannsthal . ‚Charakteristik aus den Tagebüchern’. Hg. von Bernd Urban. Hofmannsthal-Forschungen III. Freiburg: Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft 1975, S. 57. Zitiert nach Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 83. 10 Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Verlag von A. Bauer 1897. Zitiert nach Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 629. 11 Walter H. Perl: “Der Dichter Leopold Andrian: Frühvollendung und Verstummen”. In: Philobiblon 14 (1) (1970), S. 50. 12 Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 197. / Perl: “Frühvollendung und Verstummen”, S. 50. / Ursula Renner: Leopold Andrians “Garten der Erkenntnis”. Literarisches Paradigma einer Identitätskrise in Wien um 1900. Bern/Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang 1981, S. 37. / Gottfried Stix: “Der Sonderfall des Leopold von Andrian”. In: Studi Germanici 9 (1971), S. 478. 13 Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 197-198. / Walter H. Perl: “Leopold von Andrian, ein vergessener Dichter des Symbolismus, Freund Georges und Hofmannsthals”. In: Philolobiblon 2 (1958), S. 307. 14 Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 216. / Erika Theobald: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis”. In: Modern Austrian Literature 6 (1/2) (1973), S. 244. 15 Vgl. Wolfgang Nehring: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis”. In: The German Quarterly 47 (1974), S. 130. / Jens Rieckmann: “Narziss und Dionysos: Leopold von Andrians Der Garten der Erkenntnis”. In: Modern Austrian Literature 16 (2) (1983), S. 65. 9 das Werk in späteren Zeiten immer weniger Aufmerksamkeit, wodurch Andrian zum vergessenen Dichter wurde.16 In diesem Kontext ist Theodorsens Bemerkung interessant, dass Der Garten der Erkenntnis und Andrian selber bis in die 70er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mehr oder weniger in Vergessenheit geraten sind.17 Die Bibliographie meiner Arbeit bestätigt diesen Befund. Es stellt sich nämlich heraus, dass neuere kritische Arbeiten hauptsächlich nach den siebziger Jahren entstanden sind.18 Auffallend ist aber, dass aus den letzten 10 Jahren – ab 1996 – wieder nur 7 Beiträge zum Werk gefunden worden sind.19 Das kann erneut auf ein rückgängiges Interesse für das Werk hindeuten, eine Tendenz, der meine Arbeit auf jeden Fall entgegenwirken möchte. Aus einer kritischen Sichtung der Sekundärliteratur bestätigt sich Theodorsens Behauptung, dass der biografisch-psychoanalytische bzw. soziohistorische Ansatz dominiert, wobei auf zentrale Themen und Motive für die Zeit um die Jahrhundertwende konzentriert wird.20 Auch in dieser Arbeit, mit der ich zu einem besseren Verständnis des Werkes und seines Kontextes beizutragen hoffe, wird von einer Auseinandersetzung mit zentralen Themen der Jahrhundertwende ausgegangen. Zum Ziel habe ich mich gesetzt, anhand der Sekundärliteratur und der eigenen Lektüre die zentralen Themen des Werkes – alles Aspekte des Fin de Siècle-Lebens – zu untersuchen, um letztendlich die Frage beantworten zu können, ob das Werk als

16 Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 305. 17 Cathrine Theodorsen: “Leopold Andrians Der Garten der Erkenntnis (1895). Über Dilettantismus, Anempfindung und Nietzsches Metapher vom >>Müßiggänger im Garten des Wissens<<”. In: Dilettant, Dandy und Décadent. Hg. von Guri Ellen Barstad und Marie-Theres Federhof. Troll Band 1. Hannover: Wehrhahn Verlag 2004, S. 102. 18 So wurden die Beiträge in Sammelbänden alle nach 1970 geschrieben, ist ungefähr die Hälfte der Zeitschriftenartikel nach 1970 entstanden und stammen zwei Monographien, die Der Garten der Erkenntnis ausfürhlicher behandeln (Vgl. Paetzke, Iris: Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen: Francke 1992. / Renner: “Garten der Erkenntnis”.), aus den achtziger und neunziger Jahren. 19 Vgl. Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”. / Magdolna Orosz: “‘Gegenwelten’”: Richard Beer-Hofmanns und Leopold Andrians Text-Konstrukte und Textkonstruktionen”. In: Acta Germanica 10 (Erzählstrukturen 2) (1999), S. 62-81. / Bettina Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein? Zur Theorie menschlichen Unglücks in Leopold Andrians ‚Garten der Erkenntnis’”. In: Das glückliche Leben - und die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österreichischen Literatur. Hg. von Ulrike Tanzer e.a. Wien: Zirkular 2002, S. 67-79. / Jens Rieckmann: “Knowing the other: Leopold von Andrian's Der Garten der Erkenntnis and the Homoerotic Discourse of the Fin de Siècle”. In: Gender and politics in Austrian fiction. Hg. von Ritchie Robertson/Edward Timms. Austrian Studies 7. Edinburgh: Edinburgh University Press 1996, S. 61-78. / Reto Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“: zu den literarischen Erstlingen von Leopold Andrian und Carl Einstein”. In: Sprachkunst 27 (2) (1996), S. 239-266. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”. Dieter Sudhoffs Nachwort zum Garten der Erkenntnis wird als siebter Beitrag betrachtet. 20 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 108. 10

ästhetizistisch und/oder dekadent eingestuft werden kann. Weil die Erzählung dazu auf Mikro-Ebene analysiert werden soll, wird Walter Perls Warnung, dass “eigentlich jede Analyse [vom Garten der Erkenntnis] den Reiz zerstört”21, hier also als Herausforderung und Anregung zum Widerspruch umgedeutet. Zur Lösung der Hauptfrage ist die Arbeit in kleinere Problemfelder eingeteilt. Während im ersten Teil Themen in Bezug auf das soziale und politische Leben in Wien besprochen werden (“Das sozial-politische Leben”), werden im zweiten Teil Aspekte bezüglich der “Welt des schönen Scheins’ in Wien vorgeführt (“Das scheinhafte Leben”) und im dritten Teil schließlich die Beziehung zwischen Leben und Kunst näher herangeholt (“Leben und Kunst”). Einerseits werde ich in diesen Teilen Themen behandeln, die in der Sekundärliteratur bisher nur sehr kurz – oder fast nicht – besprochen worden sind (wie Werteverlust und Wertesuche, das Schauspielmotiv, das Unnatürliche und das Krankhafte – zwei Symptome der Dekadenz – und die gesellschaftlichen Anspielungen). Andererseits werde ich auch auf Aspekte eingehen, die in der Sekundärliteratur (bei einem oder verschiedenen Forschern) ausfühlicher vorgeführt worden sind, wie Narzissmus, Homosexualität und Inzest – zwei Themen die tabuisiert werden – und Schönheit. Bei der Besprechung der letztgenannten Themen werde ich einen intensiven Dialog mit der Sekundärliteratur führen, so dass sowohl Einwände als auch neue Einsichten formuliert werden können. Dass in jedem Teil der Begriff “Leben” im Titel steht, beruht nicht auf Zufall. “Leben” ist einerseits ein zentraler Begriff in der Literatur und Philosophie um die Jahrhundertwende22, andererseits ist es eine zentrale Idee im Werk, in dem die Suche des Helden nach dem Geheimnis des Lebens an zentraler Stelle steht. Aus diesem Grund fand ich es angebracht, schon im Haupttitel dieser Arbeit die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Stichworte “Geheimnis” und “Leben” zu lenken. Dazu passt auch, dass das Zitat im Titel die Form eines Fragesatzes annimmt. Fragen stellt sich nämlich nicht nur Erwin, sondern zweifellos auch jeder Leser bei der Lektüre von Andrians geheimnisvoller Erzählung. Mit dieser Arbeit hoffe ich möglichst viele Fragen in Bezug auf den Garten der Erkenntnis zu lösen.

21 Perl: “ein vergessener Dichter”, S. 306. Nehring umschreibt Walter Perl als “engagierte[n] Andrian- Freund, Betreuer von Andrians Nachlaß und Anwalt seines Werks”. (Vgl. Nehring: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis“, S. 131.) 11

22 Vgl. 2.1. Werteverlust und Wertesuche, S. 17. / 4.1.1.2. Das Fest (des Lebens/der Jugend), S. 110. 12

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2. Das sozial-politische Leben Im habsburgischen Reich hat es im 19. Jahrhundert im politischen und sozialen Leben einige einschneidende Umstürze gegeben, die zur Fin de Siècle-Krise Anlass gegeben haben und die besonders in Wien, der Reichshauptstadt, fühlbar waren. Die wichtigste Änderung war 1867 das Ersetzen des habsburgischen Absolutismus durch eine konstitutionelle Monarchie.23 Mit der Stadterweiterung des alten Wien ging der Liberalismus einher. Die Liberalen waren nicht nur verantwortlich für den Bau der Ringstraße und ihrer Prunkbauten, sondern auch für den Bau von Universitäts-, Theater- und Operngebäuden, die das bürgerlich-liberale Bildungsideal zum Ausdruck brachten.24 Um 1870 stellte sich aber heraus, dass der Liberalismus versagte, nachdem das habsburgische Reich nicht nur mit militärischen Niederlagen gegen sowohl Italien als Deutschland, sondern auch mit einem Börsenkrach konfrontiert wurde. Außerdem konnten die Liberalen die Probleme des Vielvölkerstaats nicht lösen; folglich wurde der Liberalismus von Masseparteien ersetzt.25 Die wichtigsten antiliberalen Parteien waren die pangermanische Partei (Parteiführer: Georg Ritter von Schönerer), die christlich- soziale Partei (Karl Lueger), die sozial-demokratische Partei (Viktor Adler) und die zionistische Partei (Theodor Herzl).26 In der Zwischenzeit waren das Großbürgertum und der Adel bei ihrem steigenden wirtschaftlichen Wohlstand politisch funktionslos geworden. Das ging Hand in Hand mit Statusunsicherheit und Normenverlust.27 Außerdem war der ständige Versuch des liberalen Bürgertums, um sich der Aristokratie zu assimilieren eine wichtige Tendenz, die in der Sekundärliteratur oft hervorgehoben wird.28 Obwohl diese Assimilierung misslang, begegneten Mitglieder des Adels und des Bürgertums einander in den Theatern und in den Salons.29 Bemerkenswert ist dann auch, dass Wien zugleich von einem politischen Niedergang und von einem kulturellen Aufschwung gekennzeichnet

23 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 231. / Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1982, S. 111. 24 Schorske: Wien , S. 23-109 (Kapitel 2: Die Ringstraße, ihre Kritiker und die Idee der modernen Stadt), S. 280-282. 25 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 224-225. / Schorske: Wien , S. 112-113. 26 Schorske: Wien , S. 111-168 (Kapitel 3: Ein neuer Ton in der Politik: ein österreichisches Trio). 27 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 274 / Schorske: Wien , S. 287. 28 Vgl. Karl Johann Müller: Das Dekadenzproblem in der Österreichischen Literatur um die Jh.wende, dargelegt an Texten von Hermann Bahr, Richard von Schaukal, Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian. Stuttgart: Verlag Hans-Dieter Heinz 1977, S. 4. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 233- 237 / Schorske: Wien .S. 7-8. 14 wurde. Während das politische und wirtschaftliche Leben immer problematischer wurde, nahm der kulturelle Bereich immer mehr an Bedeutung zu.30 Adel und Bürgertum hatten auch eine gemeinsame Angst vor den Arbeitern und vor den nationalistischen Minderheiten.31 Industrialisierung, Nationalismus und Antisemitismus sind auch für Renner Stichworte des Fin de Siècle.32 Dass der Zusammenbruch des österreichischen Liberalismus verknüpft war mit der Verunsicherung patriarchalischer Strukturen, dass traditionelle Normen und Werte immer mehr angezweifelt wurden,33 ist für eine Besprechung des sozialpolitischen Lebens von größter Bedeutung. Weil dieser Wertezerfall das Leben der Fin de Siècle- Bürger beeinflusst hat, werde ich im nächsten Abschnitt zunächst auf den Werteverlust und die Wertesuche in der Wiener Gesellschaft tiefer eingehen, und dann in Andrians Der Garten der Erkenntnis.

2.1. Werteverlust und Wertesuche

Die Vätergeneration war aufgewachsen mit Werten wie Rationalität, Ordnung, Fortschritt und Ausdauer. Das Passionelle, Irrationelle und Chaotische sollte vermieden werden, man sollte den Traditionen der Vergangenheit treu sein.34 Im Fin de Siècle wurden diese Normen der Vätergeneration von den Söhnen aber als problematisch empfunden35, es entstand ein Wertvakuum.36 Herzfelds zeitgenössische Diagnose lautete dann auch:

Wir sind umgeben von einer Welt absterbender Ideale, die wir von den Vätern ererbt haben [...] und es fehlt uns nun die Kraft des Aufschwunges, welcher neue, wertvolle Lebenslockungen schafft.37

29 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 241 (Fußnote 59). 30 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 234. 31 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 242. 32 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 223. 33 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 25. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 246-247. 34 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 42-43. 35 Schorske: Wien , S. XVII. Schorske weist auf dieser Seite darauf hin, dass die Söhne das Wertesystem der Väter sogar angefochten haben. Deswegen behauptet er, dass das Wiener Fin de Siècle von einer “Ödipusrevolte” geprägt war. 36 Vgl. Hermann Broch: “Die fröhliche Apokalypse Wiens um 1880”. In: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hg. von Gotthart Wunberg unter Mitarbeit von Johannes J. Braakenburg. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1981, S. 97. / Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 196. 37 Marie Herzfeld: “Fin de Siècle”. In: Wiener Moderne, S. 260. 15

Und Zweig schrieb später von seiner Generation: “[...] wir haben allmählich uns gewöhnen müssen, ohne Boden unter unseren Füßen zu leben, ohne Recht, ohne Freiheit, ohne Sicherheit.”38 Nach Rieckmann versuchten die Jung Wiener dieses Wertvakuum aufzudecken.39 Dass auch Andrian das in seinem Garten der Erkenntnis tatsächlich gemacht hat, werde ich jetzt ausführen.

2.1.1. Erwins Streben nach Orientierung

Das Sterben des Fürsten am Anfang der Erzählung symbolisiert schon meiner Meinung nach den Verlust der Werte der Vätergeneration. Renner weist zu Recht darauf hin, dass mit dem Tod des Vaters eine Orientierung wegfällt.40 Obwohl Rabelhofer auch den Verlust an Orientierung bemerkt hat, ist vor allem ihr Befund interessant, dass am Anfang der Erzählung alle Wertsetzungen unsicher sind, und dass Erwin deswegen auf sich selbst zurückgeworfen ist, was aus der folgenden Stelle leicht herausgelesen werden kann41:

Damals (er ging ins zwölfte Jahr) war der Erwin so einsam und sich selbst genug, wie niemals später; sein Körper und seine Seele lebten ein fast zweifaches Leben geheimnisvoll ineinander; die Dinge der äußeren Welt hatten ihm den Wert, den sie im Traume haben; sie waren Worte einer Sprache, welche zufällig die seine war, aber erst durch seinen Willen erhielten sie Bedeutung, Stellung und Farbe.42 Es stellt sich heraus, dass Erwin während seines Aufenthaltes im Konvikt mit einer Wertesuche anfängt. Dabei ist auffallend, dass er anfangs Orientierung sucht in der Ruhe: “Etwas später bekam der Erwin eine sehnsüchtige Neigung für alles im Leben um 43 ihn, worin die Ruhe zu sein schien [...]”. Deswegen wird Religion ihm in dieser Periode wertvoll. Trotzdem sieht Erwin, nach seiner Begegnung mit Heinrich Philipp, 44 der ihn über “eine Reihe von Geheimnissen” berichtet, die Bedeutung des Unruhigen im Leben ein:

38 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Berlin/Frankfurt: G.B. Fischer 1965, S. 16. Zitiert nach Müller: Das Dekadenzproblem, S. 7. 39 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 196. 40 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 77. 41 Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 70-71. 42 Andrian: Garten, S. 13-14. 43 Andrian: Garten, S. 14. 44 Andrian: Garten, S. 19. 16

Aber in der Ruhe seines jetzigen Daseins fühlte er manchmal einen seltsamen Drang nach Unruhe, halb Neugier nach Entdeckungen, halb Lust, das was er sonst wollte, zu verneinen.45 Überdies ist es im Kontext der Wertesuche nicht unwichtig, dass Erwin – gerade wie seine Mutter – das Geheimnis des Lebens sucht. Bevor auf diese Suche näher eingegangen wird, soll zuerst die Wortgruppe “Geheimnis des Lebens” besprochen werden. Meiner Meinung nach ist nicht klar, ob das Leben das große Geheimnis ist, oder ob das Geheimnis als Teil des Lebens betrachtet werden soll. Aus Aussagen wie “worin lag dieses lockende und drohende Geheimnis im Leben [...]?”46 müsste man wohl ableiten, dass das Geheimnis Teil des Lebens ist. Auch Theodorsen geht davon aus, dass das Leben das Geheimnis birgt, obwohl sie das nicht argumentiert.47 Und nach Paetzke wird die Diskrepanz zwischen Subjekt und Außenwelt zum Geheimnis des Lebens48, was also bedeutet, dass auch sie das Geheimnis als Teil des Lebens betrachtet. Im Gegensatz dazu stellt sich aus einem Tagebuchfragment Andrians heraus, dass er die Wörter “Leben” und “Geheimnis” als Synonyme gebraucht: “[...] die Menschen [Männer] sind zwar das Leben, das Geheimnis [...]”.49 Da Andrian mehrere eigene Erfahrungen und Gedanken im Garten der Erkenntnis verarbeitet hat50, kann davon ausgegangen werden, dass er die Idee, das Leben sei das Geheimnis, auch in der Erzählung verarbeitet hat. Auf jeden Fall wird während der Lektüre deutlich, dass Erwin dieses Geheimnis sucht, weil er erkennen will. In der Sekundärliteratur wird dann auch zu Recht behauptet, dass Erwin eine Erkenntniskrise erlebt.51 Bemerkenswert ist vor allem Renners Bemerkung, dass die zunehmende Fragwürdigkeit der Werte um die Jahrhundertwende sich bei vielen Menschen in der Schilderung einer Erkenntniskrise

45 Andrian: Garten, S. 19. 46 Andrian: Garten, S. 35. 47 Theodorsen: „Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 111. 48 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 30. 49 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag. Aus den unveröffentlichten Tagebüchern und Aufzeichnungen im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 131. 50 Auf die autobiographischen Elemente – wie die einsame, elternferne Kindheit, den Aufenthalt im Konvikt, der an Andrians Aufenthalt in Kalksburg erinnert, und die Reisen mit dem Hofmeister, die an Andrians Reisen mit Oskar Walzel erinnern – haben schon verschiedene Forscher hingewiesen und schließen daraus, dass das Werk als Darstellung von Andrians eigenen Jugenderlebnissen gelesen werden kann. (Vgl. u.a. Andrian: Garten, Nachwort, S. 210. / Jens Malte Fischer: Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München: Winkler Verlag 1978, S. 146. / Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 622. / Perl: “ein vergessener Dichter”, S. 306. / Perl: “Frühvollendung und Verstummen”, S. 50. / Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 68. / Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 241. / Stix: “Der Sonderfall”, S. 478.) 51 Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 212. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 247. 17 manifestiert, bei gleichzeitiger Überhöhung des gesicherten Wertes “Leben”.52 Meiner Meinung nach bleibt aber in der Schwebe, ob Erwin das Leben als höchsten und gesicherten Wert anerkennt, oder ob er erwartet, in dem geheimnisvollen Leben neue Werte zu finden. Auf jeden Fall wird in der ganzen Erzählung Einblick ins Leben angestrebt und wird explizit bemerkt, dass das Leben für Erwin als Maßstab gilt: “er war gefallen, und doch konnte es für einen Menschen, welcher das Leben mit dem Maßstab des Lebens abmaß, keinen Fall geben”.53 Das Leben ist also ein Stichwort dieser Erzählung. Paetzke betrachtet Erwins Suche dann auch als eine Flucht in Lebensmystik.54 Dadurch, dass das Leben mystifiziert ist, ist es als Wert auch sehr vage. Nach Paetzke verspricht die Flucht in vagen Werten in einer Zeit der Verunsicherung aber Orientierung.55 Das lässt sich auch aus der Erzählung schließen, denn je orientierungsloser Erwin wird, desto aktiver sucht er das Geheimnis des Lebens. So ist es kein Zufall, dass er nicht mehr auf eine Offenbarung wartet, nachdem er gefallen ist, sondern selber seine Mutter aufsucht. Er braucht auch immer mehr das Geheimnis des Lebens, da er immer orientierungsloser geworden ist.

2.1.2. Identitätssuche

Renner verknüpft die Fragwürdigkeit der Werte im Fin de Siècle mit der Unfähigkeit, eine Identität zu bilden und behauptet wohl zu Recht, dass Andrian das exemplarisch an seinem Helden vorführt.56 Auch andere Forscher haben darauf hingewiesen, dass Erwin eine Identitätskrise erlebt, auf der Suche ist nach seiner Identität.57 Das Problem der Identität ist tatsächlich im Text sehr deutlich anwesend. Es stellt sich zum Beispiel heraus, dass Namen, die als Funktion haben, Personen zu identifizieren, für Erwin wichtig sind. Es tut Erwin immer Leid, wenn er nicht weiß, wie Menschen heißen. Nachdem Erwin zum Beispiel dem Offizier in Innsbruck begegnet

52 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 247. Auch Müller weist darauf hin, dass Erwins Sehnsucht nach Erkenntnis das Problem der oberen Schichten der Wiener Gesellschaft widerspiegelt. Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 94. 53 Andrian: Garten, S. 34. 54 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 140. 55 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 34. 56 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 247. 57 Vgl. Gerrit Komrij: Verzonken boeken. Amsterdam: De Arbeiderspers 1986, S.39. / Schorske: Wien . S. 292. 18 ist, bedauert er, dass er den Namen des Offiziers nicht weiß. Und nach seinen Begegnungen in Venedig mit einem Jüngling und einem Mädchen weist der Erzähler auch darauf hin, dass der Erwin ihre Namen hätte wissen wollen.58 Nach Sorg besteht denn auch ein Zusammenhang zwischen dem Kennen der Namen und der Erkenntnis der Identität.59 Das Verschweigen der Namen in der Erzählung sollte also in Zusammenhang mit der Identitätsproblematik gelesen werden.60 Hinzu kommt, dass der Erzähler nur einmal, am Ende der Erzählung, davon berichtet, dass Erwin im Traum von Anderen bei seinem Namen gerufen wird: “Und mit einem Mal riefen ihn alle bei seinem Namen, und er wußte, daß auf diesen Ruf die Erkenntnis folgen müsse, und er wurde sehr froh”.61 Auffallend ist, dass Erwin glaubt, dass nach diesem Nennen seines eigenen Namens, Erkenntnis folgen wird. Das bestätigt, dass die Erkenntnis für Erwin mit der Lösung seiner Identitätskrise und Identitätssuche zusammenhängt.

2.1.3. Rückfall oder Fortschritt?

Obwohl die Jung Wiener mit der Tradition gebrochen hatten, versucht Andrians Erwin merkwürdigerweise immer mehr das Chaotische und Triebhafte zu verdrängen62, was eigentlich an das rationalisierende Verhalten der Väter erinnert. Sudhoffs Behauptung, dass Erwin ein Sucher ohne feste Orientierung an einem traditionellen Wertesystem sei, wird auf diese Weise fraglich.63 Außerdem muss am Ende festgestellt werden, dass Erwin, nachdem er im Traum von Anderen bei seinem Namen genannt wurde, von dem Erzähler als Fürst bezeichnet wird. Auf diese Weise wird der Leser sehr bewusst verunsichert – und noch mehr, weil er nie das Gefühl gehabt hat, dass Erwin gerade wie sein Vater ein Fürst sei. Denn über den Vater wird berichtet, dass er Güter hat, und dass er verheiratet war. Das Armband und die Ringe weisen auf seinen Status als Fürsten hin.64 Mit anderen Forschern bin ich der Ansicht, dass das Wort

58 Andrian: Garten, S. 17, 40. Renner spricht in diesem Kontext von einem Motiv der Namenlosigkeit. Bemerkenswert ist aber, dass sie das Motiv fälschlich mit Erwins Tod verbindet. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 96, 214 / 4.1.2. Das Krankhafte: “Sie lieben alles was seltsam und krank ist”, S. 114 (Fußnote 646). 59 Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 261. 60 Zugleich erinnert diese Namensproblematik an die des österreichischen Reiches. Dieses Reich hat nämlich keinen akzeptierten Namen. Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 36. 61 Andrian: Garten, S. 42. 62 Vgl. 3.1. Tabuisierung. 63 Andrian: Garten, Nachwort, S. 210. 64 Andrian: Garten, S. 13. 19

“Fürst” im letzten Satz der Erzählung auf eine Identifikation mit seinem Vater, auf eigene Identitätslosigkeit und auf einen Rückfall hinweist.65 Nach Sorg verschwindet Erwin auf diese Weise im Ahnengeschlecht.66 Überdies erhält die Erzählung auf diese Weise eine zirkuläre Struktur. Andrian macht so deutlich, dass Erwin sich nicht von der Vätergeneration unterscheiden kann. Trotzdem hat Andrian selber noch 1893 in seinem Tagebuch geschrieben, dass die Jung Wiener in Lebensanschauung und Gefühlsleben ganz anders als ihre Väter waren.67 Vielleicht sollten wir deshalb diesen letzten Satz als Warnung Andrians lesen, dass man für das Chaotische und Triebhafte aufgeschlossen sein soll, wenn man nicht in einen früheren, schlechteren Zustand zurückfallen will. Das Ende könnte aber auch als Skepsis Andrians gelesen werden, so dass die Leser hier frühzeitig auf verhüllte Weise lesen, was Andrian erst 1898 in einem Brief an Hofmannsthal formulierte: “Hast Du je ernstlich drüber nachgedacht, ich meine gespürt, daß an der ganzen Welt, an Allem nichts dran sein könnte?”.68 Auch nach Renner ist der letzte Satz mit Skeptizismus verbunden. Trotzdem verknüpft sie ihre Feststellung nicht mit dem Wort “Fürst”, sondern mit der Tatsache, dass Erwin stirbt ohne erkannt zu haben.69 Plausibel ist auch, dass Andrian eine Stabilität verlangte, wie sie die Vätergeneration gekannt hat, und dass Erwin deswegen ihre rationellen Ideen nicht aufgeben kann. Auch Renner ist klar, dass um die Jahrhundertwende Rationalisierung zur Stabilisierung der Identität diente.70 Trotz der einleuchtenden Rückfall- Interpretation, kann die Benennung Fürst am Ende der Erzählung meiner Meinung nach aber auch ganz anders interpretiert werden. Vielleicht will der Erzähler hier zeigen, dass es nicht Erwin ist, der stirbt und nicht erkennt, sondern der fürstliche, adlige Teil Erwins, der mit der Vätergeneration verknüpft war. So betrachtet, hat die Erzählung ein offenes und vielleicht positives Ende, denn wenn das Adlige und Rationelle, die das Triebhafte verhindern, verschwinden, gibt es vielleicht Hoffnung auf Erkenntnis für Erwin. Das würde aber bedeuten, dass Erwin trotz der vielen Anspielungen auf das altmodische österreichische Leben71, die vermuten lassen, dass Erwin diese alte

65 Vgl. Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 66. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 194, 215. / Stix: “Der Sonderfall”, S. 486. 66 Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 261. 67 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S.102. 68 Zitiert nach Andrian: Garten, Nachwort, S. 212. Sudhoff deutet für dieses Zitat keine Quelle an. Er teilt nur mit, dass Hofmannsthal diese Worte am 10. Oktober 1898 in einem Brief an Andrian geschrieben hat. 69 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 263. 70 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 278. 71 Vgl. 4.2.2. Gesellschaftliche Anspielungen, S. 135-136. 20 ordnungsvolle Welt herbeisehnt, am Ende eine andere Lebensart als die seines Vaters bevorzugt. Welche Interpretation man auch gelten lässt, auf jeden Fall hat Andrian auf zwei unterschiedliche Weisen die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Vaterfigur gelenkt, weshalb, meiner Ansicht nach, vermutet werden kann, dass die Figur, obwohl sie schon am Anfang der Erzählung stirbt, eine nicht unwichtige Rolle spielt in der Erzählung. Erstens wird die Vaterfigur profiliert nur am Anfang und am Ende der Erzählung erwähnt, so dass er auf diese Weise die ganze Erzählung einrahmt. Zweitens hat Andrian in diesem sonst so autobiographischen Werk Erwins Vater bewusst sterben lassen, obwohl sein eigener Vater beim Schreiben vom Garten der Erkenntnis noch nicht gestorben war.72

2.2. Narzissmus

Nach Schorske gab es im Wien des Fin de Siècle nicht nur eine ödipale Revolte, sondern auch eine narzisstische Suche nach einem neuen Ich.73 Im Garten der Erkenntnis wird denn auch sowohl die Wertesuche als auch der Narzissmus der Zeit widergespiegelt. Schon aus Hofmannsthals Umschreibung des Garten der Erkenntnis – “Das deutsche Narcissusbuch - es sind wundervolle Augenblicke wo sich eine ganze Generation in verschiedenen Ländern im gleichen Symbol findet”74 – geht hervor, wie eine ganze Generation narzisstisch eingestellt war. Infolgedessen ist sowohl Renners Behauptung zuzustimmen, dass Erwin als Generationssymbol betrachtet werden kann, als ihrer Bemerkung, dass Andrian im Garten der Erkenntnis mit der Wortgruppe “Kultur, die sich bespiegelt”75 die Allgemeingültigkeit des Narzissmus betont.76 Weil sich aus vielen Einzelaussagen – wie der oben genannten von Hofmannsthal – herausstellt, dass der Narzissmus ein soziales Phänomen ist, und weil die wachsende Beschäftigung mit der eigenen Person – nach Renner77 – als Konsequenz der zunehmenden politischen Funktionslosigkeit des Großbürgertums und Adels betrachtet

72 Andrian: Garten, Nachwort, S. 210. 73 Schorske: Wien . S. 197. 74 Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze III. Aufzeichnungen aus dem Nachlaß. Hg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer – Ahlert. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1980, S. 398. Zitiert nach Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 40. 75 Andrian: Garten, S. 24. 76 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 122-123. 77 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 274. 21 werden soll, ist es meiner Ansicht nach angebracht, “Narzissmus” im Kapitel “Das sozial-politische Leben” zu besprechen. Schon am Anfang der Erzählung wird klar, dass Narzissmus ein wichtiges Thema ist. Das erste Motto lautet nämlich “Ego Narcissus”, und wie Rabelhofer zu Recht bemerkt, erinnert auch das zweite Motto an Narzissmus, weil es eine Sprachspiegelung aufweist.78 Das Narzissmotiv war um 1900 als literatisches Motiv sehr populär. So nennt Paetzke nicht nur die Hauptfigur in Barrès’ Culte du moi, sondern auch Wildes Dorian Gray in The Picture of Dorian Gray einen Narzissten.79 Überdies wurde das Narzissmotiv um die Jahrhundertwende als Ausdruck eines übersteigerten Ästhetentums verstanden.80 Verschiedene Forscher weisen auf den Zusammenhang zwischen Narzissmus und Ästhetizismus hin. Schorske redet nicht nur über “den Selbstgenuß der ästhetisch Kultivierten”,81 sondern behauptet auch: “Die ästhetische Utopie mit ihrer Betonung der Selbstkultivierung nährte einen Narzißmus [...]”.82 Und Paetzkes Werk, in dem sie nicht nur behauptet, dass Erwin sowohl Ästhet als Narzisst sei, sondern auch, dass alle Ästheten in der Literatur der Décadence Narzissten seien, hat als Titel Der Ästhet als Narziß .83 Bevor ich mich mit diesem schon intensiv erforschten Thema in Bezug auf den Garten der Erkenntnis auseinandersetze84, will ich darauf aufmerksam machen, dass ich vom Narzissmus im mythologischen Sinn ausgehe. Ich einige mich darin mit Rieckmann, dass Forscher berücksichtigen sollten, dass das Motto “Ego Narcissus” aus einer prä-Freudschen Perspektive zu lesen ist.85 Ich will aber betonen, dass ich – im Gegensatz zu Rieckmann – die Interpretationen, die ausgehen von der Freudschen

78 Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?” , S. 67. Obwohl Rabelhofer nicht explizit ausführt, weshalb sie das Motto “Καί διά τοϋτο δρα, ίνα πάθη, ό πάσχει, ότι έδρασεν.” (‘Und deswegen handelt er, damit er erleidet, was er erleidet, weil er gehandelt hat.’ Vgl. Andrian: Garten, S. 191.) als Sprachspiegelung versteht, bin ich damit einverstanden. Das “Handeln” und “Erleiden” im ersten Teil des Satzes werden im zweiten Teil des Satzes nämlich spiegelbildlich wiederholt in “Erleiden” und “Handeln”. 79 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 41. Nach Fischer ist es sehr wahrscheinlich, dass Andrian The Picture of Dorian Gray, das 1892 erschienen war, kannte. Er sieht auf jeden Fall eine Parallele zwischen dem Fremden, auf den Erwin seine Verhärtung, und dem Bild, auf das Dorian Gray sein Altern abgeladen hat. Vgl. Fischer: Fin de Siècle, S. 153. 80 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 117 (Fußnote 60). 81 Schorske: Wien . S. 288. 82 Schorske: Wien . S. 292. 83 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 41. Auch Sudhoff beschreibt Erwin als “zwanghaft selbstbezogene[n], ‚narzisstische[n]’ Ästhet[en]”. Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 210. 84 Während Narzissmus in Paetzkes und Renners Werk ein Hauptthema darstellt, wird das Thema bei Müller, Fischer, Schorske, Rieckmann und Orosz nur kurz besprochen. 85 Rieckmann: “Knowing the other”, S. 75. 22

Narzissmus-Definition, aber nicht abweise. Statt in Rieckmanns Fußstapfen zu treten, behalte ich Renners Aussage bei, dass jeder Forscher sich vom Unterschied zwischen Narzissmus im psychoanalytischen und im mythologischen Sinn bewusst sein soll.86 So ist meiner Ansicht nach Fischers Bemerkung, dass mit Erwin auf die Freudsche Umschreibung des Narzissten vorausgewiesen wird87, nicht minderwertig, weil Erwin, das Generationssymbol, als Zeitgenosse von Freuds narzisstischen Patienten betrachtet werden kann. Für die Besprechung des Narzissmotivs im Garten der Erkenntnis gehe ich von folgender Stelle aus, weil Erwins Narzissmus hier sehr deutlich problematisiert wird:

Plötzlich zuckte über die Wand der Schimmer einer Laterne, etwas Schweres schlug gegen das Holz und jemand hustete. Es mußte ein Fenster an der Wand sein und eine menschliche Gestalt bei diesem Fenster und diese Gestalt kam seinetwegen und sie wartete auf ihn... Aber wie er ein Licht anzündete und die Wand beleuchtet hatte, war kein Fenster da; ein Spiegel hatte ihn getäuscht, ein kleiner Spiegel aus Goisern, über dessen vergoldeten Rahmen das Mondlicht gefahren war, wie ihn der leise Wind, der sich erhoben hatte, gegen die Wand warf.88 Ausgehend von diesem Zitat, habe ich mich dafür entschieden, Erwins Narzissmus mithilfe der folgenden Themen zu erläutern: der Selbstspiegelung, Erwins Fixierung auf seine innere Welt und der Bilder von Entgrenzung und Begrenzung.

2.2.1. Die narzisstische Selbstspiegelung

Das erste Thema, das ich in diesem Abschnitt besprechen werde, ist Erwins problematische Beziehung zu anderen Leuten. Dass sich im oben genannten Zitat herausstellt, dass der Andere eigentlich das Ich ist, verwundert meiner Ansicht nach nicht, wenn man sich andere Stellen ansieht, die über Erwins Verhältnis zu anderen Leuten berichten. Es ist auffallend, dass Erwin fast immer denjenigen Leuten Aufmerksamkeit schenkt, die innere und äußere Merkmale mit ihm teilen. So

86 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 119, 121. 87 Fischer umschreibt Erwin (und auch Andrian) als “klinisch korrekte Ausprägung dessen [...], was Freud unter dem Begriff des Narzißmus fasst”. (Vgl. Fischer: Fin de Siècle, S. 150.) Paetzke übernimmt diese Umschreibung von Fischer. (Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 39-40.) Überdies berichten auch Perl, Renner und Stix davon, dass Andrian narzisstisch war. Man kann sich sogar fragen, ob die Anwesenheit der vielen biographischen Elemente in der Erzählung Andrians Narzissmus bestätigen. (Vgl. Perl: “Frühvollendung und Verstummen”, S. 50. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 221. / Stix: “Der Sonderfall”, S. 478.) 88 Andrian: Garten, S. 34. 23 befreundet Erwin sich im Konvikt mit einem Polen, den er nicht mag, aber der ihm gleicht: “Damals war der Erwin meistens mit einem Polen zusammen, dem, so wie ihm, das Essen nicht schmeckte, und der immer von Zuhaus sprach”.89 In der Sängerinszene weist, wie Müller zu Recht bemerkt, Erwins Rührung auf seine Identifikation mit dieser Gestalt hin, denn beide spielen eine Rolle.90 Auch Renner stellt fest, dass Erwins Faszination für die Sängerin mit ihrer Spiegelfunktion zusammenhängt.91 Die Forscher haben aber folgende Sätze vernachlässigt:

Ein Augenblick besonders ergriff den Erwin immer. Das war, wenn gegen Schluß des Stückes das Orchester leiser und süßer wurde, und der Chor auseinander trat, und alle auf sie warteten und sie selbst vor die Lichter kam [...].92 Meiner Ansicht nach ergreift dieser Augenblick Erwin besonders, weil die Sängerin hier Zentrum des Geschehens ist. Schon in der Konviktszene wurde deutlich, dass das Zentrumsgefühl auch Erwin kennzeichnet. Denn, wie Renner mit gutem Grund bemerkt, im Konvikt lebt Erwin in seiner Phantasiewelt, in der er das Zentrum ist.93 Auch die Begegnung mit dem Offizier auf dem Weg nach Bozen verknüpft Renner mit Erwins Narzissmus. Dass Erwin die tonlosen Vokale betont, wäre nach ihr Ausdruck seiner inneren Ambivalenz.94 Aus diesem Beispiel schließt sie, dass für Erwin nur die Dinge Bedeutung haben, die das Eigene widerspiegeln. Auch Müller denkt so, wie abgeleitet werden kann aus seiner folgenden Aussage über Erwin:

Erwin hat das nicht auszulöschende Gefühl, nicht nur er selbst zu sein, sondern zugleich auch Lato, der Fremde, Clemens usw. Sein Bestreben geht nach dem Erkennen jenes Teils, der ganz allein er selbst ist.95 Tatsächlich ist Erwins Beziehung zu Clemens von narzisstischer Selbstspiegelung gekennzeichnet. Paetzke und Renner96 behaupten sogar, dass die Homoerotik in der Clemens-Episode97 nur in Verbindung mit Narzissmus zu lesen sei. Renners These, dass Erwin Clemens mit “Parfüms [...] Stoffe[n] und Gewebe[n] aus Paris, seltsam in

89 Andrian: Garten, S. 16. Weshalb Erwin trotzdem Lato lieber hat, hängt mit Erwins homosexuellen Gefühlen für Lato zusammen. (Vgl. 3.1.1.3. Das Konvikt, S. 57.) 90 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 93. (Vgl. 3.2.1. Rollenspiel, Wirklichkeit und Lüge, S. 82-83.) 91 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 100. 92 Andrian: Garten, S. 18. 93 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 78-79. (Vgl. 2.2.2. Innere Welt versus reale Welt, S. 28.) 94 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 96. Auf den Seiten 82-84 beschreibt sie, dass Erwin eine innere Ambivalenz aufweist, weil in der Konviktszene davon berichtet wird, dass er entfremdet ist von seinem eigenen Leben. 95 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 93. 96 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 38. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 115. 97 Diese Episode wird ausführlicher besprochen in 3.1.1.2. Clemens. 24

Zeichnung und Farbe, und goldene[n] Armbänder[n] und Zigarettentaschen aus Silber oder Stahl [...]”98 zu einem ästhetischen Lustobjekt ausstattet, um sich in ihm widerspiegeln zu können, ist plausibel.99 Auch ihrer (unargumentierten) Aussage, dass Clemens ein narzisshafter, sich spiegelnder Mensch ist, stimme ich zu, denn sowohl Erwin als Clemens haben “eine Liebe ihrer selbst oder eine Liebe zueinander oder eine Liebe zu allem, was sie geliebt hatten [...]”;100 auch wird noch Folgendes berichtet: “einen Augenblick standen sie sich gegenüber in ihrer unfruchtbaren Schönheit, von der sie einander nichts geben konnten”.101 Renner weist auch auf Freuds Einsicht hin, dass Narzissmus und Homosexualität zusammenhängen.102 Sollte darin ihre Argumentierung für die Verbindung zwischen Narzissmus und Homosexualität begründet sein, dann reicht diese nicht aus. Im Gegensatz zu Renner begründet Paetzke schon stringenter diesen Zusammenhang, indem sie bemerkt, dass das Verhältnis zu Clemens durch Erwins Suche nach Ähnlichkeit mit der eigenen Person bestimmt ist. Leider unterstellt sie, dass die Homoerotik in der ganzen Erzählung mit der narzisstischen Selbstliebe zusammenhängt, obwohl sie die Verbindung nur in dieser einen Szene zeigt. Es ist meiner Ansicht nach denkbar, dass auch Erwins Liebe für die Fiaker mit Narzissmus zu verbinden ist, denn von den Fiakern wird folgendes berichtet: “Manche sahen den jungen Herren sonderbar ähnlich”.103 Auch Erwin ist ein junger Herr, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er sich selbst in ihnen wiedererkennt. Erwins Liebe für Lato ist aber mysteriöser, denn nichts deutet darauf hin, dass Erwin und Lato Gemeinsamkeiten haben. Müllers Hinweis auf den Fremden dagegen hat seine Berechtigung. In der Vorstadtszene ist es nicht verwunderlich, dass Erwin den Fremden aufmerksam beobachtet, weil auch dieser, der mit “Sanftmut und Bosheit, Furchtsamkeit und Drohung”104 assoziiert wird, Erwins innere Ambivalenz widerspiegelt. Interessant ist auch Rieckmanns Befund105, dass Erwin nach der ersten Begegnung mit dem Fremden

98 Andrian: Garten, S. 23-24. 99 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 116. 100 Andrian: Garten, S. 24. 101 Andrian: Garten, S. 25. 102 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 119. 103 Andrian: Garten, S. 22. 104 Andrian: Garten, S. 30. 105 Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 73-74. 25 zwei kontrastierende Erkenntnisse hat: Einerseits kommt er zur Einsicht in die Einsamkeit des Menschen, bei der die narzisstische Individuation unverstört bleibt:

In ihnen [den Menschen] lag das Geheimnis, oder es lag vielmehr darin, daß alle Menschen, unerkannt und andere nicht erkennend, fremd durch die Rüstung ihrer täglich sterbenden Schönheit vom Leben in den Tod gehn.106 Etwas später kommt Erwin aber zur Einsicht in das Verlangen nach Lust, bei dem die narzisstische Individuation zerstört werden kann:

[...] daß es der wahrhaftigste Drang des Menschen sei, seinen Leib an den Leib eines andern Menschen zu pressen, weil in dieser geheimnisvollen Vernichtung des Daseins eine Erkenntnis ist.107 Hier versteht Erwin, dass er das Geheimnis des Lebens erst erkennen kann, wenn er seine Ich-Fixierung aufgibt. Nach seinem Fall stellt sich aber heraus, dass er das nicht tut. Dass der Fremde bei der zweiten Begegnung bedrohlicher aussieht, hängt meiner Ansicht nach denn auch mit Erwins Narzissmus zusammen:

dennoch war er grundlos und maßlos gerührt, als ihm am ersten Morgen in einer häßlichen Straße der Siebzigerjahre eine Schar von Gymnasiasten begegnete. Am selben Abend stand, als er um die Ecke zweier Gassen ging, der Fremde vor ihm [...].108 Dass Erwin hier von den Gymnasiasten gerührt wird, deutet meiner Ansicht nach wieder auf seine Ich-Befangenheit hin, denn auch er war einmal Gymnasiast. Im nächsten Satz ist dann vom Fremden die Rede. Auch das dritte Auftauchen des Fremden ist mit Erwins Narzissmus verbunden. Der Fremde erscheint nämlich gleich nach dem Bericht von Erwins gesteigerter Beschäftigung mit seinem Ich:

Da wurde ihm klar, daß er nicht in der Welt seine Stelle suchen müsse, denn er selber war die Welt, gleich groß und gleich einzig wie sie; aber er studierte weiter, denn er hoffte, daß, wenn er sie erkannt hätte, ihm aus ihrem Bildnis sein Bildnis entgegen schauen würde. Einmal im November regnete es;[...] Da stieg vor ihm an der Ecke zweier Gassen der Fremde vom Frühling und vom Sommer auf;109

106 Andrian: Garten, S. 31. 107 Andrian: Garten, S. 34. 108 Andrian: Garten, S. 34-35. 109 Andrian: Garten, S. 40-41. Paetzke weist in Bezug auf diese Stelle darauf hin, dass sie im Umfeld des sensualistischen Subjektivismus von Mach betrachtet werden soll. (Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 150 (Fußnote 17).) Mach behauptete nämlich, dass Ich und Außenwelt verschmolzen sind. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 254. / Vgl. auch 4.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis), S. 107.) 26

Rieckmanns Behauptung, dass der Fremde Erwin am Ende nur noch als Feind erscheint, weil Erwin sich nicht “von dem Bann der Individuation” befreien kann, ist denn auch sehr plausibel.110 Rieckmann stellt auch noch fest, dass die zwei Erkenntnisse in der Metapher des Tanzes kontrastiert werden.111 Im ersten Tanz wird, gerade wie in der ersten Einsicht, die Individuation nicht bedroht:

jenen Festen, auf denen man sich nur einmal begegnete und mit manieriert verflochtenen Fingerspitzen langsam umeinander drehte und sich lächelnd in die Augen schaute und dann mit einer tiefen bewundernden Verbeugung von einander glitt.112 Der andere Tanz (schon auf der folgenden Seite) ist aber ein Tanz der Vereinigung, bei dem die narzisstische Individuation bedroht ist:

sie bewegten die Glieder und lockten und lächelten und begannen zu tanzen, und der Wechsel in den Figuren ihrer Tänze vermengte sich mit dem Wechsel der Häuser und Zimmer, in denen sie sich ihm gegeben hatten.113 Nach diesem letzten Tanz hat Erwin die Spiegeltäuschung, die auf Seite 22 zitiert wurde, und die Paetzke als Veranschaulichung der Rückbindung der Sexualität an die eigene Person deutet.114 Renners Behauptung “Immer wieder wird die Suche des Narziß im Spiegelbild enden, statt in der Begegnung mit einem Gegenüber” passt dazu.115 Auf die Problematik des Narzissten weist auch die Bezeichnung “der Fremde” hin, denn wie Müller sagt, bleibt Erwin jedem ein Fremder, genau wie die Anderen ihm Fremde bleiben.116 Es ist meiner Ansicht nach denn auch möglich, den Fremden als Allegorie der Anderen zu sehen. Es ist nämlich logisch, dass die Anderen (der Fremde) bedrohlicher sind (ist), je mehr Erwin in sichselbst gefangen ist. Je mehr Erwin in seiner eigenen Welt lebt, desto mehr können (kann) die Anderen (der Fremde) seine Existenz bedrohen. Diese Idee schließt eigentlich an Sudhoffs Behauptung an, dass das Du in der Gestalt des Fremden als Feind erscheint.117 Nach Julius Pap ist es auf jeden Fall satirisch, dass Erwin immer wieder als “der Erwin” dargestellt wird, denn – so Pap –

110 Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 78. 111 Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 74. 112 Andrian: Garten, S. 32. 113 Andrian: Garten, S. 34. 114 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 38. 115 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 146. 116 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 93. 117 Andrian: Garten, Nachwort, S. 211. 27 der bestimmte Artikel weist auf Vertraulichkeit hin, obwohl Erwin jedem fremd bleibt.118 Dass Erwin oft die Phänomene gerne hat, die mit seiner Person verbunden werden können, ist auch ein Beleg für seine Ich-Fixierung:

Er liebte die großen Barockpaläste in den engen Gassen und die tönenden Inschriften an unseren Monumenten und den spanischen Tritt der Pferde und die Uniformen der Garden und den Burghof an Wintertagen [...].119 Die Paläste, Monumente, usw. kann Erwin, der Fürst, nämlich alle mit seiner österreichischen Vergangenheit verknüpfen. Meiner Ansicht nach hat er auch nicht zufällig

eine sehnsüchtige Neigung für [...] die sanften Kongreganisten, mit denen er sich befreundete, für die meditierenden Patres, denen man im Park begegnete, für die Funktionen in der Kirche und besonders für die entlegenen Teile des Kollegiums, wo versteckte Kapellen namenloser Heiliger lagen und auch das Bad.120 Nach Renner sind diese Phänomene und Personen narzisstisch gefärbt, weil sie narzisstischen Selbstgenuss erlauben oder spiegeln.121 Ich glaube, dass Erwin hier auch gerührt wird, weil diese Personen und Phänomene fast alle122 mit Einsamkeit verbunden werden können, von der auch Erwins Leben gekennzeichnet ist: “Damals (er ging ins zwölfte Jahr) war der Erwin so einsam und sich selbst genug, wie niemals später”.123

2.2.2. Innere Welt versus reale Welt

Diese Einsamkeit im Konvikt hängt mit Erwins Rückzug in seine innere Welt zusammen. Auf diese innere Welt will ich tiefer eingehen, weil sie in der ganzen Erzählung vorherrscht. Den Begriff “innere Welt” habe ich von Orosz übernommen. In ihrem Werk spricht sie vom Unterschied zwischen realer und innerer (virtueller) Welt

118 Julius Pap: “Leopold Andrian, >>Der Garten der Erkenntnis<<”. In: Wiener Moderne, S. 382. Julius Pap war ein Zeitgenosse von Andrian. Während seiner Studienzeit schrieb er für die “Neue Revue” (eine Zeitung, vorher, die “Wiener Literatur-Zeitung” genannt). In der “Neue[n] Revue” war auch ein Artikel von Pap über den Garten der Erkenntnis erschienen. (Vgl. Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 72. / Wiener Moderne, S. 712.) Pap argumentiert in diesem Beitrag nicht nur, dass die Bezeichnung “der Erwin” als satirisch betrachtet werden soll, sondern auch, dass der bestimmte Artikel an die Mutter-Sohn- Beziehung erinnert. Es sei nämlich wahrscheinlich, dass Erwin von der Mutter‚der Erwin’ genannt wird. 119 Andrian: Garten, S. 21. 120 Andrian: Garten, S. 14-15. 121 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 87. 122 Das Bad kann nicht mit Einsamkeit verknüpft werden; meiner Ansicht nach hat Erwin dafür aber eine sehnsüchtige Neigung aus homosexuellen Gründen; Vgl. 3.1.1.3. Das Konvikt, S. 58. 123 Andrian: Garten, S. 13. 28 im Garten der Erkenntnis. Als innere Welt gelten für sie Erwins Träume, Gedanken, Eindrücke, Wünsche und Erinnerungen, Erwins subjektive Wahrnehmungen also.124 Die Dominanz, die sie der inneren Welt zuschreibt kann schon aus folgendem Satz, auf der ersten Seite der Erzählung, herausgelesen werden: “die Dinge der äußeren Welt hatten ihm den Wert, den sie im Traume haben”.125 Weil die reale Welt von der inneren Welt unterdrückt wird, was Paetzke zu Recht als Wirklichkeitsverlust umschreibt, redet Orosz über die narzisstische Weltwahrnehmung von Erwin.126 Auffallend ist, dass die innere Welt Erwins Leben so beherrscht, dass er deswegen eine problematische Beziehung zur realen Welt hat. So verdreht Erwin im Zitat auf Seite 22 unbewusst die Realität anhand seiner Phantasie: “Es mußte ein Fenster an der Wand sein und eine menschliche Gestalt bei diesem Fenster und diese Gestalt kam seinetwegen und sie wartete auf ihn...”.127 Es stellt sich aber heraus, dass der Schimmer der Laterne eigentlich Mondlicht war, das Fenster in Realität ein Spiegel ist, das Husten und die Schläge gegen das Holz eigentlich das Rauschen des Windes waren, und die Gestalt das Spiegelbild ist. Erwins Phantasie, seine privaten Gedanken, hatten hier also die Realität ersetzt. Schon in der Konviktszene fiel die problematische Beziehung zur realen Welt auf. So verläuft die Begegnung mit den Kameraden, beziehungsweise mit der realen Welt, im Konvikt nicht problemlos:

Doch im Konvikte war er den ganzen Tag mit dreißig Kameraden zusammen, von denen jeder seine Aufmerksamkeit erzwingen und in sein Leben eingreifen konnte. [...] so schienen ihm ihre Eingriffe eine unerträgliche Willkür, sie aber fürchtete er als tückische Feinde.128 Auch Paetzke und Renner haben das gesehen.129 Überdies leiten sie aus den Wörtern “Feinde”, “Eingriffe” und “eingreifen” ab, dass die Außenwelt von Erwin als Bedrohung erfahren wird, weil die Kameraden Erwins Alleinruhe gefährden. Weil innere und reale Welt so stark kollidieren, erfährt Erwin das Leben auch als “eine fremde Arbeit”.130 Das gibt Klieneberger Recht, der behauptet, dass Erwin die

124 Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 65, 67. Im Gegensatz zu Orosz redet Renner über Außenwelt und Phantasiewelt. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 78.) Im Grunde ist dasselbe gemeint. 125 Andrian: Garten, S. 13. 126 Vgl. Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 65. / Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 10. 127 Andrian: Garten, S. 34. [Hervorhebung von mir, SVD] 128 Andrian: Garten, S. 14. 129 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 29. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 81. 130 Andrian: Garten, S. 14. 29

Außenwelt nicht mit seiner inneren Welt verknüpfen kann.131 Auch Nehrings (unargumentierter) Behauptung, dass Erwin durch die grausame Wirklichkeit bedroht wird132, ist also zuzustimmen. Meiner Ansicht nach wird die Kluft zwischen innerer und realer Welt sogar in der Entfremdung vom eigenen Leib erfahren: “sein Körper und seine Seele lebten ein fast zweifaches Leben geheimnisvoll ineinander”.133 Der Körper kann als Teil der realen Welt interpretiert werden, die Seele als Teil der inneren Welt. Auch in Bezug auf Erwins Erinnerungen kann behauptet werden, dass sie immer mehr Erwins Leben beherrschen, wie Schorske ausführt.134 Nach der ersten Einsicht135 wird die Vergangenheit für Erwin bedeutungsvoller als die Gegenwart:

Jetzt bekamen seine Erinnerungen einen gesteigerten Wert für ihn; sie waren früher rührend gewesen, jetzt wurden sie ihm erhaben und kostbar; sie waren ja sein einziges Erbteil, sie waren sein Leben und dieses Leben war die Quelle der Schönheit; denn die Menschen, deren Erinnerungen ihn bewegte, bewegten ihn nur, weil er an ihnen gelebt hatte, und es bewegten ihn ebenso die Häuser, auf die sein Fenster ging, oder die Straßen, durch die er geschritten war.136 Im Gegensatz zu Paetzke, die sowohl auf Erwins Erinnerungen als auch auf seine Zukunftserwartungen aufmerksam macht, vernachlässigt Schorske aber letztere, obwohl Erwin sich schon im Konvikt mit seiner Zukunft beschäftigt (“Er dachte oft an dieses zukünftige Leben in Gott”137) und auch noch ganz am Ende der Erzählung (“Während des Tages hatte er das Bewußtsein, auf etwas zu warten [...]”138).139 Überdies ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass Erwin, der so ausgesprochen in Erinnerung und in Zukunft lebt, die reale, gegenwärtige Welt ablehnt. Aus Andrians Tagebuch geht aber hervor, dass er sich – im Gegensatz zu Erwin – vor so einem ständigen Ausweichen der Gegenwart fürchtet:

[...] ängstlich, unruhig darüber [,] durch diese Vergangenheit (Hellas, Byzanz, Orient) vom Anschauen des Lebens der Gegenwart als Leben abgehalten zu sein; Furcht [,] so wie meine Mutter zu werden, das Leben und Seele in Sonnenunter-

131 Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 623. 132 Nehring: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis”, S. 131. 133 Andrian: Garten, S. 13. 134 Schorske: Wien , S. 294. 135 Vgl. S. 25 oben. 136 Andrian: Garten, S. 31-32. Paetzke stellt fest, dass es in vielen Texten der Jahrhundertwende, die das Problem der Lebensferne darstellen, einen “Kultus der Erinnerung” gibt. Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 152 (Fußnote 49). 137 Andrian: Garten, S. 15. 138 Andrian: Garten, S. 43. 139 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 28. 30

und Sonnenaufgängen zu spüren, in Bildern und in Statuen [,] aber nicht im gelebten Leben um uns.140 Auffallend ist auch, dass am Ende der Erzählung sogar der Eindruck erweckt wird, dass Erwins Traum das reale Leben ersetzt, weil er erwartet im Traum zu erkennen, das heißt sein Lebensziel zu erreichen:

[...] und er wußte, daß auf diesen Ruf die Erkenntnis folgen müsse, und er wurde sehr froh. Aber mitten in seiner Freude wachte er auf, [...] wußte er nicht genau, ob er auf den Regen wartete, nach dem er sich gesehnt hatte, oder auf den Schlaf, um im Traum zu erkennen.141 Aus diesem Zitat kann abgeleitet werden, dass Erkenntnis und Narzissmus am Ende der Erzählung miteinander verbunden sind, weil Erwin davon ausgeht, dass er im Traum, in seiner inneren Welt also, erkennen wird. Dass er über seine innere Welt nicht erkennt, bestätigt meiner Ansicht nach Renners und Rieckmanns Behauptung, dass Erwin zu stark in seinem Ich befangen ist.142 Behält man aus dem Kapitel “Werteverlust und Wertesuche” den Befund bei, dass die Erkenntnis mit der Lösung der Identitätsfrage zusammenhängt143, so ist Paetzke darin beizupflichten, dass Erwin seine Identität nicht findet, also nicht erkennt, weil er zu narzisstisch ist.144

2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung

Obwohl Erwin jedem ein Fremder bleibt145, weisen einige Szenen darauf hin, dass Erwin seine Ich-Grenzen sprengen will. Im Zitat auf Seite 22, zum Beispiel, symbolisiert der Innenraum der Hütte nach Renner das Selbst. Das Fenster betrachtet sie als Möglichkeit aus dem Raum, dem Selbst, auszubrechen.146 Nicht nur in diesem Zitat wird angespielt auf Erwins Wunsch, die Anderen zu erreichen. Man kann das auch aus anderen Wunschbildern der Entgrenzung und Schreckbildern der Begrenzung ableiten. Das erste Bild einer Begrenzung ist das Schlosspark Schönbrunn147: Nicht nur die Tatsache, dass der Park begrenzt ist, sondern auch die sich umschlingenden Frauen

140 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom November 1894. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 147. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 141 Andrian: Garten, S. 42-43. 142 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 25. / Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 78. 143 Vgl. 2.1.2. Identitätssuche, S. 18. 144 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 49. 145 Vgl. 2.2.1. Die narzisstische Selbstspiegelung, S. 26. 146 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 174. 147 Andrian: Garten, S. 28. 31 spiegelten Erwins Ich-Befangenheit wider, behauptet Renner.148 Damit bin ich aber nur zum Teil einverstanden, denn die sich umschlingenden Frauen erinnern auch an Intimität. Weil Intimität voraussetzt, dass zwei Personen ihre Ich-Grenzen sprengen, herrscht in dieser Situation Entgrenzung vor, obwohl die Bewegung des sich Umschlingens tatsächlich begrenzend ist. Das zweite Bild, das Begrenzung darstellt, ist das Bild der Planken bei Erwins Abschied vom Fremden: “Endlich waren sie draußen, wo das Land anfängt, dessen farbloses zertretenes Gras von Planken umschlossen wird”.149 Renner weist zu Recht darauf hin, dass dieses Bild schon auf die tödliche Bedrohung durch den Fremden vorausweist.150 Auffallend ist, dass bei diesen Bildern der Begrenzung, Erwin von Öde oder von Angst gequält wird. Dass er beim Bild der Frauen einen “unsagbaren Reiz”151 fühlt, spricht dafür, dass sie tatsächlich Erwins Ich- Befangenheit nicht widerspiegeln. Das Fest des Lebens wird sowohl mit Begrenzung als mit Entgrenzung – letztere entspricht nach Renner dem Wunsch nach Befreiung aus der Ich-Befangenheit152 – assoziiert:

jenen Festen des siebzehnten Jahrhunderts glich es, in dunkeln Winternächten zwischen Spiegeln und Lichtern, jenen Festen, die so groß und feierlich waren, daß man darüber die Freude vergaß;153 Wie Renner richtig gesehen hat, wird hier Erwins Sehnsucht nach räumlicher Entgrenzung dadurch deutlich, dass er sichselbst in den Spiegeln vervielfacht sieht. Zugleich bemerkt sie, dass diese Sehnsucht vergeblich ist, weil die Entgrenzung mit optischer Täuschung verknüpft wird.154 Meiner Ansicht nach ist hier deswegen eher von Begrenzung die Rede. Überdies glaube ich auch, dass diese Szene deutlich auf das Zitat auf Seite 22 vorausweist, in dem es auch der Spiegel ist, der begrenzend wirkt. Was die Entgrenzungsbilder betrifft, gibt es meiner Ansicht nach schon am Anfang eine Szene, die Erwins Wunsch nach Entgrenzung widerspiegelt:

148 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 146. 149 Andrian: Garten, S. 31. 150 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 159. 151 Andrian: Garten, S. 28. 152 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 165. 153 Andrian: Garten, S. 32. 154 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 165. 32

[...] als in den Dörfern, an denen sie vorbeikamen, die Lichter sich entzündeten, bereitete es ihm Schmerz, nicht in diesen Dörfern leben, oder nicht wenigstens die Menschen, die in ihnen lebten, sehn zu können.155 Renners Behauptung, dass hier die Mangelerfahrung des kontaktarmen Außenstehenden skizziert wird, trifft wohl zu.156 Sie sieht es aber nicht als Beispiel eines Entgrenzungswunsches. Das Meer, das Erwin auf seiner Reise von Capua nach Venedig sieht, hat sie dann wieder mit Erwins Sehnsucht nach Entgrenzung verknüpft, weil Erwin darin möglichst viel Farben sieht.157 Dennoch hat Renner meiner Auffassung nach in Bezug auf diese Begrenzung/Entgrenzungproblematik zwei wichtige Szenen vernachlässigt: Erwins Spaziergang mit dem Priester und das Bild der Schatzhöhle. Über Erwins Spaziergang wird Folgendes berichtet:

[...] dennoch hörte er auf die Erzählung von den Magneten, vom Wechsel der Farben und von der Anziehung der Stoffe [...] Etwas wie ein Zauberer schien ihm der alte Priester [...].158 Nicht nur wird auch hier mit “Wechsel der Farben” auf Unendlichkeit hingewiesen, sondern auch mit dem Wort “Zauberer” kann Erwins Sehnsucht nach Entgrenzung verbunden werden, denn Zauberer sollten sich nicht an physikalische Grenzen halten, sie können machen, was sie wollen. Zugleich wird in dieser Szene mit dem Wort “Magneten” auf die Begrenzungsproblematik angespielt, weil Magneten Fatalität konnotieren, man kann sich nicht von ihrer Kraft befreien.159 Auch im Bild der Schatzhöhle wird Begrenzung suggeriert, denn die Grotte symbolisiert, wie im Zitat auf Seite 22 die Hütte, Erwins Ich-Befangenheit. Wichtig ist auch, dass für den Jüngling in der Grotte, mit dem Erwin verglichen wird, die verschiedenen Edelsteine alle ähnlich sind. Das weist meiner Ansicht nach auf Erwins Unfähigkeit hin, die anderen, die eigentlich sehr verschieden sind, von einander zu unterscheiden, wie das vor allem am Ende der Erzählung deutlich wird: “Da erschien ihm jemand und er wußte nicht genau, ob es der Clemens war oder jener Lieutenant, der einst mit ihm nach Bozen fuhr”.160 Dass die Edelsteine in der Grotte ähnlich aussehen, weist meiner Ansicht nach zugleich auf die narzisstische Problematik der Austauschbarkeit der Anderen hin.

155 Andrian: Garten, S. 16. 156 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 94. Sie bemerkt auch, dass das Gefühl des Ausgeschlossenseins häufig in der Literatur der Jahrhundertwende vorkommt. 157 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 198. 158 Andrian: Garten, S. 20. 159 Renner hat auch auf diese Fatalität der Magneten hingewiesen. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 105. 33

Freundschaften, die auf narzisstischer Selbstbespiegelung beruhen, sind nämlich austauschbar. Deswegen lebt der Narzisst sich nicht in seinen Freundschaften ein, wodurch auch keine Trauer möglich ist, wie Renner am Tod von Lato nachweist.161 Im Bild der Schatzhöhle wird mit den Edelsteinen direkt auf Narzissmus angespielt, denn Edelsteine werden in der Erzählung nicht nur hier erwähnt, sondern auch in Bezug auf Heinrich Philipp, der als Spiegel für Erwin betrachtet werden kann162, und auf die Mutter, die übermäßig mit sichselbst beschäftigt ist. Gleich am Anfang wurde schon der Narzissmus der Mutter introduziert:

Als er [der Fürst] tot war, glaubte sie, nur sein Sterben habe ihr die Enthüllung des Geheimnisses geraubt, und sie trauerte um ihn. Aber der Erwin hatte ihre Hände und ihre Stimme; und der Klang dieser Stimme verwirrte und verkleinerte seltsam die Großartigkeit ihres Schmerzes.163 Aus diesem Zitat stellt sich heraus, dass die Trauer um den Tod ihres Mannes nicht so stark ist, weil Erwin ihr gleicht. Am Ende der Erzählung ist dann von ihren Edelsteinen die Rede:

Sie hatte die Edelsteine, die kostbaren Stoffe und die gestickten Seiden geliebt [...] Etwas müder kehrte die Mutter zu ihren Edelsteinen, ihren kostbaren Stoffen und gestickten Seiden zurück [...].164 Edelsteine werden, wie schon bemerkt, auch in Bezug auf Heinrich Philipp erwähnt:

Heinrich Philipp hatte drei Eigenschaften, die jeder, der ihn kennen lernte, sogleich bemerkte wie drei leuchtende Edelsteine. Es war eigentlich eine Tugend und ihre Anwendungen. Er besaß die große Güte der Heiligen, die wie ein Verstehen des tiefsten Grundes in allen Wesen ist; höflich war er, indem er ihr jedem einzelnen gegenüber die passende Form gab, und liebenswürdig, weil er so viel an die anderen dachte.165 Meiner Ansicht nach können zwei der drei Eigenschaften mit Erwin verbunden werden. Die Güte, die “in allen Wesen” ist, also auch in Erwin, und die Tatsache, dass er die Güte “jedem einzelnen gegenüber die passende Form gab”, was darauf hinweist, dass auch Heinrich Philipp, gerade wie Erwin166, Rollen annimmt. Auch haben beide, Erwin und Heinrich Philipp, Kommunikationsprobleme. Über Heinrich Philipp wird berichtet:

160 Andrian: Garten, S. 42. 161 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 124. 162 Vgl. S. 33 (unten) – 34 (oben). 163 Andrian: Garten, S. 13. 164 Andrian: Garten, S. 36, 38. 165 Andrian: Garten, S. 18, 19. 166 Vgl. 3.2.1. Rollenspiel, Wirklichkeit und Lüge, S. 82-83. 34

“es war, als spräche er über den Erwin weg zu sich selbst zurück”.167 Später wird über Erwins Gespräch mit Clemens Folgendes mitgeteilt: “[...] ihr Gespräch war unheimlich; es ging ohne sie weiter, gleichzeitig mit ihren Gedanken aber einen andern Weg [...]”.168 Auch Renner weist auf das Unvermögen von Clemens und Erwin hin, im Gespräch eine Beziehung herzustellen; es dient nur der Selbstspiegelung.169 Kommunikation wird in der ganzen Erzählung als sehr problematisch dargestellt. Schon am Anfang stellt sich heraus, dass die Sprache als Mittel der Kommunikation dunkel ist: “sie waren Worte einer Sprache, welche zufällig die seine war, aber erst durch seinen Willen erhielten sie Bedeutung, Stellung und Farbe”.170 Zu Recht bemerkt Renner, dass die Kommunikation keinen Zugang zum Anderen eröffnet.171 Kommunikations- und Sprachproblematik kennzeichnen aber nicht nur diese Erzählung:

[…] to be a fin-de-siècle Viennese artist or intellectual, conscious of the social realities of Kakania, one had to face the problem of the nature and limits of language, expression and communication.172 Lange vor der Erscheinung des bekanntesten Dokumentes der Sprachkrise, Hofmannsthals Ein Brief (1902), wurde von den Jung Wienern eine Sprachskepsis hervorgerufen.173 So schrieb Andrian bei seiner Arbeit an dem Garten der Erkenntnis:

Was auch so schwer macht einen Roman des wirklichen [inneren] Lebens zu schreiben, ist, daß alle Begriffe durch ihre Anwendung aufs äußerliche falsche Leben verdreht sind.174 Kommunikation könnte meiner Ansicht nach auch mit Entgrenzung verbunden werden, weil der Narzisst auch über Kommunikation aus seinem Ich treten könnte. Obwohl ab und zu davon die Rede ist, dass Erwin spricht175, wird dem Leser nur einmal ein

167 Andrian: Garten, S. 19. 168 Andrian: Garten, S. 28. 169 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 135. 170 Andrian: Garten, S. 13-14. 171 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 81. 172 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 117. 173 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 101. In diesem Lord-Chandos-Brief wird beschrieben, wie Lord Chandos Welt und Sinn noch wahrnehmen kann, sondern nicht mehr fähig ist, das alles in Sprache umzusetzen. Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 114-115. 174 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag. Zitiert nach Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 102. 175 Vgl. Andrian: Garten, S. 17, 24-25, 28, 32, 35, 38-39, 42. Nur auf diesen Seiten wird angegeben, dass Erwin spricht. Der Leser weiß aber oft nicht, was Erwin an diesen Stellen sagt. Überdies gibt es nur sehr wenig direkte Rede im Text. Das Einzige, was der Erzähler Erwin sagen lässt, ist „Das Andere“ (Vgl. Andrian: Garten, S. 22.), „Das Fest des Lebens“ (Vgl. Andrian: Garten, S. 32.), „Clemens“ (Vgl. Andrian: Garten, S. 25.) und einige Sätze im Dialog (Vgl. Andrian: Garten, S. 38.). Renners Behauptung, 35

Gespräch wortwörtlich mitgeteilt, es handelt sich dann um den Dialog zwischen Sohn und Mutter.176 Theodorsen berichtet davon, dass ein Thema im Dialog Narzissmus ist, was aber nicht argumentiert wird.177 Trotzdem dürfte es zutreffen, denn Erwin sagt nicht nur am Ende des Dialogs “Wir sind allein”, am Anfang spricht er auch über “unser alleiniges Erbteil”. Auch nicht unwichtig ist, dass die Mutter über “die Lustgärten fremder Schlösser, von fremden Dienern geführt” berichtet. In dieser Aussage wird also die Fremdheit der Anderen betont, etwas, mit dem auch Erwin als Narzisst konfrontiert wird. Bucher-Drechsler sieht den Dialog außerdem eher als Monolog.178 Tatsächlich bekommt der Leser den Eindruck, dass Mutter und Sohn neben einander reden. Sogar der Dialog signalisiert also gescheiterte Kommunikation. Dass Mutter und Sohn Hände und Stimme gemeinsam haben sollten, ist meiner Ansicht nach denn auch paradox. Diese Körperteile, die im Allgemeinen als Kommunikationsmittel fungieren, sollten in dieser Erzählung logischerweise eher als Symbol der gescheiterten Kommunikation des Narzissten verstanden werden, weil die Kommunikation durch die ganze Erzählung hindurch misslingt. Auffallend ist auch, dass die Stimme – obwohl sie Erwin in der Mitte der Erzählung berauscht179 – sowohl am Anfang der Erzählung als gerade vor dem Dialog, eine negative Konnotation bekommt. So heißt es am Anfang der Erzählung:

Aber der Erwin hatte ihre Hände und ihre Stimme; und der Klang dieser Stimme verwirrte und verkleinerte seltsam die Großartigkeit ihres Schmerzes. So kam es, daß sie ihn ins Konvikt gab.180 Störend ist der letzte Satz. Zuerst wird der Eindruck erweckt, dass die Mutter sich freut über die Ähnlichkeit ihrer Stimme mit derjenigen ihres Sohnes, aber dann stellt sich heraus, dass sie ihren Sohn fortschickt. Ist der Gedanke, dass die Stimmen sich ähnlich sind, mit Angst verknüpft? Auf jeden Fall ruft Erwins Stimme später auch Angst herauf:

[...] und es machte ihn unsicher und ängstlich, daß dabei ihre [die Mutter] Stimme, wenn sie von den innersten Dingen sprach, in ihrer heiseren Glanzlosigkeit der seinen glich. Denn er hatte ihre Stimme und ihre Hände.181 dass durch das Fehlen der direkten Rede das Scheitern der Kommunikation äußerlich sichtbar wird, stimme ich bei. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 135 (Fußnote 79). 176 Andrian: Garten, S. 37-38. 177 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 112. 178 Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 321. 179 Vgl. Andrian: Garten, S. 25: “Noch immer berauschte ihn der Ton seiner eigenen Stimme […]”. 180 Andrian: Garten, S. 13. 36

Meiner Ansicht nach ist es plausibel, dass an diesen Stellen schon angedeutet wird, wie Mutter und Sohn einander in der Zukunft nicht werden helfen können, gerade weil sie diesselbe Stimme haben (daß heißt, weil sie einander so gleichen). Theodorsens Bemerkung, dass Mutter und Sohn Rettung suchen bei den “jeweils anderen”182, trifft deswegen nicht zu, weil Mutter und Sohn eigentlich nicht so anders sind. Mutter und Sohn können einander nicht helfen, um zur Lösung des Geheimnisses zu kommen, weil der Andere eigentlich nicht so anders ist. Im Gegensatz zu Renner, die die Wörter “Bäche”, “Kanäle”, und “Teiche”183 nur als Narzisssymbole identifiziert, möchte ich hervorheben, dass diese Wörter fast direkt nach dem Dialog erwähnt werden, und so suggerieren, dass der Narzissmus (von Erwin und seiner Mutter) dafür verantwortlich ist, dass sie das Geheimnis des Lebens nicht finden konnten. Nach dem Dialog steigert Erwins Narzissmus sich noch mehr. In Bezug auf diese Steigerung wollte ich folgende Stelle, die auch eine Begrenzung impliziert, in der Sekundärliteratur aber bisher völlig vernachlässigt worden ist, auch besprechen:

[...] auch sie [die Zufälligkeiten, Schmerzen und Enttäuschungen der Reise] waren herrlich für den Jüngling, der das väterliche Erbteil seiner Seele lang in den Königreichen der Fremde gesucht hatte, und jetzt in unser aller Vaterland kam [...].184 In diesem Zitat ist von Begrenzung die Rede, weil Erwin sich dafür entscheidet, nicht länger außerhalb der Grenzen seines Vaterlandes zu gehen. Aber weshalb wird hier “das väterliche Erbteil” einmal “in den Königreichen der Fremde” und einmal “in unser aller Vaterland” lokalisiert? Dass Erwin das väterliche Erbteil sucht, bestätigt, dass Erwins Wertesuche angefangen hat mit dem Tod des Vaters.185 Mit “in den Königreichen der Fremde” wird wohl gemeint, dass Erwin das Geheimnis lange über Andere gesucht hat, die alle fremd sind für ihn. Die erste Frage, die wir uns in Bezug auf die Bedeutung der Wortgruppe “in unser aller Vaterland” stellen sollten, ist, wer “unser” ist. Nach Theodorsen werden diejenigen angeredet, die die Schönheit des Textes aufnehmen können, die Jung Wiener also. Auch Renner vertritt die Meinung, dass die Jung Wiener

181 Andrian: Garten, S. 37. 182 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 113. 183 Vgl. Andrian: Garten, S. 38. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 196. 184 Andrian: Garten, S. 39. 185 Vgl. 2.1.1. Erwins Streben nach Orientierung, S. 15. 37 adressiert sind, wobei sie das Verbundenheitsgefühl betont.186 Zudem macht diese Wortgruppe plausibel, dass Erwin “das väterliche Erbteil seiner Seele” nur noch bei sich selbst suchen werde. Auch das Wort “Jüngling” ist hier interessant. Obwohl auch Bücher-Drechsler darauf hingewiesen hat, dass Erwin hier als Jüngling angeredet wird, sagt sie aber nicht weshalb;187 meiner Ansicht nach kommt so eine Verbindung zu Stande mit dem Bild der Schatzhöhle, und wird auf diese Weise klar gemacht, dass Erwin immer noch, wie der Jüngling in der Grotte188, eine problematische Beziehung zum Anderen hat.

186 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 299-301. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895) ”, S. 141. 187 Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 319. 188 Vgl S. 32. 38 39

3. Das scheinhafte Leben Solange der Schein gewahrt wurde, war um die Jahrhundertwende nichts unmöglich in Wien. In Wittgenstein’s Vienna wird das anhand des Falles “Alfred Redl” illustriert. Es hat sich am Anfang des 19. Jahrhunderts herausgestellt, dass dieser Mann nur dadurch, dass er seine wirklichen Motive verborgen hatte und immer gesagt hatte, was andere nur hören wollten, in der Gesellschaft aufgestiegen war.189 Auch Andrians Familie wahrte den Schein, denn für die Außenwelt strahlte sie Ruhe aus, obwohl die familiären Beziehungen in Wirklichkeit sehr unruhig waren.190 Artifizialität und Scheinhaftigkeit waren dann auch gang und gäbe im Wiener Leben.191 Auch Bahrs Betrachtungen über die Wiener gehen darauf ein. Nach Bahr fürchteten die Wiener sich vor der Wirklichkeit, setzten sie sich eine Maske auf, um nicht so zu sein wie sie in Wirklichkeit waren, und “schienen” sie nur.192 Außerdem hätten die Wiener selber kaum das Scheinhafte von der Realität unterscheiden können.193 In diesem Kontext ist auch meiner Meinung nach Erwins paradoxe Beobachtung von Clemens zu verstehen, nachdem Erwin schon einige Zeit in Wien gelebt hat. Er betrachtet Clemens als verdorben und zugleich unschuldig194, als ob Andrian anhand dieses Paradoxes deutlich machen wollte, dass Erwin, wie jeder Wiener Bürger, keinen Unterschied machen könne zwischen dem Scheinhaften und dem Realen. Die Scheinhaftigkeit äußerte sich auch, vielleicht sogar hauptsächlich, im Bereich der Sexualität. Obwohl in der Öffentlichkeit nie über Sexualität geredet wurde und das Sexualwissen verboten war, war die Wiener Gesellschaft in Wirklichkeit davon besessen und wurde die Moral häufig unterlaufen. Die Prostitution, zum Beispiel, wurde nur zum Schein als unmoralisch und illegal verurteilt, denn sie war notwendig und wurde sogar von der Polizei geschützt.195 Auch Renner betont immer wieder, dass das Triebhafte im Wiener Fin de Siècle verleugnet, tabuisiert und verheimlicht wurde. Sie weist auch darauf hin, dass die Scheinhaftigkeit, die in vielen Werken um die

189 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 61-62. 190 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 20. 191 Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 33-66 (Kapitel 2: Habsburg Vienna: City of paradoxes). / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 269-278 (C.II.3.: Rollenspiel und Sexualmoral). 192 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 10. 193 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 269. 194 Andrian: Garten, S. 23. 195 Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 46-47, 70. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 9, 12. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 276-277. 40

Jahrhundertwende problematisiert wurde, mit Triebkontrolle und Rationalisierungs- tendenzen zusammenhängt, denn je mehr Rationalisierung es gibt, desto mehr Triebkontrolle notwendig wird und desto mehr Scheinhaftigkeit gefordert wird. Außerdem betont Renner, dass diese Triebkontrolle typisch war für die Elterngeneration, und dass die Söhne sie nicht durchbrechen konnten, ohne dass die Gefahr einer Identitätskrise drohte. Die Identitätskrisen im Fin de Siècle hingen denn auch oft mit dem Abdrängen der Sexualität zusammen.196 Tabuisierung sollte also als ein Symptom des scheinhaften Lebens betrachtet werden; beim Lesen des Garten der Erkenntnis stellt sich denn auch heraus, dass Andrian in seiner Erzählung einiges totgeschwiegen hat, wie im nächsten Abschnitt erläutert werden soll.

3.1. Tabuisierung

Dass der Leser im Garten der Erkenntnis manchmal das Gefühl bekommt, es werden Sachen verschwiegen, hat seine Berechtigung: Andrian lässt tatsächlich manchmal Sachen unausgesprochen oder suggeriert sie höchstens. Die Tabuisierung des sexuellen Bereichs gewinnt eine besondere Dimension, weil Andrian nicht nur den Bereich der Homosexualität, sondern auch die inzestuöse Neigung zur Mutter maskiert.

3.1.1. Homosexualität

War schon Sexualität in der damaligen Wiener Gesellschaft nicht besprechbar, so Homosexualität, wenn möglich, noch weniger. Nach Paetzke gab es sogar erst um 1900 einen Zuwachs an Publikationen über Homosexualität.197 Der Grund, weshalb Homosexualität als wichtiges Thema in diese Erzählung hineineingetragen worden ist, sollte man in Andrians eigener Homosexualität suchen.198 Fischers Behauptung, dass Andrians Homosexualität nicht nur Schatten, sondern auch Licht auf die Erzählung

196 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 272-278. 197 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 131. Paetzke fügt aber nicht hinzu, ob es sich um wissenschaftliche, literarische oder sowohl wissenschaftliche als auch literarische Publikationen handelt. Sie weist in der Fußnote nur hin auf Wucherpfennig: Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900. Friedrich Huch und seine Zeit. München: Fink 1980, S. 163. 198 Vgl. Fischer: Fin de Siècle, S. 148. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 61. 41 warf199, stimme ich bei, denn wenn man den hermetischen Text im Kontext der Homosexualität liest, wird vieles für den Leser leichter interpretierbar. Außerdem ist es umso interessanter, die homosexuellen Anspielungen in diesem Text zu besprechen, weil Andrian auffälligerweise weniger Selbstzensur übte als in seinen früheren Gedichten. So beschrieb er zum Beispiel, ganz anders als im Garten der Erkenntnis, im Gedichtband Erwin und Elmire heterosexuelle Beziehungen, wenn eigentlich homosexuelle Beziehungen gemeint waren. Und in den Gedichten für Georges Blätter für die Kunst hat er absichtlich die männlichen Pronomen in weibliche Pronomen verändert.200 Trotzdem wird im Garten der Erkenntnis an verschiedenen Stellen und auf verschiedene Weisen noch sehr häufig verhüllt auf die Homosexualität hingedeutet.

3.1.1.1. Das Andere Während Andrian in seinen Tagebüchern die Homosexualität dadurch chiffrierte, dass er α schrieb, wenn er eigentlich von seiner Homosexualität berichtete, 201 chiffrierte er sie in der Erzählung dadurch, dass er darin den vagen Begriff des “Anderen” benutzt. Nach den meisten Kritikern spielt Andrian mit diesem Begriff auf die Sexualität, das Triebhafte, an.202 Man sollte dieses Wort aber auch als eine Anspielung auf das Gefühl des “Anders–Seins” interpretieren, das heißt: auf das Homosexuell-Sein. Es ist denn auch auffallend, dass er das Andere im Bereich der Fiaker sucht:

Manche [Fiaker] sahen den jungen Herren sonderbar ähnlich; daß in dieser Ähnlichkeit der Gegensatz lag, mußte mit der Beschaffenheit des „Anderen“ zusammenhängen.203 Obwohl die Fiaker in diesem Zitat als Personen dargestellt werden, weil sie den jungen Herren “ähnlich sahen”, hat Andrian an anderen Stellen mit der Doppeldeutigkeit des Wortes “Fiaker” gespielt. Es hat nämlich zwei unterschiedliche Bedeutungen: einerseits ist ein Fiaker eine zweispännige Pferdedroschke, andererseits ist ein Fiaker der

199 Fischer: Fin de Siècle, S. 55. 200 Vgl. Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 79. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 66. 201 Vgl. Perl: “Frühvollendung und Verstummen”, S. 51. / Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 79. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 32. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 62. 202 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 45. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 111. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 68. 203 Andrian: Garten, S. 22. 42

Kutscher einer solchen Pferdedroschke.204 Auffallend ist, dass das Wort “Fiaker”, wenn schon besprochen, in der Sekundärliteratur immer wieder eindeutig interpretiert worden ist, denn alle Forscher haben die Fiaker nur als Kutscher, als Männer, betrachtet, und Erwins Faszination für diese Männer im Rahmen der Homosexualität besprochen.205 Tatsächlich kann “Fiaker” an allen Stellen als Kutscher verstanden werden. Dennoch können die Fiaker nicht nur im Sinne von Kutscher, sondern auch im Sinne von Pferdedroschke mit Homosexualität verbunden werden, denn in solchen geschlossenen Droschken, konnten Männer sich miteinander sexuell betätigen. Wahrscheinlich haben die Interpreten diese Bedeutung vernachlässigt, weil “Fiaker” nicht an allen Stellen als Droschke aufgefasst werden kann. Nicht nur im oben genannten Zitat ist das der Fall, sondern auch in anderen:

sie [die Fiaker] glichen wirklich den jungen Herren, nur wie ihr Stil in der Kleidung, so waren auch die Gegensätze ihrer Seelen stärker herausgearbeitet.206

Einer [Ein Fiaker] besonders gefiel ihm [Erwin], wenn er im Frühling in den Prater fuhr; seine Pferde hatten Bouquetten von Veilchen im Geschirr, er aber saß da, etwas nach vorne gebeugt, die Zügel hoch und weit auseinander gehalten, mit einer gesuchten Gebärde der Arme, starr und doch seltsam lebend, wie eine graziöse und etwas manierierte Zeichnung in der manierierten Eleganz seines Zeugels.207 Im ersten Zitat werden die Fiaker deutlich als Personen und nicht als Droschken dargestellt, denn es ist die Rede von ihrem “Stil in der Kleidung” und von ihren “Seelen”. Und obwohl im zweiten Zitat bis zum “Geschirr” der Fiaker doppeldeutig interpretiert werden kann, wird ab “er aber saß” klar, dass der Fiaker unmöglich als Droschke verstanden werden kann. Außerdem wird in verschiedenen Sätzen sehr deutlich mit der doppelten Bedeutung des Wortes “Fiaker” gespielt:

Dem Erwin gefielen auch die Auslagen der Geschäfte mit [...] dem dunkeln Battist der Taschentücher zwischen lichten blühenden Seiden; ihm gefielen die Viererzüge von Rappen zwischen den rosa Blüten des Praters; ihm gefiel es, daß die Fiaker so elegant waren, wie seine Freunde [...].208

204 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Mannheim: F.A. Brockhaus 1986/19: Band 7, S. 261. / Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim e.a.: Dudenverlag 2003/5, S. 540. 205 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 111, 114. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 68. / Hartmut Scheible: Literarischer Jugendstil in Wien. Artemis Einführungen Band 12. München/Zürich: Artemis Verlag 1984, S. 40-42. 206 Andrian: Garten, S. 23. 207 Andrian: Garten, S. 22. 208 Andrian: Garten, S. 21. 43

Im Juni des zweiten Jahres lud den Erwin ein Freund ein, mit ihm und mit ein paar Fiakern zu einem Heurigen hinauszufahren. Sie blieben die ganze Nacht dort, an einem der kleinen Tische zwischen den Akazien, deren Duft für sie eins mit der Musik wurde; aber der Erwin fand nicht in den Fiakern, was er von ihnen erwartet hatte;209 Obwohl die Fiaker im ersten Zitat als Personen aufgefasst werden können, ist nicht undenkbar, dass zugleich auf Droschken angespielt wird. Auf diese Weise wird nicht nur zwischen dunkeln Taschentüchern und lichten Seiden, sondern auch zwischen zwei Arten von Gespann, zwischen Viererzügen (also Gespannen mit vier Pferden) und Fiakern (Gespannen mit zwei Pferden) ein schöner Kontrast hergestellt. Das zweite Zitat kann auf zwei Weisen verstanden werden. Eine erste Interpretation beinhaltet, dass Erwin die Fiaker als Transportmittel benützt, nur mit einem Freund am Tisch sitzt, und, weil er in den Fiakern mit diesem Freund kein sexuelles Abenteuer hat, enttäuscht ist über sie. Eine andere Interpretation wäre, dass er nicht nur mit dem Freund, sondern auch mit verschiedenen Kutschern zum Heurigen geht, dass die Fiaker auch am Tisch sitzen, und dass Erwin über ihr Verhalten enttäuscht ist. Die zweite Möglichkeit scheint mir am plausibelsten. Erstens ist es sehr unwahrscheinlich, dass zwei Personen mit ein paar Droschken zu einem Heurigen fahren. Zweitens folgen den schon zitierten Worten “nur wie ihr Stil in der Kleidung, so waren auch die Gegensätze ihrer Seelen stärker herausgearbeitet”.210 Auf jeden Fall wird in diesen Sätzen eine erotische Atmosphäre hervorgerufen, wobei sehr subtil auf die Intimität zwischen Erwin und dem Freund/den Männern hingewiesen wird. Nicht nur die Anwesenheit des kleinen Tisches, sondern auch die Anspielung auf die synästhetische Erfahrung von Luft und Musik suggerieren, meiner Meinung nach, Intimität. An anderen Stellen kann “Fiaker” problemlos doppeldeutig interpretiert werden: “Besonders die Fiaker schaute er mit einer eigentümlichen ängstlichen Aufregung an”211, “[...] die Opernbälle, die Sofiensäle, der Ronacher und das Orpheum und der Zirkus und die Fiaker”.212 Außerdem ist noch darauf hinzuweisen, dass nur ein Forscher – Scheible – sich bisher über die Interpretation der paradoxen Mitteilung, dass Erwin in der Ähnlichkeit zwischen Fiakern und jungen Herren auch den Gegensatz sah, ernstlich ausgesprochen hat. Renner weist in diesem Kontext nur auf die Austauschbarkeit von Fiakern und jungen

209 Andrian: Garten, S. 22. 210 Andrian: Garten, S. 23. 211 Andrian: Garten, S. 22 212 Andrian: Garten, S. 22. 44

Herrn hin, was nach ihr mit Homosexualitat verknüpft ist; über die merkwürdige Aussage sagt sie aber weiter nichts aus. Nach Scheible andererseits wird hier mitgeteilt, dass das Andere das Gleiche sei.213 Das ist plausibel, denn wenn man das behauptet, stimmt die Aussage, dass in der Ähnlichkeit der Gegensatz liegt. Ich habe das aber anders interpretiert. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass der Text angibt, wie Fiaker und Herren beide elegant aussehen: “ihm [Erwin] gefiel es, daß die Fiaker so elegant waren, wie seine Freunde [...]”.214 Gerade in dieser Eleganz sind die Fiaker und Herren einander also ähnlich. Die Fiaker gehören aber der niedrigen sozialen Klasse an215 und deswegen ist ihr elegantes Aussehen nur Schein, im Gegensatz zu dem Aussehen der jungen Herrn, die tagaus, tagein elegant sind. Hier wird meiner Ansicht nach auf eine subtile Weise zum ersten Mal in der Erzählung deutlich gemacht, dass Erwin sich zu sozial niedrigen Männern angezogen fühlt. Aus der Erzählung stellt sich aber vor allem anhand von zwei Szenen heraus, dass das sozial Niedrige für Erwin zugleich moralisch niedrig ist: die Vorstadtszene und die Szene, in der Erwin auf einer Alm, bei Sennern und Führern, übernachtet.216 Tatsächlich werden im Vorstadtzimmer nicht nur der Fremde, sondern auch die anderen Leute als niedrig dargestellt. Renner weist auf die Tatsache hin, dass im niedrigen Haus das Verdrängte – deutlichkeitshalber hätte sie “die verdrängte Homosexualität” schreiben sollen – sich äußert. Meiner Ansicht nach sind die sozial niedrigen Menschen im Heurigen, gerade weil sie ihre Triebe nicht mehr verdrängen, zugleich als moralisch niedrig zu betrachten. Überdies behauptet Renner zu Recht, dass es viele sprachliche Details gibt, die auf den Bereich der Sexualität anspielen.217 Rieckmann und Rabelhofer sehen in der Vorstadtszene viele Textelemente, die die verhüllte Sexualität der Begegnung mit dem Fremden signalisieren: die Düfte der

213 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 114. / Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 42. 214 Andrian: Garten, S. 21. 215 Renner deutet darauf hin, dass Fiaker einer sozial niedrigen Stufe angehören. Scheible bemerkt, dass die Fiaker sogar die einzige legale Institution waren, die die Verbindung von der reicheren inneren Stadt zu den Vorstädten herstellte. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 111. / Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 41. 216 Renner und Rieckmann besprechen diese Szenen ausführlich. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 154-159, 168-181. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 71-74. Außerdem zitiert Rieckmann aus Andrians Tagebuch, um zu zeigen, dass auch Andrian das Gefühl der Erniedrigung nicht fremd war: “mir combinierten sich die beiden [Erniedrigung und α] so, daß ich mir sagte il n’y a pas de possi bilité plus grande que celle”. Vgl. Leopold von Andrian, Tagebucheintrag. Zitiert nach Rieckmann: “Knowing the other”, S. 70. 217 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 157. Wörter wie “schmeicheln”, “drängen”, “vereinigen”, “Glieder”, “Lippen”, “Liebkosung”, usw. haben tatsächlich eine sexuelle Konnotation. 45

Pflanzen, die sich vereinigen wollen, der Hinweis auf Mädchen, die wahrscheinlich Prostituierte darstellen, die Atmosphäre im Zimmer, das Teilen von Wein und Zigaretten, der Blickkontakt zwischen Erwin und dem Fremden und die Bitte um Feuer und um einen Almosen.218 Außerdem wäre zu ergänzen, dass Andrian später im Text subtil angedeutet hat, wie die erste Begegnung zwischen Erwin und dem Fremden eine sexuelle war, indem er über diese Begegnung noch schnell, quasi zwischendurch, Folgendes berichtet: “Am selben Abend stand [...] der Fremde vor ihm, mit dem er im Frühling sehnsüchtig nach Erkenntnis gegangen war”.219 Hier ist das Schlüsselwort für meine Interpretation “Erkenntnis”, denn auf der vorangehenden Seite hat sich herausgestellt,

daß es der wahrhaftigste Drang des Menschen sei, seinen Leib an den Leib eines andern Menschen zu pressen, weil in dieser geheimnisvollen Vernichtung des Daseins eine Erkenntnis ist.220 Andrians auf den ersten Blick unschuldig aussehender Bericht über Erwin und den Fremden, die “nach Erkenntnis gegangen” waren, ist nicht mehr unschuldig, wenn man weiß, dass man nach Erwin erst durch sexuelle Betätigung Erkenntnis erlangen kann. Außerdem verstärkt das Adverb “sehnsüchtig” die sexuelle Konnotation des Satzes. Im Abschnitt, in dem über die Senner und Führer berichtet wird, erinnern, wie schon viele Forscher bemerkt haben, folgende Sätze tatsächlich an eine animalische, niedrige Sexualität, was hindeutet auf den moralisch niedrigen Aspekt der Liebe für die sozial niedrigen Führer und Senner221:

Er stieg die Leiter hinunter und ging übers Heu, dort schliefen Senner und Führer; [...] nur manchmal wälzte sich einer von ihnen um oder seufzte, oder stöhnte ein Wort; unten aber brüllte das Vieh stoßweise und schmerzlich und lief voll Angst umher.222 Hieran schließt sich fast unmittelbar eine Darstellung von Erwins Gedanken über diejenigen, “die er jemals geliebt hatte”, und über die Zimmer, “in denen sie sich ihm gegeben hatten”, an.223 Obwohl hier, meiner Meinung nach, sehr explizit auf Sexualität angespielt wird, bemerkt Renner zu Recht, dass die Sinnlichkeit an dieser Stelle

218 Vgl. Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 76. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 72- 74. 219 Andrian: Garten, S. 35. 220 Andrian: Garten, S. 34. 221 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 45. / Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 77. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 169. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 71. 222 Andrian: Garten, S. 33. 46 mystifiziert, und dass dadurch das Erotische legitimiert wird.224 Auffallend ist aber, dass Andrian im Gegensatz zu dieser expliziten Darstellung des Triebhaften ein wenig später eine implizite Wortwahl anwendet, um über Erwins sexuelle Erlebnisse mit den Führern zu erzählen: “Dann stieg er hinunter und weckte die Führer. So lange sie in der Nacht weiter gingen, waren ihre Gesichter groß und geheimnisvoll [...]”.225 Hier wird eine implizite Wortwahl angewendet, um über Erwins sexuelle Erlebnisse mit den Führern zu erzählen. Nicht nur ist “weitergehen” hier sehr vage konnotiert, auch das Wort “geheimnisvoll” weist implizit darauf hin, dass es sich hier um Erwins homosexuelle Triebe handelt, denn das Wort “Geheimnis” wurde schon zuvor in der Erzählung mit dem Anderen, der Homosexualität also, assoziiert: “Er sagte „das Andere“ und hatte dabei das Gefühl, nach irgend eine Richtung erstrecke sich eine Welt, in der alles verboten und geheim sei [...]”.226 Interessant ist auch, dass Andrian nicht nur in oben genanntem Zitat, sondern auch in seinen Aufzeichnungen, die auf die Attraktion des sexuellen Niedrigen Bezug nehmen, über das Entdecken einer neuen Welt schrieb:

und ich habe das gewisse große Gefühl der Neugier, der Erwartung, des Gefühls, [sic] eine neue Welt zu sehn – ein physisches Gefühl, so wie die Angst vor eine[r] Prüfung. Ich habe das Gefühl in eine Welt neben der Welt einzutreten, ein ganz anderes Gefühlsleben vor mir zu sehen, eine Welt, von der unsre Welt keine Ahnung hat [...] – schäme mich vor mir selbst, daß ich so ganz diesem dumpfen Gefühl hingegeben bin. – Und sage zu meiner Entschuldigung, daß ja da sich ein Leben von Geheimnis [,] Räthseln, Gefahren, verborgenen Schönheiten sich mir öffnet [...].227 In der Erzählung ist diese andere Welt mit dem “Anderen” verbunden. “Das Andere” sucht Erwin, wie schon bemerkt, in den Fiakern. Auffallend ist aber, dass die Fiaker Erwin, trotz seiner großen Erwartungen, und obwohl zuvor eine erotische Atmosphäre hervorgerufen wurde, enttäuschen: er findet diese Welt nicht:

Manchmal in den Ferien fiel dem Erwin ein, daß ihm die Fiaker das „Andere“ nicht gezeigt hatten; auch die Welt verlor ihren Reiz für ihn, da ihr keine andere Welt, die sie verneinte, entsprach.228

223 Andrian: Garten, S. 33-34. 224 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 175. 225 Andrian: Garten, S. 34. 226 Andrian: Garten, S. 22. [Hervorhebung von mir, SVD] 227 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag. Zitiert nach Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 65. [Hervorhebung von mir, SVD] 228 Andrian: Garten, S. 23. 47

Sonst sollte auch bemerkt werden, dass nicht nur in Andrians Aufzeichnungen, sondern auch in der Erzählung die neue Welt “ein Leben von Geheimnis” mit sich mitbringt: “[...] eine Welt, in der alles verboten und geheim sei [...]”.229 Dazu passt Rieckmanns Behauptung, dass Erwin zum ersten Mal das Geheimnisvolle kennen lernt, als er Heinrich Philipp begegnet.230 Meiner Meinung nach ist dieser Abschnitt, in dem über die Beziehung mit Heinrich Philipp berichtet wird, deswegen interessant, weil zum ersten Mal das Triebhafte anhand einiger Ellipse nicht nur mystifiziert, sondern auch tabuisiert wird:

dann erfuhr der Erwin Worte, die er nicht gekannt, und die Bedeutung anderer Worte, die er nicht verstanden hatte; oder eigentlich erfuhr er nur, daß es eine Reihe von Geheimnissen gab, auch in dem, was ihm geheimnislos gewesen war, und daß es Dinge gab, die schlecht und verboten und zugleich reizvoll waren. Auch von Wien sprach Heinrich Philipp dann, aber in einem andern Ton wie sonst; und der Erwin verstand dunkel, daß eine Seite im Wiener Leben mit diesen verbotenen Worten irgendwie zusammenhing: die Opernbälle, die Sofiensäle, der Ronacher und das Orpheum und der Zirkus und die Fiaker.231 Hier schreibt der Autor sehr bewusst auf eine geheimnisvolle Weise über geheimnisvolle Sachen. Es wird über Worte, Geheimnisse und Dinge geredet, aber es wird verschwiegen, über welche Worte, Geheimnisse und Dinge geredet wird. Dennoch werden einige Hinweise gegeben in Bezug auf den Inhalt der verbotenen Worte, denn diese werden mit Opernbällen, den Sofiensälen, dem Ronacher, dem Orpheum, dem Zirkus und den Fiakern assoziiert. Die Sekundärliteratur hatte aber bisher kein Interesse für diese Worte. Nur Rieckmann hat sie in seinem Artikel kommentiert. Er hat ganz zu Recht festgestellt, dass die ersten Sachen nach den Bourgeoiswertauffassungen noch respektabel sind, dass die letzten aber nicht mehr so respektabel sind. Begründet hat er das aber nicht.232 Nicht nur deswegen, sondern auch, weil die einzelnen Worte in der Sekundärliteratur unberücksichtigt blieben, lohnt es sich, sie jetzt etwas näher zu erläutern. “Opernbälle” und “Fiaker” können leicht mit dem Hofleben und der hohen Aristokratie verbunden werden. Mit “Opernbälle” können die Bälle im Hofoper gemeint sein233, und “Fiaker” im Sinne von Kutscher, waren, wie schon bemerkt, trotz ihrer

229 Andrian: Garten, S. 22. 230 Rieckmann: “Knowing the other”, S. 67. 231 Andrian: Garten, S. 19. 232 Rieckmann: “Knowing the other”, S. 68. 233 1869 konnte man in die Hofoper an der Ringstraße einziehen, obwohl Kaiser Franz Joseph I. erst 1877 seine Zustimmung zu einem Tanzfest in seinem Opernhaus gab. Vgl. (24 April 2007). 48 niedrigen Herkunft, bei den oberen Schichten sehr beliebt.234 Die “Sofiensäle” verweisen auf ein Gebäude, das aus verschiedenen Sälen bestand. Der große Saal, der Sofiensaal, wurde im Sommer als Tanz-, Konzert- und Versammlungssaal benutzt und war im 19. Jahrhundert sehr populär.235 Das Wiener Extrablatt vom 2.4.1885 hat sogar Folgendes vermerkt: “Wien hat eigentlich nur einen einzigen eleganten Ballsaal, der allen Anforderungen entspricht – und das ist der Sophiensaal”.236 Der Ronacher, ein Theater, in dem während der Vorstellung getrunken, gegessen und geraucht werden durfte, lockte aber immer mehr Vorstadtbevölkerung und folglich immer weniger Aristokratie an.237 Meiner Ansicht nach hat Andrian sich absichtlich dazu entschieden das Orpheum238 hier zu erwähnen, weil der Name auf den mythologischen Dichter und Sänger Orpheus zurückgeht. Denn in der Erzählung wird nicht nur anhand des zweiten Mottos, sondern auch anhand des Fremden auf diese Figur hingewiesen.239 Außerdem scheute Orpheus, nachdem er seine Geliebte, Eurydike, nicht aus dem Totenreich hatte zurückholen können, sexuelle Beziehungen mit Frauen, nicht aber mit Männern.240 Anhand des Wortes “Orpheum” wird also implizit auf Homosexualität hingedeutet. Mit “Zirkus” ist dann eine noch niedrigere Freizeitaktivität gemeint, weil die Leute hier nicht nur von Menschen, sondern jetzt auch von Tieren unterhalten werden. Was nicht nur die Opernbälle und die Sofiensäle, sondern auch wohl den Ronacher, das Orpheum und den Zirkus miteinander verbindet ist das Tanzen. Dieses Tanzen ist ein wichtiges

234 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 40-41. 235 Auch im 20. Jahrhundert waren die Sofiensäle noch populär, aber 2001 zerstörte ein Brand die Säle. Vgl. (24 April 2007). / (24 April 2007). Weiteres über die Sofiensäle ist nachzulesen in Christoph Römer: Die Sofiensäle. Erfurt: Sutton Verlag 2004. 236 Zitiert nach (24 April 2007). 237 Im Etablissement Ronacher gibt es heutzutage immer noch Veranstaltungen verschiedener Art. Vgl. (24 April 2007). 238 Obwohl mir weder über Brockhaus noch über Internet deutlich geworden ist, welche Art Unterhaltung das Orpheum im Wiener Fin de Siècle brachte, steht fest, dass der Name “Orpheum” jetzt noch sehr oft für Unterhaltungsbühnen angewendet wird. Vgl. (24 April 2007). / (24 April 2007). / (24 April 2007). 239 Müller und Rieckmann bemerken, dass das zweite Motto ein Orphiker-Motto ist. (Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 96. / Rieckman: “Narziss und Dionysos”, S. 78.) Nach Rieckmann ist der Fremde die Verkörperung des griechischen Gottes Dionysos. (Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 60.) Zwischen Orpheus und Dionysos besteht ein Zusammenhang, denn Orpheus gilt als Gründer von Mysterienreligionen, die mit den dionysischen Mysterien verbunden sein sollten. (Vgl. Moormann, Eric M. / Uitterhoeve, Wilfried: Van Achilles tot Zeus. De klassieke mythologie in de kunst. Amsterdam/Nijmegen: Uitgeverij Maarten Muntinga bv/ Uitgeverij SUN 1997/3 (1987), S. 502.) 240 Moormann/Uitterhoeve: Van Achilles tot Zeus, S. 503. 49

Motiv in der Erzählung und ist außerdem mit dem Triebhaften verbunden.241 Die Fiaker können aber nicht direkt mit dem Tanzmotiv assoziiert werden, es sei denn dadurch, dass Pferdedroschken die Leute zu Opernbällen und anderen Tanzveranstaltungen fuhren. Trotzdem bekommen die Fiaker Gewicht, weil sie am Ende des Satzes erwähnt werden. Berücksichtigt man die Tatsache, dass sich später in der Erzählung herausstellt, wie die Fiaker für Erwin mit Homosexualität assoziiert werden, so kann man sagen, dass schon hier, mit dem Hinweis auf die Fiaker, auf Homosexualität angespielt wird. Nach Renner ist Andrians Homosexualität von seiner Familienkonstellation beeinflusst worden. Sie weist darauf hin, dass Andrian eigentlich keine richtige Vaterfigur hat, mit der er sich hätte identifizieren können, und schließt daraus, dass hier die Anfänge seiner Homosexualität zu finden seien.242 Das Fehlen der Vaterfigur am Anfang der Erzählung könnte also nicht nur auf den Schwund der Werte243, sondern auch auf die Homosexualitätsproblematik hinweisen. Im Gegensatz zu den anderen Interpreten, stelle ich mich auch die Frage, ob es Zufall wäre, dass Erwin im Alter stirbt, in dem sein Vater geheiratet hat: während sein Vater “um sein zwanzigstes Jahr herum”244 heiratete, wird der Erwin im Frühling, nach seiner ersten Begegnung mit dem Fremden, zwanzig und stirbt im Herbst darauf. Vielleicht teilt Andrian seinen Lesern auf diese Weise mit, dass Homosexuelle, im Gegensatz zu Heterosexuellen, in der Wiener Gesellschaft einfach nicht “überleben” können. Außerdem stellt sich auch am Anfang der Erzählung heraus, dass die Ehe zwischen Erwins Vater und Mutter eine problematische ist. Das könnte ein Hinweis auf die homosexuelle Problematik sein. Andrian selber war zweimal verheiratet, aber diese Ehen dienten nur dazu, seine Homosexualität zu verhüllen und den Schein zu wahren.245 Aber nicht nur das Verheimlichen seiner Homosexualität, auch die Angst vor dem Untergang seiner Familie quälte Andrian.246 Das Sterben des Fürsten am Anfang der Erzählung und des Fürstensohnes am Ende der Erzählung weisen meiner Meinung nach auf dieses Aussterben einer Familie hin. Im Garten der Erkenntnis wird Andrians Angst also Wahrheit.

241 Vgl. 2.2.1. Die narzisstische Selbstspiegelung, S. 26. 242 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 14, 15, 19. 243 Vgl. 2.1.1. Erwins Streben nach Orientierung, S. 15. 244 Andrian: Garten, S. 13. 245 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 37. 246 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 18, 37. 50

In der Erzählung ist das Anders-Sein, das heißt das Homosexuell-Sein, nicht nur verbunden mit Niedrigkeit, sondern auch mit “Schuld und Scham”. In der Erzählung kann man Erwins Schuldgefühl in Bezug auf Homosexualität nicht nur aus der Tatsache ableiten, dass die Gesichter der Führer in der Nacht “groß und geheimnisvoll” waren, und am Morgen auf einmal “häßlich und widerwärtig” wurden,247 sondern vor allem aus der Tatsache, dass danach von einem Fall berichtet wird: “In der folgenden Zeit war die Erinnerung an diese Nacht dem Erwin unangenehm; er war gefallen [...]”.248 Ein Schuld- oder Schamgefühl entstehe nach Schorske bei Andrian nicht, weil er sich nicht genug sexuell bewusst gewesen sei.249 In einigen anderen Studien wird aber explizit über Andrians Schuldgefühl den Eltern, der Kirche und dem Staat gegenüber berichtet.250 Vor allem aus Rieckmanns Beitrag, der viele Tagebucheinträge aufgreift und Andrians Homosexualität schlüssiger als Schorske argumentiert, stellt sich heraus, dass Andrian sich seiner Homosexualität sehr stark bewusst war und starke Schuldgefühle hatte.251 Auch anhand kleiner Verweise im Text, wird meiner Meinung nach auf Schuld und Homosexualität angespielt:

Auf dem Land kam Erwin vieles aus seinem bisherigen Leben wieder und rührte ihn: Abende, an denen er mit Clemens im Theater gewesen war, Spaziergänge mit seinem Hofmeister in Schönbrunn und die Morgen der Beichttage, an denen er früh aufstand.252 Obwohl nicht deutlich ist, ob Erwin tatsächlich an der Beichte teilnahm oder nur von diesen Tagen berichtet, wird mit diesem Hinweis an Schuld und Sünde erinnert. Meiner Ansicht nach werden “die Morgen der Beichttage” nicht zufällig gerade nach dem Bericht von Erwins Umgang mit und Abschied von Clemens erwähnt, denn – wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird – gab es zwischen Erwin und Clemens eine homosexuelle Beziehung.

247 Andrian: Garten, S. 34. 248 Andrian: Garten, S. 34. Auch Renner hat diese Stelle mit Schuldgefühlen verbunden. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 180. 249 Schorske: Wien , S. 315. 250 Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 202. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 62. 251 Rieckmann: “Knowing the other”. Erwin teilt dieses Schuldgefühl nicht nur mit Andrian, sondern mit jedem österreichischen Fin de Siecle-Bürger, der etwas machte, das nicht mit den traditionellen und rationellen Normen und Werten der Vätergeneration übereinstimmte. Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 46. 252 Andrian: Garten, S. 25. 51

3.1.1.2. Clemens Auch Clemens, dem Erwin nach seinem Fiakerabenteuer begegnet, wird als sozial niedriger Typ dargestellt. Auffallend ist, dass Clemens’ Niedrigkeit im Traum, der nach Freud als eine Wunscherfüllung zu betrachten sei253, sublimiert wird: “meistens war eine Seite an ihm [Clemens] gesteigert, er war verdorbener oder ärmer oder trauriger oder von einer anderen Schönheit”.254 Außerdem bin ich der Ansicht, dass die Clemensepisoden Schlüsselstellen in Bezug auf die Homosexualität sind. Paetzke hat Recht, wenn sie feststellt, dass im Gegensatz zu den Décadence-Romanen im Garten der Erkenntnis von keiner sexuellen Beziehung die Rede ist.255 Merkwürdig ist aber, dass sie nur eine, überhaupt die expliziteste Anspielung auf Homosexualität diskutiert, obwohl es in diesen Szenen mehrere gibt. Sie hat zu Recht bemerkt, dass das Besprengen mit Parfüm und das Schenken der Stoffe, Armbänder und Zigaretten auf homosexuelle Erotik hinweist.256 Meiner Meinung nach suggeriert Andrian das Triebhafte und Erotische in den Clemensabschnitten aber sehr häufig. Gleich nach der Beschreibung, wie Erwin Clemens ausschmückt, folgt dieser, in diesem Kontext bedeutender, Satz: “Oft gingen sie auch zu den Heurigen vor die Linie und zu den großen Militärkapellen”.257 Die zwei Kernworte in diesem Satz, “Heurigen” und “Militärkapellen”, weisen beide auf triebhaftes Leben hin. Heurige einerseits sind Lokale, wo junger Wein getrunken wird und wo der sinnliche Teil des Lebens befriedigt wird. Militärkapellen andererseits werden mit Soldaten assoziiert, die im Allgemeinen der niedrigen Klasse angehörten, und mit dem Instinktiven und Triebhaften verbunden werden. Auf diese Weise wird mit Erwins und Clemens’ Besuch der Militärkapellen sehr subtil auf das Triebhafte ihrer Beziehung angespielt. Am Ende des Abschnitts, in dem über Clemens’ Abfahrt berichtet wird, wird das Triebhafte symbolisch suggeriert anhand der Kerzen im Zimmer: “Dann begannen ihnen die Kerzen aufzufallen”.258 Mit

253 Die Ansicht, dass Träume Wunscherfüllungen darstellten, formulierte Freud, der als einer der größten revolutionären Denker des Wiener Fin de Siècle gilt, zum ersten Mal 1902 in seiner Traumdeutung. (Vgl. Schorske: Wien , S. 169.) Bemerkenswert ist aber auch, dass schon Andrian sich in seinen Aufzeichnungen mit der Deutung von Träumen beschäftigte: “Wie entsteht der Traum, was für ein Theil der Seele ist es [,] die sich im Traum ausläßt [,] ihre Macht im Traum zeigt? Ich glaube der unterdrückte Theil [,] der instinctive gegenüber dem bewußten.” (Vgl. Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom Juli-September 1896. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 214 (Fußnote 186).) (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 254 Andrian: Garten, S. 25. 255 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 38. 256 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 37-38. (Vgl. Andrian: Garten, S. 23-24.) 257 Andrian: Garten, S. 24. 258 Andrian: Garten, S. 25. 52

Renner kann man der Meinung sein, dass diese Kerzen als Phallussymbole betrachtet werden können.259 An noch einer anderen Stelle wird das Triebhafte anhand des Rhythmus suggeriert:

eine Liebe ihrer selbst oder eine Liebe zu einander oder eine Liebe zu allem, was sie geliebt hatten, oder eine Liebe zu diesem österreichischen Vaterland, das ja alles gab und vor dem kein Entrinnen war.260 Klienebergers Ansicht, dass aus diesem Satz herausgelesen werden kann, wie Erwin und Clemens einen ästhetischen Patriotismus entwickeln, ist zuzustimmen.261 Während meiner Lektüre fiel mir aber viel mehr als nur das auf. Beim Lesen dieses Satzes stellt sich heraus, dass die Parallelen im ersten Teil des Satzes (bis zur Wortgruppe “was sie geliebt hatten”) sehr kurz sind und schnell aufeinander folgen. Es wird hier an ein Schnaufen vor Aufregung erinnert und eine orgiastische Erfahrung suggeriert. Der zweite Teil des Satzes (ab “oder eine Liebe zu diesem österreichischen Vaterland”) kann meiner Meinung nach aber zweideutig interpretiert werden. Einerseits ist es merkwürdig, dass dieser Teil lang ist und kein rasches Tempo mehr suggeriert. Auf inhaltlicher Ebene ist hier denn auch vom österreichischen Vaterland die Rede, das (homo)sexuelle Neigungen abwehrte. Es ist also plausibel, dass die orgiastische Erfahrung des ersten Teils des Satzes im zweiten Teil verdrängt wird. Andererseits kann man den zweiten Teil auch als Höhepunkt der orgiastischen Erfahrung betrachten. Wien wird mehrmals in der Erzählung mit Homosexualität verbunden. Im Abschnitt, in dem von Heinrich Philipp die Rede ist, wird Wien mit dem “Geheimnisvollen” und “Verbotenen” assoziiert.262 Und schon zuvor war die Rede von “verweichlichenden Freuden der Ausgangstage in Wien”.263 Bemerkenswert ist im Kontext der Besprechung des Triebhaften auch, dass Erwin es liebt “mit ihm [Clemens] in den Prater zu fahren”.264 Der Wiener Prater ist eine Parkanlage die – nachdem Joseph II. sie zur allgemeinen Benutzung freigesetzt hatte – nicht nur zu einem Zentrum der

259 Renner: “Garten der Erkenntnis” , S. 133. 260 Andrian: Garten, S. 24. 261 Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 623. 262 Andrian: Garten, S. 19. 263 Andrian: Garten, S. 16. 264 Andrian: Garten, S. 23. 53

Unterhaltung, sondern auch der Prostitution wurde.265 Vielleicht wird hier auf eine implizite Weise klargemacht, dass das Verhältnis zwischen Erwin und Clemens nicht nur als triebhaft, sondern, schlimmer noch, auch als moralisch fragwürdig zu betrachten ist. Wegen der sexuellen Suggestivität des Textes wird Paetzkes Behauptung, dass Clemens asexuell wirke266, ins Schwanken gebracht. Zwar bin ich damit einverstanden, dass Clemens unpersönlich wirkt, aber aus einem anderen Grund als Paetzke, die ihn als ästhetisches Objekt betrachtet, während Clemens eher unpersönlich wirkt, weil er ein Amalgam vieler Personen darstellt. Denn aus der Beschreibung seines Äußeren267 wird deutlich, dass er Merkmale aller anderen Leute in sich trägt, denen Erwin begegnet. Er hat eine “Schönheit der späten Zeiten”, gerade wie die Kurtisane eine “Schönheit der späten Büsten” hat.268 Er ist “pathetisch unschuldig”, was erinnert an die Darstellung der Sängerin. Wie der Fremde ist Clemens auch niedrig, wie Lato hat auch Clemens lichtes Haar, und überdies hat er die Stimme des Offiziers. Obwohl keine direkte Anspielung auf Erwins Mutter vorliegt, erinnert der Hinweis auf Clemens’ Stimme an die Hervorhebung der Stimme (und Hände) bei der Mutter. Außerdem ist es nicht nur auffallend, dass Andrian Erwin von allen Leuten, die er gern hat, nur Clemens’ Namen aussprechen lässt, sondern auch, dass in der Clemensepisode über Clemens und Erwin in einer Doppelperspektive erzählt wird 269, als ob den Lesern hier mitgeteilt werden müsste, dass sie ein Paar sind. Dass Clemens so ein Amalgam vieler Personen darstellt, dass der sonst so schweigsame Erwin Clemens’ Namen ausspricht, dass Andrian über Clemens und Erwin anhand einer Doppelperspektive erzählt, und dass Erwin am Ende seines Lebens wiederholt an Clemens zurückdenkt270, sogar Clemens mit dem Offizier aus Bozen verwechselt271, weist auf Clemens’ Wichtigkeit, nicht nur für Erwin, sondern auch für Andrian, hin.

265 Vgl. Brockhaus: Band 17, S. 454. / (April 2007). Weiteres über den Wiener Prater kann gefunden werden in Hans Pemmer / Nini Lackner: Der Prater: von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neu bearbeitet von Günter Düriegl und Ludwig Sackmauer. Wien: Jugend und Volk Verlag, 1974. 266 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 37. 267 Andrian: Garten, S. 23. 268 Andrian: Garten, S. 23, 28. 269 Auf die Doppelperspektive weist Bucher-Drechsler hin. Vgl. Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 336. 270 Andrian: Garten, S. 40, 42. 271 Andrian: Garten, S. 42: “Da erschien ihm jemand und er wußte nicht genau, ob es der Clemens war oder jener Lieutenant, der einst mit ihm nach Bozen fuhr”. 54

Denn Andrian hat mit Clemens seine eigene Jugendliebe, Slamecka, darzustellen versucht. Die problematische Beziehung zu diesem Freund war für Andrian schon in früheren Gedichten Schreibanlass gewesen. Außerdem hieß diese Jugendliebe mit Vornamen Erwin. Also nicht nur die Figur “Clemens”, sondern auch der Name “Erwin” – auf den schon im Liebeszyklus Erwin und Elmire angespielt wurde – ist eine Anspielung auf Andrians eigene Homosexualität.272 Auch Renner berichtet darüber, dass erst mit den Problemen mit Slamecka der Impuls zum Dichten entstand.273 Der Garten der Erkenntnis kann denn auch nicht nur als autobiographische, sondern auch als therapeutische Erzählung betrachtet werden. Denn der Grund, weshalb Andrian in der Erzählung das Lebensproblem der Homosexualität anführt, kann Lebensbewältigung sein. Nach Renner kann der Akt des Schreibens entweder als Durcharbeitung/Katharsis oder als Reaktivierung eines Konflikts betrachtet werden.274 Meiner Meinung nach ist es nicht nur klar, wie man in diesem Sinne nicht nur den Abschied und die Verfremdung von Clemens, sondern auch das Ende der Erzählung betrachten soll. Einerseits werden die Verfremdung von Clemens und der Tod des Helden negativ betrachtet, da das Ziel der Suche, Erkenntnis zu finden, nicht erreicht ist. Andererseits ist es denkbar, dass Erwin sich von Clemens verfremdet und stirbt, damit Zuschauer und Autor eine Katharsis erleben können. Auf jeden Fall fühlte Andrian sich durch das Schreiben sicherer275, so dass folgendes Zitat, das ironischerweise Karl Kraus, heftigem Kritiker Andrians, zuzuschreiben ist276, auch auf Andrian zutrifft: “Nur in der Wonne sprachliche Zeugung wird aus dem Chaos eine Welt”.277

272 Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 202. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 33. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 66. 273 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 64. 274 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 64. 275 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 66. 276 Vgl. 1. Einleitung, S. 8. 277 Karl Kraus: Pro Domo et Mundo. München: Langen 1912. Zitiert nach Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 67. Schon schnell aber hat Andrian wegen psychischer Erkrankung nach dem Garten der Erkenntnis aufgehört zu schreiben. (Vgl. 4.1.2. Das Krankhafte: “Sie lieben alles was seltsam und krank ist”, S. 120.) 55

3.1.1.3. Das Konvikt Sowohl bei Andrian als auch bei vielen Zeitgenossen sind die homosexuellen Gefühle im Konvikt entstanden.278 Scheible behauptet sogar, dass die Sexualität schon im Konvikt als bedrohliche Macht erfahren worden sei, und dass die Angst vor Sexualität hier schon in Wahrheit Angst vor den eigenen homosexuellen Strebungen gewesen sei.279 Er begründet das aber nicht textuell, obwohl sich schon aus Sätzen auf der zweiten Seite homosexuelle Anspielungen herauslesen lassen:

Doch im Konvikte war er den ganzen Tag mit dreißig Kameraden zusammen, von denen jeder seine Aufmerksamkeit erzwingen und in sein Leben eingreifen konnte. Dennoch mußten sie seiner Seele fremd bleiben und so schienen ihm ihre Eingriffe eine unerträgliche Willkür, sie aber fürchtete er als tückische Feinde. Trotzdem sah er ein, daß sein Leben in ihrer Gewalt war, und er begann über das Einzige, was er an ihnen zu verstehen glaubte, nachzudenken: über ihre Worte. Diesen legte er zu große Wichtigkeit bei und sie verwirrten ihn vollends; denn sie wechselten leichthin gesprochen; und ebenso wechselnd bedeutungsvoll und unverständlich waren ihm seine neuen Kameraden. Aber auch sein Leben, das von ihnen abhing, verstand er nicht; [...] Dieses Leben war wie eine fremde Arbeit, die er verrichten mußte[...].280 Die meisten Forscher lesen diese Sätze mit gutem Grund im Rahmen von Erwins Realitätsverfremdung.281 Meiner Meinung nach wird in diesen Sätzen aber zugleich die Homosexualitätsproblematik laut. Der Gebrauch des Adjektivs “fremd” zum Beispiel bestätigt nicht nur Erwins Entfremdung, sondern kann als Vorausdeutung auf den Fremden, der homosexuelle Züge hat, verstanden werden. Infolgedessen wird schon hier auf die Homosexualität hingewiesen. Es ist auch auffallend, dass die Kameraden seiner Seele, dem Geistigen also, fremd blieben, was impliziert, dass sie seinen Körper, der mit dem Triebhaften assoziiert wird, nicht fremd blieben. In diesem Kontext ist es, meiner Ansicht nach, nicht unangemessen zu behaupten, dass die Eingriffe in sein Leben sexuelle Eingriffe sind. Wörter wie “erzwingen”, “eingreifen”, “Eingriffe” und “Feinde” können, wie Renner und Paetzke auch nahe legen, einerseits auf Bedrohung hinweisen,282 andererseits suggerieren, dass Erwin sich den Anderen und der Homosexualität widersetzt. Außerdem bin ich der Meinung, dass die Worte, die

278 Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 62. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 31-32. 279 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 34-35. 280 Andrian: Garten, S. 14. 281 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 29-30. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 78- 81. / Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 34. 282 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 29. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 81. 56 verwirren, nicht nur wortwörtlich, sondern auch als pars pro toto verstanden werden können, wenn man sie, den nächsten Satz berücksichtigend, liest. Denn es ist möglich, dass nicht die Wörter, sondern die Kameraden selber verwirren, wird doch über sie berichtet, dass sie “ebenso wechselnd bedeutungsvoll und unverständlich” sind, und dass sie die Wörter aussprechen. Überdies ist hier die Rede von “Willkür”. Nach Renner ist Homosexualität mit Willkür verknüpft.283 Wird in diesem Abschnitt wortwörtlich die Willkür erwähnt, so ist auch der Abschnitt, in dem sich das Bild der Schatzhöhle befindet, indirekt von Willkür gekennzeichnet. Deswegen werde ich auf diesen Abschnitt, als Exkurs, näher eingehen. Auch wenn verschiedene Forscher das Bild der Schatzhöhle besprochen haben, so werden doch immer wieder die homosexuellen Anspielungen vernachlässigt.284 Der Abschnitt fängt nicht zufällig mit folgendem Satz an: “In die Stadt zurückgekehrt, litt er unter Wien”.285 Wie ich schon zuvor bemerkt habe, wird Wien im Text häufig mit Homosexualität verbunden. Deswegen wirkt dieser Satz doppeldeutig: Einerseits kann man ihn wortwörtlich interpretieren, andererseits kann man daraus schließen, dass Erwin unter seiner Homosexualität litt. Mit diesem doppeldeutigen Satz wird hier schon nahe gelegt, dasjenige, was folgt, auch im Kontext der Homosexualität zu lesen. Auch die Tatsache, dass die Willkür hier problematisiert wird, indem Erwin ganz willkürlich Sachen beziehungsweise “Erden” sammelt, bestätigt, dass es die Homosexualität ist, die auf Erwin lastet:

und so suchte er mühselig zusammen zu raffen, worauf sein Auge fiel [...] Er war wie ein Jüngling in der Höhle, in der sich alle Schätze der Welt zu verschiedenfarbigen Erden verzaubert befinden; das eine Wort, das sie verwandelt, wird ihm ein gottesfürchtiger Greis sagen; [...] und weil er das Wort nicht weiß, so weiß er nicht, mit welchen Erden er sich beladen soll, denn alle sind ähnlich, obwohl die einen Bernstein, Korallen, Onyx, Jaspis, Chrysopras geben und andere Metalle und einige Diamanten und manche Agate, Türkise, Saphire, Aquamarine und eine die schwarzen, grünen, blaßgelben, rosigen, milchfarbigen Perlen und wieder eine die Opale, die er so sehr liebt.286

283 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 114. 284 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 137-144. / Stix: “Der Sonderfall”, S. 484. / Gottfried Stix: “Leopold von Andrian und die Krise des Fin de siècle”. In: Akten des Internationalen Symposiums. ‘Arthur Schnitzler und Seine Zeit’. Hg. von Giuseppe Farese. Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A – Band 13. Bern e.a.: Peter Lang 1985, S. 288-289. 285 Andrian: Garten, S. 26. 286 Andrian: Garten, S. 26-27. 57

Meiner Meinung nach, kann man aus dieser Stelle nicht nur eine narzisstische Problematik herauslesen – Menschen sind für Erwin austauschbar287 –, sondern auch, dass Erwin nicht weiß, mit welchen Männern er umgehen soll (Vgl. “mit welchen Erden er sich beladen soll”). Willkür und Austauschbarkeit stellen sich als Hauptproblem dar. Außerdem erinnert das Wort “ähnlich” an die Szene mit den Fiakern, die den jungen Herrn ähnlich sind, und könnte also ebenfalls auf die homosexuelle Thematik anspielen. Auffallend ist sonst noch, dass bis zum Ende der Erzählung Ähnlichkeit, Austauschbarkeit und Willkür auftreten bzw. dargestellt werden, denn auch im Traum am Ende der Erzählung wird auf die Ähnlichkeit der reisenden Männer (und also die Homosexualitäts- und Narzissmusproblematik) angespielt. Wichtig in oben zitiertem Abschnitt ist weiter auch “ein gottesfürchtiger Greis”. Denn die Willkür kann erst dann aufgehoben werden, wenn dieser Greis Erwin ein Wort mitteilt. In der Sekundärliteratur wird die Anwesenheit dieses alten Mannes sehr häufig vernachlässigt. Obwohl Stix von seiner Anwesenheit berichtet und behauptet, dass Erwin ihn nicht sieht, da er selber nicht gottesfürchtig ist, sucht er nicht nach einem Grund, weshalb Andrian ihn dort erwähnt.288 Nicht nur die Tatsache, dass ein Greis, also eine ältere Person, nötig ist, sondern auch, dass der Greis gottesfürchtig sein soll, weisen meiner Meinung nach darauf hin, dass dieser Greis der Vätergeneration angehört. Ich glaube denn auch, dass Andrian hier deutlich zu machen versucht, dass erst durch die Teilnahme an der rationalisierenden und verdrängenden Tradition der Väter, für die der Greis Symbol steht, die problematischen homosexuellen Gefühle verschwinden werden. Trotzdem stellt sich aber später in der Erzählung heraus, dass das Verdrängen der triebhaften, homosexuellen Gefühle für Erwin fatal ist.289 Wie schon bemerkt wurde, sollte auch Erwins Reaktion auf Latos Tod im Kontext der Austauschbarkeit und Willkür verstanden werden, weil am Beispiel dieses Todes eben die Austauschbarkeit von Erwins Freundschaften zum Ausdruck kommt.290 Es ist dann auch vor allem die Freundschaft mit Lato, die im Kontext der Homosexualität in der Konviktszene auffallend ist. Der Name “Lato” erinnert klanglich an Plato, was interessant ist in einer Besprechung der Homosexualität, in Anbetracht von Platos Philosophie des Eros, in deren Zentrum die erotisch inspirierte, doch auf sinnliche

287 Vgl. 2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 32-33. 288 Stix: “Leopold von Andrian und die Krise des Fin de siècle”, S. 289. 289 Vgl. 4.1.2. Das Kranhafte: “Sie lieben alles was seltsam und krank ist”, S. 114. 58

Erfüllung verzichtende Freundschaft zwischen zwei Männern stand.291 Außerdem gibt es in der Erzählung noch andere Hinweise auf Platos Lehre, worauf ich später noch zu sprechen komme.292 Vielleicht ist es kein Zufall, dass Andrian das “P” aus dem Namen “Plato” fallengelassen hat. Der Wegfall des Buchstaben “P” ließe sich interpretieren als

Verabschiedung der religiösen Werte, denn das Christogram gleicht dem Buchstaben “P”.293 Vielleicht wollte Andrian seine Leser auf diese Weise davor warnen, dass in seiner Erzählung die religiöse Thematik von der homosexuellen untergraben wird. So ist es zum Beispiel am Anfang der Erzählung nicht deutlich, ob Erwin nach dem Kampf zwischen Kirche und Welt, der nach Renner keinen geistlich- ideellen Wert hat294, die Seite der Kirche oder die der Welt gewählt hat. Mit dem Nennen seines Freundes Lato im nächsten Abschnitt wird aber an Homosexualität erinnert. Auf diese Weise werden die christlichen Werte untergraben. So ist auch die Ansicht zu vertreten, dass Andrian schon vor diesem Kampf anhand des folgenden kurzen Abschnittes sehr subtil die religiöse Thematik untergraben hat:

Etwas später bekam der Erwin eine sehnsüchtige Neigung für alles im Leben um ihn, worin die Ruhe zu sein schien: Für die sanften Kongreganisten, mit denen er sich befreundete, für die meditierenden Patres, denen man im Park begegnete, für die Funktionen in der Kirche und besonders für die entlegenen Teile des Kollegiums, wo versteckte Kapellen namenloser Heiliger lagen und auch das Bad.295 Obwohl mit den Worten “und auch” der Eindruck erweckt wird, dass der Hinweis auf das Bad nur eine Nebensache ist, interessiert dieses Wort, das ganz am Ende dieses langen Satzes steht, in diesem Kontext am stärksten. Es ist nicht unmöglich, dass Andrian mit dem Adjektiv “versteckte”, das in einer der vorangehenden Wortgruppen auftaucht, den Leser warnt, dass in dem, was folgt, auch etwas versteckt ist. Denn das Bad kann hier doppeldeutig interpretiert werden: einerseits dient ein Bad zur Reinigung, andererseits hat es auch eine sexuell geladene Konnotation, denn im Bad befinden sich

290 Vgl. 1.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 33. 291 Brockhaus: Band 10, S.220. 292 Vgl. 4.2.1. Lockruf der Schönheit, S. 124-125. 293 Professor Biebuyck hat mir auf diesen Zusammenhang zwischen “P” und “ ” hingewiesen. Dieses christliche Symbol stellt eine Kombination der griechischen Buchstaben Chi (χ) und Rho (ρ) dar. Vgl. Brockhaus: Band 4, S. 562. 294 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 89. 295 Andrian: Garten, S. 14-15. 59 auch andere Männer.296 Und obwohl danach in der Erzählung nicht viel Explizites mehr über Erwins Beziehung zur Kirche gesagt wird, gibt es noch einige Hinweise auf Religion. Auch an diesen Stellen kann manchmal eine Untergrabung der religiösen Thematik wahrgenommen werden. In der Sekundärliteratur wird in diesem Kontext mehrmals auf den Abschnitt hingewiesen, in dem Erwin mit einem alten Priester in Bozen einen Spaziergang macht. Scheible zum Beispiel weist zu Recht darauf hin, dass die physikalischen Kenntnisse des Priesters Erwin mehr interessieren als sein Priestertum. Wichtiger aber ist, dass das Tun des Priesters blasphemisch ist, weil er den Schöpfungsakt manipuliert.297 Und Renner weist nicht nur darauf hin, dass der Priester zugleich Physiker und Zauberer ist, sondern auch, dass er die Macht hat, in anderes Leben einzugreifen.298 Trotzdem haben die Forscher offensichtlich nicht bemerkt, dass die homosexuelle Thematik auch in diesem Abschnitt untergrabend wirkt:

Diese [die Wissenschaft] schien dem Erwin zwar bedeutungslos, aber dennoch hörte er auf die Erzählung von den Magneten, vom Wechsel der Farben und von der Anziehung der Stoffe, so wie er als Kind auf die Erzählung von Zauberern hörte, da er schon wußte, daß es keine Zauberer gab.299 Es fällt auf, dass Erwin sich trotz seines Desinteresses für die Wissenschaft doch für die Erzählungen über Anziehung und Variation interessiert. Meiner Meinung nach interessieren diese Erzählungen ihn nur, da sie ihn an seine eigene homosexuelle Lage erinnern. Denn, wie ich in diesem Abschnitt schon zu verdeutlichen versucht habe, auch er kennt bereits das Gefühl der Anziehung und obwohl in der Erzählung bisher vor allem von Lato die Rede war, stellt sich heraus, dass Erwins Liebhaber auch variieren. Manchmal wird dann auch auf andere Kameraden hingewiesen, die, im Gegensatz zu Lato, ungenannt bleiben. Wenn der Leser im Text über “einen Kameraden”‚ “eine[n] Polen” oder “einen Neueingetretenen” liest300, wird das Gefühl hervorgerufen, dass mit dem Verschweigen der Namen auch versucht wird, die Homosexualität zu verschweigen. Diese Anonymität kann auch den Wunsch nach einem anonymen, willkürlichen Liebhaber spiegeln. Außerdem wird in diesen drei Beispielen anhand des Gebrauchs des unbestimmten Artikels auf Willkür hingewiesen.

296 Auch mit dem Hinweis auf die “Sofiensäle”, liegt eine Anspielung auf das Baden vor, denn der Sofiensaal, auch Sofienbadsaal genannt, wurde im Winter als Schwimmhalle benutzt. Vgl. (24 April 2007). 297 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 38-39. 298 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 104-105. 299 Andrian: Garten, S. 20. 60

3.1.1.4. Der Fremde Wie auch Orosz bemerkt, gibt es in der Erzählung nicht nur eine religiöse, sondern auch eine mythologische Ebene.301 Gerade wie in der Sezession griechische Mythen und Symbole benutzt wurden, um das Instinktive zu zeigen302, wird auch im Garten der Erkenntnis anhand des homosexuellen Fremden303 auf den griechischen Gott Dionysos angespielt, dessen Festen mit dem triebhaften Leben zusammenhängen.304 Wie Clemens, ist auch der Fremde ein Amalgam verschiedener Personen. Erwin erkennt das Gesicht seiner “Geliebten” in ihm, Renner betrachtet den Fiaker, der als “starr und doch seltsam lebend” beschrieben wird, als eine Präfiguration des Fremden, und Rieckmann weist nicht nur darauf hin, dass Clemens sozial verbunden ist mit dem Fremden, sondern auch, dass er, wie der Lieutenant aus Bozen, nicht sehr elegant ist.305 Der Fremde, dessen Aussehen sich bei jeder Begegnung ändert, gleicht auch Erwins Vater, über den berichtet wird, dass “sein Gesicht von Woche zu Woche wechselte”.306 Außerdem weist Renner darauf hin, dass Erwin nach dem “Fall” seine Triebregungen im Fremden, im Anderen widergespiegelt sieht. Verschiedene Kritiker betrachten den Fremden denn auch als Wiederkehr oder Projektion des Verdrängten, des unintegrierbaren Triebhaften.307 Nicht bemerkt haben sie aber, was dennoch sehr auffallend ist: dass es nach Erwins “Fall” weniger explizite und implizite Hinweise auf Homosexualität gibt, als ob diese Anspielungen nach dem “Fall” nicht nur von Erwin, sondern auch vom Autor stärker verdrängt worden wären. Dennoch kann im folgenden Zitat ein sehr subtiler Hinweis auf Erwins Begeisterung für Knaben beobachtet werden:

im Museum bewegte ihn seltsam ein Basrelief aus spät griechischer Zeit: Mithras- Helios auf einem Stier brachte den Tag; aus den Nüstern des Stiers sprühte die Helle, weil sie ein Knabe mit abgewandtem Anlitz an seiner Fackel entzündete;308

300 Andrian: Garten, S. 16, 20, 21. 301 Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 69. 302 Schorske: Wien , S. 205. 303 Vgl. 3.1.1.1. Das Andere, S. 45. 304 Rieckman: “Narziss und Dionysos”, S. 70. 305 Vgl. Andrian: Garten, S. 22, 30. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 158. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 72. 306 Andrian: Garten, S. 13. 307 Vgl. Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 78. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 183-185. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 75. / Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 45. 308 Andrian: Garten, S. 40. 61

Renner hat schon darauf hingewiesen, dass dieses Bild nicht logisch ist, weil eigentlich gemeint ist, dass der Stier Feuer sprüht und der Knabe daran die Fackel anzündet. Sie gibt aber keine Erklärung dafür, begnügt sich mit der Feststellung, dass diese Alogik bezeichnend ist für Andrians Schreibweise.309 Mag schon sein, aber meiner Meinung nach ist die Logik hier auch verdreht, weil auf diese Weise deutlich wird, dass Knaben für Erwin große Macht ausstrahlen. Bei der dritten Begegnung mit dem Fremden betrachtet Erwin den Fremden nur noch als Feind. Nach Renner ist er zum Feind geworden, weil Erwin nicht mehr zum Verdrängen seiner Triebe fähig war. Sie weist unter anderem auf Erwins Fluchtverhalten hin, das sie mit folgendem Passus illustriert310:

Es war die Furcht der Träume, in denen man auf der Straße zwischen vielen Menschen geht, und auf einmal überfällt uns unser Feind, und wir müssen mit ihm ringen; aber auf beiden Seiten gehn die Menschen weiter, und sie helfen uns nicht, denn unsere Luft, weil wir sie atmen, ist eine andere wie die ihre, und sie hören unser Schreien nicht und sehn uns und unsern Feind nicht und wir müssen allein mit ihm kämpfen.311 Vor allem das Bild der anderen Luft ist hier interessant, weil es rätselhaft und vage wirkt. Dennoch blieb dieses Bild in der Sekundärliteratur bisher unberücksichtigt. Suggeriert nicht diese andere Luft auch die triebhafte Homosexualität? Schließlich sind es doch gerade Erwin, der an seinem Trieb für Männer leidet, und der Fremde, die Projektion von Erwins Trieb, welche diese Luft atmen, und überdies wird explizit auf das Anders-Sein hingewiesen. Bemerkenswert ist, dass die Luft auch an allen vorangehenden Stellen mit dem Triebhaften verbunden ist. So wird, gerade bevor Erwin dem Fremden zum dritten Mal begegnet, Folgendes berichtet: “es war derselbe Regen wie im Frühling und auch die Luft war dieselbe”.312 Rückblickend auf die ganze Erzählung, stellt sich heraus, dass die Luft im Frühling mit dem Triebhaften verbunden war, denn “blau von Rauch und schwer vom Atem der vielen Menschen”313 kann sie assoziiert werden mit der triebhaften Atmosphäre im niedrigen Haus. Auch an der Stelle, wo über Erwins Erlebnisse auf der Alm berichtet wird, lässt sich die Luft, noch deutlicher als in der Vorstadt, mit dem Triebhaften verknüpfen:

309 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 201. 310 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 207-208. 311 Andrian: Garten, S. 41. 312 Andrian: Garten, S. 40. 313 Andrian: Garten, S. 29-30. 62

Aber die Luft! Es war eine Luft, die man fühlt, eine körperliche Welt zwischen den Welten von Himmel und Erde, eine Luft wie die Gestalten der Morgenträume, die uns nicht berühren und durch die wir dennoch sündigen.314 Die Luft wird hier also mit der körperlichen Welt und mit Sünde in Verbindung gebracht. Auffallend ist aber auch, dass die Luft im eben angeführten Zitat (am Ende der Erzählung) mit dem Pronomen der ersten Person plural “uns” verbunden wird. Wie schon bemerkt, behaupten Theodorsen und Renner, dass mit diesem Pronomen die Jung Wiener Gruppe angeredet wird, die sich nicht mehr mit dem rational-liberalen Weltbild der Väter identifiziert.315 Mir scheint, dass sie dabei aber den Gebrauch des Pronomens völlig unberechtigt verallgemeinert haben, denn, wie schon bemerkt, ist an dieser Stelle von “anderer” Luft die Rede. Deshalb ist es plausibel, dass diejenigen, die “anders” sind, die Homosexuellen, hier angeredet werden. Diese Sätze implizieren auch, dass Homosexuelle mit ihren Problemen in der österreichischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende nicht verstanden wurden. Hinzu kommt noch, dass anhand des ignorierenden Verhaltens der Menschen auf der Straße und anhand des Bildes der anderen Luft die Außenseiterposition des Homosexuellen betont wird. Außerdem wird deutlich gemacht, dass Homosexualität keine Wahl ist, dass sie jemanden überfällt. Nicht unwichtig ist schließlich, dass, während Erwin am Ende der Erzählung erkrankt im Bett liegt, Folgendes erzählt wird: “[...] noch immer war er vom Leben durch eine andere Luft getrennt”.316 Das Anders-Sein sollte also als lebensbedrohendes Problem betrachtet werden. Im Gegensatz zu dem furchtbaren Zweikampf, ist der Kampf der Kirche gegen die Welt am Anfang der Erzählung hoffnungsvoller. In diesem Kampf wird auch auf Homosexualität angespielt. Zuerst taucht in diesem Bild zweimal das Wort “fremd’ auf:

[...] zu einem Vorwand für die beiden großen ebenbürtigen Gegner, einander gegenüber zu stehen, die fremde Herrlichkeit zu bewundern, und an der fremden Größe der eigenen gewahr zu werden;317 Wie schon zuvor bemerkt, erinnert dieses Wort an den Fremden, der mit Homosexualität assoziiert wird.318 Dann wird in der Umschreibung der Gegner verhüllt auf das Triebhafte verwiesen: “so wie wenn [...] zwei Helden [...] mit gesenkten Lanzen

314 Andrian: Garten, S. 33. 315 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 34. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 299-301. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 141. 316 Andrian: Garten, S. 42. 317 Andrian: Garten, S. 15. 63 und geöffneten Visieren fast des Kampfes vergessen [...]”.319 Lanze und geöffnetes Visier sind sexuell konnotiert. Ich bin denn auch mit Renner einverstanden, die bemerkt hat, dass Liebe und Gegnerschaft in diesem Kampf miteinander verbunden sind.320 Auch in der Fiakerszene wird die Liebe doppeldeutig dargestellt. Scheible weist zu Recht darauf hin, dass bei der Beschreibung des Fiakers, der Erwin so gefiel, das Bild einer Umarmung hervorgerufen wird321:

seine [der Fiaker] Pferde hatten Bouquetten von Veilchen im Geschirr, er aber saß da, etwas nach vorne gebeugt, die Zügel hoch und weit auseinander gehalten, mit einer gesuchten Gebärde der Arme, starr und doch seltsam lebend, wie eine graziöse und etwas manierierte Zeichnung in der manierierten Eleganz seines Zeugels.322 Rieckmann fügt aber hinzu, dass das Bild nicht nur Umarmung sondern auch Dominanz aufruft. Er betont, dass man hieraus den Wunsch lesen kann, von einem niedrigen Fiaker unterworfen zu werden.323 Auch aus der Sängerin-Szene kann ein Unterwerfungswunsch herausgelesen werden, wie Renner ausführt: im Gegensatz zur Sängerin, die einen dominierenden Typ darstellt, nimmt Erwin die Rolle eines Unterworfenen an, und dieser Unterwerfungswunsch lässt sich mit Homosexualität verbinden.324 In diesem Kontext erstaunt es auch nicht, dass Erwin auf der Alm die Führer, und nicht die Senner, weckt. Denn jemand, der gern unterworfen wird, sucht Führertypen auf. Auch in der Vorstadtszene wird, wie mir scheint, klar, dass Erwin sich dem Fremden unterwirft, indem er aus dessen Becher trinkt. Nach Scheible erinnert das Trinken aus seinem Glas sogar an das Unterwerfungsritual eines Leibeigenen.325

3.1.1.5. Eine weibliche Erzählung Auch die Darstellung der Frauen und die Weiblichkeit der Männer tragen zweifellos zur verborgenen Ebene der Homosexualität bei, und deswegen werden diese Aspekte im nächsten Abschnitt ausführlicher besprochen.

318 Vgl. 3.1.1.1. Das Andere, S. 45. 319 Andrian: Garten, S. 15-16. 320 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 92. 321 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 42. 322 Andrian: Garten, S. 22. 323 Rieckmann: “Knowing the other”, S. 68. 324 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 101. 325 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 48. 64

Es ist schon bezeichnend, dass im ersten Satz auf “eine schöne Frau” angespielt wird. Es stellt sich dann im Laufe der Erzählung heraus, dass Erwin Wert legt auf Frauen. Auffallend ist aber, dass die dargestellten Frauen sich von Andrians zeitgenössischen Bourgeoisfrauen unterscheiden. Im Gegensatz zu den Bourgeoisfrauen, die schwer unter der Tabuisierung der Sexualität litten, die alle Teile ihres Körpers bedecken sollten, und von denen nur erwartet wurde, dass sie sich als brave Hausfrauen benahmen,326 können die Frauen in der Erzählung – die eine Sängerin, die andere Schauspielerin – als emanzipierte Frauen betrachtet werden.327 Am Anfang der Erzählung wird der Eindruck erweckt, dass die Frau für Erwin noch keine große Bedeutung hat. Zwar wird im Bericht über Erwins Aufenthalt in Bozen über seine Erinnerungen ans Konvikt und seine Begegnungen mit der Sängerin und mit Heinrich Philipp erzählt, aber die Begegnung mit der Sängerin wird später ausgelassen:

Die Beschaffenheit seiner Erinnerungen an das Konvikt und der Umgang mit Heinrich Philipp bewirkten allmählich, daß der Erwin den Wechsel seiner Erwartungen in eine andere Forderung an die Zukunft kleidete.328 Gerade weil sie ausgelassen wird, wird suggeriert, dass Erwins Erwartungen am Anfang der Erzählung noch nicht mit der Frau verknüpft werden. Trotzdem ist die Sängerin keine unwichtige Figur in der Erzählung. Denn in der Sängerin-Szene stellt sich anhand der Wortwahl (“Prostitution”, “Laszivität”, “Hingebung”, “insolent”) heraus, dass hier eine triebhafte Atmosphäre hervorgerufen wird.329 Außerdem formuliert sich, wie gerade bemerkt wurde, in diesem Abschnitt ein Unterwerfungswunsch.330 Auffallend ist aber, dass Erwin Angst bekommt. In der Erzählung ist die Angst sehr deutlich mit dem Triebhaften verbunden, denn nicht nur bei der triebhaften Sängerin, sondern auch bei den Fiakern, die mit “dem Anderen” assoziiert werden, und bei dem Fremden bekommt Erwin Angst.

326 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 47. 327 In Die Welt von Gestern, S. 69f (Vgl. 2.1.1., Fußnote 38.) hat Zweig notiert, dass Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Künstlerinnen die einzig emanzipierten Frauen der damaligen Zeit waren. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 154. 328 Andrian: Garten, S. 19. 329 Andrian: Garten, S. 18. 330 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 63. 65

Erst nach dem Lesen der Bourgetschen Poesie331, geht Erwin davon aus, dass nicht nur “das Leben”, sondern auch “die Frau” ihm den Weg zum Geheimnis des Lebens zeigen wird:

Und in diesen kraftlosen Versen Bourgets kamen zwei Worte immer wieder und gaben ihm immer wieder einen Schauer, in dem jetzt vereinigt das Versprechen aller Hoheit und aller Niedrigkeit lag, die er früher getrennt gesucht hatte. Das waren die Worte „die Frau“ und „das Leben“.332 Trotzdem wird Erwin von den Frauen enttäuscht. Die Kurtisane zum Beispiel bietet keine Lösung, und von seiner Mutter wird berichtet, dass sie sein Tod gewesen sei. Es stellt sich also heraus, dass die Frau nicht zur Lösung des Geheimnisses führt, nicht “konstruktiv”, sondern “destruktiv” wirkt. Dass die Frauen Erwin enttäuschen, kann vielleicht damit zusammenhängen, dass Andrian zeigen wollte, wie der Kultus der Frau, der die Freundschaft zwischen Männern aus der Welt geschafft habe, von homosozialen Beziehungen ersetzt werden soll.333 Gerade wie das Leben sind auch die Frauen, die das Leben hervorbringen, geheimnisvoll. Vermutlich werden sie gerade deswegen ambivalent dargestellt. Die Sängerin ist, wie auch Renner bemerkt334, zugleich schön und abstoßend, alt und jung:

Zufällig hörte der Erwin, daß sie im Leben alt und nicht schön sei; von da an war sie ihm noch merkwürdiger. [...] sie war wirklich nicht schön und sie war alt, aber dennoch war sie wie ein Mädchen.335 Und die Kurtisane strahlt – so auch Paetzke und Renner336 – nicht nur zugleich Jugend und Alter, sondern auch zugleich Männlichkeit und Weiblichkeit aus:

Sie war schön von der Schönheit der späten Büsten, bei denen man einen Augenblick zweifelt, ob sie uns einen jungen asiatischen König zeigen oder eine alternde römische Kaiserin;337 Außerdem wird in der Vorstadtszene die Frau einem “Menschen” gegenübergestellt, als ob hier impliziert würde, dass eine Frau kein Mensch sei:

331 Paul Bourget war einer der französischen Dekadenzdichter, die für die Jung Wiener so bedeutungsvoll waren: “Im Kampf um Anerkennung im literarischen Feld zu Beginn der 1890er Jahre war es sehr wichtig, auf die Verwandtschaft mit den französischen Dekadenzdichtern zu verweisen. Sie wurden folglich von der jungen Generation Wiener Schriftsteller auch intensiv demonstriert.” Vgl. Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 92. 332 Andrian: Garten, S. 24. 333 Rieckmann: “Knowing the other”, S. 64. 334 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 101. 335 Andrian: Garten, S. 18. 336 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 37. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 147. 337 Andrian: Garten, S. 28-29. 66

In einem kleinen Zimmer [...] sprach beinahe gleichgültig, fast traurig, ein junger, magerer, geschminkter Mensch [...] Dann sang eine Frau mit bloßen Schultern Gesänge auf Wien.338 Nicht nur Erwin, auch Andrian betrachtete Frauen auf ambivalente Weise. In seinem Tagebuch zum Beispiel unterscheidet Andrian selber auch zwischen Mensch und Frau: “Die Frau hat versagt [ist nicht das Leben], die Menschen, [Männer] sind zwar das Leben [...]”.339 Ausgehend von diesem Tagebucheintrag und von der Gegenüberstellung von Frau und Mensch in der Vorstadtszene sollte das Wort “Mensch” auch in Erwins Erkenntnis, “daß es der wahrhaftigste Drang des Menschen sei, seinen Leib an den Leib eines andern Menschen zu pressen”340 als “Mann” interpretiert werden. Nach Renner könnte es sein, dass Andrians Schwester Gabriele – auf die, im Gegensatz zu den Eltern, in der Erzählung überhaupt nicht angespielt wird – Andrians Ambivalenz Frauen gegenüber verstärkt hat, weil sie die männlichen Eigenschaften, die der effiminierte Andrian sich eigentlich herbeiwünschte, besaß.341 Auffallend ist auch, dass es im Garten der Erkenntnis eine androgyne Frau gibt. Die androgynen Züge der Frauen in Erzählungen von Andrian und George werden in der Sekundärliteratur mit der Homosexualität dieser Autoren verbunden.342 Das Androgyn-Motiv ruft aber noch eine weitere Assoziation hervor, auf die auch Rabelhofer hingewiesen hat: diese der Unfruchtbarkeit.343 Dennoch ist nicht nur die Kurtisane ihrer Fruchtbarkeit beraubt, sondern auch die meisten anderen Frauen in der Erzählung. Die Sängerin zum Beispiel ist unfruchtbar, da sie, wie die Kurtisane, zugleich alt und jung ist. Indem die fruchtbare Frau Leben gibt, ist sie sehr stark mit dem Leben verbunden. Diese Frauen sind aber alle unfruchtbar. Meiner Meinung nach misslingt es diesen Frauen gerade wegen ihrer Unfruchtbarkeit, Auskunft über das Geheimnis des Lebens zu geben. Folglich entscheidet Erwin sich nach diesen Enttäuschungen, zu seiner Mutter zu gehen, denn sie hat ihm sein Leben gegeben, was von Fruchtbarkeit zeugt. Andrian selber verwarf aber Prokreation, war Befürworter der Unfruchtbarkeit und hat in seinem Tagebuch Gedanken geschrieben wie: “Das Sich-

338 Andrian: Garten, S. 29-30. 339 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 131. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 340 Andrian: Garten, S. 34. 341 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 18 (Fußnote 12.a). 342 Fischer: Fin de Siècle, S. 64. 343 Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 73. 67

Nicht-Fortpflanzen müssen – ein Erkenntnisfortschritt des Menschen”344 oder “die Frau ist immer für mich am interessantesten, wenn ich denke, sie kann keine Kinder mehr bekommen”.345 Zu Recht behauptet Paetzke denn auch, dass das Androgynenmotiv, das zur Topik der Zeit gehörte, in der Kurtisaneszene keine erotische Bedeutung hat, dass es asexuell wirkt.346 Scheible dagegen weist darauf hin, dass Erwin über die Beziehung mit der hermaphroditischen Frau indirekt seine Homosexualität erfüllt, weil diese Frau wegen ihres Alters schon viel Umgang mit anderen Männern gehabt hat. Das Bild der “Triumphsäule” stünde dann da als vergegenwärtigendes Symbol ihrer sexuellen Erlebnisse.347 Im Gegensatz zu den meisten Geliebten Erwins (Clemens, dem Fremden, den Sennern und Führern, den Fiakern, im Sinne von Kutschern) sind die Liebhaber einer Kurtisane im Allgemeinen reiche Männer, was wir auch aus der Erzählung schließen können: “und dieser Schönheit hatte sich die Bewunderung der Fürsten, der Künstler und der Menge seit zwanzig Jahre aufgedrückt”.348 Scheible hat also in seiner Interpretation das Element der Niedrigkeit vernachlässigt. Im Hinblick auf die Statue mit den zwei umschlungenen Frauen lässt sich auch noch Einiges sagen. Nach Renner reizt diese Statue Erwin gerade dadurch, dass ihre Vereinigung eine unfruchtbare ist.349 Meiner Meinung nach fühlt Erwin sich aber zur Statue der zwei Frauen angezogen, da sie auch homosexuell sind:

Wenige Tage später freilich an einem Januarabend fühlte er dort den unsagbaren Reiz einer Statue, auf der sich zwei Frauen umschlungen hielten; hinter ihnen stieg über wenigen Sternen ein hoher grauer Himmel auf, die Erde war weiß von Schnee, nur etwas Licht von einem verwischten Mond fiel auf sie.350 Es könnte aber auch sein, dass ihre Umgebung auf Erwin diesen Reiz ausübt, weil das Nächtliche und der Mond an Ritual und Triebhaftes erinnern.

344 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag. Zitiert nach Renner und nach Rieckmann. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 146 (Fußnote 95). (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49)/ Rieckmann: “Knowing the other”, S. 63. 345 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag von 1893. Zitiert nach Renner. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 101. (Vgl. 2.2.1., Fußnote 49.) 346 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 37. 347 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 42-43. 348Andrian: Garten, S. 29. Nicht nur Fürsten, auch Künstler, wie die Jung Wiener, waren um die Jahrhundertwende oft reich, da sie meistens Söhne reicher, großbürgerlicher oder adliger Eltern waren. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 236, 274 / Schorske: Wien , S. 287.) Es stellt sich aus diesem Zitat aber heraus, dass auch die Menge, die nicht reich war, die Kurtisane bewunderte. Weil Kurtisanen sich dafür entscheiden konnten, diese Bewunderung der Menge nicht mit Liebe zu beantworten, ist der Hinweis auf die Menge für meine Behauptung, dass die Geliebten der Kurtisane im Garten der Erkenntnis am meisten reiche Männer sind, nicht unbedingt problematisch. 349 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 146. 68

Fest steht, dass Erwin und seine Freunde in der Erzählung nicht als echte, robuste Männer betrachtet werden können. Sie werden sehr weiblich dargestellt, aber im Gegensatz zu den “femmes fatales” wie Sängerin und Kurtisane, entsprechen Erwin und seine Freunde eher dem Typus der “femmes fragiles”, denn alle – Erwin, so gut wie der Offizier und Lato – werden von einer kränklichen Konstitution und einem frühen Tod gekennzeichnet.351 Nach Renner entspricht auch Clemens dem Modell einer “femme fragile”.352 Außerdem wird auch schon im ersten Abschnitt der Erzählung auf Erwins Weiblichkeit hingewiesen, indem der Erzähler darüber berichtet, wie er seiner Mutter gleicht. Aber nicht nur Personen, auch Sachen werden verweiblicht. In der Clemensepisode zum Beispiel wird die Musik feminisiert, denn dort ist von “weichlichen und aufreizenden Gesängen einer Kultur, die sich bespiegelt” die Rede.353 Gerade wie der Erwin und seine Freunde mit ihrer Männlichkeit Mühe haben, war Männlichkeit auch für Andrian und die anderen Jung Wiener problematisch. Statt männlicher Eigenschaften wie Aggressivität und Affekthemmung, beschäftigten sie sich mit dem Seeleleben, mit Emotionen und mit Stimmungen.354 Außerdem wird der Symbolismus, die literarische Strömung, der Andrian angehörte und in der das Emotionelle und Stimmungshafte von kruzialer Bedeutung war, von einigen Zeitgenossen “Feminismus” genannt:

Wir möchten diese Strömung Feminismus nennen, denn es ist uns, als äußere sich das Streben des Weibes nach Macht, der Wettbewerb der Frau mit dem Manne darin, daß sich diese weibliche Überempfindlichkeit im Schauen, Genießen, Denken und Fühlen dem Manne mitteile, ihn erobere.355 Meiner Ansicht nach, wird in der Vorstadtszene deutlich suggeriert, dass die Geschlechtsrollen verwechselt sind. Dort singt die Frau kräftig Gesänge auf Wien, im Gegensatz zum Mann, der die Lieder der Schrammeln nicht kräftig, sondern “beinahe gleichgültig, fast traurig” spricht.356 Außerdem sieht er weiblich aus, denn er ist geschminkt und hat gebranntes Haar. Bemerkenswert ist auch, dass trotz Erwins

350 Andrian: Garten, S. 28. 351 Fischer: Fin de Siècle, S. 147. (Vgl. 4.1.2. Das Krankhafte: “Sie lieben alles was seltsam und krank ist”, S.112-113.) 352 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 116. 353 Andrian: Garten, S. 24. [Hervorhebung von mir, SVD]. Am Anfang der Erzählung ist die Rede von “verweichlichenden Freuden”. (Vgl. Andrian: Garten, S. 16.) 354 Renner: ‚Garten der Erkenntnis’, S. 288-290. 355 Rudolf Lothar: “Kritik in Frankreich”. In: Das Junge Wien. Österreichische Literatur-und Kunstkritik 1887-1902. 2 Bände. Hg. v. Gotthart Wunberg. Tübingen: Max Niemeyer 1976, S. 211. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 289. 69

Weiblichkeit, die männlichen Eigenschaften nicht ganz unterdrückt werden. Die Kriegsmetaphorik seiner Gedanken, die nicht nur am Anfang, wenn er von Feinden, vom Kampf zwischen Kirche und Welt und Gegnern redet von größter Wichtigkeit ist, sondern auch am Ende, bei seiner letzten Begegnung mit dem Fremden, wenn er von “Feind”, “Kampf”, “Sieg” und “Besiegtsein” redet, bestätigt das.357 Auch auffallend ist, dass gerade wie einige Männer in der Erzählung auch die Frauen keinen Namen haben. Dafür wurde in der Sekundärliteratur nicht wirklich eine Erklärung gefunden. Renner geht davon aus, dass sie keinen Namen bekommen, weil sie nur einen Typ darstellen.358 Paetzke verknüpft diese Anonymität mit der homosexuellen Thematik, weil die Männer, im Gegensatz zu den Frauen, schon einen Namen bekommen.359 Möglich ist aber auch, dass die Frauen keinen Namen erhalten, weil so auf die Verweiblichung Erwins hingedeutet werden kann, denn auch er wird, mit Ausnahme des Traumes, nicht beim Namen genannt. Auch das Fehlen der Frauen in Erwins Traum am Ende der Erzählung, kann im Kontext der Homosexualität gelesen werden.360 Meiner Meinung nach werden die Frauen nicht nur deswegen im Traum ausgespart, sondern auch weil Erwin von ihnen enttäuscht ist oder weil er eingesehen hat, dass er das Geheimnis nur ohne sie finden kann.361 Im nächsten Abschnitt wird der Mutter und insbesondere Erwins Beziehung zu seiner Mutter Aufmerksamkeit gewidmet. Paetzke geht davon aus, dass Erwin nur zu dieser einzigen Frau eine innere Beziehung hat.362

3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter

Nicht nur Erwins Homosexualität, auch sein inzestuöser Wunsch wird tabuisiert dargestellt. In seinen Notizen zum Garten der Erkenntnis formuliert Andrian denn auch nicht zufällig folgende Sätze: “Für jeden Mann gibt es nur eine Frau, seine Mutter” und

356 Andrian: Garten, S. 30. 357 Andrian: Garten, S. 14-15, 41. 358 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 150. 359 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 39. 360 Fischer: Fin de Siècle, S. 149. 361 Nach Renner fehlten sie aber im Traum, da Erwin sich inzwischen mit ihnen identifiziert hat. Es ist mir aber rätselhaft, aus welchem Grund sie das behauptet, denn sie hat diese Aussage ganz abrupt, ohne weitere Erklärung, in ihren Text eingeschoben. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 214. 362 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 39. 70

“Die ‘letzte Liebe’: die Liebe zur Mutter”.363 In diesem Abschnitt wird vor allem der Mutterfixierung und Erwins auf Vereinigung ausgerichteter Beziehung zur Mutter Aufmerksamkeit geschenkt. Auch Erwins Verhältnis zum Vater wird kurz besprochen. Schon am Anfang der Erzählung stellt sich heraus, dass Mutter und Sohn eine besondere Beziehung haben.364 Auf der ersten Seite wird deutlich, dass Erwin und seine Mutter sich gleichen, weil sie dieselben Hände, Stimme und narzisstischen Züge haben. Außerdem wird in der Erzählung klar, dass die Suche nach dem Geheimnis Sohn und Mutter verbindet. Erwins Mutter sucht sogar, wie Erwin auch, das Geheimnis in der Verschiedenheit: “[...] sie liebte seine Verschiedenheit [des Vaters] als ein lockendes und verheißungsvolles Geheimnis[...]”.365 Auch ist auffallend, dass in der Erzählung – abgesehen von der einmaligen Doppelperspektive366 – nur aus zwei Perspektiven erzählt wird: Aus der Perspektive der Mutter, wie am Anfang der Geschichte, und aus der Perspektive Erwins.367 Später in der Erzählung werden Erwin und seine Mutter auch kontrastierend dargestellt: während Erwin als schwaches, krankes Kind in seinem Bett liegt, betrachtet er seine Mutter als eine sehr schöne Frau, “geschmückt mit Seide, Blumen und Steinen”, “groß und fremd für ihn”.368 Dass die Mutter aus der Mitte eines Buches vorlesen will, ist für Erwin tugendhaft:

Man hatte ihm immer gesagt, es sei ein Fehler, die Bücher nicht von Anfang zu lesen. Jetzt aber war es, als fände er diesen seinen Fehler in ihr, aber seltsam, wie eine Tugend [...]’. 369 Bemerkenswert ist, dass der Leser nicht nur anhand von “fremd”, sondern auch anhand von “Tugend” an Triebhaftigkeit erinnert wird. Das Wort “fremd” ruft Assoziationen mit dem Fremden hervor, der mit dem Triebhaften verbunden ist, das Wort “Tugend” erinnert an Heinrich Philipp, der Erwin über das Geheimnisvolle und Verbotene, das

363 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag von 1895/1896 bzw. 1893. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 192 bzw. 196. (Vgl. 2.2.1., Fußnote 49.) 364 Auch Renner stellt fest, dass schon am Anfang auf die besondere Beziehung von Mutter und Sohn hingewiesen wird. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 76.) Überdies gleicht Erwins Mutter nicht nur ihrem Sohn, sondern auch Andrians Mutter. Beide sind exzentrisch, narzisstisch und emotional unsicher. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 17, 20, 191.) Die besprochene Mutterbeziehung ist nach Renner denn auch aus der Biographie von Andrian zu erklären. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 192.) 365 Andrian: Garten, S. 13. 366 Vgl. 3.1.1.2. Clemens, S. 53. 367 Vgl. Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 309. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 76. Auch später in der Erzählung werden die Empfindungen der Mutter beschrieben. (Vgl. Andrian: Garten, S. 37-39.) 368 Andrian: Garten, S. 36. 369 Andrian: Garten, S. 36. 71 triebhafte Leben also, berichtet hat.370 Folglich ist Erwins Beziehung zur Mutter hier erotisch konnotiert. Weil die Mutter aus der Mitte eines Buches lesen will, wird sie, trotz der Unterschiede, Erwin gleichgestellt: wie Renner bemerkt, weist das darauf hin, dass beide eine anti-intellektuelle Lebenshaltung haben, dass Kausalität momentanem Reiz oder sprachlichen Finessen untergeordnet ist.371 Etwas später aber werden Sohn und Mutter wieder kontrastierend dargestellt, denn Erwin wird dem Leben, die Mutter dem Tod gleichgesetzt, was suggeriert, dass ihre Beziehung widersprüchlich ist. Schon in der Konviktszene wird deutlich, dass Erwin auf seine Mutter fixiert ist. So assoziiert er seine Freuden mit der Mutter: “[...] und grundlos kamen sogar seine Freuden: die Besuche seiner Mutter, ihre Briefe oder die Heiligenbilder, in denen der Duft ihrer Spitzen lag”.372 Wenn er über das Leben in Gott berichtet, denkt er zuerst an “das Gemurmel der glorreichen Litaneien zu Ehren der Mutter Gottes [...]”.373 Und wenn einige Sätze später von Schimmeln die Rede ist, ist es auffallend, dass sie mit der Mutter verbunden sind. Überdies stellt es sich aus vielen impliziten Andeutungen heraus, dass Erwin sich mit seiner Mutter vereinigen will. In diesem Rahmen sind die vielen Hinweise auf Schlaf interessant. So heißt es am Anfang der Erzählung:

Dieses Leben war wie eine fremde Arbeit, die er verrichten mußte, es machte ihn müde und den ganzen Tag freute er sich aufs Schlafengehen. Wenn dann oben im Schlafsaal die Lichter herabgedreht waren und seine Wange das kühle Kissen berührte, fühlte er einen Schauer der Befriedigung [...].374 Ich folge Renner in ihrer Behauptung, dass der Schlaf hier als Sehnsucht nach Geborgenheit innerhalb der Gebärmutter, nach einem vorweltlichen Zustand also, betrachtet werden kann375 (obwohl ihre Behauptung, dass der Schlaf als Form der narzisstischen Regression interpretiert werden kann376, auch plausibel ist). Rabelhofer stimme ich auch zu in ihrer Aussage, dass die Berührung des Kissens Erwin an

370 Vgl 3.1.1.1. Das Andere, S. 45-47. 371 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 188. Sie fügt zu Recht hinzu, dass das alles auch für Andrians Erzählstil gilt. 372 Andrian: Garten, S. 14. 373 Andrian: Garten, S. 15. 374 Andrian: Garten, S. 14. 375 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 84. Um ihrer Argumentierung Nachdruck zu verleihen, zitiert sie Freud, der den Schlaf auch als einen vorweltlichen, mit der Mutter verbundenen Zustand betrachtet. 376 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 86. 72

Hautkontakt mit seiner Mutter erinnert377, obwohl andere Interpretationen auch möglich sind. So bemerkt Renner, dass Erwin durch die Berührung seiner Wange mit dem Kissen sich selber fühlt, eine interessante Auffassung im Kontext des Narzissmus.378 Der zweite Hinweis auf Schlaf ist der folgende:

Einmal im August [...] kam er auf eine Alm; weil es schon spät war, mußte er dort übernachten. Sehr bald ging er hinauf in die Dachkammer über dem Heu, wickelte sich in seinen Mantel und schlief ein.379 Dieser Hinweis ist in der Sekundärliteratur im Rahmen der Mutterfixierung nicht beachtet worden, obwohl Erwin, dadurch, dass er sich in einen Mantel wickelt, die Illusion einer Gebärmutter kreiert, und nicht nur sich selbst vor der Außenwelt schützt, sondern auch eine Vereinigung mit seiner Mutter vortäuscht. Auffallend ist auch, wie ein wenig später über Erwins Spiegeltäuschung berichtet wird: “Es mußte ein Fenster an der Wand sein und eine menschliche Gestalt bei diesem Fenster und diese Gestalt kam seinetwegen und sie wartete auf ihn...”.380 Erstens wird auch hier, anhand des Rhythmus und anhand des wiederholten Gebrauches von “und” an ein Schnaufen vor Aufregung erinnert.381 Zweitens hat Andrian meiner Ansicht nach absichtlich das feminine Wort “Gestalt” eingeschoben, um dann mit dem Pronomen “sie” den Eindruck erwecken zu können, dass Erwin von einer Frau erregt wird. Das kann er aus zwei Gründen gemacht haben. Einerseits um zu verheimlichen, dass es sich um homosexuelle Gefühle handelt. Diese Erklärung ist aber wenig plausibel, denn, wie schon besprochen382, wird später eine implizite Wortwahl angewendet, um über Erwins sexuelle Erlebnisse mit den Führern zu erzählen: “Dann stieg er hinunter und weckte die Führer. So lange sie in der Nacht weiter gingen, waren ihre Gesichter groß und geheimnisvoll [...]”.383 Andererseits kann das Pronomen “sie” auf seine Mutter hinweisen, und auf seine Hoffnung, dass seine Mutter die Person ist, die seine triebhaften Gefühle erwidern kann. Im Textpassus bestätigen zwei Elemente die Hypothese, dass Erwin hier seine Mutter anzutreffen hofft. Erstens stellt sich heraus, dass das Mondlicht, das ihn getäuscht hat, dasjenige war, das über den Spiegel gefahren war. Etwas später wird der Mond dann auch

377 Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 71. 378 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 85. 379 Andrian: Garten, S. 33. 380 Andrian: Garten, S. 34. 381 Vgl 2.1.1.2. Clemens, S. 52. 382 Vgl 2.1.1.1. Das Andere, S. 46. 383 Andrian: Garten, S. 34. 73 zweimal mit Erwins Mutter assoziiert: “Sie hatte die Edelsteine, die kostbaren Stoffe und die gestickten Seiden geliebt [...] und den wechselnden Himmel mit dem wechselnden Mond [...]” und “Etwas müder kehrte die Mutter zu ihren Edelsteinen, ihren kostbaren Stoffen und gestickten Seiden zurück [...] und zum wechselnden Mond [...]”.384 Und zweitens entscheidet Erwin sich nach dieser Nacht dazu, zu seiner Mutter zu reisen. Als Erwin sich auf das Wiedersehen mit seiner Mutter freut, wird zum dritten Mal in der Erzählung auf Schlaf hingewiesen, diesmal aber in einem Vergleich:

Mit der wachsenden Sehnsucht nach seiner Mutter nahm seine Unruhe ab. Irgendwie, das wußte er jetzt, würde ihm aus ihr eine Lösung des Geheimnisses werden. Und diese Sehnsucht war sehr wohltuend, denn schon in ihr lag die Beruhigung, welche er von der Ersehnten erhoffte; so wie man sich, wenn man müde ist, nach dem Schlafe sehnt, von dem man weiß, daß er sicher kommen wird, weil er schon halb über einem ist.385 Renners Behauptung, dass hier einerseits die Sehnsucht nach Erkenntnis, andererseits die ersehnte Mutter mit dem Schlaf verglichen wird, ist zuzustimmen.386 Weil die Mutter hier so direkt mit Schlaf ineinsgesetzt wird, ist überlegenswert, ob Schlaf nicht auch an anderen Stellen mit Erwins Mutter assoziiert werden kann. Außerdem werden hier in Bezug auf die Begegnung mit der Mutter die erotisch konnotierten Worte “Sehnsucht” und “Ersehnte” angewendet, was suggeriert, dass Erwin erotische Gefühle hat für sie. Ein wenig später wird über die Gefühle von Erwins Mutter folgendes berichtet:

Sie wiederum ahnte, daß sie aus ihm erlangen könnte, was sie ihr Leben hindurch gesucht hatte, zugleich aber fühlte sie sich unendlich schwach, es ging ihr wie im Schlaf, in dem man weiß, daß es ein Wachsein gibt und sich nach diesem Wachsein sehnt, und sich anstrengt aufzuwachen und nicht aufwachen kann.387 Hier wird der Schlaf mit der Gemütslage der Mutter verbunden. Renner hat festgestellt, dass die Vergleiche in Bezug auf Schlaf spiegelbildlich sind: während Erwins Vergleich sich auf Einschlafen bezieht, bezieht der Vergleich der Mutter sich auf Aufwachen.388 Renner erklärt aber nicht, weshalb diese Vergleiche so dargestellt worden sind. Meiner Ansicht nach kann das Einschlafen hier symbolisch auf Tod, und das Aufwachen auf

384 Andrian: Garten, S. 36, 38. 385 Andrian: Garten, S. 35-36 386 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 187, 189. 387 Andrian: Garten, S. 37. 388 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 189. 74

Leben anspielen, und folglich können sie dann auf den folgenden Passus, der sich zwischen den Vergleichen befindet, hindeuten:

sie waren wirklich eins und was in ihm war, war in ihr; aber in ihm durchzittert von der Niedrigkeit und vom Schmerze und von der Rührung des Lebens und in ihr wie ein Kunstwerk; er war von der Zeit, sie war von der Ewigkeit; oder er war ihr Leben und sie war sein Tod, und dieser Tod und dieses Leben waren tief und geheimnisvoll verknüpft.389 In dieser Textstelle stellt sich deutlich heraus, dass Mutter und Sohn, die sich so ähnlich sind, sich auch voneinander unterscheiden. Am Anfang des Zitats werden Mutter und Sohn als “eins” dargestellt. Die Wortgruppe “sie waren wirklich eins” könnte aber doppeldeutig interpretiert werden, denn einerseits kann sie darauf hinweisen, dass sie sich gleichen, andererseits aber kann sie andeuten, dass sie einander, durch ihre Unterschiede, ergänzen. Die Wortgruppe “was in ihm war, war in ihr” ist auf den ersten Blick aber problematisch für diese letzte Interpretation, denn in dieser Wortgruppe werden sie einander gleichgesetzt. Dennoch kann das Pronomen “was” interpretiert werden als der Drang, das Geheimnis zu finden, denn in diesem Teil des Buches sind Mutter und Sohn beide auf der Suche danach. Auf diese Weise werden sie einander nicht gleichgestellt, sondern miteinander verbunden. Im nächsten Satzteil gibt es Kontraste, die einer Klimax zustreben, denn der letzte ist der Kontrast zwischen Leben und Tod. Nach Renner steht die Mutter für Erwins Tod, weil sie ihn geboren, und auf diese Weise dem Tod ausgeliefert hat. Und sie behauptet weiter, dass Erwin ihr Leben sei, weil er ihr Bild entwirft.390 Man kann die Stelle meiner Ansicht nach aber auch anders auslegen. So kann Erwin ihr Leben sein, weil ihr Leben daraus besteht, das Geheimnis des Lebens zu suchen, und sie das Geheimnis jetzt in ihm sucht. Sie kann sein Tod sein, weil Erwin nicht über sie die Lösung des Geheimnisses zuteil wird. Auf jeden Fall sind Tod und Leben, gemeint sind hier also auch Sohn und Mutter, miteinander verknüpft. Im Rahmen von Erwins Mutterfixierung und Vereinigungswunsch sind auch viele andere Phänomene auffallend. So ist Renners Befund, dass die Frauen der Erzählung – Sängerin, Kurtisane und Vorstadtmädchen – Züge der Mutter tragen, und deswegen als

389 Andrian: Garten, S. 37. 390 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S.189. Mir ist aber nicht deutlich, was Renner mit “dem Bild entwerfen” meint. Wahrscheinlich wird impliziert, dass die Mutter lebt, solange Erwin an sie denkt. 75

Derivate aus Erwins Mutter-Komplex dargestellt werden, nicht unwichtig.391 Rabelhofers Behauptung, dass die Sängerin und die Kurtisane als Surrogate der Mutterbindung gesehen werden können, schließt dabei an.392 Während Renner überhaupt nicht argumentiert, weshalb die Frauen als Mutterderivate betrachtet werden können, argumentiert Rabelhofer noch, weshalb die Kurtisane mit der Mutter verglichen werden kann: beide vereinen in ihrem Charakter Kunst und Artifizialität. Sonst verdeutlicht auch Rabelhofer nicht, welche Eigenschaften die anderen Frauen mit der Mutter gemeinsam haben. Deswegen werde ich diesen Punkt hier kurz erläutern. Sängerin und Mutter ist gemeinsam, dass sie mit dem Theater assoziiert werden: die Sängerin spielt Rollen, sie verstand es, “durch alle Wirklichkeiten eines stilisierten und gesteigerten Lebens ihre Rolle wirklich zu machen und [...] dieselbe Rolle als eine Lüge [...] zu zeigen”, über die Mutter wird berichtet, dass sie Schauspiele liebt.393 Dass Renner die Vorstadtmädchen als Derivate betrachtet, scheint mir unberechtigt, denn es kann kaum argumentiert werden. Eher können die Wiener Mädchen und die Frauen auf der Statue als Mutterderivate betrachtet werden, obwohl in Renners und Rabelhofers Studie von ihnen nicht die Rede ist. Die Wiener Mädchen, mit ihren “schönen weichen Gestalten in weißen Kleidern mit großen farbigen Seidenschleifen”394, gleichen Erwins Mutter - im ersten Satz als “eine schöne Frau” introduziert - weil sie alle schön sind, und Seide tragen, einen Stoff, mit dem auch Erwins Mutter assoziiert wird: “Etwas müder kehrte die Mutter zu ihren [...] gestickten Seiden zurück [...]”, “Sie hatte [...] die gestickten Seiden geliebt [...]”.395 Wie bei der Kurtisane, hat die Mutter mit den Frauen auf der Statue das Kunstwerkcharakter gemeinsam. Außerdem kann die Beschreibung der Umgebung mit der Mutter assoziiert werden, die “den wechselnden Himmel mit dem wechselnden Mond und den gleichbleibenden Sternen”396 liebt: “hinter ihnen [den zwei Frauen] stieg über wenigen Sternen ein hoher grauer Himmel auf, die Erde war weiß von Schnee, nur etwas Licht von einem verwischten Mond fiel auf sie”.397 Auch Renners Behauptung, dass durch diese Aufspaltung in andere Frauenfiguren die

391 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 150. 392 Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 72. 393 Andrian: Garten, S. 17-18, 36-38. 394 Andrian: Garten, S. 20. 395 Andrian: Garten, S. 36, 38. 396 Andrian: Garten, S. 36. 397 Andrian: Garten, S. 28. 76

Neigung zur Mutter abgewehrt werde, bereitet Schwierigkeiten.398 Gerade weil Erwin nur mit Frauen umgeht, die ihn an seine Mutter erinnern, wird sein inzestuöser Wunsch bestätigt. Deswegen ist auch Rieckmanns Bemerkung, dass der Anblick des Jünglings und Mädchens in Venedig an den Inzestgedanken rührt, für Erwins Vereinigungswunsch interessant399:

Jeden Morgen, wenn er über den Platz ging, begegnete ihm ein Jüngling und ein Mädchen; sie glichen einander und waren vielleicht Geschwister. Bei seiner Abreise erinnerte er sich ihrer und wußte, daß sie für ihn bedeutsam waren, und er wäre fast umgekehrt;400 Wichtig ist, dass Erwin dieses Geschwisterpaar nach der Trennung von seiner Mutter begegnet. Das weist darauf hin, dass er immer noch auf eine Vereinigung mit seiner Mutter hofft, und dass er sie vermisst. Auch später in der Erzählung, während er sich wieder in Wien befindet, wird auf implizite Weise klar gemacht, dass er seine Mutter noch entbehrt:

[...] und weil es kalt war, trank er hastig durcheinander Tee und Cognac. Und auf einmal fiel ihm jener Abschied vor langer Zeit, vor drei Jahren, in Bruck ein, und der maßlose Reiz seines Freundes, der ihm verloren ging; als er dann auf die Bahn fuhr, wurde es gerade Tag; das Gas brannte noch, aber auf den Häusern lag der frühe Morgen, und sie waren schmerzlich und ewig, wie die Dinge, von denen man sich trennt.401 Obwohl explizit sein abgebrochenes Verhältnis mit Clemens im Vordergrund steht, wird hier sehr subtil auf die abgebrochene Beziehung zu seiner Mutter hingewiesen: die Häuser sind nicht nur “schmerzlich und ewig”, sie werden auch mit Dingen verglichen, “von denen man sich trennt”. Sie setzen also Erwin, zuvor als schmerzlich umschrieben, und seine Mutter, zuvor mit Ewigkeit assoziiert, in Beziehung. Auch die Bilder der Verkettung sind im Rahmen von Erwins Vereinigungswunsch interessant. Das erste auffallende Bild der Verkettung ist das Bild der Frösche: “Etwas wie ein Zauberer schien ihm der alte Priester, in dessen Macht es stand, durch Einwirkung auf das Leich der Tiere zwei Frösche für ihr Leben unzertrennbar zu verbinden”.402 Andrian hat diesen Hinweis auf die Frösche mit klarer Absicht in die Erzählung eingefügt: “die Frosch-Gesch[ichte] hatte V. [Verfasser] damals in der

398 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 150. 399 Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 77. 400 Andrian: Garten, S. 39. 401 Andrian: Garten, S. 40. 402 Andrian: Garten, S. 20. 77

Zeitung gelesen [...] unentbehrlich für den Gedanken der Verkettung mit den Eltern, der Mutter”.403 Renner hat zu Recht eingesehen, dass diese Verknüpfung der Frösche die Beziehung zur Mutter widerspiegelt, weil die Mutter gleich danach erwähnt wird, und weil sich aus einer späteren Episode herausstellt, dass hier von der Verkettung von Sohn und Mutter die Rede ist 404:

und beide fühlten sich verknüpft; aber schmerzlich, dumpf und grundlos, so wie sich jene Tiere verknüpft fühlen müssen, von denen der alte Priester dem Erwin gesprochen hatte, die durch die Künste des Chemikers künstlich an einander gebunden leben.405 Renner hat auch im Bild der Pappelallee die Verkettung von Mutter und Sohn gesehen406:

Einmal gingen sie gegen Abend durch die sanfte und festliche Anmut der italienischen Landschaft. Die Pappeln zu beiden Seiten des Weges wurden zu einer Triumphpforte durch das farbige Weinlaub, das ihre Kronen reicher machte und sie in lässigen Ketten verband.407 Obwohl ich bisher auf Erwins inzestuöse Neigungen zur Mutter gezeigt habe, wird hier deutlich, dass nicht nur Erwin mit der Mutter, sondern auch die Mutter mit Erwin verkettet ist. Außerdem sollte nicht aus dem Auge verloren werden, dass es noch zwei andere Stellen gibt, in denen die inzestuösen Neigungen von der Mutter ausgehen. Es stellt sich nicht nur heraus, dass “auch sie sich nach ihm sehnte”, sie hat auch “nach dem Tode ihres Gatten, was sie in einem nicht gefunden hatte, in vielem gesucht [...] und sie kehrte wieder zu einem zurück”.408 Rieckmann weist darauf hin, dass mit dem Wort “einen” Sohn und Vater gemeint sind, die von der Mutter gleichgesetzt werden.409 Auch wenn im Bild der Pappelallee tatsächlich eine Verkettung gespiegelt wird, ist anzuzweifeln, dass hier nur eine Verkettung von Mutter und Sohn vorliege. Hat Renner nicht zu Unrecht das Wort “Kronen” vernachlässigt? Es sind doch die Kronen, und nicht die Personen selber, die verkettet werden. “Kronen” weist darauf hin, dass beide einander hier nicht nur als Mutter und Sohn, sondern vor allem als Fürst und

403 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 106. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 404 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 105. 405 Andrian: Garten, S. 38. 406 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 196. 407 Andrian: Garten, S. 37. 408 Andrian: Garten, S. 36-37. 409 Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 77. 78

Fürstin begegnen. Hier wird deutlich, dass Erwin als Fürst den Platz seines Vaters einnehmen will, neben der Fürstin, seiner Mutter. Im Gegensatz zur guten Beziehung zur Mutter, wird über Erwins Beziehung zum Vater, über dessen Tod schon am Anfang der Erzählung berichtet wird, nichts Explizites erzählt. Daraus – aus der Mutterfixierung und der fehlenden Beziehung zum Vater – schließt Renner mit gutem Grund auf einen Ödipuskomplex.410 Trotzdem wäre die These zu vertreten, dass, gerade wie die Mutter, auch der Vater in der Erzählung Derivate hat. Wie schon angegeben, gleicht der Fremde Erwins Vater.411 Bemerkenswert ist, dass auch Renner den Fremden mit der Vaterfigur assoziiert, aber dann im Rahmen von Erwins Ödipuskomplex. Sie behauptet, dass die Gefühle von Furcht und Verachtung, die – bei der dritten Begegnung – Erwins Haltung dem Fremden gegenüber kennzeichnen, als Ausdruck des Hasses gegen die Vaterfigur betrachtet werden sollen.412 Sie fügt hinzu, dass auch Andrian feindselige Gefühle gegen seinen eigenen Vater hegte: “Feind ist immer der, gegen den man lieblos, in dessen Willkür man ist [...] Vater[...]”.413 Auch Klieneberger betrachtet in Bezug auf den folgenden Satz die Vaterfigur als Feind: “Dann las sie [die Mutter] ihm [Erwin] noch lange vor, vom Jahre 59, in dem wir verraten wurden, und von unserem glücklosen Kampf mit den Preußen”.414 Er schlägt sinnvoll vor, im folgenden Satz Österreich mit dem Bild von der Mutter, die das kranke Kind pflegt, zu assoziieren, und den preußischen Feind (im Rahmen des Ödipuskomplexes) mit der Vaterfigur. Außerdem sollte folgender Passus etwas näher betrachtet werden, wenn man den Fremden als Vaterfigur betrachtet:

Und während ihm [dem Fremden] der Erwin ins Gesicht schaute, fiel ihm plötzlich dessen Gegensatz, das Gesicht seiner Geliebten ein, mit geschlossenen Augen wie eine Maske unter dem Helm ihrer goldfarbenen Haare in der öden und hochmütigen Schönheit des Todes.415

410 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 194. Der Begriff ist erst später von Freud introduziert worden. Freud verbindet den Namen “Ödipus” mit den sexuellen Wünschen des Kindes für den Elter des anderen Geschlechtes und mit den feindseligen Gefühlen für den Elter des gleichen Geschlechtes. (Vgl. Brockhaus: Band 16, S. 98.) Die Leser sollten auch berücksichtigen, dass nicht nur im Garten der Erkenntnis vom Ödipuskompkex die Rede ist, sondern dass es auch im Wien der Jahrhundertwende eine Ödipusrevolte gab. (Vgl. 2.1. Werteverlust und Wertesuche, S. 14, Fußnote 35.) 411 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 60. 412 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 209. 413 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag von 1893. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 209. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 414 Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 625. (Vgl. Andrian: Garten, S. 36). 415 Andrian: Garten, S. 30. 79

Bisher hat man in der Sekundärliteratur immer wieder die Kurtisane als Erwins Geliebte identifiziert.416 Paetzkes Bemerkung, dass die Geliebte hier, gerade wie die Mutter, mit Macht und Schönheit assoziiert wird, ist begründet. Dennoch betrachtet auch Paetzke die Kurtisane, und nicht die Mutter, als Identifikation der Geliebten. Es ist aber eher plausibel, dass der “Gegensatz” zum Gesicht des Fremden nicht das Gesicht der Kurtisane, sondern das Gesicht der Mutter ist, weil der Fremde als Vaterfigur betrachtet werden kann. Außerdem ist es merkwürdig, dass die lebendige Kurtisane hier auf einmal mit Tod assoziiert wird. Viel einfacher kann das Bild des Todes mit der Mutter verknüpft werden, denn später in der Erzählung heißt es: “sie [die Mutter] war sein Tod”.417 Auch der Offizier aus Bozen kann als Vaterderivat betrachtet werden, denn wie der Vater eine Zeit erkrankt war und schließlich stirbt, ist auch dieser Offizier erkrankt und wird auch er bald sterben. In Bezug auf Clemens als Vaterderivat ist es wohl nicht zufällig, dass er von Erwin Armbände geschenkt bekommt, denn auch über Erwins Vater wird berichtet‚ dass er ein Armband hat.418 Dass Erwin am Ende als Fürst bezeichnet wird, weist darauf hin, dass er die Rolle seines Vaters übernommen hat.419 Gerade deshalb, weil Erwin diese Rolle einnimmt und weil der Fremde, Clemens und der Offizier mit Erwins Vater assoziiert werden können, wird Sorgs (sei es unargumentierte) Behauptung, dass die Übermacht des Vaters im Garten der Erkenntnis ein wichtiges Motiv ist, bestätigt.420 Was – nach Renner – Erwin getötet hat, ist die Unfähigkeit, den ödipalen Konflikt zu lösen. Ihrer Meinung nach sollte der Tod sogar als Strafe für den ödipalen Wunsch gelesen werden.421 Ihre Argumentierung zu dieser Hypothese ist aber unzureichend. Trotzdem bin auch ich der Meinung, dass der Tod des Helden mit dem inzestuösen Wunsch zusammenhängt, denn auf diesen inzestuösen Wunsch wird noch in den letzten Sätzen der Erzählung mit dem Wort “Schlaf” angespielt, das, wie schon bemerkt, auf den Vereinigungswunsch mit der Mutter hinweist:

416 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 154 (Fußnote 65). / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 158-159. 417 Andrian: Garten, S. 37. 418 Andrian: Garten, S. 13. 419 Vgl. 2.1.3. Rückfall oder Fortschritt, S. 19. 420 Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 241. 421 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 216. 80

[...] wußte er nicht genau, ob er auf den Regen wartete, nach dem er sich gesehnt hatte, oder auf den Schlaf, um im Traum zu erkennen. Aber es regnete nicht, er schlief auch nicht ein. So starb der Fürst, ohne erkannt zu haben.422 Außerdem ist nach Renner die Entwicklung zur Homosexualität eine Folge dieses inzestuösen Wünsches423, aber wiederum führt sie keine Textbelege an. Trotzdem deutet Andrian in seinem Text an, wie Erwin fühlt, dass seine homosexuellen Gefühle mit seiner Mutter verbunden sind: “Manchmal, wenn sich ihre Seele so fruchtlos abmühte, erschien sie auch dem Erwin lebend; aber das war wieder ein anderes Leben und das erschreckte ihn [...]”.424 Er verknüpft seine Mutter in diesen Sätzen mit einem “anderen” Leben. Das Wort “anders” erinnert an “das Andere”, die Homosexualität, und meiner Ansicht nach erschreckt Erwin, weil er einsieht, dass seine Mutter mit seinem homosexuellen Leben verbunden ist.

3.2. Das Schauspielmotiv

Nicht nur Tabuisierung, sondern auch Theater ist mit dem scheinhaften Leben des Fin de Siécle-Bürgers zu verbinden. Denn gerade wie der Schauspieler im Theater, spielt jeder Fin de Siècle-Bürger seine Rolle, um den Schein zu wahren.425 In der habsburgischen Gesellschaft war das Leben sehr oft um das Theater konzentriert.426 Müller berichtet sogar von einer “Theatromanie” in Wien um die Jahrhundertwende. Zur Verdeutlichung zitiert er Stefan Zweig: “[...] in dieser Lust am Schauspielhaften als Spiel- und Spiegelform des Lebens, gleichgültig ob auf der Bühne oder im realen Raum, war die ganze Stadt einig”.427 Auch Andrian schrieb in seinen Notizen über das Scheinverhalten seiner Freunde. So erzählt er über Edgar Karg Folgendes:

Das Scheinhafte bei allen: der Edgar hat eingestanden, daß er als Bursch Schauspieler sehr gern gehabt hat, selbst vorm Spiegel gespielt hat, und auch jetzt versteckt sein Bestreben seine Wahrheit oft in Schein. 428

422 Andrian: Garten, S. 43. 423 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 150. 424 Andrian: Garten, S. 37. 425 Vgl. 3. Das scheinhafte Leben, S. 39. 426 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 45. 427 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern, S. 28. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 38.) Zitiert nach Müller: Das Dekadenzproblem, S. 8. 428 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom 1894-96. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 100. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 81

Andrian war auch selber dem Rollenspiel verfallen: “Er [Karg] ist viel stärker wie ich im gleichen Kampf gegen das Scheinhafte in sich [,] viel weiter wie ich [...]”.429 Um 1900 wurde das Schauspielmotiv in Wien als ein Topos betrachtet.430 Auch Andrian hat im Garten der Erkenntnis wiederholt auf Schauspiele hingedeutet. Auffallenderweise ist das Schauspielmotiv im Garten der Erkenntnis noch nicht ausführlich untersucht worden. Nicht einmal alle wichtigen Hinweise auf “Schauspiel” sind berücksichtigt worden. Deswegen ist es umso interessanter, in den nächsten Abschnitten darauf näher einzugehen.

3.2.1. Rollenspiel, Wirklichkeit und Lüge

Im Rahmen einer Besprechung des Schauspielhaften springt eine Episode ins Auge: die Sängerinepisode. Über diese Sängerin, die im Bozner Theater auftritt, wird zuerst berichtet, dass sie

es verstand, durch alle Wirklichkeiten eines stilisierten und gesteigerten Lebens ihre Rolle wirklich zu machen und dennoch gleichzeitig dieselbe Rolle als eine Lüge, als den Vorwand zu einer einzigen großen huldigenden Prostitution an die Zuschauer zu zeigen.431 In diesem komplexen Satz fällt Verschiedenes auf. Bemerkenswert ist zuerst, dass nicht das Singen, sondern das Rollenspiel der Sängerin betont wird. Das Auftreten der Sängerin wird also explizit mit Scheinhaftigkeit assoziiert. Zweitens stellt sich heraus, dass im Passus “Wirklichkeit” als problematischer Begriff dargestellt wird. Das Rollenspiel wird paradoxerweise mit Wirklichkeit verbunden, was suggeriert, dass Erwin Rollenspiel mit Wirklichkeit verwechselt. Eigentlich wird schon früher im Text klar, dass sich die Wirklichkeit für Erwin als problematisch darstellt. So hat er ein problematisches Verhältnis zur Außenwelt, weil er sich, wie Renner zu Recht bemerkt, in der Konviktszene die Wirklichkeit mit Hilfe der Einbildung arrangiert.432 Außerdem ist das Zitat, mit dem sie belegt, dass Andrian in seiner Kindheit selber auch der Phantasie unterworfen war, auch sehr interessant:

429 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom 1895-96. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 100. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) Außerdem weist Renner darauf hin, dass Andrian schon als Kind im alltäglichen Leben auf theatrale Weise auftrat und Rollen fiktiver und historischer Persönlichkeiten übernahm. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 300.) 430 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 36. 431 Andrian: Garten, S. 18. 82

In meiner ganzen Kindheit hatte ich das Bedürfnis, meiner Phantasie ein ganz bestimmtes Gebiet der Thätigkeit zuzuweisen, bis zu 13 Jahren [...] mein ganzes Leben bestand darin, mir in der Rede eine fictive Existenz von Größe, Macht Ruhm vorzuspiegeln, so verhaßt war mir das wirkliche Leben. Was bei mir aber die Wahl des Helden bestimmte war hauptsächlich das Costum. [...] Es war immer das Leben neben dem wirklichen Leben.433 Der Hinweis auf “das Costum” bestätigt meiner Meinung nach, dass nicht nur Erwin, sondern auch Andrian Rollenspiel und Wirklichkeit schwer unterscheiden konnte. Überdies macht einer der (wenigen) Kommentare des auktorialen Erzählers die Problematik der Wirklichkeit im Text sichtbar:

sein Leben trat vor ihm hin, das er damals verachtet hatte; [...] Freilich war ihm dieses Leben jetzt auch von der Schönheit schön, die er zur Zeit, als er es durchlebte, in anderen Erwartungen fand. Aber das merkte er nicht, und er sehnte sich in das Konvikt zurück zu kehren.434 Hier will der auktoriale Erzähler die Leser davon überzeugen, dass Erwin die Wirklichkeit unbewusst verdreht. Auch paradox ist die Tatsache, dass “Wirklichkeit” in der Sängerinszene mit stilisiertem Leben verknüpft wird. Stilisiertes, abstrahiertes Leben kann aber nicht völlig mit der Wirklichkeit übereinstimmen, weil es eine Vereinfachung der Wirklichkeit ist. Es ist meiner Ansicht nach sogar denkbar, das stilisierte Leben als Synonym für das Schauspiel zu lesen, denn auch ein Schauspiel ist eine Art Abstrahierung der Wirklichkeit. Zu behaupten wäre sogar, dass Schauspielen für Erwin eine Lebensart ist. Denn es ist auffallend, dass Erwin durch die ganze Erzählung hindurch Rollen annimmt. Am Anfang der Erzählung verhält er sich zum Beispiel wie ein sehr religiöser Mensch (weiter in der Erzählung nicht mehr). Wenn er sich auf die Begegnung mit seiner Mutter freut, nimmt er die Rolle eines Sohnes an, und der sonst so Schweigsame spielt gegen Ende der Erzählung sehr kurz sogar den sozialen Menschen: “In den Städten sah er auch viele Menschen und sprach mit ihnen und liebte sie”.435 Auch folgender Passus ist interessant in Bezug auf Erwins Darstellung als Schauspieler:

[...] genoß sie [die verweichlichenden Freuden der Ausgangstage in Wien] um so mehr, weil er [Erwin] sich wie der Gesandte eines fernen Königs in einem fremden Reich fühlte, dem er morgen den Krieg erklären wird, aber dessen

432 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 80. (Vgl. 2.2.2. Innere Welt versus reale Welt, S. 28.) 433 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom Frühjahr 1894. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 80. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 434 Andrian: Garten, S. 17. [Hervorhebung von mir, SVD] 435 Andrian: Garten, S. 39. 83

festliche Aufzüge, Spiele und Schauspiele zu seinen Ehren er heute noch bewundert.436 In seiner Phantasie ist Erwin also ein Gesandter, der nur scheinbar friedlich ist, denn am Ende des Satzes stellt sich heraus, dass er den folgenden Tag “den Krieg erklären wird”. Dass gerade hier von Schauspielen die Rede ist, ist wohl kein Zufall, denn gerade wie ein Schauspieler spielt auch Erwin, der Gesandte, am Vorabend der Kriegserklärung eine Rolle. Im Kontext des Rollenspiels ist auch interessant, dass der homosexuelle Erwin plötzlich mit einer Frau zusammenlebt. Sowohl Paetzke als Renner betrachten diese Frau als Erwins Geliebte, was der Text meiner Ansicht nach aber nicht suggeriert.437 Ist es nicht wichtiger, dass Erwin dadurch, dass auch er jetzt mit einer Frau zusammenlebt, hier die Rolle dieses Schauspielers übernimmt, der mit der Sängerin zusammenlebte?438 Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass nicht nur die Sängerin, sondern auch Erwin als Schauspieler dargestellt und mit dem Scheinhaften assoziiert wird.439 Müller befindet denn auch zu Recht, dass Erwins Rührung in der Sängerinszene auf seine Identifikation mit der Gestalt der Sängerin verweist, weil beide eine Rolle spielen.440 Und Klienebergers vage Behauptung, dass die Sängerin Erwins eigene Erfahrungen widerspiegle, schließt dabei an.441 Wichtig ist auch, dass das Rollenspiel in der Sängerinszene nicht nur mit Wirklichkeit verbunden wird, sondern “gleichzeitig” mit Lüge. Das Wort “gleichzeitig” deutet meiner Ansicht nach nicht nur die Zweiheit des Rollenspiels an – darauf wird im nächsten Satz hingewiesen442 –, sondern auch die Doppeldeutigkeit, die Zweiheit der Phänomene im Allgemeinen.443 Die gegensätzlichen Wortgruppen “stilisierten und gesteigerten Lebens” und “großen huldigenden Prostitution” sind nur eine Illustration dieser Doppeldeutigkeit. Überdies weisen die Wörter “stilisiert”, “gesteigert” und “Prostitution” deutlich auf Erwins spätere Begegnungen voraus. Sie sind oberflächlich,

436 Andrian: Garten, S. 16. 437 Vgl. 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 78-79. 438 Andrian: Garten, S. 18: “Sie [die Sängerin] lebte in einem Zimmer mit einem Schauspieler zusammen”. 439 Bemerkenswert ist auch, dass Andrian schon auf der zweiten Seite der Erzählung sehr subtil darauf hingewiesen hat, dass Erwin vom Scheinhaften im Leben angezogen wird: “Etwas später bekam der Erwin eine sehnsüchtige Neigung für alles im Leben um ihn, worin die Ruhe zu sein schien [...]”. Erwin hat also keine Neigung für Sachen, worin die Ruhe ist, sondern für Sachen, worin die Ruhe zu sein scheint. (Vgl. Andrian: Garten, S. 14.) 440 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 93. 441 Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 623. 442 Andrian: Garten, S. 18: “Diese Zweiheit des Spiels färbte dem Erwin sonderbar ihren Reiz”. 443 Vgl. 4.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis), S. 105. 84 abstrahiert, und oft werden die Personen gesteigert und zugleich triebhaft dargestellt, wie zum Beispiel bei der Begegnung mit dem Fremden der Fall ist. Erwin weiß nicht viel über ihn; es ist möglich, ihn als Führer einer Gruppe zu betrachten oder ihn mit dem Triebhaften zu assoziieren.444 Auch die Fiaker werden stilisiert dargestellt, werden verglichen mit Erwins eleganten Freunden einerseits, und mit dem Anderen, dem Triebhaften andererseits.445 Das Lügen scheint für Erwin auf jeden Fall bedeutungsvoll zu sein, denn in der Sängerin-Episode wird am Anfang wie auch einige Sätze später wieder auf das Lügen hingewiesen:

Ein Augenblick besonders ergriff den Erwin immer. Das war, wenn gegen Schluß des Stückes das Orchester leiser und süßer wurde, und der Chor auseinander trat, und alle auf sie warteten und sie selbst vor die Lichter kam, brennend von Schminke, mit leuchtenden Augen und dem etwas faden Lächeln der Apotheose, und mit einer Rührung in der Stimme, an der ihn [Erwin] besonders rührte, daß sie erlogen war, die leichtsinnige und lügnerische Moral ihrer Fabel in der Menge warf.446 Nach Renner offenbaren sich in dieser Umschreibung der Apotheose sowohl Triumph als Tod.447 Sie hat das aber nicht aus der Textstelle begründet. Nur die Tatsache, dass die Augen der Sängerin leuchten, kann an das Todesmotiv erinnern, denn gerade bevor Erwin stirbt, träumt er noch von Menschen, deren “Augen leuchteten”.448 Ich meine, dass vor allem der Triumph betont wird: die Sängerin triumphiert, weil Chor und Musik für sie ausweichen und alle auf sie warten. Andererseits triumphiert auch das Lügnerische, das, was also Schein ist. Erwin rührt das erlogene Lächeln. Es ist bemerkenswert, dass das Lächeln nicht “gespielt”, sondern “erlogen” ist. Spielen und Lügen werden hier also gleichgesetzt. Dann fällt auf, dass die Moral lügnerisch ist, was als Warnung Andrians gelesen werden könnte. Will er auf diese Weise den Lesern bewusst machen, dass auch das Ende seiner Erzählung erlogen ist, dass er, gerade wie die Sängerin ihren Zuschauern, seinen Lesern eine Lüge mitteilt? In diesem Fall kennzeichnet Schein nicht nur Erwins Lebenshaltung, sondern auch Andrians Erzählhaltung. Das Ende der Erzählung kennzeichnet sich durch einen unzuverlässigen Erzähler. In der Forschung ist der letzte Satz der Erzählung auf jeden Fall nicht immer

444 Vgl. Andrian: Garten, S. 30. / Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 70. 445 Vgl 3.1.1.1. Das Andere, S. 41-44. 446 Andrian: Garten, S. 18. 447 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 98. 85 als zuverlässiger und unproblematischer Bericht betrachtet. So glaubt Scheible nicht recht, dass Erwin tatsächlich ohne Erkenntnis gestorben ist: “Der Fürst ist der verbotenen Erkenntnis teilhaftig geworden, aber gerade das durfte er nicht erkennen”.449 Dass auch Rabelhofer Erwins Nicht-Erkennen im Tod anzweifelt, stellt sich aus folgenden Sätzen heraus:

Wie weit „dem Erwin“ nun seine Erfahrung [...] zum Olymp der Erkenntnis geführt hat oder als schiere Unwägbarkeit bewußtseinsunfähig geblieben ist, scheint mir eines der Rätsel des Textes.[...] Hat er nun doch erkannt oder nicht? Und wenn ja, was hat er erkannt oder was hätte er erkennen sollen?450 Gegen Erwins Nicht-Erkennen spricht vieles. Nicht nur, dass aus der Sängerinepisode abgeleitet werden kann, dass der Erzähler lügt. Es ist auch auffallend, dass das Ende dieser narzisstischen451 Erzählung sich vom Ende des Narzissusmythos unterscheidet, auch wenn Erwin gerade wie Narzissus selbstbezogen ist, und nicht im Stande, eine andere Person zu lieben.452 Außerdem starb Narzissus, wie er sein Spiegelbild im Wasser sah: auch Erwin stirbt, nachdem er den Fremden gesehen hat, der als Erwins Doppelgänger betrachtet werden kann.453 All diese Parallelen suggerieren, dass auch das Ende der Erzählung mit dem Ende des Mythos übereinstimmen müsste, dass Erwin, wie Narzissus, erkennen würde. Im Gegensatz zu vielen Forschern, die sich beim letzten Satz keine Fragen stellen454, habe ich denn auch Mühe damit, das Ende als zuverlässigen auktorialen Bericht zu lesen. Auffallend ist in Bezug auf das Wort “Lüge” auch, dass es nur einmal mehr vorkommt in der Erzählung: “der Erwin wußte, daß er [der Fremde] log, aber er wußte auch, daß in dieser Lüge irgendwie die tiefe dunkle vielfältige Wahrheit lag”.455 Schon in der Sängerinszene hat sich herausgestellt, dass die Wörter “lügen” und “spielen” durcheinander gebraucht werden können. Das Lügen des Fremden kann dann vielleicht

448 Andrian: Garten, S. 42. 449 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 49. 450 Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein? ”, S. 69. 451 Vgl. 2.2. Narzissmus. 452 Schorske: Wien , S. 292. 453 Vgl. 4.1.2. Das Krankhafte: “Sie lieben alles was seltsam und krank ist”, S. 117. 454 Vgl. Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 625. / Komrij: Verzonken boeken, S. 44. / Nehring: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis”, S. 13. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 211-217. / Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 78. / Schorske: Wien , S. 292. / Stix: “Der Sonderfall”, S. 486. / Cathrine Theodorsen: “Zur Rolle des Dilettantismus im Prozess der Ausdifferenzierung einer österreichischen Literatur aus der deutschen Literatur”. (24 April 2007). 455 Andrian: Garten, S. 31. 86 auch als ein bloßes Spielen interpretiert werden, so dass auch der Fremde als ein Schauspieler betrachtet werden kann. Auf jeden Fall ist diese erste Begegnung mit dem Fremden auch vom Schauspielmotiv gekennzeichnet. Als Erwin bei dem niedrigen Haus ankommt, wird fast sogleich von “roten Vorhängen” berichtet, was an die Vorhänge in einem Theater erinnert. Und bei einem Vergleich der Vorstadtszene und der Sängerinszene fallen viele Parallelen auf, was strukturell bestätigt, dass auch die Vorstadtszene, gerade wie die Sängerinszene, eine theatralische ist:

[...] eine Sängerin [...] die es verstand [...] dieselbe Rolle als eine Lüge, als den Vorwand zu einer einzigen großen huldigenden Prostitution an die Zuschauer zu zeigen. [...] denn ihre Gemeinheit, Laszivität und Hingebung wurden durch das Theater, die Musik und die Lichter zu einer großartigen schattenhaften insolenten Proklamation, aber das Gepränge und der Jubel auf der Bühne mischte sich mit dem Beifall der Zuschauer zu einem seltsam wirklichen und sehr hohen Triumph für sie und für ihren sehr kostbaren Leib. [...] Das war, wenn [...] sie selbst vor die Lichter kam, brennend von Schminke, mit leuchtenden Augen und dem etwas faden Lächeln der Apotheose, und mit einer Rührung in der Stimme, an der ihn besonders rührte [...].456

an die Fenster [...] preßten seltsame Kinder ihr Gesicht. Der Erwin ging hinein. In einem kleinen Zimmer, dessen Luft blau von Rauch [...] war, sprach beinahe gleichgültig, fast traurig, ein junger, magerer, geschminkter Mensch mit scheuen Augen, im Frack mit gebranntem Haar, die jubelnden Lieder der Schrammeln. Dann sang eine Frau [...] Und wie sie das zweite Lied sang, begann die Melodie durch die Glieder der Menschen zu rieseln; sie neigten ihr Haupt auf die Seite, ihre Lippen öffneten sich, und wie verzaubert von Liebkosung starrten ihre Augen; und wenn der Walzer lockend und lächelnd pochte, so lächelten sie ein wenig geziert, und wenn der Walzer rührend und süß zerfloß, so wurden sie willig sich hinzugeben.457 Zunächst springt ins Auge, dass viele Wörter (Auge, hingeben, jubeln, lächeln, rühren, Schmink, seltsam) in der Vorstadtszene wiederholt werden. Zweitens gibt es auch eine Sängerin im niedrigen Haus. Sonst wird in beiden Szenen auf Feuer angespielt (brennend, Rauch). Und auch die Wortgruppen “großen huldigenden Prostitution” und “großartigen schattenhaften insolenten Proklamation” deuten voraus auf die Sphäre in der Vorstadt. Außerdem wird auch in beiden Szenen auf die “Zweiheit” des Lebens hingewiesen. In der Vorstadtszene wird der Fremde ambivalent dargestellt, und in der Sängerinszene heißt es: “Diese Zweiheit des Spiels färbte dem Erwin sonderbar ihren

456 Andrian: Garten, S. 17-18. 457 Andrian: Garten, S. 29-30. 87

Reiz”.458 Beachtenswert ist ebenfalls, dass in beiden Szenen das Schauspiel mit dem Triebhaften verbunden ist. Auch an einigen anderen Stellen ist das der Fall. So wird die Mutter, für die Erwin triebhafte Gefühle hat, mit dem Theater assoziiert.459 Das Orpheum und der Ronacher, zwei Unterhaltungsbühnen, werden mit dem Andern, dem Triebhaften also, verbunden.460 Auch folgender Satz ist in diesem Rahmen von kruzialer Bedeutung: “Auch die Menschen, die dort den ganzen Sommer zubrachten, fielen ihm wieder ein, Schauspielerinnen, Militärakademiker und junge Wiener Mädchen [...]”.461 Weil die Militärakademiker mit Erwins Homosexualität und die Wiener Mädchen mit Erwins Neigung zur Mutter assoziiert werden können462, kann geschlossen werden, dass auch die Schauspielerinnen zum Bereich des Triebhaften gehören. Ein großer Unterschied zwischen Sängerin- und Vorstadtepisode ist aber, dass in der Vorstadtepisode nicht von Zuschauern die Rede ist.

3.2.2. Zuschauer

Der Hinweis auf “Zuschauer” in der Sängerinszene ist nicht ohne Bedeutung, denn in der Erzählung stellt sich heraus, dass Erwin sich das Leben ansieht wie Zuschauer ein Schauspiel betrachten. Renner und Theodorsen beschreiben Erwins Leben mit Recht als gekennzeichnet von Passivität, Desinteresse am Handeln und Reflexion.463 Theodorsen fügt noch hinzu, dass Erwin deswegen als Fin de Siècle- Dilettant betrachtet werden soll.464 Verschiedene Forscher belegen Erwins passive Zuschauerposition. So weist Renner darauf hin, dass der passive Erwin nur auf die Epiphanie wartet, statt zu handeln. Stix deutet an, dass nicht Erwin, sondern seine Freunde “die ganze Nacht bei

458 Die Zweiheit des Lebens wird ausführlicher behandelt in 4.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis), S. 105. 459 Andrian: Garten, S. 36, 38. 460 Andrian: Garten, S. 22: “[...] denn alle Dinge, in denen es [das Andere] zu finden war, lagen ja in seinem [Erwins] Bereich: die Opernbälle, die Sofiensäle, der Ronacher und das Orpheum und der Zirkus und die Fiaker.” 461 Andrian: Garten, S. 20. 462 Vgl. 3.1.1.2. Clemens, S. 51. / 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 75. 463 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 143-144. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 114 464 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 113-119, “Zur Rolle des Dilettantismus”. Theodorsen berichtet auch davon, dass Bourget - auf den Andrian im Garten der 88 einer Dorfmusik tanzen konnten”.465 Bücher-Drechslers Bemerkung, dass Erwin nicht spricht, weil auch das schon Handeln wäre, ist auch zuzustimmen.466 Überdies ist es meiner Ansicht nach bezeichnend, dass Erwins Passivität nicht nur am Anfang (im Konvikt wehrt er sich nicht gegen seine Kameraden, oder es ist von Passivität im Zweikampf die Rede, in dem die Gegner einander “anschauen” statt zu kämpfen) deutlich abgeleitet werden kann, sondern auch noch am Ende der Erzählung: “Bei seiner Abreise erinnerte er sich ihrer [dem Jüngling und der Mädchen in Venedig] und wußte, daß sie für ihn bedeutsam waren, und er wäre fast umgekehrt”.467 Für mich ist es denn auch nicht zufällig, dass gerade danach vom Mithras-Heliosrelief die Rede ist: “aus den Nüstern des Stiers sprühte die Helle, weil sie ein Knabe mit abgewandtem Antlitz an seiner Fackel entzündete”.468 Bezeichnend ist, dass nach Erwins Wahrnehmung der Knabe das Feuer anzündet, also handelt, obwohl der Knabe auf diesem Relief in Wirklichkeit, wie schon bemerkt, die Fackel an das Feuer anzündet.469 Dass Erwin einen passiven Knaben als einen handelnden Knaben betrachtet, mag indizieren, dass er sich nicht von seiner eigenen Passivität bewusst ist, und sie manchmal sogar als Handeln interpretiert. Trotz allem glaube ich doch, dass Erwin nicht immer passiv ist, denn manchmal ergreift er die Initiative. In Bezug auf seinen Besuch an die Sängerin heißt es nämlich: “Endlich entschloß er [Erwin] sich, sie [die Sängerin] zu besuchen”.470 Und obwohl davon berichtet wird, dass Erwin mit Clemens ins Theater geht471 – und sie in Zuschauerpositionen versetzt werden – ist Erwin nicht bloß als passiver Zuschauer zu betrachten: “Er [Erwin] liebte es auch, ihn [Clemens] mit neu erfundenen Parfüms zu besprengen oder ihm jene Dinge zu schenken, deren Schönheit man, weil sie überraschend und unharmonisch ist, Eleganz nennt”.472 Paetzkes Bemerkung, dass Erwin die anderen Personen als Betrachtungsobjekte behandelt, stimmt also nicht

Erkenntnis verweist - das Dilettantismuskonzept im europäischen Fin de Siècle prägte. (Vgl. Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 91, “Zur Rolle des Dilettantismus”.) 465 Stix:“Der Sonderfall”, S. 483. (Vgl. Andrian: Garten, S. 21.) 466 Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 340. 467 Andrian: Garten, S. 39-40. 468 Andrian: Garten, S. 40. 469 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 60. 470 Andrian: Garten, S. 18. [Hervorhebung von mir, SVD] 471 Andrian: Garten, S. 25. 472 Andrian: Garten, S. 23. 89 ganz.473 Überdies wird Erwin, weil er Clemens stilisiert, fast zum Regisseur. In diesem Rahmen ist die folgende Äußerung von Hofmannsthal interessant: “man fand den Begriff des Schwebens über dem Leben als Regisseur und Zuschauer des großen Schauspiels verlockender als den des Darinstehens als mithandelnde Gestalt”.474 Theodorsen weist mit gutem Grund darauf hin, dass das zweite Motto der Erzählung mit Erwins problematischem Verhalten zum Handeln zusammenhängt: “Καί διά τοϋτο δρα, ίνα πάθη, ό πάσχει, ότι έδρασεν. (Ein Orphiker)”.475 Sie bemerkt, dass in diesem Zitat Leiden und Handeln miteinander verknüpft werden, und dass das Leiden zugleich Ziel (“Und deswegen handelt er, damit er erleidet,[...]”) und Konsequenz (“[...]was er erleidet, weil er gehandelt hat”) ist.476 Im Motto wird betont, dass das Handeln eine Voraussetzung ist für das Leben, in dem jeder vieles erleidet. Folglich suggeriert das Motto, dass Erwins Tod mit seiner Passivität verbunden werden kann. Überdies ist das Ende von Erwins Leben mit Passivität verknüpft. So wartet er nicht nur passiv auf Regen oder auf Schlaf, er hat auch einen Traum, in dem er eine Zuschauerposition einnimmt, denn in diesem Traum beobachtet er nur, während die anderen Männer im Traum seinen Namen nennen – also aktiv sind. Das alles bestätigt, dass Erwins Tod mit seiner Passivität zusammenhängt.477 Auffallend ist auch, dass in der Erzählung ein Satzteil formal an das oben genannte Motto erinnert: “[...] im Leben, das immer gleich wundervoll ist, weil es sich selber gleich bleibt, da es morgen sein wird, wie es gestern war, weil es ja heute nicht anders ist”.478 Der unterstrichene Satzteil besteht auch aus 4 Teilen, die, wie im griechischen Motto und wie in der deutschen Übersetzung des Mottos, mit Konjunktionen anfangen. Aber im Gegensatz zum Motto, wird hier nicht von Handeln, sondern von einem passiven Gleichbleiben berichtet. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass gerade Erwin diese Ode an die

473 Paetzke und Renner benützen “ästhetische Objekte”. Sie erklären aber nicht, weshalb sie die Objekte ästhetisch nennen. (Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 37. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 148.) 474 Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa I. Hg. von Herbert Steiner. Frankfurt: S. Fischer 1950, S. 176. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 162. 475 Andrian: Garten, S. 13. Die Übersetzung dieses Mottos lautet: “Und deswegen handelt er, damit er erleidet, was er erleidet, weil er gehandelt hat”. (Vgl. Andrian: Garten, S. 191.) 476 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895) ”, S. 114. 477 Das Fehlen der Dynamik kennzeichnet nicht nur Erwin, sondern auch das habsburgische Reich, das sich um die Jahrhundertwende an die sozial-politischen und ökonomischen Änderungen fast nicht anpasste. Wie sich zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung vom Garten der Erkenntnis herausgestellt hat, ist der Sturz des Reiches nach dem ersten Weltkrieg mit der Inflexibilität der Monarchie verbunden, gerade wie Erwins Tod mit Passivität zusammenhängt. Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 30, 274. 90

Passivität ausspricht, obwohl auch Erwins Mutter sich durch Passivität kennzeichnet.479 Sie ist es auch, die in dem Dialog die folgenden Worte ausspricht: “wir behalten und lieben die Schönheiten, die sie uns gezeigt haben, aber zu welchen sie uns führen und wie schnell sie uns vorbeiführen, hängt von ihnen ab”.480 Dieser Satz weist deutlich darauf hin, dass sie an einen passiven Lebensstil glaubt. In diesem Zusammenhang ist auch das Motiv der Hände interessant. Meiner Ansicht nach ist es nicht zufällig, dass gerade Mutter und Sohn dieselben Hände haben.481 Hände, die assoziiert werden können mit Handlung, Arbeit und Produktion, dürften im Garten der Erkenntnis paradoxerweise als Symbol der Passivität eingesetzt worden sein. Weil Erwin vor allem beobachtet, und sehr wenig handelt, ist er dem Schicksal ausgesetzt. Theodorsen hat also Recht, wenn sie sagt, dass das Prinzip des Zufalls herrscht.482 Einerseits ist das auf der Wortebene zu belegen, denn dreimal wird wortwörtlich “Zufall” erwähnt.483 Andererseits lässt sich das sogar auch in der Syntax belegen. So begegnen die Geschwister in Venedig Erwin, und nicht umgekehrt: “Jeden Morgen, wenn er über den Platz ging, begegnete ihm ein Jüngling und ein Mädchen”.484 Wie auf Zufall weist die Wortwahl – der wiederholte Gebrauch von Wörtern wie “denken”, “nachdenken” und “Gedanken” – auch darauf hin, dass Erwin kontemplativ ist. Bemerkenswert ist aber, dass diese Wörter vor allem vor der ersten Begegnung mit dem Fremden häufig vorkommen, danach nimmt ihr Gebrauch ab, dafür nimmt der Gebrauch der Wörter “wissen” und “erkennen” zu.485 Rieckmann erblickt in der Zunahme der epistemen Wörter die Bestätigung dafür, dass die Begegnung mit dem Fremden einen Wendepunkt darstellt.486 Nach Theodorsen verrät die Dichte dieser

478 Andrian: Garten, S. 31. [Hervorhebung von mir, SVD] 479 So hofft auch die Mutter, gerade wie Erwin, auf die Enthüllung des Geheimnisses, sucht aber auf passive Weise danach. 480 Andrian: Garten, S. 38. 481 Andrian: Garten, S. 13: “Aber der Erwin hatte ihre Hände[...]’ und Andrian: Garten, S. 37: ‚Denn er hatte [...] ihre Hände[...]”. 482 Theodorsen: „Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)“, S. 109. 483 Vgl. Andrian: Garten, S. 14, 18, 28. Auf diesen Seiten findet man die Wörter “Zufall” und “zufällig”. 484 Andrian: Garten, S. 39. 485 Vgl. Andrian: Garten, S. 13-15, 17, 19-20, 22, 25-26, 28, 31-32, 34-37,39-43. Die Wörter “denken”, “nachdenken” und “Gedanke” findet man vor der ersten Begegnung auf den Seiten 14-15, 17, 19-20, 22, 28 und nach dieser Begegnung nur auf Seite 32; Die Wörter “erkennen” und “wissen” findet man vor der ersten Begegnung nur auf den Seiten 13, 15, 17, 20, 25, 26, und danach auf den Seiten 31, 34-37, 39, 40- 43. 486 Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 73. 91 epistemen Wörter Erwins Interesse an Wissen, was für den Dilettantismus auch bezeichnend sei.487 Dass die Beobachtung von größter Wichtigkeit ist in dieser Erzählung, kann auch aus der Sprache geschlossen werden. So sind die vielen Hinweise auf Augen und auf den Sehsinn auffallend. Verben wie “sehen”, “einsehen”, “ansehen”, “aussehen”, “schauen”, “anschauen”, “herausschauen”, und Substantive wie “Anblick” und “Blick” sind mit dem Visuellen verbunden. Auch das Wort “Augenblick” kann damit assoziiert werden. Obwohl es inhaltlich wenig mit Augen zu tun hat, fällt es auf, dass das Wort immer wieder in der Nähe des Substantivs “Auge” steht oder in der Nähe eines Verbs, das mit Augen assoziiert wird.488 Hinzu kommt die visualisierende Bildsprache. So werden zum Beispiel Heinrich Philipps Tugenden visualisiert als Edelsteine dargestellt. Auch das Leben wird bildlich personifiziert: “es trat lockend hartnäckig, fast körperlich 489 vor ihn hin und schaute ihn vorwurfsvoll und sehnsüchtig an”. Überdies sind die Bilder des Zweikampfes und der Grotte sehr visuell.490 Auch Erwins Träume, die Naturbeschreibungen und die Darstellungen von Clemens und von dem Fremden sind stark visualisiert. Wie auch Theodorsen feststellt, ist nicht nur die Sprache der Erzählung, sondern sind auch die Rückblicke in die Vergangenheit sehr bildlich gehalten. So weist sie darauf hin, dass Erwin nicht zurückdenkt, sondern zurücksieht: “er sah die Fahrten nach Wien [...] er sah die Uniform und die Kappe[...] er sah das Gas 491 [...] er sah die Nachmittage der großen Feste[...] Sehr oft sah er auch Lato [...]”. Ihre Behauptung, dass das Visuelle dominiert im Garten der Erkenntnis, ist auch beizustimmen.492 Andrian, dessen Aufzeichnungen nach Renner im Hinblick auf eine rein kontemplative Lebenshaltung manchmal skeptisch sind493, macht selber einen Unterschied zwischen Sehmenschen, denjenigen, die nicht handeln, und nicht-

487 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 117. 488 Vgl. Andrian: Garten, S. 18, 26, 25, 36. Auf den Seiten 18 und 26 steht das Wort in der Nähe von “Auge”, auf Seite 25 in der Nähe von “schauen” und auf Seite 36 in der Nähe von “weinen”. 489 Andrian: Garten, S. 17. 490 Andrian: Garten, S. 15-16, 26-27. 491 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 115. (Vgl. Andrian: Garten, S. 17.) 492 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 117. 493 Zur Begründung zitiert Renner den folgenden Satz aus Andrians Aufzeichnungen: “Die That ist alles und zwar die That in jedem Augenblick”. Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom Januar 1897. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 198. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 92

Sehmenschen, denjenigen, die handeln. Theodorsen stuft mit Recht Erwin als Sehtypus ein. 494 Mit der Darstellung von Erwin als passivem Beobachter einerseits, und als Schauspieler, der verschiedene Rollen annimmt, andererseits, wird erinnert an Nietzsches Beschreibung des modernen Menschen.495

3.2.3. Bühne oder Leben?

Der Leser wird meiner Ansicht nach in dieser Erzählung aber nicht nur an Nietzsche, sondern auch an eine andere zeitgenössische Person erinnert: die berühmte italienische Schauspielerin Eleonora Duse, die 1892 in Wien triumphale Erfolge feierte, für die Schauspiel das Leben war. Wie die Sängerin tritt auch die Duse in “den großen Städten”496 auf, wie die Sängerin war auch die Duse beim Publikum beliebt. Überdies haben Sängerin und Duse gemeinsam, dass ihr Aussehen rätselhaft ist.497 Hugo von Hofmannsthal berichtet über die Duse Folgendes:

Sie reist durch Europa; sie ist sehr berühmt. In Deutschland aber kaum bekannt. Sie heißt also Eleonora Duse. Wir haben sie dreimal gesehen; ihr Bild ist seither unaufhörlich um uns, wie der Zwang einer Suggestion; aber wir wissen nicht wie sie aussieht.498 Und über die Sängerin wird berichtet

daß sie im Leben alt und nicht schön sei; von da an war sie ihm noch merkwürdiger. Endlich entschloß er sich, sie zu besuchen; er hatte dabei große Angst. Sie lebte in einem Zimmer mit einem Schauspieler zusammen; sie war wirklich nicht schön und sie war alt, aber dennoch war sie wie ein Mädchen.499 Meiner Ansicht nach ist es wesentlich, dass Erwin unterscheidet zwischen ihrem Aussehen “im Leben” und ihrem Aussehen “auf der Bühne”. Wichtig ist dann auch, dass er große Angst bekommt, wenn er sich dafür entscheidet, ihr im Leben neben der Bühne zu begegnen. Das deutet darauf hin, dass Erwins Angst eine Angst vor der

494 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895) ”, S.114-115. 495 Nietzsches Beschreibung des modernen Menschen wird von Theodorsen folgendermaßen zusammengefasst: “So wird der moderne Mensch entweder als passiver >>geniessende[r] und herumwandelnde[r] Zuschauer<< beschrieben oder als Schauspieler, der sich ja per definitionem in verschiedene Rollen hineinversetzen [...] muß [...]”. Vgl. Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 127. 496 Andrian: Garten, S. 17. 497 Vgl. Brockhaus: Band 6, S. 57. / Wiener Moderne, S. 618. 498 Hugo von Hofmannsthal: Eleonora Duse. “Die Legende einer Wiener Woche”. In: Wiener Moderne, S. 623. 499 Andrian: Garten, S. 18. 93

Realität ist, auch wenn diese Angst zugleich als Angst vor dem Triebhaften identifiziert werden kann, und auch wenn Renners Behauptung, dass die Angst schon hier mit der Angst vor Vater- und Mutterfigur zusammenhänge, auch plausibel ist.500 Im Schauspiel fühlt Erwin sich gut; aber sobald er wieder mit der Realität konfrontiert wird, bekommt er Angst. Schon in der Konviktszene wurde klar, wie bedrohend diese Realität für ihn war.501 Außerdem ist Erwins Theateraufenthalt nicht nur eine Flucht aus der Wirklichkeit, sondern auch eine aus der Zeit, denn der Auftritt der Sängerin hat etwas Zeitloses an sich. Der ganze Aufenthalt in Bozen kann, wie auch Stix bemerkt, als eine Flucht aus der Gegenwart betrachtet werden: zuerst vertieft Erwin sich in Erinnerungen, dann im Schauspiel, und dann in der Zukunft.502 In einer anderen interessanten Passus wird auch unterschieden zwischen Leben und Bühne:

es war wunderschön, daß der einsame Tod, welcher das Leben ist, uns nicht verhindern kann, eine fremde Schönheit, die wir nicht verstehn, die sich uns nicht enthüllen und uns nichts geben wird, nur weil sie schön ist, zu bewundern; es war wunderschön, daß wir, obwohl Menschen, dennoch Künstler sind, Künstler wiederum darin, daß wir nicht einmal klagen, wenn uns diese Schönheit entgleitet, sondern sie grüßen und über sie jübeln, weil uns ein Schauspiel mehr wie unser Schicksal ist.503 Der letzte Satzteil (ab “weil”) im oben genannten Zitat ist interessant, weil es auf zwei bedeutende Phänomene hindeutet. Zuerst auf die Tatsache, dass das Jubeln und das Grüßen eigentlich nur gespielt, und also scheinhaft sind. Zweitens, dass das Schauspiel hier, wie auch Renner bemerkt, über das Leben gestellt wird.504 Nach Paetzke ist das Leben als Schauspiel zu verbinden mit der Haltung des Dilettanten.505 Stix redet sogar von der “Abstrahierung des Lebens in blutleeres Schauspiel”.506 Es fällt auf, dass auch hier die Wir-Anrede angewendet wird. Theodorsens und Renners Behauptung, dass mit

500 Vgl. 3.1.1.5. Eine weibliche Erzählung, S. 64. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 150. Was Erwin, nach Renner, getötet hat, ist, wie schon bemerkt, die Unfähigkeit, den ödipalen Konflikt zu lösen. Nach ihr sollte der Tod als Strafe für den ödipalen Wunsch gelesen werden. (Vgl. 3.2.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 79.) 501 Vgl 2.2.2. Innere Welt versus reale Welt, S. 28-29. 502 Stix: “Der Sonderfall”, S. 482. 503 Andrian: Garten, S. 32. [Hervorhebung von mir, SVD] 504 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 162. 505 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 35. 506 Stix: “Der Sonderfall”, S. 483. 94 dem Pronomen “wir” die Jung Wiener Gruppe angeredet wird507, ist gerade an dieser Stelle ganz plausibel, denn Andrian, wie seine Freunde, wurden von Scheinhaftigkeit und vom Schauspielhaften gekennzeichnet.508 Paetzke meint, dass Erwins Auffassung vom Leben als Schauspiel ein Versuch ist, den Realitätsverlust zu akzeptieren, was sie aber nicht begründet, und meiner Ansicht nach auch schwer begründet werden kann.509 Sie fügt hinzu, dass dieser Versuch scheitert. Auch wenn am Ende der Erzählung noch darauf hingewiesen wird, dass das Schauspiel Erwin mehr als das Leben erregt510, glaube ich, wie Paetzke, dass das Schauspielhafte Erwin nicht zur Lösung seiner Probleme führt. Es dürfte im Text sogar einen Hinweis darauf geben, dass Erwin das selber einsieht, denn, wenn er berichtet, von dem, was alles “sinnreiche Schönheit”511 hat, fehlt in seiner darauf folgenden Liste Theater oder Schauspiel. Paetzkes Bemerkung, dass die Auffassung vom Leben als Schauspiel schon den Zweikampf zwischen den Schönheiten der Welt und denjenigen der Kirche kennzeichnet, weil der Kampf “fast zu einer Parade wurde”512 und die Gegner einander bewundernd betrachten, ist auch zuzustimmen. Sie fügt noch hinzu, dass das Bild des Zweikampfs auf die Sängerinepisode vorausweist.513 Sie hat aber nicht darauf geachtet, dass das Bild auch auf die Verabschiedung von Clemens und Erwin vorausdeutet:

einen Augenblick standen sie sich gegenüber in ihrer unfruchtbaren Schönheit, von der sie einander nichts geben konnten; dann schaute durch das Fenster die Landschaft herein, Getreide, Wiesen und Himmel, jedes in seiner Farbe, aber unnatürlich wach, in einem Reiz, dessen Ton zu hoch gespannt war, denn noch schien keine Sonne.514

507 Vgl. 1.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 36. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 299- 301. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895) ”, S.141.) 508 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 45. 509 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 36. 510 Andrian: Garten, S. 40: “Und dennoch bemerkte er [Erwin], daß der Wechsel von Morgen und Abend, von Regen und Sonne und der Wechsel der Jahreszeiten die Fülle der Gefühle in ihm zurückließ, die er sich von der Unendlichkeit der Schauspiele gewährt glaubte”. 511 Andrian: Garten, S. 27. 512 Andrian: Garten, S.15. 513 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 36. 514Andrian: Garten, S. 25. 95

Erwin und Clemens stehen einander gegenüber wie zwei Helden im Zweikampf. Dass die Natur hier als Zuschauer introduziert wird, bewirkt, dass auch hier die zwei “Gegner” als Schauspieler betrachtet werden können.515 Auch will ich darauf hinweisen, dass der Passus auf Seite 93 inhaltlich erinnert an die Sängerin- und Kurtisaneszenen. Gerade wie Sängerin und Kurtisane wird auch die fremde Schönheit nicht verstanden und enthüllt sie nichts. Das Bewundern der fremden Schönheit erinnert an Erwins Bewunderung für die Sängerin und an die “Bewunderung der Fürsten, der Künstler, und der Menge” für die Kurtisane. Außerdem setzt “bewundern” Beobachtung voraus, worauf auch in der Sängerinepisode angespielt wird. Schließlich wird sowohl in der Kurtisane-episode als in diesem Zitat auf die Menschen als Künstler hingedeutet. Das Entgleiten der Schönheit erinnert nicht nur an Erwins Entdeckung, dass die Sängerin nicht schön, eher alt war, sondern auch an die Trennung von der schönen Kurtisane. Und gerade wie nicht geklagt wird, wenn die Schönheit entglitten ist, schätzt auch Erwin die Sängerin noch, nachdem er entdeckt hat, dass sie eigentlich alt und nicht schön ist, denn sie bleibt ein Mädchen für ihn, was hier im Gegensatz zum Adjektiv “alt” als positiv gilt. Vor allem die Tatsache, dass dann am Ende des Satzes auf die Wichtigkeit des Schauspiels hingewiesen wird, bestätigt, dass diese Szene zu Recht mit der Sängerinepisode assoziiert werden kann. Das Ende des Satzes betont aber auch, dass die Szene eng mit der Kurtisaneszene verbunden ist, denn wie dort auf Schauspiel und auf Schicksal angespielt wird, wird auch über die Kurtisane Folgendes gesagt:

sie glich einer Triumphsäule ihres eigenen Lebens, der das Unzählige eingeprägt war, was man von ihr erhofft und in ihr gefunden hatte, und darüber in prunkvollen Zügen das große herrliche Schicksal, das ein solches Leben ist. Besonders ihr Lächeln war voll davon, ihr schönes Lächeln, das [...] hinter ihr zog, wenn sie über die Straßen ging oder über die Stiegen der großen Theater.516 Meiner Ansicht nach wird die Wichtigkeit des Schicksals durch den Hinweis auf die großen Theater untergraben. Weil das Schicksal hier untergraben wird, und sich aus der Sängerinszene herausgestellt hat, dass Erwin sich bei dem schauspielhaften Leben besser fühlt als bei dem wirklichen Leben, deuten beide Szenen voraus auf den Schluss des Zitats auf Seite 93: “weil uns ein Schauspiel mehr wie unser Schicksal ist”.

515 Überdies befinden Renner und Bucher-Drechsler, dass die Landschaft hier Erwins Gefühle widerspiegelt. Vgl. Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 328. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 132. 96

516 Andrian: Garten, S. 29. [Hervorhebung von mir, SVD] 97 98

4. Leben und Kunst

Nein – nicht Kunst treiben, als ein Intermezzo in das Leben fügen, um sich die Nerven für eine Viertelstunde zu montieren; sondern das ganze Leben überhaupt in Kunst verwandeln, bis jede andere Spur daraus entwichen ist. Das möchte ich.517 Dieses Zitat von Bahr ist exemplarisch für die Periode um 1890, in der die Kunst zum primären Lebensbereich geworden war als Konsequenz der politischen Funktions- losigkeit von Großbürgertum und Adel.518 Dass Kunst und Leben und ihr reziprokes Verhältnis im Zentrum der Diskussionen der Jung Wiener standen, stellt sich unter anderem aus Gesprächsfragmenten heraus, die Andrian sich in seinem Tagebuch notiert hat.519 Für Andrian war Kunst nicht nur Zentrum, sondern auch Sinn seines Lebens: “Das Leben ist zu wertlos als solches. Wüßte ich mich talentlos, brächte ich mich um”.520 In einem Brief an Hofmannsthal aus 1894 setzte er sogar die Kunst wortwörtlich dem Leben gleich:

Und immer dieselbe stumme Verzweiflung an meiner Kunst, d. h. an meinem Leben, weil das für mich identisch ist – d. h. das sogenannte zufällige Leben mir ganz nichtssagend ist.521 Überdies hat Kunst für die Jung Wiener, die Millionärssöhne, eine andere Bedeutung als sie für die Vätergeneration hatte.522 Im Gegensatz zu den Vätern, für die Kunst mit Status verbunden war, betrachteten die Jungen Kunst als eine Lebensart, ein Zufluchtsort, eine Flucht in Schönheit um von gesellschaftlichen Problemen abzulenken.523 Diese Lebenshaltung, die Kunst zum Kriterium des Lebens macht und gesellschaftliche Ideale vernachlässigt zugunsten der Schönheit, wird mit dem

517 Hermann Bahr: Neben der Liebe. Wiener Sitten. Berlin: S. Fischer Verlag 1893, S. 94f. Zitiert nach Müller: Das Dekadenzproblem, S. 18. 518 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 245, 274. 519 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 95. 520 Zitiert nach Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 101. Theodorsen übernimmt das Zitat von Jens Rieckmann: Leopold von Andrian. In: German studies review (1994), S. 12. 521 Zitiert nach Andrian: Garten, Nachwort, S. 208. Sudhoff deutet für dieses Zitat keine Quelle an. Er teilt nur mit, dass Andrian diese Worte etwa am 15. Februar 1894 in einem Brief an Hofmannsthal geschrieben hat. 522 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 14. Die Jung Wiener werden von Rieckmann als “Millionärssöhne” bezeichnet, weil sie meistens Söhne reicher, großbürgerlicher oder adliger Eltern waren. Ihre Väter, von denen sie sich doch sehr bewusst zu distanzieren versuchten, erwarben in den vorangehenden Jahrzehnten, trotz politischer Funktionslosigkeit, noch viel Reichtum. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 236, 274 / Schorske: Wien , S. 287. 523 Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 45. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 5-7. 99

Ästhetizismus verknüpft524, der Bewegung, die sehr häufig mit dem Phänomen der Dekadenz in Verbindung gebracht wird.525 In den folgenden Abschnitten wird nicht nur überprüft, ob Der Garten der Erkenntnis von einer ästhetisierenden Haltung gekennzeichnet ist, sondern auch ob es von dekadenten Merkmalen charakterisiert ist. Schon verschiedene Forscher haben die Erzählung mit Dekadenz526 und/oder Ästhetizismus527 in Verbindung gebracht. Obwohl Ästhetizismus in der Sekundärliteratur immer wieder als Schlagwort im Hinblick auf Dekadenz benützt wird528, erfordert der Begriff meiner Ansicht nach aber eine gesonderte Behandlung, weil es eine unabhängige Bewegung darstellt.

4.1. Der Garten der Erkenntnis als dekadentes Werk?

“Dekadenz” lautet die deutsche Form des französischen Wortes “décadence”, das schon um 1892 im deutschsprachigen Gebiet in Kulturkritik und in öffentlichen Diskussionen ein Modewort war.529 Der Begriff wird nicht nur mit Niedergang und Verfall530, sondern auch mit Verunsicherung verbunden. Im Gegensatz zu den Vätern, die daran glaubten, die Rätsel der Natur und die großen Fragen der Zeit lösen zu können, hatten die Söhne, die im Zeitalter der Dekadenz lebten, nämlich kein Vertrauen darin; sie wurden konfrontiert mit dem Verschwinden stabiler Systeme531: “Decadent

524 Vgl. Brockhaus: Band 2, S. 219 & Band 19, S. 488. / Monika Fick: “Vorlesung 2: Die literarische Moderne als Epoche der „-ismen“ – ein Überblick”. (24 April 2007), S. 8. / Schorske: Wien , S. 283. 525 Ästhetizismus und das Schöne – ein Phänomen verbunden mit Ästhetizismus - verbinden Müller und Hofmannsthal mit Dekadenz. Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 51, 74, 76, 98. Bemerkenswert ist vor allem Müllers Bemerkung auf Seite 74, dass alle Artikel, die in irgendeinem Zusammenhang von Dekadenz sprechen, als eines der Schlagworte Ästhetizismus hervorheben. 526 In der herangezogenen Sekundärliteratur ist davon die Rede, dass Gerhart Baumann, Curt Hohoff, Karl Johann Müller, Horst Schumacher und Arthur Möller van den Bruck den Garten der Erkenntnis als dekadente Erzählung eingestuft haben. Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 77, 88-90. / Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 195. 527 Die Erzählung wird bei folgenden Forschern mit dem Ästhetizistischen oder dem Ästhetischen – einem wesentlichen Aspekt des Ästhetizismus - verbunden: Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 636. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 92f. / Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 67. / Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 27-49. / Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 75. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 218. / Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 38. / Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 244. 528 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 74. 529 Florian Krobb: ““Die Kunst der Väter tödtet das Leben der Enkel”: Decadence and Crisis in Fin-de- Siècle German and Austrian Discourse”. In: New Literary History 35 (4) (Autumn 2004), S. 547. 530 Fick: “Vorlesung 2”, S. 3. 531 Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 550, 553. 100 art ist the art of the discarded certainty and the demolished wholeness”.532 Zugleich aber wird die Dekadenz oft als Übergangszeit betrachtet, als eine Periode von Verfall, auf die eine neue Zeit folgt.533 Dass Krobbs Behauptung “Mit dem Begriff ‚Décadence’ ließ und läßt sich . . . vieles verbinden. Bis heute harrt der Terminus einer präzisen Definition”.534 beizustimmen ist, kann nicht nur aus Müllers Arbeit abgeleitet werden, in der der problematische und vieldeutige Dekadenzbegriff in der österreichischen Literatur besprochen wird.535 Es kann auch darauf geschlossen werden aus einem Vergleich der Dekadenzumschreibungen in anderer herangezogener Sekundärliteratur, in der immer wieder unterschiedliche Phänomene mit Dekadenz verbunden werden.536 Gerade deshalb wäre es fast unmöglich zu untersuchen, ob und inwieweit in Andrians Erzählung alle erwähnten dekadenten Phänomenen vorzufinden seien. Deswegen habe ich mich dafür entschieden, für diese Untersuchung des Dekadenten im Garten der Erkenntnis von einigen Begriffen auszugehen, die in der konsultierten Sekundärliteratur am häufigsten mit Dekadenz verbunden werden: Neben 537 “Ästhetizismus” sind das “das Unnatürliche” und “das Krankhafte”.

532 Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 551. Er weist auf Seite 550 darauf hin, dass sowohl die Philosophie von Ernst Mach (Vgl. 4.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis), S. 107.), als auch die Kunst der Sezessionisten und die politische Lage in Wien das Verschwinden stabiler Systeme illustriert. 533 Vgl. Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 555. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 74. 534 Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 548. 535 So stellt sich zum Beispiel heraus, dass Bahrs Dekadenzverständnis (Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 20-37.) sich stark von demjenigen Hofmannsthals (Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 50-72.) unterscheidet. 536 Vgl. Fick: “Vorlesung 2”, S. 3-6. / Fischer: Fin de Siècle, S. 79-82. / Krobb: “Decadence and Crisis”. / Müller: Das Dekadenzproblem. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 261. / Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 108. / Hermann Bahr: “Die Décadence”, “Décadence und Dilettantismus”, Ottokar Stauf Von der March: “Die Neurotischen”. In: Wiener Moderne, S. 225-232, S. 234-238, S. 241. 537 Künstlichkeit, Unnatürlichkeit führen Bahr, Baudelaire, Fick, Krobb und Müller an in Bezug auf das Dekadenzsyndrom. Vgl. Hermann Bahr: “Die Décadence”. In: Wiener Moderne, S. 227. / Fick: “Vorlesung 2”, S. 4. / Fischer: Fin de Siècle, S. 79, 82. / Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 549. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 35, 43. Auf den Zusammenhang zwischen der Dekadenz und dem Krankhaften weisen Fick, Hofmannsthal, Krobb, Müller und Von der March hin. Vgl. Fick: “Vorlesung 2”, S. 4. / Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 553. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 68, 72, 98. / Ottokar Stauf Von der March: “Die Neurotischen”. In: Wiener Moderne, S. 241. 101

4.1.1. Das Unnatürliche: “Es ist ihre Natur, unnatürlich zu sein”

Diese Aussage über die Unnatürlichkeit der Décadents stammt von Hermann Bahr538, dem “Organisator” des Jungen Wien, der von allen Jung Wienern Hofmannsthal und Andrian am meisten schätzte.539 Aber wie ist eigentlich “unnatürlich” zu verstehen? Müllers Beschreibung vom Unnatürlichen als “abnormal”, “unwirklich”, “künstlich” ist meiner Ansicht nach eine Antwort auf diese Frage.540 Zusätzlich wird man stark an den Garten der Erkenntnis erinnert, wenn man Müllers Katalog von unnatürlichen Objekten (in Bezug auf die von ihm besprochenen Werke Roman aus der Décadence und Die Dekadenten541) etwas näher betrachtet. Als unnatürlich wird unter anderem aufgelistet: “[...] Parfüms, [...] Spiegelschränke, [...] weiße Seide an den Wänden [...]”.542 Im Garten der Erkenntnis ist von Spiegeln, und – in Bezug auf Erwins Mutter – von “Seide [...] und Steinen [Edelsteinen]”543 die Rede, und – was Clemens betrifft – vom Besprengen mit Parfüms.544 Dass es in Andrians Erzählung aber andere Gegenstände gibt, die als unnatürlich betrachtet werden können, und überdies andere Personen, die von Unnatürlichkeit gekennzeichnet werden, werde ich im Folgenden erläutern. Von vielen Figuren, denen Erwin begegnet, werden einige persönliche, oft äußerliche, Merkmale ausführlich umschrieben. Auffallend ist, dass diese sehr oft Künstlichkeit, Unnatürlichkeit also, aufzeigen. Gerade wie Clemens durch das Parfüm unnatürlich wirkt, und Erwins Mutter – die einen Kunstwerkcharakter hat545 – durch ihre Seide und Steine, wirkt auch der Offizier, dem Erwin auf dem Weg nach Bozen begegnet, künstlich. Über ihn wird berichtet: “seine Art zu reden war etwas umständlich und er betonte ein wenig die tonlosen Vokale”.546 Auch die Sängerin hat eine unnatürliche Wirkung, indem sie in einem Schauspiel befangen ist. Dass das Schauspiel

538 Hermann Bahr: “Décadence”. In: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887- 1904. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg. Stuttgart ea.: Kohlhammer 1968, S. 169. Zitiert nach Müller: Das Dekadenzproblem, S. 35. 539 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 82, 87. (Vgl. 1. Einleitung, S. 7.) 540 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 43. 541 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 37. Roman aus der Décadence wurde geschrieben von Kurt Martens, Die Dekadenten von Gerhard Ouckama-Knoops. Beide Werke stammen aus dem Jahr 1898. 542 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 43. 543 Andrian: Garten, S. 36. 544 Andrian: Garten, S. 23. 545 Vgl. 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 75. 546 Andrian: Garten, S. 17. 102 in der Erzählung zum Lebenssurrogat wird, ist dann auch typisch dekadent.547 Bemerkenswert ist auch, dass später im Text sogar die Natur als unnatürlich dargestellt wird: “dann schaute durch das Fenster die Landschaft herein, Getreide, Wiesen und Himmel, jedes in seiner Farbe, aber unnatürlich wach [...]”.548 Überdies stellt sich heraus, dass der Priester, mit dem Erwin in Bozen spazieren geht, Frösche “künstlich aneinander” binden kann.549 Und der Fiaker, der Erwin besonders gefiel, hat eine solche künstliche Pose angenommen, dass er mit einer manierierten Zeichnung verglichen wird: “[...] er [der Fiaker] aber saß da [...], wie eine graziöse und etwas manierierte Zeichnung in der manierierten Eleganz seines Zeugels”.550 Im selben Kontext sind auch die homosexuellen Gefühle, die, wie schon bemerkt, mit den Fiakern zu assoziieren waren551, als unnatürlich zu betrachten. Aber auch die Kurtisane und der Fremde wirken unnatürlich, die Kurtisane wegen ihrer Androgynität und ihres Kunstwerkcharakters552, der Fremde, weil sein Gesicht und seine Bewegungen als abnormal dargestellt werden:

Im niedrigen Gesicht des Fremden war Sanftmut und Bosheit, Furchtsamkeit und Drohung [...] es änderte sich nicht, wenn er sprach, nur sein Körper wand sich wie unter einer inneren Bewegung, die ihn überwältigte. Seine Gebärden waren weit, als wollte er vieles sagen, aber kraftlos und lässig, als sei er zu schwach dazu.553 Überdies weist Müller darauf hin, dass im Wort “fremd” die Sehnsucht nach dem 554 Unnatürlichen versteckt ist. Nur die Bezeichnung “der Fremde” genügt also, um auf seine Unnatürlichkeit hinzuweisen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch der Zweikampf zwischen Kirche und Welt:

Aber seine Gedanken gaben diesem Zweikampf [...] so gesuchte Formen, daß er fast zu einer Parade wurde, zu einem Vorwand [...] die fremde Herrlichkeit zu bewundern, und an der fremden Größe der eigenen gewahr zu werden;555 Nicht nur das Wort “fremd” wird hier wiederholt, auch das Wort “gesucht”, dass nach Müller auch auf Unnatürlichkeit weist, wird angewendet.

547 Vgl. 3.2.3. Bühne oder Leben? / Zoltan Szendi: “Erzählperspektiven in den frühen Novellen Arthur Schnitzlers”. In: Acta Germanica 10 (Erzählstrukturen 2) (1999), S. 100. 548 Andrian: Garten, S. 25. [Hervorhebung von mir, SVD] 549 Andrian: Garten, S. 38. [Hervorhebung von mir, SVD] 550 Andrian: Garten, S. 22. [Hervorhebung von mir, SVD] 551 Vgl. 3.1.1.1. Das Andere, S. 41-44. 552 Vgl. 3.1.1.5. Eine weibliche Erzählung, S. 66. / 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 75. 553 Andrian: Garten, S. 30. 554 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 104 (Fußnote102). 555 Andrian: Garten, S. 15. [Hervorhebung von mir, SVD] 103

Man sollte sich aber dessen bewusst sein, dass mit dem Fremden nicht nur auf das Unnatürliche, sondern zugleich auf das Übernatürliche hingedeutet wird, denn, wie schon zuvor bemerkt, wird anhand des Fremden angespielt auf Dionysos.556 Die Stelle, an der der Fremde introduziert wird, weist meiner Ansicht nach schon auf seine Besonderheit hin: “Nur die bosnischen Soldaten an einem getrennten Tisch in der Ecke beim Kruzifix blieben ganz ernst. Ganz ernst blieb auch einer, der neben dem Erwin saß”.557 Dass zuerst bemerkt wird, dass “nur” die bosnischen Soldaten ganz ernst blieben, und, dass gleich danach, einzeln, darauf hingewiesen wird, dass noch einer ganz ernst blieb, suggeriert meiner Ansicht nach die besondere Position des Fremden. Dass schließlich der Fremde mit dem Geheimnisvollen558, das heißt mit dem Mysteriösen, verbunden wird, akzentuiert den dunklen, rätselhaften, mystischen Charakter des Fremden. Überdies sollten wir nicht vergessen, dass Erwin nach dem Geheimnis des Lebens sucht.559 Das Mystische wird nicht nur bei Bahr und bei Hofmannsthal560, sondern auch bei Marie Herzfeld, einer Zeitgenossin von Andrian, mit der Dekadenz verbunden: “[...]Decadenten, die sich reflexionsmüde aus einem kalt nüchternen Jahrhundert ins Treibhaus der Mystik geflüchtet [haben] [...]”.561 Theodorsens Behauptung, dass “die Versetzung der Realität in einen Geheimniszustand”562 im Garten der Erkenntnis mit dem französischen Symbolismus verbunden werden soll, lässt ahnen, dass das Mystische sowohl der Dekadenz als dem Symbolismus zugeschrieben werden kann. Wie schon viele Forscher betont haben, können die literarischen Strömungen um die Jahrhundertwende nicht scharf von einander abgegrenzt werden.563 Müller fasst die Problematik in einem Satz zusammen: “Die wissenschaftliche Literatur ist sich in der

556 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 60. 557 Andrian: Garten, S. 30. 558 Andrian: Garten, S. 35: “sein Gesicht und seine Gebärden waren so verschieden von einander und so geheimnisvoll wie bei der ersten Begegnung [...]”. 559 Vgl. 2.1.1. Erwins Streben nach Orientierung, S. 16. 560 Vgl. Hermann Bahr: “Die Décadence”. In: Wiener Moderne, S. 231. / Fischer: Fin de Siècle, S. 82. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 51. Auch für Krobb ist das Mystische mit Dekadenz verbunden. Vgl. Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 549. 561 Marie Herzfeld: Menschen und Bücher. Literarische Studien. Wien: Weiß 1893, S. 164-168. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 261. 562 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 141. Sie verbindet auch folgende Phänomene der Erzählung mit Symbolismus: die verdichtete bildliche, lyrische Sprache, die Farbenmetaphorik, die kryptischen Mottos, das Vage der Darstellng. 563 Vgl. Fick: “Vorlesung 2”, S. 1. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 47. 104 genauen Abgrenzung von Impressionismus, Neuromantik, Symbolismus und Dekadenz nicht einig”.564 Im Gegensatz zu den oben genannten Figuren, bekommt der Leser keine Beschreibung von Erwins Äußerem. Trotzdem kann festgestellt werden, dass auch Erwin mit dem Unnatürlichen verbunden werden kann, weil er einige Male mit artifiziellen Phänomenen assoziiert wird: Gärten und Festen. Ich werde in den folgenden Abschnitten ausführlicher auf diese zwei Begriffe eingehen.

4.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis) Der Garten – in der Literatur des Fin de Siècle ein sehr häufig gebrauchtes Motiv – war für die neuen Künstler, wie Hofmannsthal und Andrian, ein artifizielles Paradies, um sich aus der Wirklichkeit zurückzuziehen.565 Dass auch Erwin das im Garten der Erkenntnis macht, stellt sich aus dem folgenden Zitat heraus:

Im zweiten Teil des Frühlings, in dem die Gärten schön sind, ging er nach Schönbrunn oder Laxenburg oder in den Volksgarten, aber immer allein. Dann sprach er Verse, deren Inhalt mit ihm nichts zu schaffen hatte, aber deren Klang ihn bewegte. Und in diesen kraftlosen Versen Bourgets kamen zwei Worte immer wieder [...].566 Zuerst fällt auf, dass von Schönheit, Einsamkeit und von Versen die Rede ist. Theodorsens Behauptung, dass die Gärten im Garten der Erkenntnis nicht nur mit Isolation, sondern auch mit Schönheit und Kunst verbunden sind, stimme ich denn auch bei.567 Wie auch Theodorsen zu Recht bemerkt, werden Gärten im Garten der Erkenntnis auch negativ dargestellt.568 So wird der Garten im Dialog zwischen Sohn und Mutter mit Erwins problematischer narzisstischer Haltung569 verbunden: “[...] Lustgärten

564 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 47. 565 Vgl. Schorske: Wien , S. 287, 291. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 144. 566 Andrian: Garten, S. 24. [Hervorhebung von mir, SVD] 567 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 144. 568 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 145. Sie erwähnt in der Fußnote auch Stefan Georges Gedicht: Mein Garten, in dem der Garten unheimlich wirkt: “Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme/ Der garten den ich mich selber erbaut/ Und seiner vögel leblose schwärme/ Haben noch nie einen frühling geschaut”. 569 Vgl. 2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 35. Wie schon bemerkt wird in diesem Satz die Fremdheit der Anderen betont. 105 fremder Schlösser, von fremden Dienern geführt”.570 Als unheimlicher Garten kann auch “das Land [...] dessen farbloses zertretenes Gras von Planken umschlossen wird” betrachtet werden. 571 Nicht unwichtig ist auch, dass jeder Leser beim Wort “Garten” spontan an den Titel der Erzählung denkt.572 Deswegen werde ich dem Titel Der Garten der Erkenntnis erst jetzt Aufmerksamkeit schenken. Mit dem Titel wird – wie auch Theodorsen und Orosz bemerken – auf den Garten Eden angespielt, nicht nur weil das Paradies als Garten dargestellt wird, sondern auch, weil sich dort “der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen” befindet.573 Obwohl Renner es für wahrscheinlich hält, dass der Titel Der Garten der Erkenntnis von Buddhas Baum der Erkenntnis inspiriert ist,574 weist sie, wie Orosz, darauf hin, dass genau wie in der Bibel auch in der Erzählung von einem Sündenfall die Rede ist.575 Demnach ist es plausibel, dass der Fremde die biblische Schlange verkörpert, wie in der Sekundliteratur schon einige Male suggeriert wurde, weil er sich fast wie eine Schlange bewegt.576 Meiner Ansicht nach hat der Fremde aber noch mehr mit einer Schlange gemeinsam. Die Schlange wird nämlich auch mit Doppelgeschlechtigkeit und Auflösung von Grenzen, unter anderen denjenigen von Leben und Tod, assoziiert,577 zwei Phänomenen, die auch den Fremden kennzeichnen. Während Erwin den Fremden beobachtet, fällt ihm nämlich “dessen Gegensatz, das Gesicht seiner Geliebten ein, mit geschlossenen Augen wie eine Maske [...] in der öden und hochmütigen Schönheit des Todes”.578 Wichtig ist auch Renners Bemerkung, dass im Garten von Eden ein Zustand von Einheit und Harmonie herrscht. Auch Erwin sucht nämlich durch die ganze Erzählung

570 Andrian: Garten, S. 38. 571 Andrian: Garten, S. 31. 572 Theodorsen weist darauf hin, dass es in den 1890er Jahren viele Titel gab, die das Wort Garten enthielten, zB/ Georgs Gedicht Mein Garten, Hofmannsthals Gedicht Mein Garten, Barrès’ Le jardin de Bérénice. Vgl. Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 145 (Fußnote 313). 573 Vgl. Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 70. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 118 (Fußnote 179). 574 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 149 (Fußnote 99). Renner denkt das, weil Andian in seinem Tagebuch aus Hermann Oldenbergs Buddha-Buch zitierte. Paetzke weist darauf hin, dass die Aufnahme des Buddhismus im Kontext der Dekadenz betrachtet werden soll. Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 188 (Fußnote102). 575 Vgl. Andrian: Garten, S. 34. / Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 70. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 173. 576 Vgl. Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein? ”, S. 76. / Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 49. 577 Schorske: Wien , S. 228. 578 Andrian: Garten, S. 30. 106 hindurch Einheit, Ganzheit.579 Renner, Rieckmann und Sorg haben schon Erwins Verlangen nach Ganzheit herausgestellt.580 Folgende Textstelle wurde aber durchaus vernachlässigt:

Dennoch lag in ihrer [Erinnerungen] weichen, traurigen Schönheit nicht dasjenige, was ihm sein Schauer und die Worte des Dichters vom Leben versprachen: Schmerz und Jubel, Erhabenheit und Gemeinheit [...] aber so vermengt [...] daß man das Ganze als eine geheimnisvoll zitternde Glorie empfand.581 Auffallend ist, dass das rätselhafte Geheimnis in dieser Textstelle mit Ganzheit verknüpft wird. Wie schon bemerkt, hängt die Erkenntnis des Geheimnisses für Erwin mit der Lösung seiner Identitätskrise und Identitätssuche zusammen.582 Deswegen kann die Identitätssuche als Suche nach Ganzheit betrachtet werden, und ist davon auszugehen, dass Ganzheit und Einheit Erwins Identitätskrise lösen werden. Auch Renner hat die Sehnsucht nach Ganzheit der Gewinnung einer stabilen Identität gleichgesetzt.583 Neben dem oben genannten Zitat, in dem sehr explizit Erwins Wunsch nach Ganzheit ausgesprochen wird, gehen auch andere Stellen auf dieses Thema ein. So illustrieren auch die zahlreichen Anspielungen auf die Zweiheit des Lebens oder auf Androgynität die Problematik der Ganzheit.584 Obwohl wir zuvor die androgyne Frau nur mit Unfruchtbarkeit verbunden haben585, ist auch zu überlegen, dass in der androgynen Beschaffenheit die Grenze zwischen Mann und Frau aufgehoben wird.586 Weiter stimme ich Renner bei in ihrer Behauptung, dass auch das Bild der duftenden Pflanzen mit Erwins Wunsch nach Ganzheit verbunden werden kann: “ihre Düfte hatten

579 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 269. 580 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 155. / Rieckmann: “Knowing the other”, S. 69. / Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 241. Sorg hat das aber überhaupt nicht anhand des Textes begründet, und Rieckmann hat diese Sehnsucht nur auf der Ebene der Sexualität besprochen. 581 Andrian: Garten, S. 25-26. 582 Vgl. 2.1.2. Identitätssuche, S. 18. 583 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 155. 584 Es ist schon kurz darauf hingewiesen (Vgl. 3.2.1. Rollenspiel, Wirklichkeit und Lüge, S. 83.), dass die Sängerin und der Fremde von Zweiheit gekennzeichnet werden. Die Sängerin wird nämlich assoziiert mit der “Zweiheit des Spiels”, und der Fremde mit der “Zweiheit des Lebens” bei der ersten und dritten Begegnung. Wie Rabelhofer zu Recht bemerkt, können aber auch die Paradoxe und Oxymora mit der Zweiheit des Lebens verbunden werden: “sie [ die Sängerin] war wirklich nicht schön und sie war alt, aber dennoch war sie wie ein Mädchen” / “[...] er [der Fiaker] aber saß da [...] starr und doch seltsam lebend [...]”/ “Der Clemens war [...] verdorben wie ein Gassenbub und fast pathetisch unschuldig”. Vgl. Andrian: Garten, S. 18, 22, 23. / Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein? ”, S. 70. 585 Vgl.3.1.1.5. Eine weibliche Erzählung, S. 66. 586 Vgl. Andrian: Garten, S. 29. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 148. 107 sich noch nicht gemengt, streiften einander und wollten sich vereinigen”.587 Auch folgendes Bild unterstützt Erwins Wunsch nach Einheit:

die ebene Wiese, auf der die Hütte lag, stieg in langsamen Wellen, gesättigt von der Schönheit der körperlosen Linie, in die Spitzen der Berge über; nur zwei Farben waren auf ihr, das Gras, welches fast gelb, und die Bäume, welche fast schwarz waren; aber ihr zartester Reiz lag darin, daß weder die Ebene gelb, noch die Bäume schwarz waren, nur aus ihrem Verhältnis ahnte man ihren Farben.588 Renner verbindet dieses Zitat denn auch zu Recht mit Harmonie und mit dem Schlagwort “panta rhei”.589 Auch Rabelhofers Bemerkung, dass mit dem Motto auf das Thema der Ganzheit angespielt wird, ist plausibel: “Piu ch’un anima e alta e perfetta Piu senti in ogni cosa il buono ed il malo”.590 Dass ich jetzt auf diese Problematik der Ganzheit im Garten der Erkenntnis eingegangen bin, ist nicht zufällig. Meiner Ansicht nach spiegelt sie nämlich den Verlust der Einheit im Wiener Fin de Siècle wider. Diesen Verlust betrachtete nicht nur Hugo von Hofmannsthal – der in seinem Lord-Chandos-Brief schrieb: “Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile [...]”591 – als ein Symptom der Dekadenz.592 Auch für Nietsche war der Verlust des Ganzen ein Kennzeichen der Décadence:

Womit kennzeichnet sich jede literarische Décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr.593 Auch Andrian selber verlangte Einheit. So schrieb er kurz nachdem er den Garten der Erkenntnis beendet hatte:

Was meine Person betrifft, so wünsche ich die Vielheiten in ihr in eine Einheit zu verwandeln; es soll in meiner Seele keinen Gegensatz geben zwischen Empfindungen die ich liebe und Empfindungen deren ich mich schäme, zwischen äußerem und innerem [...] es soll endlich keinen Gegensatz zwischen meinem

587 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 155. 588 Andrian: Garten, S. 33. 589 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 170. Sie bemerkt auch nebenbei, dass diese Landschaft mehr an ein Kunstwerk als an Natur erinnert. 590 Andrian: Garten, S. 13. Die Übersetzung dieses Mottos lautet: “Je erhabener und vollkommener eine Seele ist, desto mehr fühlt sie in jedem Ding das Gute und das Böse”. (Vgl. Andrian: Garten, S. 191.) 591 Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II. Hg. von Herbert Steiner. Frankfurt am Main: S. Fischer 1959, S. 13. 592 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 108. 593 Friedrich Nietzsche: Werke – Kritische Gesamtaufgabe. Der Fall Wagner. Turiner Brief vom Mai 1888. Abteilung 6. Hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter 1969, S. 21. Zitiert nach Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 549. 108

Körper und meiner Seele geben [...] ich will in meinem ganzen Dasein die absolute Einheit besitzen [...].594 In diesem Zitat wird meiner Ansicht nach deutlich an Erwin erinnert. Wie schon bemerkt, schämt auch Erwin sich vor denjenigen, die er liebt, lebt nur in seinem inneren Leben;595 zudem ist am Anfang der Erzählung davon die Rede, dass “sein Körper und seine Seele [...] ein fast zweifaches Leben” lebten.596 Das Auseinanderfallen der Ganzheit des Individuums wurde nicht nur im Garten der Erkenntnis, sondern in vielen Werken um die Jahrhundertwende thematisiert.597 Der Empiriokritizismus, dessen bekanntester Vertreter der Physiker und Philosoph Ernst Mach war, verkündigte die Auflösung des Ichs.598 Hermann Bahr, der bereits in den neunziger Jahren über die Ichlosigkeit der Moderne geschrieben hat, sah um die Jahrhundertwende in Machs Analyse der Empfindungen ausgesprochen, woran er selber auch glaubte599:

“Das Ich ist unrettbar.” Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten, und an diese Verknüpfungen sind Stimmungen, Gefühle, und Willen gebunden [...] Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit.600 Bahr meinte, dass nur das sensualistisch Erfahrbare, nur die (vorbewußten) Impressionen gültig waren, und bei Mach fand er die sensualistische Begründung für die “Unrettbarkeit des Ichs”.601 Es ist dann auch nicht verwunderlich, dass er Mach mit der impressionistischen Strömung – in der das Vorbewußte betont wurde – verband.602

594 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom 28. Oktober 1895. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 129. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 595 Vgl. 2.2.2. Innere Welt versus reale Welt. / 3.1.1.1. Das Andere, S. 50. 596 Andrian: Garten, S. 13. 597 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 127. 598 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 249-250. Wie schon bemerkt (Vgl. 2.2.1. Die narzisstische Selbstspieglung, S. 26 (Fußnote 109).) ist der Gedanke der Verbundenheit vom Ich mit der Welt empiriokritisch. 599 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 20. 600 Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus, S. 190-191. (Vgl. 4.1.1., Fußnote 538.) Zitiert nach George M. O’Brien: “Ernst Mach and a Trio of Austrian Writers: Hofmannsthal, Andrian, Musil”. In: International Fiction Review 4 (1977), S. 65. 601 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 146 (Fußnote 29). / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 259. Paetzke weist darauf hin, dass Bahr, im Gegensatz zu Mach, den Sensualismus aber mit der konkreten Lebenserfahrung von Individuen verband. Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 21. 602 Vgl. O’Brien: “Ernst Mach and a Trio of Austrian Writers”, S. 66. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 256. 109

Nach O’Brien ist die folgende Szene im Garten der Erkenntnis denn auch ein Beispiel von Machs “konsequente[m] Impressionismus”603:

Das Meer war immer anders: manchmal war es schwarz, manchmal golden und lapislazufarbig, manchmal wie junger persischer Flieder, manchmal öde und weißlich und abends, wenn es im Osten lag, war es lichtrosa und lichtgrau, silbern und lila, aber wenn es im Westen lag, dunkel wie die Flammen.604 Dass das Fehlen der Einheit, wie oben bemerkt, mit Dekadenz verbunden wird, sollte also relativiert werden. Auch O’Briens Behauptung, dass die Idee des “unrettbaren Ichs” im letzten Satz des Dialoges des Garten der Erkenntnis ausgesprochen wird, stimme ich bei: “Wir sind allein, wir und unser Leben, und unsere Seele schafft unser Leben, aber unsere Seele ist nicht in uns allein”.605

4.1.1.2. Das Fest (des Lebens/der Jugend) Wie das Bild des Gartens begegnet auch das Motiv des Festes recht häufig in der Dichtung um 1900.606 Obwohl in der Erzählung mehrere Male von Festen die Rede ist, kann meiner Ansicht nach eigentlich nur ein Fest als artifizielles Phänomen betrachtet werden, weil nur in diesem Fest von Unnatürlichkeit die Rede ist :

„Das Fest des Lebens“ [...] es war wirklich ein Fest, dessen erlesenste Vornehmheit darin bestand, daß es keinen Zuschauer hatte; jenen Festen des siebzehnten Jahrhunderts glich es, in dunkeln Winternächten zwischen Spiegeln und Lichtern, jenen Festen, die so groß und feierlich waren, daß man darüber die Freude vergaß; jenen Festen, auf denen man sich nur einmal begegnete und mit manieriert verflochtenen Fingerspitzen langsam umeinander drehte und sich lächelnd in die Augen schaute und dann mit einer tiefen bewundernden Verbeugung von einander glitt.607 Dieses Fest, das Erwins Ich-Befangenheit widerspiegelt608, wirkt unnatürlich, weil nicht nur von Spiegeln und Licht die Rede ist – was unmöglich “natürlich” sein kann, weil das Fest in der Nacht stattfindet –, sondern auch von Manieriertheit. Genau wie beim Garten, ist auch hier Zurückgezogenheit aus der Wirklichkeit beabsichtigt. Dass es

603 O’Brien: “Ernst Mach and a Trio of Austrian Writers”, S. 66. 604 Andrian: Garten, S. 39. 605 Vgl. Andrian: Garten, S. 38. / O’Brien: “Ernst Mach and a Trio of Austrian Writers”, S. 66. 606 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 166 (Fußnote 125). 607 Andrian: Garten, S. 32. 608 Vgl. 2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 31. 110 keine Zuschauer gibt, weist, so auch Renner, nämlich darauf hin, dass das Fest außerhalb einer gesellschaftlichen Realität stattfindet.609 Auffallend ist, dass dieses künstliche Fest mit anderen Festen kontrastiert wird:

[...] er dachte an andere Feste, an das Ende anderer Feste, an die großen Feste der maßlosen Freude, die heilig ist, wie der Schmerz, an die Feste Alexanders des Großen zu Persepolis und zu Babylon.610 Wie Orosz richtig gesehen hat, kann schon aus dem Wort “maßlos” abgeleitet werden, dass – im Gegensatz zum oben zitierten Fest – bei diesen Festen nicht Ordnung, sondern Formlosigkeit, Chaos vorherrscht. Den Hinweis auf “die Feste Alexanders des Großen” identifiziert Rieckmann als die dionysischen Mysterien, die einen orgiastischen Charakter hatten.611 Diese Feste standen auf jeden Fall, im Gegensatz zum Fest des Lebens, nicht im Zeichen der Einsamkeit.612 Weil Renner Alexander den Großen positiv als Herrschergestalt bewertet, betrachtet sie ihn als Spiegelung von Erwins Wünschen nach Ruhm und Macht; sie betont, dass Alexander für Andrian und seine Zeitgenossen als Vorbild des handelnden Menschen galt. Nur sehr kurz erwähnt sie, dass er mit einem Endstadium – sei es einem apotheotischen – verbunden werden kann.613 Meiner Ansicht nach sollte diese positive Betrachtungsweise aber relativiert werden, weil die Verweisung auf “die Feste Alexanders des Großen” auch im Kontext der Dekadenz gelesen werden kann. Was Renner ausgelassen hat, und meiner Ansicht nach aber Berücksichtigung verdient, ist, dass mit Alexanders Regierungsantritt der Anfang des Hellenismus einhergeht. Wie wir von Hofmannsthal vernehmen, wurde dieses Zeitalter, genau wie das eigene, von Dekadenz gekennzeichnet. Er hat darauf hingewiesen, dass es in beiden Epochen statt Einheit einen kulturellen Kosmopolitismus gab.614 Auch die Wörter “Ende” und “Schmerz” erinnern an das

609 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 165. 610 Andrian: Garten, S. 32. 611 Vgl. Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 70. / Rieckmann: “Narziss und Dionysos”, S. 74. 612 Auch in den anderen Anspielungen auf “Fest” wird die Einsamkeit ausgeschieden. So kann aus Erwins Erinnerungen in Bozen abgeleitet werden, dass die Einsamkeit als etwas Negatives betrachtet werden soll: “[...] die Nachmittage der großen Feste, an denen niemand mit ihm ausging, und er nicht wußte, was er anfangen sollte und herumstand”. Und in Wien wird “Fest” mit Verbundenheit assoziiert: “[...] er liebte die großen Feste, die alle feiern [...]”. (Vgl. Andrian: Garten, S. 17-21.) 613 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 167. Andrian plante sogar ein Werk, in dem Alexander im Mittelpunkt stehen sollte: “‚Alexander der Große’ ein Manuskript. Das Verhältnis A’s [Freund Andrians. U.R.] zu den Außendingen, zur Welt”. Vgl. Leopold von Andrian, Tagebucheintrag von 1895. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 167 (Fußnote 127). (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 614 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 108. Der Hellinismus war nämlich eine Epoche, in der die griechische Kultur immer mehr von der römischen dominiert wurde. Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 57. 111

Dekadenzphänomen. Sogar der Hinweis auf die Städte “Persepolis” und “Babylon”, die sich im alten Osten befinden, dürfte nicht zufällig sein. Auffallend ist nicht nur, dass die Feste im Osten kontrastieren mit dem Fest des Lebens, weil letzteres als abendländisches Fest zu betrachten ist, wird es doch verglichen mit großen, feierlichen Festen, die im siebzehnten Jahrhundert in Spiegelsälen stattfanden. Bemerkenswert ist auch, dass die Feste im Osten von Erwin bevorzugt werden. Das kann aus der Tatsache abgeleitet werden, dass Erwin im ersten Fest nicht den “Sinn des Lebens” fand, und deshalb an die Feste im Osten denkt. Auch später in der Erzählung, anhand des Bildes des Meeres615, wird wieder auf den Westen und den Osten angespielt. Ist es Zufall, dass auch bei diesem Bild der Osten positiver bestimmt ist als der Westen? Ist es nicht möglich, dass mit diesen positiven Darstellungen des Ostens auf den Verfall des Westens angespielt wird? Gerade wie mit “Garten” auf den Titel Der Garten der Erkenntnis angespielt wird, wird mit “Fest” an die Titel der Vorstudien zum Garten der Erkenntnis erinnert: Das Fest des Lebens und Das Fest der Jugend. Renner bemerkt, dass beide Titel – im Gegensatz zu Der Garten der Erkenntnis – Lebensverherrlichung ansprechen.616 Sie plädiert dafür, dass die Beschwörung des Lebens nicht in Vergessenheit geraten darf, trotz des erkenntnislosen Todes des Jünglings am Ende der Erzählung. Sie verknüpft die Erzählung denn auch mit der lebensphilosophischen Strömung, gerade weil das Leben beschworen wird und Erwin sich zum Leben hinwendet. Überdies weist sie darauf hin, dass das Bild des Festes um 1900 lebensphilosophischen Tendenzen entspricht.617 Trotzdem glaube ich, dass der Titel Fest der Jugend – den Andrian 1919, bei der vierten Auflage des Garten der Erkenntnis, in seinen neuen Titel wieder einbeziehen wollte: Das Fest der Jugend, des Gartens der Erkenntnis ersten Teil und die Jugendgedichte.618 – nicht nur die Lebensverherrlichung spiegelt, sondern auch negativ interpretiert werden kann, wenn man berücksichtigt, was hinter dem Wort “Jugend” steckt. Auch wenn die “Jugend” in der Lebensphilosophie als Symbol für neue Werte betrachtet wird619, so wurden die Jugendlichen des gehobenen Bürgertums und des Adels doch von Frühreife

615 Vgl. 4.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis), Zitat S. 108. 616 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 248. 617 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 166, 263. 618 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 71. 619 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 291. 112 gekennzeichnet – was Paetzke als Erscheinung der Dekadenz einstuft620 – und von verlängerter Adoleszenz.621 Stix drückt es so aus:

[...] diese jungen Menschen [sind] sehr früh, gleichsam im Glashaus, reif geworden. Sie haben die ihnen von der Natur vorgegebene Zeit der Entwicklung gewissermassen übersprungen, sind daher schlecht, weil allzuschnell, gewachsen [...].622 Diese Frühreife und verlängerte Adoleszenz waren problematisch, weil sie unter anderem zum Gefuhl der Konflikthaftigkeit führten.623 Wie Renner zu Recht bemerkt, trifft nicht nur Erwin diese Frühreife, auch Andrian, der mit 19 Jahren schon sein letztes dichterisches Werk schrieb624, notierte über sich selbst Folgendes:

Es ist zu sehr zweierlei in mir [...] zu früh, zu spät. Noch eh ich hab lernen können schien mein Geist materiell zu schwach und stumpf zum Begreifen geworden zu sein; ich bin mit 20 Jahren ein alter Mensch!625

4.1.2. Das Krankhafte: “Sie lieben alles was seltsam und krank ist”

Aus dieser Aussage über die Décadents, die Ottokar Stauf Von der March – ein Lyriker, Erzähler und Publizist, der um die Jahrhundertwende als freier Schriftsteller in Wien lebte626 – in seinem Essay Die Neurotischen hervorhebt, bestätigt sich, wie in zeitgenössischer Perspektive Dekadenz mit Krankheit verbunden ist. Von der March geht für diesen Satz von Zeilen aus dem Gedicht Was ich liebe vom Jung Wiener Felix Dörmann aus: “Ich liebe, was niemand erlesen,/ Was keinem zu lieben gelang,/ Mein 627 eigenes, tiefinnerstes Wesen,/ Und alles, was seltsam und krank”.

620 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 46. 621 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 279. 622 Stix: “Leopold von Andrian und die Krise des Fin de siècle”, S. 287-288. 623 Renner: “Garten der Erkenntnis” , S. 279. 624 Vgl. 1. Einleitung, S. 8. 625 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom April 1896. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 281. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) Interessant ist in diesem Kontext auch die folgende Mitteilung von Oskar Walzer, Andrians Hauslehrer, über den Dreizehnjährigen: “[...] Poldi war ungemein frühreif. Was alles hatte er gelesen, was alles vernommen [...]”. Zitiert nach Fischer: Fin de Siècle, S. 154. Dieses Zitat hat Fischer gefunden in Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen von Oskar Walzel. Hg. von Carl Enders. Berlin: E. Schmidt 1956, S. 46f. 626 Wiener Moderne, S. 717. 627 Felix Dörmann: Was ich liebe. Zitiert nach Ottokar Stauf Von der March: “Die Neurotischen”. In: Wiener Moderne, S. 241. Rieckmann bemerkt, dass dieses Gedicht von Felix Dörmann - dem Jung Wiener, der bekannt geworden ist durch den Gedichtband Neurotica. - sein einziges Gedicht ist, das in die Literarurgeschichte eingegangen ist. Vgl. Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 111. 113

Dass Der Garten der Erkenntnis vom Krankhaften imprägniert wird, kann bereits aus den ersten vier Seiten geschlossen werden. Im ersten Abschnitt der Erzählung wird mitgeteilt, dass Erwins Vater stirbt. Positiv besetzte Objekte, wie Ringe und Armband, werden mit Krankheit assoziiert: “In seiner [der Vater] letzten Zeit, als das Armband 628 seinem Gelenk und die Ringe seinen Fingern zu weit wurden [...]”. Nachdem drei Seiten später über Erwins Genesung von einer Lungenentzündung berichtet wird, begegnet Erwin einem Lieutenant mit Schwindsucht – die Krankheit, die Andrian am meisten fürchtete.629 In der Erzählung trifft Erwin eine weitere junge Person, die mit dem Krankhaften assoziiert wird: Clemens. Das Äußere dieses Jungen wird so umschrieben: “alles in seinem Gesicht war hell, bis auf die schwarzen Ringe um seine 630 Augen. [...] seinem lichten Haar, das matt aussah, wie wenn es gepudert wäre [...]”. Und obwohl dem Fremden nicht explizit eine Krankheit zugeschrieben wird, ist auch dieser meiner Ansicht nach, sogar auf verschiedene Weisen, damit verknüpft. Wie schon bemerkt, kann der Fremde als Amalgam verschiedener Personen betrachtet werden.631 Noch nicht erwähnt, aber trotzdem auffallend, ist, dass all diese ihn konstituierenden Personen mit dem Krankhaften, manchmal sogar mit dem Tod, assoziiert werden, wodurch der Fremde selber auch krankhaft wirkt. Nicht nur Clemens, Erwins Vater und der Lieutenant, sondern auch der Fiaker, der als “starr und doch 632 seltsam lebend” beschrieben wird, und die Geliebte, die als Erwins Mutter identifiziert worden ist633, passen in dieses Schema. Mit der Starrheit des Fiakers wird nämlich auf Tod angespielt, und von Erwins Mutter wird berichtet, dass sie Erwins Tod sei.634 Bemerkenswert ist, dass von diesen Personen Clemens, der Fiaker und Erwins Mutter das Motiv von Schönheit, Eros und Tod versinnbildlichen, das für die Jahrhundertwende typisch war, und nach Müller die Verbindung des Ästhetischen mit der Endzeitstimmung suggeriert.635 Das Motiv kann aber auch mit Lato verknüpft werden. Im Gegensatz zu Erwins Vater und dem Lieutenant, die nur mit Krankheit und

628 Andrian: Garten, S. 13. 629 Fischer: Fin de Siècle, S. 147. 630 Andrian: Garten, S. 23. 631 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 60. 632 Andrian: Garten, S. 22. 633 Vgl. 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 78-79. 634 Andrian: Garten, S. 37. 635 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 13. 114

Tod assoziiert werden, stehen Clemens, der Fiaker, Lato und die Mutter nicht nur für “Thanatos”636 ein, sondern werden auch in ihrer Schönheit dargestellt, und mit Erwins homosexueller (Clemens, Fiaker und Lato) und inzestuöser (Mutter) Liebe assoziiert.637 Dass die Liebe in der Erzählung immer wieder als homosexuell und/oder inzestuös dargestellt wird – nicht nur bei Erwin, auch beim Fremden638 – ist überdies im Kontext des Krankhaften nicht unwichtig. Homosexualität und Inzest können im zeitgenössischen Kontext beide als Perversionen eingestuft werden. Es darf sogar behauptet werden, dass diese Liebe nicht nur als krankhaft, sondern zugleich als amoralisch bewertet werden kann. So haben wir zum Beispiel schon festgestellt, dass die sozial niedrigen Menschen, an denen Erwin sich interessiert, mit dem moralisch niedrigen Aspekt der Liebe verbunden sind.639 Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass in Andrians Erzählung das Instinktive wichtiger sei als das Moralische. Dass in der Erzählung die Frage der Moralität thematisiert wird, kann eigentlich schon aus dem Titel Der Garten der Erkenntnis und aus dem dritten Motto, in dem wortwörtlich auf die Moralitätsproblematik hingedeutet wird, abgeleitet werden: “Je erhabener und vollkommener eine Seele ist, desto mehr fühlt sie in jedem Ding das Gute und das Böse”.640 Theodorsen erblickt – wie vorhin schon referiert – im Titel und Motto eine Anspielung auf “den Baum der Erkenntnis” und schließt auf eine moralische Intention bei Andrian.641 In der Bibel wird über “den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen” nämlich Folgendes berichtet:

Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Da darfst du essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen;642 Der Garten Eden ist also nicht nur mit fehlender Erkenntnis über Gut und Böse verbunden, sondern symbolisiert auch das Verbot zur Erlangung der Erkenntnis. Orosz’

636 Clemens wird mit Erwins Tod verbunden, weil Erwin gerade vor seinem Tod von Clemens träumt: “Da erschien ihm jemand und er wußte nicht genau, ob es der Clemens war oder jener Lieutenant, der einst mit ihm nach Bozen fuhr”. (Vgl. Andrian: Garten, S. 42.) 637 Vgl. 3.1.1. Homosexualität. / 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter. 638 Vgl. 3.1. Tabuisierung. 639 Vgl. 3.1.1.1. Das Andere, S. 44. 640 Übersetzung vom Motto “Piu ch’un anima e alta e perfetta Piu senti in ogni cosa il buono ed il malo”. (Vgl. Andrian: Garten, S. 13, 191.) 641 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 118 (Fußnote 179). 642 Mose 1. 2: 16-17. Zitiert nach Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 70 (Fußnote 29). 115

Behauptung, dass durch diese Intertextualität schon im Titel Erwins Scheitern vorprogrammiert ist, stimme ich bei.643 Auch in Bezug auf Erwins Todeskrankheit spielt der Fremde eine wichtige Rolle, denn er ist derjenige, der zu Erwins Krankheit Anlass gegeben hat. Ob man den Fremden als Projektion des Verdrängten betrachtet, oder als bedrohende Vaterfigur644, fest steht, dass Erwin am Ende der Erzählung erkrankt, nachdem er ihn gesehen hat. Infolgedessen kann der Fremde sogar als Todesbote betrachtet werden.645 Der Tod von Erwin wird aber in der Sekundärliteratur auch mit dem Zugmotiv assoziiert.646 Von einem Zug ist nämlich noch einmal die Rede in Erwins Traum am Ende der Erzählung:

Dann war der Erwin in einer Eisenbahnstation und wartete; da kam unter großem Lärm ein Zug in die Halle gefahren, aus dessen Fenstern viele Menschen schauten; sie hatten die Gesichter derer die reisen, ihre Farbe war weiß und ihre Augen leuchteten, aber unter ihren Augen lag Kohlenstaub. Es waren viele, sehr viele und alle waren unter ihnen, die er gekannt hatte, nur die Frauen nicht, und viele andere, die er nicht kannte; dann waren sie einander wieder seltsam ähnlich. Und mit einmal riefen ihn alle bei seinem Namen und er wußte, daß auf diesen Ruf die Erkenntnis folgen müsse, und er wurde sehr froh.647 Mit gutem Grund betrachtet Renner die Gesichter der Reisenden als Todesmasken, weil sie weiß aussehen, mit Kohlstaub bedeckt sind, und weil die Männer einander ähnlich sind, gerade wie Todesmasken – durch das Fehlen von individuellen Zügen – sich gleichen.648 Bemerkenswert ist auch, dass – gerade wie die Anspielung auf diesen Zug im Kontext von Erwins Todeskrankheit stattfindet – auch die früheren Hinweise auf Züge in eine unheimliche Atmosphäre eingebaut worden sind. Züge gab es schon beim Abschied von Clemens, und nach der zweiten Begegnung mit dem Fremden, durch die Erwin mit negativen Gefühlen zurückblieb und die Stadt ihm drohend erschien.649

643 Orosz: “‘Gegenwelten’”, S. 70. 644 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 60. / 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 78-79. 645 Verschiedene Forscher haben den Fremden als Todesboten verstanden. Vgl. Fischer: Fin de Siècle, S. 152. / Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 624. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 204. / Rieckman: “Narziss und Dionysos”, S.78. / Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 254. 646 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 214. Eigentlich verbindet sie auch das Motiv der Namenlosigkeit (Vgl 2.1.2. Identitätssuche, S. 18 (Fußnote 58).) mit Erwins Tod. Aber ihre Argumentierung beruht auf einer falschen Lektüre des Textes. Sie geht nämlich davon aus, dass die Traumgestalten stumm bleiben. Aber im Text steht, dass die Traumgestalten Erwin bei seinem Namen rufen: “Und mit einem Mal riefen ihn alle bei seinem Namen [...]”. (Vgl. Andrian: Garten, S. 42.) Sorgs Behauptung, dass die Anrufung im Traum sich als Todessymbol erweist, ist aber beizustimmen. (Vgl. Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 261.) 647 Andrian: Garten, S. 42. 648 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 214. 649 Andrian: Garten, S. 24, 35. 116

In der Erzählung gibt es aber auch andere Phänomene und Stellen, die auf den Tod eingehen. So sind nicht nur die Hinweise auf Schlaf und die Verbindung der Mutter mit Leben und von Erwin mit Tod auffallend650, auch die Erwähnung der Stadt Venedig, Stadt des Todes651, und folgender Abschnitt, am Anfang der Erzählung, sind bemerkenswert:

Dieses Leben war wie eine fremde Arbeit, die er verrichten mußte, es machte ihn müde und den ganzen Tag freute er sich aufs Schlafengehen. Wenn dann oben im Schlafsaal die Lichter herabgedreht waren und seine Wange das kühle Kissen berührte, fühlte er eine Schauer der Befriedigung [...].652 Renners Feststellung, dass der Schlaf als Abwendung der Außenwelt interpretiert werden kann653, sollte meiner Ansicht nach ergänzt werden. Denn mit dem Hinweis auf Freude am Schlafen wird durch “das kühle Kissen” zugleich Todessehnsucht suggeriert, erinnert doch diese Kühle des Kissens an die Kühle des Todes. Bemerkenswert ist auch, dass mehrmals auf den Tod angespielt wird im christlichen Kontext. Wenn nicht vom “Gedächtnis der Toten am Allerseelentag”654 die Rede ist, wird auf den Tod Christi eingegangen. Nicht nur am Anfang der Erzählung wird “Karfreitag”655 erwähnt, auch später wird noch einmal über das Lebensende von Christus erzählt :

[…] die stille Jugend des Heilands zu Nazareth [...] von der er wußte, daß auf sie der königliche Einzug in Jerusalem folgen müsse und die Traurigkeit am Ölberg und die Einsamkeit des Karfreitags am Kreuze und der Ostersonntag, an welchem Er auferstand und die Pforten der Hölle überwältigte.656 Auffallend ist, dass nicht das Sterben, sondern das Besiegen des Todes am Ende des Satzes betont wird. Macht Andrian die Jung Wiener – die er, wie schon bemerkt, in seiner Erzählung anredet657 – auf ihre Mission aufmerksam, nämlich die Dekadenz über ihre Literatur zu überwinden? Wird hier Zukunftshoffnung ausgesprochen? Auf jeden Fall waren Andrian und die anderen Jung Wiener davon überzeugt, dass sie die Vorläufer einer kulturellen Erneuerung waren. So schrieb Andrian in seinem Tagebuch:

650 Vgl. 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 74. 651 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 199. 652 Andrian: Garten, S. 14. 653 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 84. 654 Andrian: Garten, S. 15. 655 Andrian: Garten, S. 15. 656 Andrian: Garten, S. 26. 657 Vgl. 2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 36. 117

Es ist wie ein Schiff, – die Menschheit u. die Cultur, – das in eine neue Zeit hinüberfahrt. Und wir paar müssen rudern, . . . und sind müde u. besorgt und voller Zweifel und Lebensangst.658 Andrian, wie Hofmannsthal, glaubte, dass seine Generation durch ihre Werke die neue Zeit für ganz Europa vorbereitete.659 Die entscheidende dritte Begegnung mit dem Fremden als Todesboten erinnert stark an folgende (viel zitierte) Aussage von Hofmannsthal über das Leiden seiner Generation an der “Zweiseelenkrankheit”660:

Fühlen, wie eine Hälfte unseres Ich die andere mitleidlos niederzerrt, den ganzen Haß zweier Individuen, die sich nicht verstehen in sich tragen, das führt bei der krankhaften Hellsichtigkeit des Neuropathen schließlich zur Erkenntnis eines Kampfes aller gegen alle: keine Verständigung möglich zwischen Menschen, kein Gespräch [...].661 Auch bei der dritten Begegnung mit dem Fremden stehen zwei verhasste Individuen, zugleich zwei Hälften eines Ichs, im Mittelpunkt.662 Außerdem wird nach dieser Begegnung noch von Menschen berichtet, die Erwin nicht helfen:

[...] und auf einmal überfällt uns unser Feind, und wir müssen mit ihm ringen; aber auf beiden Seiten gehn die Menschen weiter, und sie helfen uns nicht [...] und sie hören unser Schreien nicht [...] und wir müssen allein mit ihm [dem Feind] kämpfen.663 Auch hier also keine “Verständigung” und “Gespräch” zwischen Menschen. Hinzu kommt, dass all die Symptome der “Zweiseelenkrankheit” im Garten der Erkenntnis sichtbar werden: das Schwanken zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung, das heißt zwischen “Lebensdurst” und “Lebensangst”, die Sehnsucht nach der “verlorenen Naivität”, der Dilettantismus (verstanden als “Anempfindungsvermögen, Krankheit des Empfindungsvermögens”), das “Abbröckeln des Willens”, und die “Selbst-

658 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag. Zitiert nach Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 98. 659 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 97-98. Rieckmann stellt auch fest, dass man die Zukunftsperspektive, die in Hofmannsthals und Andrians Tagebüchern ausgesprochen wird, bisher zumeist übersehen hat, und die Literatur des Jungen Wien fälschlich nur mit Endzeitstimmung verbunden hat. Nicht nur Rieckmann, sondern auch Müller und Krobb deuten darauf hin, dass die Décadence eine Synthese von Ende und Neubeginn, eine Übergangszeit, darstellt. Vgl. Krobb: “Decadence and Crisis”, S. 555. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 74. 660 Rieckmannn bemerkt, dass die “Zweiseelenkrankheit” ein Motiv ist, das Hofmannsthals Essays, die zwischen 1891 und 1893 entstanden sind, miteinander verbindet. Vgl. Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 103. 661 Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze I. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Hugo Hirsch. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1979, S. 94f. Zitiert nach Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 104. [Hervorhebung von mir, SVD] 662 Auf Seite 117 wird auf die Ich-Spaltung im Garten der Erkenntnis eingegangen. 663 Andrian: Garten, S. 41. 118 verdoppelung”, die Ich-Spaltung.664 Diese Krankheitssymptome werde ich jetzt kurz erläutern im Hinblick auf den Garten der Erkenntnis. In der Erzählung wird sicherlich die Problematik der Ich-Spaltung angesprochen, eines der dominanten Motive in der Literatur der Jung Wiener.665 Wie schon bemerkt wurde, kann der Fremde als Wiederkehr oder Projektion des Verdrängten betrachtet werden.666 Dass Erwin dadurch eigentlich ein Teil seines Ichs abspaltet, so dass bei der dritten Begegnung mit dem Fremden “eine Hälfte unseres Ichs die andere mitleidlos niederzerrt”, wurde aber noch nicht erwähnt. Renner verknüpft Projektion mit Abspaltung. Sie sagt über Projektion Folgendes:

[...] daß es sich um eine ‘Wiederkehr des ins Unbewußte Verdrängten’ handelt [...] ein Nach-außen-Werfen dessen, “was in sich selbst zu erkennen oder selbst zu sein man sich weigert”, und damit eine Art psychischer “Abspaltung”.667 Stix behauptet, meiner Auffassung nach zu Recht, dass der Einblick in die Zweiheit des Schauspiels in der Sängerinszene der Einblick in die eigene Gespaltenheit ist.668 Verschiedene Forscher gehen noch weiter und identifizieren den Fremden als Doppelgänger, ein Motiv, das mit Tod zusammenhängt.669 Nach Renner ist es sogar möglich, den Fremden als Abspaltung des Ichs auch noch als Allegorie des versäumten Lebens zu betrachten.670 Das ist plausibel, denn einerseits kann der Fremde als Personifikation des Lebens verstanden werden671, andererseits lebt Erwin, wie schon besprochen, ein versäumtes Leben, weil er nicht in der Gegenwart lebt und seine Ich- Grenzen nicht sprengen kann. Auch das “Abbröckeln des Willens” kommt im Garten der Erkenntnis vor. Dieser Begriff beinhaltet nämlich dasjenige, was auch Erwin kennzeichnet, und wodurch Theodorsen ihn als Fin de Siècle-Dilettanten betrachtet: Selbstreflexion an der Stelle

664 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 103-104. 665 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 35. 666 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 60. 667 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 185. 668 Stix: “Der Sonderfall”, S. 482. 669 Folgende Forscher sehen den Fremden als Doppelgänger: Fischer: Fin de Siècle, S. 153. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 203, 206. / Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 44-45. 670 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 203. 671 Wie Rieckmann bemerkt hat, ist das Auftauchen des Fremden bei der ersten und dritten Begegnung mit Regen verbunden. (Vgl. Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 70-71.) Weil Regen eine lebensspendende Kraft ist, verwundert es nicht, dass Paetzke und Renner den Fremden als Personifikation des Lebens betrachtet haben. (Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 44. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 158.) 119 des Handelns und der Tat.672 Hofmannsthals Dilettantismusbegriff ist aber nicht mit Selbstreflexion und Passivität, sondern mit Anempfindung verbunden:

[...] der Ausdruck >Anempfindung< bedeutet, daß man sich in ein Objekt hineinempfindet und hineinversetzt, um etwas zu fühlen bzw. erfahren, das man selbst nicht erlebt hat.673 Weil Erwin in der ganzen Erzählung Rollen annimmt674, ist er meiner Ansicht nach in Hofmannsthalschem Sinne als Dilettant zu betrachten. Überdies kann behauptet werden, dass die Erzählung auch von Heimweh nach verlorener “Naivität, ingénuité, simplicitas, die Einfachheit, Einheit der Seele [...]” gekennzeichnet wird.675 Wie schon bemerkt, wird in dieser Erzählung nicht nur nach Einheit, Ganzheit gesucht, diese Suche geschieht auch rückwärtsgewandt, denn Erwin beschäftigt sich sehnsüchtig mit seinen Erinnerungen.676 Überdies gibt es eine Szene, die im Kontext des Zurückverlangens nach Naivität ins Auge springt: die Szene, in der auf die Beziehung Erwins als krankes Kind zu seiner Mutter zurückgeblickt wird. Erst nachdem er gestürzt ist, denkt Erwin so intensiv an seine Kindheit zurück, was meiner Ansicht nach betont, dass Erwins Naivität, die er als krankes Kind noch besaß, durch diesen Sturz erst richtig verschwunden ist. Schließlich demonstriert die Erzählung auch das Schwanken zwischen Lebens- bejahung und Lebensverneinung. Obwohl Erwin nach dem Geheimnis des Lebens sucht, was von Lebensdurst zeugt, stellt sich heraus, dass Erwins Verhalten dem Leben gegenüber ambivalent ist. So erfährt er das Leben nach der ersten Begegnung mit dem 677 Fremden als “wundervoll” , während er es nach der zweiten Begegnung mit dem Fremden aber mit dem Unheimlichem assoziiert:

[...] worin lag dieses lockende und drohende Geheimnis im Leben, welche Gewalt hatte Macht über ihn [Erwin] und warum kannte er sie nicht? Unter dem Eindruck dieser Begegnung veränderte sich dem Erwin in der foldenden Zeit die Stadt: ihre

672 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 107. (Vgl. 3.2.2. Zuschauer, S. 87.) 673 Diese Definition stammt von Theodorsen, die in ihrem Werk unter anderem den Begriff der “Anempfindung” besprochen hat. (Vgl. Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 119.) Gerade wie beim Dekadenzbegriff, herrscht auch beim Dilettantismusbegriff eine Begriffsverwirrung vor, was Theodorsen kurz erläutert. (Vgl. Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 95-98.) 674 Vgl. 3.2.1. Rollenspiel, Wirklichkeit und Lüge, S. 82-83. 675 Hugo von Hofmannsthal: Prosa I, S. 11. (Vgl. 3.2.1., Fußnote 474.) Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 128. 676 Vgl. 2.2.2. Innere Welt versus reale Welt, S. 29. / 4.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis), S. 105-106. 677 Andrian: Garten, S. 31. 120

Vielfältigkeit [...] verwirrte ihn jetzt und drohte ihm [...] fürchtete er sich vor der Musik [...].678 Die Lebensangst wird aber am deutlichsten dargestellt am Ende der Erzählung in der Angst vor dem Fremden. Dass Erwin sich während seiner Todeskrankheit aber immer noch nach Regen – der lebensspendenden Kraft – sehnt, spricht dafür, dass er bis zum Ende seines Lebens nach Leben verlangt, was auf Lebensdurst hindeutet. Auch schon am Anfang der Erzählung können Schwankungen in Erwins Verhalten dem Leben gegenüber bemerkt werden:

Diese [die Feinde] hatten gemerkt, daß der Erwin sich vor ihnen fürchte, und deshalb überfielen sie ihn einmal am Schlittenberg. Sie warfen ihn auf den Boden und es gelangte dabei viel Schnee an seinen Hals; davon bekam er eine Lungenentzündung. Noch während seiner Rekonvaleszenz besuchten sie ihn, und da fand er, daß sie liebe Burschen und eigentlich gar keine Feinde seien.679 Es wurde schon bemerkt, dass Erwin im Konvikt stark vom Leben verfremdet war und seine Kameraden im Konvikt als Feinde betrachtete.680 Dieses negative Verhalten dem Leben gegenüber sollte meiner Ansicht nach mit Lebensangst verbunden werden. Dass Erwin die Feinde während seiner Erkrankung auf einmal als “liebe Burschen” betrachtet, weist darauf hin, dass er dem Leben positiver gegenüber steht, was mit Lebensdurst zusammenhängt. Dass das Buch von Krankheit und Tod durchzogen ist, hängt nach Fischer mit Andrians individualpsychologischem Zustand zusammen.681 Andrians Leben wurde gekennzeichnet von psychischen Krisen: er litt nicht nur unter Krankheitsphobien, depressiven Stimmungen und Angstgefühlen, sondern auch – sei es in geringerem Maße – unter Wahnvorstellungen und Psychosen. Andrians Freund, Arzt und Jung Wiener Arthur Schnitzler, identifizierte Andrians Zustand schon früh als neurasthenische Hypochondrie. Hinzu kommt, dass Andrian im Laufe der Zeit in seinen Briefen mehr und mehr von seinen nervösen Krankheitssymptomen sprach.682 Der Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Andrian gibt auf jeden Fall einen Eindruck davon. So schrieb Andrian zum Beispiel schon als 18jähriger an Hofmannsthal: “Ich bin in einem

678 Andrian: Garten, S. 35. 679 Andrian: Garten, S. 16. 680 Vgl. 2.2.2. Innere Welt versus reale Welt, S. 28-29. 681 Fischer: Fin de Siècle, S. 147. 682 Perl: “Frühvollendung und Verstummen”, S. 52-53. Renner bemerkt, dass die Neurasthenie im deutschen Raum als eine “Kulturkrankheit” bezeichnet wurde, die mit wirtschaftlichen und technischen Umwälzungen, sinkender Moral und der Nervosität der Großstädte verbunden war. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 30 (Fußnote 40).) 121 solchen Zustand von Nervendepression heute, daß mir mein ganzer Körper weh tut, verstehst Du das?”.683 Auch Sudhoffs Behauptung, dass Erwins Krankheit am Ende der Erzählung mit Andrians neurasthenischen Krisen zu verbinden ist, schließt bei Fischers Bemerkung an.684 Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass verschiedene Forscher sogar glauben, dass er nach dem Garten der Erkenntnis literarisch verstummt ist wegen seiner Phobien und Neurosen.685

4.2. Der Garten der Erkenntnis als ästhetizistisches Werk?

Der “Ästhetizismus” war in Österreich um 1890 die ästhetische Bewegung, die eine Lebenshaltung bejahte, in der weder sittliche, noch gesellschaftliche Ideale vorherrschten. Wie schon bemerkt, wurde stattdessen in Schönheit gefluchtet, wurde Kunst zum Kriterium des Lebens gemacht.686 Die Jung Wiener, die sich trafen in Wiener Kaffeehäusern wie Café Griensteidl – von den Zeitgenossen wurde dieses Café schon schnell mit den Jung Wienern identifiziert –, vertraten prototypisch die ästhetische Generation.687 So hat Andrian, der Schönheit erstrebte, sich vor dem gemeinen Geschick flüchtete, und für den Kunst das Leben war, eine ästhetisch betonte Lebenshaltung.688 In diesem Abschnitt wird nachgegangen, ob sich das auch in Andrians Erzählung manifestiert. Dafür wird nicht nur untersucht, ob das Phänomen der Schönheit den Garten der Erkenntnis prägt (3.2.1.), sondern auch, ob gesellschaftliche Anspielungen, die für ein ästhetizistisches Werk eher atypisch sind, die Erzählung charakterisieren.

683 Hugo von Hofmannsthal – Leopold von Andrian, Briefwechsel. Hg. von Walter H. Perl. Frankfurt: Fischer 1968, S. 26. Zitiert nach Fischer: Fin de Siècle, S. 147. Dass Andrian über “Nerven” redet, ist kein Zufall. “Nerven” und “Nervosität” – letztere als Krankheit des Fin de Siècle gedacht - waren Stichworte um die Jahrhundertwende. (Vgl. Fischer: Fin de Siècle, S. 75. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 22.) 684Andrian: Garten, Nachwort, S. 210. 685 Vgl. Andrian: Garten, Nachwort, S. 202. / Fischer: Fin de Siècle, S. 148. / Perl: “ein vergessener Dichter”, S. 306. / Perl:“Frühvollendung und Verstummen”, S. 53. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 28. / Stix: “Der Sonderfall”, S. 486. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895) ”, S. 103. Perl suggeriert sogar, dass Hofmannsthal an Andrian gedacht hatte bei der Gestaltung seines “Lord Chandos”, denn sowohl Lord Chandos als Andrian werden mit dem Verlust des dichterischen Ausdruckes konfrontiert. (Vgl. Perl: “ein vergessener Dichter”, S. 306.) 686 Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 7. / Schorske: Wien , S. 283 / 4. Leben und Kunst, S. 97. 687 Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 46. / Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 48. 688 Vgl. Schorske: Wien , S. 290 / Stix: “Der Sonderfall”, S. 480 / 4. Leben und Kunst, S. 97. 122

4.2.1. Lockruf der Schönheit

Dass Erwin, wie Andrian, für das Schöne empfindlich ist, stellt sich schon am Anfang der Erzählung heraus:

es [das Leben in Gott] mußte sehr schön sein; denn schon in diesen Ahnungen fand er Schönheiten so verschieden, wie das Gemurmel der glorreichen Litaneien zu Ehren der Mutter Gottes an warmen Maiabenden verschieden ist vom Gedächtnis der Toten am Allerseelentag, oder von jenem Karfreitag im frühen Frühling, an welchem Priester und Volk vor den entblößten Altären zum bösen Hölze beten, an welchem das Heil der Welt gehangen hat. Aber er kannte noch andere Schönheiten. Die Schlösser auf dem Land im Herbst waren schön und die Zimmer in der Stadt waren schön, wenn in ihnen geräuchert war, und die Wagen und das Geschirr der Pferde mit dem Silber der Wappen und die Pferde selbst, o die Pferde waren schön, die Schimmel seiner Mutter und die Goldfüchse und der Viererzug von Rappen; und viele, viele andere Dinge gab es, die nicht in Gott waren, die er nie haben würde, und die doch schön waren: die Schönheiten der Welt.689 In diesem Abschnitt werden die Schönheiten zweier ganz gegensätzlicher Welten besprochen. Einerseits gibt es die der religiösen Welt, verbunden mit leisem Singen (“Gemurmel der glorreichen Litaneien”), Gedächtnisfeier und Gebet - mit sittsamer Reflexion also. Anderseits gibt es die der profanen Welt, die nicht mit Geistigem, sondern mit Materiellem zusammenhängt: Schlösser, Zimmer, Geschirr, Pferde, usw. Auffallend ist, dass es nicht nur inhaltlich, sondern auch formal zwischen den Schönheiten der Welt und diesen der Kirche einen Unterschied gibt. Über die Welt der Kirche wird in langen Satzteilen erzählt, was einen langsamen Rhythmus bewirkt, und der Ruhe im Inhalt entspricht. Im Gegensatz dazu wird über die Schönheiten der Welt mit kurzen Wortgruppen erzählt, wodurch ein schnellerer Rhythmus entsteht, so dass fast der Galopp der Pferde suggeriert wird, auf die auf inhaltlicher Ebene mehrmals hingedeutet wird. Überdies wird das Wort “schön” in Bezug auf die Schönheiten der Welt auffallend oft wiederholt, wodurch das Gefühl der Aufregung, das schon durch den schnellen Rhythmus suggeriert wurde, noch verstärkt wird. Auch wenn die Schönheiten inhaltlich und formal kontrastieren, so haben Kirche und Welt doch gemeinsam, dass sie beide von Schönheit gekennzeichnet werden. Hier trifft Renners Behauptung zu, dass der Ästhetizismus als Harmonisierungsfaktor zwischen Kirche und Welt betrachtet werden könne.690

689 Andrian: Garten, S. 15. [Hervorhebung von mir, SVD] 690 Renner: ‚Garten der Erkenntnis’, S. 91. 123

Dass sowohl inhaltlich als formal ein Kontrast zwischen den Schönheiten von Kirche und Welt hergestellt wird, deutet darauf hin, dass auch über die Form dieses Abschnittes reflektiert worden ist. Nicht nur inhaltlich, sondern auch formal wurde hier also die Schönheit intendiert. Die Beziehung zwischen Form und Inhalt war für Andrian bekanntlich Zentrum seiner ästhetischen Überlegungen.691 Andrian war, wie die anderen Jung Wiener, sehr sprach- und formbewusst.692 Lautete es bei Bahr “Es ist nur die Form, nichts als die Form, einzig und allein, die schöne Form”693, so klang es bei Andrian in den Tagebuchnotizen des Jahres 1893: “was den Künstler characterisirt, die Freude am Wort, an der Sprache”.694 Um sein Formbewusstsein zu steigern, las Andrian sogar eigene und fremde Gedichte vor.695 Eigentlich glaubten Ästheten in ganz Europa – Wiener ebenso gut wie Engländer (Wilde) – dass die Essenz der Kunst das Schaffen von Schönheit durch Form war.696 Auch dass es in der Erzählung Vorausdeutungen gibt, weist darauf hin, dass die Form der Erzählung wohl überlegt ist. Eine dieser Vorausdeutungen ist der Kampf zwischen Welt und Kirche697:

Aber seine Gedanken gaben diesem Zweikampf eine so vielfältige Höflichkeit, ein so erhabenes Zeremoniell, so gesuchte Formen, daß er fast zu einer Parade wurde, zu einem Vorwand für die beiden großen ebenbürtigen Gegner, einander gegenüber zu stehen, die fremde Herrlichkeit zu bewundern, und an der fremden Größe der eigenen gewahr zu werden; so wie wenn von den Enden der Welt zwei Helden zu kämpfen kommen, der tapferste Held des Morgenlands und der tapferste Held des Abendlands[...].698 Dass der Kampf nicht nur auf den Kampf zwischen Erwin und dem Fremden am Ende von Erwins Leben vorausweist, sondern auch auf den Abschied von Clemens und Erwin und auf die Sängerinszene wurde schon bemerkt.699 Meiner Ansicht nach wird überdies mit dem unterstrichenen Satzteil darauf angespielt, dass der Fremde als Projektion von

691 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 101. 692 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 99. 693 Zitiert nach Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 59. Rieckmann übernimmt das Zitat von Das Junge Wien. Band 1, S. 28f. (Vgl. 3.1.1.5., Fußnote 355.) 694 Zitiert nach Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 103. Theodorsen übernimmt das Zitat von Rieckmann: Leopold von Andrian, S.15. (Vgl. 4., Fußnote 520.) 695 Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 139. 696 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 112. 697 Andere vorausdeutende Szenen sind die Sängerinszene, die auf die Vorstadtszene vorausweist (Vgl. 3.2.1. Rollenspiel, Wirklichkeit und Lüge, S. 86.), und die Fröscheszene - in der der Priester Frösche für ihr Leben verbindet - die auf die Verbindung zwischen Mutter und Sohn nach ihrem Dialog vorausweist (Vgl. 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 76.). 698 Andrian: Garten, S. 15-16. [Hervorhebung von mir, SVD] 699 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 62. / 3.2.3. Bühne oder Leben, S. 94. 124

Erwin zu betrachten ist.700 Auch die Wörter “Morgenland” und “Abendland” sind Vorausdeutungen auf die Osten/Westen-Problematik später in der Erzählung.701 Weil überdies die Schönheit des Zeremoniells in diesem Bild ausschlaggebend ist – wie auch Renner gesehen hat702 – verweist es auf Ästhetizismus zurück. Scheible spricht in Bezug auf diese Szene sogar von einer “ästhetischen Realitätsbewältigung”, weil er glaubt, dass in dieser Szene die Fremdheit der Welt über das Ästhetische überwunden wird.703 Schönheit wirkt aber nicht nur in diesen Szenen, sondern auch im Zentrum der Erzählung harmonisierend: “Alles hatte seine sinnreiche Schönheit [...]”.704 Unterschiedlichste Dinge und Menschen werden mit Schönheit assoziiert. Rabelhofer sieht die Schönheit hier aber als eine destruktive Kraft, weil die Individualität des Gegenstandes relativiert wird.705 Meiner Ansicht nach hat sie Recht: aus demselben Grund ist die Schönheit, auch wenn sie harmonisiert, auch destruktiv in der Kirche- und Weltszene. Auffallend ist auch, dass die Szene, in der mitgeteilt wird, dass alles sinnreiche Schönheit hat, und Schönheit also als absoluter Wert dargestellt wird, gerade im Zentrum der Erzählung steht.706 Andrian, der der Form seiner Werke viel Aufmerksamkeit schenkte, mag dies absichtlich so angelegt haben, um anzudeuten, dass Ästhetisierung und Ästhetentum große, um nicht zu sagen: zentrale, Themen der Erzählung sind. Auch das Bild der Schatzhöhle, das dieser zentralen Szene vorangeht, hängt mit Schönheit zusammen. Der Jüngling in der Grotte ist nämlich von Edelsteinen umgeben, die die Schätze der Welt verkörpern; beide – Edelsteine und Schätze – sind Phänomene, die mit Schönheit assoziiert werden. Renner verknüpft diese Szene aber aus anderen Gründen mit Ästhetizismus. So verbindet sie das bloße Schauen, die Passivität des Jünglings – die Lebenshaltung die auch Erwin kennzeichnet707 – mit dem Ästhetentum. Nach ihr werde in der Schatzhöhle die Fatalität dieser passiven Lebensführung demonstriert. Auch die Frage der Erkenntnismöglichkeit des Lebens, die mit dem Nicht-

700 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 60. 701 Vgl. 4.1.1.2. Das Fest (des Lebens/der Jugend), S. 110. 702 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 91. 703 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 38. 704 Andrian: Garten, S. 27. 705 Rabelhofer: “Wie glücklich kann Narciß sein?”, S. 75. 706 Es gibt 61 Abschnitte in dieser Erzählung, und dieser Abschnitt ist der einunddreißigste. 707 Vgl. 3.2.2. Zuschauer. 125

Kennen des Wortes (“weil er das Wort nicht weiß”708) verknüpft ist, hänge mit Ästhetizismus zusammen.709 Auffallend am Bild der Schatzhöhle ist auch die Intertextualität. So wurde dieses Bild in der Sekundärliteratur nicht nur mit dem Märchen von Aladin und seiner Wunderlampe, mit der Praxis der Alchemisten und mit Parzivals Gralsuche, sondern auch mit Platons Höhlengleichnis verbunden.710 An dieses Höhlengleichnis, in dem bekanntlich expliziert wird, dass was die Menschen auf Erde sehen nur Schattenbilder von ewigen Ideen sind – mit anderen Wörtern, dass was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen nur Schein, unvollkommen und veränderlich ist, im Gegensatz zu den ewigen, vollkommenen Ideen, die mit Sein assoziiert werden711 –, wird meiner Ansicht nach auch im Dialog zwischen Mutter und Sohn erinnert. Dort wird über Schönheit nämlich Folgendes gesagt: “wir behalten und lieben die Schönheiten, die sie uns gezeigt haben [...]”.712 Im Höhlengleichnis wird nämlich über Menschen erzählt, die – weil ihnen Hände und Füße gebunden sind – nur die Wand einer Grotte sehen können, auf der sie ausschließlich die Schattenbilder von Phänomenen betrachten können, die ihnen “gezeigt” werden.713 Überdies wird im Dialog der oben genannte Satz nicht nur vorangegangen durch “Der Grund muß in der Seele sein”, sondern auch gefolgt von “Wir sind allein, wir und unser Leben, und unsere Seele schafft unser Leben, aber unsere Seele ist nicht in uns allein”. Obwohl letzterer Satz im Kontext des Empiriokritizismus verstanden werden kann714, ist auch Müllers Behauptung plausibel, daraus könne abgeleitet werden, dass auch die platonische Lehre von der Seele in den Garten der Erkenntnis eingegangen sei. Gerade wie im Dialog die Seele als Lebensprinzip verabsolutiert wird, war sie auch bei Plato eine unsterbliche, geistige, überirdische Entität, die von den ewigen Wahrheiten weiß.715 In Bezug auf den Satz lautet es aber bei O’Brien: “there is no transcendent reality hiding behind

708 Andrian: Garten, S. 26. 709 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 142-143. Das Bild des Zweikampfes spiegelt meiner Ansicht nach auch diese Lebenshaltung, weil auch in diesem Kampf nur geschaut und paradiert, nicht gekämpft wird. 710 Renner deutet auf diese Intertextualität hin. Sie betont vor allem, gerade wie Sorg, dass Erwin - wie Parzival - ein suchender Ritter ist. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 138. / Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 146.) Müller weist nicht nur auf den Zusammenhang mit dem Höhlengleichnis hin. Er stellt fest, dass auch andere Phänomene in der Erzählung an Platos Gedankengut erinnern. (Vgl. Müller: Das Dekadenzproblem, S. 95.) 711 Vgl. Brockhaus: Band 17, S. 233. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 95. 712 Andrian: Garten, S. 38. 713 Brockhaus: Band 10, S. 178. 714 Vgl. 3.1.1.1. Der Garten (der Erkenntnis), S. 107-108. 715 Vgl. Brockhaus: Band 20, S. 36. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 96. 126 appearances”.716 Diese Behauptung von O’Brien, der diesen letzten Satz nur im Kontext des Empiriokritizismus gelesen hat, erweist sich meiner Ansicht nach denn auch als eine radikal falsche. Wäre es möglich, dass auch die folgende Textstelle, in der Schönheit bejübelt wird, sich mit platonischem Gedankengut auseinandersetzt?

es war wunderschön, daß der einsame Tod, welcher das Leben ist, uns nicht verhindern kann, eine fremde Schönheit, die wir nicht verstehn, die sich uns nicht enthüllen und uns nichts geben wird, nur weil sie schön ist, zu bewundern; es war wunderschön, daß wir, obwohl Menschen, dennoch Künstler sind, Künstler wiederum darin, daß wir nicht einmal klagen, wenn uns diese Schönheit entgleitet, sondern sie grüßen und über sie jubeln, weil uns ein Schauspiel mehr wie unser Schicksal ist.717 Schon früher ist behauptet worden, dass die “fremde Schönheit” von der Sängerin und von der Kurtisane verpersönlicht wird.718 Auch Renner meint mit gutem Grund, dass in dieser Szene dem Ästhetentum das Wort geredet wird, weil aus ihr Anbetung des Schönen um der Schönheit Willen spricht.719 Meiner Ansicht nach wird mit der “fremde[n] Schönheit” aber nicht nur auf das sinnliche Schöne angespielt, um das es im Ästhetizismus geht720, sondern zugleich auf Platos Idee des Schönen.721 Für die Ästheten722, die sich nur mit der sinnlichen Welt beschäftigen, ist diese Idee – wie jede Idee in der Ideenwelt, das heißt die Welt des vollkommenen und unveränderlichen Seins – nämlich “fremd”. Diesen Menschen “enthüllt sich” diese Idee “nicht”, sie “verstehen” sie nicht. Trotzdem kann das Leben tatsächlich “nicht verhindern”, sie zu “bewundern”, weil wir in der sinnlichen Welt Schattenbilder dieses ewigen Schönen betrachten können. Auch ist auffallend, dass das Künstlertum in dieser Szene so resolut mit Schönheit verbunden wird. Darauf macht nicht nur Renners Bemerkung, dass in diesem Abschnitt nur die Anbetung des Schönen den Menschen zum Künstler macht, aufmerksam, sondern auch Theodorsens Behauptung, dass der Künstler hier für Schönheit

716 O’Brien: “Ernst Mach and a Trio of Austrian Writers” , S. 66. 717 Andrian: Garten, S. 32. 718 Vgl. 3.2.3. Bühne oder Leben, S. 94-95. 719 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 162. 720 Moderne Encyclopedie van de Wereldliteratuur. Band 9. De Haan/Antwerpen: Weesp/De Standaard 1984/2, S. 203. 721 Brockhaus: Band 19, S. 486. 722 Mit ‘uns’ wird, wie schon bemerkt wurde (Vgl. 2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 36.), auf die Jung Wiener, die Ästheten waren (Vgl. 4.2. Der Garten der Erkenntnis als ästhetizistisches Werk, S. 120.), hingedeutet. 127 empfindlich ist.723 Sowohl in dieser Szene als auch im folgenden Zitat von Hofmannsthal wird ausgedrückt, dass Künstlertum und Ästhetetentum als Synonyme aufzufassen sind:

ästhetische Menschen, Menschen die von der Phantasie und für die Phantasie leben, deren Daseinswurzel das individuelle Schöne ist, die Art Menschen, die mit dem eigenen Leben schon das selber thuen, was ein darstellender Künstler mit dem Leben der „Menschen im Leben“ thut, also Künstler oder dem Künstler nah’ stehende Dilettanten [...].724 Während Renner in Bezug auf das Zitat auf Seite 125 über Künstler in ästhetischem Sinne spricht, redet Theodorsen über “Künstler ohne Hände”. Beide Aussagen laufen auf dasselbe hinaus: es handelt sich im Abschnitt um unproduktive Künstler, die nur genießen und nicht schaffen. Erwin sehen sie als einen solchen wahrnehmenden, nicht-schaffenden Künstler – als Ästheten also.725 Auch Erwins Mutter kann aber in diesem Sinne als Künstlerin betrachtet werden, weil auch sie Phänomene liebt, die mit Schönheit assoziiert werden: “Sie hatte die Edelsteine, die kostbaren Stoffe und die gestickten Seiden geliebt und die Schauspiele, die Folgen der Länder und die Kunstwerke der Künstler [...]”.726 In der Erzählung ist aber auch von einigen schöpferischen Künstlergestalten die Rede, wie zum Beispiel der Sängerin in Bozen und dem Dichter Bourget. Wie schon bemerkt, stellt sich aus der Sängerinszene heraus, dass Erwin das Schauspiel, eine Kunstform, dem Leben vorzieht.727 Dazu passt auch Sorgs Behauptung, dass das Leben das Mindere ist, gemessen am Bild des Lebens im Gedicht von Bourget728:

[...] er wußte, daß diese Erinnerungen sein Leben waren. Dennoch lag in ihrer weichen, traurigen Schönheit nicht dasjenige, was ihm sein Schauer und die Worte des Dichters vom Leben versprachen [...].729

723 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 162. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 139. 724 Hugo von Hofmannsthal: Prosa I, S. 238. ( Vgl. 3.2.1., Fußnote 474.) Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 163 (Fußnote 118). (Auch Paetzke und Theodorsen zitieren diese Wörter im Hinblick auf die Szene.Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 35. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 139.) 725 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 143, 162. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S.139. Bemerkenswert ist überdies, dass Erwin die Schönheit nur in einem Augenblick nicht nur bewundert, sondern sogar mit Erkenntnis verbindet: “[...] in jeder Schönheit, die seine Seele genoß, fühlte sie einen Schritt zur Erkenntnis”. (Vgl. Andrian: Garten, S. 39.) 726 Andrian: Garten, S. 36. 727 Vgl. 3.2.3. Bühne oder Leben, S. 92. 728 Sorg: “Aus dem >Garten der Erkenntnis< in die „Gärten der Zeichen“”, S. 254. 729 Andrian: Garten, S. 25-26. 128

Noch aus zwei anderen Stellen kann abgeleitet werden, dass das Leben das Mindere ist. So wird anhand des Mithras-Heliosreliefes deutlich, dass in der Kunst erreicht wird, was Erwin in seinem Leben zwar erstrebt, sondern nicht erreichen kann: Erkenntnis. Renner findet in der Szene, die auf dem Kunstwerk abgebildet ist, nämlich ein Element der gewonnenen Erkenntnis: das Licht.730 An einer anderen Stelle wird Leben mit Öde verbunden, während Kunst befreiend wirkt:

Einmal in Schönbrunn überkam ihn diese Öde besonders stark [...] Wenige Tage später freilich an einem Januarabend fühlte er dort den unsagbaren Reiz einer Statue, auf der sich zwei Frauen umschlungen hielten;731 Nicht nur das Schauspielmotiv, sondern alle oben genannten Beispiele, aus denen sich ergibt, dass – gemessen am Leben – Kunst das Bedeutendere ist, können meiner Ansicht nach mit dem Motiv der Lebensferne verbunden werden, was interessant ist im Kontext des Ästhetizismus, denn Lebensferne ist nach Paetzke eine Widerlegung des Ästhetizismus.732 Obwohl das Leben herabgesetzt wird, fällt trotzdem auf, dass es auch mit Schönheit verbunden wird: “dieses Leben war die Quelle der Schönheit”.733 Auch die Erinnerungen, die Erwin als sein Leben betrachtet, werden mit Schönheit assoziiert:

[...] er wußte, daß diese Erinnerungen sein Leben waren. Dennoch lag in ihrer weichen, traurigen Schönheit nicht dasjenige, was ihm sein Schauer und die Worte des Dichters vom Leben versprachen [...].734 Paetzkes Nuancierung – schon das Leben ist mit Sinnlichkeit und nicht mit Schönheit verknüpft735 – löst die Frage nicht. Richtig ist ihre Behauptung, dass Schönheit in der Erzählung generell mit Größe, Macht und Hoheit verbunden ist, wie mit der Schilderung von Erwins Mutter (die Erwin als kleines Kind als groß und fremd betrachtete), von der Kurtisane (die mit einem König und einer Kaiserin verglichen wird), und von den Schönheiten der Welt (die mit dem aristokratischen Raum

730 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 200-201. 731 Andrian: Garten, S. 28. 732 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 46, 151(Fußnote 38). 733 Andrian: Garten, S. 31. 734 Andrian: Garten, S. 25-26. Bemerkenswert ist überdies, dass auch die verschiedenen Hinweise auf Erinnerung dafür sprechen, dass platonisches Gedankengut in der Erzählung eingegangen ist. Plato hat nämlich behauptet, dass der Mensch, der in der Welt des Scheins lebt, mit seinen Erinnerungen die Welt des Seins zurückrufen und erkennen kann, was er Anamnesis genannt hat. Die Seelen der Menschen waren nämlich alle irgendeinmal in der Ideenwelt. (Vgl. Brockhaus: Band 1, S. 534 & Band 17, S. 233. / Müller: Das Dekadenzproblem, S. 95.) 735 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 45. 129 verbunden sind) zu belegen ist.736 Als große Ausnahmen gelten aber meiner Ansicht nach Erwin und Clemens, die mit einer “unfruchtbaren Schönheit’assoziiert werden”.737 Clemens ist nur ein einfacher Junge, Erwin ist eigentlich nichts mehr als ein verunsicherter Fürstensohn. Überdies werden beide eher mit Niedrigkeit als mit Größe und Macht verbunden.738 Dasselbe gilt für die Fiaker, mit Schönheit in Verbindung gebracht, weil sie “so elegant waren”.739 Eleganz wird auch weiter in der Erzählung mit Schönheit assoziiert: “Dinge [...] deren Schönheit man [...] Eleganz nennt”.740 Dass Paetzkes Behauptung, dass Schönheit und Sinnlichkeit im Garten der Erkenntnis stark kontrastieren, nicht durchzuhalten ist, kann zum Beispiel anhand der Sängerinszene belegt werden. So wird über die Sängerin berichtet, “daß sie im Leben alt und nicht schön sei”741, was suggeriert, dass Erwin ihr Auftreten im Schauspiel als Schönheit empfindet. Dieses Auftreten, in der sie schön ist, wird nicht nur mit Macht, sondern auch mit Triebhaftigkeit verbunden. Auffallend ist, dass in der Erzählung auch der Tod zweimal explizit mit Schönheit verbunden wird: es ist nicht nur von einer “täglich sterbenden Schönheit” die Rede, sondern auch von der “öden und hochmütigen Schönheit des Todes”.742 Wird im letzteren Beispiel, das die negativ konnotierten Adjektive “öde” und “hochmütig” an Schönheit und Tod knüpft, vielleicht schon auf Erwins “häßliche ratlose Furcht vor dem Tod”743 nach der dritten Begegnung mit dem Fremden vorausgedeutet? Auf jeden Fall ist Erwin am Ende seines Lebens in seiner Apathie nicht mehr empfindlich für Schönheit. Weil er aber einen einsamen Tod stirbt – was Paetzke als Widerlegung der ästhetizistischen Lebensweise sieht744 –kann der Schluß der Erzählung trotzdem mit dem Ästhetizismus verbunden werden.

736 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 42-43. 737 Andrian: Garten, S. 25. 738 Über Clemens wird berichtet, dass er “arm und sehr einfach” war (Vgl. Andrian: Garten, S. 23.). Erwin wird wirtwörtlich mit Niedrigkeit assoziiert: “[...] in ihm durchzittert von der Niedrigkeit [...]” (Vgl Andrian: Garten, S. 37). 739 Andrian: Garten, S. 21. 740 Andrian: Garten, S. 23. 741 Andrian: Garten, S. 18. 742 Andrian: Garten, S. 30, 31. 743 Andrian: Garten, S. 41. 744 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 47. 130

4.2.2. Gesellschaftliche Anspielungen

Dass Schönheit ein wichtiger Aspekt der Erzählung ist, hat sich in 3.2.1. herausgestellt. Jetzt wird aber die Frage gestellt nach der Anwesenheit von gesellschaftlichen Anspielungen im Garten der Erkenntnis. Das Vorhandensein von solchen Andeutungen würde darauf hindeuten, dass der ästhetizistische Charakter des Werkes relativiert werden soll. Auffallend ist, dass schon im ersten Satz eine solche Anspielung auftaucht. Es wird nämlich erinnert an den Antagonismus Preußen-Österreich: “Ein Fürst, dessen Güter an Deutschland grenzten, heiratete um sein zwanzigstes Jahr herum eine schöne Frau”.745 Renner und Bucher-Drechsler heben aber das Märchenhafte dieser Anfangsformel hervor.746 Während Bucher-Drechsler noch nuanciert, dass es entgegen Märchenbrauch ist, das Geschehen räumlich und zeitlich zu fixieren, finden beide es jedoch nicht merkwürdig, dass Deutschland hier explizit erwähnt wird, obwohl die ganze Erzählung sich in Österreich abspielt. Schon in dieser Anfangsformel wird auf die geschwächte internationale politische Lage Österreichs seit 1866 aufmerksam gemacht. Österreich hat in diesem Jahr im Deutschen Krieg schwere Niederlagen erlitten (Königgrätz 1866), ist aus dem Deutschen Bund ausgeschieden, wodurch Preußen als Hegemonialmacht bestätigt wurde.747 Dadurch, dass der erste Satz schon auf eine österreichische Niederlage anspielt, noch bevor dem Leser vom Tod des Fürsten berichtet wird, fängt die Erzählung unter einem negativen Vorzeichen an. Auf diesen Antagonismus wird auch später in der Erzählung noch einmal hingewiesen, nämlich als Erwins Mutter in seiner Kindheit aus einem Buch über den Kampf gegen Preußen vorliest: “Dann las sie ihm noch lange vor, vom Jahre 59, in dem wir verraten wurden, und von unserem glücklosen Kampf mit dem Preußen”.748 Wie schon bemerkt, werden – so Theodorsen und Renner – mit “unser”/ “wir” die Jung Wiener angeredet. Theodorsens Behauptung, dass mit diesen Wörtern überdies ein österreichpatriotisches Element in den Text eingebracht wurde749, wird anhand dieses Beispiels bestätigt. Fischers Behauptung, dass die Mutter mit dem Vorlesen Erwin das rechte

745 Andrian: Garten, S. 13. 746 Vgl. Bucher-Drechsler: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 307. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 74. 747 Vgl. Brockhaus: Band 5, S. 336 & Band 16, S. 336. / Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 16. 748 Andrian: Garten, S. 36. 131

Nationalgefühl gibt750, kann aber angezweifelt werden, weil die Mutter Erwin hier über österreichische Niederlagen berichtet.751 Mit dem Hinweis auf Deutschland wird der Leser außerdem an die Nationalpolitik in Österreich, das heißt die pangermanische Gruppierung unter von Schönerers Leitung, erinnert.752 Andrian selber wollte ab den neunziger Jahren aber ein Großösterreich und widersetzte sich der deutschnationalen Tendenz.753 In der Szene über die Freundschaft mit Heinrich Phillippe wird explizit gesagt, dass er kein Österreicher sei, sondern schon lange in Wien gelebt habe.754 In einer späteren Szene wird auch auf den kosmopolitischen Charakter Wiens angespielt: Es wird über “die Gesichter aller Völker des Reiches” berichtet.755 Paetzkes Vermutung, dass Erwins Sehnsucht nach einer Ordnung, in der “alle Völker” sinnvoll sind, die nationalen Gegensätze der österreichischen Gesellschaft deutlich werden lässt, ist plausibel.756 In der Vorstadtszene ist dann wieder von Bosniern die Rede: “Nur die bosnischen Soldaten an einem getrennten Tisch in der Ecke beim Kruzifix blieben ganz ernst”.757 Scheible weist in seiner Besprechung der Erzählung auf die Bosnier hin, und nennt sie fremd, weil sie Mohammedaner sind. Außerdem merkt er an, dass die Anwesenheit des Kruzifixes dadurch befremdend wirkt.758 Meiner Ansicht nach ist es aber wichtig, dieses Kruzifix nicht nur als religiöses Symbol, sondern auch als aristokratisches Symbol zu betrachten, weil der Katholizismus in Österreich sehr stark mit Kaisertum und Aristokratie assoziiert wurde.759 Auf diese Weise werden in diesem

749 Vgl. 2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 36. (Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 299- 301. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 141.) 750 Fischer: Fin de Siècle, S. 155. 751 Mit dem Hinweis auf das Jahr 59 wird auf die österreichische Niederlage gegen Sardinien-Piemont und Frankreich hingewiesen, mit dem “glücklosen Kampf mit dem Preußen” ist der Deutsche Krieg gemeint, der mit einem preußischen Sieg endete. Vgl. Brockhaus: Band 5, S. 336 & Band 13, S. 508 & Band 16, S. 336. 752 Vgl 2. Das sozial-politische Leben, S. 13. Die pangermanische Partei hat eine groß-deutsche Orientierung. Sie strebten zum Beispiel bessere Handelsbeziehungen mit dem deutschen Kaiserreich an. Von Schönerer erstrebte auch die Beendung der pro-slawischen Habsburger Monarchie, um ihren westlichen Teil mit der Bismarckmonarchie zu vereinigen. Außerdem war von Schönerer nicht nur Nationalist, sondern auch Antisemitist. Vgl. Schorske: Wien, S. 115-126. 753 Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 621. 754 Andrian: Garten, S. 18. 755 Andrian: Garten, S. 28. 756 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 31. 757 Andrian: Garten, S. 30. 758 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 47. 759 Die katholische Führerschaft bestand aus Aristokraten und blieb dem Kaiser und dem Neo- Absolutismus treu, auch wenn die Macht des Kaisers und die absolutistischen Institutionen von dem Liberalismus eingeschränkt und ersetzt wurden. Die Habsburger glaubten sogar, dass die Herrscher 132

Satz nicht nur zwei Religionen, der Islam und der Katholizismus, sondern auch zwei Klassen, nämlich die Klasse der Soldaten und die aristokratische Klasse, kontrastiert. Außerdem ist es bezeichnend, dass die Bosnier an einem getrennten Tisch sitzen, was auch ihre Nicht-Zugehörigkeit betont. Renner macht darauf aufmerksam, dass Andrian, wie viele andere Anhänger des Adels und des Bürgertums, die Arbeiter und die Übernationalität dämonisierte.760 Die Schilderung der Bosnier könnte in diesem Kontext betrachtet werden. Auch die Bezeichnung “der Fremde kann mit der Überfremdungsproblematik des österreichischen Reiches verbunden werden. Aus Andrians Tagebüchern aus 1894, der Periode also, in der am Garten der Erkenntnis geschrieben wurde, kann geschlossen werden, dass er diese Überfremdung als eine Krankheit für Wien betrachtete:

früher machte Wien Österreich, wie Paris Frankreich machte. Etwas in Wien ist nicht mehr stark genug zu assimilieren, es wird überflutet, Wien wird bohemisiert, früher verwienerten die Böhmen – – es ist immer wieder Rom und Byzanz.761 Aus Andrians Aufzeichnungen lässt sich aber auch schließen, dass er den Untergang Wiens nicht nur im Problem der nationalen Minderheiten sah, sondern auch in der Natur der Österreicher.762 Mit dem Hinweis auf Alexander den Größen763 hat Andrian eine Parallele zwischen der eigenen Zeit und dem Altertum zustande gebracht, denn Alexanders hellenistisches Reich war – wie auch Hofmannsthal bemerkt hat764 – wie das österreichische kosmopolitisch und ging letztendlich wegen Überfremdung zugrunde.765 In der Hinsicht ist Theodorsen zuzustimmen, wenn sie behauptet, dass der Kosmopolitismus Teil von Erwins herumreisendem Leben ist;766 dass Erwin auch das Prinzip der Übernationalität verkörpere767, kann ich weniger gut nachvollziehen. Die Jung Wiener waren trotz ihres ökonomischen Vorsprungs politisch machtlos, wodurch sie sich sowohl überlegen als ohnmächtig fühlten. Nach Schorske spiegelt sich

Instrumente Gottes waren. Vgl. Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 37. / Schorske: Wien , S. 132- 133. 760 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 242-243. 761 Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom 18. April 1894. Zitiert nach Rieckmann: Aufbruch in die Moderne, S. 98. 762 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 109. 763 Andrian: Garten, S. 32. 764 Vgl. 4.1.1.2. Das Fest (des Lebens/der Jugend), S. 109. 765 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 57. 766 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 110. 767 Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 149. 133 das in ihren Texten wider.768 Auch in Andrians Text wird mit Gefühlen von Überlegenheit und Machtlosigkeit gespielt. Nicht nur in der Konviktszene, in der Erwin sich einerseits, wie Paetzke schon bemerkt hat, allmächtig fühlt, da er selber seiner Umgebung eine Bedeutung zuschreibt, und in der er andererseits von Feinden in der Außenwelt bedroht wird.769 Auch in der Vorstadtszene ist Erwin mit solchen ambivalenten Gefühlen beschäftigt. Einerseits hat er eine Sonderposition inne, weil der Fremde, der als Führer einer Gruppe dargestellt wird770, sich nur mit ihm befasst. Andererseits hat er Angst vor dem Fremden, was mit der Angst vor Überfremdung verknüpft werden kann. Außerdem wird, wie schon Paetzke bemerkt hat, in der Vorstadtszene auch auf das Auftauchen der Masseparteien im zeitgenössischen Wien angespielt.771 Sie hat auch zu Recht darauf hingedeutet, dass ein Frühlings- und ein Regenmotiv diese Vorstadtszene einleiten.772 Weil sie aber keine Textstellen zitiert, ist undeutlich, in wie weit sie diese Motive für ausgearbeitet hält. Plausibel ist, dass sie von folgenden Worten ausgegangen ist: “Einmal an einem Maiabend ging der Erwin durch die Stadt; es regnete [...]”.773 Paetzke gibt außerdem keine Erklärung dafür, weshalb diese Motive hier angewendet worden sind. Meiner Ansicht nach können sie auf das Heranwachsen der Arbeiterparteien der Vorstadt hinweisen, gegen die weder Erwin noch Andrian, als Aristokraten, etwas machen konnten: sie mussten den Untergang ihres Reiches nur so mit ansehen. Diese Motive können als Fruchtbarkeitsmotive betrachtet werden: Regen gilt als Leben spendende Kraft, weil er Böden fruchtbar macht, und der Frühling gilt als die Jahreszeit, die mit Geburt und Wachstum assoziiert wird. Diese Idee bestätigend, kommt hinzu, dass diese Motive, die auch an anderen Stellen in der Erzählung auftauchen, oft mit Vorstellungen von Sinnlichkeit einhergehen. Auch Paetzke hat auf diese Verbindung hingewiesen.774 Sie belegt das aber nur anhand von Beispielen am Ende der Erzählung. Meiner Meinung nach werden die Motive aber auch schon in der Vorstadtszene mit Sinnlichkeit verbunden. So wird die Mitteilung, dass es regnet, gleich vom erotisch konnotierten Wort “Sehnsucht”

768 Schorske: Wien , S. 287. 769 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 29. 770 Rieckman: “Narziss und Dionysos”, S. 70. 771 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 44. 772 Paetzke redet aber von einem Metapher des Regens und nicht von einem Regenmotiv. Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 44. 773 Andrian: Garten, S. 29. 774 Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 44. 134 gefolgt: “es regnete, er fühlte Sehnsucht nach der Fülle der Erlebnisse, deren Möglichkeit in ihm war”.775 Außerdem ist nicht nur der Monat “Mai”, sondern sind auch die Gärten mit duftenden Pflanzen Belege dafür, dass Erwin die Vorstadt im Frühling besucht: “Aber dann ging er an Gärten vorbei; in diesen begannen die Pflanzen zu duften und es waren zu viele; ihre Düfte hatten sich noch nicht gemengt, streiften einander, und wollten sich vereinigen”.776 Weil diese Umschreibung der duftenden Pflanzen eine erotische Konnotation hervorruft777, kann behauptet werden, dass auch das Frühlingsmotiv hier mit Sinnlichkeit verbunden ist. Auch die Fiaker, im Sinne von Kutscher, erinnern an die gesellschaftliche Realität. Scheible betont nicht nur ihre Beliebtheit am habsburgischen Hof, sondern auch, dass sie für Aristokratie und Bürgertum eine wichtige Verbindung zur niedrigen Klasse waren.778 Außerdem wird ein Fiaker im Text umschrieben als “starr und doch seltsam lebend”.779 Meiner Ansicht nach wird dieser Fiaker so als richtiger Habsburger dargestellt, denn die Habsburger lebten nach einer starren und artifiziellen Etikette.780 Die Fiaker sind in diesem Text natürlich auch deshalb besonders wichtig, weil Erwin sie mit dem “Anderen” – nach vielen Forschern: der Homosexualität – assoziiert, dem großen Lebensproblem für Andrian.781 Auch das militärische Wesen, das die habsburgische Hausmacht kennzeichnet782, ist im Buch vielfach anwesend. Wenn Erwin die Schönheiten der Welt umschreibt, zum Beispiel, wird nicht nur, wie Renner und Paetzke zu Recht bemerkt haben, die Welt der Aristokratie beschrieben783, sondern wird meiner Ansicht nach zugleich eine kriegerische, und deswegen auch militärische, Atmosphäre hervorgerufen:

Die Schlösser auf dem Land im Herbst waren schön und die Zimmer in der Stadt waren schön, wenn in ihnen geräuchert war, und die Wagen und das Geschirr der Pferde mit dem Silber der Wappen und die Pferde selbst, o die Pferde waren schön, die Schimmel seiner Mutter und die Goldfüchse und der Viererzug von Rappen;784

775 Andrian: Garten, S. 29. 776 Andrian: Garten, S. 29. 777 Vgl. Rieckmann: “Knowing the other”, S. 72. 778 Scheible: Literarischer Jugendstil, S. 40-41. 779 Andrian: Garten, S. 22. 780 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 61-62. 781 Vgl. 3.1.1.1. Das Andere, S. 41-44. 782 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 40. 783 Vgl. Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne, S. 43. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 90. 784 Andrian: Garten, S. 15. 135

Dass in diesem Satz eine kriegerische Stimmung herrscht, kann nicht nur aus der Gewalt des Satzrhythmus abgeleitet werden, sondern auch aus den vielfachen Hinweisen auf die Pferde, die einen so wesentlichen Anteil am militärischen Leben hatten, und vor allem aus der Stelle, an der der Satz auftritt, nämlich genau vor dem ästhetisierten Bild des Kampfes der Kirche gegen die Welt. Wie schon bemerkt, wird dieser Kampf verweichlicht, und wird hier verhüllt auf das Triebhafte verwiesen.785 Außerdem wurde auch schon angemerkt, dass die Soldaten, die zur niedrigen Klasse gehörten, im Allgemeinen mit dem Instinktiven, Triebhaften assoziiert werden.786 In dieser Hinsicht wirken die Bosnier, da sie Soldaten und deswegen triebhaft sind, nicht fremd in der sinnlichen Vorstadtszene. Auch der Hinweis auf die Burschen mit den blauen Deutschmeisterkappen erinnert an das militärische Leben:

Nur einmal vor seiner Abreise wurde er stark ergriffen; das war auf einer kleinen Station in der Nähe von Wien; durch den Bahnhof fuhr ein Zug, aus dessen Fenstern junge Burschen herausschauten, die einrückten; ihre blassen Gesichter glänzten und sie sangen und hatten lichtes Laub auf ihren blauen Deutschmeisterkappen.787 Die Angehörigen des k.u.k. Infanterie-Regiments Nr. 4 “Hoch- und Deutschmeister” und seiner militärischen Nachfolgetruppenteile werden bis auf den heutigen Tag “Deutschmeister” genannt.788 Weil die Burschen Deutschmeisterkappen tragen, wird suggeriert, dass sie Deutschmeister sind. In diesen Rahmen passt das Wort “einrücken”, ein Wort, das vor allem in militärischen Kontexten angewendet wird. Die Wortgruppe “sie sangen” ist aber auch nicht unwichtig, denn dieses Singen kann auf die Militärkapelle der Deutschmeister hinweisen.789 Man darf auch nicht aus dem Auge verlieren, dass Erwin stark ergriffen wird. Meiner Ansicht nach wird Erwin hier aus

785 Vgl. 3.1.1.4. Der Fremde, S. 62. 786 Vgl. 3.1.1.2. Clemens, S. 51. 787 Andrian: Garten, S. 35. 788 1695 forderte der Kaiser alle deutschen Fürsten auf, ein Fußregiment zum Kampfe gegen die Türken aufzustellen. Der erste Regimentsinhaber nannte sein Regiment “Pfalz-Neuburg-Teutschmeister”. Weil der Name zu lang war, sprach das Volk bald nur noch von den “Teutschmeistern”, “Deutschmeistern” also. Zu Recht ist von “blauen Deutschmeisterkappen” die Rede, denn die Farbe, die allen Deutschmeistern gemeinsam ist, ist hellblau. Vgl. (24 April 2007). / (24 April 2007). / (24 April 2007). Weiteres über die Deutschmeister kann gefunden werden in 300 Jahre Regiment Hoch- und Deutschmeister 1696 – 1996. Hg. v. Deutschmeisterbund. Wien: Selbstverlag 1996. (2. Auflage Wien 1999) / Gegenwart und Geschichte der Deutschmeistervereine. Hg. von Deutschmeisterbund. Wien: Selbstverlag 1996. 789 1741 forderte Kaiserin Maria Theresia, dass jedes Regiment seine eigene Kapelle haben sollte, um die Truppen zur Parade zu führen und im Kampf anzuspornen. Vgl. (24 April 2007). 136 zwei Gründen gerührt. Erstens ergreifen die Burschen ihn wahrscheinlich, weil ihr Gesang ihn an seine Beziehung zu Clemens erinnert, mit dem er Militärkapellen besuchte und von dem er inzwischen verfremdet ist.790 Zweitens rühren die Deutschmeister Erwin, weil sie als Verteidigung und Symbol des geliebten Vaterlands gelten. Darauf, auf Erwins Liebe für das österreichische Reich, soll im Folgenden näher eingegangen werden. Wie schon bemerkt, ist in der Clemensepisode ausdrücklich die Rede von der Liebe zum österreichischen Vaterland.791 Das Nationalgefühl, das nach einigen Kritikern die Erzählung prägt792, kommt besonders an einer Stelle in der Erzählung sehr explizit zum Ausdruck:

Er liebte die großen Barockpaläste in den engen Gassen und die tönenden Inschriften an unseren Monumenten und den spanischen Tritt der Pferde und die Uniformen der Garden und den Burghof an Wintertagen, wenn die laute und prunkende Musik wärmend und lösend durch die Glieder der Menge zieht [...].793 Auffallend ist, dass der Leser hier zum ersten Mal mit “unser” angeredet wird. Auch an dieser Stelle kann das Pronomen sehr deutlich als österreichpatriotisches Element gelesen werden.794 Dass Schönheit und glorreiche Vergangenheit an dieser Stelle evoziert werden, ist auch bemerkenswert. Nicht nur die Monumente, auch die Barockpaläste, die sich von den Gebäuden an der Ringstraße unterscheiden, lassen auf vergangene Glorie schließen. Die Pferde und Uniformen der Garden deuten wieder das Militärische an, das Adjektiv “spanisch” wird einige Zeilen später wieder aufgenommen im Hinweis auf Kaiser Karl VI., einen mächtigen Kaiser des ehemaligen habsburgischen Reiches795:

[...] jenes Frohleichnamsfest, an welchem der gebenedeite Leib unseres Herrn und Heilands Jesus Christus mit nicht minderem Glanz und unter nicht minderem Jubel zu uns kommt, wie einstmals in jenen festlichen Tagen Kaiser Karl der VI., da er bei der Rückkehr aus seinen hispanischen Landen in seine allergetreueste Reichs-Haupt-und Residenzstadt Wien einzog.796

790 Andrian: Garten, S. 24: “Oft gingen sie auch zu den Heurigen vor die Linie und zu den großen Militärkapellen”. (Vgl. 3.1.1.2. Clemens, S. 51.) 791 Vgl. 3.1.1.2. Clemens, S. 52. 792 Vgl. Fischer: Fin de Siècle, S. 155. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 108. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 149-150. 793 Andrian: Garten, S. 21. 794 Vgl. S. 129. 795 Brockhaus: Band 9, S. 332 & Band 11, S. 469. 796 Andrian: Garten, S. 21. 137

In dem Satzteil, der den Kaiser mit Christus vergleicht, wird der Leser aufs Neue mit dem Pronomen “unser” angeredet. An dieser Stelle sollte das Pronomen – mit dem Religiösen verbunden – wieder mit dem österreichischen Nationalgefühl verknüpft werden, da das Habsburgische Haus sehr katholisch war.797 Aber nicht nur hier, auch an einer anderen Stelle wird von einem Kaiser berichtet: “Es rührte den Erwin auch [...] die Litographie des Kaisers im Schulzimmer seines Gymnasiums”.798 Diese Stellen bestätigen nicht nur das Patriotische der Erzählung, sondern auch Erwins und Andrians Sehnsucht nach der vormodernen Ordnung – wie auch Müller und Theodorsen hervorheben.799 Trotz allem fällt aber auf, dass nicht nur von Sachen und Personen berichtet wird, die an die glorreiche Vergangenheit erinnern, sondern auch von moderner Geschäftigkeit: “Dem Erwin gefielen auch die Auslagen der Geschäfte mit dem einfarbigen Drap von Wagendecken oder dem dunkeln Battist der Taschentücher zwischen lichten blühenden Seiden”.800 Diese Stelle kann die Behauptung, in dieser Erzählung werde der Wunsch nach der vormodernen Ordnung laut, nur leicht ins Schwanken bringen. Außerdem kann ein anderer Satz als Kritik an der liberalen Regierung Österreichs gelesen werden, die eine solche moderne Geschäftigkeit stimulierte: “dennoch war er grundlos und maßlos gerührt, als ihm am ersten Morgen in einer häßlichen Straße der Siebzigerjahre eine Schar von Gymnasiasten begegnete”.801 Meiner Ansicht nach wirkt die Straße für Erwin häßlich, weil sie in den siebziger Jahren, also in den liberalen Jahren, gebaut ist. Eine andere Auffälligkeit ist, dass in der auf Seite 135 oben zitierten Textstelle nur ordnungsvolle Sachen dargestellt sind. Das Ordnungsvolle, das von den Habsburgern immer bevorzugt wurde802, wird aber untergraben durch den Hinweis auf die Musik, die durch “die Glieder der Menge” zieht. Das kann gelesen werden als Vorausdeutung auf die sinnliche Vorstadtszene. Im Rahmen dieser Besprechung des Patriotismus in der Erzählung sollte auch bemerkt werden, dass Andrians Abstammung (aus einem altösterreichischen Adelsgeschlecht), auf die er sehr stolz war, eine der Grundlagen seines späteren Patriotismus bildet.803

797 Vgl. S. 130 (Fußnote 759). 798 Andrian: Garten, S. 25. Dieser Kaiser ist wohl Kaiser Franz Joseph I, der von 1848 bis 1916 Kaiser des habsburgischen Reiches war. Vgl. Brockhaus: Band 7, S. 540. 799 Müller: Das Dekadenzproblem, S. 96. / Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 150. 800 Andrian: Garten, S. 21. Auch Renner hat das bemerkt. Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 107. 801 Andrian: Garten, S. 35. 802 Janik/Toulmin: Wittgenstein’s Vienna, S. 37. 803 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 12. 138

Renners Behandlung des Patriotischen bezieht auch die politische Realität ein: sie betont, dass Andrian darüber sicherlich Bescheid wusste und schließt, dass die Apotheose auf Wien also eine Selbsttäuschung ist.804 Diese Apotheose kann aber, wie schon bemerkt, auch als Sehnsucht nach der Vormoderne und vielleicht sogar als Kritik an der eigenen Zeit gelesen werden. Auf jeden Fall ist das Wienertum sehr wichtig in der Erzählung, wie schon Stefan George eingesehen hatte: “kaum je [sei] die Luft einer Stadt so in einem Buch enthalten wie die Wiens im Garten der Erkenntnis”.805 Und Andrian schrieb, dass das Wientum “das erste und das letzte und auch bis zu einem gewissen Grad das zweite im G.d.E. [Garten der Erkenntnis]” ist.806 Wie man beim Lesen des autobiographischen Garten der Erkenntnis vermuten könnte, spielt das Wienertum nicht nur in der Erzählung, sondern auch in Andrians Leben eine hervorragende Rolle. Andrian hat zum Beispiel immer behauptet, dass er in Wien geboren sei, obwohl er in Wirklichkeit in Berlin geboren war.807 Obwohl Erwin sich in der Erzählung sehr häufig in Wien aufhält, ist es nicht unwichtig, dass er, nach seiner enttäuschenden Begegnung mit der Mutter, Venedig aufsucht. Venedig als Todessymbol bildet nur die eine Erklärungsmöglickeit.808 Wichtig ist aber auch, dass Lombardo-Venedig – 1815 Österreich angegliedert – nach dem Krieg von 1866 Venedig an Italien abtrat (nachdem das kleine Reich schon die Lombardei verloren hat nach der Niederlage von 1859 gegen Sardinien-Piemont und Frankreich).809 Auch hier kann die Raumbezeichnung also, wie am Anfang des Textes, mit einer österreichischen Niederlage verknüpft werden. Dass der Fremde am Ende der Erzählung siegt, ist nicht überraschend, wenn man ihn als Verkörperung der Übernationalität sieht. Erwin, der trotz seines Interesses

804 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 109. 805 Zitiert nach Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S.149 (Fußnote 336). Nach Theodorsen habe Stefan George das gesagt. Übernommen hat sie dieses Zitat von Leopold Andrian: Der Garten der Erkenntnis. Mit Dokumenten und zeitgenössischen Stimmen. Hg. von Walter H. Perl. Hamburg: S. Fischer Verlag 1960, S.75. Es gibt aber auch eine andere Version dieses Zitats bei Klieneberger: “Kaum je sei die Luft einer Stadt so in einem Bild enthalten wie die Wiens im Garten der Erkenntnis.” (Vgl. Klieneberger: “Hofmannsthal and Leopold Andrian”, S. 623.) Er hat diese Version übernommen von Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, S.51. (Vgl. 1., Fußnote 7.) Weil Theodorsen Andrians Erzählung aber gründlicher besprochen hat, und das Zitat – im Gegensatz zu Klieneberger – mit Vorsicht behandelt, habe ich mich dafür entschieden ihre Version zu übernehmen. 806 Leopold von Andrian. Aus “Leopold Andrian über Hugo von Hofmannsthal. Auszüge aus seinen Tagebüchern. Mitgeteilt und kommentiert von Ursula Renner.” In: Hofmannsthal Blätter 35/36 (1987), S. 35. Zitiert nach Theodorsen: “Leopold Andrians Garten der Erkenntnis (1895)”, S. 149. 807 Vgl. Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 12 / Stix: “Der Sonderfall”, S. 480. 808 Vgl. 4.1.2. Das Krankhafte: “Sie lieben alles was seltsam und krank ist”, S. 115. 809 Brockhaus: Band 13, S. 508. 139 für unhabsburgische, triebhafte Gefühle am konservativen, habsburgischen Österreich festhält, wird, gerade wie Österreich, überfremdet, was zur Krankheit und sogar zum Tod führt. Erwin sehnt sich also deutlich nach dem alten Österreich, wird aber von dem Fremden, der die Übernationalität und das Triebhafte verkörpert, daran gehindert, in die Vergangenheit zurückzukehren. Obwohl Renner in ihrem Werk deutlich darstellt, wie Der Garten der Erkenntnis zeitgeschichtlich bestimmt ist, folge ich ihr nicht in ihrer Behauptung, dass die gesellschaftliche Realität nicht oder nur in geringem Maß ausgemacht werden könne810, denn dafür gibt es zuviel gesellschaftliche Anspielungen. Auch wenn die Kunst der Jung Wiener keine engagierte Kunst war, und auch wenn Erwin gesellschaftlich zurückgezogen lebt, in Gärten und Festen, gibt es in der Erzählung verschiedene explizite und weniger explizite gesellschaftliche Anspielungen. Dass das Werk “ästhetizistisch” sei, soll aufgrund der vielen gesellschaftlichen Anspielungen also relativiert werden. Trotzdem sollte die Bedeutung der gesellschaftlichen Anspielungen auch nicht verabsolutiert werden, weil Andrians Aufzeichnungen auf totales Desinteresse an tagespolitischen Themen hinweisen: “Frei von allem Niedrigen waren unsere Gespräche, aber auch von allen Realitäten [...]”.811 Erst 1895, nachdem Der Garten der Erkenntnis schon geschrieben war, schrieb er: “Mich interessirt jetzt alles; besonders was Geschichte und Geographie betrifft; zum erstenmal lese ich wirklich die Zeitungen”.812

810 Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 221. 811 Leopold Andrian: “Erinnerungen an meinen Freund”. In: Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde. Hg. von Helmut A. Fiechtner. Wien: Humboldt Verlag 1949, S.57. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 245. 812Leopold von Andrian, Tagebucheintrag vom Oktober/ November 1895. Zitiert nach Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 245. (Vgl. 2.1.1., Fußnote 49.) 140

5. Schluss Nach der ausführlichen Auseinandersetzung mit Fin de Siècle-Themen im ersten und zweiten Teil der Arbeit, und mit explizit dekadenten Merkmalen im dritten Teil, ist der Moment gekommen, die Frage zu beantworten, ob Der Garten der Erkenntnis als ästhetizistisches und/oder dekadentes Werk eingestuft werden kann. Aus der Besprechung von Textphänomenen, die mit dem Schönen zusammenhängen, stellt sich deutlich heraus, dass die Erzählung als ästhetizistisch betrachtet werden kann. Schönheit gilt nämlich sowohl formal als inhaltlich als zentrales Thema des Werkes. Auch Erwins passives, lebensfernes Verhalten ist als typisch ästhetizistisch zu verstehen. Dass dem ästhetizistischen Charakter entgegengewirkt wird von der relativ hohen Zahl an gesellschaftlichen Anspielungen, ist bisher in der Sekundärliteratur nicht hervorgehoben worden, sollte meiner Ansicht nach aber berücksichtigt werden, weil es eine auffallende Tendenz in der Erzählung darstellt. Dennoch haben diese Anspielungen, wie bemerkt, keine so verabsolutierende Bedeutung wie das Ästhetische, dem im Werk deutlich allgemeine Gültigkeit beigemessen wird. Aus dem Grund kann Der Garten der Erkenntnis als ästhetizistisch betrachtet werden. Auch die Auseinandersetzung mit dem Thema “Narzissmus”, das um die Jahrhundertwende als Ausdruck eines übersteigerten Ästhetentum verstanden wurde, hat gezeigt, dass der ästhetizistische Grundimpuls dominiert. Der Text kann aber auch als dekadent eingestuft werden, weil festgestellt worden ist, dass die Erzählung nicht nur vom Schönheitskult, sondern auch vom Unnatürlichen und Krankhaften charakterisiert ist – den drei Phänomenen, die am häufigsten mit Dekadenz verbunden werden. Für mich war nicht nur auffallend, dass das Unnatürliche und das Krankhafte in der Erzählung verschiedene Figuren kennzeichnen, sondern auch, dass diese Themen sowohl auf Wortebene als auf thematischer Ebene ausgetragen worden sind. Wenn sich aus dem zweiten Teil dieser Arbeit herausstellt, dass Themen wie “das Schauspielmotiv”, “Inzest” und “Homosexualität” im Garten der Erkenntnis deutlich vorgeführt werden, so ist das denn auch nicht unwichtig im Kontext der Untersuchung nach dem dekadenten Gehalt von Andrians Erzählung. Denn während die Themen “Inzest” und “Homosexualität” zugleich mit dem Unnatürlichen und dem Krankhaften verbunden sind, steht das Schauspielmotiv insofern mit Dekadenz in Verbindung, als es als Lebenssurrogat dargestellt wird und mit Unnatürlichkeit 141 zusammenhängt. Bei der Besprechung des Unnatürlichen hat sich überdies gezeigt, dass in Andrians Werk auch andere dekadente Phänomene thematisiert werden: das Mystische, der Verlust der Einheit, die Frühreife der Jugend. Anhaltspunkte für die Dekadenz sind eigentlich schon im ersten Teil dieser Arbeit (“Das sozial-politische Leben”) gefunden. So kann der Befund, dass in der Erzählung Werte verschwunden sind, und statt dessen Unsicherheit und Suche dargestellt werden, auf die Dekadenz zurückgeführt werden. Überdies fallen nicht nur bei der Besprechung des Unnatürlichen und Krankhaften, sondern auch bei der Erörterung des Schlusses der Erzählung, der Darstellung der Frauen und der gesellschaftlichen Anspielungen Hinweise auf Destruktivität, Ende, Tod und Niedergang auf. Trotzdem sollte auch berücksichtigt werden, dass im Kontext der Bilder, die auf den ersten Blick mit Niedergang verknüpft sind, manchmal eine hoffnungsvollere Interpretation möglich war. Diese Interpretationen machen das Werk aber nicht weniger dekadent, weil sie im Kontext der Dekadenz als Übergangszeit verstanden werden können. Auch die explizite Anspielung auf Bourget und die impliziten Anspielungen auf Nietzsche, Befürworter der Dekadenz, und die Duse, für die das Schauspiel das Leben war, sollten im Kontext der Dekadenz gelesen worden. Nicht nur aus dem dritten Teil dieser Arbeit, auch aus den anderen zwei Teilen kann also geschlossen werden, dass die Erzählung ästhetizistischen und dekadenten Charakter hat, wie auch – der Tendenz nach – die Forschungsliteratur bestätigt.813 Mit früheren Forschungsergebnissen konform, geht auch die Erkenntnis, dass Erwin vorgeführt wird als Narzisst und Dilettant, der in die Vergangenheit zurückkehren will und homosexuelle und inzestuöse Wünsche hat. Oder dass der Fremde als Projektion von Erwins triebhafter Seite und als Vaterfigur dargestellt wird. Oder dass die Erzählung eine auffällige Intertextualität auszeichnet. Trotzdem konnte im Hinblick auf diese schon früher formulierten Erkenntnisse auch einiges hinzugefügt worden. So fand ich es wichtig, in Bezug auf das Thema “Narzissmus” anzudeuten, dass die Homoerotik nicht nur in Verbindung mit Narzissmus zu lesen sei, oder dass die Entgrenzungs- und Begrenzungsproblematik im Garten der Erkenntnis im Vergleich zu den anderen Forschern viel ausführlicher besprochen wurden. Was die Auseinandersetzung mit dem Thema “Homosexualität” betrifft, sind mir mehrere implizite Anspielungen auf

813 Vgl. 4. Leben und Kunst, S. 98. 142

Homosexualität aufgefallen. Ich bin denn auch davon überzeugt, dass viele Forscher – auch diejenigen die Der Garten der Erkenntnis nur im Hinblick auf das Thema “Homosexualität” besprechen wollten – unterschätzt haben, wie häufig auf die homosexuelle Problematik Bezug genommen wurde. Auch das Thema “Inzest” präsentiert sich anspielungsreicher als bis jetzt gesehen. So gibt es unter anderem verhüllte Hinweise auf die Mutter, die viele Interpreten nicht bemerkt haben: verschiedene Bilder spiegeln Erwins Vereinigungswunsch mit der Mutter. Erkenntnisgewinn ist auch zu erhoffen von meiner Nuancierung, dass Erwin eher als passiver Dilettant zu betrachten wäre, wie auch vom Hinweis darauf (in Bezug auf seinen Wunsch, in die Vergangenheit zurückzukehren), dass der Fremde nicht nur als Projektion des Triebhaften, sondern auch als Verkörperung der Übernationalität funktioniert, der verhindert, in die Vergangenheit zurückzukehren. Was die intertextuelle Ebene der Erzählung betrifft, habe ich vor allem versucht, die Intertextualität mit Platos Gedankengut – auf das schon einige Forschern eingegangen waren – weiter auszuarbeiten. Schließlich gilt für die ganze Arbeit, dass es manchmal notwendig war, auf hartnäckige, absolut-eindeutige Ansichten in der Sekundärliteratur aufmerksam zu machen und sie kritisch zu hinterfragen. So ist es nicht nur auffallend – meiner Ansicht nach sogar naiv –, dass viele Forscher das Ende der Erzählung als Rückfall, als zuverlässiges Ende gelesen haben, sondern auch, dass verschiedene Textstellen und Figuren allzu eindeutig interpetiert wurden.814 Außerdem ist bemerkenswert, dass in der Sekundärliteratur oft eine Textstelle, ein Bild und einige ins Auge springende Wörter sogar unbesprochen geblieben sind,815 oder auffallenden Verbindungen im Text nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde.816 Solche Lücken hat diese Arbeit zu schließen sich bemüht.

814 Textstellen, die allzu eindeutig interpretiert wurden, waren unter anderem die folgenden: Das Bild der Schatzhöhle, die Szene im Konvikt, die Szene im Museum, die Szene auf der Alm (Vgl. 3.1. Tabuisierung, S. 55, 56, 60, 72). / Figuren, die eindeutig verstanden wurden, waren die Fiaker und “die Geliebte” (Vgl. 3.1.1.1. Das Andere, S. 41-44, 3.1.2. Die inzestuöse Neigung zur Mutter, S. 78-79). 815 Die Textstelle, die unbesprochen blieb, wurde in dieser Arbeit erörtert in 2.2.3. Begrenzung versus Entgrenzung, S. 36-37. / Das Bild der Luft wurde nicht berücksichtigt, und ist in dieser Arbeit diskutiert in 3.1.1.4. Der Fremde, S. 61-62. / Wörter, auf die nicht eingegangen wurde, waren “die Opernbälle, die Sofiensäle, der Ronacher, das Orpheum, der Zirkus” (Vgl. 3.1.1.1. Das Andere, S. 47-48) und “Deutschmeisterkappen” (Vgl. 4.2.2. Gesellschaftliche Anspielungen, S. 134-135). 816 Auch wenn Renner ab und zu hingewiesen hat auf eine vorausdeutende Szene, hat sie oft den Zusammenhang zwischen einzelnen Szenen nicht bemerkt. So wurde u.a. die Verbindung zwischen der Sängerinszene und der Vorstadtszene, zwischen dem Bild des Zweikampfes und dem Abschied zwischen 143

Nicht nur weil Andrian mit Der Garten der Erkenntnis eine schöne, prägnante Prosadichtung kreiert hat, sondern auch weil er Themen behandelt hat, die einen Einblick in die zeitgenössische Geselschaft gewähren, und zugleich auch jetzt noch als modern betrachtet werden können, hoffe ich, dass dieser Dichter nicht aufs Neue in Vergessenheit geraten wird. Seine Erzählung enthält sicherlich noch Themen, die es verdienen, weiter ausgearbeitet zu werden, auch wenn sie für meine Arbeit nicht relevant waren. Mich hat zum Beispiel integriert, dass Der Garten der Erkenntnis in der Sekundärliteratur oft mit dem Symbolismus in Beziehung gesetzt wird, ohne dass aber systematisch und ausführlich die Erzählung im Hinblick auf diese Strömung analysiert wurde.817 Auch ein eingehender Vergleich mit Werken, die von der Erzählung beeinflusst worden sind – wie Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht, Beer-Hofmanns Tod Georgs oder Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß – wäre interessant, aber steht noch aus.

Clemens und Erwin, und die Verbindung zwischen der Sängerinszene, der Kurtisaneszene und der späteren Kunstszene nicht aufgemerkt. (Vgl. 3.2. Das Schauspielmotiv, S. 86, 94-96). 817 Vgl. u.a. Perl: “ein vergessener Dichter”, S. 306. / Renner: “Garten der Erkenntnis”, S. 76. / Theobald: “Leopold Andrian. Der Garten der Erkenntnis”, S. 244.

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6. Bibliographie

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