«WIR BRAUCHEN GOTT, DER NICHT VERGISST…» Gespräch Mit Sibylle Lewitscharoff Über Ihren Neuen Roman «Das Pfingstwunder»
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
«WIR BRAUCHEN GOTT, DER NICHT VERGISST…» Gespräch mit Sibylle Lewitscharoff über ihren neuen Roman «Das Pfingstwunder» Im Rahmen der Wiener Poetikdozentur «Literatur und Religion» hat die Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff am 19. April 2016 einen Vortrag «Mit Dante über Dante hinaus» gehalten, in dem sie nicht nur die Jenseitslandschaften der Divina Com- media eindrücklich vor Augen führte und an die teils sprachmächtigen Übersetzun- gen ins Deutsche erinnerte, sondern auch aus den Schlußpassagen ihres neuen Romans Das Pfi ngstwunder (Suhrkamp 2016) vorlas. Im Nachgang zu ihrem Vortrag hat der Theo- loge Jan-Heiner Tück mit der Schriftstellerin das folgende Gespräch geführt. Tück: Frau Lewitscharoff, Sie selbst haben in Ihren Büchern wiederholt eine literarische Erweiterung des Wirklichkeitsbegriffs durchgespielt. In Ihrem Ro- man Blumenberg sitzt der aufgeklärte Philosoph nachts am Schreibtisch und sieht plötzlich vor sich einen schläfrigen Löwen auf dem Teppich, mit dem er zu Rande kommen muß. In Ihrem Buch Consummatus trinkt sich der Prota- gonist bereits morgens in einem Stuttgarter Café in eine Stimmung hinein, die ihm das Gespräch mit seinen Toten erleichtert, als würden diese leben. Auch in Ihrem neuen Roman Das Pfi ngstwunder geschieht etwas, was eigentlich nicht geschehen dürfte … Was reizt Sie daran, die Grenzen des normalen Wirklich- keitsbegriffs zu überschreiten? Lewitscharoff: Der Roman ist dafür geeignet wie kaum eine andere Kunstform. Er kann sich in den Himmel hinaufschwindeln oder bis zum Glutkern der Erde hinabsteigen. Mit dem Totenreich haben sich ohnehin viele poetische Kunstwerke befaßt. Denken Sie nur an Dantes Commedia oder an die Reise des Orpheus in die Unterwelt. Vermutungen, Spekulatio- nen, Hoff nungen darüber, was nach dem Tod mit uns geschieht, haben ja auf der ganzen Welt einen enormen Reichtum an mythischen und religiösen SIBYLLE LEWITSCHAROFF, geb. 1954 in Stuttgart, lebt und arbeitet in Berlin. Ihr literari- sches Werk – zuletzt Consummatus (2006), Blumenberg (2011) und Killmousky (2014) – wurde 2013 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. IKaZ 45 (2016) 476–492 DOI: 10.14623/com.2016.5.476–492 22016_5Refo_Inhalt.indd016_5Refo_Inhalt.indd 447676 116.09.20166.09.2016 116:03:166:03:16 «Wir brauchen Gott, der nicht vergisst…» 477 Vorstellungen gestiftet. Nichts Ärmeres und Faderes als die weitverbreitete Vorstellung des ‹Aus und Weg› heutigentags. Damit konnte ich mich noch nie anfreunden. Deshalb heißt meine Devise: ‹Hoch oder Hinab.› In Ihrem neuen Roman Das Pfi ngstwunder reißen Sie den Himmel auf. Sechs- unddreißig Teilnehmer eines internationalen Dante-Kongreßes werden auf dem aventinischen Hügel in Rom just zu dem Zeitpunkt, als die Glocken des Petersdoms das Pfingstfest einläuten, von einer paradiesischen Drift erfaßt und nach oben gerissen. Einer aber, der Frankfurter Romanistikprofessor Gottlieb Elsheimer, bleibt sitzen – und muß mit ansehen, wie alle seine Kollegen, mit denen er bis gerade höchst angeregt über die Divina Commedia diskutiert hat, von der Schwerkraft des Himmels gepackt werden und himmelwärts entfleuchen. Er allein klebt an seinem Stuhl … Nichts ist nach diesem Vorkommnis so, wie es vorher war. Schon diese Ausgangslage des Romans widersetzt sich dem Dik- tat des literarischen Realismus, als wollten Sie dem Leser zuflüstern: Wer eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit ausklammert, ist kein Realist, sondern ein Reduktionist… Lewitscharoff: Ja, genau. Auch wenn ich es mir selbst nicht erlaube, an eine himmlische Auff ahrt lebender Körper ohne die Hilfe von Maschinen zu glauben, so reizt mich diese Vorstellung doch enorm. Seelen können es womöglich, Körper nicht. Dante hat es jedoch wider die Gesetze der Physik auf berückende Weise vorgezeichnet. In seiner wunderbaren Fiktion behauptet er ja, höchstselbst bei lebendigem Leibe in die Nähe Gottes, der Engel und der fl iegenden Seelen gelangt zu sein, die in einer schwirrenden Himmelsrosette zirkulieren. Daß nichts mehr ist, wie es einst war, erfahren Menschen für gewöhnlich in einer plötzlich über sie hereinbrechenden Ka- tastrophe. Mich hat das Umgekehrte interessiert. Was, wenn urplötzlich alles anders würde, weil eine unwahrscheinliche Glückserhebung die Menschen durchrauschte und ihre Zungen auf jubilierende Weise gelöst würden? Ich wäre gern dabei gewesen! Da ich es nicht kann, können es stellvertretend die Figuren in meinem Roman. Darin besteht ja der Kunstgriff des Romans, daß jemand dabei ist, als die jubi- lierende Glückserhebung geschieht – das Problem ist nur, daß der einzige Zeuge nicht darüber reden kann, weil er befürchten muß, für meschugge gehalten zu werden. Den Fragen der italienischen Polizei antwortet Elsheimer ausweichend. Wieder zuhause in Frankfurt angekommen, beginnt er mit Aufzeichnungen. Darin steht zu lesen: «Was vor wenigen Tagen in Rom geschah, hat alles über den Haufen geworfen. Ich kenne mich selbst nicht mehr.»1 Und: «Vorher – Nachher, das verbindet sich nicht mehr» (9) – in seiner grundstürzenden Ver- unsicherung fragt sich Elsheimer, was Kant wohl gemacht hätte, wenn ihm Ähn- 22016_5Refo_Inhalt.indd016_5Refo_Inhalt.indd 447777 116.09.20166.09.2016 116:03:166:03:16 478 Lewitscharoff – Tück liches widerfahren wäre (251)… Aus dem einzigen Zeugen eines Wunders eine glaubhafte literarische Figur zu machen, die nicht ins Kuriose abdriftet, das dürfte für Sie als Schriftstellerin nicht die geringste Herausforderung gewesen sein… Lewitscharoff: O ja, das ist schwer. Ob es gelungen ist, vermag ich selbst nicht zu beurteilen. Aber ich hatte Vergnügen an der Aufgabe. Ich bin selbst nicht sonderlich wundergläubig, würde aber sehr gern einmal von etwas überrascht werden, das meine Denkgewohnheiten und die übliche Seins- verfassung außer Kraft setzte. Bloß möchte ich hernach bitte nicht wie Els- heimer als depressiver Sack in meiner Wohnung herumschleichen müssen. Andererseits bieten außergewöhnliche Vorkommnisse, die sich den physi- kalischen Gesetzen entziehen, herrlichen Blühstoff für die Literatur. Man darf’s damit allerdings nicht übertreiben. Die Realität mit ihrer unerbittli- chen Zwingkraft muß präsent bleiben, sonst trudelt das Zeugs in ein phan- tasmagorisches Schwebebo-Schwibibi, und das ist schlicht fad. Der Kontrast macht’s. Hie knochentrockene Wirklichkeit, dort ein Schweben, Gleiten, Jauchzen, Tirilieren und sich Emporschwingen in ein glanzübersponnenes Sein, frei, leicht, befreit von jedem Fitzel erdverhafteter Bosheit. Gottlieb Elsheimer ist eine Figur, die mit dem Glauben gebrochen hat. Gleich mit dem ersten Wort des Romans wird dieser Bruch markiert: «Nein!» Els- heimer verweist auf die Erde als Hölle. Menschen, die hungern und verrecken, die erschossen und erschlagen werden – ohne daß Gott etwas täte! Das reicht, um den Himmel zu verabschieden. Mit einem apathischen Zuschauergott, dem «Schnarchsack da oben», will er nichts mehr zu tun haben. Das Wort «Wun- der», das auf das unerklärliche Vorkommnis in Rom genau passen würde, ist ihm zu groß und suspekt. Bemerkenswert nur, daß er als Romanist und Dante- Forscher mit den großen Fragen des Lebens schon länger zu tun hatte und «der göttlich durchblendete Realismus» der Divina Commedia sein fugendichtes Wirklichkeitsverständnis eigentlich hätte herausfordern müssen. Indem Elshei- mer die Vorträge des römischen Kongreßes im Gedächtnis noch einmal Revue passieren lässt und darin Fingerzeige für das Unerklärliche sucht, stellt sein Journal dem heutigen Leser eindrückliche Passagen aus Dantes Jenseitswande- rung vor. Dabei wird der «garstig breite Graben» zwischen der Welt der Divina Commedia und der lebensweltlichen Erfahrung heute immer wieder deutlich. Siebenhundert Jahre stehen dazwischen: die Kopernikanische Wende, Kant, die Religionskritik Feuerbachs und Nietzsches, aber auch die großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die den Himmel auf Erden versprochen, aber faktisch weithin die Hölle gebracht haben. Durch den Einbruch des Unerklärlichen, das Pfingstwunder, aber gibt der Chronist die professionelle Distanz des Philologen auf: «Komme ich womöglich selbst in diesem außerordentlichen Gedichtreigen vor und habe es nur noch nicht entdeckt?» (18) Wie einem Exegeten, der sich 22016_5Refo_Inhalt.indd016_5Refo_Inhalt.indd 447878 116.09.20166.09.2016 116:03:166:03:16 «Wir brauchen Gott, der nicht vergisst…» 479 jahrzehntelang mit textkritischen Fragen der Heiligen Schrift beschäftigt, ohne zu merken, daß er selbst als Person angesprochen ist, schwant Elsheimer, daß die Fragen Dantes über den Abgrund der Zeiten hinweg auch seine Fragen sein könnten. Wäre es möglich, daß nicht nur er Dante liest und befragt, sondern umgekehrt auch Dantes Werk ihn liest und sein Leben befragt? Lewitscharoff: Das hätte ich kaum genauer ausdrücken können. Emsig hat sich der Exeget als Romanist über Jahrzehnte hinweg über die Commedia und viele andere literarische Stoff e gebeugt. Zweifellos durchaus mit Liebe. Aber natürlich zugleich mit der Distanz, die nunmal in der Wissenschaft vonnöten ist (und die man auch nicht schlechtreden sollte, sie hat durch- aus ihre Vorzüge). Und nun, urplötzlich, fragt das große Werk zurück und wirft alles über den Haufen, was der Mann bisher geglaubt hat. Fast hätte ich geschrieben, es ‹schlägt zurück.› Es wehrt sich gegen die allzu profane Interpretation und erzeugt ein unheimliches Rauschen. Im Rahmen Ihrer Wiener Poetik-Vorlesung haben Sie darauf aufmerksam ge- macht, daß Dante die Divina Commedia streng durchkonstruiert hat, aber gerade durch die klare Konstruktion – drei Teile mit jeweils dreiunddreißig