Das Leipziger 02 2015 Universitätsmagazin

Digitales, Globales, Riskantes Einblicke in die neuen Forschungsprofilbereiche der Universität – Teil 2 Wir sind dabei

Heute das Morgen gewinnen Deutschlandstipendien fördern

Weitere Informationen: [email protected] Telefon: 0341 9735006 www.uni-leipzig.de/deutschlandstipendium

Wir danken unseren Förderern:

AOK Plus – Die Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen | apoBank-Stiftung | APOGEPHA Arzneimittel GmbH |ARKANA Apotheke OHG | arvato Systems perdata GmbH | Bayer Science & Education Foundation | Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG | buw operations Leipzig GmbH | Concordia-Apotheke | creoven.de | DIAKOMED Diakoniekrankenhaus Chemnitzer Land gGmbH | Deutsche Kreditbank AG | Elbtal-Apotheke | Ev. Diakonissenkrankenhaus Leipzig gGmbH | Evangelischer Medienverband in Sachsen e.V. | Freundeskreis Tiermedizin der Veterinärmedizinischen Fakultät Leipzig e.V. | FSA e.V. | GISA GmbH | Herzzentrum Leipzig GmbH | Hildebrand & Jürgens GmbH | Informatik DV GmbH | InterCard GmbH | KIROW ARDELT GmbH | Kliniken Erlabrunn gGmbH | Klinikum gGmbH | Leipziger Messe GmbH | Luther-Apotheke | Leipziger Verkehrs- betriebe (LVB) GmbH | Markt-Apotheke Oelsnitz | MFPA Leipzig GmbH | MKM Mittelstands-Kapital-Management GmbH | MLP Finanzdienstleistun- gen AG | Obermeyer Project Management GmbH | Sächsischer Apothekerverband e.V. | RST Steuerberatungsgesellschaft mbH | Sanacorp eG | Stadt- und Kreissparkasse Leipzig | St. Elisabeth-Krankenhaus Leipzig | Universitätsklinikum Leipzig | Verein zur Förderung der Sportwissenschaft an der Universität Leipzig e.V. | Vereinigung von Förderern und Freunden der Universität Leipzig e.V. | Zeisigwaldkliniken Bethanien Chemnitz | Prof. Dr. Tim Drygala | Dr. Thomas Feist | Prof. Dr. Wolfgang E. Fleig | Prof. Dr. Herbert Fuhrmann | Prof. Dr. Christoph Josten | Prof. Dr. Frank M. Lütze | Prof. Dr. Christian Wittekind | Dr. Reingard Wittekind | Prof. Dr. Gerhardt Wolff EDITORIAL LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

Wir sind dabei Liebe Leserinnen und Leser, Heute das

Morgen der Blick in die Nachrichten und die sozialen um das Forschungsfeld „Intelligente Metho- Medien zeigt es jeden Tag aufs Neue: Die The- den und Materialien“, auf dem die Universi- men sind vielschichtig, die Erklärungsansätze tät Leipzig sich seit vielen Jahren großes Re- vielfältig – und die Geisteswissenschaften nommee erarbeitet hat. Hier sind bedeutende omnipräsent und hochrelevant. Ob Migration Themen wie Biosensoren und Big Data zu oder Religion, Europa oder Naher Osten: Die nennen, an denen Wissenschaftler von Welt- gewinnen wissenschaftliche Expertise liefern Politolo- rang in Leipzig arbeiten. Sie bauen mit Mo- gen und Historiker, Ethnologen und Islam- lekülen, sie erschließen digitale Textwelten, forscher, Afrikanisten und Sinologen – unter sie verarbeiten Datenmengen unvorstellbaren Deutschlandstipendien fördern anderem von der Universität Leipzig. Unsere Ausmaßes, und dies mit immer raffinierteren Universität kann in dieser Hinsicht auf eine Methoden und vor allem einem tiefgehenden immense Fächervielfalt ebenso bauen wie auf Verständnis für komplexe Strukturen. eine hoch anerkannte Forschungsqualität zu Die dritte Profil-Säule, „Nachhaltige den brennenden Fragen unserer Zeit. Grundlagen für Leben und Gesundheit“, stand im Fokus der Erstausgabe unseres Forschungs- magazins. Beiträge wie „Physik der Krebszel- len“ in diesem Heft zeigen, dass die Grenzen Globale Verflechtungen, zwischen den Profilbereichen fließend sind. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Natürlich empfehle ich ohnehin, beide Ausga- eine anregende Lektüre! brüchige Ordnungen, ben von LUMAG Forschung zu lesen, gerne auch online als E-Paper. In welcher Form Sie in Ihr Matthias Schwarz, digitale und medizinische Zukunft über unsere spannenden Forschungs- Prorektor für Forschung und themen informiert werden möchten, können Nachwuchsförderung Weitere Informationen: Revolutionen, das Sie uns mitteilen, indem Sie sich an unserer [email protected] kleinen Leserumfrage beteiligen. Telefon: 0341 9735006 werden auch in Zukunft Globale Verflechtungen, brüchige Ord- nungen, digitale und medizinische Revolu- www.uni-leipzig.de/deutschlandstipendium unsere Themen sein. tionen, das werden auch in Zukunft unsere Themen sein. Neue Sonderforschungsberei- che wollen wir etablieren, in der Exzellen- Beste Beispiele dafür liefern die Leip- zinitiative erfolgreich abschneiden und vor ziger Regionen- und Religionen-Forscher, allem die positive Tendenz der letzten Jahre Wir danken unseren Förderern: nachzulesen in dieser Ausgabe von LUMAG weiter unterfüttern. Der DFG-Förderatlas Forschung. „Veränderte Ordnungen in einer 2015 gibt weiteren Motivationsschub, hat sich globalisierten Welt“ ist jenes Forschungsfeld die Universität Leipzig doch im bundesweiten AOK Plus – Die Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen | apoBank-Stiftung | APOGEPHA Arzneimittel GmbH |ARKANA Apotheke OHG | arvato überschrieben, das wir Ihnen im ersten Teil Ranking erneut verbessert, diesmal um sie- Systems perdata GmbH | Bayer Science & Education Foundation | Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG | buw operations Leipzig GmbH | des Heftes vorstellen. Es spielt eine gewichtige ben Plätze auf Rang 31. Bei den Geistes- und Concordia-Apotheke Plauen | creoven.de | DIAKOMED Diakoniekrankenhaus Chemnitzer Land gGmbH | Deutsche Kreditbank AG | Elbtal-Apotheke Rolle in unserem Forschungsprofil, das wir in Sozialwissenschaften belegen wir Platz 17. | Ev. Diakonissenkrankenhaus Leipzig gGmbH | Evangelischer Medienverband in Sachsen e.V. | Freundeskreis Tiermedizin der Veterinärmedizinischen den vergangenen Jahren in einem intensiven Wir sind also auf einem guten Weg, und wir Fakultät Leipzig e.V. | FSA e.V. | GISA GmbH | Herzzentrum Leipzig GmbH | Hildebrand & Jürgens GmbH | Informatik DV GmbH | InterCard GmbH Prozess mit Blick auf die neue Exzellenziniti- laden Sie herzlich ein, uns zu begleiten und zu | KIROW ARDELT GmbH | Kliniken Erlabrunn gGmbH | Klinikum Chemnitz gGmbH | Leipziger Messe GmbH | Luther-Apotheke | Leipziger Verkehrs- ative geschärft haben. Darüber hinaus geht es unterstützen! betriebe (LVB) GmbH | Markt-Apotheke Oelsnitz | MFPA Leipzig GmbH | MKM Mittelstands-Kapital-Management GmbH | MLP Finanzdienstleistun- gen AG | Obermeyer Project Management GmbH | Sächsischer Apothekerverband e.V. | RST Steuerberatungsgesellschaft mbH | Sanacorp eG | Stadt- und Kreissparkasse Leipzig | St. Elisabeth-Krankenhaus Leipzig | Universitätsklinikum Leipzig | Verein zur Förderung der Sportwissenschaft an der Universität Leipzig e.V. | Vereinigung von Förderern und Freunden der Universität Leipzig e.V. | Zeisigwaldkliniken Bethanien Chemnitz | Prof. Dr. Tim Drygala | Dr. Thomas Feist | Prof. Dr. Wolfgang E. Fleig | Prof. Dr. Herbert Fuhrmann | Prof. Dr. Christoph Josten | Prof. Dr. Frank M. Lütze | Prof. Dr. 3 Christian Wittekind | Dr. Reingard Wittekind | Prof. Dr. Gerhardt Wolff INHALT LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

Die Forschungsprofilbereiche der Universität Leipzig Teil 2 GLOBALE 6 VERFLECHT- Nachhaltige UNGEN UND Grundlagen VERGLEICHE für Leben und Gesundheit Sprache und Kultur Intelligente im digitalen Zeitalter Methoden und Materialien Komplexe Materie

Mathematische und computer­gestützte Wissenschaften

Veränderte Globale Verflechtungen Ordnungen in einer und Vergleiche globalisierten Welt

Riskante Ordnungen Die Verflechtungen zwischen Weltregionen durch Migration, Warenaustausch, Kapitalflüsse Hinter den im vergangenen Jahr beschlossenen neun Forschungs­ und Ideen- und Kulturtransfer profilbereichen der Universität Leipzig stehen erfolgreiche und in- erforscht dieser Profilbereich. novative Forscherteams aus den Natur-, Lebens- sowie Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Mit ihnen wurden vielver­sprechende transdisziplinäre Wachstumskerne identifiziert, um die sich wissen­ schaftliche Exzellenz der Universität und außeruniversitärer 7 „Themen wie Globalisie- Forschungspartner versammelt. rung sind keine Hoheits- gebiete“ – eine Diskussion Das Wissenschaftsmagazin LUMAG Forschung ist eine über die Verbindung von Sonderpublikation des Leipziger Universitätsmagazins LUMAG. Weltregionen In dieser Ausgabe gewährt es vielfältige Einblicke in insgesamt 11 Leipziger Religionswissen­ fünf Forschungsprofilbereiche, die unter den Überschriften schaftler erforschen die „Veränderte Ordnungen in einer globalisierten Welt“ und „In- Grenzen der Religion telligente Methoden und Materialien“ stehen. Das Forschungs- 12 Blick Richtung Osten: feld Nachhaltige Grundlagen für Leben und Gesundheit wurde Die Universität und in der ersten Ausgabe von LUMAG Forschung vorgestellt. das Leibniz-Institut für Länderkunde kooperieren erfolgreich Beide Ausgaben des Magazins LUMAG Forschung können Sie als E-Paper online lesen. Sie finden sie auf den Internetseiten zu den Forschungsprofilbereichen.

www.zv.uni-leipzig.de/forschung/ forschungsprofilbereiche.html ↗

Titelbild: Eine Grafik aus der Abteilung für Bild- und Signal­verarbeitung am Institut für Informatik der Universität Leipzig. In der Hirnforschung dienen solche Modelle unter anderem dazu, den Verlauf von Nervenverbindungen im Gehirn zu rekonstruieren (s.a. Beitrag auf S. 31).

4 INHALT LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

RISKANTE SPRACHE UND MATHE- KOMPLEXE 14 ORDNUNGEN 20 KULTUR IM 30 MATISCHE 36 MATERIE DIGITALEN WISSEN- ZEITALTER SCHAFTEN

Wie werden menschliche Geisteswissenschaften und Der Profilbereich vereint die mathe- Werden einzelne Bausteine Ordnungen gedacht und gedeutet? die Informatik sollen noch enger matischen und computergestützten zusammengesetzt, können sie Wie entstehen und zerfallen sie? kooperieren. Das ist das zentrale Wissenschaften und verzahnt völlig neue Eigenschaften Wie verändern sie sich? Ziel dieses Profilbereichs. Mathematik, Theoretische Physik entwickeln. Dies wollen Darauf wollen Wissenschaftler und die Informatik mit den Natur- Forscher in diesen Profilbereich Antworten finden. wissenschaften und der Medizin. erkunden und nutzen.

15 Miriam Hartlapp und 21 Die Uni-Bibliothek 31 Informatiker helfen der 37 Physiker gehen neue Wege Martin Saar über geht voran bei der Wissenschaft, indem sie im Nano-Labor und wollen den Begriff Ordnung Digitalisierung alter Daten über 3D-Grafiken einzelne Atome zählen in der Demokratie Handschriften sichtbar machen 39 „Interdisziplinär und 17 Rebecca Pates erklärt 25 Im Porträt: Matías Gúzman 34 In Exzellenz vereint anspruchsvoll“ – über Akten die Ordnung Naranjo verbindet sind Mathematiker der Evamarie Hay-Hawkings eines Staates linguistische Theorien Universität und des im Interview 18 Eine deutsch-israelische 26 Wie Leipziger Philologen Max-Planck-Instituts 40 Experimentalphysiker Kooperation will in den Digital Humanities 35 Leipziger Forscher bringen erproben, wie sich die Geschichte der Wissen demokratisieren mehr Praxis in die Lehr- aggressive Krebstumore Aramäer erforschen 28 Unscheinbare Zeugnisse – amtsausbildung entlarven lassen was Sekundäreinträge in historischen Büchern verraten 29 Impressum

DAS LETZTE WORT Wie finden Sie LUMAG Forschung? Mit Hilfe Ihrer Rückmeldung möchten wir unser Informations­ angebot über die Forschungsaktivitäten der Universität 42 Elmar Schenkel: Liebe Leserinnen und Leser, Ihre Meinung Leipzig weiter verbessern – und entscheiden, ob/in welcher Gernegroß ist uns wichtig! Wie informativ und Form LUMAG Forschung auch künftig erscheint. Bitte nehmen interessant ist LUMAG Forschung für Sie? Sie sich kurz Zeit für ein Feedback. Sie können dazu das Was gefällt Ihnen, was vermissen Sie? beiliegende Umfrage-Formular nutzen oder uns Ihre Meinung Wie möchten Sie künftig informiert werden? online mitteilen. Unter allen Teilnehmern verlosen wir unter anderem ein Namengutachten der Namenberatungsstelle http://umfrage.uni-leipzig.de/ der Universität Leipzig und eine exklusive Führung zu Epita­ index.php/219632 ↗ phien und Altar im Paulinum (Aula/Universitätskirche St. Pauli). Vielen Dank im Voraus!

5 GLOBALE VERFLECHTUNGEN UND VERGLEICHE

Globale Verfl echtungen und Vergleiche GLOBALE VERFLECHTUNGEN UND VERGLEICHE LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

„Themen wie Globalisierung sind keine Hoheitsgebiete“

Im Profilbereich „Globale Verflechtungen und Vergleiche“ erforschen rund 150 interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler die Verbindungen zwischen verschiedenen Weltregionen durch Migration, Warenaustausch, Kapitalflüsse oder Ideen- und Kulturtransfer. Welche Prozesse dabei unter besonderer Beobachtung stehen und warum, darüber hat LUMAG mit den Professoren Ursula Rao, Matthias Middell und Philip Clart gesprochen. Sie blicken aus unterschiedlicher Fächerperspektive auf die gemeinsamen Themen und sind sich dabei einig: „Leipzig hat den großen Vorteil, dass es sich auch zu kleinen Fächern bekennt.“ So bilden die kooperierenden Fächer von Afrikanistik über Ethnologie, Geschichte und Ostasienwissenschaften bis hin zu Religionswissenschaften aus vielen Puzzlesteinen ein Gesamtbild, das eine neue Qualität der Forschung mit sich bringt.

Die Beziehungen des globalen Südens wie etwa die Investitionen Chinas in Afrika gelten als spannendes und neues Forschungsthema. (Foto: Simon Maina/ Getty Images)

Was ist für Sie momentan die ber, sondern auch Wirtschaftsunternehmen oder Migran- spannendste Region der Welt? ten, Arme, Reiche … „Wir haben ja die Idee, Prof. Dr. Ursula Rao: Wir Prof. Dr. Philip Clart: Im Profilbereich geht es ja haben ja die Idee, dass Regionen nicht um eine bestimmte Region im Sinne der traditionel- dass Regionen und und Kontinente klar abgrenzbar len Regionalwissenschaften, sondern um Verbindungen, wären, gründlich dekonstruiert. Neuordnungen und Verräumlichung. Gleichzeitig gibt Kontinente klar Spannend und relativ neu in der es immer noch Staaten, die in diesen Prozessen agieren Forschung in den letzten zehn und einflussreiche Akteure sind. Unsere Herausforderung abgrenzbar wären, Jahren sind entstandene Bezie- wird es sein, nicht nur auf freischwebende internationale hungen zwischen Regionen und Verflechtungen zu schauen, sondern gleichzeitig die Frage gründlich dekonstruiert.“ Ländern des globalen Südens, zu berücksichtigen: Aus welchen territorialen Strukturen etwa Investitionen Chinas oder heraus agieren die Akteure? Indiens in Afrika. Prof. Dr. Matthias Middell: Besonders wichtig ist, Herr Clart, Sie beschäftigen sich intensiv dass die Verhältnisse zwischen Regionen und Ländern mit Taiwan. Können Sie das eben Gesagte oder transnationalen Gruppierungen und Unternehmen hieran noch einmal festmachen? derzeit neu geordnet werden. Die Facetten reichen von der Clart: Das ist in schönes und ungewöhnliches Bei- Steuerung von Migration über den Versuch, so etwas wie spiel. Taiwan wird als politische Einheit von nur 22 Staaten wirtschaftliche Balancen herzustellen, bis hin zu politi- in der Welt anerkannt und ansonsten als abtrünnige Pro- schen Ordnungen, die in Bewegung geraten sind. vinz Chinas angesehen. Geopolitisch schwach aufgestellt, Rao: Beteiligt daran sind unterschiedliche Gruppen stellt es deshalb ein besonderes Problem dar, internatio- und Akteure, keinesfalls nur Regierungen oder Machtha- nal präsent zu sein. Die meisten UNO-Organisationen

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sind Taiwan versperrt, weil China dagegen votiert. Die ständlich zu machen. Themen wie Globalisierung oder Taiwaner müssen also andere Möglichkeiten finden, sich Klimaveränderung sind keine Hoheitsgebiete. Wenn man aufzustellen. Ein typischer Ansatz sind Netzwerke, vor al- nicht zusammenarbeitet, bekommt man das Phänomen lem auch im Bereich der wissenschaftlichen Zusammen- nicht in den Blick, sondern nur punktuelles Wissen. Es arbeit. gibt Wissenschaftler, die die Sprache gut beherrschen und Diskurse analysieren können. Andere können mit histo- Sie drei haben unterschiedliche Forschungsperspektiven rischen Dokumenten umgehen und wissen, wo sie welche in verschiedenen Ländern. Gleichzeitig sind Sie alle relevanten Informationen finden. Wieder andere können deutsche Wissenschaftler. Gibt es mancherorts den soziale Dynamiken gut beobachten. Und wieder andere Vorwurf der „wissenschaftlichen beherrschen statistische Instrumente gut oder können na- Kolonialisierung“? turwissenschaftliche Daten erheben. Die Anwendung je- Clart: Persönlich ist mir der dieser Methoden führt zu anderen Erkenntnissen, die „Das Schaffen von das noch nicht untergekommen, zusammengenommen ein größeres Bild ergeben. aber das gibt es durchaus. Ich Vorratswissen spielt rede mal für die Sinologen. Wir Welche Rolle spielt dabei die klassische Feldforschung? befinden uns häufig in der un- Middell: Sie ist ganz unverzichtbar. Wenn man nicht klugerweise auch für angenehmen Situation, dass wir hinfährt, kann man über Regionen und ferne Weltgegen- von chinesischer Seite kritisiert den wahrscheinlich schwer etwas Vernünftiges sagen. Sie das Bundesministerium werden, dass wir über China re- ist gewissermaßen ein Baustein für das Gesamtziel, aber den und dem Land Deutungs- noch nicht die Lösung. für Bildung und muster aufdrücken oder anwen- den, in denen sich die Chinesen In einigen Regionen dürfte Feldforschung Forschung eine nicht wiederfinden. Es geht also gar nicht so einfach sein … um die Beanspruchung von Deu- Rao: Sicher gibt es Regionen, die schwer zugänglich maßgebliche Rolle.“ tungshoheit. Wer hat das Recht, sind, in die man aus politischen Gründen nicht reisen darf eine Aussage zu machen? oder in denen man Sicherheitsleute bezahlen müsste, die Rao: Wissenschaft ist keine man sich nicht leisten kann. Es kann aber auch ganz ande- nationale Angelegenheit, sondern formiert sich im Dialog. re Hürden geben. Sie sind intentioneller, organisatorischer Man gerät manchmal in die Kritik, weil andere Forscher oder ethischer Natur, zum Beispiel können Sie frisch ange- andere Interpretationen vorschlagen. Nichtsdestotrotz ist kommene traumatisierte Flüchtlinge aus ethischen Grün- es so, dass Wissen gemeinsam mit Kollegen in der ganzen den nicht gleich in ein Forschungsprojekt einbeziehen. Welt auch dialogisch produziert wird. Während einerseits manche Leute zu bestimmten Zeitpunkten Deutungsho- Wie wichtig ist die Migrationsforschung heit beanspruchen, wird sie andererseits auch immer wie- innerhalb des Profilbereichs? der gebrochen – durch das Gespräch, das Wissenschaftler Middell: Ein Thema unter vielen, aber ein ganz miteinander führen. wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Middell: Häufig wird demjenigen, der aus einer re- Rao: Genau. Wenn man eine relativ leichte Definition lativ gut ausgestatteten westlichen Institution mit starker von Globalisierung nimmt, dann beschreibt sie den Pro- Forschungstradition kommt, eine höhere Deutungsmacht zess, in dem sich verschiedene Subjekte und Objekte bewe- zugeschrieben. Gleichzeitig beschäftigen sich in der Re- gen. Das können Ideen sein, Technologien oder Menschen. gel viel weniger ausländische Forscher mit einem Land Middell: Wir haben keine prozentuale Zunahme der als einheimische. Diese doppelte Asymmetrie macht das transnationalen Migration an der Weltbevölkerung seit Verhältnis manchmal problematisch. Ein zweiter Aspekt 1900, das sind konstant 2,3 Prozent. Die Wahrnehmung ist Nationalismus. Mir ist häufiger gesagt worden: „Du „Globalisierung = Migration = physische Präsenz des unterschätzt die Rolle des Nationalstaates. Das kann da- Fremden“ ist übertrieben. Wir müssen deutlich machen, ran liegen, dass ihr Deutschen ein kritisches Verhältnis wie Steuerungsmechanismen historisch funktioniert ha- zum Nationalstaat habt. Jedenfalls disqualifiziert dich ben und heute funktionieren. Damit meine ich nicht Kon- das, über wirkliche nationale Probleme zu reden, die wir trolle im Sinne von Quoten und Grenzen, sondern die haben.“ Dahinter steckt natürlich die Idee des Entwick- soziale Bindungskraft, die selbst bei Armut Migration lungsstaates, der erstmal nationale Fundamente braucht. vergleichsweise unwahrscheinlich macht.

Sie entwickeln in ihren Fächern jeweils spezifische Trotzdem sind Flüchtlinge dauerhaft ein Thema. Fragestellungen. Wie arbeiten Sie dann zusammen? Middell: Das Spannende ist die an die Frage geknüpf- Rao: Es ist ein gut gehegter Mythos, dass Diszip- te Aushandlung, wie man mit Zuwanderung umgehen will. linen in der Isolation arbeiten können. Wir forschen alle Uns interessiert, wie sich die EU, ihre Mitglieder und an- über Themen. Trotzdem ist es manchmal notwendig, eine dere europäische Länder verhalten. Nimmt man Migran- besondere Methodologie und die sich daraus ergebende ten als potenziellen Gewinn oder als Gefährdung wahr? Perspektive auf das Problem für Kollegen im Dialog ver- Und resultiert eine Gefährdung aus der Illegalisierung,

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Der Historiker Matthias Middell ist seiner Hei- Die Ethnologin Ursula Rao beschäftigt sich mit Der Sinologe und Taiwan-Experte Philip Clart matstadt Leipzig treu geblieben – seine Forschungs- urbanen Transformationsprozessen und Alltagspo- arbeitete zehn Jahre lang an der University of Mis- arbeit führt ihn aber regelmäßig ins Ausland. Seit litik. Ihr Forschungsfeld ist Indien. Sie kam von der souri-Columbia (USA), bevor er 2008 nach Leipzig 2008 leitet er das „Global and European Studies University of New South Wales (Sydney, Australien) kam. Er ist Professor für Kultur und Geschichte Institute“ der Universität Leipzig, zudem ist er Spre- nach Leipzig und ist geschäftsführende Direktorin Chinas und Direktor des Konfuzius-Instituts Leipzig. cher des „Center for Area Studies“. des Instituts für Ethnologie. (Fotos: Swen Reichhold)

die wir damit betreiben, oder aus dem Charakter der für Deutschland relevant werden, ist überhaupt nicht vor- Menschen selbst? Das sind die eigentlich offenen Fragen. herzusagen. Das kann nächste Woche sein, aber auch erst in 50 Jahren. Ein anderer Aspekt: Unsere „Produkte“ sind Wo und wie finden Ihre wissenschaftlichen Studierende und Absolventen – und zwar nicht nur deut- Erkenntnisse Anwendung? sche. In den Studiengängen, mit denen ich zu tun habe, Clart: Wenn man die Chinaforschung betrachtet, geht es darum, dass inzwischen viele Leute nach Leipzig gibt es einen großen Bedarf an Übersetzungsleistungen kommen, weil sie hier eine nicht nationalistische Version von Wissen über China, das keine Stereotypen bedient. Die von Globalisierungsforschung lernen können. Das kann chinesische Regierung versucht, ihre eigene Sicht der Dinge langfristig Folgen haben: in all jenen Ländern, in die sie international darzustellen. In den deutschen Medien spie- nach ihrem Studium gehen, seien es ihre Heimatländer len in Bezug auf China hauptsächlich Umweltverschmut- oder andere. Dann machen wir in einer Reihe von Fällen zung und Menschenrechte eine Rolle. Andere Themen zu tatsächlich Politikberatung. Verschiedene Konzepte für platzieren und in den öffentlichen Raum zu bringen, ist „Peacekeeping-Initiativen“ der African Union stammen wichtig. Trotzdem müssen wir weiter darauf bestehen, dass beispielsweise aus Leipzig. unsere Forschung nicht primär anwendungsbezogen ist. Rao: In der Lehre bilden wir die nächste Generation Im Profilbereich gibt es nicht das eine Forschungsziel oder kritischer Denker aus, die dann Journalisten werden, Un- die Frage, die beantwortet werden muss. Gibt es trotzdem ternehmen leiten oder Politik gestalten. Aktuelle Lehre den Punkt, an dem Sie sagen könnten: „Wir haben jetzt beruht notwendig auf aktueller Forschung, denn sie muss ein Ziel erreicht und eine wesentliche Frage beantwortet“? neueste Erkenntnisse mit einbeziehen. Rao: Den Punkt gibt es immer dann, wenn aus einer Middell: Das Schaffen von Vorratswissen spielt klu- Idee eine Diskussion geworden ist, die im Prinzip zeigt, gerweise auch für das Bundesministerium für Bildung und dass die Idee, wie sie formuliert wurde, zu kurz greift. Das Forschung eine maßgebliche Rolle. Wann Forschungen, ist immer das Ende eines Projektes, aber auch der Beginn zum Beispiel über das Funktionieren indischen Bankings, eines neuen. Nicht, weil man die falsche Frage gestellt hat,

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sondern eine, die es ermöglicht hat, eine neue zu stellen. der Situation der 1990er Jahre. Seitdem wird die Weltord- Insofern gibt es bei mir schon diese Momente, in denen nung neu verhandelt und die wissenschaftlichen Termi- ich sage: „Ich hab das jetzt abgeschlossen.“ ni sind ausprägt. Ich schaue jeden Tag ein bisschen be- Clart: Wir erforschen ja Prozesse, die ständig wei- sorgt in meine Studentengruppen, ob da welche sind, die terlaufen. Wenn die jemals abgeschlossen wären, könnte gewissermaßen sagen: „Diese Frage interessiert mich man auch irgendwann die Forschung abschließen. Globa- nicht mehr. Ich möchte über etwas anderes sprechen.“ Das lisierung wird auf absehbare Zeit nicht zu Ende sein. ist bisher nicht eingetreten. Aber als Historiker vermute Middell: In den 1920er Jahren ist das Interesse an ich, dass das unvermeidlich passiert und eine neue Gene- Globalisierung abgeebbt, das um 1890 entstanden war. ration mit ihrer eigenen Generationenerfahrung kommt. Bis 1923/24 waren Begriffe wie „Weltwirtschaft“ oder Wie die aussieht, lässt sich nicht vorher sagen, aber es lässt „Weltpolitik“ weit verbreitet. Danach rückten in Deutsch- sich hoffen, dass es nicht erneut in Richtung nationalisti- land dann ethnopolitische und rassistische Konzepte in scher Abschließung geht. den Vordergrund. Alles das, was wir vor dem Ersten Weltkrieg an Diskussionen zur Globalisierung hatten, Vielen Dank für das Gespräch. verschwand faktisch von der Agenda, und zwar mit ei- nem Generationswechsel. Neue Leute mit eigenen The- Das Interview führten Katrin Henneberg men schmiegten sich an andere politische Kräfte an. Ich und Carsten Heckmann. könnte mir vorstellen, dass der Profilbereich ähnlich von einer Generationenerfahrung geprägt ist, nämlich von

Globale Der Profilbereich basiert auf der intensiven Im Fokus stehen dabei Migrationsregimes, Kooperation des Centre for the Study of Re- Warenaustausch, Kapitalflüsse und die Zir- ligion (CSR), das von Prof. Dr. Christoph kulation von Ideen und kulturellen Mustern. Verflechtungen Kleine geleitet wird, und des Centre for Area Die Graduiertenschule richtet sich vor Studies (CAS) unter der Leitung von Prof. Dr. allem an jene Nachwuchswissenschaftler aus und Vergleiche Matthias Middell. Die Ausbildung von der- den Regionalstudien, der Geschichte, den So- zeit mehr als 100 Promovierenden aus über 30 zialwissenschaften sowie den International Ländern ist in einer Graduiertenschule „Glo- Studies, die Antworten auf die Frage suchen, bal and Area Studies“ gebündelt. wie Gesellschaften auf der ganzen Welt auf Das CSR untersucht die Rolle von Re- die Dialektik von De- und Reterritorialisie- Centre for ligionen als grenzüberschreitende und Gren- rung reagieren. Von besonderem Interesse ist the Study zen errichtende Institutionen und analysiert, das Bestehen lang anhaltender sowie die Ent- of Religion Centre wie religiöse und säkulare Handlungsfelder stehung neuer räumlicher Rahmenbedingun- (CSR) for Area unter Globalisierungsbedingungen diffe- gen für die soziale Interaktion innerhalb und Studies renziert werden. Das CAS widmet sich den zwischen Kulturen, Nationen und regionalen (CAS) transregionalen Beziehungen seit dem 18. Staatenclustern. Der Ansatz der Graduier- Jahrhundert bis zur Gegenwart sowie deren tenschule gilt als einzigartig, da sie nicht nur Wirkung auf die Bildung neuer Raumord- globale und transnationale Geschichte kom- Graduate nungen unter Globalisierungsbedingungen. biniert, sondern auch International Studies, School Area Studies und transregionale Studien. „Global and Area Studies“

Weitere Informationen zum Profilbereich: www.zv.uni-leipzig.de/forschung/forschungsprofilbereiche/ globale-verflechtungen-und-vergleiche/ ↗

Weitere Informationen zur Graduiertenschule: http://home.uni-leipzig.de/~ral/gchuman/klassen/ graduate-school-global-and-area-studies/ ↗

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Die Grenzen der Religion Was ist religiös, was nicht? – Leipziger Wissenschaftler widmen sich umstrittenen Fragen.

Bei vielen Konflikten in aller Welt spielt das Thema Religion eine Rolle – zum Beispiel das Verhältnis von Christentum und Islam. 2011 demonstrierten in Kairo koptische Christen und Muslime gemeinsam gegen den damaligen Staatspräsidenten Mubarak. Hier zu sehen ist das Kreuz der koptischen Christen neben einem Koran. (Foto: picture alliance/dpa)

er „Kohlrabi-Apostel“ kam in Kutte und Afrika – dort ist Religion ein Mega-The- mit den hiesigen Kollegen zusammenarbei- D und Sandalen, er predigte ein Leben im ma und lebendig wie nie zuvor. In vielen Kon- ten. Ein entsprechender Fördermittel-Antrag Einklang mit der Natur und eine fleischlose flikten der Gegenwart spielt Religion in der wurde von den Gutachtern der Deutschen Ernährung. Er war ein sendungsbewusster einen oder anderen Weise eine Rolle“, erklärt Forschungsgemeinschaft (DFG) positiv eva- Mann, dieser Karl Wilhelm Diefenbach, der luiert, die Entscheidung der DFG-Gremien in den 1870er Jahren in München wirkte. Den stand bei Redaktionsschluss noch aus. Apostel-Spitznamen erhielt er von seinen „Uns ist es wichtig, im globalen Maß- Zeitgenossen. „Für viele Lebensreformer in Säkularisierung ist ein stab zu denken“, betont Christoph Kleine. der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Die Forschung zu den Weltreligionen gehöre das Thema Ernährung auch ein neues spiritu- Stichwort, das oft fällt, schließlich schon seit Ende des 19. Jahrhun- elles Feld. Sie verstanden sich als kirchenkri- derts zu den Schwerpunkten der Universität tisch, spielten aber mit religiöser Optik und wenn es um das Thema Leipzig. „Wir können uns in idealer Weise Sprache“, sagt Jörg Albrecht. vernetzen mit den Kollegen des ‚Centre for Der Religionswissenschaftler war Mit- Religion geht. Area Studies‘ – und somit religionsbezogene glied des von der Deutschen Forschungsge- Forschung stärken in einem Umfeld so ge- meinschaft (DFG) geförderten Graduierten- nannter kleiner Fächer, die sich mit religiösen kollegs „Religiöser Nonkonformismus und er. Im politischen Islamismus müsse Religion Phänomenen beschäftigen.“ Beteiligt seien kulturelle Dynamik“ und schließt gerade an als Maßstab für alles herhalten. neben Religionswissenschaftlern und Sozio- der Research Academy der Universität Leipzig Der Sprecher des „Centre for the Stu- logen zum Beispiel Arabisten, Sinologen, His- seine Dissertation ab. Er beleuchtet aus reli- dy of Religion“ (CSR) erforscht zusammen toriker, Ethnologen und Theologen. gionswissenschaftlicher Perspektive wichtige mit vielen Leipziger Wissenschaftlern die Sie alle stehen immer wieder auch vor Stationen in der Geschichte der Naturkost- Grenzgebiete zwischen Religion und Säku- der Frage: Was ist eigentlich Religion? „Eine und Lebensreformbewegung insbesondere larität. „Die Frage der Grenzziehung zwi- eindeutige Antwort darauf gibt es nicht“, sagt mit Blick auf religiösen und gesellschaftlichen schen Religiösem und Nichtreligiösem ist in „Kohlrabi-Apostel“-Experte Albrecht. „Was Nonkonformismus. Sein Thema: „Vom Kohl- vielen Teilen der Welt heiß umstritten. Aus als Religion gilt und was nicht, das hängt von rabi-Apostel zum Bionade-Biedermeier“. Das welchem Anlass und wie die Grenzen jeweils den gesellschaftlichen Umständen ab.“ Der Thema Religion begegnet ihm bei der Recher- gezogen werden, variiert aber beträchtlich. Es Begriff der Religion ist denn auch nach wie che an allen Ecken und Enden. „Zu Beginn hat- finden ganz unterschiedliche Aushandlungs- vor umstritten. Aber die Leipziger Wissen- te ich die Idee, dass man das als Säkularisie- prozesse statt“, berichtet Prof. Dr. Monika schaftler werden aufzeigen, wer sich dazu wie rungsgeschichte erzählen könnte. Inzwischen Wohlrab-Sahr. Die Religions- und Kultur- verhält, welche Grenzen gezogen und welche bin ich mir da nicht mehr so sicher“, sagt er. soziologin leitete bereits vor einigen Jahren Argumente ins Feld geführt werden. Manche Säkularisierung („Verweltlichung“) ist ein Forschungsprojekt, das sich mit multiplen von ihnen tragen dabei sogar gerne Sandalen. ein Stichwort, das oft fällt, wenn es um das Säkularitäten befasste. Zusammen mit Klei- Carsten Heckmann Thema Religion geht. Vor allem in Europa ne will sie an das bisher Erreichte anknüpfen: meinen viele, dass die Moderne einhergehe Ab April 2016 soll es in Leipzig eine Kolleg- mit einem Verlust der Relevanz von Religion, forschergruppe geben. Wiederum unter der Mehr Informationen unter: sagt Christoph Kleine, Professor für Reli- Überschrift „Multiple Säkularitäten“ sollen http://mahara.uni-leipzig.de/ gionsgeschichte an der Universität Leipzig. dann renommierte Forscher aus aller Welt view/view.php?id=155 ↗ „Aber schauen wir in die USA, nach Asien für längere Zeit nach Leipzig kommen und

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Global unterwegs, gemeinsam stark Die Universität Leipzig und das Leibniz-Institut für Länderkunde blicken auf erfolgreiche Kooperationen zurück – und haben Großes vor.

ur heutigen Globalisierung Profilbereich eine weitere Plattform für diese Zusammen- Z gehören neue, weltumspan- arbeit zu schaffen. „Die institutionellen nende Wertschöpfungsketten, Derzeit ist das prominenteste Projekt ein DFG-An- über die Produzenten und Kon- trag für einen Sonderforschungsbereich, der Verräumli- Kooperationen zum sumenten von Waren miteinan- chungsprozesse unter den Bedingungen von Globalisie- der verbunden sind und die nach rung multidisziplinär untersuchen soll. Sprecher für den östlichen Europa sind neuen Ordnungsentwürfen ver- Antrag ist Prof. Dr. Matthias Middell, Historiker und langen. In welchen historischen Leiter des „Centre for Area Studies (CAS)“ an der Univer- schon länger sehr gut.“ Momenten, an welchen Orten sität Leipzig. In fast 20 Projekten wollen Wissenschaftler und in welchen sozialen Arenen aus verschiedenen Fakultäten, aus dem GWZO und nicht Weltordnungen herausgefordert zuletzt aus dem IfL erforschen, wie Wirtschafts- oder und neue Ordnungen verhandelt werden, die solche Pro- Rechtsräume politisch und gesellschaftlich verhandelt zesse der Globalisierung beeinflussen, stand im Fokus des und geschaffen werden, um Prozesse der Globalisierung Graduiertenkollegs „Bruchzonen der Globalisierung“. voranzutreiben. IfL-Wissenschaftler Lentz etwa würde, Dieses bis Mitte 2015 geförderte Kolleg der Deutschen grünes Licht der DFG vorausgesetzt, zusammen mit sei- Forschungsgemeinschaft (DFG) war nur ein Projekt der ner Kollegin Jana Moser weltweit vergleichend visuelle Universität Leipzig unter mehreren, an denen Forscher Vorstellungen von Globalisierung untersuchen, wie sie des außeruniversitären Leibniz-Instituts für Länderkun- zum Beispiel in Karten für den Schulunterricht oder für de (IfL) mitgewirkt haben. Im Sonderforschungsbereich Unternehmensstrategien entworfen werden. „Wir wol- (SFB) „Differenz und Integration“ beispielsweise forsch- len wissen, welche Rolle grafisch repräsentierte Räume, ten sie über die Beziehung von Nomaden und sesshafter Orte und Netzwerke dabei spielen, zukünftige Zustände Bevölkerung und die unterschiedlichen Konzepte von globaler Verflechtungen und gegenseitiger Abhängigkei- Raum und Kontrolle über Raum. Und auch am Gradu- ten zu entwerfen und als plausibel zu erklären“. Dabei sei iertenprogramm „Ostmitteleuropa transnational“, das der Vergleich von Kartensprachen und Darstellungsstan- Gastwissenschaftler aus ganz Europa nach Leipzig holte, dards besonders interessant. waren sie beteiligt. Dieses Graduiertenprogramm war am Als weitere Basis der Kooperation, die weit in die Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kul- Wissenschaftsregion Mitteldeutschland hineinragt, ha- tur Ostmitteleuropas (GWZO) angesiedelt. „Die institu- ben das IfL und die Universität Leipzig bei der Leib- tionellen Kooperationen im Bereich der Forschung zum niz-Gemeinschaft einen Leibniz-Wissenschaftscampus östlichen Europa und zu Verräumlichungsprozessen sind „Eastern Europe – Global Area“ beantragt. Daran sind schon länger sehr gut“, bilanziert IfL-Direktor Prof. Dr. auch Institute und interdisziplinäre Zentren der Universi- Sebastian Lentz. Deshalb sei es nur konsequent, mit dem täten Halle und Jena beteiligt. Der Campus soll vor allem

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Ein Leibniz- Wissenschaftcampus soll vor allem Nachwuchswissen- schaftler unterstützen.

Nachwuchswissenschaftler dabei unterstützen, Globali- sierungsprozesse als wichtige Rahmenbedingungen und Sebastian Lentz als Treiber für das Handeln von Akteuren im östlichen ist seit 2003 Direktor des Leibniz-Instituts für Länder- Europa zu verstehen. Dies soll insbesondere zusammen kunde und Professor für Regionale Geographie an mit Experten aus der Region selbst umgesetzt werden. der Universität Leipzig. Nach Habilitation und Privat­ Beteiligen wollen sich daran Forscher quer durch die dozentur in Mannheim war er von 2001 bis 2003 Disziplinen, von der Geschichte über die Wirtschafts- Professor für Anthropogeographie an der Universität und Kulturwissenschaften bis hin zu den Religionswis- Erfurt. Forschungsschwerpunkte sind Sozial-, Kultur- senschaften. Der Campus hat auch die Ausbildung von und Stadtgeografie mit einem Fokus auf den Nach­ Master-Studierenden und Doktoranden im Fokus. Die folgestaaten der Sowjetunion. Sein Studium der Fächer besondere Aufmerksamkeit gilt der Förderung von Post- Geographie, Germanistik und Erziehungswissenschaften docs, die in der Akquise von eigenen Forschungsprojek- absolvierte er in Heidelberg und Mannheim. ten und in ihrer Profilbildung in der Lehre unterstützt (Foto: IfL/Franziska Frenzel) werden sollen. Ein weiteres Anliegen ist der Transfer der Forschungsergebnisse in die Gesellschaft, die Politik und die Medien. „Die Begegnung mit Gastwissenschaftlern und Journalisten, die regelmäßige Aufbereitung der For- Mehr Informationen unter: schungsergebnisse für die Öffentlichkeit, zum Beispiel in www.ifl-leipzig.de ↗ Blogs oder in Diskussionsveranstaltungen zur regionalen Entwicklung im östlichen Europa, werden Elemente des Campus-Lebens sein“, erläutert der IfL-Direktor. In das „Osteuropa-Portfolio“ des Standorts Leipzig und unter: und seiner Umgebung würde deshalb auch bestens passen, www.uni-leipzig.de/~cas ↗ wenn das GWZO in die Leibniz-Gemeinschaft aufgenom- men werden würde, meint Lentz. „Ein weiterhin institu- tionell gefördertes GWZO würde mit seinem fachlichen Profil den Schwerpunkt der Regionalwissenschaften in der Wissenschaftsregion Mitteldeutschland weiter stärken“. Benjamin Haerdle

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Riskante Ordnungen RISKANTE ORDNUNGEN LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

Über Streit, Ordnung und Hierarchien Politische Institutionen folgen internen Regeln, die nicht immer so festgeschrieben sind, wie es scheint.

Wie Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene wie hier im EU-Parlament in Straßburg entstehen, ist eines der Forschungsfelder von Miriam Hartlapp. Riskante (Foto: European Union 2014 – EP)

Ordnungen Frau Hartlapp, Herr Saar, der Forschungsprofilbereich, durchgesetzt hat. Dabei möchte ich herausfinden, zu wel- an dem Sie sich beide beteiligen, heißt „Riskante cher Ordnung das auf europäischer Ebene führt. Ordnungen“. Ist das nicht widersprüchlich? Prof. Dr. Martin Saar: Es stimmt, das klingt zu- Wo finden sich denn diese riskanten Ordnungen? nächst so. Ordnungen schreiben ja etwas fest. Man könnte Hartlapp: Wir glauben, dass sie sich auf ganz rea- meinen, wenn sie brüchig oder in Frage gestellt werden, ler-materieller Ebene zeigen, nämlich im Phänomen der dann tun sie das vielleicht nicht mehr. Aber das Gegenteil Akte. Wir haben jeder einen eigenen Aktenbegriff. Mich ist der Fall. Die Demokratie ist für mich das beste Beispiel interessiert, was in eine Akte aufgenommen wird und wo für eine riskante, immer auch umstrittene, aber trotzdem die Leerstellen sind, zum Beispiel bei der Anerkennung stabile Ordnung. von beruflichen Qualifikationen innerhalb der EU. Wel- che Daten werden ausgetauscht, welche nicht? Diese Da- Aber wird sie nicht zu einer Diktatur oder ten sagen etwas über die Ordnung des europäischen Ver- endet sie in Anarchie, wenn sie bestritten wird? waltungsraums. Wie absichtsvoll werden Akten angelegt? Saar: Nein, denn bestreiten bedeutet ja nicht stür- Oder sind es unbewusste und ungeplante Prozesse, die zen. Die Demokratie muss immer verteidigt werden und entscheiden, was in den Ordner wandert und was nicht? sich gegen andere politische Ordnungsvorstellungen Saar: Aktenordnungen sind Ergebnisse von Akten, durchsetzen. Das macht sie umstritten oder riskant, sie von Handlungen. Jeder, der schon mal eine Akte von sich hat Konkurrenz. Gleichzeitig in der Hand hielt, hatte sicher schon diesen Aha-Effekt. kann jede einzelne demokrati- Man wundert sich, was festgehalten wird und was nicht. sche Entscheidung von innen Stasi- und Justizakten sind ein Extrembeispiel, das pas- „Mich interessieren heraus immer wieder in Frage siert auch bei jeder Krankenakte. gestellt werden, und sie muss das mehr die Unterschiede aushalten können. Eine Demo- Was interessiert Sie an den Akten? kratie, in der sich alle einig sind, Hartlapp: Wenn Akteure in Institutionen handeln, in den institutionellen ist nichts wert. entstehen Dokumente, also Akten. Für mich ist von In- Prof. Dr. Miriam Hartlapp: teresse, wie das passiert und zwar in einem Raum wie der Möglichkeiten, Ich beschäftige mich mit genau EU, der ja bereits durch Regeln strukturiert ist. In der diesem Vorgang: Wie kommt es Europäischen Kommission oder dem EU-Rat gibt es zum Zugang zu politischen bei umstrittenen Fragen zu einer Beispiel Abstimmungsregeln. Gewisse Entscheidungen Einigung? Am Ende gibt es bei Ge- müssen einstimmig, andere nur mehrheitlich gefällt wer- Entscheidungen zu setzesvorschlägen oft einen Kom- den. Das bestimmt, welche Interessen sich durchsetzen promiss zwischen unterschied- können – oder aber ob es leicht eine Blockade gibt. bekommen. Wer wird lichen Interessen. Die Ordnung, Saar: Für mich stehen diese strukturgebenden die dabei entsteht, kann man als Phänomene in Zusammenhang mit der Frage, ob es gehört, wer nicht?“ Antwort sehen auf die Frage: „Wie überhaupt jemanden gibt, den man als handelndes Sub- viel Staat braucht man und wie jekt beschreiben kann. Es gibt in der Demokratie auch viel Markt will man?“ In einem Akteure, die nicht offiziell dazu berufen worden sind zu Projekt über Entscheidungsprozesse in der Europäischen handeln. Das Volk wählt nicht nur, es protestiert auch, Kommission erforsche ich für 48 Richtlinien und Verord- debattiert, bestreitet. Das kann uns in Einzelfällen gefal- nungen, wer sich auf der Basis welcher Machtressourcen len oder auch nicht. Der Ruf „Wir sind das Volk“ ist ein

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urdemokratischer Akt. Jeder Hartlapp: Mich interessieren mehr die Unterschiede „Eine Demokratie, kann das sagen, solange er ei- in den institutionellen Möglichkeiten, Zugang zu politi- nen anderen hat, der mitspricht. schen Entscheidungen zu bekommen. Wer wird gehört, in der sich „Ich bin das Volk“ funktioniert wer nicht? Es gibt viele Konsultationen auf europäischer nicht, es muss ein „Wir“ vor- Ebene. Finden sich da wirklich alle Positionen wieder alle einig sind, handen sein. Damit erklärt man oder nur jene, die die Kommission schon in ihren inter- sich selbst zum Subjekt der De- nen Dokumenten vertreten hatte? Konsultationen sind ist nichts wert.“ mokratie. Man muss aber damit manchmal auch eine Möglichkeit, eine Machtposition rechnen, dass die Behauptung, weiter auszubauen oder Interessen intern zu stärken. In man spreche für alle anderen, als diesem Sinne sind auch die Entscheidungsfindungspro- dreiste Anmaßung entlarvt wird. zesse auf EU-Ebene ein Beispiel für riskante, umstrittene Allein dafür müssen noch keine offiziellen Institutionen Ordnungen. vorhanden sein, aber wenn es welche gibt, ändern sich das Pia Volk Spiel und die Handlungen im Spiel.

Prof. Dr. Martin Saar Prof. Dr. Miriam Hartlapp hat die Professur Politische Theorie inne. Dem Politik- hat einen Lehrstuhl für Multilevel Governance. wissenschaftler geht es nicht darum, Lösungsvorschläge Sie untersucht, wie die Europäische Union Entscheidun- für Probleme anzubieten oder neue Theorien zu entwi- gen trifft und wie diese die nationalen Ordnungen der ckeln. „Fast alles ist schon mal von jemandem gedacht einzelnen Mitgliedsstaaten verändern. Die empirischen worden, man kann diese Gedanken aber in neue Kons- Untersuchungen der Politikwissenschaftlerin befassen tellationen und Kontexte bringen“, sagt er. Saar wurde sich vor allem mit Sozial- und Wirtschaftspolitik. Anfang 2014 an die Universität Leipzig berufen. Hartlapp forscht empirisch. Sie durchkämmt Dokumente Martin Saar beschäftigt sich mit den großen Staatstheo- mit Entscheidungen, vergleicht sie mit internen Kommu- retikern und Philosophen wie Machiavelli, Hobbes und nikationspapieren und interviewt Entscheidungsträger. Spinoza ebenso wie mit Hegel, Marx oder Nietzsche. Sie hat zum Beispiel dargestellt, wie EU-Arbeitsrecht in Ihn interessiert besonders die Frage, in welchem Sinn EU-Mitgliedsstaaten umgesetzt und angewandt wird. Politik die Entstehung, Kanalisierung, Verteilung und Hartlapp lehrt seit Ende 2014 an der Universität Leipzig. Ausübung von Macht ist – und mit welchen Theorien (Foto: Christian Hüller) sich dies am besten beschreiben lässt. (Foto: Swen Reichhold)

Mehr Informationen unter: Mehr Informationen unter: www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/powi/ http://www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/powi/ martin-saar/ ↗ prof-dr-miriam-hartlapp/ ↗

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Was Aktenführung und Herrschaftspraxis eint Die Logik der öffentlichen Ordnung spiegelt sich in den Dokumenten wider, die sie produziert.

Rebecca Pates durchkämmt Akten auf der Suche nach verborgenen Strukturen. (Foto: Swen Reichhold)

er ab und an mal alte Krimis schaut, kennt das noch: wolle den Zuhälter nie wieder sehen, nicht öffentlich als W Der Kommissar steht auf, marschiert auf einen rie- Prostituierte auftreten oder aus einem anderen Grund die sigen Aktenschrank zu und beginnt zu suchen. Irgendwann Aussage verweigern, komme es nicht zu einem Verfahren. zieht er einen beigen Hängeordner heraus, mit Bild, Fin- Anders in Frankreich. Dort hört man nicht nur die Telefo- gerabdrücken und Auflistung der ne der Täter ab und beobachtet die Kontenbewegungen der kriminellen Karriere des Verdäch- Menschenhändler, sondern man bietet den Frauen auch tigen. Die Szene zeigt: Die Welt ist gute Argumente, vor Gericht zu erscheinen. Wer in Frank- Mit dem digitalen ordentlich, und die Ordnung spie- reich gegen Schmuggler und Menschenhändler aussagt, gelt sich in der Verwaltung. Das bekommt eine Aufenthaltsgenehmigung. „In Deutschland Aktensystem ändert ist die gedankliche Grundlage des aber braucht man ein Opfer“, sagt Pates, „zumindest wenn Projekts „Akte, Akten, brüchige es sich um Frauen handelt.“ Die Frage, ob sich eine Frau sich die Art und Weise, Ordnungen“ des Forschungspro- freiwillig prostituiert habe, stehe im Vordergrund. Man filbereichs „Riskante Ordnungen“. gehe davon aus, dass die Frauen eine Teilschuld treffe. wie regiert wird. Prof. Dr. Rebecca Pates ist eine Pates und ihren Kollegen geht es in dem Projekt aber von acht Wissenschaftlerinnen aus noch um etwas anderes. Sie untersuchen die Zusammen- unterschiedlichen Disziplinen, die hänge zwischen Aktenführung und Herrschaftspraxis, zum Thema forschen. „Wir gehen davon aus, dass wir an zwischen theoretischer Ordnung und praktischer Umset- der Ordnung der Akten die Ordnung des Staates ablesen zung derselben, egal ob nun in Aktenschränken oder in können“, erklärt die Politikwissenschaftlerin. Files auf dem Desktop. Oft spiegelt sich zum Beispiel in Da sind zum Beispiel die Aktenschränke, die Poli- den Akten der Ordnungshüter nicht wider, dass Mann und zeibüros schmückten. Wer früher einen Verbrecher jagte, Frau vor dem Gesetz gleich sind. Das zeigte sich auch in musste am richtigen Ort nach den richtigen Dokumenten einem anderen Projekt, in dem Pates die Ausbeutung von suchen. Berge von Papieren mussten zwischen Revieren hin- LKW-Fahrern untersuchte. „Bei Männern, die monatelang und hergeschickt werden. Heute gibt es stattdessen Daten- LKW fahren, ohne bezahlt zu werden, den Pass abgenom- banken, auf die alle Zugriff haben. Mit dem neuen digitalen men bekommen und bedroht werden, fragt niemand, ob Aktensystem ändert sich auch die Art und Weise, wie regiert sie das freiwillig machen“, erklärt Pates. Die Methoden wird. „Man kann nun für Vorhaben strafbar gemacht wer- der Ausbeutung seien aber ähnlich. In den Akten der Poli- den und nicht mehr für Handlungen“, sagt Pates. Das sei eine zei hätten die Männer jedoch einen anderen Status als die radikale Änderung der Logik der öffentlichen Ordnung. Frauen. Frauen sind dort entweder Opfer oder sie gelten Diese Logik funktioniert aber in jedem Land anders. als Täterinnen und werden wegen Steuervergehen, unan- In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit gemeldeter Prostitution oder fehlender Aufenthaltsgeneh- rund 270.000 Euro co-finanzierten Projekt untersucht Pa- migung angeklagt. „Selbstbestimmt handeln und trotzdem tes die neue öffentliche Ordnung anhand von Akten über zur Prostitution gezwungen worden sein, existiert nicht in den Menschenhandel. Im Vergleich zu Frankreich hat deutschen Akten“, sagt Pates. Pia Volk beispielsweise Deutschland weniger Opfer als Folge des Menschenhandels. Oder anders gesagt: Die Opfer tau- chen in den Akten nicht auf. In Frankreich gibt es dage- Mehr Informationen unter: gen wesentlich mehr Anklagen. „Der Grund ist, dass die www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/powi/ deutsche Gerichtsbarkeit auf der Aussagebereitschaft der prof-rececca-pates-phd/ ↗ Opfer beruht“, erklärt Pates. Wenn eine Frau sage, sie

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Eine Kultur, die Jahrtausende überdauerte Die Aramäer wurden vor mehr als 2700 Jahren aus dem Nahen Osten vertrieben. Dennoch haben ihre Sprache und Kultur überlebt, obwohl es seitdem keine organisierte Form dieses Volkes mehr gibt. Ein deutsch-israelisches Institut soll nun ihre Geschichte erforschen – auch, um Konflikte im Nahen Osten besser zu verstehen.

Angelika Berlejung will zusammen mit ihren israelischen Kollegen im neu gegründeten Minerva-Zentrum die Kultur der Aramäer noch besser verstehen. (Foto: Christian Hüller)

assive Sandsteinmauern, früheren nördlichen Nachbarn und dessen Kultur unter- M tiefe Gräben, rotbraunes suchen: Die Volksgruppe der Aramäer siedelte ursprüng- „Wir wollen auch Geröll – so sieht der Arbeitsplatz lich vor allem auf der Fläche des heutigen Syriens. Bereits des Archäologen Aren Maeir aus, 732 v. Chr. waren sie jedoch mit der Eroberung Damas- dem drohenden Verlust der in einer Ausgrabungsstätte in kus’ durch die Assyrer von dort vertrieben worden und der Nähe Jerusalems den Aramä- in viele Ecken des Orients – von Babylon bis Alexandria des aramäischen ern auf der Spur ist. „Was wir hier – ausgewandert. „Trotzdem haben sich die engen Famili- sehen, ist Teil einer ausgeklügelten enstrukturen innerhalb des aramäischen Volkes bis heute Kulturerbes in Syrien Kriegstechnik, mit der König Ha- erhalten, auch über die großen Entfernungen hinweg“, zael die damaligen Reiche Israel erklärt Berlejung. Noch immer seien die Clans die wich- entgegenarbeiten.“ und Juda besiegte“, erklärt der tigste Instanz, sei es für wirtschaftliche Beziehungen oder Professor der israelischen Univer- Eheschließungen. sität von Ramat Gan. Der König Um die Geschichte und Kultur der Aramäer ge- der Aramäer habe um 842 v. Chr. einen großen Wall um nauer erforschen zu können, haben der Archäologe eine Stadt gebaut und die Einwohner solange eingekesselt, Maeir und die Historikerin Berlejung im Juli ein Miner- bis sie ausgehungert waren und er die Stadt relativ schnell va-Forschungszentrum ins Leben gerufen. Angesiedelt einnehmen konnte. „Das Spannende daran ist, dass es ge- an der Universität in Ramat Gan wollen Wissenschaftler nau so im Alten Testament erwähnt wurde“, sagt Angelika in enger Kooperation mit der Leipziger Universität ins- Berlejung, Professorin am Institut für Alttestamentliche besondere die Wechselwirkungen zwischen Israel und Wissenschaft der Universität Leipzig. Die Ausgrabungen dem aramäischen Königreich zwischen 1000 v. Chr. bis seien damit einer der wenigen Fälle, die belegen, dass bibli- 300 n. Chr. erforschen. Finanziert wird das Zentrum sche Verse auch nachprüfbare Informationen über histori- durch die Minerva-Stiftung der Max-Planck-Gesell- sche Ereignisse liefern können. schaft, die für die deutsch-israelische Zusammenarbeit Das deutsch-israelische Forscherduo will an meh- einmalig 500.000 Euro zur Verfügung stellt. Die For- reren Grabungsstellen die Beziehung Israels zu seinem scher planen nun als ersten Schritt ein gemeinsames

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Treffen von Wissenschaftlern beider Hochschulen so- Das Minerva-Zentrum solle deshalb auch ein Fo- wie weiterer Forscher aus den USA, Israel und Syrien, rum für deutsche, syrische und israelische Wissenschaft- um die Eröffnung des Minerva-Zentrums im Juni 2016 in ler schaffen, um über die historisch-archäologische For- Leipzig vorzubereiten. Zudem arbeiten sie an einer Publi- schung hinaus diskutieren zu können. Ein Forum, für das kation über die Aramäer als wandernde Volksgruppe. Leipzig nach Meinung von Historikerin Berlejung einen Mittlerweile leben die Aramäer vor allem im Irak, in idealen neutralen Ort biete. „Denn es wird auch darum Syrien, im Iran, im Libanon und in der Türkei. Als Chris- gehen, wie wir dem derzeit drohenden Verlust des aramä- ten sind sie in diesen Staaten eine verfolgte Minderheit. ischen Kulturerbes in Syrien entgegenarbeiten können.“ Viele sprechen zwar noch ihre alte Sprache, das Aramä- Verena Müller ische. Da sie dort jedoch als Religionsgemeinschaft nicht anerkannt sind, dürfen sie ihre Sprache oft nicht unterrich- ten. Auch ihre Kirchen – einige gehören zu den ältesten Mehr Informationen unter: des Christentums – sind durch Kämpfer der Terrormiliz www.aramisrael.org ↗ Islamischer Staat massiv bedroht oder schon zerstört wor- den. „Die Aramäer sind ein gutes Beispiel dafür, wie Fa- milienstrukturen vielen Widrigkeiten zum Trotz Jahrhun- derte überdauern und auch den Aufstieg und Untergang von Staaten überstehen können“, erläutert Berlejung. Die Erkenntnisse der Forschungskooperation könnten auch helfen, eine der Hauptursachen vieler Konflikte im Na- hen Osten zu verstehen, nämlich, wie zutiefst verwurzelte Aren Maeir von der Bar Ilan Universität (Ramat Gan) Ordnungen uralter Stämme und Clans mit den modernen arbeitet in seiner Ausgrabung in Gath (Tel Safi). Strukturen demokratischer Staaten kollidieren.

Das Ostrakon mit Inschrift aus Tel Safi belegt, dass die Philister im 10./9. Jh. v. Chr. das kanaanäische Alphabet übernommen hatten.

Aren Maeir und ein Hörneraltar, der auf die Heiligkeit des Orts hinweist. (Fotos (3): Minervazentrum, Tel Aviv)

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Sprache und Kultur im digitalen Zeitalter SPRACHE UND KULTUR IM DIGITALEN ZEITALTER LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

Goldglänzendes ins richtige Licht gerückt Die Universitätsbibliothek ist Vorreiter bei der Digitalisierung alter Handschriften.

Ulrich Schneider, Direktor der Universitäts- bibliothek Leipzig (Foto: Swen Reichhold)

tarke Scheinwerfer, eine Kamera. Rings- Die Mitarbeiter der Digitalisierung in S um herrscht Dunkelheit und Stille. Der der Universitätsbibliothek (UB) sind Profis, Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider Spot ist auf den prächtigen Hauptdarsteller sie kennen sich aus mit Jahrhunderte alten, ist seit 2006 Direktor der Universitätsbiblio- gerichtet, der gerade ins richtige Licht gerückt handschriftlichen Büchern. In den Räumen thek Leipzig. Zugleich lehrt er als Professor wird. Der neu eingerichtete Digitalisierungs- in der Beethovenstraße werden diese mit in- für Philosophie am Institut für Kulturwis- platz im Sonderma- dividueller Technik, senschaften der Universität Leipzig, wo er gazin der Bibliotheca viel Fingerspitzen- sich auch im Jahr 1998 habilitierte. Nach Albertina ähnelt gefühl und Sachver- seinem Studium der Philosophie, Germanis- einem Filmset. Nur „Andere arbeiten mit stand digitalisiert. tik und Musikwissenschaft in Frankfurt am ist der Protagonist „Andere arbeiten Main und Berlin führten ihn Forschungsau- schon 500 Jahre alt Robotern, und es geht mit Robotern, und es fenthalte unter anderem an das Getty Center und nicht aus Fleisch geht auf Masse. Bei for the History of Art and the Humanities in und Blut, sondern auf Masse. Bei uns uns steht die Quali- Santa Monica (USA) und an die Maison des aus Pergament und tät im Vordergrund“, Sciences de l‘Homme in Paris. Tinte. Mitarbeiterin steht die Qualität sagt UB-Direktor Jekaterina Kredovi- Prof. Dr. Ulrich Jo- ca und ihre Kollegen im Vordergrund.“ hannes Schneider. digitalisieren gerade Tatsächlich ist sein ein Chorbuch des Haus unter Deutsch- Naumburger Domstiftes. Insgesamt acht der lands Bibliotheken führend auf dem Gebiet riesigen, goldglänzenden Werke werden mit der als hochkompliziert geltenden Digitali- der eigens dafür gebauten Konstruktion Seite sierung von alten Handschriften und seltenen für Seite abfotografiert und so für die Wissen- Drucken. „Das liegt vor allem daran, dass wir schaft sowie die Öffentlichkeit via Internet eine Bibliothek mit einem großen Altbestand zugänglich gemacht. sind, den wir für die Nutzer neu zugänglich machen wollen“, erklärt er.

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Beate Wiesmüller arbeitete im Projekt Digitalisierung der arabischen, persischen und türkischen Handschriften der Universitätsbibliothek Leipzig mit, zu denen auch der Prachtkoran zählt. (Fotos: Swen Reichhold)

Symmetrisch illuminierte Eingangsseite mit der ersten Zierseite aus einem Naumburger Chorbuch. Sure aus dem Prachtkoran.

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Projektmitarbeiterin Jekaterina Kredovica und Ulrich Schneider lassen ein über 500 Jahre altes Chorbuch aus dem Besitz der Domstiftsbibliothek Naumburg digitalisieren. Für die Digitalisierung der Chorbücher wurde eigens eine spezielle Vorrichtung gebaut.

Die teils unbe- Informationen rund um zahlbaren Originale die Papyri und Ostra- werden nur noch sel- „Die alten Einbände ka“, sagt er. Auch beim ten aus ihren sicheren Speichern der riesigen Verwahrungen geholt, kommen dem digita- Datenmengen und beim meist zu Forschungs- Digitalisieren müssten (Foto: Swen Reichhold) zwecken. Ansonsten len Zeitalter nicht die Experten immer auf nutzen Wissenschaftler dem neuesten Stand der Der Lehrstuhl für Alte Geschichte die gestochen scharfen freiwillig entgegen. Technik sein, damit die hat im Mai mit der ersten Ausgabe Digitalisate und deren Digitalisate mindestens des Open-Access-Journals „Digital ausführliche Kommen- Man muss ihnen genauso lange zu le- Classics Online“ eine neue elektroni- tierungen, die online sen sein werden wie die sche Zeitschrift herausgegeben. „Es einzusehen sind. Mit eine Couch bieten.“ historischen Originale. wird weltweit die erste Zeitschrift diesem Know-how ist Mehr als 5.000 Papyri mit Peer-Review-Verfahren und auf die UB ein wichtiger und beschriebene Ton- Open-Access-Basis sein, die im Bereich Partner im Forschungs- scherben wurden so in der digitalen Geisteswissenschaften profilbereich „Sprache und Kultur im Di- der UB schon bearbeitet und sind dadurch als den Fokus ganz auf die Alte Geschich- gitalen Zeitalter“. „Bei uns werden ganze komplette Werke ohne Zugangsbeschränkun- te und angrenzende Gebiete der Alter- Sammlungen digitalisiert“, berichtet Schnei- gen für die Öffentlichkeit einzusehen. tumswissenschaften legt“, sagt Lehr- der. Das mache sonst kaum eine Universitäts- Ganz in Scholls Nähe präsentiert Bea- stuhl-Inhaberin Prof. Dr. Charlotte bibliothek. Er versteht sein Haus als zentrale te Wiesmüller stolz einen über und über mit Schubert (Foto). Das E-Journal ermög- Dienstleistungseinrichtung der Universität Blattgold verzierten Koran aus dem Osmani- licht Forschern der Altertumswissen- und als Projektpartner für Wissenschaftler schen Reich, der vor einem Jahr digitalisiert schaften, ihre Forschungsergebnisse in anderer Einrichtungen im Bereich der Digital wurde – unter erschwerten Bedingungen: den Digital Humanities einer breiten Humanities. Viele Digitalisierungsprojekte „Gold lässt sich schwer fotografieren“, sagt Leserschaft kostenfrei zugänglich zu werden über Drittmittel finanziert, meist von die wissenschaftliche Mitarbeiterin der UB, machen. Die Publikationssprachen sind der Deutschen Forschungsgemeinschaft. die Expertin für islamische Handschriften ist. Deutsch, Englisch, Französisch und Wenn Prof. Schneider durch die nahe- Das wertvolle Stück aus dem Jahr 1570 kam Italienisch. Die Deutsche Forschungs- zu vollständig wiederaufgebaute Albertina in den Kriegswirren um 1686 als so genannte gemeinschaft fördert das Projekt für geht, hat er von Jahrtausende alten Buch- „Türkenbeute“ aus dem heutigen Budapest drei Jahre. schätzen bis hin zu modernster Technik alles nach Leipzig. Noch heute ist es im Besitz der unter einem Dach. Etwa 1,5 Millionen Seiten Leipziger Stadtbibliothek und in der UB un- des riesigen UB-Altbestandes wurden in den tergebracht. „Das ist einer der Pracht-Korane, Mehr Informationen: vergangenen sechs Jahren digitalisiert. Dar- die wir hier in unserer Sammlung haben“, sagt www.digital-classics-online.eu unter ist auch das mit Abstand älteste Stück, Wiesmüller. das in Tresoren aufbewahrt wird: der Papy- Prof. Schneider hat unterdessen ein rus Ebers. Die 3500 Jahre alte Buchrolle zur Faksimile des berühmten Codex Sinaiticus Heilkunde Altägyptens gelangte 1873 in den aus dem Archiv herausgesucht und erinnert Besitz der Universitätsbibliothek. Sie enthält sich an die Digitalisierung der 43 Blätter die- Lehrtexte sowie Rezepte und Hausmittel ge- ser ältesten Bibelhandschrift der Welt aus dem gen Krankheiten und Schönheitsmittel. 4. Jahrhundert nach Christus, die im Besitz Der Historiker Prof. Dr. Reinhold der UB sind. „Das war eine der größten He- Scholl, Kustos für die Papyrus- und Ostra- rausforderungen für unsere Digitalisierungs- kasammlung der UB, hat jede Etappe der werkstatt“, sagt er über das Projekt, das der Digitalisierung der mit Rußtinte geschriebe- UB-Direktor zwischen 2006 und 2011 umsetz- nen Papyrusrolle aus dem 16. Jahrhundert te. Er ließ einen Ansaugtisch bauen, um die vor Christus miterlebt. „Das Schwierigste einzelnen Seiten im richtigen Winkel fotogra- war die Katalogisierung, das Sammeln der fieren zu können.

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In Ägypten, wo neben St. Petersburg Neben dem Grazer Kameratisch gibt und London weitere Teile der Sinai-Bibel auf- es noch den Wolfenbütteler Buchspiegel, mit bewahrt werden, musste erst eine Digitalisie- dem man sehr weit in den Falz eines Buches rungswerkstatt aufgebaut werden. Die British hineinfotografieren kann, und noch einige Library in London, die den größten Teil des andere moderne Geräte zur individuellen Di- Codex Sinaiticus besitzt, hatte es mit zahlrei- gitalisierung von Handschriften. Wer auf die- chen Fragmenten zu tun. „An allen Stationen sem Gebiet ganz oben mitspielen will, muss gab es ganz eigene Herausforderungen“, weiß regelmäßig die Technik erneuern, an neuen (Foto: Swen Reichhold) Schneider. Präsentationsformen für Bücher basteln und Die japanische Computer Entertain- Jekaterina Kredovica, die Mitarbeite- in die Fortbildung des Personals investieren. ment Rating Organization (CERO) hat rin der Digitalisierungswerkstatt, kennt die Auch die Bücherbestände, die zu digitalisie- dem Ostasiatischen Institut der Univer- Tücken beim Fotografieren der wertvollen, ren sind, nehmen offenbar nie ab. Schneider sität Leipzig zirka 4.500 japanische alten Bücher ganz genau. Sie arbeitet regel- ist sich dieser Herausforderung bewusst. „Wir Videospiele aus den vergangenen mäßig am so genannten Grazer Kameratisch bewegen uns in einem Feld, in dem man nie zehn Jahren geschenkt. Sie werden – einem Digitalisierungsgerät für beson- fertig wird, weil die Digital Humanities im- von der Initiative zur Erforschung ja- ders knifflige Fälle. Die Seiten des histori- mer neue Herausforderungen formulieren“, panischer Videospiele (jGames) und schen Buches, das gerade digitalisiert wird, sagt er. der Universitätsbibliothek Leipzig er- müssen angesaugt werden – genau wie beim Susann Huster schlossen. „Mit dieser großzügigen Codex Sinaiticus – damit sie glatt abfoto- Schenkung kommt jGames dem selbst- grafiert werden können. Um Blendeffekte erklärten Ziel, japanische Videospiele durch die Blattgoldverzierungen zu vermei- Mehr Informationen unter: für die Lehre und Forschung verfügbar den, leuchten vier Lampen. Zudem dürfen www.ub.uni-leipzig.de ↗ zu machen, einen großen Schritt nä- die Seiten nicht senkrecht von oben foto- her“, sagt Juniorprofessor Dr. Martin grafiert werden. Sonst gibt es Verzerrungen. Roth (Foto). Durch die Spiele solle ein „Die alten Einbände kommen dem digitalen Beitrag zur Bewahrung eines wichtigen Zeitalter nicht freiwillig entgegen. Man muss und unter: Teils digitaler Kultur geleistet werden, ihnen eine Couch bieten“, bringt Schneider www.ub.uni-leipzig.de/forschungs- der durch den raschen technologischen das Problem auf den Punkt. bibliothek/digitale-sammlungen/ ↗ Wandel teilweise schon heute nur noch eingeschränkt zugänglich ist. Der ein- zigartige Bestand bietet einen tiefen Einblick in die japanische Spielkultur und ihre jüngere Entwicklung.

Mehr Informationen: www.uni-leipzig.de/ ~japan/ ↗

Ulrich Johannes Schneider und Reinhold Scholl mit einer Tafel des Papyrus Ebers. (Foto: Swen Reichhold) SPRACHE UND KULTUR IM DIGITALEN ZEITALTER LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

Die Mathematik der Sprache Matías Gúzman Naranjo will linguistische Theorien miteinander verbinden.

Den Blick fürs Detail hat Matías Guzmán Naranjo atías Gúzman Naranjo setzt klare Prioritäten: Im Fachbereichen von Theoretischer bis zur Psycholinguistik hinter der Kamera wie in der linguistischen M Schnitt zwölf Stunden am Tag sitzt der Nachwuchs- sowie von internationalen Gastwissenschaftlern. Hinzu Forschung. wissenschaftler am Computer und schreibt, rechnet, liest. kommen Veröffentlichungen in Peer-review-Zeitschriften. (Foto: Swen Reichhold) Der Kolumbianer promoviert am Graduiertenkolleg „In- „Wir wollen mit unserer breiten Aufstellung dem Spezi- teraktion grammatischer Bausteine“, das die Deutsche alistentum von Doktoranden entgegenwirken, die oft Forschungsgemeinschaft (DFG) seit April 2014 an der nur zum Thema ihrer Dissertation etwas sagen können“, Universität Leipzig fördert. „Ich will zwei sprachwissen- erklärt Stiebels. Der enge Austausch mit Dozenten und schaftliche Theorien verbinden, nämlich formale und untereinander rege sie an, auch in andere Bereiche als die quantitative Linguistik“, sagt der 26-Jährige. Die formale eigenen zu schauen. Linguistik beschreibt Sprachen im Hinblick auf die Re- Das breite Angebot am Gra- geln ihrer Grammatik. Beim quantitativen Ansatz wird duiertenkolleg weiß Matías Gúz- Sprache unter statistischen Merkmalen wie Häufigkeiten man Naranjo zu schätzen. „Das „Ich habe hier betrachtet. Die Theorien gelten als wenig vereinbar – nicht ist ein großer Schritt für meine für Gúzman Naranjo: „Beide Ansätze sind gleich wichtig, wissenschaftliche Laufbahn, ich Kontakt zur ganzen davon bin ich überzeugt.“ Der Linguist sucht nach einem habe hier Kontakt zur ganzen gemeinsamen Nenner für beide Theorien. Das kann eine linguistischen Welt“, sagt er. Ver- linguistischen Welt.“ Kollokation sein, also bestimmte Wortpaare, die oft zu- glichen mit Kolumbien seien das sammen auftauchen. „‚Apfel‘ und ‚rot‘ ist in der quantita- unendliche Möglichkeiten. tiven Theorie ein Beispiel für so eine Kollokation“, erklärt Seine Zeit in Leipzig will der Doktorand voll aus- der Wissenschaftler. Kollokationen wie diese will er in sei- schöpfen. Nach der Arbeit beschäftigt er sich gern mit ner Doktorarbeit formal beschreiben und mathematisch Julia. Keine Freundin, nein: „Julia ist eine neue Program- analysieren, warum sie so häufig sind. miersprache für Wissenschaftler“, erklärt Gúzman Na- Im Germanistikstudium in Kolumbien fand Gúzman ranjo grinsend. „Ich erstelle Online-Tutorien für alle, die Naranjo die Literaturwissenschaft langweilig. Was ihn in- die Sprache gerne lernen und damit arbeiten wollen.“ Fast teressierte, war die Sprache mit ihren unzähligen Merkma- wirkt es, als existiere nichts anderes als Linguistik in sei- len und Regeln. „Als Kind wollte ich Mathematiker werden nem Leben. Doch, widerspricht er, das gebe es durchaus: – und Sprache ist sehr mathematisch!“ Nach dem Bachelor Mit anderen Kollegiaten trifft er sich zum Kochen oder sattelte er um: Im Jahr 2012 schrieb er sich für das Studium Filme Schauen. Und wenn ihm Zeit bleibt, zieht der Lingu- Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Müns- ist mit seiner Kamera los, fotografiert, was ihm vor die Lin- ter ein und begann mit dem Master in der Tasche die Pro- se kommt. Auch wenn er im Urlaub durch Europa reist, hat motion am Leipziger Graduiertenkolleg. er die Kamera immer im Gepäck. Seine Familie in Kolum- Auftrag des Kollegs ist, Zusammenhänge zwischen bien besucht Gúzman Naranjo nur selten. Nach dem Gra- grammatischen Bausteinen wie dem Lautsystem und der duiertenkolleg hofft er, in Europa eine Stelle als Post-Doc Satzstruktur untersuchen. „Dieser Fokus auf die Form- zu finden. Er lässt sich überraschen, was auf ihn zukommt. seite der Sprache statt auf ihre Bedeutung ist ein Allein- Nur eines ist sicher: „Ich will Wissenschaftler bleiben.“ stellungsmerkmal in Deutschland“, sagt Dr. Barbara Silvia Lauppe Stiebels. Die Professorin am Institut für Linguistik lehrt an dem Kolleg als Dozentin. An dem Kolleg, das zum Forschungsprofilbereich „Sprache und Kultur im Digi- Mehr Informationen unter: talen Zeitalter“ zählt, werden derzeit zwölf Promoven- http://igra.philol.uni-leipzig.de ↗ den ausgebildet. In der Themenwahl sind sie völlig frei. Sie erhalten Unterricht bei Dozenten aus verschiedenen

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Demokratisierung des Wissens Forscher digitalisieren altertümliche Schriften und entschlüsseln ihre Vergangenheit. Die interessierte Öffentlichkeit wollen sie einbeziehen.

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für Informatik angesiedelt. Dort entwickeln sie Program- me und E-Learning-Plattformen, mit denen sich diese Textmaterialien weiterverarbeiten lassen. Das Ziel: anti- ke Texte mit modernen Methoden zu erschließen und für das 21. Jahrhundert aufzubereiten. „Das ist Citizen Scien- ce der historischen Sprachen“, sagt Köntges. Jeder, der möchte, soll so Zugang zum Wissen vergangener Zeiten bekommen. Fraglich erscheint, wer in der täglichen Infor- mationsflut Muße hat, Jahrhunderte alte Texte zu lesen. „Es handelt sich um sprachliche Überlieferungen, die für unsere europäischen Wurzeln sehr wichtig sind“, erklärt Köntges. Er geht davon aus, dass nicht nur die weltweit rund vier Millionen Lateinschüler und -studierende daran Interesse haben, sondern auch jene Alumni, Hobbywissen- schaftler und Freizeitforscher, die sich neben ihrem Beruf wei- „Bisher verschollenes terbilden wollen. Es soll jedoch nicht dabei menschliches Wissen bleiben, dass Interessierte die Texte ausschließlich lesen. Sie wird für die sollen mitwirken, neue Informa- tionen für die Forschung ausfin- Kultur der Sprachen dig zu machen. „Wir überlegen derzeit, wie wir die Öffentlich- nutzbar gemacht.“ keit in Datenerstellungsprozes- se sinnvoll einbinden können“, Wollen die Öffentlichkeit in universitäre Forschung einbinden: Gregory Crane (l.) und Thomas Köntges (Foto: Swen Reichhold) sagt Köntges. Open Philology besteht deshalb aus drei Teilprojekten: Das Open Greek & Latin-Projekt produ- ziert nicht nur große Datensammlungen freier Texte und s ist wohl eine der ältesten und am häufigsten überarbei- Textdaten der antiken Welt und bietet diese offen und E teten Geschichten der Kultur- und Literaturgeschichte: kostenfrei an. Das historical language E-Learning-Pro- die „Odyssee“ von Homer. Darin beschreibt König Odys- jekt entwirft zusätzlich die Online-Lernumgebung An- seus, wie er aus den Trojanischen Kriegen zurückkehrt, cientGeek. Sie ermöglicht Interessierten, alte Sprachen zu sich auf der Heimfahrt verirrt und erst nach zehn Jahren lernen, sich durch Lernspiele Wissen anzueignen und zur und vielen Abenteuern als Bettler unerkannt heimkehrt. Datenerschließung beizutragen. Das Open Philology Bu- Erste mündliche Fassungen der Irrfahrt sollen bereits in siness-Projekt untersucht zudem aktuelle Entwicklungen spätmykenischer Zeit, rund 1.600 Jahre vor Christus, ent- des Open-Access-Marktes und alternative Modelle des standen sein. Erst zwischen dem 7. bis 8. Jahrhundert vor Publizierens. Christus aber wurde das Werk niedergeschrieben. Die vie- Mittlerweile lagert ein riesiger Wissensschatz im len mündlichen Überlieferungen führten dazu, dass im- Internet, den die Leipziger Wissenschaftler immer weiter mer wieder neue Versionen des Textes auftauchten. „Was vervollständigen wollen. Für den Lehrstuhlinhaber Prof. und wie viel von einem so genannten Original erhalten ist, Dr. Gregory Crane ist das eine ganz neue Form der De- ist heute oft nur schwer nachvollziehbar“, sagt Thomas mokratisierung von Wissen. „So können Menschen Spra- Köntges, Doktor der klassischen Philologie und Mitar- chen verstehen, die sie nie studiert haben“, sagt Crane. beiter am Lehrstuhl Digital Humanities. Er will wissen, Der Humboldt-Professor der Universität Leipzig sieht in woher die Texte stammen, wer sie kopiert hat und wie sie der Digitalisierung der Geisteswissenschaften eine große umgearbeitet worden sind. Doch Homers Odyssee ist nicht Chance. „Bisher verschollenes menschliches Wissen wird das einzige Werk, dessen Vergangenheit entschlüsselt wer- für die Kultur der Sprachen nutzbar gemacht“, sagt er. den soll. Tausende Texte aus dem Altertum schlummern Vielleicht wird dann auch bekannt, wie die Geschichte um noch in den Bibliotheken dieser Welt, zumeist nicht für die Odysseus und seine Irrfahrt genau angefangen hat. breite Masse einzusehen. Claudia Euen Köntges und sein Team wollen das nun ändern. In den vergangenen anderthalb Jahren haben sie 40 Millio- nen lateinische Wörter digitalisiert. Open Philology heißt Mehr Informationen unter: das Projekt, das mithilfe von Computerprogrammen www.dh.uni-leipzig.de ↗ Textseiten scannt und in Schriftsprache verwandelt. Nicht umsonst sind Köntges und seine Mitarbeiter am Institut

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Unscheinbare Zeugnisse der Geschichte sichtbar gemacht Leipziger Arabisten untersuchen Sekundäreinträge historischer Handschriften.

Boris Liebrenz analysiert, was Leser an Notizen in Jahrhunderte alten Büchern aus dem Nahen Osten hinterließen.

s sind zeitgeschichtliche Rari- einem vom Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderten E täten, die Dr. Boris Liebrenz Teilprojekt hat der Postdoc in weiteren 3.000 Büchern der „Wir haben die Bücher in der Universitätsbibliothek ganz Forschungsbibliothek Gotha rund 2.500 Sekundärbeiträge vorsichtig in seine Hände nimmt: in arabischer, persischer und osmanischer Sprache gesam- aus dem Dornröschen- Mehrere Jahrhunderte alte Bü- melt. „Wissensrohstoff Text“ heißt das über den ESF mit ei- cher, die ein Konsul im Jahr 1853 ner Million Euro finanzierte Gesamtvorhaben, in dem sich schlaf erweckt und über in Damaskus kaufte und nach zehn Doktoranden und Postdocs in sieben Teilprojekten seit Leipzig schickte. Doch den 32-jäh- 2013 quer durch die Geisteswissenschaften zusammengetan eine Datenbank wieder rigen Arabisten interessiert nicht haben – von der Ägyptologie über die Musikwissenschaft so sehr der Inhalt der bis zu 1.000 und Theologie bis hin zu Deutsch als Fremdsprache. Mit für die Wissenschaft Jahre alten Bände der Familien- Hilfe von Informatikern der Universität Leipzig wollen sie bibliothek Refaiya, sondern eher Forschungsergebnisse digitalisieren, Datenbanken erstellen zugänglich gemacht.“ das, was Leser und Besitzer vor oder bereits vorhandene Datenbanken besser verknüpfen. hunderten Jahren an Notizen in „Ziel ist nicht nur, mit Hilfe der Informatik Forschungser- die Gedichtsammlungen oder his- gebnisse sichtbar zu machen, sondern auch Methoden vor- torischen Romane schrieben. Wem das Buch gehörte, wer es zustellen, so dass die Teilnehmer voneinander lernen und auslieh, stiftete, las oder welche Anmerkungen zu Inhalten Anregungen für die eigene Arbeit mitnehmen können“, sagt geschrieben wurden. „Mit diesen Sekundäreinträgen lassen Informatikprofessor Gerhard Heyer, Leiter der ESF-Nach- sich die Handschriften als Zeugnis der Geschichte wahr- wuchsgruppe. nehmen“, sagt Liebrenz, der am Orientalischen Institut der Mittlerweile sind mehr als 10.000 Vermerke aus is- Universität Leipzig arbeitet. lamischen Handschriften, die Liebrenz in Bibliotheken in Der Fachöffentlichkeit zur Verfügung stehen diese Gotha, Berlin, Tübingen oder Halle durchgesehen hat, in rund 1.200 Einträge, seitdem Liebrenz in seiner Promo- einer Datenbank elektronisch erfasst. Wer nun zum Beispiel tion die rund 480 Bände der arabischen Bibliothek, wie Aḥmad Pascha al-Jazzār, ein Gouverneur im Nahen Osten beispielsweise Gedichtsammlungen und Epen, untersuch- und Stifter vieler Bücher aus dem 18. Jahrhundert, in die te und in einer Datenbank erfasste, über die auch die di- Suchmaske der Leipziger Datenbank eingibt, bekommt von gitalisierten Handschriften zu finden sind. „Wir haben die seinem Leben ein konkrete Vorstellung, da Liebrenz von Bücher aus dem Dornröschenschlaf erweckt und über eine ihm auch Sekundäreinträge in Handschriften anderer Bib- Datenbank wieder für die Wissenschaft zugänglich ge- liotheken in Princeton, Dublin oder Beirut fand. „Die vie- macht“, sagt Liebrenz. Doch das war erst der Anfang. In len Sekundäreinträge ergeben ein Mosaik, das mehr über

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Impressum

Herausgeberin Rektorin der Universität Leipzig Ritterstraße 26, 04109 Leipzig

V.i.S.d.P. Carsten Heckmann (Leiter der Pressestelle)

Redaktion Katrin Henneberg (Leitung), Benjamin Haerdle (Koordination), Carsten Heckmann Ritterstraße 26, 04109 Leipzig Tel.: 0341 97-35020 E-Mail: [email protected]

Grafisches Konzept und Layout VISIONAUTEN www.visionauten.com

Abbildungsnachweis Titelbild: Eine Grafik aus der Abteilung für Bild- und Signalverarbeitung am Institut Die Handschrift ad-Durra al-fāhira von al-G˙ azālī (Abhandlung ˘von für Informatik der Universität Leipzig. der Endzeit) wurde einst von In der Hirnforschung dienen solche Modelle die Menschen der damaligen Zeit verrät“, sagt Teilprojekt- Ah.mad Pascha al-Gˇ azzār, unter anderem dazu, den Verlauf von Nerven- leiterin Prof. Dr. Verena Klemm, die den Bereich Kultur Gouverneur von Akka in Palästina, verbindungen im Gehirn zu rekonstruieren an die dort von ihm erbaute und Geschichte am Orientalischen Institut leitet. Aus den Moschee gestiftet. (s.a. Beitrag auf S. 31). Notizen resultieren interessante soziologische Befunde: Do- (Fotos: Swen Reichhold) Editorial: Prorektor Prof. Dr. Matthias Schwarz kumentieren konnten die Leipziger Arabisten, dass zumeist (Foto: Swen Reichhold) Gelehrte, Richter und Verwaltungsangehörige zu den Le- sern privater Bibliotheken zählten. Leihbibliotheken waren Anzeigenvermarktung dagegen offen für die Mittelschicht und religiöse Minder- Dr. Manuela Rutsatz heiten. Zudem habe man nachweisen können, dass anders (Leiterin Beziehungsmanagement) als heute Christen, Juden und Muslime im 19. Jahrhundert die gleichen Leihbibliotheken nutzten. Als Rarität gilt auch Druck der Eintrag einer Frau, die sich mit ihrem Namen „Fatima SDV Direct World GmbH bt. Hijazi“ im 19. Jahrhundert als Besitzerin eines Buches Vertriebsbüro Sachsen verewigte. Weststraße 60 Die Datenbank der Leipziger Arabisten könnte 09603 Großschirma wegweisend sein. Denn es schlummern noch unzählige Auflage: 3.000 historische Handschriften samt Sekundäreinträgen in Bi- bliotheken rund um den Globus, die viel über ihre dama- Grammatisch maskuline Personen­ ligen Besitzer und Leser verraten könnten. bezeichnungen in dem Magazin Benjamin Haerdle gelten gleichermaßen für Personen weiblichen und männlichen Geschlechts. Der Nachdruck von Artikeln ist gestattet, Mehr Informationen unter: sofern die Quelle angegeben wird. http://wirote.informatik. Ein Belegexemplar an die Redaktion uni-leipzig.de/wrote/ ↗ wird erbeten.

Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 24.08.2015

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Mathematische Wissenschaften MATHEMATISCHE WISSENSCHAFTEN LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

Bild’ dir deine Daten Wissenschaftliche Daten lüften ihre Geheimnisse oft erst, wenn sie in Bildern veranschaulicht werden. Informatiker der Abteilung Bild- und Signalverarbeitung machen durch ihre hochauflösenden 3D-Grafiken Unsichtbares sichtbar.

ilder sagen mehr als tausend Worte, heißt es. Das B stimmt, denn physiologisch sind die Menschen „Au- gentiere“. Die Augen liefern dem Menschen 80 Prozent aller Informationen, und das Gehirn ist vor allem darauf ausgelegt, visuelle Informationen zu verarbeiten. Das weiß auch Gerik Scheuermann, Professor in der Abtei- lung für Bild- und Signalverarbeitung am Institut für In- formatik. „Rohe wissenschaftliche Daten sind zunächst meist alles andere als anschaulich“, sagt er. Bilder hin- gegen würden viele Zusammenhänge in den Daten erst erkennbar machen und auch solche aufdecken, die sonst verborgen blieben. Luftströme sind ein solches Phänomen. „Strömungslehre be- ginnt eigentlich in der Badewan- „Wir sehen uns ne“, sagt Scheuermann. Doch was Gerik Scheuermann visualisiert mithilfe mathematischer Modelle passiert, wenn die Strömungen komplexe Daten und Strukturen. (Foto: Christian Hüller) als Helfer, nicht so wunderbar zu sehen sind wie beim Wasser, das im Abfluss rohe Daten anderer verschwindet? „Dann können Ob Luftströmungen, Nervenzellen oder Klimaphä- wir mit unseren Methoden hel- nomene – prinzipiell eignen sich alle Disziplinen mit gro- zu interpretieren und fen, Strömungen und Wirbel zu ßen Datenmengen, um durch Bilder Licht ins Dunkel zu veranschaulichen – auch solche, bringen. Auch Aktienkurse oder die Bevölkerungsstruk- ihnen Unentdecktes vor die nicht sofort aus den nackten tur Deutschland lassen sich so darstellen. „Einfach nur Daten erkennbar sind“, erklärt alle Merkmale gleichzeitig in eine Grafik einzubringen, ist Augen zu führen.“ der Informatiker. Sein Blick fällt jedoch meist nicht sinnvoll“, erklärt der Wissenschaftler. auf das Modellbild eines fahren- Denn würden mehrere Eigenschaften in einem Bildpunkt den ICE, der von farbigen Linien auf einmal abgebildet, beispielsweise Lage und Beschaf- umgarnt wird. „Die Linien sollen die Luftströmung simu- fenheit einer Nervenzelle im Gehirn, so würden sich ge- lieren, die über einen Zug von vorn links hinwegfegt, wenn rade 3D-Grafiken nur schwer verstehen und analysieren der Wind gerade aus dieser Richtung kommt“, beschreibt lassen. „Wir müssen also vereinfachen und Stellen hervor- er. Die blaue Fläche an der vom Wind abgewandten rech- heben, an denen Interessantes geschieht, das gezielt hilft, ten Seite des Zuges markiere den Bereich, in dem gefährli- unser jeweiliges Problem zu lösen.“ Dazu benötige man che Wirbel entstehen können. Wirbel, die beispielsweise an mathematische Modelle wie die sogenannte Merkmalsex- kleinen Bahnhöfen, durch die ein solcher Zug rast, Gegen- traktion, bei der mittels mathematischer Algorithmen be- stände oder gar Menschen mitreißen könnten. Ziel der In- sonders wesentliche Daten ausgewählt werden. formatiker ist es daher, anhand der von Ingenieuren simu- Ein Bild unseres Gehirns ist ein gutes Beispiel, lierten Strömungsdaten die Größe und Geschwindigkeit durch das sich noch unverstandene Strukturen veran- von Luftverwirbelungen zu visualisieren. Das soll nicht schaulichen lassen. Bisher ist beispielsweise noch wenig nur die Sicherheit erhöhen, sondern auch den Energie- bekannt, wie die Hirnareale miteinander verbunden sind verbrauch von Zügen, Autos und Flugzeugen verringern. und zusammenarbeiten, wenn Eindrücke über Augen und Denn jeder zusätzliche Wirbel bedeutet mehr Luftwider- Ohren gleichzeitig aufgenommen werden. Die Leipziger stand und damit auch einen erhöhten Bedarf an Treibstoff. Informatiker haben daher gemeinsam mit Neurobiolo-

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gen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neu- rowissenschaften in Leipzig das Computerprogramm OpenWalnut entwickelt, das Vernetzungen im lebenden menschlichen Gehirn aufdeckt: Mit Hilfe von mathe- matischen Modellen rekonstruiert es aus Messdaten den Verlauf der Hauptnervenbahnen im Gehirn, nachdem es Mit mathematischen Berechnungen kann Gerik Scheuermann per Magnetresonanztomografie durchleuchtet wurde. Die Abweichungen in ansonsten sehr regelmäßigen Zahlenmustern beispielsweise in Klimadaten entdecken. Die hellen Flecken frei zugängliche Software wird weltweit etwa im Vorfeld zeigen statistisch signifikante Unregelmäßigkeiten, von chirurgischen Eingriffen eingesetzt, um die Gehirn­ die auf Wetterextreme hindeuten könnten. struktur zu visualisieren, die an eine Walnuss erinnert. Wenn die Leipziger Wissenschaftler um Scheuer- mann sich nicht gerade gezielt Problemen wie Luftver- wirbelungen oder dem Verlauf von Nervenbahnen wid- men, suchen sie sich selbst neue Herausforderungen. „Wir durchforsten mit Hilfe unserer mathematischen Modelle große Datenmengen und ihre Muster nach Unregelmäßig- keiten, die nicht den Erwartungen entsprechen“, sagt er. Diese enthalten dann oft interessante Informationen. Das gilt etwa für Klimadaten. Aus Wind- und Verdunstungs- bedingungen der Vergangenheit lässt sich meist relativ zu- verlässig das kommende Klima ableiten. Manchmal tre- ten jedoch in den regelmäßigen Daten unvorhergesehene Zahlen auf. Die, so Scheuermann, könnten dann Hinwei- se auf einen anstehenden Tornado oder das Phänomen El Niño geben. „Obwohl wir die Welt vor allem über unsere Augen wahrnehmen, bleibt ihnen also zunächst vieles ver- borgen“. Scheuermann: „Wir sehen uns daher als Helfer, rohe Daten anderer zu interpretieren und ihnen Unent- decktes vor Augen zu führen.“ Verena Müller

Mehr Informationen unter: www.informatik.uni-leipzig.de/bsv ↗

Die Modelle der Leipziger Informatiker können genutzt werden, um den Luftwiderstand von Fahrzeugen zu veranschaulichen, um versteckte Luftverwirbelungen aufzuspüren und den Treibstoffverbrauch zu verringern.

Die Luftströmungen um einen fahrenden ICE-Zug können aus Messdaten bildhaft gemacht werden. Damit lassen sich gefährliche und treibstofffressende Luftverwirbelungen entdecken.

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In der Hirnforschung dienen die Modelle unter anderem dazu, den Verlauf von Nervenverbindungen im Gehirn zu rekonstruieren: Rote Fasern führen waagerecht von links nach rechts, grüne von oben nach unten und blaue von vorn nach hinten.

Um zwei Bündel solcher Nervenverbindungen besser betrachten zu können, wird das Gehirn virtuell aufgeschnitten. (Grafiken: Abteilung für Bild- und Signalverarbeitung, Institut für Informatik)

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Gemeinsam zu mehr Exzellenz Wie das Mathematische Institut und das Max-Planck- Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften erfolgreich zusammenarbeiten.

Felix Otto (2.v.r.), Direktor am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften, und der Mathe- matiker Laszlo Szekelyhidi (li.) von der Universität Leipzig schätzen den kollegialen Austausch und die Diskussion. (Foto: Christian Hüller)

s ist eine Kooperation der kurzen Wege: Hauptseminare und Arbeitsgemeinschaften Die Vorzüge der Kooperation zeigen E Schwingt sich Prof. Dr. Felix Otto, Direk- anbieten können“, sagt MPI-Direktor Otto. sich aber auch in Kleinigkeiten. Die beiden tor am Max-Planck-Institut (MPI) für Mathe- Die Zusammenarbeit geht aber über die Analytiker haben sich unter anderem auf par- matik in den Naturwissenschaften, auf sein Nachwuchsschmiede hinaus. So können Post- tielle Differentialgleichungen spezialisiert, Fahrrad, ist er in weniger als fünf Minuten docs, die zum Beispiel am MPI angestellt sind, wählen jedoch andere Methoden, wenn sie am neuen Augusteum im Büro des Mathema- an der Universität wertvolle Erfahrungen in beispielsweise über Probleme der Skalierung tikers Prof. Dr. László Székelyhidi. „Es ist, als der Lehre sammeln. Lädt Felix Otto interna- bei turbulenten Strömungen brüten. Treffen hätten die Mathematiker in Leipzig ein Insti- tional renommierte Wissenschaftler, wie im sie sich am Rande von Vorträgen und Kon- tut mit zwei Gebäuden“, bringt Universitäts- April den bekannten US-Turbulenzforscher ferenzen, ist zumeist Zeit, aktuelle Fragen professor Székely- Charles Doering, ihres Forschungsgebiets zu besprechen. „Die- hidi die Vorteile der ans MPI nach Leip- se Gespräche sind wichtig für den fachlichen räumlichen Nähe der zig ein, organisiert Austausch“, sagt Székelyhidi. Das sei inspi- beiden Einrichtun- „Enorme Vorteile Kollege Székelyhidi rierend, weil man sich so dem gleichen The- gen auf den Punkt. Kolloquien am Ins- ma von verschiedenen Seiten nähern könne. Doch es sind für beide Seiten“ titut. Und benötigt „Fragen zu stellen, ist ein wichtiger Teil der nicht nur die kurzen Otto für eine grö- Wissenschaft“, sagt auch Otto. Wege, die den Hoch- ßere Konferenz mal Die beiden Mathematiker haben schon schullehrer von der Zusammenarbeit mit dem den prestigeträchtigen Felix-Klein-Hörsaal die nächsten Pläne. Ihre Vision ist eine von MPI schwärmen lassen. Das Mathematische im Paulinum am Augustusplatz, ist das ge- der Deutschen Forschungsgemeinschaft ge- Institut und das MPI kooperieren schon lan- nauso wenig ein Problem, wie wenn Székely- förderte Graduiertenschule. Noch ist das Zu- ge miteinander. Ausdruck dessen ist die In- hidi für eine Veranstaltung in die modernen kunftsmusik, aber wenn am Standort Leipzig ternational Max Planck-Research School MPI-Räumlichkeiten ausweicht. „Die Ko- weiterhin so intensiv kooperiert wird, könnte „Mathematik in den Naturwissenschaften“, operation hat für beide Seiten enorme Vortei- auch das vielleicht Realität werden. die beide Institutionen bereits seit zwölf Jah- le“, bilanziert Székelyhidi. Das MPI profitiere Benjamin Haerdle ren betreiben. Mit ihren 23 Doktoranden ist von der Tradition des Mathematikstandorts sie eines der Aushängeschilder der Leipziger Leipzig und dem Zugriff auf exzellente Stu- Mathematik – national sowie international, dierende, die Universität von der hohen inter- Mehr Informationen unter: da sie rund 75 Prozent der Promovenden aus nationalen Sichtbarkeit des MPI. So gelang www.math.uni-leipzig.de ↗ dem Ausland rekrutiert. Angelockt werden es der Universität, zwei exzellente internati- die Studierenden, weil der Standort Leipzig onale Nachwuchsforscher auf Professuren zu in Folge strategischer Berufungen von Profes- berufen, die zuvor schon am MP für Mathe- soren an die Universität viele sich ergänzende matik in den Naturwissenschaften arbeite- und unter: Spezialgebiete zu bieten hat. „Durch die vie- ten. „Ohne das MPI wäre es deutlich schwerer www.mis.mpg.de ↗ len Wissenschaftler haben wir eine kritische gewesen, sie nach Leipzig zu locken“, urteilt Masse, dank der wir besondere Vorlesungen, Székelyhidi.

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Mit Kopf und Zahl Forscher an der Universität Leipzig wollen die Mathematiklehrerausbildung revolutionieren und mehr Praxis in die Universität holen.

Der Lehramtsstudierende Fritz Jarausch hilft Schülern an den „Mathemachen2“-Stationen. (Foto: Christian Hüller)

igentlich ist es nur ein langer grüner Stab Lehramtsstudierende lernen gleichermaßen, plus 18 Stunden im Praktikum am Ende des E aus Plastik, nichts Besonderes. Rico Böh- wie sie Wissen auf unkonventionelle Art der Studiums“, sagt sie. Das sei zu wenig. me klemmt ihn zwischen vier Spiegel, die in Sekundarstufe I vermitteln können – so, dass Die Juniorprofessorin Schöneburg leitet einem Holzgestell eingefasst sind. „Jetzt kann es in den Köpfen der Kinder länger hängen die Lehramtsausbildung in der Didaktik der man einen fünfteiligen Körper sehen“, sagt bleibt als bloß bis zur nächsten Mathearbeit. Mathematik an der Universität Leipzig und der 13-Jährige stolz. Wenn aus einem einfa- legt sich kräftig ins Zeug, das Studium der chen Ding plötzlich ein komplexes Gebilde angehenden Lehrer umzustülpen. In Koope- wird – das ist ein Wunder der Mathematik. ration mit der Inspirata baut sie ein Lehr- Rico hat an diesem Dienstagvormittag „Dann sollen die Schüler Lern-Labor in Leipzig (L4) auf. Hier sollen außergewöhnlichen Mathematikunterricht. die Studierenden Lehr- und Lernmaterialien „Mathemachen²“ heißt die Ausstellung zum auch mal Funktionen selbst entwickeln sowie ihre praktische Tä- Anfassen, die er gemeinsam mit 15 ande- tigkeit unter fachdidaktischer Betreuung re- ren Schülern der Klassen fünf bis zehn der ablaufen und nicht nur flektieren. Die Ausstellung „Mathemachen²“ Oberschule am Adler im Leipziger Westen ist dabei ein erster Schritt. Im Wintersemes- in der Inspirata besucht. Seit 2008 lädt die- graphisch darstellen.“ ter sollen weitere Räume ausgebaut und neue ser außerschulische Lernort, der Teil des Fe- Exponate angeschafft werden, dann auch für lix-Klein-Collegs der Universität Leipzig ist, die Klassen acht bis zwölf. Dabei geht es nicht unweit der Biocity Kinder und Erwachsene Student Fritz Jarausch ist gerade an ei- darum, zusätzliches Wissen zu vermitteln. ein, die Welt der Mathematik und Physik ner Station dabei, Schülern zu erklären, wie „Lehrplaninhalte sollen praxisnah vertieft ganz neu zu entdecken. Es geht um Formen sie ein Rätsel mithilfe eines Zahlenmusters lö- werden“, betont Schöneburg. Algorithmisches und Farben, Gewichte, Größenverhältnisse, sen können. Gemeinsam mit seiner Kommili- Arbeiten, Frontalunterricht, Auswendigler- optische Täuschungen und andere naturwis- tonin Nadja Hoffmann hilft er den Schülern, nen und Nachmachen werden also immer un- senschaftliche Phänomene. Besucher können wenn diese nicht weiterwissen. Jarausch stu- wichtiger. „Vielmehr sollen die Schüler wirk- sich auf übergroße Stühle setzen, schiefe Räu- diert im 8. Semester Mathematik und Chemie lich eine Vorstellung davon bekommen, wie me betreten oder ihre Haare zu Berge stehen auf Lehramt. Später will er an einer Ober- die Dinge miteinander zusammenhängen“, lassen. schule unterrichten und den so genannten sagt Schöneburg. Dann kann die Welt der Im März öffneten die Tore von „Ma- selbstentdeckenden Unterricht praktizieren. Mathematik ganz neue Perspektiven eröffnen. themachen²“, die das Institut der Mathema- „Dann sollen die Schüler auch mal Funktio- Claudia Euen tik der Universität Leipzig und der Vierstein nen ablaufen und nicht nur graphisch darstel- Verlag konzipierten. „Wir möchten unsere len“, sagt er. Der angehende Lehrer findet es Studierenden stärker praxisorientiert ausbil- gut, mehr Praxisluft zu schnuppern, denn die den“, erklärt Dr. Silvia Schöneburg, Junior- käme im Studium zu kurz. Wissenschaftlerin Mehr Informationen unter: professorin für Didaktik der Mathematik. Silvia Schöneburg kann das nur bestätigen www.math.uni-leipzig.de/fkc ↗ Nicht nur Kinder sollen erfahren, dass Mathe „Die Studierenden unterrichten zwei bis drei mehr ist als die Addition trockener Zahlen. Stunden in ihrer schulpraktischen Ausbildung

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Komplexe Materie KOMPLEXE MATERIE LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

Rote Diamanten aus dem Nano-Labor Physiker der Universität und des Leibniz-Instituts für Oberflächenmodifizierung

Das Foto zeigt Diamantfarbzentren, so genannte NV-Zentren. Sie wurden mittels Stickstoff- wollen einzelne Atome Implantation in einem künstlichen Diamant hergestellt und fangen bei Laserbestrahlung an zu leuchten. Die Position einzelner Atome kann über optische Supermikroskopier­verfahren zählen. im Festkörper sichtbar gemacht werden. Ziel ist, die Atome zu verschränken, um so einen Quantencomputer herzustellen. Erstellt wurde die Aufnahme mithilfe des STED-Verfahrens der Forschergruppe um den Göttinger Nobelpreisträger Stefan Hell. (Foto: Universität Leipzig)

s ist ein kühner Plan, oder wie Prof. Dr. Jan Meijer es Hätte die Idee des Detektors Erfolg, wäre das nicht nur E salopp formuliert: „Unser Anspruch ist schon recht ein immenser Fortschritt für die Nanotechnologie. Die sportlich.“ Eine glatte Untertreibung, denn hier geht es Entwicklung würde auch einen unmittelbaren Nutzen für um Maßarbeit im Nanometerbereich: Wissenschaftler an die Industrie bringen: Mit abzählbaren Atomen in Tran- der von Meijer geleiteten Abteilung Nukleare Festkörper- sistoren, etwa von Phosphor und Bor, könnten noch effizi- physik der Universität Leipzig und des Leibniz-Instituts entere Halbleiter hergestellt werden. für Oberflächenmodifizierung (IOM) wollen einen Weg Das Kristallgitter, mit dem sich die Arbeitsgruppe finden, einzelne Atome zu zählen. Auf dem Gelände des um Meijer im Moment vor allem beschäftigt, gehört zu ei- IOM im Nordosten Leipzigs stehen seit einigen Monaten nem hochreinen, künstlich hergestellten, weißen Diaman- die Bauteile, mit denen dieser Plan Wirklichkeit werden ten. In dem Gitter können die Forscher die Atome einzeln soll. „Einzelionenimplantation“ heißt das Labor, das Uni- ansteuern und das implantierte versität und IOM als „Joint Lab“, als gemeinsames Labor, Stickstoff-Ion zum Leuchten betreiben. Denn darum geht es letztlich: „Wir wollen ein- bringen. Solche rot leuchtenden zelne Ionen abzählen, und sie dann auf wenige Nanometer Diamanten könnten vielleicht „Leipzig ist ein richtig genau in Festkörper einsetzen“, erklärt Meijer. Die Im- eines Tages wesentliche Bestand- plantation ohne abzählbare Ionen läuft schon seit einein- teile des Quantencomputers sein. guter Platz, um Ideen halb Jahren in so genannten Nano-Ion-Beam-Anlagen; „Das ist unser Traum“, sagt Mei- die Technik dazu hatte der Physiker bei seiner Berufung jer. Dieser quantenmechanische zu entwickeln.“ 2013 mit nach Leipzig gebracht. Hochleistungsrechner legt Infor- Zusammen mit seinem Universitätskollegen Prof. mationen gleichzeitig auf vielen Dr. Dr. Bernd Rauschenbach, gleichzeitig auch IOM-Di- Speichereinheiten einzeln ab, ähnlich wie auf den vielen rektor, will Jan Meijer nun eine kommerzielle Focu- Neuronen im menschlichen Gehirn. Riesige Datenmen- sed-Ion-Beam-Anlage um einen Detektor erweitern, in gen können in kürzester Zeit verarbeitet werden. „Der dem Ionen an einem strukturierten Leiter vorbeischießen Quantencomputer ist noch weit weg – aber er ist weltweit und dort kleine Spiegel-Ladungen erzeugen sollen. „Wir ein begehrtes Forschungsobjekt. Da sind wir natürlich hoffen, dass wir damit die Ionen einzeln erkennen und gern dabei“, verkünden die beiden Wissenschaftler. nachweisen können“, sagt Rauschenbach. Mit dem alten Entstanden sind aus der Forschung für den Quan- Verfahren wisse man nicht genau, wie viele Atome tat- tencomputer bereits hochsensible Quantensensoren für sächlich im Kristallgitter landen. magnetische oder elektrische Felder, an deren Entwick- Noch existiert der Detektor nur als Rechenmodell lung Meijer und sein Team ebenfalls beteiligt waren. Das im Computer. Im nächsten Sommer aber soll er fertig sein Gemeinschaftslabor „Einzelionenimplantation“ ist des- und im Gemeinschaftslabor „Einzelionenimplantation“ halb das, was Prof. Dr. Marius Grundmann nicht ohne seine Arbeit aufnehmen. Bereits aufgebaut ist dort die Stolz einen Leuchtturm nennt. „Gemeinsam schaffen wir Focused-Ion-Beam-Anlage, auf die der Detektor später eine exzellente Forschungsumgebung, die die erfolgreiche gesetzt wird. So spektakulär ihr Auftrag, so unscheinbar Kooperation zwischen Universität und IOM auf einem sieht die Maschine aus: Ein weißer Kasten, nicht größer sehr hohen Niveau fortführt“, sagt der Direktor des Insti- als ein Backofen, der auf dem Tisch steht und eher an tuts für Experimentelle Physik II der Universität Leipzig. einen zu groß geratenen Drucker mit silbernem Aufsatz Expertise und Equipment werden im Forschungsprozess erinnert, mit ein paar Kabeln und Röhren an den Seiten. ständig ausgetauscht – auf diese Weise profitiert die

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Universität im Gemeinschaftslabor auch von den 1,5 Mio. viele Entdeckungen in Leipzig gemacht.“ Im kommenden Euro, mit denen die EU und die Leibniz-Gemeinschaft Jahr könnte der Ionen-Detektor sich in diese Erfolgsge- das Projekt förderten. schichte einreihen. Das Patent auf die Anlage ist bereits Die innovative Forschung im Labor ist ein her- angemeldet. ausragendes Beispiel für den Forschungsprofilbereich Silvia Lauppe „Komplexe Materie“, in dem das Leibniz-Institut für Oberflächenmodifizierung besonders oft mit der Fakul- tät für Physik und Geowissenschaften sowie der Fakul- Mehr Informationen unter: tät für Chemie und Mineralogie der Universität Leipzig http://exp2.physgeo.uni-leipzig.de/nfp/ ↗ zusammenarbeitet. Beim Profilbereich „Komplexe Mate- rie“ geht es darum, Dingen mit Hilfe kleinster Strukturen neue Eigenschaften zu verleihen. Zahlreiche Entwicklun- gen im Bereich von Halbleitern wie in der Photovoltaik und unter: gingen aus der Kooperation beispielsweise bereits hervor. www.iom-leipzig.de ↗ „Leipzig ist ein richtig guter Platz, um Ideen zu entwi- ckeln“, erklärt Jan Meijer. „In der Physik wurden sehr

Ort des Austauschs und der Innovation: Jan Meijer (li.) und Bernd Rauschenbach im gemeinsamen Labor „Einzelionenimplantation“. (Foto: Swen Reichhold)

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„Interdisziplinär und anspruchsvoll“ Prof. Evamarie Hey-Hawkins über das Erfolgsrezept der Nachwuchsförderung bei BuildMoNa.

eit dem Jahr 2007 leistet die Graduier- Welche beruflichen Perspektiven S tenschule „Leipziger Schule der Natur- haben Ihre Doktoranden? wissenschaften – Bauen mit Molekülen und Unsere Absolventen sind durchaus be- Nanoobjekten (BuildMoNa)“ einen wichti- gehrt auf dem Arbeitsmarkt. Ein junger In- gen Beitrag zur Ausbildung von Nachwuchs- der, der vor zwei Jahren bei uns promoviert wissenschaftlern an der Universität Leipzig. und danach noch ein Jahr bei mir als Postdoc Prof. Dr. Evamarie Hey-Hawkins ist von An- gearbeitet hat, ist heute als Wissenschaftler fang an dabei. Als Sprecherin von BuildMo- am renommierten IISER (Indian Institute Na bringt die Chemie-Professorin ihre viel- of Science Education and Research) in In- fältigen Erfahrungen in die Ausbildung der dien tätig. Ein anderer Doktorand von uns jungen Forscher aus verschiedenen Ländern ist zunächst mit einem Feodor Lynen-For- ein. Ein Gespräch über das erfolgreiche För- schungsstipendium der Alexander von Hum- derkonzept der Graduiertenschule, die An- boldt-Stiftung ins Ausland gegangen und seit beiden Jahren ist die Finanzierung von Build- forderungen an die Nachwuchswissenschaft- Ende letzten Jahres wieder in Deutschland, MoNa als Klasse an der Research Academy ler und die Zukunft von BuildMoNa. um sich nun zu habilitieren. Diese zwei Bei- Leipzig (RAL) durch Mittel der Universität spiele zeigen die internationalen Netzwerke, Leipzig und finanzielle Unterstützung des Frau Hey-Hawkins, was macht die Nachwuchs­ die wir – unter anderem durch unsere auslän- ehemaligen Profilbildenden Forschungsbe- förderung bei BuildMoNa so erfolgreich? dischen Absolventen, aber auch durch unsere reichs 1 gesichert. Die Interdisziplinarität und Interna- Interdisziplinarität – aufgebaut haben. Das tionalität. Bei uns sind Wissenschaftler aus sind unsere Multiplikatoren. Das Interview führte fünf Fakultäten und drei außeruniversitären Susann Huster. Einrichtungen involviert. In dieser Breite fin- Welche Kriterien müssen Bewerber erfüllen, det man das selten in Ausbildungsprogram- um in die Graduiertenschule BuildMoNa men. Die meisten Graduiertenkollegs, aber aufgenommen zu werden? auch andere naturwissenschaftliche Gradu- Sie sollten mit ihren Noten zu den Bes- Mehr Informationen unter: iertenschulen, sind thematisch enger gefasst. ten ihres Studienjahres gehören, die engli- www.buildmona.de ↗ Zudem haben wir gegenwärtig Doktoranden sche Sprache gut beherrschen und das auch aus mehr als fünfzehn Ländern. Unter ihnen nachweisen. Zudem müssen sie sich mit einem sind vier ausländische Studierende mit einem Thema oder Projekt bewerben, das einen Doktorandenstipendium des DAAD im Rah- Bezug zur Graduiertenschule hat, und dann men des GSSP (Graduate School Scholarship einen wissenschaftlichen Bewerbungsvortrag Programme) für drei Jahre bei uns. Sie durch- halten. Der Vortrag zeigt uns, ob der Bewer- Evamarie Hey-Hawkins laufen – wie alle anderen Doktoranden – ein ber das von ihm vorgeschlagene Projekt ver- ist Professorin für Anorganische Chemie an anspruchsvolles Ausbildungsprogramm mit ständlich präsentieren kann und Potenzial der Universität Leipzig. In ihrer interdiszi- zurzeit zwölf wissenschaftlichen Modulen, für die Durchführung einer anspruchsvollen plinären Forschung stehen die Entwicklung Workshops, Präsentationen und vielem mehr. wissenschaftlichen Arbeit hat. neuer Verbindungen für medizinische oder Jeder Doktorand muss in den etwa drei Jah- materialwissenschaftliche Anwendungen ren Dissertationszeit an mindestens fünf der Wie wird die Graduiertenschule sowie neue Katalysatoren im Fokus. Seit zwölf Module teilnehmen, die jeweils zwei aktuell und künftig finanziert? 2007 ist sie Sprecherin der Graduiertenschule Tage dauern. Wenn unsere ausländischen BuildMoNa ist aus dem Wettbewerb „Bauen mit Molekülen und Nanoobjekten“ Doktoranden nach erfolgreicher Promotion in zur Exzellenzinitiative des Bundes und der (BuildMoNa). Weiterhin leitet sie die EU- ihre Heimat zurückkehren oder auch in einem Länder hervorgegangen und wurde in der COST Action „Smart Inorganic Polymers“ anderen Land beruflich Fuß fassen, ist das ersten Förderperiode von 2007 bis 2014 durch (SIPs) und das DAAD-geförderte „Materials eine ausgezeichnete Werbung für BuildMoNa, die Deutsche Forschungsgemeinschaft finan- Science and Catalysis Network“ (MatCatNet). aber natürlich auch für unsere Universität. ziert. Derzeit und auch in den kommenden (Foto: Christian Hüller)

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Physik der Krebszellen Über den Tellerrand geschaut: Wie Experimentalphysiker aggressive Krebstumore entlarven können.

Einzelzellen in einer Suspensionskultur formieren sich zu Zellclustern. Dabei handelt es sich um eine Modellkrebszelllinie, bei der die Zellmembran mit einem fluoreszenten Farbstoff angefärbt wurde. (Foto: Steve Pawlizak/Universitat Leipzig)

osef Käs lässt den Blick durch sein Büro Physiker Käs forscht zum Beispiel mit J schweifen: Der Schreibtisch aus Holz, Tumorzellen. Diese Zellen sind gefährlich, „Ein Krebstumor der Stuhl aus Plastik, die Fensterscheibe aus denn sie drängen darauf, sich zu bewegen und Glas, die Wand aus Mörtel. „Beinahe alles vor allem sich auszubreiten. „Ein örtlich be- wird erst gefährlich, um uns herum besteht aus weicher Materie“, grenzter einzelner Tumor ist eigentlich noch erklärt der Professor für Physik der weichen nicht gefährlich“, weiß Käs. Bedrohlich wer- wenn seine Zellen be- Materie. Rund 95 Prozent der direkten Welt de er erst, wenn sich seine physikalischen Ei- bestünden daraus, mit Ausnahme etwa von genschaften änderten. Der Physik der Krebs­ ginnen auszu­wandern. Elektrokabeln und Computerchip. Der Be- zellen wollen Käs und sein Team auf den griff der weichen Materie lässt sich am bes- Grund gehen und so neue Denkansätze in die Vielleicht schaffen ten über seinen Gegenpart, die harte Materie, Krebsforschung bringen. erklären. Deren Teilchen halten so stark zu- Ein Tumor ist zunächst eine feste Masse wir das durch unsere sammen, dass sie bei Raumtemperatur immer innerhalb des befallenen Organs. Darin sind im gleichen Zustand bleiben – das gilt für die die mutierten Zellen fest miteinander verbun- physikalischen Siliziumkristalle des Computerchips genauso den und teilen sich unendlich oft. Eine Hülle wie für das Metall der Elektrokabel. Anders um das Organ bildet dabei eine natürliche Erkenntnisse der Mensch. „Wir selbst sind natürlich auch Barriere, die Tumorzellen daran hindert, sich aus veränderlicher, also weicher Materie auf- in alle anderen Bereiche des Körpers auszu- zu verhindern.“ gebaut“, erklärt Käs. Damit könnten viele breiten. „Werden jedoch immer mehr mutierte Modelle aus der Physik aktiver weicher Ma- Zellen gebildet, durchbrechen sie irgendwann terie auch genutzt werden, um die Beweglich- diese natürliche Grenze. Gleichzeitig verän- keit biologischer Zellen zu berechnen. dern sich immer mehr Krebszellen innerhalb

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des Tumors, um auswandern zu können“, Zellen zu messen, entwickeln wir gemeinsam lassen“, sagt Käs. Und tatsächlich deuten erste beschreibt Käs die Erkenntnisse seiner For- aus DNA-Bausteinen eine Art winziges Mess- Ergebnisse darauf hin, dass die Menge der ver- schung. Einigen Zellen würde dies über kleine gerät, das wir zwischen die Zellen klemmen“, änderten, weichen Krebszellen im Tumor mit Ströme aus dem Tumor heraus gelingen, in- sagt Seidel. „Wenn die Zellen dann aneinan- dem Stadium der Krankheit korreliert. „Viel- dem sie die Bindungen zu ihren Zellnachbarn der ziehen, erfahren wir an dem Punkt, an leicht hilft unsere Arbeit sogar einen Wirk- kappten. Einige besonders aggressive Zellen dem die DNA-Struktur zerreißt, wie stark stoff zu entwickeln, der weiche Zellen wieder würden zusätzlich besonders weich und ver- die Kräfte sind.“ Denn man wisse vorher, wie in harte umwandelt, so dass der Tumor als formbar werden, um sich so noch besser aus sehr die DNA-Bausteine zusammenhalten. Ganzes entfernt werden kann“, betont Seidel dem Zellverband lösen zu können. Die entflo- Tatsächlich könnten die Erkenntnis- zuversichtlich. Denn jede entflohene Krebs- henen Zellen könnten zu Lymph- und Blut- se der beiden Biophysiker Inspiration für zelle könne die Krankheit erneut ausbrechen gefäßen und damit in alle Teile des Körpers neue Krebstherapien liefern. Bisher gelang lassen. wandern – ein erster Schritt zur Metastase. es Ärzten oft nur ungenau, anhand von Grö- Verena Müller Um für diese physikalischen Eigen- ße und Struktur des entnommenen Tumors schaften ein molekulares Verständnis zu be- einzuschätzen, wie weit die Krankheit schon kommen, arbeitet Käs eng mit Ralf Seidel vorangeschritten ist und wie stark damit die Mehr Informationen unter: zusammen, der im April dieses Jahres als eingesetzten Wirkstoffe sein müssen. „Wie ag- www.uni-leipzig.de/~physik/ Professor für molekulare Biophysik an der gressiv ein Tumor ist, könnte sich in Zukunft exp1.html ↗ Universität Leipzig berufen wurde. „Um bei- anhand des Verhältnisses zwischen schon spielsweise die Anziehungskräfte zwischen weichen und noch harten Zellen herausfinden

Die Physiker Josef Käs (links) und Ralf Seidel betrachten einen künstlich hergestellten Tumor, um darin die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Krebszellen zu untersuchen. (Foto: Christian Hüller)

41 DAS LETZTE WORT LUMAG FORSCHUNG – 02/2015

Gernegroß

Stuhlpatenschaft röße (Relevanz, Exzellenz) ist uns sehr G wichtig. Ich sehe immer das Glänzen in den Augen der leitenden Organe, wenn wir ihnen mit großen Zahlen kommen. Etwas hat (M)EIN PLATZ erst Bedeutung, wenn es mehrfach auftritt. Das hypnotische Gesetz der Serie gilt beim Kirchenbesuch ebenso wie bei Drittmittel- IM PAULINUM anträgen. Je mehr Gläubige, desto größer der Gott; je höher die beantragte Summe, desto bedeutender die Erkenntnis. Macht durch Weitere Informationen Masse bleibt ein Faktor in unserem Gehirn. Dummerweise hat die Forschung auch erge- große Organismen? Sind sie vielseitiger und ten Witz, was der andere erst abwägen muss. www.uni-leipzig.de/stuhlpatenschaft ben, dass die Größe des Gehirns nicht auf sei- bindungsfähiger? Kepler gab das Problem Politisch kann sich dies zu internationalen [email protected] ne Leistung schließen lässt. der Schneekristalle übrigens an die Zukunft Problemen auswachsen. Alices Abenteuer im Doch Meldungen über Riesenkraken weiter. Heute wissen wir, dass die banalen Wunderland entstehen dadurch, dass sie nicht und gigantische Pilze haken sich fest ins Ge- Schneeflocken Strukturbildungen auch kos- zu ihrer Größe im Verhältnis zu den anderen dächtnis, sie scheinen Sieger der Evolution zu mischer Art verdeutlichen. Revolutionen be- Wesen findet. So knabbert sie an Kuchen und sein wie Apple oder Facebook. Doch wenn ginnen unscheinbar. Das Globale wird durch Pilzen, um endlich zu „passen“. Das Gesetz Datenberge kreißen, werden oft Mousepads lokale Krisen in Frage gestellt, das Regionale Nr. 42 im Wunderland aber lautet: Alle Per- geboren. Evolutionär erfolgreich sind eben verändert sich unmerklich durch globale Be- sonen, die mehr als eine Meile hoch sind, ha- auch Kleinstlebewesen. Bakterien waren lan- wegungen. ben den Gerichtshof zu verlassen. Sollte man ge vor uns und anderen Tieren da, sie werden es umformulieren? Alle Projekte, die eine be- uns zweifellos überleben. Woran immer auch stimmte Größenordnung überschreiten, sind die Dinosaurier starben, kleinere Organismen genauso hinfällig wie Geldvermögen, die das haben dieses Desaster überstanden. Dass es Es gibt keine Größe Genussvermögen des Einzelnen überschrei- das Gigantische auf Dauer nicht leicht hat, ten. Small ist nicht beautiful, aber die Propor- lehrt uns schon das Märchen. Ein Däumling ohne Bezug, tion ist es – oder: das Maß. ist den großen Tölpeln eindeutig überlegen. Riesen wie Goliath machen Angst, sind aber räumlich wie zeitlich. nicht recht dauerhaft. Vielleicht ist die Globa- lisierung mit ihrem Wachstumsmantra auch ein solcher Märchenriese. Letztlich entscheidet natürlich die Pro- Daher ist es schön zu beobachten, wenn portion, das Verhältnis der Größen zuein- Elmar Schenkel „große“ Wissenschaftler sich auch den klei- ander. Das musste der Schiffsarzt Gulliver Institut für Anglistik, Universität Leipzig nen Dingen nähern. Johannes Kepler, um sich entdecken, als er sich in Lilliput aufhielt, des- vom Weltall zu erholen, studierte die sechs- sen Bewohner nur ein Zwölftel seiner Größe Elmar Schenkel ist Professor für Englische eckigen Kristalle der Schneeflocken, die 1610 aufwiesen. Man hat herausgefunden, dass Literaturwissenschaft – und selbst der Magie in Prag fielen, und entdeckte ihre Schönheit sie nicht einfach Miniaturausgaben von uns des gedruckten Worts verfallen … Ob Bio- und Funktionalität. Michael Faraday hielt wären. Ihre Stimmbänder hätten eine viel hö- graf Joseph Conrads, Autor phantastischer vor Jugendlichen eine Vorlesung über eine here Schwingung. Sie würden so schnell und Geschichten, Übersetzer englischer Lyrik, Kerze (und begründete damit gleichsam die hoch sprechen, dass Gulliver sie kaum verste- Essayist und Herausgeber von Zeitschriften, Kinderuniversität). Charles Darwin widme- hen könnte – ein Zeitfaktor tritt damit hinzu. ob Verfasser wissenschaftlicher Texte oder te sein letztes Buch den Regenwürmern. Der Größe verändert Gestalt – eine Erkenntnis von Reiseberichten – Schenkel lässt sich „Schüler der Ameisen und Bienen“, Jean-Hen- unter anderem von Galilei, die der schottische auf kein Genre festlegen. Mal porträtiert ri Fabre, schrieb die schönste französische Universalist D’Arcy Thompson zu einer gran- er Exzentriker in den Wissenschaften, mal Prosa. So verbeugen sich Wissenschaftler vor diosen Biomathematik ausgebaut hat (Über betrachtet er die Geschichte der Literatur dem Kleinen und Unscheinbaren. Ich frage Wachstum und Form, 1917). durch die Augen eines Fahrrads. Schenkel mich auch, warum die Aphorismen eines Ge- Es gibt keine Größe ohne Bezug, räum- faszinieren die Wechselbeziehungen zwischen org Christoph Lichtenbergs überlebt haben, lich wie zeitlich. Ein Großteil unserer Proble- Literatur, Religion und Wissenschaft, das wo doch alle voluminösen Bestseller seiner me könnte mit Bezugsgrößen zu tun haben. Reisen, die Bewegung und das Phantastische Zeit in den Archiven verbleichen. Hängt es Schon kleine Missverständnisse beruhen in der Literatur. Daran lässt er seine Leser damit zusammen, dass Aphorismen wie Bak- oft darauf, dass die Größenordnungen nicht teilhaben. Und kann er mal etwas nicht in terien sich leichter molekular verbinden als übereinstimmen. Der eine hält für einen leich- Worte fassen, dann greift er eben zum Pinsel.

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