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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 7. Januar 2002 Betr.: Titel, Serie, Schlink uch wenn es in der Titelgeschichte um das Ende der Welt geht, muss sich niemand ASorge um sein Leben (oder seine Ersparnisse) machen: Frühestens in einigen Quintillionen (1000000 000000000000000000000000) Jahren werden – nach Lage der Dinge – im Kosmos die Lichter ausgehen. „Noch nicht einmal die Himmelsforscher selber, die den Untergang des Universums vorausberechnen, kön- nen sich solche Zeiträume wirklich vorstellen“, sagt SPIEGEL-Wis- senschaftsressortleiter Olaf Stampf, 35, der die neuesten kosmo- logischen Erkenntnisse für den Titel zusammengetragen hat. Zu- dem erscheinen selbst hartgesottenen Astrophysikern die eigenen Szenarien über das Erlöschen der Sterne und den Zerfall sämtli- cher Materie inzwischen allzu düster und trostlos. Stampf: „In ihren Formeln haben die Forscher deshalb schon einen trickreichen

FRANK SCHUMANN / DER SPIEGEL SCHUMANN FRANK Ausweg gefunden, damit das Universum seinen eigenen Untergang Stampf überleben kann“ (Seite 148).

umindest in Deutschland verlief der Wechsel von Mark und Pfennig auf Euro und ZCent bislang weitgehend reibungslos. Hinter dem Radau der Währungsumstellung verborgen bleibt indes vielen die Sinnfrage: Was bedeutet es eigentlich, wenn nun die Menschen in zwölf Staaten mit gleichen Münzen und Scheinen bezahlen? Ist dies schon Ausdruck einer europäischen Identität, oder soll diese erst mit der einheitlichen Währung entstehen? Welches gemein- same Erbe hat überhaupt der einst in kleinste, oft gnadenlos verfeindete politi- sche Einheiten zersplitterte alte Konti- nent? „Woher kommt Europa?“, heißt eine neue, von SPIEGEL-Autor Michael Schmidt-Klingenberg, 55, konzipierte Se- rie, die in diesem Heft beginnt. Namhaf- te Experten und SPIEGEL-Autoren be- schreiben die historischen Wurzeln Eu- Europa-Serie ropas von der Antike bis zur Gründung der gegenwärtigen Staatengemeinschaft. Zum Auftakt schildert der Münchner Histo- riker Christian Meier die Geburt des kritischen Denkens und der modernen Wissen- schaften vor rund dreitausend Jahren: „Ein unerschöpflicher Quell“ (Seite 50).

ie in der internationalen Pisa-Studie festgestellten schlechten Leistungen deutscher DSchüler haben den Bestseller-Autor und Rechtsprofessor Bernhard Schlink, 57, nur mäßig überrascht. Fehlende Leselust und grobe Schreibschwächen beobachtet er auch bei seinen Studenten: „Was in manchen Klausuren steht, ist erbärmlich“, sagt Schlink im SPIEGEL-Gespräch mit den Redakteuren Volker Hage, 52, und Julia Koch, 29. Dass selbst der Deutschunterricht Schülern mitunter den Spaß am Lesen verdirbt, erfuhr der Autor inzwischen am eigenen Werk: In Unterrichtsma- terialien zu seinem Erfolgsroman „Der Vorleser“ werden die Schüler aufge- fordert, Bücher stets mit gezücktem Textmarker zu lesen und nach be- stimmten Merkmalen zu fahnden. „Ist das nicht eine schauerliche Vorstel-

HEIKO LASCHITZKI HEIKO lung?“, so Schlink, „entscheidend ist Hage, Schlink, Koch doch die Freude am Lesen“ (Seite 39).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 2/2002 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Kosmologen enträtseln die letzten Tage des Universums – und was danach kommt ...... 148 Merkel allein zu Haus? Seite 22 Deutschland Als Vorsitzende der größeren Unionspartei hat Angela Merkel den ersten Zugriff auf Panorama: Grüne streiten um die Kanzlerkandidatur, doch inzwischen raten selbst viele ihrer Anhänger zu einem Spitzenkandidaten / Organspenden Verzicht zu Gunsten von CSU-Chef Edmund Stoiber. In der K-Frage steckt auch ein von Klonschweinen?...... 17 Union: Merkel und Stoiber vor Streit um die politische Strategie: Kampf um die Mitte – oder den rechten Rand. dem Showdown ...... 22 CSU-Landesgruppenchef Michael Glos – ein Stratege auch in eigener Sache ...... 26 Parteienfinanzen: Die legalen Tricks der Schatzmeister ...... 28 Terrorismus: Ministerien warnen vor einem Angriff aus dem Cyberspace...... 31 Kommunen: Mit höheren Gebühren und schlechteren Leistungen gegen die Pleite ... 32 Religion: Prominente werben für eine rechte Christen-Organisation aus Florida ...... 38 Bildung: SPIEGEL-Gespräch mit Bestsellerautor Bernhard Schlink über die Leseschwäche deutscher Schüler...... 39 Justiz: Die Verstrickung der Sportlegende Carl Diem in Hitlers Endkampf ...... 44 Serie Auf der Suche nach der europäischen Identität ...... 50 / DPA ALTWEIN ANDREAS Rivalen Merkel, Stoiber Christian Meier über das Erbe der Antike ...... 54 Wirtschaft Trends: Finanzministerium korrigiert Wachstumsprognosen weiter nach unten / Riesters Blamage in der EU-Förderaffäre / Seite 28 Fluglotsen in der Krise...... 67 Gesetzgeber in eigener Sache Geld: Aktien 2002 – Die Stimmung hellt Anrüchige Finanzpraktiken wie beim CSU-Organ „Bayernkurier“ sollen legal sich auf / Chancen im Osten ...... 69 bleiben. Das neue Recht zur Parteienfinanzierung regelt trotz Lehren aus dem CDU- Währung: Glänzender Start für den Euro ...... 70 Spendenskandal nur das Allernötigste: Auch in Zukunft werden der Kreativität der Handwerk: Hat sich der Zentralverband der Branche mit seinem Schatzmeister bei der Aufbesserung ihrer Kassen kaum Grenzen gesetzt. Internet-Portal übernommen?...... 73 Schulden: In Japan boomt das Geschäft dubioser Kreditfirmen...... 76 Unternehmer: Ein isländischer Airline-Chef profitiert von Pilgerreisen...... 78 Arbeitswelt: Die Erfahrungen der Baby nach Maß Seite 100 US-Sozialkritikerin Barbara Ehrenreich Ein britisches Paar will im Reagenzglas genau das Kind her- als Putzfrau und Verkäuferin...... 80 stellen, das mit seinen Stammzellen einen kranken Sohn Berufe: Wie Controller versuchen, ihr retten kann. Lebensschützer protestieren, Zains Eltern sa- Erbsenzähler-Image abzulegen ...... 84

HANSON / ARENA IMAGES gen: „Wir gehen so weit, wie die Wissenschaft uns trägt.“ Medien Trends: Neue Kandidaten im ZDF- Patient Zain Intendantenstadl / Interview mit TV-Star Anke Engelke über Frauen-Comedy und Männer-Witz ...... 87 Fernsehen: Vorschau...... 88 Presse: SPIEGEL-Gespräch mit dem neuen Springer-Chef Mathias Döpfner über Testfahrten für den Weltmeister Seite 106 Finanzdebakel und Polit-Visionen in Europas größtem Zeitungshaus...... 90 Von dieser Woche an testen die Moderatoren: Der Erfolg des „blonden Gifts“ Formel-1-Teams ihre neuen Au- Barbara Schöneberger...... 95 tos. Die Arbeit bei teilen sich Weltmeister Michael Schu- Gesellschaft macher und Szene: Designer-Mode aus Einkaufstüten / mit zwei Testpiloten. Müssten die Reaktion auf Bioterror / Rennfahrer alle Kilometer selbst Internet-Überwachung für Sexualstraftäter...... 97 absolvieren, so ein Teamchef, Familienplanung: Eine britische Familie „wären sie im Mai ausgebrannt“. / BONGARTS BRANDT MARCUS will das perfekte Kind im Reagenzglas zeugen, um ihren kranken Sohn zu retten ...... 100 Ortstermin: Die Bundesmarine zieht Schumacher, Barrichello in den Krieg – aber wohin?...... 105

6 der spiegel 2/2002 Sport Formel 1: Mit Testfahrten starten die Autokonzerne in eine neue Materialschlacht .. 106 Olympische Winterspiele: Tierschützer protestieren gegen Rodeo im Kulturprogramm ...... 109 Ausland Panorama: Ukrainische Waffen für die Taliban? / Brasiliens Entführungsindustrie ...... 111 Argentinien: Absturz in die Anarchie ...... 114 Terrorismus: Al-Qaida vor US-Gericht ...... 118 Flugsicherheit: Hightech gegen den Terror.... 120 USA: Washingtons Öl-Mann für Afghanistan ...... 122 Indien/Pakistan: Musharraf in der Zwickmühle ...... 122 Afghanistan: Ein Bundeswehrarzt hilft Kindern auf eigene Faust...... 124 KAI PFAFFENBACH / REUTERS KAI PFAFFENBACH Essay: Der israelische Historiker Euro-Feier in Frankfurt am Main Reuwen Moskowitz über Scharons Politik der Härte im Palästina-Konflikt ...... 126 Australien: Die Feuerwalze Der Euro erobert Europa Seite 70 von Neusüdwales ...... 128 Polen: Der Kampf des eisernen Generals Damit hatten selbst die optimistischen Zentralbanker nicht gerechnet: Fast überall in Jaruzelski um sein Ansehen ...... 130 Europa versuchten die Bürger, ihre alten Scheine und Münzen so schnell wie mög- Großbritannien: Muslime im Abseits...... 132 lich loszuwerden. Die reibungslose Euro-Einführung beflügelte auch den Kurs der neu- Wissenschaft · Technik en Währung. Aber wird sie auch langfristig erfolgreich sein? Prisma: Giftige Luft in Neuwagen / Kannibalismus bei den Kelten ...... 135 Tiere: Wie Berliner Veterinäre Elefanten und Nashörnern bei der Fortpflanzung helfen ...... 138 Argentiniens Elend Seite 114 Automobile: Der neue Luxuswagen von Lancia...... 140 Nach 18 Jahren Demokratie droht in Argenti- Bioethik: Interview mit dem Ethikrat- nien wieder eine Regierung der eisernen Hand. Vorsitzenden Spiros Simitis über voreilige Unruhen, Plünderungen und Gewalt lähmen das Heilsversprechen der Stammzell-Forscher...... 144 Land. Nun soll mit Präsident Eduardo Duhalde Medizin: Altersbeschwerden durch ausgerechnet der Mann das Land konsolidie- falsch dosierte Medikamente ...... 146 ren, dem die Menschen bei der letzten Wahl Kultur

DANIEL VIDES / AFPDANIEL / DPA vor zwei Jahren eine Abfuhr erteilten. Szene: Dresden feiert die legendäre Tänzerin Gret Palucca / Das neue Werk der Polizeieinsatz gegen Demonstranten britischen Krimi-Königin P. D. James ...... 159 Spektakel: Harald Schmidts Theaterauftritt als Beckett-Darsteller in Bochum ...... 162 Klassische Musik: Interview mit dem Pianisten Maurizio Pollini über die Schönheit zeitgenössischer Musik ...... 164 Gefährliche Medizin für alte Menschen Seite 146 Kino: Der spanische Regie-Wunderknabe Alejandro Amenábar und sein Horrorfilm Viele alte Menschen werden nur deshalb von Schwindelanfällen oder Verwirrtheit ge- „The Others“...... 166 plagt, weil ihr Hausarzt sie falsch behandelt: Die typischen Altersbeschwerden sind Film: Die Gaunerkomödie „Ocean’s Eleven“ oft auf unerkannte Nebenwirkungen von Arzneien zurückzuführen. mit George Clooney und Julia Roberts...... 168 Schriftsteller: Die wüsten Liebes- und Todesgeschichten der schottischen Autorin A. L. Kennedy ...... 169 Bestseller...... 173 Theater: Tony Kushners Bühnenhit Theater-Rummel um Harald Schmidt Seite 162 „Homebody/Kabul“ in New York ...... 174 Längst ist Harald Schmidt, der einst in Pop: Der internationale Erfolg des deutschen Discjockeys Timo Maas ...... 175 Augsburgs Stadttheater nur kleinste Rollen bekam, zu Deutschlands bes- Briefe ...... 8 tem TV-Entertainer gereift. Mit Rie- Impressum ...... 176 senrummel kehrte er nun in Bochum Leserservice ...... 176 auf die Bühne zurück: als Lucky in Chronik...... 177

ARNO DECLAIR Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Register...... 178 Personalien...... 180 Schmidt Hohlspiegel/Rückspiegel...... 182 TITELBILD: Illustration Rafal Olbinski für den SPIEGEL; SPL/Agentur Focus

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untergehen, dem geistigen und praktischen Nihilismus, egal in welcher Couleur er da- „Ich muss Sie loben: Ein hervorragender herkommt, im Kampf stellen müssen. Artikel! Es stimmt jede Zeile. Sie bringen München Dietrich Schirm wertvolle Beiträge historischer Personen. Alle Kriege sind irrational und können Sie liefern einen inhaltsvollen Gang durch wohl nur evolutionstheoretisch bezie- die Geschichte. Mit Ihrem eigenen hungsweise soziobiologisch erklärt werden; besonders gefährlich wird es aber, wenn Urteil halten Sie nicht hinterm Berg. Religion und Politik nicht getrennt wer- Wie gut, dass es den SPIEGEL gibt.“ den. Anders als die Autoren Ihres brillan- ten Artikels bin ich der Ansicht, dass auch Heinz-Georg Bussmann aus Marl in Nordrhein-Westfalen zum Titel dem US-Präsidenten die Frage gut anstün- „Der Glaube der Ungläubigen – Welche Werte hat der Westen?“ de, was der Okzident gegenüber dem Ori- SPIEGEL-Titel 52/2001 ent falsch gemacht habe. Im Übrigen kann Hass nicht militärisch besiegt werden. Brühl (Nrdrh.-Westf.) Albrecht Gach Orient die Zeit, die ja Geld sein soll, der Feldbusch statt Kant? Rohstoff, der am reichhaltigsten vorhan- Die Werte, um die sich die Menschen im Nr. 52/2001, Titel: Der Glaube der Ungläubigen – den war? Westen am meisten sorgen, sind die Bör- Welche Werte hat der Westen? Aachen Jürgen Fiedler sen- und die Cholesterinwerte. Kirchheim (Bayern) Klaus Scheffler Den Wert der menschlichen Individualität Seit dem 11. September lässt sich in der dumpfen Masse der Fundamentalisten Deutschland eine spezielle Variante des so- Ihr Beitrag war eine wertvolle Anregung und Traditionalisten gegenüber zu stellen genannten Stockholm-Syndroms beobach- für nachdenkliche Gespräche unter dem ist das Eine. Etwas anderes ist es, ob der ten. Die Symptome: Eine oftmals kollek- Christbaum. Er enthält viel geschichtliche Einzelne in der westlichen Kultur in der tive Identifikation mit den vorgeblichen und geistige Substanz. Aber das Entschei- Lage ist, diesen seinen Individualismus Motiven der Attentäter, er- durch Selbstkritik zu gestalten, wenn er wachsen womöglich aus ei- nur von kritikloser Selbstdarstellung und nem mangelnden kulturel- ungehemmtem Konsum umgeben ist. Das len Selbstbewusstsein. Ihre ist etwas, worauf wir Westler achten müs- Titelgeschichte war eine sen, wenn wir den Wert unserer Kultur längst fällige Therapie. weltweit rechtfertigen wollen, damit ande- Eupen (Belgien) re diesen Wert akzeptieren können. Marcel Schmetz Eslohe (Nrdrh.-Westf.) Arno Albers Bin Laden hinterlässt seinen Die Autoren scheinen allen Ernstes zu glau- Fußabdruck leider nicht in ben, die Ideen der Aufklärung seien in der der Wüste, sondern mitten „westlichen Zivilisation“ Realität gewor- in Manhattan. Prüfen Sie den. Das Hohngelächter ist mir im Hals die zukünftigen Geschichts- stecken geblieben. Diese Gesellschaft mit bücher! ihrer unersättlichen Raffgier, ihrer boden- Hitzacker (Nieders.) losen Ignoranz und ihrem oberflächlichen Michael Wiesemann

Narzissmus ist Verrat an der Aufklärung, / KNA RADTKE und die Horizonte werden nicht von Vol- Welche Werte braucht der Jugendkirchentag in Rom: Vor Gott sind alle gleich taire, Kant, Goethe oder Marx (pardon) ge- Westen? Ob Kritik, Wider- setzt, sondern von McDonald’s, Pokémon, spruch, Diskurs, das heißt der universelle dende fehlt: Die Mensch gewordene Liebe Franz Beckenbauer und Verona Feldbusch. Zweifel, ausreicht, die westliche Freiheit Gottes in Jesus Christus, dem Menschen- Bonn Günter Neuberger zu verteidigen, muss bezweifelt werden. sohn, dem Prototyp des Menschen, wie er Aber auch wenn die Philosophie seit der sein sollte, ohne den es keine Menschen- Es ist schade, dass Sie in Ihrem Beitrag Aufklärung die Suche nach der Wahrheit rechte, damit auch keine Aufklärung, kei- nicht die für das Abendland so charakteris- als sinnlos abgehakt hat, könnte sie sich ne Demokratie, keinen Eigenwert jedes tische Fortschrittsideologie angesprochen immerhin noch die geschichtlichen Fakten Menschen gäbe. Freiheit, persönliche Ent- haben, die ja eine Übernahme des christli- in Erinnerung rufen. Eine Erkenntnis könn- faltung inmitten pluralistischer Wahlchan- chen Dogmas ist, welches sich die Zeit als te dann sein, dass wir uns, wollen wir nicht cen ist gut, aber ohne Wahrheit, an die wir linear auf einen Endpunkt zulaufend vor- stellt. Während wir uns im besinnungslosen Wettlauf von Fortschritt zu Fortschritt be- Vor 50 Jahren der spiegel vom 9. januar 1952 finden, finden wir doch gar keine Zeit, uns „Den Brüdern im Osten zur Zuversicht“ Antwort von FDP-Politiker mit der metaphysischen Dimension der August Martin Euler auf Jens Daniels Kommentar. Reichskanzler a. D. Realität zu befassen. Hatten denn die Joseph Wirth in Ost-Berlin Ein Wunsch geht in Erfüllung. Kirchenpräsi- Wohltäter der Menschheit und Missionare dent Niemöller im Kampf gegen Deutschlands West-Integration auf des Fortschritts Recht, als sie behaupteten, Russlandbesuch Ein Christ mit Auftrag. Ehekrieg in Osnabrück mit politischen Folgen Zum Don Giovanni muss man geboren sein. Zähe der größere Teil der Menschheit müsse ei- Verhandlung um Waffenstillstand in Korea Kommunisten setzen auf nen vermeintlichen Rückstand aufholen? Verzögerungstaktik. Haben wir dabei vielleicht eine Gelegen- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de heit verpasst, um etwas von anderen Titel: Schriftsteller Erich Maria Remarque Kulturen zu lernen? Warum war denn im

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Werbeseite Briefe uns binden, nach der wir zumindest su- tentum ansehen? In völligem Einklang mit chen, ohne Liebe, die wir existenzial er- der islamischen Religion antworte ich auf fahren und die wir real weitergeben, bleibt diesen Artikel daher mit den Worten des unser Leben sinnarm, wird Freiheit Will- katholischen Ordenspriesters Phil Bos- kür, werden Staaten zu Räuberbanden. mans: Ich glaube an die Liebe, auch wenn Eisenbach (Bad.-Württ.) Prof. Ulrich Beer man an Feindschaft festhält und den Hass anstachelt. Schon Nathan der Weise antwortet im Kaiserslautern Dr. Hischam Bassiouni gleichnamigen Drama von Lessing auf die Frage, ob Christentum, Judentum oder Is- lam die wahre Religion sei, mit der Parabel 400 Jahre alter Kredit von den drei Ringen, die einander so sehr Nr. 52/2001, Hexen: Auch Männer wurden verbrannt gleichen, dass sie in ihrem Wert nicht mehr zu unterscheiden sind: Darum kann man Der wirklich gute Artikel räumt mit einigen auch keiner der drei Religionen den Vorzug gängigen Vorurteilen auf. Zum Beispiel da- geben. Vor Gott sind sie alle gleich, und mit, die Hexenverfolgungen wären ein diejenige ist die beste, die am meisten mit Werk des „dunklen“ Mittelalters. Die Zah- den anderen in der von len belegen, dass ein Vorurteilen freien Liebe Großteil der Verfolgun- wetteifert. gen in der Frühen Neu- La Baule (Frankreich) zeit stattfand. Gut ist Hans Buchholz auch der Hinweis auf die Änderung der Spenden- Zur Frage, welchen Glau- praxis. Im 15. Jahrhun- ben die „christlichen“ dert hatte der Bettel im Nationen zu verteidigen Heiligen Römischen Reich hätten: Als Götter vereh- Deutscher Nation extrem ren wir die Stars der Me- zugenommen, und die dien aus Film, Politik und Obrigkeit fürchtete eine Sport und deren materi- Ausnutzung des öffent- ellen Reichtum. Unser lichen Fürsorge- und Ar- Glauben besteht einzig in menwesens. Deshalb teil- dem Glauben an unsere te man die Bedürftigen in eigene Stärke, Unfehlbar- „ehrliche Bettler“ und in keit und äußere Schön- solche ein, die „zu faul heit. Werte wie Moral, zum Arbeiten waren“ – Ethik oder soziales Ge- die so genannten starken

wissen haben wir aus AKG Bettler, die man bekämp- freien Stücken ohnehin Hexenverbrennung* fen musste. Übrigens war schon dem heiligen Kapi- Gehätschelter Mythos die Zunahme des Bettels talismus geopfert. Will- auch ein Grund für die kommen in der wertlosen Welt der Kon- Verfolgung der Zigeuner, die in dieser Zeit sumenten! ihren Anfang nahm. Usingen (Hessen) Ralf Hujer München Martha Igelspacher

Ist es nicht überaus seltsam, dass manche Die Geschichte von Dietrich Flade hat bis Zeitgenossen erst geschockt sind und sich heute noch kein Ende gefunden. Unab- aufrappeln, die Werte zu verteidigen, „um hängig davon, ob Flade seinerzeit der die es nicht nur im Westen geht“, von de- reichste Mann von Trier war oder nicht, nen aber die meisten Menschen außerhalb war er immerhin so vermögend, dass er des „Westens“ noch nie etwas gespürt ha- der Stadt ein beachtliches Darlehen geben ben, wenn unsere „Zivilisation“ bedroht konnte. Durch seine Verurteilung und sei- wird, unsere zügellose „Freiheit“, unser nen Feuertod fielen nicht nur Flades Ver- perverser Reichtum, unsere Überfluss-, mögen, sondern auch seine Außenstände Spaß- und Wegwerfgesellschaft? an die Kirche, die hierdurch zum Gläubi- Bergheim (Nrdrh.-Westf.) W. Schmitt ger der Stadt wurde. Noch heute sieht der städtische Verwaltungshaushalt im Unter- Auf den Artikel passen Grillparzers Wor- abschnitt 3700 „Kirchliche Angelegenhei- te: Der Mensch versteht alles, nur das völ- ten“ jährlich die Zahlung eines Betrages lig Einfache nicht. Und es ist ganz einfach. von bislang 709 Mark unter dem Titel „Ver- Denn wer sich nach seiner Religion richtet, pflichtung auf den Fladeschen Nachlass“ ob Christ, Muslim oder Jude, behandelt an die Kirche vor. Diese „Schuld“ der seine Mitmenschen, ob gleich- oder an- Stadt der katholischen Kirche gegenüber dersgläubig, mit Respekt und Toleranz. hat die Säkularisierung, die Zeit der ein- Auch hierfür gibt es für jede Religion ge- deutig protestantisch geprägten preußi- schichtliche Beispiele. Terror, gleich von schen Herrschaft ab 1815 und die Nazi- wem, ist grundsätzlich unreligiös, oder würden Sie das Steinewerfen auf Kinder in * Holzstich nach einer Zeichnung von Gottfried Franz Nordirland als repräsentativ für das Chris- (1846 bis 1905).

12 der spiegel 2/2002 Diktatur von 1933 bis 1945 überstanden. Vor wenigen Tagen hat der Papst einen neuen Bischof für das Bistum Trier er- nannt. Ob der neue Oberhirte, der im Frühjahr 2002 sein Amt antreten wird, möglicherweise bereit ist, als Einstand die Stadt von der endlosen Abzahlung ihres über 400 Jahre alten Kredits zu entbinden? Trier Raimund Scholzen

Wieder geht ein gehätschelter Mythos der Frauenbewegung „zum Teufel“. Es war also keineswegs ein Krieg der Männer ge- gen die Frauen, wie uns immer wieder ein- gehämmert wurde – als Rechtfertigung für diverse Forderungen. Vielleicht sollten wir einfach damit aufhören, gegenseitig Opfer aufzurechnen, und lieber dafür sorgen, dass sich solche Fehlentwicklungen nicht mehr ereignen. Der Verzicht auf Funda- mentalismus und Fanatismus – jeder Cou- leur – ist dafür wohl eine Voraussetzung. Baden-Baden Rudolf Hege

Im Namen des Volkes Nr. 52/2001, Panorama: Krankenkassen Die Sozialgerichte in Baden Württemberg haben nur das Recht des Klägers aus dem Sozialgesetzbuch V bestätigt. Danach ha- ben Versicherte der gesetzlichen Kranken- versicherung Anspruch auf Krankenbe- handlung, wenn sie notwendig ist, und dies schließt die Versorgung mit Arzneimitteln ein. Warum weist die Bundesgesundheits- ministerin als Fach- und Rechtsaufsicht den Bundesausschuss Ärzte und Kranken- kassen nicht an, seinen rechtswidrigen Beschluss vom August 1998 endlich rück- gängig zu machen? Jedem Betroffenen kann man nur empfehlen, den Rechtsweg zu beschreiten, um seine Ansprüche ge- genüber den Krankenkassen durchzu- setzen. Stuttgart Helmut Schmidt DPA Viagra-Tabletten Notwendige Arzneimittel?

Im Namen des Volkes wurde Recht ge- sprochen. Die gesetzlichen Krankenkassen und damit die Beitragszahler werden ge- zwungen, ein Medikament zu finanzieren, das bei gewissen Umständen zum Tode führen kann. Müssen dann die Kassen auch für Regressansprüche aufkommen? Diese Kosten könnte man ja bei den Akut- und chronisch Kranken einsparen. Hamburg Rolf Ringleb der spiegel 2/2002 13 Nachhaltige Auswirkungen Nr. 52/2001, Parteien: Wohin führt der Vormarsch der Populisten?

„Richter Gnadenlos“ vermag die Partei- enlandschaft tüchtig durcheinander zu bringen. Stellt er sich mit personellen Fehl- entscheidungen nicht selbst ein Bein, kann er die CDU in den neuen Ländern mar- ginalisieren. Am nachhaltigsten wirkt sich die Schill-Partei jedoch auf die Expan- sionspläne der FDP aus. Schill bezeichnet seine Partei als liberal. Darüber lässt sich natürlich streiten. Richtig ist jedenfalls, dass er mit seiner auf erhöhte Sicherheit abzie- lenden Politik die Interessen bürgerlich- liberaler Wähler trifft. Die FDP sollte da-

FRANK DARCHINGER FRANK her die noch bestehende organisatorische Telekom-Zentrale in Bonn: Der „bedauerliche Einzelfall“ als Standardentschuldigung Schwäche von Schill ausnutzen, um ihr ei- genes bürgerliches Profil zu schärfen. Auch ten“ Telekom am Werk sind, kann sich Liberale möchten nicht überfallen werden. Rufe in ein schwarzes Loch doch nicht viel geändert haben. Bei – meist Erlangen Gerhard Meyer Nr. 52/2001, Telekommunikation: lustigem – Briefwechsel mit dem Deut- Wie verlässlich sind die Rechnungen der Telekom? schen Beamtenbund ist übrigens der „be- Die FDP verliert durch die Koalition mit dauerliche Einzelfall“ seit Jahrzehnten die „Schill“ in Hamburg an Glaubwürdigkeit. Als Mitarbeiter eines langjährigen mittel- Standardentschuldigung für alles. In den siebziger Jahren war sie noch links- großen Kunden der Telekom mit Hunder- Odenthal (Nrdrh.-Westf.) liberal und ökologisch eingestellt (Freibur- ten von Anschlüssen und Mietleitungen Karl-Ernst Möhrstedt ger Thesen), dann sozialliberal (Ära Gen- kann ich das Chaos mit den monatlichen scher) – und heute rechtspopulistisch? Rechnungen nur bestätigen. Jede Rekla- Ich kann jedem Kunden nur einen Tipp Wiesbaden Dierk Offenberg mation scheint von ganzen Heerscharen geben: Der Telekom die Einzugsermäch- unterschiedlicher Sachbearbeiter behan- tigung entziehen, Telefonrechnung und Nicht nur Wechselwähler, rechte Populis- delt zu werden, die alle über einen ande- 1. Mahnung abwarten, Rechnung mit Mah- ten und linke Vielredner haben eine Ver- ren Kenntnisstand verfügen. Allerdings nung vergleichen. Ich habe es noch nie er- änderung des alten Parteiensystems be- verrechnet sich die Telekom gerade beim lebt, dass die Rechnungssumme mit der wirkt. Einen nicht minder großen Anteil an Mietleitungsgeschäft auch mal zu Gunsten der Mahnung übereinstimmt. So viel zum des Kunden oder vergisst monatelang, sol- Thema: „Bedauerlicher Einzelfall“. Es ist che Leitungen in Rechnung zu stellen, so unglaublich, wie die Telekom AG mit ihren dass sich der Schaden teilweise wieder aus- Kunden umgeht. Inkompetente und un- gleicht. freundliche Mitarbeiter bei der „Service“- Bonn Sven Dirks Hotline, Leistungen, die nicht erbracht wurden, werden in Rechnung gestellt et In jedem Unternehmen kann ich bei Re- cetera, et cetera. Fast schon beruhigend, klamationen einen Mitarbeiter als An- dass auch Großkunden verladen werden. sprechpartner identifizieren. Nicht so bei Das Problem ist, dass die meisten Kunden der Telekom. Hier scheint es, als ob man in sich nicht im Klaren darüber sind, dass es ein „schwarzes Loch“ hineinruft. Man er- durchaus Alternativen zur Telekom gibt! hält keine Information über den Stand der Wiesbaden Wibke Debus Reklamation und keinerlei Nachweis, dass

die Telekom überhaupt etwas unternimmt. / AP STACHE CHRISTOF Die Telefonate laufen in Schwerin auf, die Keine Zahlungen Koalitionspartner Schill, Beust, Lange Faxe in Bonn, so dass die Linke nicht weiß, Nr. 37/2001, Panorama: Funktionäre Gefahr für CDU und FDP was die Rechte (nicht!?) tut. Und das Schönste: In meiner letzten Telefonrech- In Ihrer Meldung schreiben Sie, ich hätte dieser Entwicklung hat die steigende Zahl nung wurden die Gespräche zur „kosten- nach dem Ende meiner Tätigkeit als Vor- der Desinteressierten, Gefrusteten, der freien“ Reklamationshotline auch noch be- sitzender der Vertreterversammlung der Nichtwähler. Insofern wäre es aufschluss- lastet. Ohne Einzelgesprächsnachweis wäre Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-An- reich gewesen, wenn Sie die Entwicklung auch dieser Fehler kaum aufgefallen. Ich halt weitere Zahlungen erhalten. Dies trifft der Wahlbeteiligung gezeigt hätten. warte inzwischen ungeduldig darauf, dass nicht zu. Ein Anspruch auf Zahlung einer Nürnberg Bernd Vestner auch in ländlichen Regionen endlich wei- solchen Übergangsentschädigung entstand tere Anbieter für die letzte Meile auftreten, nach der gültigen Richtlinie nur, wenn die Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- um diesem Verein endgültig den Rücken ehrenamtliche Funktion länger als eine schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. zukehren zu können. Wahlperiode ausgeübt worden ist. Ich war Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] Ochtrup (Nrdrh.-Westf.) Rudolf Schüller jedoch nur eine Wahlperiode tätig, so dass ich keinerlei Zahlungen erhalten habe. Wir sollten mit der Telekom nicht zu streng Halle (Saale) Dr. Justus Brockmann In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befinden sich ein Postkartenbeikleber des SPIEGEL-Verlages/Abo, ins Gericht gehen. Da überwiegend noch Hamburg, und eine Beilage der Firma amazon.de, die gleichen Beamten bei der „privatisier- Anm. d. Red.: Herr Brockmann hat Recht. München.

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GRÜNE Wer wird Spitze? m Schatten der Diskussion um die K- IFrage bei der Union ringen auch die Grü- nen erbittert um die Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl 2002. Erstmals in ihrer Geschich- te wollen die Alternativen offensiv eine Leitfigur auf ihren Plakaten präsentie- ren. Doch seitdem der Bundesvorstand kurz vor Weihnachten einen Perso- nalvorschlag für die nächs- te Parteiratssitzung am 21. Januar ankündigte („Der Sack muss zugemacht wer-

den“), streitet die Führung / FTD RADEMACHER UTA heftig über mehrere Vari- Ökosteuer-Werbung, Fischer (u. l.) mit Spitzen-Grünen anten. Als wahrscheinlich gilt, dass Außenminister ten Fischer signalisiert. Wegen der Schärfe des Streits wird als Joschka Fischer als alleini- Notlösung aber auch der Rückzug auf die lang geübte Praxis er- ger Spitzenkandidat antritt. wogen: den völligen Verzicht auf Spitzenkandidaten. Aus der Parteiführung, die Abseits ihrer K-Frage haben die Ober-Grünen sich geeinigt, ihren die Kür ganz ungrün ohne Basisbeteiligung betreibt, wollen aber Mini-Werbeetat für den Wahlkampf (rund 1,5 Millionen Euro) an gleich zwei Frauen mit dem übermächtigen Patriarchen Fischer die Hamburger Agentur „Zum goldenen Hirschen“ zu vergeben. eine klassisch grüne Doppelspitze bilden: die populäre Ver- Die Werber, die für Trittins Ministerium eine peppige Ökosteu- braucherministerin Renate Künast und Parteichefin Claudia er-Kampagne entwickelt hatten, beeindruckten selbst den zu Roth, die offenbar besondere Ambitionen auf eine herausgeho- Nörgelei neigenden Außenminister. „Die sind’s“, so Fischer nach bene Position im Wahlkampf erkennen lässt. Aus dem Spiel der Präsentation, „die fordern unsere Kreativität.“ Verbrau- scheint Umweltminister Jürgen Trittin; im Parteirat hat der un- cherministerin Künast hat schon einen Wahlslogan parat, falls geliebte Linke bereits Unterstützung für einen Spitzenkandida- sie zur Spitzenfrau gekürt wird: „Jetzt geht’s um die Wurst.“

INTERNET HAUPTSTADT Neonazi narrt Schily Freundliche Geste undesinnenminister Otto Schily (SPD) liegt in ei- ie Berliner SPD, die diese Bnem bizarren Wettstreit mit dem weltweit berüch- DWoche ihre Koalition mit der tigten US-Neonazi Gary Lauck um Namensrechte PDS besiegeln will, übt sich in („Domains“) im Internet. Wer die www-Adresse „Bun- Schadensbegrenzung gegenüber desinnenministerium.com“ eingibt, gerät statt zu Schily Bundeskanzler Gerhard Schrö-

direkt auf die Hakenkreuz-gezierten Seiten von Lauck, der. Die künftige rot-rote Landes- / DPA ALTWEIN ANDREAS der sich die Rechte an der Netzadresse besorgt hat. regierung, so die Präambel des Gysi, Wowereit Schily lässt deshalb weitere Namen für sich sichern, die Koalitionsvertrages, verpflichte den Begriff „Innenminister“ enthalten. Auch die „Zu- sich zu „bundesfreundlichem westlichen Wertegemeinschaft wanderungskommission“ wurde reserviert – die Nazi- Verhalten“. Der Senat wisse, dass eingebunden ist“, heißt es in dem Szene soll sich nicht weiter über die „ganz schön dilet- er auf die „Solidarität des Bun- Präambel-Entwurf. „Die Koali- tantischen obersten Gesinnungswächter“ (so ein Neo- des“ angewiesen sei, und handle tion wird den Verpflichtungen nazi-Onlinedienst) lustig machen können. Vor der deshalb gleichfalls solidarisch. und Erwartungen, die aus der Uno-Schlichtungsstelle für Netz-Streitigkeiten (Wipo) Mit dieser Formulierung wollen Funktion Berlins als Hauptstadt will Schily nun Lauck Domains streitig machen. Die die Sozialdemokraten sicherstel- Deutschlands resultieren, daher internationalen Netzadressen des Verfassungsschutzes, len, dass die PDS wichtige bun- nachkommen“ – eine Art Lex die teils seit März 2001 zu Lauck führten, hat der Minis- despolitische Entscheidungen im Afghanistan gegen die PDS, die ter inzwischen zurückgewonnen. Schilys Leute hatten Bundesrat mitträgt. Auch außen- sich zudem vom Mauerunrecht bei Laucks Internet-Anbieter Druck gemacht und sich politisch soll Gregor Gysis Trup- und von der Zwangsvereinigung ohne Wipo geeinigt – Glück für den Minister. Denn bei pe zur Staatsräson gezwungen der KPD mit der SPD distanzie- Gattungsbegriffen wie „Verfassungsschutz“, so der werden: „Berlin repräsentiert ren muss. Ende der Woche sollen Netzrechtler Thomas Hoeren, „ist keineswegs sicher, eine der führenden Industrie- Parteitage beider Partner das dass allein die Behörde einen Anspruch darauf hat“. nationen der Welt, die in der Bündnis offiziell beschließen.

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BIOWISSENSCHAFT Streit ums Schwein ie Bundesärztekammer (BÄK) Derwartet, dass deutsche Medi- ziner in naher Zukunft Organe von Schweinen in kranke Menschen verpflanzen. Derzeit sind die um-

strittenen Transplantationen vom REUTERS Tier auf den Menschen („Xeno- Klonschweine, Mediziner Kurth transplantation“) rechtlich nicht ge- regelt. Mit Hochdruck erarbeitet eine Kommission der BÄK des- würden vom Körper des Menschen ver- halb derzeit eine Richtlinie zur Xenotransplantation. Weil die Ex- gleichsweise gut vertragen. „Die Xenotrans- perten über die Gefahren jedoch streiten, hat sich die bereits für plantation ist eine ernst zu nehmende The- das vergangene Jahr geplante Veröffentlichung der Richtlinie im- rapiemöglichkeit für die vielen tausend Men- mer wieder verschoben. Die jetzt bekannt gewordene Geburt schen, die auf ein Spenderorgan warten“, neun geklonter Schweine setzt die Kommission noch stärker un- glaubt Tönjes, der die Gefahren für gering

ter Zeitdruck; die Richtlinie soll nun „spätestens im Sommer fer- hält. Skeptischer beurteilt der Direktor des MICHALKE NORBERT tig sein“, so der beteiligte Virologe Ralf Tönjes vom Bundesamt Berliner Robert-Koch-Instituts, Reinhard für Sera und Impfstoffe. Gleich zwei Forschergruppen eines schot- Kurth, die Entwicklung: „Wir wissen nicht, wie sich Viren des tischen und eines amerikanischen Biotech-Unternehmens hatten Schweins im Körper des Menschen verhalten würden“, so Kurth, in den USA für die Xenotransplantation gentechnisch maßge- der ebenfalls an der Richtlinie mitarbeitet. Dass neuartige Infek- schneiderte Ferkel erzeugt: Den Tieren fehlen bestimmte Anti- tionskrankheiten entstehen, sei nicht völlig auszuschließen. Nötig gene, die vom menschlichen Immunsystem besonders heftig ab- sei deshalb eine „breite gesellschaftliche Debatte, ob die Risiken gestoßen werden. Organe aus diesen Tieren, so die Vermutung, der Xenotransplantation in Kauf genommen werden können“.

KIRCHEN Bischof im Kreuzverhör atholische Kirche und Bundesvertei- Kdigungsministerium versuchen, den Eichstätter Militärbischof Walter Mixa vom peinlichen Vorwurf des Devisenschmug- gels zu entlasten. Mixa war Ende Dezem- ber auf dem Flughafen Skopje bei dem Versuch ertappt worden, 400000 Mark aus Mazedonien nach Deutschland zu schaf- fen. Die Summe stammt aus Kollekten- und Spendengeldern und sollte auf Wunsch des Bischofs von Skopje, der das Bargeld seinem Kollegen in die Reisetasche gepackt

THOMAS KOEHLER / DPA / DPA KOEHLER THOMAS hatte, von Mark in Euro umgetauscht wer- Zivildienstleistender mit Pflegebedürftiger (in Bonn) den. Mixa wurde penibel verhört und konnte erst am nächsten Tag seine Reise WEHRPFLICHT Couleur argumentiert, müsse der Zi- ohne Geld fortsetzen. vildienst entsprechend länger dauern. Damit der Verstoß gegen die mazedoni- Langer Dienst Tatsächlich, so ergab die Auswertung schen Devisenbestimmungen nicht auf die der Bundeswehrdaten, betrug die Kfor-Truppe zurückfällt, wurde der Zwi- ivildienstleistende müssen zu Un- „Gesamtdauer der Wehrübungen“ für schenfall zunächst verschwiegen und soll Zrecht einen Monat länger Dienst ehemalige Rekruten im Jahr 1971 aber nun zur „Privatangelegenheit des Bischofs schieben als Rekruten der Bundes- durchschnittlich gerade 9,3 Tage – und von Eichstätt und seiner Partnergemeinde wehr. Das schließen drei Berliner Wis- sank in den neunziger Jahren auf etwa Skopje“ erklärt werden, so der Berliner senschaftler aus Daten des Verteidi- 3 Tage. Fazit der Wissenschaftler: Die Militärgeneralvikar Walter Wakenhut. Das gungsministeriums. Weil Wehrdienst geltende Regelung verstoße gegen das dürfte jedoch schwer werden: Mixa war Leistende nach ihrer Entlassung noch Grundgesetz; „verfassungskonform“ als Militärbischof auf diversen Truppen- Wehrübungen ableisten, so hatten sei nur eine Mehrbelastung der Zivis besuchen unterwegs und auch in einem bislang Bundesregierungen jeglicher von „höchstens einer Woche“. Kfor-Fahrzeug zum Flughafen gekommen.

18 der spiegel 2/2002 Deutschland

SCHULEN nur etwa zehn solcher Fälle bekannt ge- worden – bei 1,4 Millionen Schülern. „Abstruse Deutung“ SPIEGEL: Was raten Sie Schulleitern, die damit konfrontiert werden? Monika Hohlmeier (CSU), bayerische Hohlmeier: Die Schulleitung wird immer Kultusministerin, zum Kruzifix-Urteil einen Ausgleich der Interessen aller Be- des Bayerischen Verwaltungsgerichts- teiligten anstreben. Eine Lehrkraft sollte hofs. Danach muss eine Volksschule in im Konfliktfall nachdrücklich an ihre Pfaffenhofen das Kreuz im Klassenzim- Vorbildfunktion in Sachen Rücksicht und mer eines Lehrers, der dage- Toleranz erinnert werden. gen geklagt hatte, abhängen. Übrigens hat man auch im ak- tuellen Fall goldene Brücken SPIEGEL: Rechnen Sie nach gebaut, ohne Erfolg. dem Urteil mit weiteren Be- SPIEGEL: Was muss ein Lehrer schwerden von Lehrern? vorbringen, um das Kruzifix Hohlmeier: Ich glaube nicht, aus einem bayerischen Klas- dass dieses negative Beispiel senzimmer zu verbannen? viele Nachahmer finden wird, Hohlmeier: Das Gericht hat aus-

denn ich nehme nicht an, dass EINBERGER / ARGUM THOMAS drücklich festgestellt, dass kei- andere bayerische Lehrer eine Hohlmeier ne Grundsatzentscheidung ge- ähnlich abstruse Deutung des troffen wurde. Der atypische christlichen Kreuzessymbols so rück- Einzelfall kann daher nicht als Modell sichtslos durchsetzen wollen, wie es verwendet werden. Die Erfahrungen der hier geschehen ist. Dies belegen unsere letzten Jahre zeigen mir, dass Eltern, Erfahrungen mit der Regelung, nach der Schüler und Lehrkräfte eher ein harmo- Schüler und Eltern im Konfliktfall er- nisches Miteinander suchen als die ge- zwingen können, dass ein Kreuz ent- richtliche Auseinandersetzung, in der ei- fernt wird. In den letzten Monaten sind ner gegen alle steht.

LEICHTATHLETIK Das Ende der Rekorde ine rasante Entwicklung der Weltrekorde erwarteten Experten des DDR-Sports in ihren Analysen für das Ministerium für Staatssicherheit. Getarnt als IM „Claus Tisch“ errechnete Ekkart Arbeit, Chef-Verbandstrainer in der Leichtathletik, welche Leistungen die eigenen Athleten erbringen müssten, um bei den Olympischen Spie- len 1992 und 2000 vorn zu sein. Aus heutiger Sicht sind einige der Marken, die in den jetzt aufgetauchten Dokumenten prognostiziert werden, absurd hoch – sie wären nur zu erreichen mit erheblichem Einsatz von Dopingmitteln. Einige der 1987 gültigen Weltrekorde, etwa im Diskuswerfen, die von mit Anabolika gestärkten DDR-Athleten aufgestellt worden waren, bestehen noch heute. Besonders in der Frauen-Leicht- athletik erreichen selbst die Weltbesten die Leistungen von damals nicht annähernd. Trotzdem weigern sich die Sportverbände die Rekorde zu annullieren.

DDR-Prognose für aktueller Weltrekord 1987 das Jahr 2000 Weltbestenliste 2000 Weltrekord FRAUEN 400 m 47,60 Sek. 46,50 Sek. 49,11 Sek. 47,60 Sek. 800 m 1:53,28 Min. 1:50,00 Min. 1:56,15 Min. 1:53,28 Min. 100 m Hürden 12,25 Sek. 12,00 Sek. 12,33 Sek. 12,21 Sek. Hochsprung 2,09 m 2,20 m 2,02 m 2,09 m Weitsprung 7,45 m 7,90 m 7,09 m 7,52 m Diskuswerfen 74,56 m 78,50 m 68,70 m 76,80 m Siebenkampf 7158 Pkt. 7400 Pkt. 6842 Pkt. 7291 Pkt. MÄNNER 400 m 43,86 Sek. 42,00 Sek. 43,68 Sek. 43,18 Sek. 800 m 1:41,73 Min. 1:38,50 Min. 1:43,12 Min. 1:41,11 Min. Hochsprung 2,42 m 2,50 m 2,40 m 2,45 m Diskuswerfen 74,08 m 78,00 m 73,88 m 74,08 m Zehnkampf 8847 Pkt. 9400 Pkt. 8900 Pkt. 9026 Pkt. Panorama Deutschland

Am Rande Der Alte b der Kanzler zu Weih- Onachten zum ersten Mal in seinem Leben eine warme Rheumadecke bekom- men hat oder mollige Angora-Wäsche? Oder eines dieser Heizkis- sen, die Senioren DETMAR MODES / BMVG DETMAR sonst auf Erlebnis- Bundeswehrhubschrauber BO 105 fahrten nach Bad BUNDESWEHR eines Hangars auf dem Flugplatz Oppin Kreuznach oder bei Halle ab. Im Frühjahr will Rade die Buxtehude erste- Schnäppchen frei Haus Schnäppchen weiterverkaufen – „zu ei- hen? Jedenfalls muss es Gerhard nem Vielfachen des Einstandspreises“. Schröder um Weihnachten sehr m Geld in die leere Kasse zu be- Interessenten gebe es in Namibia und Ukommen, hat die Bundeswehr den baltischen Staaten. Allerdings fehlt warm ums Herz geworden sein, überflüssige Hubschrauber zu Schleu- noch eine Ausfuhrerlaubnis für das vor- als er an die älteren Mitbürger derpreisen verhökert. Für bescheidene mals militärische Fluggerät. Auf dem zi- dachte. Da hat der besorgte 100000 Mark pro Stück kaufte etwa der vilen Markt werden vergleichbar gut er- Staatsmann nämlich in der Zeit- bayerische Unternehmer Reinhard Rade haltene Gebrauchthelikopter dieses neun exzellent gepflegte Hubschrauber Typs laut Rade zu Stückpreisen bis zu schrift „Max“, dem Fachblatt für des Typs BO-105. Bundeswehrpiloten 1,5 Millionen Mark (knapp 800000 ewige Jugend, vor einem „ganz lieferten die Helikopter vor den Toren Euro) gehandelt. unguten Jugendwahn“ in der deutschen Gesellschaft gewarnt. Auch die Alten hätten ihre Qua- in mehreren Fällen auch noch Bußgeld- litäten, mahnte Schröder und CASTOR-TRANSPORTE bescheide wegen zu geringer Reifen- legte ein gutes Wort für die Ü-50- profiltiefe. Generation bei den jugendver- Langsamer, als die sessenen Arbeitgebern ein. Ist Polizei erlaubt das noch derselbe Schröder, der Nachgefragt einst in jugendlichem Rowdytum ach dem jüngsten Castor-Transport Nin das niedersächsische Gorleben am Zaun des Kanzleramtes werden nun protestierende Bauern Sachsen für Biko gerüttelt hatte? Der später mit von den Behörden mit einer spitzfindi- Sachsens Ministerpräsident dem Nimbus eines Jung-Sieg- gen Begründung zur Kasse gebeten. Kurt Biedenkopf (CDU) hat sei- fried den in die Jahre gekomme- Weil sie im November des vergange- nen Rücktritt noch für dieses Jahr nen Jahres mit ihren Treckern „ohne angekündigt. Sollte Biedenkopf nen Helmut Kohl aufs Altenteil triftigen Grund so langsam fuhren“, Ihrer Meinung nach ... schickte? Dessen jugendlich dun- dass „der Verkehrsfluss behindert“ Gesamt Sachsen kle Haarpracht in so auffälligem worden sei, sollen zwei Dutzend bäuer- ... möglichst schnell 39 33 Kontrast zu den hellen Schöpfen liche Castor-Gegner nun jeweils rund zurücktreten?“ 38 Euro an Geldbuße, Gebühren und ... bis nach der Bundestags- der Politikerkollegen steht? Mög- Auslagen in die Staatskasse zahlen. wahl im September warten?“ 9 10 licherweise hat der Kanzler mit Unter dem Motto „Schneckenplage“ ... seinen Entschluss über- denken und bis zum Ende seinem Appell auch nur schnöde hatten Anti-Atomkraft-Demonstranten seiner Amtszeit 2004 32 48 vielerorts im Wendland durch gemäch- Ministerpräsident bleiben?“ an sich selbst gedacht. Schließ- lich tuckernde Auto- und Trecker-Kon- lich wird Schröder in diesem vois die Landstraßen blockiert. NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 2. bis 3. Januar; rund 1000 Befragte; Jahr schon 58, und er ist über- Gegen die Bescheide hat der Anwalt Angaben in Prozent; der Bauern, Rainer Künne-Rosien, Ein- an 100 fehlende zeugt davon, dass ihn auch sein Prozent:„weiß spruch eingelegt. Er frage sich, so der nicht“/keine eigener Arbeitgeber noch drin- Jurist, „ob die Einsatzkräfte nichts an- Angabe gend braucht: das deutsche Volk. deres bei einem Castor-Transport zu Als älteren, nicht als Altkanzler. tun haben“. Neben den Geldbußen wegen Langsamfahrens verhängten Biedenkopf mit Ehefrau Ingrid die Behörden auf Hinweis der Polizei

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Werbeseite HANS-GUENTHER OED Konkurrenten Stoiber, Merkel: Ist der Wille zur Macht größer als der politische Instinkt?

UNION Die Einsame und der Ängstliche CDU-Chefin Angela Merkel will Kanzlerkandidatin der Union werden. Doch selbst Freunde raten ihr, zu Gunsten Edmund Stoibers zu verzichten. Die Furcht vor der rechten Schill-Partei fördert eindeutig die Chancen des CSU-Vorsitzenden.

as letzte Telefonat datiert von den noch immer mit offenem Ausgang. Trotz Den neuesten Beleg dafür liefern Tagen vor Weihnachten. Artig ent- aller Rückversicherungsverträge, Hin- die CSU-Bundestagsabgeordneten, die Dbot Angela Merkel dem Unions- terzimmer-Intrigen und wechselseitiger ihren Parteivorsitzenden schubsen und freund in Bayern die üblichen Festtags- Heckenschießereien ist die Konstellation bedrängen müssen, damit er bei der grüße, höflich gab Edmund Stoiber Wün- ziemlich unverändert: Merkel als Vertre- Klausurtagung am Dienstag dieser Woche sche für einen guten Rutsch ins neue Jahr terin der ungleich stärkeren Partei verfügt im oberbayerischen Wildbad Kreuth un- zurück. Seither herrscht Funkstille zwischen zwar über den ersten Zugriff, aber über missverständlich seine Bereitschaft ver- den Vorsitzenden von CDU und CSU. weniger Fürsprecher in der Union. CSU- kündet. Immer wieder klingelten dagegen in den Chef Stoiber, umgeben von hasenfüßigen Am Freitag, beim Meeting des CDU-Prä- ruhigen Stunden zwischen Heiligabend Beratern, hat weit mehr Unterstützung, sidiums und -Vorstands in Magdeburg, und Dreikönig bei anderen Spitzenpoliti- aber auch die größere Angst vor der Her- möchten dann einige Führungsleute der kern der beiden Parteien Telefone und ausforderung. Union den erhofften Vorstoß Stoibers zum Handys: Merkel rief die CDU-Landesvor- Und das könnte so fortdauern, wenn Anlass nehmen, Merkel zu stellen. Die Vor- sitzenden Christian Wulff und Jürgen Rütt- nicht immer mehr Kombattanten einen sitzende, so mehrere CDU-Prominente, gers an, Stoiber Altkanzler Helmut Kohl Schluss der Debatte forderten: Gut drei habe Farbe zu bekennen. und Hessens CDU-Chef Roland Koch. Die Jahre nach dem Abgang des übermächti- Selbst eingefleischte Merkel-Anhänger Rivalen um die Kanzlerkandidatur buhl- gen CDU-Patriarchen Helmut Kohl fehlt wollen endlich Klarheit über den Fahrplan ten um Rückhalt. in der Union eine Autorität, die der aus- zur Nominierung. „In Magdeburg müssen Nach mehrmonatiger Warmlaufphase ufernden K-Frage die entscheidende Rich- wir das Procedere besprechen“, fordert die geht das Rennen jetzt in die Zielgerade – tung zu geben vermag. Bundestagsabgeordnete Katherina Reiche,

22 der spiegel 2/2002 Deutschland

Mitglied im Parteivorstand: „Merkel muss Nordrhein-Westfalen Jürgen Rüttgers an kandidaten gekürt zu werden, ist hart- sagen, ob sie antritt.“ ihrer Seite – der mit 192000 Mitgliedern al- näckiges Schweigen offenbar das Beste. Nicht einmal ihren willigsten Unterstüt- lerdings fast ein Drittel der gesamten CDU Falls Merkel antritt, wird ihm niemand Il- zerinnen hat die zähe Einzelkämpferin bis- repräsentiert. Die beiden anderen einfluss- loyalität zur CDU nachsagen können. Setzt lang anvertraut, wie sie sich entscheiden reichen Männer, Christian Wulff aus Nie- sich Stoiber durch, unterstützt er ihn im wird. Auch wenn die Parteichefin pausenlos dersachsen und Roland Koch aus Hessen, Wahlkampf und macht damit sein Schwan- mit Präsidiums- und Vorstandsmitgliedern neigen Stoiber zu, geben sich nach außen ken vergessen. im Kontakt steht – alle rätseln darüber, ob hin aber bewusst unschlüssig. Merkel allein zu Haus? Dass derzeit kein ihr Wille zur Macht stärker ist als ihr politi- Wulff, bei Merkels Aufstieg vor knapp Tag ohne Wortmeldung eines Stoiber-An- scher Instinkt. Sie plane den Durchmarsch, zwei Jahren noch ihr wichtigster Steigbü- hängers vergeht, während sich kaum ein argwöhnen die einen. Sie sei klug genug, gelhalter, fürchtet eine eindeutige Partei- Unionschrist für Merkel ausspricht, nährt sich einer Mehrheit für Stoiber nicht in den nahme zu Gunsten der Vorsitzenden – ob- den Verdacht, die Parteichefin werde be- Weg zu stellen, mutmaßen die anderen. wohl die ihn umgarnt wie keinen Zweiten. reits abgeschrieben. Auch das Präsidiums- Es sind nicht mehr nur die Oberen der Sein Landesverband ist in der K-Frage ge- mitglied Hermann-Josef Arentz, Vormann kleineren CDU-Gliederungen auf Landes- spalten. Gleichgültig, wie er sich entschei- der christdemokratischen Arbeitnehmer- det: Mit jeder Aussage vereinigung, gab vergangenen Donnerstag Favorit Stoiber? wird der smarte 42-Jähri- vor Journalisten in Berlin erst auf Nach- K-Vorlieben von CDU- ge die Hälfte der 84 000 frage zu Protokoll, „dass die eigentliche Präsidiumsmitgliedern niedersächsischen CDU- Angstgegnerin im Bundeskanzleramt An- Mitglieder verprellen, gela Merkel“ sei. für Merkel und das kann er sich nicht Neben Rüttgers stärken nur die führen- Hermann-J. Laurenz Jürgen für Stoiber leisten. Anfang 2003 be- den Frauen in der CDU mit ihren be- Arentz Meyer Rüttgers unentschlossen wirbt er sich zum dritten grenzten Kräften der Parteichefin den – und damit wohl auch Rücken. „Die Zeit ist überfällig für eine zum letzten – Mal in Han- Kanzlerin“, sagt Maria Böhmer, Vorsit- zende der Frauen-Union und Mitglied im Bundesvorstand: „Es gibt zwei Millionen mehr Wählerinnen als Wähler in Deutsch- Hildegard Friedrich land.“ Bei ihren Geschlechtsgenossinnen, Müller Merz Christian Volker so Böhmer, habe die CDU 1998 mit Helmut Wulff Rühe Kohl an der Spitze „die Wahl verloren“. Jörg Die politische Mitte, ergänzt sie optimis- Schönbohm Hamburg tisch, sei „in Deutschland weiblich“. Niedersachsen Brandenburg Immerhin 153000 CDU-Parteibücher, je- Kurt des vierte, gehören Frauen. Über nen- Nordrhein- Biedenkopf nenswerten Einfluss in der Partei verfügt Roland Westfalen Sachsen Thüringen die Frauen-Union dennoch nicht. Außer in Koch Hessen der Familienpolitik hat sie sich weder in Rheinland- der Kohl-Ära noch danach jemals bemerk- Saarland Pfalz bar gemacht. Baden- Württemberg Auch die Präsidiumsmitglieder Annette Schavan und Hildegard Müller, beide be- Dagmar Bernhard kennende Merkel-Anhängerinnen, hatten Schipanski Vogel Peter eigentlich schon resigniert. Zu ihrer Über- Müller raschung erhielten sie dann aber zu Be- nover um den Job des Mi- ginn des Jahres eine aufmunternde E-Mail nisterpräsidenten. von Unionsfrauen der Basis: „Bitte lassen Zielstrebig hält sich Sie nicht zu“, hieß es da, „dass Angela auch der hessische Regie- Merkel unter Druck gesetzt wird, auf eine Peter Wolfgang Erwin Annette rungschef Roland Koch Kandidatur zu verzichten.“ Rauen Schäuble Teufel Schavan aus allem heraus. In Wies- Merkel im Abseits? Dafür wirken die baden steht wenige Mo- Truppen um CSU-Chef Stoiber reichlich ebene, die sich von Merkel als Schröder- nate nach dem Urnengang im Bund eben- nervös. Bis zuletzt stritten vergangene Wo- Herausforderin abwenden – wie Peter Mül- falls eine Landtagswahl auf dem Pro- che zwei Lager im Umfeld des bayerischen ler aus dem Saarland, Johann Wadephul gramm. Statt an der Klausurtagung der Ministerpräsidenten darum, ob und wie of- aus Schleswig-Holstein, Bernhard Vogel CDU-Spitze in Magdeburg teilzunehmen, fen ihr Favorit in Kreuth seine Bereitschaft aus Thüringen oder Jörg Schönbohm aus fährt Koch lieber Ski in den Alpen. anmelden solle. CSU-Generalsekretär Tho- Brandenburg. Die Front der Mitstreiter „Ganz schön opportunistisch“, schimp- mas Goppel und andere Münchner Partei- bröckelt weiter. fen CSU-Granden, die den schneidigen granden raten, sich möglichst viele Hin- Selbst Christoph Böhr, Vorsitzender des Rechtsausleger auf ihrer Seite wähnten. tertüren offen zu halten. Michael Glos, starken Landesverbandes von Rheinland- Ähnlich denken viele stramm konservati- Chef der CSU-Bundestagsabgeordneten, Pfalz, dem auch Altkanzler Kohl angehört, ve CDU-Politiker, die schon den demon- versucht dagegen, Stoiber den Rückzug ab- hat der Parteifreundin geraten, zu Gunsten strativen Lobgesang des Hessen auf Mer- zuschneiden (siehe Seite 26). Stoibers zu verzichten. Sie müsse, hört kels Performance beim Dresdner Parteitag Die Spendenvorwürfe des „Stern“ wer- Merkel in ihren Telefonaten immer häufi- im vergangenen Dezember als „verlogen“ teten CSU-Skeptiker in München vergan- ger, „die Königsmacherin spielen“, bevor empfanden. gene Woche als erneuten Beleg, wie rasch sie sich selbst beschädige. Doch den nervenstarken Koch lässt das ihr großes Vorbild im Feuer des Bundes- Von den Parteiführern der großen Lan- kalt: Für seine langfristigen Ambitionen, tagswahlkampfs zu Schaden kommen desorganisationen weiß Merkel nur den 2006 selbst zum Parteichef und Kanzler- könnte. Mit den Unwägbarkeiten und Ge-

der spiegel 2/2002 23 Deutschland fahren in der medialen Bundesliga, räumen die Stoiberianer ein, ken- nen sie sich zu wenig aus. Würde womöglich gar Altkanzler Kohl, lau- tet eine der bangen Fragen in Mün- chen, mit seinen guten Beziehun- gen zum Springer-Verlag als Stören- fried auftreten? Die Bayern – wie verloren in der weiten Bundesrepublik? Noch im- mer wirkt in München das Trauma von 1980 nach, als der damalige CSU-Chef Franz Josef Strauß für das Kanzleramt kandidierte und die CDU den Matador ziemlich tatenlos seinem Schicksal überließ. Diesmal sei die Lage wohl deutlich ent- spannter, analysieren führende Christsoziale, denn anders als Strauß verhalte sich Stoiber in den Augen der CDU nicht als rachedurs- tiger Quertreiber. Der wecke auch im Norden Vertrauen mit seiner preußischen Ausstrahlung. Und im Übrigen, sinnierte Stoiber vergan-

gene Woche selbst, habe die Kandi- / DPA MAELSA TOM datur von Strauß dem Freistaat Bay- Wahlpostkarte der SPD (Entwurf): Bayer mit preußischer Ausstrahlung ern jedenfalls nicht geschadet. Angela Merkel plagt derweil die Frage, den Unionsanhängern erreichte sie sogar Bundestag, falls Merkel den Zuschlag er- was aus ihrer politischen Karriere wird, nur trostlose 17 Prozent, Stoiber dagegen hält. Das gilt besonders, seitdem der Senk- wenn sie dem Konkurrenten den Vortritt stolze 76 Prozent. rechtstarter Ronald Schill erklärte, seine lässt. Sie wolle „am Ende des Jahres 2001 Merkels Ratschlag im Neujahrsbrief an „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ werde nicht am Ende meines politischen Weges die Parteimitglieder, nicht „auf wöchentli- bundesweit gegen eine Unionskandidatin sein“, teilte sie im SPIEGEL-Gespräch che Wasserstandsmeldungen von Progno- Merkel antreten, aber nicht gegen den (1/2002) mit. In der CDU-Spitze werteten sen und Umfragen in einer schnelllebigen Geistesverwandten Stoiber. manche diesen Satz als verschlüsselten Zeit“ zu vertrauen, ist für Parteifreunde Der Populist aus Hamburg könnte ih- Hilferuf. Noch vor einem Jahr hatte die wie Eckart von Klaeden ein willkommener nen, fürchten viele auf der Landesliste gebürtige Hamburgerin mit langjährigem Anlass zu lästern. „Umfragen sind für ei- nicht abgesicherte Abgeordnete, im Kampf Wohnsitz in der DDR wissen lassen, sie nen Politiker wie die Straßenlaterne für ei- gegen SPD-Bewerber in den Wahlkreisen gewinne als Kandidatin auf jeden Fall: nen Betrunkenen“, juxt der Parlamentari- die entscheidenden Erststimmen für ein Entweder werde sie Kanzlerin oder Vor- sche Geschäftsführer der Unionsfraktion Direktmandat abjagen. sitzende der CDU/CSU-Bundestagsfrak- im Bundestag, „sie dienen mehr dem ei- „Man kann verhindern, dass Schill die- tion – und damit mindestens Oppositions- genen Halt als der Erleuchtung.“ se Chance bekommt“, predigt Fraktions- führerin. 70 Prozent – so hoch sei die Unterstüt- geschäftsführer Klaeden. „Die CDU muss Diesen Plan kann sie vergessen, seitdem zung der Bundestagsfraktion für Stoiber, den bitter ernst nehmen“, warnt auch sein sich Friedrich Merz das Vertrauen der ließ Fraktionsvize Wolfgang Bosbach wis- CSU-Pendant Peter Ramsauer. Doch was überwiegend konservativen CDU/CSU- sen. Damit verriet er kein Geheimnis, son- bringt der Union mehr Stimmen: der Abgeordneten erarbeitet hat. Nach einer dern gab nur die seit langem in Berlin ver- Kampf um den rechten Rand oder um die Niederlage bei der Bundestagswahl würde breitete Ansicht wieder. Frauen und die politische Mitte? Das ist – die Fraktion ihren Merz nicht mehr ge- Auch wenn CDU-Generalsekretär Lau- neben Geschmacksfragen – wohl der Kern gen Merkel eintauschen, so die einhellige renz Meyer solche Bekundungen als „Ein- der Auseinandersetzung zwischen den An- Meinung der CDU-Landesgruppenchefs – zelmeinung“ abtut, bangen zahlreiche Par- hängern Merkels und Stoibers. „Bevor die im internen Jargon die „Teppichhändler- lamentarier um ihren Wiedereinzug in den K-Frage beantwortet wird, muss man eine Runde“. Verzweifelt klammert sich Merkel an Zahlen – aber nur an jene, die ihr ins Kal- kül passen. „Der Erfolg unserer Arbeit ist messbar“, behauptete die promovierte Physikerin in ihrem Neujahrsbrief an die Partei und verwies auf eine Umfrage, in der die CDU zum ersten Mal nach langer Zeit vor der SPD rangiert. Zu anderen Ergebnissen der Demosko- pen fallen Merkel freilich nur eindringliche Warnungen ein. 68 Prozent der Deutschen halten Stoiber für den aussichtsreicheren Kandidaten, lediglich 20 Prozent bewerten

Merkels Chancen als höher, meldete das / DPA MÄCHLER FRANK Forsa-Institut vergangene Woche. Unter CSU-Tagungsort Wildbad Kreuth: Viele Hintertüren offen halten

24 der spiegel 2/2002 Einigung für die Wahlstrategie finden“, fordert daher NRW-Chef Rüttgers. Stoibers Büchsenspanner denken der- weil angestrengt darüber nach, wie sie die Rivalin für den Verzicht entschädigen könnten, doch es fehlt an Ideen. Parla- mentspräsidentin, wie einige intern vor- schlagen? Absurd, weil das nur im Fall ei- nes Wahlsiegs möglich wäre und Merkel sich dann ebenso gut ein mächtigeres Amt aussuchen könnte. Bundespräsidentin? Eine Frage, die sich, wenn überhaupt, erst sehr viel später stellt. Oder Nachfolgerin von Kurt Bieden- kopf als Regierungschefin in Sachsen? Schwierig, weil der Amtsinhaber inzwi- schen zu schwach ist, sie gegen seinen In- timfeind, den CDU-Landesvorsitzenden Georg Milbradt, durchzusetzen. Bernhard Vogel in Thüringen beerben zu wollen dürfte ebenfalls scheitern– der hat sich schon seinen Musterschüler Dieter Althaus ausgeguckt. Noch hält Merkel das Heft des Handelns zumindest formal in der Hand. Im Vier- Augen-Gespräch mit Stoiber, das nächste Woche stattfinden soll, kann sie barsch auf ihrem Anspruch bestehen. Doch dann müsste sie auch damit rechnen, dass sie sich gegen so schwergewichtige CDU- Granden wie ihren Amtsvorgänger Wolf- gang Schäuble, Fraktionsboss Friedrich Merz und den stellvertretenden Partei- chef Volker Rühe durchzusetzen hätte. Alle drei haben sich vorgenommen, dem „Mädchen“ (Helmut Kohl) ihre Bedenken gegen eine Kandidatur in Magdeburg vor- zutragen. Bei einem Beharren läuft die Bewerbe- rin außerdem Gefahr, einen Aufstand der Abgeordneten in der Bundestagsfraktion heraufzubeschwören. „Ich kann mir nicht vorstellen“, so ein erfahrener CDU-Lan- desgruppenchef, „dass die Fraktion dann ruhig bleibt.“ Deren Spitze – Friedrich Merz und Michael Glos, beide Gegner der Aspirantin – würde womöglich nur halb- herzig die verbreitete Anti-Merkel-Stim- mung einzudämmen versuchen. Für das eigentliche Ziel der ganzen De- batte – nämlich nach der Entscheidung eine einige fröhliche Wahlkampftruppe zu prä- sentieren – stehen die Chancen denkbar schlecht. Der CDU-Vorsitzenden droht ein Pyrrhussieg: Ungezählte Unionsleute wür- den ihr so schadenfroh beim Verlieren zu- schauen wie vor 20 Jahren dem Kanzler- kandidaten Franz Josef Strauß. „Im Falle Merkel“, tönt es bereits aus Bayern, „wer- den wir uns selbst helfen müssen.“ Aber auch der Gegenspieler von der CSU darf kaum hoffen, die Skeptiker in der großen Schwesterpartei hinter sich zu bringen. „Es wäre absurd zu glauben“, pro- phezeit CDU-Präside Hermann-Josef Arentz, „dass es nur Riesenärger gibt, wenn Merkel es wird, und nur eitel Son- nenschein, wenn Stoiber antritt.“ Ulrich Deupmann, Christoph Schult der spiegel 2/2002 25 Deutschland

anschlag am 11. September sollten im Par- lament in einer Sondersitzung eigentlich nur der Bundeskanzler und die Chefs der Fraktionen sprechen – Glos schaffte es „Müssen tu ich gleich gar nix“ dennoch, mit auf die Rednerliste zu kom- men. Ohne oder gegen ihn läuft in der CDU/CSU-Fraktion derzeit nichts. Seit sei- Michael Glos ist Edmund Stoibers wichtigster Mann in Berlin. ne einstigen Förderer Wolfgang Schäuble In der K-Frage unterstützt der Chef der CSU-Landesgruppe und Theo Waigel abtraten, gehört er zur seinen Parteiboss gegen die CDU-Vorsitzende Angela Merkel. ersten Reihe der Union – nicht nur im Ber- liner Parlament. Doch egal, wer sich durchsetzt – Glos gewinnt immer. Diese Woche wird sein kantiger Schädel auf allen Fernsehkanälen auftauchen: in it Gerhard Schröder kommt Mi- Wie Michael Glos. den Berichten aus Wildbad Kreuth, wo die chael Glos gut zurecht. Er nennt Frech, fleißig und loyal hat der sich in CSU-Landesgruppe traditionsgemäß in Mihn „eine richtige Sau“ – und das der CSU nach oben gearbeitet. Weil er aus- Klausur geht. Dann wird die Republik wie- ist so ziemlich das höchste Kompliment, sieht wie ein Biedermann, wurde Glos oft der einmal merken, dass der gelernte Mül- das ein CSU-Politiker vergeben kann. unterschätzt. Weil er aber zündeln kann ler aus dem unterfränkischen Prichsenstadt In öffentlicher Rede würde der Berliner wie ein Brandstifter und bei politischen auch bei der K-Frage ein gewichtiges Wort Landesgruppenchef den SPD-Kanzler nie Raufereien immer auf der richtigen Seite mitzureden hat. derartig loben. Da beschimpft er Schröder hinlangte, gehörte er in der CSU-Landes- Selbstverständlich werden die CSU-Ab- pflichtgemäß als „verantwortungslosen gruppe bald zu den Aufsteigern – weniger geordneten ihren Parteivorsitzenden Ed- Spieler“, er verhöhnt ihn als „Burger als Redner berühmt denn als Spötter ge- mund Stoiber für den aussichtsreichsten King“ oder als „einen der teuersten Lehr- fürchtet. Kanzlerkandidaten halten – was bleibt ih- linge, die Deutschland je hatte“. Sein politisches Gewicht in der Unions- nen anderes übrig? Und Michael Glos, der Nur unter vier Augen gesteht er, dass fraktion ist jetzt stärker denn je. Wenn Ende Oktober noch Wolfgang Schäuble als ihm der Sozi imponiert. Instinktsicher be- im Parlament die Großkopferten reden, dritten Kandidaten ins Spiel gebracht hat, setze Schröder die richtigen Themen und mischt Glos immer mit. Nach dem Terror- wird natürlich auch für Stoiber sein. bremse, mit Hilfe der Me- Sein Vorstoß für Schäuble dien, den Gegner aus – eine hatte seinerzeit für viel Wirbel Gabe, die Glos seinen eigenen gesorgt, was ihm recht war, Führungsleuten manchmal und für reichlich Irritationen, auch wünscht. was er angeblich gar nicht ver- Das geht zum Beispiel so: stand. Erst lässt der Kanzler seinen In Berlin und in München Sprecher Uwe-Karsten Heye steckten die Unionsoberen die mitteilen, er sei „überrascht Köpfe zusammen und fragten, und enttäuscht“ darüber, dass was der freche Franke wohl Glos die vereinbarte Vertrau- bezwecke. Stoibers Leute wa- lichkeit gebrochen und ausge- ren angesäuert, weil sie eine plaudert habe, deutsche Sol- Hinterhältigkeit vermuteten. daten sollten demnächst in Af- Auch Merkels Freunde rea- ghanistan eingesetzt werden. gierten nervös. Es hieß, die Nun müsse er prüfen, ob man CDU-Vorsitzende werde den so einen redseligen Gast über- CSU-Landesgruppenchef bei haupt noch einladen könne. einem Frühstück zum „Rück- Als Glos nachweisen kann, zug“ nötigen. nicht er, sondern Schröder Das Frühstück fand statt. selbst habe zuerst öffentlich Hinterher empfing Glos im aus der Kanzlerrunde geplau- Reichstag eine Besuchergrup- dert, wird die Angelegenheit pe. Es waren Feuerwehrleute, auf Schröder-Art beigelegt. Mitarbeiter des Technischen „Selbstverständlich kommen Hilfswerks, Malteser und Rot- Sie weiter in meine Runde“, kreuzler aus seinem Wahl- sagt der Kanzler beim nächs- kreis, die wissen wollten, was ten Treffen, noch bevor Glos denn nun mit dem „Rückzug“ sich empören kann. Und dann sei. Er sei ein ziemlich eigen- nimmt der Ober-Sozi den ständiger Mensch, sagte Glos, CSU-Politiker beiseite, und die und habe „noch nie einen beiden stecken so lange die Rückzug angetreten“. Da Köpfe zusammen, bis auch der klatschten die Leute aus sei- letzte Fotograf das Bild der nem Wahlkreis und sangen Eintracht im Kasten hat. ihm ein Lied. „Der Schröder versteht halt Schäuble schwört, dass der sein Geschäft“, kommentiert Coup mit ihm nicht abgespro- Glos anerkennend die Episo- chen war. Glos habe wahr- de vom vergangenen Oktober. scheinlich auf eigene Faust ge-

Er sei eben „eine richtige / DDP MICHAEL KAPPELER handelt. Wolfgang Bötsch, der Sau“. Parteistratege Glos: Frech, fleißig und loyal Vorgänger des Franken als

26 der spiegel 2/2002 eine Freundschaft, als auf eine boshafte Pointe zu verzichten. Richtig austoben kann er sich bei den Sozis. Wenn Struck die Erfolge der Regie- rung preist, nennt Glos ihn den „Humoris- ten aus Uelzen“. Finanzminister Hans Ei- chel firmiert bei ihm als „der blanke Hans“. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse heißt bei ihm seit neuestem nur noch „Struppi“. Vergangene Woche war es ihm ein besonderes Vergnügen, Thierse wegen dessen Skepsis gegenüber dem CSU-Fi- nanzgebaren zum Rücktritt aufzufordern – wahlweise vom Präsidentenamt oder vom Posten des SPD-Vizevorsitzenden. Das eigene Lager bleibt von den verba- len Attacken des Unterfranken nicht ver- schont. Als der Niedersachse Christian

MARCO URBAN MARCO Wulff und der Saarländer Peter Müller von Parteipolitiker Glos, Schröder, Struck (im Bundestag): „Richtige Sau“ schwarz-grünen Koalitionen träumten, kan- zelte Glos die beiden CDU-Landesvorsit- CSU-Landesgruppenchef, ist hingegen wählen. Verliert sie, ist sie weg vom Fens- zenden ab, sie redeten „Schafscheiß“. „ziemlich sicher, dass der das vorher mit ter – aber Glos bleibt der starke Mann. Selbst sein Freund und Förderer Theo dem Stoiber abgemacht hat“. Kein Wunder, dass er sich so sicher fühlt. Waigel war vor Glos nicht sicher. Als der Und Glos? Markiert den Taktiker. Er „Seine größte Stärke“, frotzelt SPD-Frak- CSU-Finanzminister Anfang der neunziger habe sich nur deshalb in die K-Frage ein- tionschef Peter Struck, „sind Merkel und Jahre die konjunkturelle Lage nach Mei- gemischt, um sie offen zu halten, denn: „Es Merz.“ nung von Glos allzu rosig malte, lästerte gab Anzeichen dafür, dass Angela Merkel Dem CDU/CSU-Fraktionschef ist der der hinter vorgehaltener Hand: „Wenn die vorpreschen und die Kandidatenfrage vor- „Erste Stellvertreter“ Glos – als Taktiker Stewardess besonders freundlich lächelt, zeitig für sich entscheiden wollte.“ und alter Parlamentshase – durchaus über- dann steht die Notlandung bevor“ – was zu Klar, heißt es in Berlin, er muss ja für legen. Irgendwann hat er Friedrich Merz einer erheblichen Verstimmung führte. den Stoiber sein. „Müssen tu ich schon mal das „Du“ angeboten, aber das heißt noch Helmut Kohl nannte Glos einen „Hin- gleich gar nix“, pflegt der „Michel“ Glos lange nicht, dass er ihn für ebenbürtig hält. terhofstänkerer“, den man nur durch ein darauf zu antworten. Pause. Sicher wäre Gelegentlich mokiert er sich im Kreis der Regierungsamt einbinden könne. Aber als die Merkel für ihn persönlich die beque- CSU-Abgeordneten über den Sauerländer, der CDU-Kanzler es versuchte, holte er mere Variante, weil er „neben ihr viel mehr der müsse noch einiges lernen. sich zweimal einen Korb. Parlamentari- Spielraum und Gestaltungsmöglichkeiten Über Merkel hingegen spottet er nicht – scher Staatssekretär wollte Glos 1990 nicht behielte“. Das leuchtet ein. „Wenn der und das will bei Glos einiges heißen. Der werden, Bauminister 1997 schon gar nicht. Stoiber kommt, dann habe doch ich hier lässt nämlich sonst nie eine Gelegenheit Sein Verhältnis zu Kohl war von Anfang nix mehr zu sagen.“ aus, über Feind und Freund herzuziehen. an distanziert – aus einem einfachen Aber es gehe eben nicht um ihn per- Seine „Spottlust“ bezeichnet er selbst als Grund: 1976 hatte Kohl den damals jüngs- sönlich, fügt er blitzschnell hinzu, sondern seinen größten Fehler. Lieber riskiert er ten CSU-Abgeordneten zu sich ins Büro um die Siegeschancen der Union. Und da sprächen die Umfragen einfach eindeutig für Stoiber. Solche Kurven nimmt er mit Bravour. Als Franz Josef Strauß 1979 Kanzler- kandidat der Union werden wollte, gab es auch ein Hauen und Stechen mit den „Nordlichtern“. Damals hieß der CSU- Landesgruppenchef Friedrich Zimmer- mann, der machte es wie heute Glos: Zim- mermann legte sich mächtig für Strauß ins Zeug. Nach dessen Wahlniederlage 1980 war er der mächtigste CSU-Mann in Bonn – und zwei Jahre später Innenminister des CDU-Kanzlers Helmut Kohl. Auch Glos kann derzeit nur gewinnen: Wird Stoiber Kandidat und scheitert, ist der Landesgruppenchef der wichtigste CSU-Mann in Berlin. Wird Stoiber aber Kanzler, dann bekommt der Mitstreiter ein bedeutendes Ressort – vermutlich Finan- zen, das wollte er immer schon. Tritt Mer- kel an und gewinnt, kann Glos zwischen Ministeramt oder Landesgruppen-Vorsitz

* Bei einer Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im H. DARCHINGER J. April 1993. Unionsgrößen Glos, Kohl*: Distanz von Anfang an

der spiegel 2/2002 27 Deutschland gebeten und sehr vertraut getan. Sein Va- ter, Johann Kaspar Kohl, sei in Gerolz- hofen, das zum Wahlkreis von Glos gehört, PARTEIENFINANZEN als Finanzbeamter tätig gewesen. So etwas verbinde doch, schmeichelte der neue CDU/CSU-Fraktionschef. Der legalisierte Skandal Dann rückte Kohl mit seinem Anliegen heraus: Glos sei genauso neu in Bonn wie Nach der CDU-Spendenaffäre gelobten die Parteien er, ob man sich nicht gelegentlich austau- schen könne, zum Beispiel darüber, wie es Besserung. Ein neues Parteiengesetz soll dieses Jahr verabschiedet zugehe in der CSU-Landesgruppe. Damals werden, doch die Geldflüsse bleiben undurchsichtig. herrschte Krieg zwischen Kohl und CSU- Chef Strauß. Der Bayer hatte in Kreuth die Auflösung der Fraktionsgemeinschaft verkündet; es blieb bei der Drohung. Kohl brauchte Verbündete und suchte sie bei den jungen CSU-Abgeordneten. Aber da war er bei Glos an den Falschen geraten. Er wisse leider auch nicht genau Bescheid, was alles so laufe in der CSU, be- hauptete der. „Und wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen.“ Damit waren die Fronten klar. Wie Kohl ist Glos ein Instinktpolitiker. „Ich brauche keine Meinungsforschungs- institute“, sagt er stolz, „um zu wissen, was die Leute denken.“ Wenn es um Ausländer geht, kann er holzen wie die Republikaner. Rechts von der CSU, diesen Lehrsatz seines großen Vorbildes Strauß hat er verinner- licht, dürften die Christsozialen keine de- mokratisch legitimierte Konkurrenz dulden. Also verkündet er seit vielen Jahren, Deutschland sei kein Einwanderungsland, weil Ausländer den Deutschen angeblich die Arbeitsplätze wegnehmen. In manchen Stadtvierteln könne man, hetzte er schon

1997, inzwischen nicht mehr die Fenster PRESS PS PRESS / ACTION öffnen, weil es draußen nach frisch ge- CSU-Generalsekretär Goppel (am vergangenen Mittwoch): Viel Lärm um nichts? schlachteten Hammeln stinke. Drogenkonsumenten und Schwule, SU-Chef Edmund Stoiber und sein Merkel, die Stoiber termingenau aus dem Kommunisten und Pazifisten, Atomkraft- Generalsekretär Thomas Goppel im Feld schießen wollten? War die K-Frage gegner und Müslifresser, Rote und Grüne CKnast? Der Chefredakteur des womöglich schon entschieden? Steckte gar haben in seiner Welt einen festen Platz. „Stern“ wollte in seinem Editorial („Herz- das Kanzleramt hinter der Intrige? Glos braucht und hätschelt sie als unver- lichst Ihr Thomas Osterkorn“) nichts aus- Dann hatten sich die Christsozialen wie- zichtbare Feindbilder. Draufhauen gehört schließen. der gefangen – und gingen zum Gegen- bei ihm zum Geschäft – auch wenn er Würden die rot-grünen Vorschläge Ge- angriff über: „Wider besseres Wissen“ habe manchmal die etwas Nachdenklicheren bei setz, wonach Parteiverantwortlichen für der „Stern“ die Vorwürfe erhoben, kon- der Union damit trifft. Hauptsache, die falsche Rechenschaftsberichte bis zu drei terte Generalsekretär Goppel. Schließlich CSU bleibt eine geschlossene Formation. Jahre Haft drohten, müssten Stoiber und sei dem Blatt bekannt gewesen, dass die Nur dann nämlich wird Glos als ihr An- Goppel „zukünftig womöglich“ ins Gefäng- Bundestagsverwaltung die CSU-Methoden führer respektiert. nis, orakelte der Top-Journalist: „Kein Wun- der Spendenakquisition bereits 1996 für Die FDP braucht er zwar auch, will er der, dass die Union dies strikt ablehnt.“ rechtens befunden und das auch in einer wieder mitregieren. Doch der liberale Par- Für Osterkorn und seine Truppe war der Bundestagsdrucksache veröffentlicht hatte. teichef Guido Westerwelle ist ihm suspekt. Fall klar: Auf dem „Stern“-Titel der ver- Und so verpuffte der vermeintliche „Wie der andauernd um das Kanzleramt gangenen Woche („Der Spendenbetrug der Spendenskandal, bevor er überhaupt rich- herumtingelt“, empörte er sich jüngst, „da- CSU“) ließen sie einen gequält aussehen- tig zünden konnte. Zwar kündigte die gegen sind die Straßenmädchen in Berlin den Stoiber in einem Sumpf von Geld- Münchner Staatsanwaltschaft an, sie wer- geradezu zurückhaltend.“ scheinen versinken. Mindestens sechs Mil- de den Vorwürfen nachgehen, doch diese Das hindert ihn nicht, Westerwelle arti- lionen Mark Staatsknete, so der Vorwurf, Prüfung hatte sich am Donnerstag vergan- ge Avancen zu machen: Er wisse nicht, wer habe sich die CSU in den vergangenen Jah- gener Woche schon erledigt. Es gebe kei- Kanzlerkandidat der Union werde, ver- ren mit falschen Spendenbescheinigungen nen Anlass für weitere Ermittlungen. Die kündete Glos kürzlich auf einem Empfang und Patenschaftsabos des Parteiblatts Juristen der Bundestagsverwaltung unter beim Zentralverband des Deutschen Hand- „Bayernkurier“ erschlichen. Parlamentspräsident Wolfgang Thierse sind werks. „Aber ich weiß, dass der nächste Vi- Die CSU wurde von den Vorwürfen kalt nicht ganz so schnell. Sie werden ihre – zekanzler Westerwelle heißt.“ Da könnte erwischt. Einen Tag lang war die Partei so routinemäßige – Untersuchung voraus- der Müllermeister aus Prichsenstadt Recht gut wie paralysiert. Wer steckte hinter der sichtlich erst in dieser Woche abschließen. behalten – auch wenn er selbst nicht mit- Attacke der Hamburger Zeitschrift? An- Viel Lärm also um nichts? Die Aufre- regieren darf. Hartmut Palmer hänger der CDU-Vorsitzenden Angela gung um die schnell verglühte Magazin-

28 der spiegel 2/2002 Geschichte hat zumindest deutlich ge- macht, dass es trotz zahlloser Kommissio- nen, Experten, Gutachter und Ausschüsse bis heute nicht gelungen ist, die Parteien- finanzierung rechtlich so zu regeln, dass sie auch moralisch vertretbar ist. Gelungen ist den Parteien dagegen nur eines: den permanenten Skandal zu legalisieren. Ohne große Hemmungen be- dienen sie sich, wo sie nur können. Wurde die öffentliche Kritik zu laut, beschnit- ten sie gerade einmal die schlimmsten Auswüchse – stets als Gesetzgeber in eige- ner Sache. Dabei hatten sie noch vor zwei Jahren, die CDU-Spendenaffäre war gerade auf- geflogen, Besserung gelobt. Bundespräsi- dent Johannes Rau berief eine Kommis- sion, und die Fraktionen machten sich dar-

an, die Paragrafen zu überarbeiten. / MELDEPRESS MELDE ACHIM Mit mäßigem Erfolg. Der Gesetzentwurf Bundestagspräsident Thierse: Den Vorwürfen nachgehen? der Koalition, der vor der Sommerpause verabschiedet werden soll, wird keinem In Zukunft wird also die SPD mit ihren treiben, wie sie ansonsten Verlage einset- Schatzmeister den Schlaf rauben: zahlreichen Medienbeteiligungen einen zen, um Abonnements zu verkaufen. „Ich • Die Rechenschaftspflicht der Parteien Teil ihrer Bücher öffnen müssen. Wer ei- komme im Auftrag von Dr. Helmut Kohl“, wird erweitert. In Zukunft müssen prä- nen Rechenschaftsbericht „vorsätzlich un- pflegten sich die Akquisiteure bei den zise Einnahmen-, Ausgaben- und Ver- richtig wiedergibt oder verschleiert“ oder potenziellen Gönnern vorzustellen. Von mögensrechnungen vorgelegt werden. als Wirtschaftsprüfer dabei mitwirkt, dem dem Geld, das die Drücker beschafften, • Die Beteiligung an Wirtschaftsunter- droht künftig Haft. Und sonst? Bleibt alles durften sie bis zur Hälfte als Provision nehmen ist offen zu legen, die pauscha- weitgehend beim Alten. behalten. le Verrechnung von Gewinnen und Ver- Auch das neue Gesetz wird keinen der Zwar wunderte sich auch die Bundes- lusten nicht mehr gestattet. Finanzjongleure der Parteien ernsthaft da- tagsverwaltung, als sie von den Provisionen • Barspenden sollen nur noch bis maxi- von abhalten, sich kreativ und verschwie- erfuhr. Diese seien jedoch, befand Bun- mal 1000 Euro zulässig sein, Spenden gen neue Mittel zu beschaffen. Denn mög- destagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) über 50000 Euro müssen sofort veröf- lich ist nach wie vor fast alles, was Schatz- im Oktober 1997, „nach der derzeitigen fentlicht werden; Zuwendungen von Un- meistern Spaß macht: gestückelte Spenden Rechtslage formalrechtlich nicht zu bean- ternehmen, die sich im Besitz der öf- anzunehmen, mit denen die Meldepflicht standen“. Schön für die Parteien, dass sich fentlichen Hand befinden, sind ganz ver- unterlaufen wird, Spendensammlern Pro- daran nichts ändern wird. boten. vision zu zahlen, Spenden mit Paten- Auch das CSU-Modell, Parteispenden • Parteimitglieder und Prüfer, die in den schaftsabos einzutreiben. über den „Bayernkurier“ zu beschaffen, Rechenschaftsberichten manipulieren In allen drei Disziplinen hat es bisher bleibt nach der Reform weiter zulässig. Das oder verschleiern, können mit bis zu drei vor allem die Union zu einigem Sach- fragwürdige Geschäft funktionierte lange Jahren Haft bestraft werden. verstand gebracht. Besonders beliebt: die Zeit so: Geworben von einem Zeitschrif- Stückelung von tendrücker, spendet der Gönner beispiels- Parteieneinkünfte in Millionen Euro Großspenden. Mal weise 40 Patenschaftsabos des „Bayernku- Spenden und Steuern ließ die Quelle- rier“ zu je 150 Mark. An wen diese verteilt Staatliche Parteienfinanzierung im Jahr 2000 Eigene Versandhausgrup- werden, entscheidet die CSU. Über den * pe der CDU vollen Betrag von 6000 Mark wird eine Zuwendungen Zuwendungen Einnahmen 1999 100 000 Mark zu- Spendenquittung der Partei ausgestellt. für Spenden und für End- kommen und teil- Die allerdings kassierte bis 1999 nur die Mitgliedsbeiträge Wählerstimmen betrag te diese auf fünf Hälfte der Spende, den Rest erhielt der SPD 31,6 (66,1%) 16,2 (33,9%) 47,8 108,4 rechtlich selbstän- Werber als Provision. Nicht weiter tragisch dige Firmen auf. für die Partei, denn für jede Spenden-Mark Jedes der einzel- bis zur Höchstgrenze von 6000 Mark be- 24,0 (64,4%) 13,3 (35,6%) CDU 37,3 93,2 nen Unternehmen kam sie laut Gesetz 50 Pfennig dazu. Wen spendete genau wundert’s da, dass die CSU an dem lukra- CSU 4,8 (55,1%) 4,0 (44,9%) 8,8 23,0 20000 Mark, bei ei- tiven Modell bis heute hängt. Erst 1999 hat nem Pfennig mehr sie die Provision um die Hälfte reduziert – Grüne 4,9 (58,6%) 3,4 (41,4%) 8,3 17,6 wären sie veröf- was das Geschäft noch lukrativer macht. fentlichungspflich- Allein im vergangenen Jahr kassierte sie so FDP 4,6 (62,2%) 2,8 (37,8%) 7,4 16,8 tig gewesen. Mal nach internen Berechnungen knapp eine stückelte der Phar- Million Mark von etwa 1000 Spendern – mamulti Merck und damit zusätzlich noch einmal fast PDS 4,3 (60,6%) 2,8 (39,4%) 7,1 13,4 100000 Mark in 500000 Mark vom Staat. sechs Teilbeträge. Empört kommentieren jetzt führende So- Berechnung nach den aktuellen Daten des Deutschen Bundestags; Jahrelang ließ zialdemokraten die Praktiken des politi- die staatlichen Mittel für die Parteien richten sich nach den jeweiligen die CDU zudem schen Gegners aus München. Doch auch Eigeneinnahmen des Vorjahres und den letzten Wahlergebnissen Spenden über Drü- die Finanzexperten der SPD hatten jahr- * Spenden, Mitgliedsbeiträge und andere Einnahmen ckerkolonnen ein- zehntelang vor allem eines im Sinn: den

der spiegel 2/2002 29 Deutschland

schon verübeln, wenn sie und nicht die Par- tei die Meinungsumfragen finanziert? So droht dem rheinland-pfälzischen CDU-Landes- und Fraktionschef Christoph Böhr immerhin ein Prozess, weil er 1998 eine CDU-Broschüre aus Fraktionsmitteln bezahlte. Die Staatsanwaltschaft Mainz vermutet Untreue, Böhr kämpft für sein vermeintliches Recht und will notfalls hin- ter Gitter gehen. Schon lange fordern Experten, die Fi- nanzierungsmöglichkeiten der Parteien stärker einzuschränken, sie transparenter und einfacher zu machen. Bisher verge- bens. Die Parteien sorgten bei der jetzt an- stehenden „Reform“ dafür, dass selbst die vorsichtigen Empfehlungen der Parteien- finanzierungskommission des Bundesprä-

FOTOS: MARC DARCHINGER MARC FOTOS: sidenten nur teilweise umgesetzt wurden: • Ein „Verbot jeglicher Finanztransfers zwischen Fraktionen und Parteien“, wie es die Kommission forderte, sieht der Koalitionsentwurf nicht vor. • Das Auswechseln der Wirtschaftsprüfer nach fünf Jahren, wie von der Kommis- sion empfohlen, blieb unberücksichtigt. • Erbschaften und Vermächtnisse müssen nicht unter „Spenden“ aufgeführt und damit entschlüsselt werden, sondern las- sen sich – sanktionslos – auch weiterhin unter „sonstige Einnahmen“ verbuchen. • Unklar bleibt, ob ein Rechenschafts- bericht nur formell oder auch in der Sa- che richtig sein muss. Ein einschlägiger Rechtsstreit um die Frage, ob die CDU wegen ihrer schwarzen Kassen in Hessen 41 Millionen Mark Strafe zahlen muss, ist vor Gericht anhängig. • Den „Politikfinanzierungsbericht“, der alle fünf Jahre einen Gesamtüberblick über die Geldströme an Parteien und deren Umfeldorganisationen hätte lie- SPD-Schatzmeisterin Wettig-Danielmeier*, Grünen-Abgeordnete: Ewig klamme Parteien fern sollen, wird es nicht geben. Damit bleibt auch ein besonders heikler Wert ihrer vielfältigen Immobilien-, Medien- Aber daran hält sich kaum jemand. So Punkt weiter ausgespart: die parteinahen und Firmenbeteiligungen zu verschleiern. müssen grüne Bundestagsabgeordnete mo- Stiftungen, denen – von der Öffentlichkeit Beim Parteitag im November in Nürn- natlich 2600 Mark ihrer Diäten an die Bun- weitgehend unbemerkt – jährlich nahezu berg offenbarte SPD-Schatzmeisterin Inge despartei überweisen, zu dieser Praxis gibt 250 Millionen Euro zufließen, etwa doppelt Wettig-Danielmeier zum ersten Mal präzi- es sogar einen Parteibeschluss. Wer sich so viel wie den Parteien. se, wie viel der milliardenschwere Unter- weigert, kann umgehend abgestraft wer- Dauer-Kritiker Hans Herbert von Ar- nehmensbereich in einem Jahr an die Par- den: Die Zentrale zahlt dann weniger an nim, Rektor der Verwaltungshochschule tei überwiesen hat: 13,4 Millionen Mark den entsprechenden Landesverband. Speyer, monierte deshalb schon vor Jah- für 1999. Nach wie vor kontrolliert die SPD Dabei ist der größte Teil der Zwangs- ren: „Die Intransparenz bewirkt, dass die Beteiligungen über ein Netz von Stroh- spende noch nicht einmal steuerlich ab- Öffentlichkeit nicht verfolgen kann, wofür männern, Strohfrauen, Treuhändern und setzbar. „Ich versteuere 28 000 Mark im die Parteistiftungen wie viel Staatsgeld be- einen Aufsichtsrat, den sie der Öffentlich- Jahr, die ich gar nicht besitze“, stöhnt eine kommen, und selbst bei enormen Er- keit nur widerwillig vorstellte. Abgeordnete. höhungen nicht öffentlich dargelegt zu wer- Um ihre Finanzen aufzubessern, schre- Von den Grünen lernen heißt Siegen ler- den braucht, wofür das in eigener Sache cken die ewig klammen Parteien vor nen, dachte sich der PDS-Parteivorstand bewilligte Geld benötigt wird.“ kaum einem Trick zurück. Zwar hat das und beschloss 1997 frech und in aller Of- Stichwort Erhöhung. Die zumindest Bundesverfassungsgericht bereits 1975 fenheit: „Die Partei erwartet von ihren Ab- haben die rot-grünen Reformer bei ihrem klargestellt, dass Abgeordnetenentschä- geordneten, für die PDS zu spenden.“ Gesetzentwurf stets im Auge behalten. In digungen nicht zu einer „Mitfinanzie- Auch sonst sind die Möglichkeiten dis- diesem Punkt waren sie mutig: Diskret rung der Fraktion oder politischen Partei kreter Quersubventionierung vielfältig: Ob nutzten sie die Einführung des Euro und oder der Beteiligung an Wahlkosten“ her- Öffentlichkeitsarbeit, Wahlumfragen oder steigerten die bisherige Obergrenze von halten dürfen. klassische Parteiaktivitäten – längst haben 245 Millionen Mark an Steuergeldern für die gut ausgestatteten Fraktionen in Bund die Parteien dezent auf 130 Millionen Euro * Mit ihrem Rechtsanwalt Gerhard Strate vor dem Berli- und Ländern einen Teil der Parteiarbeit – knapp 5 Millionen Euro Zugewinn. ner Spenden-Untersuchungsausschuss. übernommen. Wer will es einer Fraktion Hans Michael Kloth, Horand Knaup

30 der spiegel 2/2002 Internet-Schaltzentrale (in Frankfurt am Main) „Perfekte Bedingungen für Terroristen“

sungen anderer Nationen, heißt es diplo- matisch, seien „stets auch unter dem Aspekt daraus resultierender Risiken zu bewerten“. Die Beamten raten, wenig überraschend, der Gefahr durch eine neue Behörde zu be- gegnen, um Vorwarnsysteme zu installieren und nationale Notfallpläne bei einem Ha- ckerangriff in Kraft zu setzen. Die beste- henden Einrichtungen in Deutschland, wie

DPA die Anfang 2000 von Bundesinnenminister Otto Schily gegründete Task Force „Siche- Das Ergebnis ist alarmierend: „Mit ge- res Internet“, genügten diesen Ansprüchen TERRORISMUS zielten Eingriffen an besonders neuralgi- „nur ansatzweise“. schen Punkten“ wie Telekommunikation, Denn schon die Aufgabe, einen mögli- Neuralgische Strom-, Gas- und Ölversorgung ließen sich chen Angreifer überhaupt sicher zu iden- auch in Deutschland „gegenseitig auf- tifizieren, erweist sich als ziemlich kompli- schaukelnde Ausfallerscheinungen hervor- ziert. So hatte das Pentagon eine Attacke Punkte rufen, die das gesellschaftliche Leben buch- auf einige seiner Computersysteme ent- stäblich lahm legen“. Dieses „Gefahren- deckt und die Quelle in Abu Dhabi am Einem organisierten Cyber-Angriff potenzial“ zu missachten „könnte sich in Persischen Golf geortet. Der Auftraggeber zukünftigen Konflikten bitter rächen“. schien klar: Saddam Husseins Irak. auf deutsche Computer wäre Die „Bedrohung für Staat und Wirt- Doch das Greifkommando, das in der die Republik hilflos ausgeliefert. In schaft“ aus dem Computer, warnen die Mi- arabischen Hafenstadt zuschlug, fand nur einer vertraulichen Regierungsstudie nisterialen, sei spätestens seit dem 11. Sep- einige Server: eine Sackgasse. Die wah- schlagen Experten Alarm. tember real: „Für Terroristen bietet das In- ren Täter waren zwei Teenager aus Kali- ternet geradezu perfekte Arbeitsbedin- fornien, die eine falsche Fährte durchs Netz ür nordkoreanische Verhältnisse wa- gungen.“ gelegt hatten. „Die Unterscheidung in ren die 35 Angreifer luxuriös aus- Dass die komplexen Kommunikations- Kombattanten und Nicht-Kombattanten“, Fgerüstet: mit robusten Kaufhaus- systeme moderner Industriegesellschaften so das Fazit der Berliner Cyber-Abwehr, Computern und erprobter Gratis-Software extrem anfällig für Angriffe sind, konnten „ist beim Krieg im Datennetz nicht mehr aus dem Internet. Mehr brauchten die Cy- die Deutschen schon früher merken. So möglich.“ ber-Soldaten des nordkoreanischen Dikta- legte im Frühjahr 2000 der „I love you“-Vi- Nicht nur einzelne Hacker gefährden die tors Kim Jong Il nicht, um die Supermacht rus massenweise deutsche Bürocomputer nationale Sicherheit. Richtig bedrohlich USA erfolgreich zu attackieren. Nach zwei lahm, doch das waren nur Spielereien ein- wird es, wenn fremde Regierungen die Wochen bereits kontrollierten sie mit ihren zelner Hacker. Seit dem 11. September da- schlecht geschützten Datennetze Deutsch- Discount-Rechnern die Stromnetze und gegen, so fürchten die deutschen Sicher- lands angreifen. Auch kleine Staaten könn- Feuerwehr-Notrufanlagen in neun ameri- heitsexperten, sind auch politisch moti- ten im Zuge der „asymmetrischen Kon- kanischen Städten. vierte Angriffe nicht mehr auszuschließen. fliktaustragung“ militärisch überlegenen Unbemerkt drangen die Dunkelmänner Die Abwehr ist teuer. Deutschland müs- Gegnern empfindlichen Schaden zufügen, aus dem fernen Osten in 34 Computer- se mehr Geld für Schutztechnologie aus- fürchten die Berliner Experten. netzwerke des Pentagon ein und sorgten geben, fordert die Studie, die von beiden Großmächte wie Russland und China in- mit falschen Befehlen für Chaos: Ein Tank- Ministerien unter Verschluss gehalten wird. vestieren bereits viel Geld in ihre defensi- wagen mit Flugbenzin wurde zum nächsten So müssten „unabhängige nationale Soft- Marine-Stützpunkt dirigiert. Vergebens ware- und Kryptoprogramme“ entwickelt wartete eine F-16-Kampfflugzeugstaffel auf werden – mit hohem Aufwand. neue Raketen; geliefert wurde stattdessen Der politisch heikle Grund: Vor allem eine Ladung Lkw-Lampen. amerikanische Anbieter werden verdäch- Die Amerikaner kamen noch einmal da- tigt, „Trojanische Pferde“ in ihren Syste- von: Die Attacke vor viereinhalb Jahren men zu installieren, die US-Geheimdienste war eine Übung, als nordkoreanische im Krisenfall zur Spionage auf den Fest- Agenten traten Mitarbeiter der National platten nutzen könnten. Technische Lö- Security Agency auf. Drastisch zeigte das Manöver, wie hilflos selbst die Weltmacht Angriffsziel Stromversorgung USA einem Angriff aus internationalen Da- „Das gesellschaftliche Leben lahm legen“ tennetzen ausgeliefert war. Washington zog die Konsequenzen: Mittlerweile sind etwa ve Computerrüstung. Sie wissen, was jetzt 2000 Spezialisten damit beschäftigt, eine auch die Deutschen herausgefunden ha- Cyber-Attacke zu verhindern. ben: Die gefährlichsten Cyber-Angriffe Nach den Terroranschlägen des 11. Sep- drohen nicht aus „Schurkenstaaten“ wie tember ist jetzt auch die Bundesregierung Nordkorea oder dem Irak – sondern, tech- aufgewacht. In einer internen 16-seitigen nisch gesehen, aus den USA. Die Super- Studie analysieren die Planungsstäbe von macht „dürfte heute ein Monopol in der

Joschka Fischers Auswärtigem Amt und Ru- REUTERS Fähigkeit besitzen“, heißt es in dem Berli- dolf Scharpings Verteidigungsministerium Sicherheitspolitiker Fischer, Scharping ner Papier, „kritische Infrastrukturen wir- die Gefahren durch Angriffe aus dem Netz. Gefahr aus den USA kungsvoll anzugreifen“. Ralf Beste

der spiegel 2/2002 31 Deutschland

SPARZIEL SICHERHEIT SPARZIEL KULTUR Aus Geldnot stoppen Der Wuppertaler Oper, Kommunen Investitionen – Heimat der Compagnie MICHAEL RUFF sogar bei der Feuerwehr / LAIF JOE KRAMER Bausch, droht das Aus Freiwillige Feuerwehr in Glückstadt Opernhaus in Wuppertal

KOMMUNEN Daumenschrauben für Bürger Städte und Gemeinden rutschen in die Pleite, sie müssen Gebühren erhöhen und Leistungen streichen. Denn Konjunktureinbruch, Arbeitslosigkeit und die letzten Steuerreformen gehen zu ihren Lasten.

ie Bürger von Wuppertal müssen Präsident des Städte- und Gemeindebunds, Cent Gewerbesteuer sehen. Grund ist der sich in diesem Jahr für ihre Freizeit vergangenen Donnerstag auf einer Presse- so genannte Verlustvortrag: Das Unter- Detwas einfallen lassen: Die Stadt konferenz in Berlin, die als Hilferuf ge- nehmen kann das Minus aus dem Rover- wird mangels Geld mehrere Büchereien dacht war. Und angesichts der neuesten Debakel so über die Jahre verteilen, dass und Schwimmbäder schließen. Auch Opern- Meldungen über bald vier Millionen die Stadtväter lange leer ausgehen. haus und Schauspielhaus stehen zur Dis- Arbeitslose warnte er: „Ohne verstärkte Rainer Häusler, Kämmerer von Lever- position; wenn nicht bald in den Brand- kommunale Investitionen wird es auf dem kusen, kann das üble V-Wort nicht mehr schutz investiert wird, sperrt die Feuer- Arbeitsmarkt nicht aufwärts gehen.“ hören. Vergangenen Sommer machte er wehr die Gebäude einfach zu. Ein Grund für die aktuelle Zwangslage: wie jedes Jahr seinen zehn größten Steu- Bürgermeister andernorts wählen den Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer, erzahlern persönlich die Aufwartung. Die entgegengesetzten Weg: Um nicht Bank- wichtige Geldquelle der Kommunen, sind Konjunktur lief da noch anständig, doch rott zu gehen, erhöhen sie die Gebühren, im vergangenen Jahr durchschnittlich um bei Häusler gab es schon Grund für die und zwar rabiat. In Bad Soden bei Frank- zwölf Prozent eingebrochen, vielerorts fast ersten Sorgenfalten: Ein „guter Kunde“ furt etwa sollen Familien mit einem Kind bis auf Null. hatte im Ausland eine verlustreiche Firma nun 40 Prozent mehr für den Kindergar- Im Vergleich zum Jahr 2000 fehlten im erstanden. Mit den bisher gezahlten zwei- tenplatz zahlen – statt 250 Mark demnächst vergangenen Jahr 3,3 Milliarden Euro in stelligen Millionenbeträgen an Gewerbe- rund 180 Euro; Gräber werden um bis zu den Stadtkassen, und in diesem Jahr wird steuern ist es für die nächsten Jahre vorbei; 37 Prozent teurer, ebenso die Studenten- ein noch höheres Minus erwartet – Folge und auch der Bayer-Konzern muss nach Saisonkarten im öffentlichen Freibad. Und der abgestürzten Konjunktur, die einher- dem Desaster mit dem Medikament Lipo- vielerorts steigen die Kosten für Wasser geht mit höherer Arbeitslosigkeit und stei- bay passen. Mit einer Trauerrede schwor und Müllentsorgung. genden Sozialausgaben der Gemeinden. Häusler den Rat seiner Stadt auf den Spar- Die meisten der 14000 Städte und Ge- Dazu greift die unternehmerfreundliche haushalt 2002 ein: „Nichts wird mehr so meinden in Deutschland müssen hart spa- Steuerpolitik der Bundesregierung, die es sein, wie es war.“ ren, Straßen und öffentliche Gebäude ver- Banken und Versicherungen, aber auch Düstere Stimmung ebenfalls am Wohn- fallen, weil Geld selbst für die dringendsten Großkonzernen wie E.on oder BMW er- ort der Familie von Bundeskanzler Ger- Reparaturen fehlt. „Viele Kommunen sind laubt, trotz Milliardengewinnen um Ge- hard Schröder. Herbert Schmalstieg, SPD- kaum noch in der Lage, die Alltagsproble- werbesteuern herumzukommen (SPIEGEL Oberbürgermeister von Hannover, warnt me ihrer Bürger zu bewältigen“, schimpft 35/2001). Die Zeche dafür zahlen die Bür- schon vor dem „Ende der kommunalen der niedersächsische Ministerpräsident Sig- ger mit steigenden Gebühren – für immer Selbstverwaltung“: Niedersachsens Lan- mar Gabriel (SPD). „Unsere Städte stehen schlechtere kommunale Leistungen. deshauptstadt hat inzwischen 1,4 Milliar- vor dem Bankrott“, sagt Petra Roth, CDU- Der BMW-Konzern etwa fuhr im ver- den Euro Schulden. Oberbürgermeisterin von Frankfurt und gangenen Jahr mit rund 1300 Millionen Seit Anfang der neunziger Jahre, rech- Vizepräsidentin des Deutschen Städtetags. Euro den höchsten Gewinn seiner Ge- net der Hauptgeschäftsführer des Deut- „Ein Investitionsvolumen auf Nach- schichte ein – München, die Stadt des Fir- schen Städtetags, Stephan Articus, vor, kriegsniveau“ beklagte Roland Schäfer, menhauptquartiers, wird davon keinen können die Kommunen immer weniger

32 der spiegel 2/2002 Muss eine Kommune mehr Geld etwa für Sozialhilfe ausgeben, als sie hat, wird sie unter die Kuratel eines Verwalters meist aus einer höheren Verwaltungsebene ge- stellt. Dann können die Kommunalpolitiker eigentlich nach Hause gehen. Der Düsseldorfer Regierungspräsident Jürgen Büssow (SPD) gehört zu jenen Sparkommissaren, die klammen Kommu- nen vor die Nase gesetzt werden. 5,3 Mil- lionen Menschen leben in seinem Zustän- digkeitsbereich. Eine der wenigen Kom- munen, die noch ohne seine Genehmigung wirtschaften darf, ist die Landeshauptstadt SPARZIEL BILDUNG Düsseldorf. „Eigentlich müsste ich den Ge- Vielerorts verfallen Schulen, meinden die gesamten freiwilligen Leis- tungen zusammenstreichen“, sagt Büssow, weil den Kommunen das Geld „doch damit würden die Stadt- und Ge-

für die Renovierung fehlt VERLAG / BERLINER UHLEMANN THOMAS meinderäte demotiviert und die kommu- Hellersdorfer Grundschule in Berlin nale Selbstverwaltung, die bei uns immer- hin Verfassungsrang hat, ausgehebelt.“ Geld für Investitionen ausgeben. Inzwi- bewältigen. Nicht in irgendeinem Ent- Das bergische Städtchen Remscheid bei- schen sind es allein bei den Bauinvestitio- wicklungsland, sondern mitten in der spielsweise hat 230 Millionen Euro Schul- nen 30 Prozent weniger als noch 1993 (sie- Hauptstadt Berlin mussten jüngst die Fens- den und gibt jährlich etwa 5 Millionen für he Grafik). Aber was heute nur notdürftig ter einer Schule zugeschraubt werden, da- so genannte freiwillige Leistungen wie In- repariert werden kann, wird morgen umso mit sie niemandem auf den Kopf fallen. standhaltungen aus. Würden die gestri- teurer. Das Deutsche Institut für Urbanistik Manche Städte sparen gar an der Sicher- chen, gäbe es kaum noch etwas, was der hat ausgerechnet, dass die Kommunen bis heit, beispielsweise bei der Feuerwehr: In Stadtrat beschließen könnte. 2009 eigentlich 650 Milliarden Euro in ihre Glückstadt bei Hamburg trat kurz vor Schuld an der Misere sind vielerorts frei- Infrastruktur stecken müssten; illusorisch Weihnachten die Hälfte der Männer aus lich auch die Sünden der Vergangenheit: bei einem Investitionsvolumen von derzeit der Freiwilligen Wehr aus, weil Geld für die Vor allem für kulturelle Prestigeobjekte 22 Milliarden pro Jahr. Anschaffung lebensrettender Geräte nicht verbrannten Kommunen bundesweit Mil- Unter dem Sparzwang leidet die örtliche bewilligt wurde. Der Protest fruchtete, die liarden. Muss sich das verschuldete Rem- Bauindustrie, die das Ausbleiben öffentli- Kommune lenkte notgedrungen ein. scheid wirklich zusammen mit Solingen ein cher Aufträge für die Entlassung Tausender Bei den Gebühren erschließen Bürger- eigenes Symphonisches Orchester mit 80 Mitarbeiter verantwortlich macht. Darunter meister auch versteckte Quellen: In Tang- Musikern leisten? leiden auch die Bürger: Weil etwa Straßen stedt bei Hamburg wurde die Hundesteu- Dass prunksüchtige Bürgermeister jahre- nur noch geflickt und nicht mehr gründlich er für Zweithunde jetzt um bis zu 14 Pro- lang über die Verhältnisse lebten und heu- saniert werden können, erlassen viele Städ- zent auf 70 Euro erhöht; am Fühlinger See te noch viele Städte und Gemeinden Un- te notgedrungen Tempolimits. In Würzburg bei Köln müssen Hobbytaucher in diesem sinniges finanzieren, beweisen alle Jahre musste die stark befahrene Siligmüller- Sommer wahrscheinlich sieben Euro pro wieder die Schwarzbücher des Bundes der brücke gleich ganz gesperrt werden; sie ist Tag zahlen, sobald sie unter die Wasser- Steuerzahler. Dessen Präsident Karl Heinz baufällig, und die zwei Millionen Euro für oberfläche wollen. Die Stadt am Rhein hat Däke rechnet die öffentliche Verschwen- die Renovierung hat die Stadt nicht. fast drei Milliarden Euro Schulden, alle dung auf jährlich 30 Milliarden Euro hoch. Verzweifelt bis komisch muten man- zwei Tage ist knapp eine Million Euro an Unter der derzeitigen Fi- cherorts die Bemühungen an, die Krise zu Schuldendienst fällig. nanzmisere leiden aber auch Gesamt- Städte, die als Musterbei- verschuldung spiel an Sparsamkeit gel- 160 35 der Kommunen: ten: Das in der ganzen 152,7 ca. 100 Bundesrepublik gepriesene 30,4 Milliarden Euro Offenbacher Modell ist be- Juni 2001 droht, weil 2002 nur die Hälf- 150 147,1 146,6 30 27,5 te der zunächst erwarteten Ge- 26,9 werbesteuer fließen dürfte. Der Sozialdemokrat Gerhard 140 142,5 143,3 25 Grandke hatte sich bundesweit 140,9 einen Namen als Sparkommissar 22,3 gemacht, weil er der maroden Stadt anfang der neunziger Jah- 130 20 re – zunächst als Kämmerer, inzwischen auch als Oberbürger- 125,4 18,7 meister – ein rigides Sparpro- * 17,8 123,1 Kommunale Ausgaben gramm verpasst hatte. Er senkte 120 ■ * 15 ■ Quelle: Ausgaben der Kommunen für Soziales Deutscher Personalkosten und Sachaufwand ■ Einnahmen der Kommunen* ■ für Baumaßnahmen Städtetag drastisch. *ohne Stadt- Die „Liste der Grausamkei- in Milliarden Euro in Milliarden Euro staaten 110 10 ten“ (Grandke) war lang: So schloss er drei Schwimmbäder, 1991 92 93 94 95 96 97 98 99 00 2001 1991 92 93 94 95 96 97 98 99 00 2001 eine Stadtteilbibliothek, ein Ju-

der spiegel 2/2002 33 Deutschland gendzentrum und – der finanzierung von Bundes- Aufschrei der Bildungs- seite die gewaltigen Inte- bürger war heftiger als grationsprobleme lösen.“ etwa bei dem Jugendzen- Gabriel will, dass auch trum – das städtische weiterhin Betriebe über Theater. die Gewerbesteuer die Jetzt arbeiten die Of- Kosten für die Infrastruk- fenbacher fieberhaft dar- tur bezahlen – aber er an, ihr Modell zu retten. möchte beispielsweise auch Doch Oberbürgermeister jene zur Kasse bitten, die Grandke fällt außer einem sich bisher zurückgehal- erneuten Personalabbau ten haben: die Freiberuf- kaum noch etwas ein. ler. So muss der kleine Immer mehr Kommu- Handwerksmeister Gewer- nen greifen auch zu illega- besteuer zahlen, der Ar- len Tricks, um halbwegs chitekt mit einem großen mit dem Dilemma fertig zu Büro aber nicht. Ein Um- werden: Viele finanzieren stand, den auch Peer

beispielsweise die Perso- PETER WIDMANN Steinbrück (SPD), Finanz- nalkosten per Kredit, was BMW-Zentrale in München: Keine Gewerbesteuer trotz Rekordgewinn minister in Nordrhein- verboten ist. Westfalen, ändern will. „Verglichen mit mir ist Hiob ein fröhli- nen ein Telekommunikationsunternehmen Sein Kollege, Innenminister Fritz Beh- cher Mann“, sagt der Verwaltungschef von sitzt, das die Kosten bei der Steuer ab- rens (SPD), vertritt die Länder-Innenminis- Holzminden, Wolfgang Bönig. Nur mit schreibt – vermutlich noch über die nächs- ter in Eichels Kommission und setzt sich für Krediten der Bank kann der Bürgermeister ten zehn Jahre hinweg; erst dann rechnen die Begrenzung der Pflichtaufgaben der der niedersächsischen 22000-Einwohner- Experten mit Gewinnen im UMTS-Ge- Kommunen ein. Eine große Rolle werden Stadt sich selbst und seine Mitarbeiter schäft. So fordert die Telekom von der dabei die ständig steigenden Sozialaus- noch bezahlen, seit im Haushalt der Stadt Bonn jetzt für das Jahr 2001 einen gaben spielen. „Mindestens ein Drittel der Stadt über sieben Millionen Euro fehlen. dicken Batzen an Gewerbesteuern zurück, Sozialhilfeausgaben sind in Wirklichkeit Die Schulden sind nicht zu tilgen, Bönig im Gespräch sind 27 Millionen Euro. Lohnersatzleistungen“, meint Gabriel. spürt schon Kleckerbeträgen hinterher. Immerhin: Weil es in den Kommunen „Die zu bezahlen ist keine originäre Auf- Erstmals hat Holzminden jetzt auf die nun „fünf nach zwölf“ ist (Roth), beginnt gabe der Kommunen.“ Weihnachtsbeleuchtung an der Weser ver- langsam ein Umdenken. In den SPD- Für den Bund der Steuerzahler sind zichtet, Einsparung: rund geführten Bundesländern solche Ideen nur „Herumdoktern an 250 Euro. wächst inzwischen der Är- einem kranken System“, so Vizepräsident „Mit Kassenkrediten ger darüber, dass die eigene Dieter Lau. Denn die Hauptursache für wie in Holzminden ver- Bundesregierung das Pro- die Misere, die schwankenden Einnahmen suchen immer mehr blem aussitzt. bei der Gewerbesteuer, würde bleiben. Kommunen, sich über die Aus Sorge, dass die Lage Sein Verband fordert darum die Abschaf- Runden zu retten“, sagt in den Kommunen bei der fung der Gewerbesteuer. Die Kommunen Eberhard Kanski vom bevorstehenden Bundestags- sollten im Gegenzug einen höheren Anteil Bund der Steuerzahler wahl Stimmen kosten könn- der Einkommensteuer erhalten und an in Nordrhein-Westfalen. te, hat sogar die Bundes- der Körperschaftsteuer beteiligt werden. Aber bei den Dispo-Kre- SPD jüngst guten Willen Bei deren Höhe müsse die jeweilige Stadt diten geht es den Kommu- demonstriert. Auf dem Par- oder Gemeinde mitbestimmen dürfen. nen wie jedem Bürger – sie teitag in Nürnberg im No- Damit könnten Kommunalparlamente sind fast doppelt so teuer vember wurden „kommu- beeinflussen, wie viel Geld sie ihren wie langfristige Darlehen. nalpolitische Leitsätze“ be- Bürgern abknöpfen – und die könnten Doch die günstigen Kre- schlossen, nach denen die dann an der Wahlurne darüber abstimmen, dite dürfen die Städte Pflichtaufgaben von Städten ob sie mit der dafür erbrachten Leistung

nicht für ihren Verwal- / DDP JOCHEN LUEBKE und Gemeinden auf das zufrieden sind. tungshaushalt aufnehmen, Sozialdemokrat Gabriel Notwendigste begrenzt wer- Es ist aber unwahrscheinlich, dass sich das ist nur bei Investitio- Freiberufler sollen zahlen den sollen. Und Finanz- der Bund auf solche Ideen ernsthaft ein- nen erlaubt. minister Hans Eichel berief lässt. Darum werden bald wieder einmal Schon lange wünschen sich die Bürger- eine Reformkommission, die in den nächs- Richter eine Aufgabe der Politik überneh- meister eine Politik nach dem Motto: Wer ten Wochen die Arbeit aufnehmen soll. men müssen: Hans Kremendahl, SPD- bestellt, der bezahlt. Die Wirklichkeit ist „Die Leute vor Ort merken doch lang- Oberbürgermeister von Wuppertal, lässt davon weit entfernt. Seit Jahren macht die sam, dass da etwas im System nicht gerade von den Juristen seines Hauses eine Bundesregierung Politik zu Lasten der stimmt“, sagt der Niedersachse Gabriel. Klage ausarbeiten. Wenn seine Parteige- Kommunen. „Sozialleistungen für Asylbe- Der Sozialdemokrat will die Gemeinde- nossen ihm nicht helfen, zieht er vors Ver- werber und Kriegsflüchtlinge, Hilfen für finanzierung zügig reformieren. Die Kom- fassungsgericht des Landes. Langzeitarbeitslose, Rechtsanspruch auf munen sollen nicht mehr die Zeche für all Dann entscheiden Juristen, ob Wupper- einen Kindergartenplatz“ – das seien die jene Projekte zahlen, die im Bund oder in tal in Zukunft genug Geld für seine dicksten Brocken, sagt Städtetagsge- den Ländern ausgeheckt werden. Schwimmbäder und das Opernhaus be- schäftsführer Articus. So warnt Gabriel vor einer Kostenlawi- kommt. Und ob dort weiterhin das welt- Bundesfinanzminister Hans Eichel freu- ne durch das Zuwanderungsgesetz: „Es ist berühmte Tanztheater Pina Bausch eine te sich etwa, als er die UMTS-Lizenzen für eine Illusion zu glauben, die Kommunen Heimat hat. Michael Fröhlingsdorf, über 50 Milliarden Euro versteigern konn- könnten mit ihren derzeitigen finanziellen Almut Hielscher, Conny Neumann, Barbara Schmid te. Büßen müssen jene Gemeinden, in de- Möglichkeiten und ein paar Euro Spitzen-

34 der spiegel 2/2002 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland

RELIGION Platte Sprüche Prominente Sportler und Künstler werben für den Glauben an Gott. Hinter der sündhaft teuren Kampagne stecken christliche Fundamentalisten aus den USA. er Weg zu Gott führt über einen gebührenpflichtigen Anruf. Wer in Ddiesen Tagen die mit 01803 begin- nende Nummer anwählt, erhält die not- wendige Wegbeschreibung. 134 Seiten lang, diesmal umsonst. Der Titel: „Kraft zum Leben“. Nie war es so einfach, ein Christ zu werden. Der Engel im Call-Center bittet aller-

dings um Verständnis: Derzeit müsse je- AUGUSTIN CHRISTIAN der Anrufer mit vier bis sechs Wochen Lie- Buchwerbung mit Golfer Langer: „Ein fester Glaube hilft auch im Golf“ ferzeit rechnen. Die gerade in Deutschland laufende Werbekampagne habe eine star- DeMoss-Stiftung“ in Palm Beach, Florida. Buchkapitel, entsprächen eigener Erfah- ke Nachfrage geweckt – ganz so, wie man Der Anrufer erfährt wenig: „Wir sind kei- rung: „Äußerlich fehlte mir nichts: Geld, es sich gewünscht habe. „Tja“, frohlockt ne Sekte, aber wir können nicht sagen, was Häuser, Autos und eine hübsche junge die Dame, „die geben ganz schön Gas.“ wir sind. Wir suchen keine Öffentlichkeit.“ Frau; alles toll, alles wunderschön. Und Aber wer „die“ sind, darüber sei sie „nicht DeMoss verdiente Hunderte Millionen trotzdem fehlte mir was.“ befugt zu reden“. Dollar im Versicherungsgeschäft. Er galt Ähnlich ging es nach eigenem Einge- Schlagersänger Sir Cliff Richard und der als einer der Pioniere im Direkt-Marke- ständnis auch Philip Prinz von Preußen, ehemalige Weltklasse-Golfer Bernhard ting. Bevorzugt versicherte er konservati- dem Ururenkel des letzten deutschen Kai- Langer gehören jedenfalls dazu. In TV- ve Christen mit einem Lebensstil frei von sers, der Leipziger Kunstspringerin Brita Spots, in Zeitungsbeilagen und auf Plaka- Alkohol, Nikotin und Ausschweifungen – Baldus, dem Münchner Fußballprofi Pau- ten in deutschen Städten verkünden sie, also mit geringem Risiko. Die Hälfte seines lo Sergio oder der „Bild der Frau“-Chef- Einkommens floss in seine Mission. redakteurin Andrea Zangemeister. Was im- Zitate aus „Kraft zum Leben“: Er war eine treibende Kraft der evange- mer ihnen in den weltlichen Zeitläuften likalen Kampagne „I Found It!“ in den nicht die nötige Zufriedenheit verschaffte, „Wir wollen Sie ermutigen, frühen siebziger Jahren und berüchtigt für der gedruckten „Kraft der Botschaft Got- in das richtige Flugzeug ein- seine Bekehrungsanstrengungen unter Ge- tes“ (Baldus) gelang es scheinbar mühelos. zusteigen, dessen Reiseziel schäftsleuten, die er für ein vernachlässig- Das Werk, auf das die Frömmler schwö- wahrer Erfolg ist.“ tes Missionsfeld hielt. Sein Testament – er ren, wurde 1983 von einem amerikanischen starb 1979 mit 53 Jahren auf einem Ten- Prediger verfasst und immer wieder um- „Erlauben Sie Gott, Ihnen nisplatz – verpflichtet die Erben, weiterhin geschrieben. Es enthält simple Sprüche Kraft zu geben, damit Sie weltweit Propaganda für Gott zu machen. wie: „Alles was Du tun musst, ist zu sagen: nicht nur leben, sondern im Zu den bevorzugten Nutznießern von Jesus, ich will, dass Du Herr über mein Leben regelrecht schwelgen.“ DeMoss-Geld zählt das „Amerikanische Leben wirst.“ Zentrum für Ordnung und Recht“, das ge- Die platten Sprüche waren deutschen gen Schwulen-Ehen kämpft, Abtreibungs- Evangelikalen zu altbacken. Bei der Suche bereits den Weg zu Gott gefunden zu ha- gegner verteidigt und Schulprediger för- nach Verbündeten platzten schon sicher ben. Den einen („Rote Lippen soll man dert. Etwa neun Millionen Dollar spen- geglaubte Allianzen mit hiesigen christli- küssen“) trägt die Frömmigkeit in neue dierte die Stiftung für eine Kampagne, die chen Erweckungsgruppen. Die Deutschen Hitparaden-Höhen, den anderen stützt der Jugendliche vom vorehelichen Sex abhal- hätten gern die durch die Werbung Ange- Herr beim Einlochen: „Ein fester Glaube ten sollte („You’re worth waiting for“). An- sprochenen in ihren Gruppen organisiert. hilft im Leben, aber natürlich auch im dere Geldempfänger sind Abtreibungsgeg- Der Christliche Medienverbund in Wetzlar Golf.“ Und wenn mal wieder der Yips, das ner-Organisationen, Anti-Pornografie- und wies den für die deutsche Kampagne zu- berüchtigte nervöse Zittern auf dem Grün, Anti-Schwulen-Gruppen. ständigen Stiftungsdirektor, Gründer-Bru- mächtiger ist, tröstet Meister Langer die Angesichts eines Vermögens von rund der Robert DeMoss, zudem darauf hin, Gewissheit, „dass Gott mich liebt, auch 450 Millionen Dollar zahlt die Stiftung die dass man die Deutschen nicht in gleicher wenn ich nicht siege“. sündhaft teure Werbekampagne in Art wie die Amerikaner ansprechen kön- So ist Gott eben. Und alle sollen erfah- Deutschland aus der Portokasse. Ähnliche ne. DeMoss aber habe sich als „beratungs- ren, wie es geht: einfach „Kraft zum Le- Aktionen wurden zuvor schon in zehn resistent“ erwiesen und keine Textverän- ben“ bestellen und lesen. Keine Kosten, Ländern finanziert. derungen zugelassen. kein Vertreterbesuch, keine Sektenwerber Der deutsche Golfprofi Langer, versi- DeMoss behauptet, es gehe nur darum, an der Haustür. Nur eins irritiert: Der chert sein Management, bekomme für sei- den Menschen das Buch nahe zu bringen. scheinbar selbstlosen Gotteswerbung – Me- nen Werbeauftritt von der DeMoss-Fami- „Es ist eine einfache Botschaft in einer dien-Experten schätzen das Volumen auf ly kein Geld. Schließlich stehe er selbst voll komplexen Welt, von der wir glauben, dass fünf Millionen Euro – fehlt ein deutlicher und ganz hinter der „Kraft zum Leben“. sie die Welt für alle besser und freundlicher Hinweis auf ihren Urheber, die „Arthur S. Die Thesen, predigt der Golfer in einem macht.“ Peter Wensierski

38 der spiegel 2/2002 Deutschland PETER ENDIG / DPA Schülerdemonstration gegen Sparmaßnahmen (im Dezember in Berlin): „Hin und wieder ein Highlight“

SPIEGEL-GESPRÄCH Lesen muss man trainieren Der Erfolgsautor und Rechtsprofessor Bernhard Schlink über die Pisa-Studie, schlechten Deutschunterricht in der Schule und die Schreibschwächen seiner Studenten

SPIEGEL: Herr Schlink, hat Sie das schlech- SPIEGEL: Als Juraprofessor an der Berliner Fachliteratur, über das hinaus, was im Stu- te Abschneiden der deutschen Schüler im Humboldt-Universität können Sie das Lese- dium absolut verlangt wird. Wir bieten jetzt internationalen Vergleich der Pisa-Studie verhalten Ihrer Studenten beobachten. Wel- einen Kurs in juristischer Stil- und Schreib- überrascht? che Rolle spielt die Literatur, das Lesen? kunde an. Da werden klassische juristische Schlink: Ich hatte erwartet, dass es mit der Schlink: Es gibt viele, die überhaupt nicht Texte gelesen, die Studenten lernen, wie Lesekompetenz nicht toll aussieht, aber lesen, weder belletristische Literatur noch man einen Text strukturiert und gestaltet dass es so trostlos kommen wür- und wie man einen ersten Satz de, hatte ich nicht vermutet. schreibt. Der Kurs ist immer gut SPIEGEL: Wird an deutschen Bernhard Schlink besucht und macht allen Beteilig- Schulen zu wenig gelesen? lehrt als Professor für Rechtswissenschaften ten Spaß. Schlink: Ich glaube schon. Die an der Berliner Humboldt-Universität. 1987 SPIEGEL: Sie bringen Ihren Stu- Schüler beschäftigen sich zu veröffentlichte er seinen ersten Krimi. Sein denten Lesen und Schreiben bei? lange mit einzelnen Texten. 1995 erschienener Roman „Der Vorleser“, Schlink: Das ist tatsächlich not- Man muss nicht jede Figur und der in mehr als 20 Sprachen übersetzt wur- wendig, denn was in manchen jede Szene auseinander nehmen. de, machte Schlink, 57, zu einem der erfolg- Klausuren oder Hausarbeiten An großen US-Colleges gibt es reichsten deutschen Schriftsteller. Der Held steht, ist erbärmlich. Da muss ein-

einen Pflichtkurs im ersten Jahr, / OSTKREUZ JENS RÖTZSCH des „Vorlesers“, der 15-jährige Schüler fach geübt werden. der heißt „Lit. Hum.“, die Lite- Michael, wird von der erwachsenen Hanna SPIEGEL: Betrifft das eher den Stil ratur der Menschheit. Dort wird in zwei Se- verführt. Dann verschwindet sie plötzlich aus seinem oder die Rechtschreibung? mestern die Weltliteratur von Homer bis in Leben; Jahre später, als Jurastudent, sieht Michael Schlink: Die Orthografie wurde die Gegenwart durchgegangen, die Schüler sie im Gerichtssaal wieder. Als ehemalige KZ-Aufsehe- besser, dank der Rechtschreib- lesen in kurzer Zeit gewaltige Textmassen. rin wird Hanna verurteilt. Erst beim Prozess erfährt programme der Computer. Aber Michael, was die frühere Geliebte immer zu verbergen es fehlt an der Klarheit der Argu- Das Gespräch führten die Redakteure Volker Hage und versucht hatte: Hanna ist Analphabetin. mentation. Die Sätze fügen sich Julia Koch. nicht, sondern werden einfach an-

der spiegel 2/2002 39 Deutschland einander gereiht. Ein Problem bei Hausar- beten verwenden einen großen Teil ihrer SPIEGEL: „Der Vorleser“ wird auch im Un- beiten ist auch, dass im Computer schon Lebensenergie darauf, zu verbergen, dass terricht behandelt, Auszüge finden sich in die erste Fassung verführerisch perfekt aus- sie nicht lesen können – was könnten Schulbüchern. Bekommen Sie Briefe von sieht. Ich meine, wir sollten dazu überge- sie mit dieser Lebensenergie sonst alles Schülern, die das Buch gelesen haben? hen, auch den Stil der Arbeiten zu bewer- machen! Manchmal denke ich, wenn ich Schlink: Ja, sehr viele stellen mir Fragen ten. Zugleich müssen den Studenten An- einmal pensioniert bin, würde es mir zum Buch, allerdings kaum noch in Brie- gebote gemacht werden, ihre sprachliche Spaß machen, Analphabeten zu unter- fen, sondern fast ausschließlich in E-Mails. Ausdrucksfähigkeit zu verbessern. richten. SPIEGEL: Schreiben Sie auch zurück? SPIEGEL: Sollten nicht gerade Juristen sehr SPIEGEL: Hanna lernt am Ende des Buchs Schlink: Ich beantworte fast alle Fragen, lesekundig sein? Sie müssen juristische lesen, und erst dadurch gelingt es ihr, das inzwischen allerdings mit weniger Engage- Texte, die ihre ganz eigene Sprache eigene Leben zu begreifen. ment als am Anfang. Ich habe oft das Ge- haben, durchdringen und auch einmal ein Schlink: Es gibt eine Theorie zum An- fühl, dass die Schüler Fragen stellen, die sie Urteil schriftlich festhalten können. alphabetismus, die besagt, dass die eigene von ihren Lehrern haben, auf die man als Schlink: In dieser Beziehung junger Leser nicht kommt. hat sich die Rechtswissen- Anfangs habe ich dann zu- schaft verändert. Der Um- rückgefragt, warum sie gera- gang mit Texten ist unver- de das wissen wollen, warum bindlicher geworden; an die es für ihr Verständnis der Ge- Stelle exegetischer und syste- schichte relevant ist. Da kam matischer Genauigkeit ist nie eine Antwort. vielfach das lockere Spiel mit SPIEGEL: Was fragen die Fallbeispielen aus der Recht- Schüler denn? sprechung getreten. Schlink: Sie wollen wissen, SPIEGEL: Können Sie etwas wer die Hauptperson ist; ob anfangen mit dem Begriff der die weibliche Protagonistin Lesekompetenz, der „Rea- Täterin oder Opfer ist; wel- ding Literacy“, wie sie in der che Wirkung ich mir von dem Pisa-Studie getestet wurde? Buch erhoffe; was ich dem Schlink: Dass man Lesen als Leser sagen möchte und be- eine grundlegende Kompe- sonders der jüngeren Gene-

tenz ernst nimmt, die es zu / ARGUM LEHSTEN CHRISTIAN ration; ob ich ein moralischer trainieren und anzuregen gilt, Schüler in der Bibliothek: „Vorlesen verführt zum Lesen“ Schriftsteller bin; ob das leuchtet mir ein. Vielleicht Buch ein Krimi ist oder eine wird das an unseren Schulen zu sehr als Lebensgeschichte von An- Liebesgeschichte. Manchmal selbstverständlich vorausgesetzt. Früher, alphabeten viel schwieriger Leistungen möchte auch jemand eine als nur Bürgerkinder in den Klassen saßen, erinnert und begriffen wird im Lesen kurze Inhaltsangabe, weil er mag es anders gewesen sein. Heute muss als von Menschen, die lesen Pisa-Studie der OECD in drei Tagen sein Referat hal- man die Fähigkeit bewusst fördern, auch und schreiben können. Wer RANG ten soll. noch an den Universitäten. das Vergangene nicht im Um- 1 Finnland SPIEGEL: Wie bitte? SPIEGEL: Eigentlich müssen Sie doch er- gang mit Texten präsent hal- 2 Kanada Schlink: Das kommt vor. warten können, dass ein Abiturient den ten kann, wird zu einer ge- 3 Neuseeland SPIEGEL: Gibt es auch Schüler, Umgang mit Texten beherrscht. Warum schichtslosen Existenz. 4 Australien die eigene Fragen stellen, die sollen Sie an der Uni ausbaden, was die SPIEGEL: Hat das Vorlesen für 5 Irland sich wirklich für die Ge- Schulen versäumt haben? Sie eine besondere Bedeu- 6 Südkorea schichte interessieren? Schlink: Ach, sehen Sie, die USA liegen bei tung? 7 Großbritannien Schlink: Hin und wieder Pisa vor uns und trainieren das Schreiben Schlink: Vorlesen verführt 8 Japan durchaus. Und ein Highlight an ihren Universitäten seit langem. Und zum Lesen. Früher, als er 9 Schweden ist, wenn mir ein Schüler selbst wenn die Schulen jetzt all die Sa- noch klein war, habe ich mei- 10 Österreich schreibt, dass er bisher kaum chen umsetzen, die angekündigt werden, nem Sohn vorgelesen. Wenn 11 Belgien gelesen hat, aber dass er mein ist es immer noch ein weiterer Schritt, den er die Geschichte spannend 12 Island Buch mochte und gern wis- Studenten die Schönheit einer guten, kla- fand, hat er sich das Buch ir- 13 Norwegen sen möchte, was er als Nächs- ren, sprachlich gelungenen juristischen Ar- gendwann geschnappt und 14 Frankreich tes lesen soll. Ich schreibe gumentation vor Augen zu führen. selbst weitergelesen. 15 USA dann, was ich selbst in dem SPIEGEL: Rund zehn Prozent der Pisa-getes- SPIEGEL: Und heute, mit Ende 16 Dänemark Alter gern gelesen habe. 17 Schweiz ten Schüler befinden sich offenbar hart an zwanzig, ist er ein begeister- SPIEGEL: Nämlich? 18 Spanien der Grenze zum Analphabetismus. Nicht ter Leser? Schlink: Klassiker und Krimis, 19 Tschechien lesen zu können ist auch eines der zentra- Schlink: Ein sehr lebendiger, von Lermontow bis Stendhal, 20 Italien len Motive in Ihrem erfolgreichsten Ro- aber erst seit einigen Jahren. 21 Deutschland von Alain-Fournier bis Ca- man „Der Vorleser“. Das Verhalten der Als Schüler war er kein lei- 22 Liechtenstein mus, von Ambler bis Cain. Hauptfigur Hanna erklärt sich letztlich aus denschaftlicher Leser, und 23 Ungarn SPIEGEL: Im Großen und ihrem Analphabetismus. Wie gründlich ha- der Unterricht wirkte in die- 24 Polen Ganzen scheint es Sie zu de- ben Sie sich mit diesem Problem befasst? ser Beziehung nicht eben be- 25 Griechenland primieren, was im Deutsch- Schlink: Ich habe damals viel darüber ge- flügelnd. Die Lust am Lesen 26 Portugal unterricht mit Ihrem Buch lesen, und das Thema beschäftigt mich kam später – auch durch den 27 Russland gemacht wird. noch immer. Inzwischen wird der An- Überdruss am Fernsehen. 28 Lettland Schlink: Das stimmt. Einmal alphabetismus bei uns nicht mehr als exo- Mein Sohn war eine Zeit lang 29 Luxemburg habe ich „Briefe an den Au- tisches Problem betrachtet, aber es gibt ein regelmäßiger Fernsehzu- 30 Mexiko tor“ bekommen, die eine Leh- darüber weiterhin viel weniger deutsche schauer, hat es inzwischen 31 Brasilien rerin als Klassenarbeit hatte Literatur als englischsprachige. Analpha- aber ziemlich satt. schreiben lassen – sozusagen

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Werbeseite Deutschland PAUL LANGROCK / ZENIT PAUL Jurastudenten (im Lesesaal der Juristischen Fakultät der Universität Halle): „Was in manchen Klausuren steht, ist erbärmlich“ mit Einleitung, Hauptteil, Schluss. Ich fand SPIEGEL: Wie hätten Sie denn gern, dass wickeln. Wenn die Schüler eine Szene das furchtbar. Man mag an den Autor schrei- mit Ihrem Buch umgegangen wird? nachspielen wollen, ist das in Ordnung, ben, aber in solcher Form ist das ein falsch Schlink: Ich wünsche mir einfach einen und wenn nicht, auch. verstandener persönlicher Umgang. schlichteren Umgang. Manches, was mir SPIEGEL: Vielleicht wird Ihr Buch auch be- SPIEGEL: Vielleicht sähen Sie das etwas op- Lehrer erzählen, gefällt mir auch gut: Sie sonders lange durchgekaut, weil es sich als timistischer, wenn Sie das Ergebnis über- lesen einfach daraus vor, reden mit den Einstieg in einen ganzen Themenkomplex zeugen würde? Schülern und lassen diese selbst etwas ent- eignet, den Holocaust. Schlink: Ich zweifle, dass die- Schlink: Ich verstehe, dass es dafür genutzt ser Umgang mit einem Buch wird. Aber wenn sich die Schüler ein hal- überhaupt zu einem über- „Widerständige Partner“ bes Jahr lang damit befassen müssen, ist zeugenden Ergebnis führen das trotzdem zu viel. Es gibt auch vieles, kann. AUSZUG AUS EINEM UNGEDRUCKTEN VORWORT SCHLINKS, DAS EIN das erfährt man beim Lesen unmittelbar, SPIEGEL: Lassen sich die SCHULBUCHVERLAG FÜR UNTERRICHTSMATERIALIEN ZUM „VORLE- oder man erfährt es nicht. Da nützt es Schulbuchverlage von Ihnen SER“ ERBETEN HATTE: nichts, dass der Lehrer es noch mal und beraten, wenn sie Unter- Liebe Schülerinnen und Schüler, noch mal sagt oder einen Aufsatz darüber richtsmaterialien zum „Vor- schreiben lässt. bitte seien Sie Ihren Lehrern und Lehrerinnen selbständige leser“ herausgeben wollen? SPIEGEL: Also nur lesen und dann weg mit und auch widerständige Partner und Partnerinnen bei der Schlink: Ein baden-württem- dem Buch? Beschäftigung mit meinem Buch. Das Entscheidende ist, bergischer Verlag hat mich Schlink: Nein, es ist wichtig, über ein dass Sie Freude am Lesen haben – mit einem Bleistift vor einiger Zeit gebeten, ein Buch zu sprechen und auch darüber zu oder Textmarker in der Hand oder ohne, mit eigenem Mar- Vorwort für seine Unter- schreiben. Das Wichtigste ist aber, den kierungssystem oder ohne, strukturiert oder unstrukturiert. richtsmaterialien zu schrei- eigenen Zugang zum Text zu finden. Wenn es Ihnen Spaß macht, einen möglichst vollständi- ben. In dem Band gab es am Die Schüler müssen wissen, dass sie das gen Lebenslauf von Michael und Hanna zu erstellen, ist’s Anfang eine Anleitung, wie dürfen. gut. Wenn es Ihnen keinen Spaß macht, dann fragen Sie, die Schüler das Buch lesen SPIEGEL: Der Regisseur Anthony Minghel- welchen Sinn es haben sollte – ich sehe keinen. Und was sollten. Sie sollten verschie- la will den „Vorleser“ auf die Leinwand für das Lesen gilt, gilt auch für das Schreiben: Ich wün- dene Textmarker benutzen bringen. Macht Ihnen dieser Umgang mit sche Ihnen, dass Sie Freude daran haben – ob Sie Grün- und nach bestimmten Merk- Ihrem Buch Sorgen? de für das Schreiben aufzählen können oder nicht. malen suchen, sie sollten Schlink: Überhaupt nicht, weil ich Filme Immer wieder bekomme ich von Schülern und Schülerin- Cluster finden, Schaubilder sehr mag. Natürlich ist der Film noch ein- nen, die mein Buch lesen, Post. Wenn Sie mir schreiben erstellen, Lebensläufe der mal etwas ganz anderes – er ist nicht ein- und mich fragen wollen, können Sie das gerne tun. Oft Hauptpersonen und alterna- fach mein Buch als Film, sondern der Film frage ich die Schüler und Schülerinnen, die mir schreiben, tive Szenen schreiben. Sie ist ein ganz eigenes Werk. zurück, warum sie die eine oder andere Frage stellen, was sollten überhaupt nie Bücher SPIEGEL: Haben Sie keine Angst, dass der für einen Unterschied die Beantwortung für das Verständ- ohne griffbereite Textmarker eigentliche Erfolg des Buchs erst über die nis des Buchs macht, und bekomme darauf keine Reak- lesen. Ist das nicht eine Visualisierung stattfindet? tion. Wenn Sie mir Fragen stellen, überlegen Sie also bit- schauerliche Vorstellung? Ich Schlink: Nein. „Krieg und Frieden“, „Vom te, und lassen Sie mich auch bitte wissen, warum die Fra- habe dann ein Vorwort ge- Winde verweht“ – ich habe die Filme als ge und die Antwort relevant sind. schrieben, in dem ich die Junge mit der ganzen Familie im Kino ge- Ich hoffe, dass Sie trotz allem Drumherum an der Lektüre Schüler ermuntert habe, sehen, geliebt und danach sofort die meines Buchs Freude haben. selbständige Leser und auch Bücher gelesen. Und „Krieg und Frieden“ widerständige Schüler zu Mit herzlichem Gruß, lese ich immer wieder. sein. Das ist prompt nicht ge- Bernhard Schlink SPIEGEL: Herr Schlink, wir danken Ihnen druckt worden. für dieses Gespräch.

42 der spiegel 2/2002 Werbeseite

Werbeseite Deutschland ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Organisator Diem (Kreis) bei Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin*: „Der gute Kämpfer greift an und bricht jeden Widerstand“

son“ Diem („Neue Zürcher Zeitung“) be- JUSTIZ fassen – zum ersten Mal in einer seit Jahr- zehnten schwelenden Diskussion. Diems Sohn Carl-Jürgen, 66, klagt gegen zwei „Finaler Opfergang“ hohe Funktionäre des Deutschen Leicht- athletik-Verbands (DLV), die über den Va- Ein Gericht muss über den Ruf der Sportlegende Carl Diem ter den Stab brachen – weil er zum „fina- len Opfergang für den Führer und das Va- entscheiden. Hat der Erfinder der Bundesjugendspiele terland“ aufgerufen habe. kurz vor Kriegsende noch Kinder in den sicheren Tod geschickt? Zwar geht es im Verfahren AZ 3 O 262/01 vordergründig nur um die Forderung anchmal nannte er sich Serenissi- missbraucht – um „uns in den Kugelhagel Diems, künftig eine solche Beschuldigung mus – „Durchlauchtigster Herr“. zu schicken“. Der Tod, deklamierte Diem, zu „unterlassen“. Aber das Urteil, das die MDas Pseudonym war, gewisser- Mitte März 1945 trotz seiner 62 Jahre frei- 3. Kammer des Landgerichts Darmstadt an maßen, auch Synonym. Denn seinen Ver- willig Adjutant eines Endsieg-Bataillons, diesem Donnerstag verkünden will, hat für ehrern gilt Carl Diem als „einer der größ- sei „schön, wenn der edle Krieger für das die Causa Diem möglicherweise weit rei- ten Sportführer unseres Jahrhunderts“ Vaterland fällt“. chende Folgen. Weist das Gericht die Kla- oder „die bedeutendste Persönlichkeit in Damals stand die Rote Armee unweit ge ab, fällt für „einen der Großen der Kul- der Weltgeschichte des Sports“. Berlins. Auf dem Reichssportfeld waren turgeschichte“ (ein Diem-Freund) juristi- Diem hat das Sportabzeichen erfun- Greise des Volkssturms und Knaben der scher Ehrenschutz flach – und die Debatte den. Die Bundesjugendspiele. Den olym- Hitlerjugend (HJ) angetreten zum Verhei- könnte, anders als vom Nachfahren ge- pischen Fackellauf. Er organisierte im Hit- zen. Diem, so erinnert sich der HJler Ap- wünscht, an Schärfe zunehmen. ler-Deutschland Olympia 1936, und er pel, nachmalig Chefredakteur des ZDF, Gewiss, Diem war weder Mitglied der gründete im Nachkriegs-Deutschland mit habe in „flammender Rede“ zu „großer Hitler-Partei noch strenger Sympathisant der Kölner Sporthochschule eine interna- Opferbereitschaft“ aufgerufen – und es der NS-Bewegung. Das Regime knebelte tional renommierte Kaderschmiede. Stra- gab sie, die Opfer eines längst sinnlosen ihn sogar ab und an, und das Sprachrohr ßen wurden nach ihm benannt, Schulen, Gemetzels: Über 2000 Menschen sollen ge- der Nazis, der „Völkische Beobachter“, be- Ehrenpreise. Das ist der eine Diem. fallen sein, viele erst 13 oder 14 Jahre alt. schimpfte ihn als „feinen Pinkel“ und Über den anderen Diem sagt der Au- Heute, fast 57 Jahre später, muss sich „weißen Juden“. „Den Radau-Antisemi- gen- und Ohrenzeuge Reinhard Appel, er ein Gericht mit der „chamäleonartigen Per- tismus der SA“, sagt der Sportsoziologe habe kurz vor Ende des Zweiten Welt- Thomas Alkemeyer, habe Diem stets „ver- kriegs seine „Autorität im Sport“ böse * Mit Adolf Hitler (oben Mitte). abscheut“.

44 der spiegel 2/2002 ANGO (L.); BERT BOSTELMANN / ARGUM (R.) BOSTELMANN ANGO (L.); BERT Sporthochschule am Kölner Carl-Diem-Weg, Kläger Diem-Sohn Carl-Jürgen: „Verherrlichung kriegerischer Gewalt“?

Trotzdem gehörte er zu Hitlers Helfern genie, 1936 als Generalsekretär die Olym- referierte, wo sich angeblich eine kleine – nicht nur als „Außenminister“ des NS- pischen Spiele in Berlin inszenieren. Schar Spartaner gegen die Übermacht aus Sports, wie ihn das Autorenduo Achim In dieser Propagandaschau gelang Diem dem Osten wehrte („Wenn die Perser mit Laude/Wolfgang Bausch in seinem im Jahr „eine großartige Aufführung der Sportler- ihren Pfeilen die Sonne verfinstern, werden 2000 erschienenen Buch „Der Sport-Füh- Soldat-Synthese“, so Alkemeyer. Zu Beet- wir im Schatten kämpfen“). rer“ charakterisiert, sondern erst recht als hoven-Klängen sang ein Chor aus 1500 Er sprach auch von jener Mutter, der die militaristischer Ideologe. Der Sport, so for- Sängern eine martialische Ode: „Allen Nachricht vom Tod der Söhne und des mulierte Diem, sei „Büchsenspanner“ des Spiel’s heil’ger Sinn/Vaterlandes Hochge- Mannes überbracht worden sei; sie sei Soldaten, und der Krieg sei „der vor- winn / Vaterlandes höchst Gebot / In der nicht in Trauer zusammengebrochen, son- nehmste, ursprünglichste Sport“, „der Not: Opfertod.“ dern habe nur gefragt: „Sage mir, ob sie ge- Sport par excellence“. Vier Jahre später entfesselten Hitlers siegt haben.“ Auf ihn, so der Zeitzeuge Sport und Olympische Spiele, folgerte Truppen den Angriffskrieg auch im Wes- Appel, damals gerade 18 Jahre alt, hätten Diem, lehrten den „Geist des Angriffs und ten. Diem begeisterte sich über diesen die Worte des „Sport-Führers“ so ähnlich der blitzschnellen Entschlusskraft“. Und: „Sturmlauf durch Frankreich“. Als Chef gewirkt wie 1943 Joseph Goebbels Geschrei „Der gute Kämpfer greift an und bricht des Auslandsreferats im NS-Reichsbund vom „totalen Krieg“. jeden Widerstand.“ für Leibeserziehungen reiste der Funk- Erst nach Erscheinen des Laude/Bausch- Für den Ersten-Weltkrieg- Buchs zog die DLV-Spitze die Konse- Veteranen Diem galt von je- quenzen aus den Ereignissen vom 18. März her die „Verzahnung von Carl Diems Sportkarriere 1945: Der seit 1964 etwa 150-mal verliehe- Sport und Militär“ (Publizist 1899 Gründer des Sport Clubs Marcomannia Berlin ne Carl-Diem-Schild für „Persönlichkei- Erik Eggers) als eines der 1908 Journalist und Vorsitzender der Deutschen ten, die sich um die Leichtathletik verdient Lieblingsprojekte. Mit sei- Sportbehörde für Athletik gemacht haben“, heißt ab 2002 nur noch nen revanchistischen Sprü- 1920 Prorektor der Deutschen Hochschule für Leibes- DLV-Ehrenschild, weil Diems Grundein- chen („Germanen können übungen in Berlin stellung, so die Begründung, „undemo- nur von Germanen besiegt 1936 Organisator der Olympischen Spiele in Berlin kratisch, nationalistisch, inhuman und ras- werden … Deutschland – im sistisch geprägt“ gewesen sei. Mehrere 1939 Chef des Auslandsreferats im NS-Reichsbund für Grunde unbesieglich“) und Straßen, Schulen und Sporthallen sind Leibeserziehungen seinen „Interpretationen des wieder umbenannt, der Deutsche Sport- Sports“ habe Diem, so Alke- 1947 Rektor der Sporthochschule Köln bund freilich bleibt bei seiner Carl-Diem- meyer, „faktisch zur Ver- 1949 Sportreferent im Bundesinnenministerium Plakette. herrlichung kriegerischer 1951 Mitbegründer der Deutschen Olympischen Bei Diem-Verehrern verursacht die DLV- Gewalt“ beigetragen. Gesellschaft Entscheidung böses Blut. Dies sei, ver- Mit 17 gründete Diem in 1956 Auszeichnung mit dem Olympic Diploma of Merit stieg sich Winfried Joch, emeritierter Pro- Berlin einen Sportverein, er des Internationalen Olympischen Komitees fessor für Bewegungswissenschaften aus war Journalist, eben auch un- Münster, mit „geistiger Bücherverbren- ter dem Pseudonym Serenis- nung“ vergleichbar. simus, Schriftführer der Deutschen Sport- tionär mehrfach an die Front, um den Sol- Carl Diems Sohn Carl-Jürgen hat nicht behörde für Athletik und Chef de Mission daten mit eindringlichen Reden „von Ge- nur die beiden DLV-Funktionäre verklagt, bei den Olympischen Spielen in Stockholm horsam, Wehrhaftigkeit, Nationalstolz, deren inkriminierter Satz vom „finalen Op- 1912. Ab 1920 amtierte er als Prorektor der Kampf bis zum letzten Hauch“ das Siegen fergang für Führer und Vaterland“ eben- Deutschen Hochschule für Leibesübungen oder Sterben zu erleichtern. falls zur Begründung einer Umbenennung in Berlin – offenbar mit eiserner Faust. Und so könnte in diese einzigartig deut- des Preises gehörte. Er fordert auch eine Selbst noch Ende der zwanziger Jahre, sche Biografie passen, was am 18. März wissenschaftliche Aufarbeitung des Sports schreibt die Sporthistorikerin Christiane Ei- 1945 im Kuppelsaal auf dem Reichssport- in der NS-Zeit. „Läge eine solche schon senberg, habe Diem die Hochschule „so feld geschah. Die dort versammelten Volks- vor“, sagt er, „wäre die Diskussion nie der- geleitet, wie sie einst geplant war: als Ka- sturmleute und Hitlerjungen erwartete eine maßen ausgeufert.“ dettenanstalt für den Wehrpflichtersatz Lei- selbstmörderische Aufgabe: Verteidigung Die März-Rede, so Carl-Jürgen Diem, besübungen“. Sein Offizierston brachte ihm der Havelfront von Pichelsberg bis Span- sei lediglich „eine Pflichtrede in den Wir- alsbald einen Spitznamen ein: „Mussolini“. dau gegen die anrückenden Russen. ren und im Überlebenskampf der letzten Am 1. Mai 1933 verlor er den Posten des Diem, so belegt ein erst seit 1995 der Kriegstage“ gewesen. Sein Vater habe nicht Prorektors; für führende Sportpolitiker der Öffentlichkeit zugängliches Stichwort-Ma- „die allgemein üblichen Begriffe Führer, NSDAP war Diem ein „Repräsentant des nuskript der Ansprache, wollte auf beson- Volk und Vaterland gebrauchen“ wollen – verhassten Weimarer Systems“, so der dere Weise den Mut seiner teils minder- sondern eben von den „tapferen Sparta- Sporthistoriker Hans Joachim Teichler. jährigen Zuhörer anstacheln – indem er nern“ gesprochen. Tot waren viele Kinder Dennoch konnte er, das Organisations- über die Schlacht bei den Thermopylen wenig später gleichwohl. Georg Bönisch

der spiegel 2/2002 45 Werbeseite

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Werbeseite Europas Erbe: So fern, so nah Mit dem Euro macht die Europäische Union einen weiteren wichtigen Schritt zur Einigung des über Jahrtausende zerstrittenen Kontinents. Eine neue SPIEGEL-Serie beschreibt die wechselvolle Geschichte, aus der nun eine neue europäische Identität entstehen soll.

Euro-Illumination am Pont Neuf in Paris, Satellitenbild von Europa bei Nacht: Gemeinschaftsgefühl durch Gemeinschaftsgeld

er Geldsegen kam von ganz oben. frisch wie fast überall im Euroland. „Frieden Grieche Alexander der Große führte mit Die Einführung des Euro, sprach und Wohlstand“ wünschte der Papst den der aus Athen stammenden Drachme eine DPapst Johannes Paul II. am Neujahrs- Europäern mit dem Gemeinschaftsgeld. Währung ein, die in der gesamten damals tag, sei das „Erreichen eines historischen Geistlicher Beistand in der Bewäh- bekannten Welt galt. Der Römer Caesar Ziels“. Die neue Währung ist nicht nur in rungsprobe kann nicht schaden. Die Ein- konnte in seinem Reich der Sesterze allge- den zwölf Mitgliedsländern des Euro-Ver- führung einer gemeinsamen Währung in meine Geltung verschaffen. Der Denarius bandes, sondern auch im Vatikanstaat in Um- Europa ist eine Jahrtausend-Aufgabe. Die Karls des Großen überdauerte immerhin lauf. Aus dem – auch für Latein program- großen europäischen Herrscher versuch- mehrere Jahrhunderte, verlor allerdings mierten – Geldautomaten der kirchlichen ten alle, eine einheitliche Währung in immer mehr an Wert, weil die Münzherren Bank kommen die neuen Scheine ebenso ihrem Machtbereich durchzusetzen. Der dem guten Silber zunehmend minderes

50 der spiegel 2/2002 Serie kleines Hoch. Doch weit über den Wert EUROPÄISCHE PROFILE der neuen Währung am internationalen Markt hinaus reicht die Symbolkraft des Dichter, Denker und Despoten Euro für das Gemeinschaftsgefühl der Eu- ropäer. Überall auf dem Kontinent be- schworen Staatsmänner die sinnstiftende Wirkung des neuen „gesetzlichen Zah- lungsmittels“, wie die nüchterne Amtsbe- zeichnung lautet. „Der Euro ist ein Sieg Europas und wird dessen Identität und Macht festigen“, erklärte der französische Staatspräsident Jacques Chirac. Und Ro- mano Prodi, Präsident der EU-Kommis- sion, freute sich, dass jetzt über 300 Mil- lionen Menschen „ein kleines Stück Europa in ihren Händen halten“ können. Ein Symbol der ohnehin fragilen natio- nalen Identität der Deutschen verschwin- det nun im Großen und Ganzen der eu- ropäischen Einigung. Und je mehr Sou-

veränitätsrechte die Mitgliedsstaaten an / BPK JÜRGEN LIEPE Brüssel abgeben, desto eindringlicher klin- PERIKLES, der Mann an der Spitze gen die Appelle an das europäische Be- Athens, beteiligte die unteren Schichten wusstsein der Bürger und Bürgerinnen. an der Politik und machte die Stadt- Aber was ist das, dieses Europa? republik zum ersten Wohlfahrtsstaat. In einer großen Serie versucht der SPIEGEL auszuloten, wie aus Europas Ge- schichte das entstand, was noch heute das besondere Erbe des alten Kontinents aus- macht. Führende Experten und SPIEGEL- Autoren schildern, was einzelne Epochen dazu beitrugen: Demokratie und Rechts- staat etwa waren im Kern schon im antiken Athen und alten Rom angelegt. Die Kauf- leute der Hanse schufen schon im Mittel- alter einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Doch zugleich zeigt die Serie, wie der Eu- ropa-Mythos missbraucht wurde, etwa durch Napoleon oder in der Verklärung Karls des Großen. „Von Europa weiß kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist, noch wo-

nach es benannt ist, noch wer er war, der AKG ihm den Namen Europa gegeben hat“, CAESAR, der Feldherr und Staats- schrieb der altgriechische Historiker Hero- mann, eroberte Gallien und dehnte dot um 430 vor Christus. Da war die Ge- das römische Imperium europaweit schichte von der phönizischen Königs- aus. tochter Europa, die Göttervater Zeus in Gestalt eines Stieres und mit amourösen Absichten an den Strand von Kreta ent- führt hatte, noch gar nicht so lange her. Dass die Schöne dem Kontinent den Na- men gab, ist ebenso dunkle Legende wie das Wort Europa selbst, es soll vom semi- tischen „ereb“ abgeleitet sein, was so viel wie düster und finster bedeutet.

SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR (L.); (O.) / AFP / DPA JOEL SAGET So unklar wie der Ursprung ist die Sache mit Europa immer – eine Geschichte der Metall beimengen ließen. Den Euro kenn- Widersprüche: Kein anderer Kontinent war zeichnete schon vor seiner Einführung in zeitweise so zersplittert in kleinste politi- Münzen und Scheinen der Kursverfall an sche Einheiten, die sich meist heftig befeh- den internationalen Währungsmärkten. deten und oft blutig bekämpften. Gleich- Seit er 1999 zunächst in der Finanzwelt als zeitig einten Familienbande ihre Herrscher, bargeldlose Einheit etabliert wurde, ist der deren Untertanen folgten europaweit den-

Euro um rund 20 Prozent gegenüber dem selben Moden, die Neuerungen von Kultur BPK Dollar abgerutscht, seine Ära beginnt in und Technik verbreiteten sich meist schnell KARL DER GROSSE, Kaiser des Römi- einem Europa am Rande der Rezession. zwischen Skandinavien und Sizilien. schen Reiches und König der Franken, Der reibungslose Start zu Neujahr ver- Was ist aber das gemeinsame Erbe, auf gilt Deutschen und Franzosen als schaffte dem Euro immerhin endlich ein das sich die Verfechter der Idee eines Urvater der europäischen Einigung.

der spiegel 2/2002 51 Serie

vereinten Europa berufen könnten? Ist es dann bekommt die Frage nach dem Spezi- das von Kirche und Konservativen lange fischen der europäischen Tradition plötz- verklärte christliche Abendland, das sich lich wieder eine ungeahnte Aktualität und mal im Kampf gegen Muslime auf der spa- Brisanz. nischen Halbinsel oder Türken vor Wien Plötzlich rückt wieder ins Bewusstsein, zusammenfand, mal zu Kreuzzügen gen Je- dass die auf den Erfahrungen europäischer rusalem aufbrach und daheim Hexen ver- Geschichte basierenden Werte auch nach brannte? Ist es das Europa der Aufklärung, dem Zusammenbruch des Sowjetkommu- das Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nismus keineswegs weltweit so anerkannt predigte, Demokratie und Menschenrechte sind, wie es der Glaube an den Universa- auf seine Fahnen schrieb – und im Wahn des Tu- gend-Terrors seine Ideale auf Tötungsmaschinen exekutierte? Ist es die Kultur des wissenschaftli- chen Denkens europäi-

FÉLICIEN FAILLET / BPK FAILLET FÉLICIEN scher Schule, die nahezu ERASMUS VON ROTTERDAM war der alle bahnbrechenden Er- führende europäische Humanist der findungen der Neuzeit frühen Neuzeit. Er lebte und lehrte in hervorbrachte – und sich Rotterdam, Paris, London und Basel. mit ihrer Hilfe, für eine Epoche des Kolonialismus und Imperialismus, fast den gesamten Rest der Welt untertan machte? Wo immer auf Europas Vergangenheit für zu- künftige Ziele zurückge- griffen wird, droht My- thenbildung und selekti- ve Wahrnehmung. Der Vorkämpfer der Paneu- ropa-Bewegung, Richard Graf Coudenhove-Ka- lergi, einer der geistigen Väter der europäischen Einigung nach dem Zwei-

ten Weltkrieg, behaupte- S. ARMY PHOTOGRAPH U. te 1923: „Das alte Grie- Zerstörtes Berlin (1945), wiederaufgebauter Potsdamer Platz: chenland war das erste

AKG Europa. Sein Gegensatz zu Persien schuf lismus der vom alten Kontinent ausgehen- JAKOB FUGGER war der Erfolgreichste der die Spannung zwischen Europa und Asien, den Ideen vorspiegelte. Augsburger Handelsdynastie, die als erste schuf die europäische Idee.“ Dabei störte Freiheit, Recht und Demokratie – diese Kapitalisten europaweit Geld verdienten den Grafen nicht, dass der Makedonier- Grundpfeiler europäischer Gesellschafts- und dabei auch Kaiser bestachen. König Alexander der Große, der den per- organisation werden nicht nur immer wie- sischen Großkönig besiegte und bis zum der von diktatorischen Bösewichtern miss- Hindukusch vordrang, ebenso ein grausa- achtet. Sie sind offenbar auch für viele mer Despot war: Er unterjochte zuvor die Menschen anderer Kulturkreise nicht so griechischen Städte, als Demokratien ein selbstverständlich, besonders wenn sie sich weiterer Hort europäischer Ideale. in speziellen Ausformungen verbreiten wie Die Abgrenzung zum Orient ist ein Jahr- dem freien Handel auf globalisierten tausende überdauernder Topos europäi- Märkten oder der Trennung von Staat und scher Identitätsstiftung. Noch bei der Fra- Kirche. ge des Beitritts der Türkei zur EU versteckt Zu Überheblichkeit gegenüber denen, sich hinter allen Debatten über die Einhal- die sich den Errungenschaften der westli- tung von Menschenrechten oder die Öff- chen Zivilisation europäischer Herkunft nung von Arbeitsmärkten der Glaube, ein verschließen, besteht kein Grund. Europas nicht christlicher Staat gehöre nicht in die Geschichte selbst ist voll von Beispielen Gemeinschaft. der Intoleranz, des Terrors und der kultu- Wenn die Attentate des 11. September rellen Borniertheit. Vom Religionskampf ein Angriff auf „unsere Zivilisation“ wa- des Dreißigjährigen Krieges bis zum Holo- ren, so etwa Politiker wie Kanzler Gerhard caust liefert Europa alles, was ein Lehr- Schröder, und „die vielleicht letzte Gele- buch der Hölle braucht. Dennoch zeigt Eu-

AKG genheit“ ist, so Intellektuelle wie der „Mer- ropa immer einen Doppelkopf: Schrecken KARL V., deutscher Kaiser und glühen- kur“-Mitherausgeber Kurt Scheel, „dass und Schönheit, Horror und Humanismus, der Katholik, versuchte mit dem Habs- der Westen sich und der Welt klar macht, Freiheit und Fron. burger Reich eine einigende Kraft in wofür er steht und was er zur Verteidigung Das europäische Denken, das sich zu- Europa zu installieren. seiner Werte zu unternehmen gedenkt“ – erst in der Polis des antiken Griechenlands

52 der spiegel 2/2002 bei Philosophen wie Aristoteles und Pla- den. Politische Interessen spielten dennoch ton entwickelte, begab sich allerdings so- mit bei dieser listigen Gründung aus dem gleich auch auf einen doppelgleisigen Weg, Geist der Kaufleute: Die Kriegsgegner des der ebenso destruktiv wie fruchtbar sein Nazi-Reichs, besonders Frankreich, hatten konnte: Zweifel, Selbstkritik und Infra- Angst vor einem wirtschaftlich wieder er- gestellen aller überlieferten Werte be- starkenden Deutschland, die Waffen- gründeten die modernen Wissenschaften, schmiede Ruhrgebiet sollte deswegen mög- stürzten die Menschen aber auch in eine lichst seinem Einfluss entzogen werden. permanente existenzielle Sinnkrise. Den- Monnets Plan, den der französische noch ist der ungläubige Skeptizismus wohl Außenminister Robert Schuman sich zu Ei- gen machte, schlug eine Verflechtung der deut- schen und französischen Stahl- und Kohleindu- strie vor. Diese Montan- union kam auch dem ersten bundesdeutschen

Kanzler sehr gelegen: BPK Konrad Adenauer sah die DIDEROT, der französische Schrift- Chance des besetzten steller und Philosoph, schuf mit Landes, in einer suprana- seiner Enzyklopädie das Handbuch tionalen Institution wie- der europäischen Aufklärung. der von gleich zu gleich mit den anderen europäi- schen Staaten zu agieren: „Ein Bundeskanzler muss zugleich ein guter Deut- scher und ein guter Eu- ropäer sein.“ Der Versuch, europäi- sche Politik durch die Hintertür der Wirtschaft zu machen, war zugleich für Erfolg und Misserfolg der Integration verant- wortlich. Der wirtschaft- liche Erfolg brachte die Staaten der damaligen

JAN-PETER BOENING / ZENIT / LAIF BOENING / ZENIT JAN-PETER Europäischen Wirt- „Der Euro ist ein Sieg Europas“ schaftsgemeinschaft – mitsamt den widerspens-

Europas bestes Erbe: Er bereitete den ver- tigen Briten – schneller, enger und dauer- BPK nünftigen Ausweg, als der Kontinent der hafter zusammen als alle Versuche, den NAPOLEON herrschte zeitweise über unendlichen Irrungen und Wirrungen fast Kontinent politisch und mit gewalttätiger ein Europa von Paris bis Preußen am Ende war. Eroberung zu einen. Die Ökonominisie- und gab den annektierten Gebieten „Europa hat niemals bestanden … Das rung der Gemeinschaft verhinderte aber ein einheitliches Rechtssystem. wirkliche Europa muss man erst schaffen“, auch, dass die Bürger diese Europäische meinte 1950 der Europa-Politiker Jean Union als die ihre betrachten. Der Mangel Monnet, als nach dem finalen Desaster des an demokratischer Kontrolle und Mitwir- Zweiten Weltkriegs die verfeindeten Staa- kung, das Unbehagen und Misstrauen ge- ten nach einer Ordnung für ein friedliches genüber der Brüsseler Eurokratie sind Zusammenleben suchten. Monnet, Sohn ebenfalls Folge der Methode Monnet, mit eines Spirituosenhändlers aus der franzö- der die Politik aus dem Prozess der Eini- sischen Stadt Cognac und in den zwanziger gung ausgeklammert werden sollte. Jahren stellvertretender Generalsekretär Die Einführung des Euro ist der wohl des Völkerbundes in Genf, glaubte nicht letzte Versuch aus der methodischen Schu- mehr an die großen Schritte zu einem po- le von Monnet: Mit dem Gemeinschaftsgeld litisch vereinigten Europa, wie es die Pan- wird schon auch das Gemeinschaftsgefühl europisten und andere Idealisten in den kommen. „Das Geld ist nicht eine Sache, Jahren zwischen den Kriegen proklamiert sondern ein gesellschaftliches Verhältnis“, hatten. Sein Weg, der letztlich in die Eu- behauptete schon der europäische Ökonom ropäische Union führte, wurde später als Karl Marx. Die neuen Scheine zeigen die „Methode Monnet“ sprichwörtlich. Brücken und Bauwerke europäischer Bau- Die Wirtschaft sollte vorangehen bei der stile. Das soll demonstrieren, meint etwa

Integration, banal und unpathetisch. Ganz Finanzminister Hans Eichel, „dass Europa TIMEPIX / INTER-TOPICS unauffällig würde dann mit Hilfe vieler seit vielen hundert Jahren ein gemeinsamer HITLER träumte von einem germani- kleiner Vereinigungen auf dem Verord- Lebens- und Gestaltungsraum ist“. schen Europa. Der von den Nazis nungswege doch noch das große Ziel der Vielleicht klappt’s ja. angezettelte Eroberungskrieg führte politischen Union Europas erreicht wer- Michael Schmidt-Klingenberg den Kontinent in die Katastrophe.

der spiegel 2/2002 53 Serie (1) | EUROPAS FERNE FUNDAMENTE

Akropolis in Athen: Lieber in kleinen Gebilden groß als in großen klein und abhängig Ein unerschöpflicher Quell Die Griechen übten zum ersten Mal Demokratie, die Römer versuchten sich als Herrscher der damaligen Welt. Kritisches Denken und moderne Wissenschaft nahmen in der Antike ihren Anfang. Vor drei Jahrtausenden wurde das Fundament Europas gelegt. / VON CHRISTIAN MEIER

it den Griechen fing es an, und dem legten die Adligen und dann die Bür- genen Mitteln. Auch die jährlich wech- zwar mit denen, die sich seit dem gerschaften insgesamt großen Wert darauf, selnden Amtsinhaber kamen im wesent- MEnde des zweiten Jahrtausends in kleinen selbständigen Polis-Gemeinden lichen selber für sich und ihre Hilfskräfte vor Christus auf den Trümmern der my- zu leben. Sie führten zwar viele Kriege, auf. Sie sollten möglichst wenig Macht ha- kenischen Palastkultur neu einrichteten; verstanden sich auch weitgehend als Krie- ben. Kurz, das Gemeinwesen sollte nicht neu und ziemlich ungewöhnlich. ger. Doch eroberten sie selten eine fremde mehr sein als die Summe seiner Teile. In der Regel nämlich haben sich Hoch- Stadt, und schon gar nicht – oder fast nicht Dem entsprach es, daß die Bürger nicht kulturen unter starkem, formendem Ein- – dachten sie daran, fremde Bürgerschaften in großen Gebilden klein und abhängig fluß von Monarchen gebildet. Die kultu- sich einzuverleiben. Machtbildung war da sein wollten, sondern lieber in kleinen relle Entwicklung schritt voran, während also schwierig. groß; so groß, wie eben viele es sein kön- zugleich die Herrscher ihre Macht und ihre Schwer zu sagen, wie das kam. Jeden- nen, wenn sie mit relativ wenigen ein Reiche immer weiter ausbauten. Wie etwa falls strebten die Griechen stets nach mög- Ganzes ausmachen. Darin war eine gewis- in Mesopotamien und Ägypten. lichst viel Eigenständigkeit. Umgekehrt ge- se Gleichheit angelegt. Es machte zugleich Anders die Griechen. Bei ihnen haben sagt: Sie wollten möglichst wenig an das die Öffentlichkeit wichtig, in der sich die die Könige der Anfangszeit und die Ty- Gemeinwesen abgeben. Steuern zu zahlen Männer, zunächst die Adligen, trafen, strit- rannen späterer Jahrhunderte die Ge- galt eines freien Bürgers unwürdig. Mi- ten, aber auch ausglichen. Ihr Leben war meinwesen kaum zu prägen vermocht. Zu- litärdienst versahen sie selbst und aus ei- wesentlich Zusammenleben – in Gespräch,

54 der spiegel 2/2002 Philosophie-Schule des Aristoteles*: Auf der Suche nach dem rechten Maß

gerieten sie auf einen so ungewöhnlichen schließen. Die neuen Verbindungen, die Weg. Und auf verschiedene Weisen berei- Impulse, die von den Griechen ausgingen, tete sich darin die Erbschaft vor, die sie setzten vieles auch außerhalb ihres unmit- dem späteren Europa vermachten. telbaren Bereichs in Gang – unter anderem Zunächst hatten sie um die Ägäis herum bei den Etruskern und der damals gegrün- gesessen. Keine fremde Macht interessier- deten Stadt Rom. te sich für diesen Raum. Nur die phönizi- So wurden die Südküsten Europas erst- schen Händler taten es, die an der Ostkü- mals in größerem Stil einbezogen in die ste des Mittelmeers zu Hause waren. Nicht welthistorische Bewegung. Ohne viel Poli- durch Politik oder Krieg also, sondern tik, sondern durch Handel und die Verbrei-

HUBER / LAIF (L.); (R.) AKG durch Seefahrt und Handel bahnten sich tung von Kenntnissen und Lebensformen. die Beziehungen der Griechen zu den öst- Die Kultur, die die Griechen unter die- SPIEGEL-SERIE lichen Hochkulturen an. Sie ha- sen Umständen begründeten, stellte in ge- ben dabei begierig gelernt. wissem Ausmaß eine Einheit dar, wenn- 1. EUROPAS FERNE FUNDAMENTE Viele Kenntnisse, Techni- gleich sie sich in den einzelnen Städten 2. Karl, der große Europäer? ken, Künste, Mythen, Bilder und Gegenden sehr unterschiedlich aus- 3. Das Europa des Geistes haben sie von dort übernom- prägte, am raschesten an einigen Kno- 4. Das Europa des Handels men, auch Spezialisten, auch tenpunkten des Verkehrs. 5. Das Europa der Staaten Ansprüche. Gewiß standen die Wie die Griechen – in 6. Europas Ideen für die Welt östlichen Hochkulturen Pate bei der archaischen Zeit (etwa der Kulturbildung der Griechen. 800 bis 500 vor Christus) 7. Der Europäer Napoleon Aber nichts nötigte diese, sich – sich die Welt ordneten, 8. Das Europa der Kriege den anderen gesellschaftlich Sinn deuteten und For- 9. Das Europa der Europäer oder politisch anzupassen. men fanden, um sich aus- Sie blieben vielmehr offen, zudrücken: Das war letzt- beweglich, ohne viel Herr- lich dadurch bestimmt, Politik und Fest, beim Sport wie beim Sym- schaft. daß sie es im unvermit- posion. Die Öffentlichkeit war vom Haus Als es daheim zu eng telten Zusammenleben (und vom Leben der Frauen) deutlich ge- wurde, sannen die Griechen tun mußten. Sie mußten schieden wie das freie Leben von der Ar- kaum auf Eroberung in der ihre Kultur aus ihrer beit, so daß die Phantasie der Dichter re- Nachbarschaft, vielmehr auf Grün- Mitte heraus bilden, zu- lativ frei darüber verfügen konnte. Hier dung selbständiger Kolonien in der nächst vor allem unter galt es vor allem, vor den anderen hervor- Ferne. So wurde das Mittelmeer den Adligen. Der Drang zuragen, nicht so sehr, mächtig zu sein. von Marseille bis Zypern zum zum freien Sich-Aus- Menschenbildung und Wettstreit spielten in griechischen Meer – ein Element, leben konnte nicht dieser Kultur eine Rolle wie sonst nirgends. das keiner beherrschen konnte, beschnitten, sondern Das Bemerkenswerte nun war, daß die das allen offenstand. Weite mußte eingefangen Griechen diese Eigenart im Prozeß ihrer Landstriche begannen sich werden. Konflikte, Kulturbildung beibehielten und festigten, über See zu einem gemein- die sich – wie die mit wenigen Modifikationen. Ebendadurch samen Raum zusammenzu- mit den ausgebeuteten Bauern – zum Bürger- * Fresko von Gustav Adolph Spangenberg (1883/88) in Venus von Milo krieg steigern konnten,

der Universität Halle. Ein Bild für Götter mußten gelöst werden BPK 55 Serie (1) | EUROPAS FERNE FUNDAMENTE

ohne die Gewalt einer zentralen Instanz. Was damals entstand, war von hohem auf sich. Dessen Bestrafungsexpedition Keine leichte Aufgabe. Aber es gelang. intellektuellem und vor allem auch ästheti- scheiterte, als die Athener das persische Man suchte die Allgemeinheit ins Spiel schem Reiz. Doch weiß man nicht, wie es Kontingent bei Marathon besiegten (490). zu bringen, wurde sich der Verantwortung damit weitergegangen wäre, wenn die Grie- Nun wollten die Perser sich die Griechen des Bürgers für das Gemeinwesen bewußt. chen nicht um 500 in Konflikt mit dem Per- auf der anderen Seite der Ägäis unterwer- Man entwarf Institutionen. Was anderswo serreich geraten wären und wenn nicht eine fen und zogen mit einer riesigen Streit- gern von oben diktiert wird, wurde hier Stadt, Athen, infolge davon zu ungeheuer- macht zu Wasser und zu Lande heran (480). zum Problem der Erkenntnis, der Argu- lichen Erfolgen gelangt und zugleich stärk- Aber einige Griechenstädte, allen voran mentation, der Ratio; die entsprechend zu sten Spannungen ausgesetzt worden wäre. Sparta und Athen, ließen sich davon nicht entwickeln war. Dazu bedurfte es einer Wenn es nicht zu jener Bewährung und Be- einschüchtern. Sie wollten sich keiner Richtschnur. Auf diesem Weg gelangten lastung gekommen wäre, in der die grie- fremden Macht unterwerfen. In einer An- die Griechen zu der Vermu- strengung sondergleichen bau- tung, daß es eine rechte Ord- ten die Athener eine Flotte nung gebe, ein verborgenes EUROPAS ERBE von 200 Schiffen, und dann ge- Maß, das allem Leben wie der lang es ihnen, die immer noch Natur zugrunde liege. Es war Die Demokratie der Griechen überlegenen Feinde in die zu finden durch Abstraktion • Athens Herrscher, die Archonten, wurden von der Volksversammlung Meerenge bei Salamis zu von vielerlei Einzelheiten. So gewählt, zuerst auf Lebenszeit, später im Jahresturnus, und mussten locken und vernichtend zu entstand nicht nur politisches Rechenschaft über ihre Amtsführung geben. Allerdings hatte nur die schlagen. Nachdem jedoch die Denken, sondern auch die Athener Aristokratie Zugriff auf diese Posten. Erst im 5. Jahrhundert vor Perser, 479 auch zu Lande be- frühe griechische Philosophie. Christus wurden in einer Vertretung aller attischen Städte, dem „Rat siegt, sich zurückgezogen hat- Indem sich die Bürger der Po- der 500“, auch andere Schichten des Volkes zur Wahl zugelassen. Zwar ten, wollten auch die asiati- lis an Maß und Gesetzmäßig- kannte die Selbstbestimmung Grenzen – so hatten Frauen und Sklaven schen Griechenstädte befreit keit orientierten, gelangten sie in der Polis nichts zu sagen, sogar ein bedeutender Gegner der Adels- werden. Sie schlossen ein nicht nur zur Ordnung unter- herrschaft wie der Staatslehrer Aristoteles warnte stets vor der Regent- Bündnis unter Athens Füh- einander, sondern auch zu schaft „des Pöbels“. Immerhin jedoch bestimmte der Rat – mit täglich rung, die Perser wurden zu- einer gewissen Selbstbeherr- wechselndem Vorsitz – sämtliche öffentlichen Geschäfte; es gab jedoch rückgedrängt. schung. Die Suche nach dem weder Regierung noch Parteien. Die griechische Demokratie wurde zum Und Athen entfaltete eine Maß war das Korrelat der Frei- Urvorbild moderner Gesellschaftsformer – „Regierung des Volkes durch kaum für möglich gehaltene heit. Damals wurde Zeus zum das Volk und für das Volk“, wie US-Präsident Abraham Lincoln 1863 Dynamik. Über Nacht war es Gott der Gerechtigkeit. sein Ideal nannte. vom Kleinstaat zur Weltmacht In der Folge etablierten sich geworden, erzielte unwahr- die Vorformen der Demokra- scheinliche Erfolge – nicht zu- tie. Schon sie setzten das regelmäßige En- chische Kultur sich zu höchster Blüte und letzt, weil es die anderen, indem es immer gagement zahlreicher Bürger voraus. Da zu klassischem Format heraufarbeitete. wieder über das Gewohnte hinausgriff, war es wichtig, daß der Adel die Öffent- In der Mitte des sechsten Jahrhunderts stets von neuem überraschte. Doch stra- lichkeit so attraktiv für die anderen mach- hatte sich das Persische Weltreich etabliert. pazierte es seine Kräfte auch bis zum te. Dort waren alle nur Bürger, während Es hatte in kurzer Frist alle anderen Reiche Äußersten. Diese Stadt beanspruchte ihre die Häuser Privatsache blieben, oft mit Hil- im Vorderen Orient besiegt und sich ein- Bürger in einem – abgesehen von Sparta – fe von Sklaven betrieben. Die Polis mußte verleibt. Mehrere Griechenstädte an der für die Griechen ganz unerhörten Ausmaß. klein bleiben, wenn das Volk die Macht Ostküste der Ägäis gerieten unter seine Sie war in fast jeder Hinsicht eine Aus- haben sollte – auch weil die Bürgerschaft Herrschaft. Als Athen sie bei ihrem Ver- solidarisch zusammenhalten mußte, sonst such, sich zu befreien, unterstützte, zog es * Vasenmalerei um 480 vor Christus mit der Darstellung wäre sie den Adligen unterlegen. den Unwillen des persischen Großkönigs des Kaufs einer Amphore. Das Reich von Makedonien unter Philipp II. Alexander dem Großen (359 bis 336 v. Chr.) Eroberungen von 336 bis 323 v. Chr. von Alexander abhängige Staaten Züge Alexanders und seiner Feldherren Philippopolis Schwarzes Meer

Kaspisches HELLAS Meer Issos ch Athen kus du Sparta Gaugamela in MESOPOTAMIEN H Mittelmeer Alexandria Babylon Persepolis

P e ÄGYPTEN r BELUTSCHISTAN si sc he 500 km r G

INDIEN AKG ARABIEN olf Griechische Händler* Immer wieder neue Überraschungen

56 der spiegel 2/2002 Werbeseite

Werbeseite Serie (1) | EUROPAS FERNE FUNDAMENTE

PLATON seinem umfänglich überlieferten Schriftwerk, oder Herodot persönlich verbunden, ließ Philosoph das Ansätze der meisten seither diskutierten mit dem Bau der Akropolis beginnen. philosophischen Themen enthält, wurde Im „perikleischen Zeitalter“ wurde 427 bis 347 vor Christus Platon auch zum bedeutendsten Denker der Athen zum Mittelpunkt der griechischen Antike. Im berühmten „Höhlengleichnis“ zeigt Welt. Was es war und tat, gab auf allen er Athener hätte als Sohn einer Patrizier- er Menschen, die im selbstgewählten Dunkel Ebenen zu denken. Die Erfolge waren un- Dfamilie öffentliche Ämter bekleiden kön- leben, dort die Wirklichkeit nur als flackern- heimlich: Mußte die Stadt also den Neid nen, aber er ging schon mit 14 Jahren bei den Widerschein auf der Höhlenwand wahr- der Götter fürchten? Die rationale Politik, dem Denker Sokrates in die Lehre. Platon nehmen und sich so mit bequemer, aber die sie trieb, stand im Gegensatz zum Her- prägte dennoch das öffentliche Leben. Mit täuschungsreicher Unwissenheit begnügen, kommen: Sollten die alten Regeln der Grie- chen also nicht mehr gelten? Die Demo- seinem Eintreten für Ethik und Philosophie im statt die Wahrheit mühsam außerhalb der kratie widersprach dem alten Glauben an staatlichen Bereich machte er Höhle zu suchen. Platon ist für die rechte Ordnung: Konnte sie überhaupt Politik und bekämpfte ein verrot- seine Forderung nach Einheit im Sinne des Zeus sein? Ständig passierte tendes Bürgertum, das sich von Reden und Tun in der Politik Neues, Unvermutetes: Wie also kam histo- „zweimal des Tags vollpfropft und große Risiken eingegangen. Der risches Geschehen zustande? Tausend sol- keine Nacht allein schläft“, wie er sizilische Tyrann Dionysos I. ließ cher Fragen trieben die Bürgerschaft um, beklagte. Platons philosophische den Mahner dafür festnehmen und sie setzte sich damit auseinander. Die Akademie, die Forschung und und auf den Sklavenmarkt brin- überlieferten Tragödien bezeugen es; auf Lehre auf Gebieten wie Naturwis- gen – Freunde kauften ihn andere Weise die damals erfundene Ge- senschaften, Kunst oder Staats- rechtzeitig frei. schichtsschreibung. Letztlich hat die mo- theorie betrieb, gilt als Vorläufer derne, kritische Wissenschaft, die Europa in späteren Jahrhunderten hervorbrachte, der modernen Universitäten. Mit AKG Platon in diesem unerschrockenen Infragestellen ihren Ursprung. nahme. Indes steht sie für unsere Wahr- den Feldherrn und Staatsmann Kimon, hat- Ein anderes Zeugnis stellt die Bildhau- nehmung der Griechen im Vordergrund. te er mit einem Verfahren wegen Amts- erkunst dar, die ihrerseits ungeahnte Mög- Je mehr Athen seine Flotte brauchte, um mißbrauchs ausgehebelt, danach mit Re- lichkeiten sich erschloß. Sie sah sich vor so selbstbewußter wurden die Ruderer aus formen der Bürgerrechte und fürsorglichen dem Problem, von den Göttern, wie man den untersten Schichten. Die stärker tra- Wohltaten für die unteren Volksschichten sie jetzt verstand, ein Bild zu formen und ditionsverhaftete Politik des Adelsrats stieß seine Position abgesichert: So wurde der den Menschen zu begreifen, dessen ganze auf wachsende Kritik, so daß man ihn ent- um 495 vor Christus geborene Perikles im Ungeheuerlichkeit selten so deutlich emp- machtete. Athen stellte eine radikale De- Jahresrhythmus zum „Strategen“, dem funden wurde wie in dieser Zeit, da man mokratie her, die erste Demokratie der höchsten Mann der Stadt, stets wiederge- immer wieder neue Grenzen zu über- Weltgeschichte. Alle wichtigen Entschei- wählt, bis er im Jahr 429 an der Pest starb. schreiten versuchte. dungen fielen künftig wirklich in der Volks- Zwar bemängelten Kritiker, daß er die Kurz gesagt waren es ungeheure Spiel- versammlung, unter starker Beteiligung Demokratie als Einmannregiment prakti- räume, die sich damals in Athen auftaten. auch der kleinen Leute. Es ist äußerst kühn ziere und gelegentlich Kriegsaktionen Der Mensch wurde (im Rahmen der Polis- und mußte als beängstigend erscheinen: gegen attische Städte zur Ablenkung von welt) Herr über seine politische Ordnung. die führende Stadt in der Hand der breiten innenpolitischen Schwächen nutze. Im- Alles mögliche schien änderbar, bloße Kon- Menge! Doch ging es lange gut, nicht zu- merhin jedoch sicherte der Stratege die vention, Sache der Willkür zu sein, was letzt dank der Führung des Perikles. Außengrenzen der Stadt, vor allem durch die Sophisten geistvoll durchspielten. Wor- Der Adelssproß von der radikal-demo- die Seeflotte, während er drinnen Polis und an konnte man sich halten? Sokrates fand, kratischen Partei Athens war mit Bered- Kultur zusammenführte. Der Politiker för- er wisse nur, daß er sozusagen nichts wis- samkeit und politischer Raffinesse an die derte Kunst und Wissenschaften, war mit se. Er stellte die Frage nach dem Gerech- Stadtspitze gerückt – seinen Vorgänger, bedeutenden Zeitgenossen wie Sophokles ten, bohrend und erbarmungslos.

753v.Chr. Mythisches Datum 490v.Chr. Sieg der Athener 399 v.Chr. Der Philosoph Sokrates, Wiege des Westens der Gründung Roms durch die bei Marathon (Attika) über Lehrer Platons, wird wegen Gott- Das antike Europa Zwillinge Romulus und Remus das persische Invasionsheer losigkeit und Jugendverführung mit dem Schierlingsbecher hingerichtet 594v.Chr. Solon führt in der um 450v.Chr. Mit dem Zwölftafelgesetz wird das 1200 – 800v.Chr. Grün- Athener Verfassung die Teil- nahme des Volkes an politi- römische Recht erstmals in dung der griechischen schriftliche Form gebracht Stadt-und Kleinstaaten schen Entscheidungen ein im ägäischen Raum, 431v.Chr. Ausbruch des pe- darunter Athen, Sparta, um 525v.Chr. Der Philosoph loponnesischen Krieges (bis Theben, Korinth Pythagoras entwickelt Lehrsät- 404) – Athen unterliegt Sparta ze der Geometrie, Astronomie und Musiktheorie 800 – 750v.Chr. Aus dem um 420v.Chr. Der Arzt Hippo- phönizischen Alphabet ent- krates von Kos lehrt Kranke Tod des Sokrates (Gemälde wickeln die Griechen die ers- 510 v.Chr. Gründung der ohne religiöse Beschwörun- von Jacques-Louis David) te Buchstabenschrift Euro- römischen Republik nach gen, allein mit erprobten Heil- 387 v.Chr. Platon gründet die Akademie pas. Von ihr leiten sich alle dem Sturz des letzten mitteln zu behandeln und gilt späteren europäischen Etruskerkönigs Tarquinius seither als Begründer der 338 v.Chr. König Philipp II. von Make- Schriften ab Superbus wissenschaftlichen Medizin donien unterwirft ganz Griechenland

58 der spiegel 2/2002 Das ist es, was dafür spricht, daß schon damals Europa begann. Höhe- und Wendepunkt er- reichte die Bewegung im Pelo- ponnesischen Krieg (431 bis 404), den eine Koalition unter Spartas Führung begann, um Athens Herrschaft zu brechen. Lange blieb die Stadt überlegen, griff gar kühn immer weiter aus, bis ihre Kräfte hoffnungslos überfor- dert waren, auch wenn sie das lange nicht hat glauben wollen. Athens Reich wurde zerstört. Die Fragen, Antriebe und Wag- nisse, aus denen seine Kultur ge- lebt hatte, erschlafften. Was es im fünften Jahrhundert hervorge- bracht hatte, wirkte zwar weiter,

DIMITRI MESSINIS / AP DIMITRI aber vor allem als Bildung (und Olympisches Feuer*: Menschenbildung im Wettstreit Bildungsgut). Doch kam noch et- was anderes hinzu: Das war die Die Menschen genossen eine Freiheit Volk als ein Gutes erschiene. Was also war Philosophie Platons, die auf fast allen Fel- wie selten zu handeln, zu gestalten, zu er- das Gute? König Kreon in der „Antigone“ dern, auf denen Philosophen sich künftig kennen. Was umgekehrt hieß: Man stellte wollte alles vernünftig machen und stei- bewegen sollten, die wichtigsten Fragen in Frage und sah sich in Frage gestellt, in gerte sich in schlimmste Irrtümer. Wie das aufwarf. Seine Antworten waren in vieler nahezu allem, worauf man gründete. Ei- kam, konnte man sehen. Wie schwierig das Hinsicht zeitgebunden, aber wie er seine gentlich ein Anlaß zu verzweifeln – was rechte Entscheiden, auch. Aber wie sollte Fragen bis zum letzten, bis zur Idee der auch nicht wenige taten. Insgesamt jedoch man darüber hinauskommen? Und vor Guten und Gerechten vorantrieb, das hat geschah das Gegenteil. Was er tat und er- allem: Noch die letzte Ratlosigkeit wurde bis heute aufs stärkste nachgewirkt, und fuhr, wollte der Athener auch in seinen in Bildern, in Mythen, in einer Form ein- Entsprechendes gilt von seinem Schüler Konsequenzen verstehen; wollte sich Re- gefangen, die die damalige Kunst, Ge- Aristoteles. chenschaft darüber ablegen, was es be- schichtsschreibung, Intellektualität bis in Politisch blieb es für die Griechen bei der deutete. Wollte etwa das Zufällige erken- die Gegenwart zu einer unerschöpflichen Polis. Zum Teil konnte man die alten Ord- nen, die Verblendung, in der Menschen so Quelle der Inspiration gemacht hat; Aus- nungen bewahren, mustergültig in der neu oft gefangen sind. Was sich angesichts druck zugleich einer neuen Souveränität auflebenden Demokratie Athens. Doch gab schwieriger Entscheidungen an ethischen des Menschen. es vielerorts auch stets neue Verfassungs- Problemen auftat, an inneren Konflikten Dazu war doch wohl nur ein Volk im- umstürze. Sie wurden erleichtert durch und Aporien, wollte zumindest exempla- stande, das es gewohnt war, alles Wesentli- eine höchst wechselvolle Außenpolitik. risch dargestellt werden. che unter sich auszutragen, in weit getrie- Denn nachdem Athen einmal außeror- Künstler, Dichter und Philosophen ver- bener Rationalität noch dem Chaotischen dentliche politische Spielräume erschlos- tieften die Fragen eher, als daß sie sie be- auf den Leib zu rücken und es in Formen sen hatte, kam die Frage nach der Vormacht antwortet hätten. Nichts Schlechtes gebe zu zwingen; und alle Ausgesetztheit und im Ägäis-Raum nicht zur Ruhe. Auf die es, hieß es etwa, was nicht irgendeinem Freiheit nicht nur aus- Dauer war es keine Polis, die sie errang, zuhalten, sondern ge- sondern die Monarchie der Makedonen. * Am 18. November 2001 in Olympia. radezu zu wollen. Womit ein neues Volk die Geschichte Eu-

312 v.Chr. Bau der ersten 218 – 201 v.Chr. Zweiter Pu- 44 v.Chr. Cäsar wird ermordet, Römerstraße von Rom nach nischer Krieg. Hannibal bedroht sein Haupterbe wird Octavian Capua, der Via Appia Rom, unterliegt aber am Ende 27 v.Chr. Octavian wird erster römi- um 300 v.Chr. Euklid verfasst scher Kaiser und nimmt den Namen 149 – 146 v.Chr. Im Augustus (der Erhabene) an in Alexandria ein bis in die dritten Punischen Krieg Neuzeit gültiges Lehrbuch der wird Karthago erobert Geometrie 90 n.Chr. Gegen die Germa- und zerstört nen lässt Domitian eine Grenz- befestigung (Limes) errichten 287 v.Chr. Die Lex Hortensia in Rom erhebt Volksentschei- 123 v.Chr. Publius Mucius Scaevola begründet mit 212 n.Chr. Caracalla gibt allen de (Plebiszite) in den Rang all- freien Bewohnern der Provinzen das gemein gültiger Beschlüsse einer umfassenden Dar- stellung des Zivilrechts die Büste des römische Bürgerrecht, das Römi- Rechtswissenschaft Cäsar sche Reich wird eine Rechtseinheit 264 – 241 v.Chr. Erster Puni- scher Krieg zwischen Rom und 71 v.Chr. Nach dem zweijähri- 476 n.Chr. Der letzte weströmische Karthago, das in der Folge auf 82 v.Chr. Sulla bricht die gen Aufstand der Sklaven unter Kaiser Romulus Augustus wird vom Sizilien, Sardinien und Korsika Macht der Volkstribunen Spartacus werden 6000 Aufrüh- germanischen Heerführer Odoaker verzichten muss und wird Diktator rer an der Via Appia gekreuzigt abgesetzt

der spiegel 2/2002 59 Serie (1) | EUROPAS FERNE FUNDAMENTE

ropas, aber nicht nur, zu be- ALEXANDER VON MAKEDONIEN stimmen begann. Die Stämme im Norden Großkönig und Eroberer der Ägäis sprachen zwar 356 bis 323 vor Christus griechische Dialekte, doch hielten die Griechen sie für akedonien ist nicht groß genug für Barbaren. Schließlich hatten Mdich“, soll der Makedonierkönig sie an ihrer Kultur fast kei- Philipp II. seinen tatendurstigen Sohn an- nen Anteil, das Polisleben gestachelt haben. Der nahm es als Auf- war ihnen fremd. Dafür bo- trag: Gleich nach dem Tod des Vaters ten sie ein beachtliches mi- schwang sich Alexander III. zum Heerführer litärisches Potential, wenn auf und marschierte ostwärts. Der Expan- man ihre Kräfte einmal zu sionsdrang machte ihn zum frühen Vorbild einen, zu organisieren und späterer europäischer Eroberer wie Napo- einzusetzen wußte. leon und Hitler. Alexander, später der Große Als der Makedonen-Kö- genannt, galt als ungestümer Anführer. nig Philipp II. das in großem Beim Erstürmen einer indischen Stammes- Stil tat, konnte er die ganze hauptstadt enterte er im Alleingang die Nordküste der Ägäis samt Mauer und konnte von seinen nachfolgen- dem heutigen Bulgarien un- ter seiner Herrschaft zu- sammenfassen und zugleich die Hegemonie über die

Griechen erringen. Schließ- AKG lich scheint es in der Konse- Schlacht bei Issos*: Den Persern ihr Reich genommen quenz seiner Expansionspo- litik gelegen zu haben, den Persern zu- der in die östlichen Satrapien des Perser- mindest Teile Kleinasiens (mit den dorti- reiches geführt. Es drängte ihn aber auch gen Griechenstädten) zu entreißen. Dafür ans Ende der Welt. Doch am Hyphasis (im sprach nicht zuletzt, daß Philipp so sei- Pandschab) meuterten die Truppen. Es nen Führungsanspruch gegenüber den folgte ein entbehrungsreicher Rückzug

AKG Griechen legitimieren konnte. Nur kam er durch Wüste und Bergland. Kaum zurück Alexander nicht mehr dazu, da er einem Anschlag in Babylon, starb der König. erlag (336). Das auf lange Sicht bedeutendste Er- den Soldaten nur mit Mühe schwerverletzt Sein Sohn Alexander sollte den Faden gebnis dieses Eroberungszugs bestand dar- geborgen werden. aufnehmen. 22 Jahre war er alt, rechnete in, daß sich griechische Kultur weit in den Mit 31 Jahren regierte Alexander ein Welt- die mythischen Gestalten Herakles und Orient, noch über das heutige Afghanistan reich – jedenfalls nach damaligem Maß- Achill zu seinen Vorfahren und hatte sich hinaus, ausbreitete. Denn es wurden zahl- stab. Vom Mittelmeer bis nach Indien ver- als Heerführer schon glänzend bewährt. reiche griechische Städte gegründet. Sie breitete er die hellenische Kultur – antike Warum sollte es nicht möglich sein, den bildeten zwar nur Inseln im fremden Land, Globalisierung. Dafür schien Alexander Persern ihr Reich zu nehmen? Es stand doch ging eine gewisse Ausstrahlung und schon durch seine Erziehung gerüstet: Sein nicht zum besten um dessen Zusammen- Anziehung auch auf die Einheimischen von Vater hatte ihn durch den Athener Philoso- halt; ein griechisches Heer war schon ein- ihnen aus. Es entstand eine griechische phen Aristoteles ausbilden lassen. Zwei mal, und ziemlich mühelos, tief in ihr Herr- Ökumene, die sich zugleich für viele und Jahre lang vermittelte der in der Abgeschie- schaftsgebiet vorgedrungen. So könnte es vieles aus dem Orient öffnete. denheit eines makedonischen Dorfes dem durchaus sein, daß der junge König schon, Während derart im Osten die Welt neu Thronerben seine Lehren über Ethik, Kunst als er die Grenzen zwischen Europa und eingeteilt wurde, wuchsen im Westen des und Wissenschaften. Asien überschritt, den Plan hatte, das Mittelmeers neue Mächte heran. Syrakus Doch der Schliff des Meisters hielt nicht ganze Perserreich zu erobern. Jedenfalls gewann eine Vormachtstellung auf Sizilien, lange. Alexander entpuppte sich als ruhm- war er der erste große Eroberer aus Euro- in der Abwehr Karthagos, der phönizi- süchtig und brutal, auch darin schlechtes pa, der in Asien, der in ei- Vorbild seiner europäischen Nachahmer. nen anderen Erdteil ein- Städte ließ er niederbrennen, Gefangene in fiel, Vorbild für viele, die EUROPAS ERBE Massen abschlachten, gute Freunde töten. ihm folgen sollten. Sein Hofstaat entfaltete sich derweil orien- Leicht und rasch kam Die Wissenschaften talisch prachtvoll, einschließlich Harem Alexander voran, siegte • Auf der Suche nach dem göttlichen Ursprung aller Dinge und Eunuchen, Orgien und Intrigen. unter anderem bei Issos entdeckten die Griechen Gesetzmäßigkeiten in der Natur: Historiker und Dichter ließen sich den Welt- (333), zog nach Ägypten, Mathematische wie philosophische Ansätze zielten stets auch mythos „Alexanders des Großen“ dennoch schlug den Perserkönig auf die Harmonie der Welt. Eine klare Trennung der Disziplinen nicht trüben. Auch echte Fälscher nahmen bei Gaugamela in Meso- fehlte, dennoch gelangen Durchbrüche: Der Philosoph an der Verklärung des mit 33 Jahren in Ba- potamien und setzte sich Demokrit nahm das Wissen über die Existenz von Atomen bylon am Fieber gestorbenen Helden teil. an seine Stelle. vorweg. Die Geometrie des Euklid, der um 300 vor Christus. Die dem königlichen Freund und Hofschrei- Die Verfolgung des von der Astronomie bis zur Musiktheorie forschte, gilt bis ber Kallisthenes zugeschriebene Ruhmes- Großkönigs hat Alexan- heute. Pythagoras führte eine Schule über Philosophie und biographie muß aus fremder Feder stam- Ethik – und fand zugleich Zahlengesetze, etwa das Seiten- men: Den angeblichen Autor hatte Alexan- verhältnis beim rechtwinkligen Dreieck (a2+b2=c2). Der grie- * Gemälde „Die Alexander- der als unliebsamen Kritiker beseitigen las- schlacht“ von Albrecht Altdorfer chische Weg, durch rationales Denken eine Theorie zu begrün- sen. (1529). den, bestimmt seither Europas wissenschaftliche Methodik.

60 der spiegel 2/2002 Werbeseite

Werbeseite Serie (1) | EUROPAS FERNE FUNDAMENTE schen Kolonie im heutigen Tunis, die den mit anderen, ferneren Mächten, mit denen Mittelmeer vom Westen Kleinasiens bis westlichen Teil der Insel beherrschte. die Römer in Berührung gekommen wa- Gibraltar. Nicht viel später trat Rom auf den Plan. ren. Kaum ein Krieg, der nicht mit einer Zudem erweiterte es mehrfach die eige- Ob die Zustände in Italien besonders labil, Eroberung geendet hätte. So daß der Herr- ne Bürgerschaft, indem es relativ großzügig ob Rom und vielleicht einige andere Städ- schaftsbereich weiter wuchs. ganzen Städten sein Bürgerrecht verlieh. Im te oder Stämme besonders aggressiv wa- Wenn Rom es denn überhaupt versucht Unterschied vor allem zu den demokrati- ren, ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls hat, so war es doch nie in der Lage, ein schen Griechen hatte es nichts gegen die hatte die Stadt spätestens im vierten Jahr- Gleichgewicht mit anderen Mächten her- Ausweitung der eigenen Gemeinde. Dieje- hundert eine mächtige Dynamik nach zustellen. Es spricht viel dafür, daß es sei- nigen Römer, auf die es ankam, die Adligen außen entfaltet. Wo immer Konflikte ent- ne Außenpolitik als defensiv verstand, von also, wurden immer mächtiger, je mehr die standen, pflegte die eine Seite Rom zu Hil- starken, überstarken Sicherheitsinteressen Bürgerschaft wuchs, die sie regierten. fe zu rufen. Und regelmäßig kamen die Rö- bestimmt. Aber das lief eben in der Regel Endlich, nach den zwei großen Kriegen mer nicht nur, sondern sie blieben auch. auf Expansion hinaus, selbst wenn man gegen Karthago (264 bis 241, 218 bis 201), Es spielte sich ein, daß sie, sobald sie ir- sich mitunter eine Zeitlang mit indirekter war den Römern kein Gegner mehr ge- gendwo Fuß gefaßt hatten, die Notwen- Herrschaft hatte begnügen wollen. wachsen. Und es hat sich in ihrem Imperi- um über Jahrhunderte hinweg wenig Wi- derstand geregt. Dabei war ihre Herrschaft, vor allem die über die außeritalischen Pro- vinzen, lange Zeit, obwohl und weil sie nicht sehr intensiv war, vielfach von Will- kür und Ausbeutung gekennzeichnet. Nicht nur die Mittelmeerwelt, auch wei- te Landstriche im Norden wurden römisch: Gallien bis an die Nordsee, Britannien bis über die Grenzen Schottlands hinaus, Tei- le Germaniens, Pannoniens und der Bal- kan, bis weit ins heutige Rumänien hinein – ein Gebiet, größer als die heutige Eu- ropäische Union. Bemerkenswert an dieser Reichsgrün- dung war insbesondere, daß sie von einer Republik ausging. Um 500 hatte das römi- sche Patriziat das etruskische Königtum gestürzt und eine Adelsherrschaft begrün- det. Ganz anders als der griechische Adel (außerhalb Spartas) hat sich der römische Adel auf die Dauer stark für das eigene Gemeinwesen und seine Politik engagiert. Er schien allein befähigt zu sein, die Ge- meinde vor den Göttern zu vertreten, war

DEFD relativ diszipliniert und sicherte mit der Dekadentes Rom*: Nach 400 Jahren des Aufstiegs eine lange Agonie Zeit sogar institutionell eine erstaunliche Balance zwischen Freiheit und Disziplin. digkeit verspürten, sich dort weiträumig 272 erstreckte sich Roms Herrschafts- Vor allem war er bereit zu leisten, was abzusichern. Nach innen geschah das gern bereich auf Italien, abgesehen von der Po- Macht am besten stabilisiert: daß man sie durch Anlage von Kolonien oder den Bau ebene. 264 begann schon der Konflikt mit nicht nur ausübt, sondern zugleich ihrer Be- von Straßen. Nach außen mündete es über Karthago, in dem Rom Sizilien gewann. wahrung dient. Die breite Bürgerschaft war kurz oder lang in Auseinandersetzungen Am Ende des Jahrhunderts waren Sardi- durch Klientel- und Freundschaftsverhält- nien, Korsika, Spanien dazugekommen, nisse an die Adligen gebunden. Das bedeu- * Szene aus dem Film „Messalina – Kaiserin und Hure“ auch Teile Norditaliens. Hundert Jahre tete, daß die Bürger die Adligen in ihre Äm- von Bruno Corbucci (1980). später beherrschte Rom fast das ganze ter wählen, ihnen also zu Macht und Einfluß

DIE GRACCHEN die Besitzlosen zu verteilen. Es war nicht mehr Richterämter dem neureichen Ritterstand Römer und Reformer als ein gelinder Vorgeschmack auf künftige übertrug. Dann vollzog er die Landreform, europäische Revolutionen, aber die Oligarchie senkte per „Getreidegesetz“ den Kornpreis für schlug brutal zurück – und ermordete die Armen und wollte in den von Rom be- wei adlige Umstürzler waren die letzte Gracchus. Doch ein Jahr- herrschten italischen Gebie- Z Chance der römischen Republik. Die droh- zehnt später wurde sein ten sogar das Bürgerrecht te zu scheitern, weil die alte Aristokratie dank Bruder Gajus zum Volkstri- einführen. Auch Gajus wur- Privilegien und ausuferndem Landbesitz den bun gewählt und vollende- de getötet. Doch es war wie Staat beherrschte und durch ihre Sklavenhee- te trickreich das Werk des ein Modell für spätere re – allein auf Delos wurden täglich bis zu Toten: Erst spaltete er die Staatskrisen Europas: Der 10 000 Menschen gehandelt – die Bauern Aristokratie, indem er die sozial aus den Fugen gera- verdrängte. Da schlug der Volkstribun Tiberius zuvor dem alten Adel vor- tenen Republik machten – Sempronius Gracchus im Jahr 133 vor behaltene Besetzung der bald nach dem Tod der Christus vor, die Latifundien auf 500 Morgen Ermordung des Gracchen – römische Dikta-

zu stutzen und den überschüssigen Boden an Tiberius Gracchus AKG toren ein Ende.

62 der spiegel 2/2002 verhelfen mußten, daß aber die Ad- ligen sich auch für die Bürger ein- BRITANNIEN Vom Stadtstaat zur Weltmacht zusetzen, sie etwa vor Gericht zu Londinium Das Römische Reich ... R GERMANIEN unterstützen hatten. Zusätzlich fan- h e i den die Bürger, zumal wenn viele n ... um 300 v. Chr. ... um 133 v. Chr. Limes von ihnen in besondere Not geraten Lutetia waren, Fürsprecher in den Volks- BELGIEN ... um 200 v. Chr. ... um 117 n. Chr. D tribunen, den Beauftragten der onau Plebs, in denen eine gewisse Op- GALLIEN position institutionalisiert war. Der römische Bürger hatte also SCHWARZES durchaus politische Rechte, doch DALMATIEN Massilia MEER waren die Spielräume für deren HISPANIEN THRAKIEN Ausübung sehr begrenzt. Das Rom Byzanz Stimmrecht bei den Wahlen war MAZEDONIEN ungleich, und Entscheidungen des Neapolis Volkes über Gesetze hingen davon ab, daß ein Magistrat, zum Beispiel Karthago Prätor, Quästor oder Konsul, ge- Athen willt war, einen Antrag zu stellen. AFRIKA SYRIEN Das war, sofern es sich um Streit- fälle handelte, eher selten, da der MITTELMEER Senat sich dem zumeist erfolgreich JUDÄA widersetzte. Um so wichtiger wa- Alexandria ren die Freiheitsrechte, die der rö- mische Bürger genoß, und seine ÄGYPTEN Ansprüche auf Unterstützung. Die heutige Europäische Union, in der 500 km die Bürger nur eingeschränkt mit- wirken können, schließt eher an das römische Bürgerrecht an als an das senschaft, der einzigen, die Rom zum eu- Fassade wieder aufgerichtet werden konn- griechische, welches sich in Teilhabe und ropäischen Erbe beisteuerte. te. Das Militär blieb in seiner Hand, und Mitsprache manifestierte. Rund 400 Jahre ist die republikanische die wichtigsten Politiker waren von ihm In diesem Zusammenhang ist die wohl Ordnung im wesentlichen gleich bewahrt abhängig. Die Verwaltung der Provinzen wichtigste Schöpfung Roms zu sehen, sein worden. Zuletzt freilich geriet sie in eine sowie die Rechtspflege und -entwicklung Recht. Wo auf den Schutz, die Vertretung lange Agonie. Das alte Bauernheer war wußte er auf den richtigen Weg zu bringen. von Bürgern, nicht zuletzt vor Gericht, überfordert, schwere soziale Konflikte bra- Und das für gut zwei Jahrhunderte. so viel ankam, mußte das Recht objekti- chen aus. Die Republik wurde mit dem Insgesamt blieb die Erschütterung der viert werden, waren Rechtsansprüche Weltreich nicht mehr fertig. Tradition in der Krise begrenzt. Letztlich immer feiner und sorgfältiger gegenein- Die akute Krise (133 bis 30 vor Christus) sah sich das Herrschaftssystem nicht in Fra- ander abzuwägen. Freilich kam noch et- gehört zu den faszinierendsten Epo- ge gestellt. Aber unsicher waren die Römer was anderes hinzu. chen der Weltgeschichte. Die bei- durchaus und fanden vieles problematisch. Die römi- den Gracchen als Volkstribunen, Schon seit dem dritten Jahrhundert vor sche Ordnung die Konsuln Sulla und Pompeius, war nämlich der junge Cato, der Imperator eine „gewachse- Caesar, schließlich sein Mör- EUROPAS ERBE ne Verfassung“. Nur der Brutus, allesamt höchst weniges regelten Geset- markante, ausgeprägte Das römische Recht ze. Das meiste ergab sich aus Persönlichkeiten, boten • Sie kannten Eigentum und Zivilklage, dem Herkommen. Das heißt zunächst: alles auf zum Kampf: gesetzliche Erbfolge und Gütertrennung; Im stets neuen Ausgleich von Situation Volksversammlung ge- Straftäter wurden vor Geschworenengerich- zu Situation reproduzierten sich die all- gen Senat, ein Heer- ten abgeurteilt, der Mord wurde gesetzlich gemeinen Regeln, man folgte bewähr- führer gegen den an- geahndet wie die Erpressung, die Geldfäl- ten Beispielen, gelegentlich ent- deren und vielerlei schung oder die Verletzung des Persönlich- standen auch neue. Das heißt aber Schindluder, das mit keitsrechts. Rom hatte sein Gesetzessystem auch: Diese Ordnung beruhte letzt- der Verfassung getrie- zwar schon im fünften vorchristlichen Jahr- lich auf dem Vertrauen, daß die Ma- ben wurde. hundert begründet, seitdem aber derart gistrate sich an die ungeschriebenen Schließlich verstand ausgefeilt, daß es die Rechtsentwicklung in Regeln hielten und daß man sie nöti- es ein genialer Staats- Mitteleuropa bis in die Neuzeit prägte. In genfalls dazu drängen konnte. So mann, der letzte Sie- deutschen Staaten war römisches Zivilrecht konnten die Prätoren, die römischen ger im Bürgerkrieg, bis ins späte 19. Jahrhundert Grundlage Gerichtsmagistrate, so viel Selbständig- Augustus, seine umfas- geltenden Rechts. Bis heute gehören römi- keit erlangen, daß sie die Entwicklung des sende Macht so weit sche Prinzipien wie das Verbot der Mehr- Rechts zusammen mit den Juristen, und zurückzunehmen, daß fachbestrafung wegen eines Delikts („ne bis das waren oft führende Senatoren, von eine republikanische in idem“) oder der Anwendung einer zum sich aus bedachtsam weiterzuführen ver- Tatzeitpunkt noch nicht erlassenen Vorschrift mochten. Letztlich auf diesem Wege wur- Imperator Augustus („nulla poena sine lege“) weltweit zum

AKG de das Recht zur Sache einer Wis- Sicherer Frieden rechtsstaatlichen Kernbestand. 63 Christus wirkten griechische Einflüsse auf Rom. Jetzt öffnete sich die Oberschicht ih- nen immer weiter. Cicero übertrug die Phi- losophie der Griechen ins Lateinische. Dichtung, Bildhauerkunst, Architektur in- spirierten sich dort. Und griechische Le- bensform begann die Welt der Muße, der Villen zu durchdringen. Ein neuer Begriff des Menschlichen kam auf, der für späte- re Zeiten in Europa das Bild einer huma- nistischen Antike prägte. Erstmals ist von der Würde des Menschen die Rede. Was in der späten Republik eher wild ge- blüht hatte, wurde unter Augustus zu einer klassizistischen Welt der Bilder und der Sprache. Die Griechen erlebten in Rom gleichsam ihre erste Renaissance. In der Kultur des Reiches durchdrangen sich künftig Griechisches und Römisches, zumal in der Westhälfte. Rom entfaltete eine er- staunliche Assimilationskraft. In dieser Form weitete die griechisch-römische Kul- tur sich aus und verwurzelte sich tiefer, in- dem sie von immer mehr Menschen getra- gen wurde.

EUROPAS ERBE Das Imperium • Eigentlich galt der Begriff, abgeleitet vom Verb „imperare“ (befehlen), nur für den Amtsbereich Roms, schloß dann die Hoheitsgewalt in erober- ten Ländern ein, und schließlich stand das vom Historiker Sallust (86 bis 35 vor Christus) be- nannte Imperium Romanum für das ganze zusam- mengeraubte Weltreich, dessen kaiserliche Herr- scher sich Imperatoren nannten. So wurde die Machtentfaltung der Caesaren allenthalben zum erstrebten Vorbild späterer Reichsgründer; Napo- leon I. ließ sich als Empereur huldigen, auch England entlieh den Namen seines riesigen Em- pire von der römischen Weltherrschaft. Zum Schimpfwort geriet der Imperialismus durch Eu- ropas Mächte des 19. Jahrhunderts, die sich beim kriegerischen Wettlauf um die Ausbeutung überseeischer Machtbereiche aufrieben und dabei unbedeutend wurden – wie das alte Rom.

Und das von Augustus neu begründete Imperium hatte Glück: Es gab wenige Geg- ner an seinen langen Grenzen. Die Ar- meen, die sie schützten, waren kleiner als die Bundeswehr: wenig Steuern also. Ein si- cherer Frieden am Mittelmeer, so lange wie niemals sonst. Und ein immer dichter wer- dender Handel, blühender Wohlstand, auch wachsender Tourismus wurden möglich. Im letzten Drittel des zweiten nach- christlichen Jahrhunderts indes nahm der Druck auf die Grenzen zu. Bald darauf war Rom einem Zweifrontenkrieg ausgesetzt, da zusätzlich zu der Bedrohung aus dem Norden im Osten, auf persischem Boden, das aggressive Reich der Sassaniden ent- stand. Der Staat brauchte viel mehr Sol- daten, viel mehr Steuern, viel mehr Be-

64 der spiegel 2/2002 Serie (1) | EUROPAS FERNE FUNDAMENTE AKG Christenverfolgung unter Kaiser Nero*: Die neue Religion nahm Griechisches und Römisches in sich auf amte. Auch mehr Kaiser, denn der eine in große, mächtige Römische Reich, als My- und römisches Recht sind nur das eine Erbe. Rom schien oft zu weit entfernt zu sein, um thos, als Anspruch. Und nicht zuletzt, weil Philosophie, Kunst, Literatur haben wahr- für die Festigkeit der Front und den Nach- von Rom her die Konstellationen vorgege- scheinlich über die Jahrhunderte stärker ge- schub gebührend zu sorgen. ben waren, unter denen die Germanen ihre wirkt, unter anderem, um den Boden zu Das Reich wurde neu organisiert, geteilt, Reiche bilden sollten: so groß nämlich, daß bereiten, auf dem das Politische ganz neu vereinigt und zerfiel schließlich in eine öst- ihre Könige, darauf gar nicht vorbereitet, zu entstehen konnte. Sie setzten die Menschen liche und eine westliche Hälfte. In die west- schwach waren, um sie von einem Zentrum zu vielem in die Lage, wozu sie sonst un- liche drangen vielfach Germanenstämme aus organisatorisch zu durchdringen. Folg- fähig gewesen wären. Durch diese Bildung ein, zum Teil wurden sie bewußt angesie- lich waren die Gegengewichte im Adel, wurden die Europäer erst zu Europäern. delt, damit man auf ihre militärischen auch in der Kirche von vornherein stark Dazu kamen als Gegengewicht Roms Dienste zurückgreifen konnte. Schließlich und sollten es lange bleiben. Recht, seine Republik, sein Sinn für Frei- ging das westliche Reich unter (476), Und es gab stets mehrere Reiche und heit und Herrschaft. Und dazu stieß die während im Osten Byzanz noch an die Fürstentümer nebeneinander, mit einer ge- neue Religion der Christen, die Griechi- 1000 Jahre weiterlebte, in einer lang sich meinsamen Kirchen- und Gelehrtenspra- sches wie Römisches in sich aufnahm, ver- hinziehenden Spätantike. In Rom residier- che, dem Latein. So daß relativ viel Kon- tiefte und weitergab. te nur mehr ein Bischof, der Papst. kurrenz und Freiheit erwachsen konnten, Die Erbschaft war und ist riskant. Ein Damit sind wir bei einer anderen Ge- immer wieder neue Spielräume, neue Al- Strang davon endete in Auschwitz. Das an- schichte; die zur Zeit des Kaisers Augustus ternativen, neue Probleme und neue Lö- tike Erbe könnte aber heute auch helfen, in Galiläa begonnen hatte. Die Lehre Jesu sungen – auf jenem europäischen Sonder- neue Kräfte freizusetzen. war auf jüdischem Boden erwachsen. Doch weg, der in der Antike begann, um sich bis fand sie Sprache, Ausdruck, Verständnis ins 20. Jahrhundert fortzusetzen. und Verbreitung vornehmlich in der grie- Was man aus diesem Erbe machte, war CHRISTIAN MEIER chisch-römischen Welt. Sosehr das Chri- jeweils durch die eigene Zeit bedingt. Die war Professor für stentum wesentliche Züge der klassischen späteren Europäer gingen in vielem ganz Alte Geschichte an Antike verneinte: Es gründete dennoch andere Wege. Aber das wäre kaum möglich der Universität weitgehend in ihr. Ihr verdankte es seine gewesen ohne die antiken Voraussetzun- München und ist Theologie, die die Ansätze und Methoden gen. Ohne jene Epoche, in der Menschen Präsident der antiker Philosophie aufnahm. Was immer erstmals eine Kultur frei von Herrschaft auf- Deutschen Akade-

zeitweise verlorenging: Hier wurden antike bauen konnten, voller Unsicherheit zwar, mie für Sprache M. WEBER W. Potenzen kontinuierlich weitergegeben, bis aber auch in der Bereitschaft, keiner Frage und Dichtung. Mei- sie, noch und noch, ihre Fruchtbarkeit im auszuweichen. Das war eine neue Form er, 72, veröffentlichte unter anderem Abendland ganz neu entfalten konnten. menschlicher Existenz. Freiheit, Bürgerver- eine Caesar-Biographie und eine Dar- Auf vielen Wegen hat die Antike das mit- antwortung und -gleichheit, Demokratie stellung Athens im fünften Jahrhundert. telalterliche und neuzeitliche Europa tief beeinflußt. Als unmittelbare Tradition, vor Im nächsten Heft lesen Sie: SERIE (2) | KARL, DER GROSSE EUROPÄER? allem innerhalb der Kirche, als immer neu aufzurufendes Erbe, als Erinnerung an das Den Mythos des ersten in Rom gekrönten deutschen Kaisers beschworen Diktatoren wie Napoleon und Hitler ebenso wie die Väter der EU. Doch Karl dem Großen * Gemälde „Fackeln des Nero“ von Henryk Siemiradzki (1876). war die Idee Europas noch gleichgültig, grausam unterwarf er seine Nachbarn.

der spiegel 2/2002 65 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft Z. ZIELSKE / BILDERBERG Z. ZIELSKE Exportgüter in Bremerhaven

KONJUNKTUR ausgesagt. Mit der neuen Prognose für den Jahreswirtschafts- bericht, der Ende Januar im Bundeskabinett verabschiedet werden soll, haben sich dennoch die Optimisten im Finanzmi- Weiter auf Talfahrt nisterium durchgesetzt. Einige Beamte halten es durchaus für möglich, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nur um ie Bundesregierung wird ihre Wachstumsprognose für das ein halbes Prozent zulegt. Damit steht schon zu Jahresbeginn Dlaufende Jahr im neuen Jahreswirtschaftsbericht noch ein- fest, dass Deutschland in diesem Jahr der Defizit-Obergrenze mal erheblich nach unten korrigieren. Die Konjunkturexperten von drei Prozent, die der Stabilitätspakt für den Euro vor- von Finanzminister Hans Eichel rechnen inzwischen nur noch schreibt, gefährlich nahe kommt. Experten des Bundesfinanz- mit einem Wirtschaftswachstum von 0,75 Prozent. Die Zahl der ministeriums gehen davon aus, dass das deutsche Staatsdefizit Arbeitslosen werde in diesem Jahr bei durchschnittlich vier bei der neuen Wachstumsprognose auf mindestens 2,5 Prozent Millionen liegen. Im Herbst vergangenen Jahres hatten Eichels steigt. Deutschland läge so mit Abstand an letzter Position in- Fachleute für 2002 noch einen Zuwachs von 1,25 Prozent vor- nerhalb der Europäischen Union.

MUSIKINDUSTRIE Teures Geschacher um Stars uch wenn internationale Popstars wie Mick Jagger mit Aihren neuen Alben nicht sonderlich erfolgreich sind, so dürfen sie doch auch weiterhin auf fürstliche Angebote hoffen, wenn Plattenverträge auslaufen. Jüngstes Beispiel ist Mariah

STEFAN BONESS / IPON STEFAN Carey, die im Frühjahr 2001 für rund 80 Millionen Dollar von Polizeibeamte Sony Music zum Plattenkonzern EMI wechselte – und wie einige andere Stars Flops ablieferte. Die garantierten Gagen ÖFFENTLICHER DIENST blieben trotzdem hoch, meint Carl Mahlmann von EMI Deutschland: „Wenn man glaubt, da ist ein Künstler, der gut Klagewelle gegen Versorgungsreform ins Portfolio passt, dann wird geboten.“ Carey erwies sich für sein Unternehmen als teure Fehlinvestition: Nur zwei Millio- ine Klagewelle enttäuschter Mitarbeiter rollt auf Bund, nen Mal verkaufte sich ihr aktuelles Album „Glitter“ – von ELänder und Gemeinden sowie die Lufthansa zu. Grund ist ihrer früheren CD „Music Box“ hatte Konkurrent Sony Music die jüngste Tarifeinigung, die Zusatzrente für Beamte und An- 20 Millionen Exemplare abgesetzt. gestellte im Öffentlichen Dienst zu kürzen. Dagegen machen Carey EMI soll Carey nun eine Abfindung Beschäftigten-Verbände mobil. So bereitet ein Hamburger Mit- von 50 Millionen Dollar angeboten arbeiterverein eine Klage gegen die Versorgungsanstalt von haben, damit sie ihren Vertrag vor- Bund und Ländern vor. Mitglieder der Pilotenvereinigung zeitig auflöst. Auch andere üppig Cockpit wollen gegen die Lufthansa klagen, deren Zusatzrente dotierte Stars wie R.E.M. oder ebenfalls an die Regeln im Öffentlichen Dienst gekoppelt ist. Macy Gray enttäuschten im vergan- Dadurch, sagt Pilotenvertreter Wolfgang Schnepper, „ver- genen Jahr. Die teuren Flops setzen schlechtert sich unsere Altersversorgung um bis zu 30 Pro- den Plattenfirmen schwer zu, die zent“. Haben die Klagen Erfolg, könnten auf die Arbeitgeber Verluste gesellen sich zu den oh-

Forderungen in Milliardenhöhe zukommen. / DPA SOTA nehin rückläufigen Umsatzzahlen.

der spiegel 2/2002 67 Trends

AFFÄREN riumsvermerk. Auch Riesters Staatssekretär Werner Tegt- meier hatte intern bereits Riester unter gegen die Vergabe votiert, wie aus einem Ministeriums- schreiben an den CDU-Ab- Druck geordneten Hans-Joachim Fuchtel hervorgeht. Danach rbeitsminister Walter Riester gerät we- hatte Tegtmeier im vergange- Agen der fragwürdigen Auftragsvergabe nen Frühjahr entschieden, an von EU-Fördergeldern an ein Bonner Be- Stelle der Bonner Firma die ratungsunternehmen weiter unter Druck. Nürnberger Bundesanstalt Kurz vor Weihnachten hatte Riester drei für Arbeit „mit den Aufga- leitende Beamte seiner Behörde beurlaubt, ben zu beauftragen“. Den- weil die Europäische Kommission moniert noch vergab Riester den Auf- hatte, dass der Auftrag im Freihandver- trag im vergangenen Juni an fahren vergeben worden war. Dadurch die Bonner Firma, obwohl drohen der Bundesregierung eine EU-Stra- auch die EU-Kommission fe und ein finanzieller Schaden bis zu ei- ihre Bedenken mehrfach vor- ner halben Milliarde Euro. Der Minister trug. Dagegen teilten Riesters hatte die Schuld Beamten der zuständi- Beamte noch im vergange- gen Abteilungen gegeben, deren Entschei- nen November dem Haus- dungsvorlage „unvollständig gewesen“ sei haltsausschuss mit, die EU-

und deren Empfehlungen er gefolgt sei. / DDP WEISFLOG RAINER Kommission halte eine Aus- Tatsächlich jedoch, so zeigen interne Pa- Deutschkurs für junge Ausländer schreibung für unnötig. Den piere aus Riesters Behörde, müssten dem Steuerzahler kommen die Minister die Risiken bekannt gewesen sein. So verweist die ent- Ungereimtheiten um das EU-Programm, das unter anderem scheidende Beschlussvorlage vom Juni vergangenen Jahres auf Frauen und Ausländer besser für den Arbeitsmarkt qualifizie- die „Sichtweise des Rechtsreferats“ der Riester-Behörde. Die- ren soll, in jedem Fall teuer zu stehen. Ein Konkurrent der Bon- se hatte mehrfach vor einer Vergabe an das Bonner Unterneh- ner Firma hatte in der Angelegenheit bereits erfolgreich gegen men gewarnt. Das Prozessrisiko sei „höher einzuschätzen“ als das Arbeitsministerium geklagt. Es muss deshalb Prozesskosten bei anderen Lösungen, heißt es in einem internen Ministe- in Höhe von 120000 Euro tragen.

Flugsicherungszentrum MODEKONZERNE in Langen Poker um Joop dürfte auch in diesem Jahr erneut tiefrote Zahlen schrei- ür 76,7 Millionen Euro hat 1998 der De- ben. Arbeitnehmer und Ge- Fsigner Wolfgang Joop 95 Prozent seiner Fir- werkschaften sperren sich ma an den Hamburger Textilkonzern Wünsche gegen Zugeständnisse, und verkauft – für weniger als 35,8 Millionen Euro der Berliner Verkehrsminister (Verhandlungsbasis) könnte er sie nun zurück- Kurt Bodewig, der Gebühren- kaufen. Denn Wünsche ist insolvent, die Über- anhebungen genehmigen nahme durch die Hamburger MPC-Holding muss, strich den Fluglotsen droht zu scheitern, weil der Schweizer Gläubi-

C. BRAUN / DPA C. BRAUN die geforderten Aufschläge ger Richard Orthmann einem Forderungsver- teilweise um mehr als die zicht nicht zustimmen will. Joop selbst würde LUFTFAHRT Hälfte zusammen. Da die Flugsiche- gern wieder einsteigen, will sich die Firma aber rung keine Rücklagen bilden darf, „nicht allein auf die Schultern laden“. Er ist mit Fluglotsen in der Krise müssen die DFS-Manager jetzt Kre- Orthmann im Gespräch („ein hochkühler Fi- dite aufnehmen, um den Verlustvor- nanzmann“) sowie mit Peter Harf („ein Global ie Deutsche Flugsicherung trag vom vergangenen Jahr und Player“), dem Chef des Kosmetikkonzerns Coty D(DFS), die bereits im vergange- laufende Ausgaben zu finanzieren. („Jil Sander“, „Davidoff“). nen Jahr einen hohen zweistelligen Die Zinsen für das aufgenommene Über den Verkauf entschei- Millionenverlust einfuhr, steuert in Fremdkapital dürften die Kosten det die BHF-Bank, der Wün- die schwerste Krise seit ihrer Priva- noch weiter in die Höhe treiben. sche die Joop! GmbH ver- tisierung 1993. Weil die Einnahmen Branchenkenner fordern deshalb, pfändet hat. Die Bank kann der bundeseigenen Gesellschaft dass der Bund seine Anteile an der mit der Modemarke nichts durch die Flaute im Luftverkehr seit DFS langfristig an ein Konsortium anfangen – je länger das Ge- Monaten empfindlich zurückgehen, aus großen Fluglinien und Airport- zerre mit potenziellen Käu- wollte die DFS-Führung beim Perso- Betreibern abgibt. Sie könnten Fehl- fern dauert, desto billiger

nal sparen und ihre Gebühren kräf- beträge leichter mit Gewinnen aus / PEOPLEIMAGE CHR. STIEFLER wird die Firma. „Die Marke tig erhöhen. Doch das Unternehmen dem Stammgeschäft verrechnen. Joop geht kaputt“, fürchtet Joop.

68 der spiegel 2/2002 5400 Dax 5200 Geld 5000 4800 NEUER MARKT Aufschwung immer weiter in Richtung 4600 Jahresende oder gar Anfang 2003. Doch Schärfere Auswahl 4400 die meisten Analysten, Vermögens- verwalter und Fondsmanager sind sich ehr als doppelt so steil wie der 4200 darin einig, dass es an der Börse wei- Dax ging seit Ende September der Quelle: Thomson Financial Datastream M 1400 ter aufwärts gehen wird. „Die Stimmung Nemax in die Höhe, bei manchen Ak- Nemax 50 wird zusehends besser“, registriert tien, wie etwa dem Software-Anbieter 1300 der Münchner Vermögensverwalter und Broadvision, hat sich der Kurs in dieser 1200 Fondsberater Gottfried Heller. Klaus Zeit mehr als vervierfacht. Die Bereini- 1100 Kaldemorgen, Spitzenmanager der gung in diesem Börsensegment geht 1000 Deutsche-Bank-Fondsgesellschaft DWS, derweil weiter. Analysten wie Fonds- 900 hat – wie fast alle seiner Kollegen – Bar- manager setzen auf die verhältnismäßig 800 bestände stark abgebaut und ist jetzt großen und soliden Werte. Wenn über- „hoch investiert“. Einer der Gründe für haupt Hightech-Titel, so die überein- 700 2001 2002 Oktober November Dezember Jan. die Zuversicht ist die hohe Liquidität: In stimmende Meinung, dann Firmen wie diesem Monat werfen allein die deut- Aixtron oder Qiagen, die sich auf AKTIEN 2002 schen Staatsanleihen acht Milliarden Grund ihrer starken Marktstellung Euro Zinsen ab. Da bessere Zinsen in überdurchschnittlich gut erholen könn- diesem Jahr nicht zu erwarten sind, ten. Einige Medienwerte sind so tief ab- „Stimmung drängt immer mehr Geld an die Bör- gestürzt, dass ihr Kurs-Gewinn-Verhält- sen. Der Aufschwung, auch darin sind nis nunmehr im einstelligen Bereich sich die meisten einig, wird zwar zuerst liegt. Gleichwohl bleiben Medienaktien wird besser“ in den USA einsetzen, aber die höheren überdurchschnittlich riskant – ebenso Kurssteigerungen versprechen europäi- wie die Biotech-Werte, deren Gefahren elten waren Anleger so verunsichert sche Aktien – und im EU-Raum wie- sich allerdings besser durch einen Fonds Swie in diesen Wochen. Die Kurse derum, so glauben manche Großanleger abfedern lassen. Wie bei den Standard- steigen – und gleichzeitig verlagern wie Heller, bieten sich die interessante- werten sind deutsche New-Economy- Wirtschaftsexperten einen möglichen ren Chancen „eher in Deutschland“. Aktien günstiger bewertet als ameri- kanische.

EMERGING MARKETS 75 Royal Dutch Lichtblick im Osten 70 Aktienkurs in Euro erstärkt beobachten Fondsmanager 65 Vdie Entwicklung in den Schwellen- ländern. So ist der IFCI Composite, der 60 Gesamtindex der Börsen aller Schwel- lenländer, derzeit fast auf dem Stand 55 von 1990. Experten erwarten, dass die so genannten Emerging Markets in die- 50 sem Jahr um bis zu 35 Prozent zulegen; als aussichtsreich gelten Südostasien 45 und Osteuropa einschließlich Russland. Wegen der hohen Risiken und schwer 40 Quelle: zugänglichen Informationen über ein- Thomson Financial Datastream zelne Firmen empfiehlt sich einer der 35 1998 1999 2000 2001 zahlreichen Spezialfonds. GEORG FISCHER / BILDERBERG Ölförderung in den Vereinigten Arabischen Emiraten

350 STANDARDWERTE Versicherungen, Finanzdienstleister, Versorger, Pharma, Nahrungsmittel und 300 Ölaktien Mineralöl. Den Ölmulti Royal Dutch etwa hält der Münchner Vermögens- als Basisanlage verwalter Jens Ehrhardt für „ultra- 250 solide“, ein Papier für das „Kerninvest- ach dem Crash im vergangenen ment“. Zu den Hoffnungsträgern der 200 NJahr sind die Anleger vorsichtiger nächsten Zeit zählen für Fondsmanager geworden und folgen den Empfehlun- vor allem zyklische Titel aus den Berei- IFCI-Index gen von Börsianern wie Gottfried Hel- chen Auto, Medien und Freizeit sowie 150 ler, „kalkulierbare“ Aktien als Basis Technologie-Titel wie Infineon; auch der Schwellenländer der Geldanlage zu nehmen – Firmen, Telekom-Werte hätten jetzt „interessan- Quelle: Thomson Financial Datastream 100 die weniger konjunkturanfällig sind: die te Kurschancen“, weil der Konkurrenz- 1990 91 92 93 94 95 96 97 9899 00 01 02 Spitzenunternehmen aus den Branchen druck nachgelassen habe.

der spiegel 2/2002 69 RICHARD LEWIS / AP Euro-Feier (in Dublin am 31. Dezember 2001): 300 Millionen Menschen zahlen jetzt mit gemeinsamer Währung

WÄHRUNG Flucht aus der Mark Die größte Währungsumstellung aller Zeiten verlief weitgehend reibungslos – und mit einigen Überraschungen: Die Preise sanken, der Euro-Kurs stieg. Ob die neue Währung langfristig erfolgreich sein wird, hängt vom Willen und von der Disziplin der europäischen Politiker ab.

er Euro kam und mit ihm das er- schlimm war, denn viele Händler waren nicht schnell genug von ihrer alten Wäh- wartete Chaos. In den Bahnhöfen ebenfalls noch nicht auf die neue Währung rung trennen. Ddrängelten sich die Reisenden in eingestellt, sie hatten ihre Ration Euro Schon zu Silvester fanden um Mitter- endlosen Reihen, weil die Bahn offenbar nicht rechtzeitig erhalten. nacht vor den Geldautomaten kleine Par- die Software zur Währungsumstellung So weit die schlimmen Nachrichten aus tys statt. Am Neujahrstag gehörte der Gang falsch programmiert hatte. Euroland. Die gute Nachricht: Das Chaos zum Automaten zum Pflichtprogramm – Wer die neue Währung in den Händen blieb regional begrenzt – auf Italien, das auch von Bundeskanzler Gerhard Schrö- halten wollte, musste von einer Bankfilia- Land, das so begierig in den Euro-Club ge- der. Und am ersten Arbeitstag des neuen le zur nächsten tingeln, um dann immer drängt hatte und das viele Clubmitglieder Jahres drängten sich die Menschen in den wieder aufs Neue festzustellen, dass die am liebsten gar nicht reingelassen hätte. Filialen, um Mark gegen Euro zu tauschen, Automaten leer waren oder außer Betrieb Im Rest der Staaten dagegen verlief die als wären die alten Scheine am nächsten – oder dass sie noch die alten Scheine aus- Währungsumstellung so reibungslos, dass Tag schon nichts mehr wert. spuckten. sich selbst die beruflich zum Optimismus Wem das Anstehen vor dem Bank- Zwei, drei Stunden Wartezeit an Bank- verpflichteten Währungshüter der Euro- schalter zu mühsam war, der nutzte den und Postschaltern waren eher die Regel als päischen Zentralbank (EZB) positiv über- Handel als Wechselstube. Im Restaurant die Ausnahme. Die meisten Kunden mach- rascht zeigten. Fast schien es, als könnten „Wintergarten“ des Berliner Kaufhauses ten sogleich wieder kehrt und verzichteten sich insbesondere die Deutschen, die doch KaDeWe wollte ein Kunde seinen Kaffee auf das neue Geld. Was auch nicht weiter so sehr an ihrer Mark zu hängen schienen, für 2,10 Euro mit einem Tausendmark-

70 der spiegel 2/2002 Preise im Euroland Stichproben in europäischen Großstädten, in Euro Standardbrief Strom VW Golf** Normalbenzin Philip Morris Light* Big Mäc Kinokarte innerhalb der EU je Kilowattstunde je Liter Amsterdam 2,69 2,60 7,50 0,54 0,10 10736 1,02 Brüssel 2,43 2,95 6,60 0,52 0,15 11123 0,94 Hamburg 2,80 2,65 7,00 0,56 0,16 11899 0,93 Madrid 2,42 3,31 5,00 0,50 0,08 11361 0,81 Paris 3,37 2,95 8,10 0,46 0,08 11098 1,04 Rom 2,82 2,53 6,70 0,62 0,13 11643 1,06

Wien 3,04 2,50 6,50 0,50 0,14 11262 0,88 GREUEL/IMAGE J. C. AUGUSTIN, BANK *auf deutschen Packungsinhalt berechnet (19 Zigaretten) **Quelle: EU-Kommission, Preisempfehlung des Herstellers vor Steuern schein bezahlen. Restaurant-Chef Hans- neuen Jahres um fast zwei Prozent auf Euro-Eckpreise“ und lehnte sich damit eng Joachim Matzky lud ihn daraufhin ein. über 90 Cent. Einen derart großen Sprung an die Aldi-Vorgabe an. Rational war die Flucht aus der Mark hatte es seit Monaten nicht mehr gegeben. Etwas vorsichtiger operierten die Han- nicht – denn noch bis Ende Februar kann Und auch die Aktienbörsen profitierten delsketten Plus und Lidl. „Woche für Wo- mit dem alten Geld (fast) überall bezahlt von der guten Stimmung. che wird es billiger“, kündigte der zum werden. Es gebe „keinen Grund zur Eile“, 300 Millionen Menschen in der Euro- Tengelmann-Konzern gehörende Discoun- mahnte Bundesbankpräsident Ernst Wel- Zone können jetzt mit einer gemeinsamen ter Plus an, schon zum Start „purzeln die teke. Aber die Banker sind sich einig, dass Währung zahlen – zu der sie offenbar mehr Preise für 250 Artikel“, nicht ein einziger schon Ende der zweiten Januarwoche die Vertrauen haben, als alle Umfragen vor- Artikel werde teurer. „Euro = jetzt noch Mark im täglichen Leben kaum mehr eine her zum Ausdruck brachten. Und Vertrau- billiger“, verkündete Aldi-Konkurrent Lidl Rolle spielen wird. en ist nicht das schlechteste Fundament für und warb in doppelseitigen Anzeigen mit „Der Euro ist ein überwältigender Hit“, eine stabile Währung. zahlreichen Preissenkungen. stellte das „Wall Street Journal“ verwun- Bisher enttäuschte der Euro seine An- Schließlich zog auch die zur Lidl-Grup- dert fest. In Frankreich mussten die Ge- hänger nicht. Anders als vielfach erwartet pe gehörende SB-Warenhauskette Kauf- werkschaften sogar ihren angedrohten Ar- nutzte der Handel die Umstellung nicht zu land nach. Rund 1300 Produkte sind in beitskampf bei Banken und Sparkassen in heimlichen Preiserhöhungen. Im Gegen- den 350 Kaufland-Filialen billiger und zum letzter Minute absagen. Auch ihre Mitglie- teil: Viele Handelsketten kündigten offen- Teil mit echten Kampfpreisen positioniert der wollten offenbar in dieser historischen siv Preissenkungen an. worden. So kostet das Pfund Kaffee statt Stunde nicht als Spielverderber dastehen. Den ersten Paukenschlag setzte Dis- 4,60 Euro nur 3,99 Euro. Warum die Europäer ihre neue Währung counter Aldi. In doppelseitigen Zeitungs- Den PR-Effekt ihrer Preissenkungen so freudig begrüßten, wird nun die Psycho- anzeigen warb die Handelskette mit der dürften die Konzerne eingeplant haben, logen beschäftigen. Haben sie damit wirk- „größten Preisermäßigung aller Zeiten“. Kritiker argwöhnen zudem, die Lebens- lich gezeigt, dass sie zu Reformen bereit Nicht nur einzelne Artikel, sondern das mittelketten hätten im vergangenen Jahr seien, wie der spanische Finanzminister gesamte, rund 800 Positionen umfassende die Preise systematisch angehoben – um Rodrigo Rato mutmaßt? Oder war es eher Sortiment wurde um zwei bis drei Prozent sie zum Euro-Start medienwirksam sen- der Spaß am Neuen – die Euro-Einführung verbilligt. ken zu können. Tatsächlich sind Lebens- als europäisches Happening? Alle ungeraden Euro-Preise, versprach mittel im vorigen Jahr teurer gewor- Die Devisenmärkte jedenfalls werteten das Unternehmen, würden auf den nächst- den – aus unterschiedlichen Gründen. die allgemeine Euro-Euphorie als positives liegenden Schwellenpreis, der meist mit ei- Eine Täuschung der Kunden konnten Ver- Signal für die Zukunft der gemeinsamen ner Neun endet, gesenkt. So sind für den braucherschützer bisher aber nicht nach- Währung: Der Wechselkurs im Verhältnis Liter Milch, der – korrekt umgerechnet – weisen. zum Dollar stieg am ersten Handelstag des eigentlich 61 Cent kosten müsste, nur 59 Den größten Wirbel und die dicksten Cent fällig, die Flasche Wod- Schlagzeilen verursachte der Bekleidungs- ka für umgerechnet 5,10 Euro händler C&A mit einer besonders cleveren berechnet Aldi mit 4,99 Euro Aktion. Um die Kassen in den ersten Ta- und das Pfund Margarine mit gen der Euro-Umstellung zu entlasten, 49 statt 51 Cent. gewährte C&A 20 Prozent Rabatt auf je- „Das ist das Einläuten ei- den Artikel, wenn die Kunden mit Kredit- ner neuen Preisrunde“, ur- und EC-Karte bezahlten. teilte Gerd Härig vom Bun- Die Kunden waren zufrieden, die Kon- desverband des Deutschen kurrenz schäumte – und es kam, wie es im Lebensmittelhandels. Und in überregulierten Deutschland kommen der Tat reagierte die Dis- musste: Ein Gericht stoppte die verbrau- countkette Norma mit „Preis- cherfreundliche Aktion per einstweiliger senkungen auf die neuen Verfügung. Zwar hat die rot-grüne Regierung vor * Mit Dresdner-Bank-Chef Bernd kurzem das Rabattverbot abgesetzt, aber Fahrholz, Bundesbank-Präsident Ernst nur für individuelle Preisnachlässe. Preis- Welteke und US-Botschafter Dan Coats

ROBERTO PFEIL / AP ROBERTO am 1. Januar kurz nach Mitternacht in senkungen für bestimmte Gruppen und für Euro-Eintauscher Hans Eichel (r.)*: Kein Grund zur Eile Berlin. eine begrenzte Dauer gelten als Sonder-

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von 15 bis 30 Prozent. Aber mittelfristig heißt: eher in den nächsten drei, vier Jahren als in den kommenden zwölf Monaten. Und auch nur dann, wenn die Konjunktur in Euroland wieder richtig in Schwung kommt. Bisher allerdings spricht alles eher für eine Erholung der Ökonomie in den Vereinigten Staaten – und damit für einen starken Dollar. Die eigentliche Bewährungsprobe für die gemeinsame europäische Währung steht jedenfalls noch aus. Ob die neue Währung langfristig wirklich ein Erfolg wird, hängt vom Willen und der Disziplin der europäi- schen Politiker ab: Sie müssen • ihre Haushalte sanieren, damit das Ver- trauen in den Euro nicht schwindet; • verkrustete Strukturen aufsprengen, da- mit Europas Wirtschaft eigene Kräfte entfaltet und weniger am Wohl der US- Ökonomie hängt; • dafür sorgen, dass die Volkswirtschaften

FRANZ PETER TSCHAUNER / DPA FRANZ der Euro-Zone nicht zu weit auseinan- C&A-Filiale (in Düsseldorf): Die Konkurrenz schäumte der driften, weil das ökonomische Ge- fälle nicht durch Wechselkurs-Änderun- veranstaltungen, und die sind in Deutsch- rung. Gute Aussichten für den Euro also? gen ausgeglichen werden kann; land – warum auch immer – verboten. Norbert Walter, der Chefökonom der • deshalb verhindern, dass nach der ge- Der Düsseldorfer Bekleidungshändler Deutschen Bank, sieht es gelassen. Er planten Ost-Erweiterung der Europäi- kümmerte sich allerdings nicht um den konnte den Hype um die Verteilung von schen Union zu früh neue Mitglieder in Richterspruch, weitete die Aktion sogar 15 Milliarden Euro-Scheinen und 52 Mil- den Euro-Club drängen. auf alle Kunden aus – und erhielt prompt liarden Münzen nicht verstehen: „Das Trotz aller Risiken: Auch die meisten eine weitere einstweilige Verfügung. Ganze ist genauso langweilig wie die Ein- Kritiker haben sich mit der neuen Wäh- Trotz zahlreicher verlockender Angebo- führung der neuen Postleitzahlen.“ rung abgefunden. Bisher jedenfalls lief es te in allen Handelsbereichen blieb der Schließlich gibt es den Euro, wenn auch besser als vielfach erwartet: Die Preise große Ansturm der Kunden allerdings aus. nur als virtuelle Währung, schon seit drei stiegen moderat, die Wirtschaft profitier- Aber auch von verunsicherten Verbrau- Jahren. Die Einheitswährung hatte sich be- te, weil die Euro-Länder von spekulativen chern, die sich angesichts der neuen reits als Recheneinheit für Aktienkurse, Attacken auf ihre Währung verschont Währung beim Konsum zurückhalten, war Firmenverträge und Bankgeschäfte be- blieben. Und jetzt klappte auch noch die nichts zu spüren – das Geschäft lief in den währt. Warum also die Aufregung? Umstellung auf das neue Geld so gut. ersten Euro-Tagen ganz normal. „Fundamental“, so Walter, habe sich Dass die Währungsunion jetzt noch Langfristig, da sind sich alle Experten doch überhaupt nichts verändert. Der Euro scheitern kann, glauben nur noch ganz we- einig, wird der Verbraucher vom Euro pro- sei keineswegs wertvoller geworden, nur nige. „Der Euro wird uns in die Katastro- fitieren, die neue Währung wird für nied- weil er nun greifbar und fassbar sei. phe führen“, verkündete der notorische rigere Preise sorgen. Denn das einheitliche Letztlich war es ein psychologischer Ef- Euro-Gegner Bolko Hoffmann, Heraus- Geld erleichtert Vergleiche über die Lan- fekt, der den Euro-Kurs dennoch nach geber eines Aktionärsbriefs, am Silvester- desgrenzen hinweg. Vor allem bei Autos oben trieb. Die Devisenhändler erwarteten tag in ganzseitigen Anzeigen. oder Markenkleidung können die Kunden eine zumindest kleine Aufwertung, und Nur Italien, das so sehr in den Euro- jetzt leichter erkennen, ob sie im Ausland deshalb kauften sie Euro. So trieben sie Club drängte, macht eine Ausnahme. Dort ein Schnäppchen machen. sich gegenseitig nach oben. stellen die Euro-Skeptiker So kostet ein Notebook des Typs IBM Schon am zweiten und Euro-Besitzer Schröder sogar die Regierung. Ver- Thinkpad R 30 in Irland 2300 Euro, wäh- auch am dritten Handels- Pflichtgang zum Automaten teidigungsminister Anto- rend es in Deutschland schon für 1500 Euro tag des neuen Jahres nio Martino, ein Ökonom, erhältlich ist. Eine Levi’s-Jeans aber, die bröckelte der Euro-Kurs ist fest davon überzeugt, hier zu Lande 68 Euro kostet, ist in Finn- allerdings wieder ab und dass die Geschichte des land schon für 47 Euro zu haben. rutschte unter die 90-Cent- Euro mit einem Fiasko Noch größer sind die Unterschiede na- Schwelle. endet. turgemäß beim Autokauf. So ist der VW- Erst rauf, dann runter – Für Lega-Nord-Chef Um- Golf, der in Deutschland mit einer Preis- etwas Ähnliches hatten die berto Bossi ist der Run empfehlung von 11 899 Euro angeboten Märkte auch schon vor auf Bankschalter und Geld- wird, in den Niederlanden gut tausend drei Jahren erlebt. Nach automaten bloß „eine Er- Euro billiger. dem ersten Kurssprung findung der Medien“. Und Solche Differenzen werden sich auf Dau- 1999 verlor der Euro an der italienische Regierungs- er nicht halten lassen. Schon hat der Au- Wert, zeitweise bis 36 Pro- chef Silvio Berlusconi sagt tokonzern BMW angekündigt, seine 7er- zent. überhaupt nichts zum Modelle künftig europaweit zum gleichen Mittelfristig sehen Fach- neuen Geld. Nettopreis anzubieten. Porsche hat seine leute wie Silke Tober Klaus-Peter Kerbusk, Preise bereits harmonisiert. vom Deutschen Institut für Armin Mahler, Ulrich Schäfer, Konstante oder sinkende Preise aber Wirtschaftsforschung zwar Hans-Jürgen Schlamp sind die Voraussetzung einer stabilen Wäh- ein Aufwertungspotenzial OSSENBRINK FRANK

72 der spiegel 2/2002 „eher skeptisch“ gegenüber, HANDWERK sagt Verbandschef Joachim Goerdt, „solche groß ange- Finanzielle legten Portale tun sich der- zeit generell schwer“. Die Bedenken bringen Grenzerfahrung Schleyers Truppe in Be- drängnis. Denn die Liqui- Riskante Internet-Strategie beim ditätsplanung für Hand- werk.de sieht neben Kre- Zentralverband des Deutschen diten von handwerksnahen Handwerks: Ein Prestige-Portal Versicherungen und Banken macht Millionenverluste in Höhe von 7,5 Millionen und frisst die Reserven auf. Euro auch ein Eigenkapital von 5 Millionen vor. rivat setzt Hanns-Eberhard Schleyer Laut Plan wird dies in in Sachen E-Commerce gern auf drei Tranchen bis Ende 2002 PGefühle. Auf seiner Homepage Na- eingezahlt. Knapp die Hälf- mibiatours.de vermarktet er die Luxus- te der Aktien sollen Unter- appartements seiner Jagdfarm Etendero im nehmen wie die Deutsche

Nordwesten Namibias, wo die Gäste „die / DDP (O.);FEDERICO GAMBARINI UNKEL RAINER (U.) Telekom und Signal Iduna Seele baumeln“ ließen. Hauptberuflich Handwerker*: Pleiten, Pech und Pannen zeichnen, den Rest die 55 geht es bei Schleyer derzeit weniger ent- Handwerkskammern und 46 spannt zu. Zentralfachverbände – Letz- Als Generalsekretär des Zentralver- tere allerdings verweigern bands des Deutschen Handwerks (ZDH) bisher überwiegend die Ge- geraten Schleyer und seine Führungs- folgschaft. mannschaft wegen eines millionenschwe- Ende Oktober hatten nur ren Internet-Projekts unter Druck. Die An- 34 Prozent der Verbände die fang vergangenen Jahres gegründete Hand- erste Tranche gezeichnet, werk.de AG will in Deutschland das das zweite Aktienpaket woll- führende Portal für die fast 860000 Hand- ten gar nur 4 Prozent. Über- werksbetriebe aufbauen. stürzt luden Schleyer und Die größte deutsche Betriebsdatenbank, ZDH-Präsident Dieter Phi- elektronische Vermittlung von Aufträgen lipp für den 7. November und Werbung sollen den Erfolg bringen. zur Krisenrunde ins Berliner „Eines der anspruchsvollsten Internet-Pro- Verbands-Portal: Seid verschlungen, Millionen! Hauptquartier. jekte überhaupt“, betont Spitzenfunk- Die Standpauke hatte nur tionär und Aufsichtsratschef Schleyer, von Hammerstein, beim mäßigen Erfolg. Derzeit liegt Sohn des 1977 ermordeten Industriellen ZDH für das Projekt ver- die Quote irgendwo bei 30 Hanns Martin Schleyer, immer wieder. antwortlich. Man wolle Prozent. Banken und Ver- Doch bisher verschlingt die virtuelle Ent- die Zahlen nicht nur er- sicherungen springen bis wicklungshilfe für Dachdecker & Co. vor reichen, sondern sogar Ende 2002 als Treuhänder in allem Unsummen. In der Buchhaltung des überschreiten. Die Vorfi- die Lücke. ZDH herrscht der Ausnahmezustand. Über nanzierung werde von Das katastrophale Zeich- zwölf Millionen Euro, deutlich mehr als Handwerk.de inklusive nungsergebnis ist nicht die ursprünglich gedacht, hat man seit 1999 Zinsen zurückgezahlt. Lobbyisten Schleyer, Philipp erste Panne bei Handwerk.de. als Vorfinanzierung in das groß angelegte Doch unter den loka- Krisenrunde in Berlin Eine geplante Werbeaktion Prestigeprojekt gepumpt. Sämtliche nicht len Funktionären von endete als Rohrkrepierer, zweckgebundenen Bilanzreserven wurden Handwerkskammern und Fachverbänden, weil das Partnerunternehmen Callino In- aufgebraucht. Der Rest wurde mit Lea- die als ZDH-Mitglieder bislang alle Pro- solvenz anmelden musste. 850 000 CD- singverträgen finanziert. Seid verschlun- jektphasen abgesegnet haben, macht sich Roms und Broschüren sowie ein Vorstand gen, Millionen! nun die Angst vor einer virtuellen Investi- von Handwerk.de wurden daraufhin nicht Gewinne liegen in weiter Ferne. Im tionsruine breit – Schreckgespenst New mehr gebraucht. abgelaufenen Jahr resultierte bei Hand- Economy. Bereits im Frühjahr 2000 hatte ein ver- werk.de ein operativer Verlust von 4,4 Mil- Thomas Fleischmann, Geschäftsführer nichtendes Gutachten über die Projekt- lionen Euro, 2002 wird man laut Business- vom Bundesverband Metall, hat Sorgen, planung von Handwerk.de für Unruhe plan sogar ein Minus von über 7 Millionen „dass der ehrgeizige Businessplan von gesorgt. Darin wurden unter anderem die Euro produzieren. Damit es nicht noch Handwerk.de nicht erreicht wird“. Die exorbitanten Honorarsätze der externen mehr wird, müssen die Umsätze im lau- wirtschaftliche Lage sei längst nicht mehr Beratungsgesellschaft bemängelt. Zwar fenden Jahr wie geplant um märchenhafte so rosig wie zu Beginn. Er plädiert des- wurde daraufhin der zuständige Projekt- „222 Prozent“ steigen. halb für eine „Reduzierung auf den leiter geschasst, und die Honorarsätze wur- Allein die Einnahmen aus der Banner- Kernbereich“. Nicht nur dort grummelt den gesenkt, doch mit der Beratungsfirma werbung sollen sich 2002 auf über zwei Mil- die Basis. arbeitete der ZDH weiter zusammen. lionen Euro mehr als verfünffachen. Und In den Reihen der Augenoptiker steht Trotz Pleiten, Pech und Pannen glaubt selbst wenn sich solche Annahmen bestäti- man Schleyers Lieblingskind ebenfalls ZDH-Mann Hammerstein weiterhin an den gen, soll es erst im Jahr 2005 Profite geben. Durchbruch von Handwerk.de. Einzig die „Sehr konservativ und vorsichtig“ sei * Beim Aufbau der Telemesse im August 2001 in traditionelle Internet-Scheu der Handwerker das Ganze gerechnet, beruhigt Christoph Düsseldorf. berge ein „gewisses Risiko“. Beat Balzli

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite TOM WAGNER / CORBIS SABA WAGNER TOM Werbung für Kreditfirmen in Tokio: Lockruf des schnellen Geldes an fast jeder Straßenecke

SCHULDEN Die Bankrott-Maschinen In Japan boomt das Geschäft dubioser Kreditunternehmen wie nirgendwo sonst auf der Welt. Mittlerweile leben Millionen auf Pump – und viele schlittern direkt in die private Pleite.

as Ritual ähnelt einer Therapie für sittenwidrig gelten würde: der Verbrau- ben der japanischen Firmenhierarchie – Alkoholsüchtige. Wer gerettet wer- cherkredit-Firmen. In Japan aber profitie- noch vor Autokonzern Honda, der über Dden will, muss erst mal ein Ge- ren sie kräftig von der Krise. 100000 Beschäftigte hat. ständnis ablegen: Verschämt beugen sich Takefuji, Acom, Promise oder Aiful – Das Erfolgsrezept der Kreditfirmen ist elf Japaner über Formulare. Sie sollen diese Namen klingen für westliche Ohren überraschend einfach: Sie leihen klam- auflisten, wie hoch sie sich bei welchen wie fremde Mayonnaise-Marken. Doch für men Verbrauchern Bares und kassieren Kredithaien verschuldet haben. Verzweif- immer mehr Aktienfondsmanager sind dafür horrende Zinsen von bis zu 29,2 Pro- lung lässt sich addieren: Fast alle hier sind Nippons vier größte Verbraucherkredit- zent. Ein höchst profitables Geschäft, denn pleite. Gesellschaften die Juwelen ihrer meist lä- am Geldmarkt borgen sich die Firmen das Die Schuldner-Selbsthilfegruppe trifft dierten Asien-Depots. Inzwischen sind Kapital zu Billigzinsen von 2 bis 2,5 Pro- sich in einem tristen Büro über einem Nu- westliche Anleger mit bis zu 30 Prozent zent – dank der historischen Niedrig- delrestaurant in der japanischen Industrie- am Aktienkapital großer japanischer Kre- zinsen, mit denen Japans Notenbank seit stadt Kawasaki. „Wer den Weg zu uns fin- ditfirmen beteiligt. Jahren versucht, die Wirtschaftskrise zu det, ist der Gefahr des Selbstmords fast Finanzkrise in Japan? Nicht für die bekämpfen. schon entronnen“, sagt Manabu Nishibaba, großen Vier. Da mögen marode Banken Nur: Warum gehen Japans Verbraucher 37. Jeden Dienstagabend begrüßt er neue immer höhere Berge an faulen Krediten nicht selbst direkt zu Banken und leihen Opfer der Wirtschaftskrise. Dann gibt Ni- anhäufen und selbst vornehme Hightech- dort Geld zu günstigeren Konditionen? shibaba juristische Tipps, wie man der so Firmen wegen der Konsumflaute Tausende Erstens: Die Institute sind voll damit genannten Kredithölle entkommt. Der Ex- Jobs abbauen – die Kreditfirmen schreiben beschäftigt, ihre eigenen faulen Kredite Chef einer kleinen Baufirma hatte sich einen Rekordgewinn nach dem anderen. abzubauen. Und zweitens: Selbst in wirt- einst selbst hoch verschuldet. Allein Branchenprimus Takefuji (Markt- schaftlich gesunden Zeiten verschmähten Die trostlosen Bilanzen, welche die Rat- anteil: 15 Prozent) erhöhte seinen Gewinn japanische Banken oft das Geschäft mit suchenden kleinlaut vortragen, sind die im vergangenen Geschäftsjahr, das am 31. Verbraucherkrediten, weil sie sich vor al- Kehrseite einer bizarren japanischen Er- März endete, um 12 Prozent auf rund 1,1 lem als Geldbeschaffer für die expandie- folgsgeschichte. Auf den Formularen fin- Milliarden Euro. Mit ihrem versteuerten rende Industrie sahen. den sich Namen einer Branche, deren Einkommen rangiert die Firma, die knapp Also wenden sich viele Japaner an Fir- Geschäftsgebaren in Deutschland meist als 3500 Mitarbeiter beschäftigt, auf Platz sie- men wie Takefuji. Fast an jeder Straßen-

76 der spiegel 2/2002 Wirtschaft ecke locken die Branchenriesen mit schnel- Doch hinter der harmlos klingenden Statt vor Gericht zu ziehen, verstecken lem Geld. Ihre grelle Neonwerbung in Zahl verbirgt sich wachsendes soziales sich Verlierer wie Kikuchi mit ihrer Gelb, Rot und Blau leuchtet über ganz Elend: Wurde das schnelle Geld in den Jah- Schmach meist vor der japanischen Grup- Japan. Die Werbung ist nötig, denn in ren des Wirtschaftswunders meist an jun- pengesellschaft. Damit seine Familie nicht Nippons traditioneller Schamkultur gelten ge Angestellte vergeben, die damit bis zum ebenfalls sozial geächtet wird, ließ der die „Sarakin“, wie die „Angestelltenkredit- nächsten Gehaltstag Luxuseinkäufe finan- Mann sich scheiden. Typen wie er fallen Firmen“ abfällig genannt werden, als an- zierten, so häufen mittlerweile immer mehr im Straßenbild kaum auf, denn trotz der rüchig. Japaner Schulden an, um ihren Lebensun- über zehnjährigen Dauerkrise glitzern Viele weigern sich, Reklamezettel der terhalt zu bestreiten. Und um Kredite Japans Städte nur so vor Luxus: Junge dubiosen Kreditfirmen überhaupt anzu- zurückzuzahlen, verschulden sich viele bei Japanerinnen kleiden sich so elegant, als fassen. Daher verfielen die Firmen auf illegalen Kredithaien, die noch höhere kämen sie direkt aus den Schaufenstern einen genialen Trick: Sie steckten ihre Zinsen fordern – bis zu 1000 Prozent. von Louis Vuitton oder Gucci; allenthal- Werbung in Papiertaschentuch-Packungen, die sie überall gratis verteilen. Um potenziellen Kunden den peinlichen Gang zum Kreditschalter zu erleichtern, stellten die Firmen in ganz Japan Tausen- de Automaten auf. Dort werden auch Neu- kredite in etwa einer halben Stunde ver- geben. Mit Hilfe der „Bankrott-Maschi- nen“ (Volksspott) schnellte die Zahl der Neukunden drastisch hoch – allein bei Pro- mise auf 470000 neue Kunden pro Jahr. Die „Bankrott-Maschinen“ machen das Verschulden kinderleicht, rund um die Uhr. Kredite bis zu 2000 Euro werden in etwa einer halben Stunde vergeben – ohne Sicherheiten oder Bürgschaften. Stets ha- ben die Kunden dabei die Illusion der Anonymität. Aber natürlich wissen sie, dass die Auto- maten per Standleitung mit riesigen Call- centern verbunden sind: Wie in Hühner- farmen sitzen dort unzählige Frauen an Computern und beobachten über Video- kameras die Kunden am Automaten. Per

Mausklick holen sie Antragsteller in Groß- / VISUM SABA aufnahme auf ihre Bildschirme und prü- Luxus-Kaufhaus in Tokio: Jammern ist tabu fen, ob sie etwa zögern, wenn sie per Tastendruck Auskunft über ihre Finanz- So trudelte auch der Japaner Kikuchi – ben piepen Handys – die neuesten, teu- lage geben. Mit ausgefeilten Computer- seinen Vornamen will er aus Scham nicht ersten. programmen erstellen die Firmen blitz- nennen – in die Schuldenspirale. Erst ver- Japan kränkelt auf hohem Niveau: Mit schnell Profile über die Kreditwürdigkeit schuldete sich der Handwerker aus Tokio rund elf Billionen Euro hortet die Nation ihrer Kunden. Die Analysen sind erstaun- bei seriösen Kreditfirmen, dann aber fiel er über ein Drittel der privaten Ersparnisse lich präzise: Nur etwa drei Prozent ihrer auf die Werbung von Schwarzmarkt- der Welt. Nur gut sieben Prozent ihrer Er- Ausleihungen müssen die großen Vier ab- wucherern herein, die hoch Verschuldete sparnisse haben die Japaner in Aktien schreiben. gezielt anschreiben. angelegt – die Dauerbaisse an der Börse schmerzt sie daher nur indirekt. Dass die Arbeitslosigkeit auf Rekord- Japans Kreditriesen...127,6 ...und die Opfer höhe von über fünf Prozent stieg, dass 139,3 140 viele Japaner ihre Eigenheime nicht ab- Takefuji 120 bezahlen können und die Immobilienprei- 120 se seit dem großen Knall der japanischen Gewinn der „Seifenblasen“-Konjunktur Anfang der 100 erfolgreichsten 100 neunziger Jahre bis zu zwei Drittel an Wert Kreditinstitute verloren haben – all das stimmt. Doch Jam- in Milliarden Yen 81,4 mern ist in Japan tabu. Eher begehen vie- Acom Offizielle Fälle von 80 privater Zahlungs- 80 le Verzweifelte Selbstmord. 63,5 unfähigkeit Zum stadtbekannten Symbol dieser Ein- vor Gericht, 60 stellung wurde „Herr Halleluja“ in Tokio. 60 56,4 Promise in Tausend Um seine hohen Schulden abzuzahlen, ließ 48,5 sich der bankrotte Unternehmer monate- Aiful 40 lang im Rotlichtviertel „Kabukicho“ von 36,9 40 Passanten gegen eine Gebühr (acht Euro je 34,6 11,2 aktueller Kurs: 20 zwei Minuten) verprügeln. Tausende Japa- 100 Yen = 0,84 ¤ ner schlugen begeistert auf ihn ein – eini- 22,8 20 Geschäftsjahr endet jeweils am 31. März 0 ge ohne zu bezahlen. 1997 1998 1999 2000 2001 1990 92 94 96 98 2000 Wer sich bei den illegalen Kredithaien verschuldet, dem bleibt am Ende oft nur

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UNTERNEHMER Operation Hadsch Vom seekranken Fischkutter-Funker zum Airline-Chef: Ein Isländer fliegt Briten in die Karibik – und demnächst wieder Hunderttausende Pilger zu den heiligen Stätten des Islam.

rngrimur Johannsson hat alles erreicht, was er jemals erreichen Awollte. Er darf praktisch alle Ma- schinen fliegen, die in die Luft gehen können, von der propellergetriebenen ein- motorigen Cessna bis zur Boeing 747 mit 360 Tonnen Startgewicht. Stolz zeigt er ein Dutzend gültige Lizenzen, die er in seiner Brieftasche mit sich trägt. „Die ein- zige, die ich nicht habe, ist die für eine Concorde.“ Das wurmt ihn ein wenig, weil er gern

TOM WAGNER / CORBIS SABA WAGNER TOM auch mal schneller als der Schall fliegen Kreditnehmer Kikuchi möchte. Andererseits könnte er mit einer Verlierer verstecken sich Concorde in seiner Fluggesellschaft Air At- lanta Icelandic nichts anfangen. „Zu klein, „Yonige“, die Flucht bei Nacht und Nebel. zu teuer, zu unwirtschaftlich.“ Im Internet bieten mittlerweile zahlreiche Johannssons eigene Flotte zählt 15 Jum- Fluchthelfer ihre Dienste für Bankrotteure bos, drei Boeing 767 und eine Lockheed an. Schätzungsweise über hunderttausend Tristar. Er beschäftigt rund 1200 Mitarbeiter Schuldner sind in Japan auf der Flucht, in Europa, Afrika und Asi- viele davon leben als Obdachlose oder Ta- en, darunter 230 Piloten, gelöhner, sagt Rechtsanwalt Kenji Utsuno- Co-Piloten und Ingenieu- miya in Tokio. re. Im vergangenen Jahr Der streitlustige Jurist ist bei Kredithai- setzte er etwa 140 Millio- en verhasst: Seit Jahren kämpft er gegen nen Dollar um und er- Jumbo der Air Atlanta: „Sauber die „Schuldenhölle“. Ohne die Proteste wirtschaftete einen „or- von Anwälten wie Utsunomiya wäre Ja- dentlichen“ Gewinn, den es sauber und funktio- pans gesetzliche Obergrenze für Kre- er deswegen nicht offen nal“, sagt er. Überall auf ditzinsen kaum von einst 109,5 Prozent legen muss, weil Air At- dem Gelände gilt absolu- auf mittlerweile 29,2 Prozent gesenkt lanta keine Aktiengesell- tes Rauchverbot. worden. schaft ist. Vor 15 Jahren hat es Die jüngste Senkung im Jahr 2000 hält Dieses Jahr freilich angefangen. Da war Jo-

sich Utsunomiya zugute. Mit Hilfe eines wird der Umsatz fallen, LUND CHRISTOPHER hannsson schon 46 Jahre mitgeschnittenen Telefonats wies der und ob es einen Gewinn Unternehmer Johannsson alt und hatte beschlossen, Anwalt nach, dass ein Schuldeneintrei- geben wird, ist ziemlich Eine Frage des Überlebens sich selbständig zu ma- ber der Kreditfirma Nichiei einen Bürgen ungewiss. Die Nachbeben chen. 1940 in Akureri, an kaltblütig drängte, ein Auge oder eine des 11. September sind auch in Island zu der Nordküste Islands als Sohn eines Niere zu verkaufen, um seine Schulden spüren. Einige Partner-Carrier wie Air Zimmermanns geboren, besuchte er die zurückzuzahlen. France, Royal Air Maroc und Virgin At- Grundschule und wurde anschließend Fun- Anwalt Utsunomiya ermutigt verschul- lantic haben ihre Leasing-Verträge mit Air ker. Sein erster Job auf einem Fischkutter dete Landsleute vor allem, sich für zah- Atlanta vorzeitig aufgelöst oder den Um- dauerte nur ein Jahr. „Ich war jeden Tag lungsunfähig erklären zu lassen. Allein im fang reduziert. „Wir müssen sparen, es seekrank.“ Jahr 2000 leisteten 140 000 Japaner den wird keine Neueinstellungen geben“, sagt Danach arbeitete er für die isländische Offenbarungseid – immerhin 13 Prozent Prinzipal Johannsson. Civic Aviation Administration, ließ sich in mehr als im Jahr davor. Ihm und seiner Frau Thora Gudmunds- Norwegen zum Navigator ausbilden und Die Kreditfirmen bemühen sich nun dottir gehören 78 Prozent der Anteile, die saß bei Inlandsflügen als dritter Mann im verstärkt, ihr Wucherimage loszuwerden. restlichen 22 Prozent hält die „Bauern- Cockpit. 1969 suchten die Vereinten Na- Takefuji-Boss Yasuo Takei, bei dem ein bank“ in Island. Und das Hauptquartier tionen für ihre „Aid by Air“-Aktion Pilo- Unbekannter schon mal eine Filiale in von Air Atlanta liegt, entsprechend dem ten und Navigatoren. Johannsson meldete Brand steckte, fand einen ganz besonderen unternehmerischen Credo von Johannsson sich sofort und flog von der Atlantikinsel Weg, sein Image etwas aufzupolieren. Der („Low profile is good for business“), in São Tomé 157 Einsätze nach Biafra. Das einstige Gemüsehändler spendete großzü- Mosfellsbaer, einer kleinen Gemeinde 20 Logbuch der alten DC-6 verwahrt er in gig für die Vatikan-Universität in Rom – Autominuten nördlich von Reykjavik. seinem Büro wie eine Reliquie. Anschlie- und erhielt dafür vom Papst den höchs- Dort hat er die unscheinbaren Baracken ßend wäre er gern für die Air America ten römisch-katholischen Orden. der ehemaligen Wollfabrik „Alafoss“ in ei- nach Vietnam geflogen, aber da war der Wieland Wagner ne Hightech-Zentrale umgebaut. „Ich mag Krieg schon fast vorbei.

78 der spiegel 2/2002 Statt nach Asien ging Johannsson nach Und zwar an andere Airlines, die zu- ter eingesetzt werden, sie sind auch teu- Luxemburg, machte seinen Pilotenschein sätzliche Kapazitäten brauchen oder sich er, weil jeder Pilger praktisch vier Flüge und das Kapitänspatent. Von Heimweh keine eigenen Geräte leisten können. Wie bezahlt. Am Anfang der dreimonatigen getrieben, kehrte er 1974 nach Island die Fluggesellschaften von Laos, Kam- Hadsch-Saison fliegen die Maschinen voll zurück und flog für Fluggesellschaften mit bodscha und Vietnam, die in ihrer Start- besetzt nach Dschidda und leer wieder so schönen Namen wie Air Viking und phase Maschinen und Besatzungen bei Air zurück, um weitere Pilger aufzunehmen, Eagle Air. Atlanta orderten. Oder Kiwi Air, die zwi- am Ende der Hadsch-Zeit ist es umgekehrt: Der nächste Schritt war unvermeidlich. schen Australien und Neuseeland im Li- leer hin und voll zurück. Anfang 1986 stellte er den Antrag auf Er- niendienst flog. Für diesen Service werden die Atlanta- teilung einer Lizenz für den Betrieb einer Auf diese Weise kommen kleine Carrier Angestellten gründlich geschult. Vorträge Charter-Gesellschaft. „Wir waren gerade mit wenig Eigenkapital in die Luft, während über den Islam, seine Geschichte und große Gesellschaften wie Gegenwart sollen Verständnis für eine Virgin, Iberia und British fremde Kultur schaffen, praktische Rat- Airways ihr Platzangebot schläge helfen, Konflikte zu vermeiden: je nach Nachfrage schnell „Fotografieren Sie keine Frauen, Mo- erweitern können. Wenn scheen, königliche Residenzen, Flughäfen der Kunde es will, werden oder militärische Einrichtungen ohne eine die Maschinen in seinen Erlaubnis“, heißt es in einem eigens er- Farben lackiert. „Das al- stellten Atlanta-Hadsch-Handbuch. les ist im Preis inbegrif- Die Stewardessen, die auf den Flügen fen“, sagt Johannsson. nach Dschidda eingesetzt werden, tra- Seine Mitarbeiter kom- gen züchtige Uniformen, die speziell für men aus 40 Nationen und diese Einsätze entworfen wurden. Lange sprechen zwei Dutzend Beinkleider, lange Ärmel und Kittel- Sprachen. Umgangsspra- schürzen von den Schultern bis zum che ist natürlich Englisch, Knie decken alle Reizzonen zu, ein weißes in der Zentrale in Mos- Tuch verhüllt Kopf und Hals, nur die Ge- fellsbaer ebenso wie in sichtspartie zwischen Augen und Kinn darf den derzeit neun „Statio- frei liegen. nen“: vier liegen in Eng- Natürlich entspricht auch das Essen an land, je eine in Dublin, Bord den Vorschriften des Korans: Alkohol Paris, Madrid, Algier und und Schweinefleisch werden nicht serviert. – Dschidda. Auf der Air- „Die Pilger sind unsere besten Kunden“, Atlanta-Streckenkarte ist sagt Arngrimur Johannsson, „sie sind dis- die saudi-arabische Stadt zipliniert und haben sich auf die Reise gut einer der großen Knoten- vorbereitet.“

BALDUR SVELNSSON BALDUR punkte. Vor allem aber: Auf die Pilger ist Ver- und funktional“ Denn ausgerechnet der lass. Johannssons nächste Hadsch-Saison Isländer Johannsson hat fängt Mitte des Monats an, dann werden in den Ferien, als wir den Anruf bekamen, Ende der achtziger Jahre eine profitable 15 Atlanta-Maschinen eingesetzt, um un- dass der Antrag genehmigt wird. Es fehlte Marktlücke entdeckt. Er fliegt während der gefähr 300 000 Pilger zu den heiligen nur noch der Name der Firma.“ Johanns- Hadsch-Zeit muslimische Pilger zu den hei- Stätten und zurück zu fliegen, mehr als son schaute sich um. Das Hotel, in dem er ligen Stätten des Islam. je zuvor. residierte, hieß „Atlanta“. „Ein schöner Im letzten Jahr waren es etwa 200000 Für Air Atlanta ist es keine religiöse Name“, fand er, „der würde auch zu einer Menschen aus Indonesien, Malaysia, Pa- Übung, sondern eine Frage des Überle- Fluglinie passen.“ kistan, Nordafrika, der Türkei und dem bens. Ende des Jahres 2001 waren als Am Anfang gab es nur eine Boeing 707, Sudan. Das sind rund zehn Prozent der Folge der Flaute nur noch fünf Maschinen die britische Urlauber von London nach zwei Millionen Passagiere, die Atlanta regelmäßig in Betrieb. Barbados beförderte. Johannsson saß im jährlich befördert, aber sie tragen mit Wie das Geschäft auch läuft, Johannsson Cockpit, seine Ehefrau kommandierte das über 20 Prozent kräftig zum Gesamtum- findet das Fliegen immer aufregend. Alle Kabinenpersonal. Die Passagiere freilich satz bei. paar Wochen übernimmt er selbst das Steu- wussten nicht, dass sie von Isländern ge- Die Pilgerflüge sind nicht nur eine lo- er einer 747. Jedes Wochenende fährt er flogen wurden; die Maschine war zwar in gistisch aufwendige Operation, bei der ein zum Flugplatz nahe der Firmenzentrale, Reykjavik registriert, doch die Flugnum- Dutzend Jumbos und Hunderte Mitarbei- wo ihm ein Hangar und drei Sportmaschi- mer gehörte den Caribbean Airways, die nen gehören. Eine gelbe Piper den Flieger samt Besatzung geleast hatten. Cub, Baujahr 1944, die 1988 über „Wet lease“ heißt das Prinzip, nach dem Island abgestürzt ist und die er Johannsson noch heute arbeitet, oder auch wieder zusammengebaut hat, und ACMI: Aircraft, Crew, Maintenance, Insu- zwei Doppeldecker des amerika- rance. Atlanta stellt also das Fluggerät, das nischen Flugzeugbauers Pitts. Personal und übernimmt die Kosten für „Das sind Wölfe im Schafspelz“, Wartung und Versicherung. Alles Übrige – sagt Johannsson. Die Maschinen Treibstoff, Start- und Landegebühren – könnten „beinahe senkrecht in der trägt der Kunde. „So können wir unsere Luft stehen wie ein Helikopter“. Ausgaben immer kalkulieren, wir wissen Für Johannsson sind das Momen- genau, wie viel uns ein Flugzeug pro Mo- te des Glücks – und der Selbster- nat, pro Tag oder pro Stunde kostet. Wir kenntnis. „Ich bin froh, dass ich

sind Großhändler. Wir verkaufen keine AFP / DPA diese Spielzeuge nicht hatte, als ich Sitze, sondern ganze Flugzeuge.“ Indonesische Pilger: „Unsere besten Kunden“ 20 war.“ Henryk M. Broder

der spiegel 2/2002 79 Billiglohn-Arbeiterin in den USA Armut ist teuer

schlecht bezahlte Jobs geschickt wurden? „Eigentlich müsste ein Journalist rausgehen und das selbst ausprobieren, ganz alt- modisch“, fand Ehrenreich. Lapham lächelte und antworte- te: „Ja, du.“ Ehrenreich war nicht begeis- tert. Sie hatte sich einen Namen gemacht als scharfzüngige Ko- lumnistin, Autorin analytischer Essays und eines Dutzends provokanter Bücher. Sie gilt als unorthodoxe Intellektuelle, lebt in ihrem Haus nahe dem Ferien- paradies Key West in Florida und ist ihr eigener Boss. Warum sollte ausgerechnet sie Gummi- handschuhe überstreifen und freiwillig in die Knie gehen?

GILLES PERESS / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR PERESS / MAGNUM GILLES „Welcher Teufel mich da ge- ritten hat, wer weiß? Vielleicht habe ich gehofft, dass die Leute leichter in ARBEITSWELT eine solch fremde Welt folgen, wenn sie von jemanden aus der eigenen sozialen Klasse dorthin geführt werden.“ Amerika – ganz unten Jahrelang hatte sich Ehrenreich erfolglos die Finger wund geschrieben zum Thema Inkognito tauchte die US-Sozialkritikerin Barbara Ehrenreich in soziale Ungleichheit. Die Armutsfakten des reichsten Landes der Erde kann sie im die Welt der Billigjobs ab. Ihre Erfahrungen als Putzfrau Schlaf herbeten: etwa, dass 32 Millionen und Verkäuferin wurden in den Vereinigten Staaten zum Bestseller. Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze leben und jedes sechste Kind in Armut auf- nieschoner. Ein Königreich für ein war die 59-Jährige zwischen 1998 und 2000 wächst; dass ein Fünftel der zwei Millionen paar Knieschoner. Auf allen Vieren dreimal für je einen Monat in unterschied- Obdachlosen arbeitet; dass über sieben Kkriecht Barbara Ehrenreich auf dem lichen Rollen abgetaucht, um Amerika neu Millionen Amerikaner zwei Jobs brauchen steinernen Fußboden einer Villa in Port- kennen zu lernen – von ganz unten. Ehren- zum Überleben und fast 39 Millionen nicht land auf und ab und schrubbt die Fliesen. reich servierte Hotdogs in Florida, feudel- krankenversichert sind. Fluchen könnte sie vor Schmerz. Doch sie te in einer Putzkolonne in Maine, füllte Doch keiner ihrer Artikel hat je so viel muss sich zusammenreißen. Regale bei Wal-Mart und fütterte Alte im Aufsehen erregt wie ihr Erlebnisbericht Die Beine, die neben ihr geschäftig Pflegeheim. „Nickel and Dimed“, in Deutschland durch die Küche stöckeln, gehören der Ihre Regeln: jeweils den bestbezahlten nun erschienen unter dem Titel „Arbeit Hausherrin. Mit einem Mal hält sie inne. Job annehmen (und halten!) und die bil- poor“*. „Dieses Buch sollte Pflichtlektüre Ehrenreich fühlt sich von einem durch- ligste Wohnung suchen, um vom Lohn der für alle Kongressabgeordneten werden“, dringenden Blick auf den Boden genagelt. Arbeit leben zu können. Mehr als einmal empfahl die „New York Times“. Nun also ist es passiert. Sie ist erkannt wor- verfluchte die promovierte Biologin dabei Zumindest einige scheinen es gelesen zu den, trotz der hochgebundenen Haare und den Tag, an dem sie sich auf diesen Selbst- haben, denn in Washington ist erstmals der grüngelben Putzuniform. Vielleicht hat versuch eingelassen hatte, der ausgerech- eine Diskussion um den Erfolg des Welfare- diese Frau einmal bei ihr eine Vorlesung net in einem französischen Restaurant in to-work-Programms entbrannt. Zwar ist gehört oder sie zufällig im Fernsehen ge- New York begann. sehen. Was sagen? Wie sich erklären? Lewis Lapham, Herausgeber des Intel- Schweiß perlt ihr von der Stirn und lektuellenmagazins „Harper’s“, hatte Eh- tropft auf den Marmor. Und dann hört sie renreich zur Themenbesprechung geladen. die Stimme von oben herab fragen: „Wenn Bei Lachs an Feldsalat driftete das Ge- Sie schon dabei sind, können Sie eben spräch ab zur Armut in Amerika. Wie, so noch schnell die Eingangshalle putzen?“ fragten sich die beiden, können Niedrig- In jener Nacht schreibt Ehrenreich in ihr lohnarbeiter – fast ein Drittel der amerika- Laptop-Tagebuch: „Putzpersonal ist un- nischen Arbeiterschaft – von sechs oder sichtbar.“ Das war noch eine der ange- sieben Dollar Stundenlohn leben? Wie nehmsten Lektionen, die die amerikani- schaffen es insbesondere die vier Millio- sche Sozialkritikerin, Feministin und Au- nen Frauen, die von Bill Clintons gefeier- torin bei ihrem Undercover-Ausflug in die ter Sozialhilfereform „Welfare to work“ in Welt der Billigjobs lernte.

In der Tradition Günter Wallraffs, den / MATRIX QUESADA ALEX * Barbara Ehrenreich: „Arbeit poor. Unterwegs in der solche Reportagen aus der Arbeitswelt Dienstleistungsgesellschaft“. Verlag Antje Kunstmann, Autorin Ehrenreich einst in Deutschland berühmt machten, München; 256 Seiten; 18,90 Euro. „Potenziell kriminelles Subjekt“

80 der spiegel 2/2002 Wirtschaft die Hälfte aller Sozialhilfeempfänger zu- die „echten“ Working Poor: Sie hatte ein trafen Ehrenreich völlig unvorbereitet. rück in Jobs – doch deren Lebensbedin- Auto, war bei bester Müsli-Gesundheit, „Man wird wie ein potenziell kriminelles gungen haben sich oft verschlechtert. Kir- und tief unten im Koffer lag die Kredit- Subjekt behandelt“, sagt sie. Die Fragen chen und Wohlfahrtsverbände registrieren karte, falls alle Stricke reißen. im Wal-Mart-Bewerbungsbogen: Sind Sie einen Ansturm auf Suppenküchen. „Man braucht keinen Abschluss in Wirt- vorbestraft? Haben Sie je gestohlen? Wür- Aber erst seit Clinton aus dem Amt ist schaftswissenschaften, um zu merken, dass den Sie melden, wenn ein Kollege stiehlt? und die Konjunktur abbremst, trauen sich etwas faul ist, wenn sich ein gesunder, al- Weil Zeit Geld ist, erklärt der Wal-Mart- die Demokraten, Zweifel zu äußern – so je- lein stehender Mensch trotz zehn Stunden Mann zur Einführung, dass kollegiales denfalls erklärt Ehrenreich die Aufmerk- Arbeit am Tag kaum über Wasser halten Plaudern während der Arbeitszeit eben- samkeit für den Überlebenskampf der Bil- kann“, schreibt sie. falls Diebstahl ist: Zeitdiebstahl am Ar- liglöhner, den sie in ihrem Buch nachfühl- Ihre Erkenntnisse markieren das Ende beitgeber, und damit strafbar. Auch vor bar macht, inklusive der Gründe für ihr des uramerikanischen Glaubens: Wer hart Gewerkschaften habe man sich zu hüten, Scheitern. genug arbeitet, wird es auch schaffen. Mit die bergen Gefahren für die Arbeiter. (Ab-)Grund Nummer eins sind zu hohe diesem Traum, der noch heute in jeden Neu für Ehrenreich waren Drogentests – Mieten. Niedrigstlohn-Jobs fallen oft in Kinderkopf gepflanzt wird, räumt Ehren- und die Entdeckung einer ihr gänzlich Städten und Touristenorten an – genau dort, reich gründlich auf: „Ich hätte nie gedacht, neuen Produktlinie: In den US-Drogerien wo ein Dach überm Kopf am teuersten ist. dass man härter arbeiten kann, als man es gibt es Regale voller Innenspülungen. Rund 20 Dollar teure Medikamente namens CleanP („Klare Pisse“) sichern dem Heer von Lohnsklaven Anstellungen für sieben Dollar die Stunde. Innerlich gereinigt muss die Bewerberin dann, stets beäugt von ei- ner Mitarbeiterin des potenziellen Arbeit- gebers, in einen Becher pinkeln. Bei ihren Jobs stieß Ehrenreich auf Will- kür und Missbrauch. Vorarbeiter lassen zum Rapport antreten und schimpfen Mit- arbeiter aus wie kleine Kinder. Der erste Wochenlohn wird gern zur Hälfte einbe- halten, damit man am Montag auch wirk- lich wieder auftaucht. Pausenräume ohne Fenster, Toiletten ohne Schlösser, Taschen und Spinde können jederzeit durchsucht werden. „Da draußen herrscht Diktatur. Wer die Welt der Billigjobs betritt, gibt sei- ne Bürgerrechte an der Pforte ab“, schreibt Ehrenreich in ihrem Buch. Widerstand gegen solche Behandlung ist ebenso rar wie Solidarität unter den Kol- legen. Als Ehrenreich einmal anregt, dass das Putzteam das Pensum einer kranken

ALAN LEVENSON / TIMEPIX ALAN LEVENSON Kollegin übernimmt, wenden sich alle Mitarbeiterbesprechung bei Wal-Mart: Kollegiales Plaudern gilt als Zeitdiebstahl wortlos ab. Individuelle Verantwortung ist in allen US-Bevölkerungs- Als Ehrenreich in Key West als Bedienung je für möglich gehalten hat, gruppen fest verankert und anheuerte, war die nächste erschwingliche und trotzdem immer tiefer Dienstleistungsjobs 41,0 schlägt im Zweifel immer in den USA Wohnung 30 Meilen entfernt. Das bedeu- in Schulden versinkt.“ 40 die soziale Verantwortung. tete: bis zu zwei Stunden pendeln täglich. Eine Autoreparatur, ein Beschäftigte Nach einer Studie der Uni- Wer die zwei Stunden zum Geldver- krankes Kind, eine uner- in Millionen versität Harvard glaubt die dienen braucht, muss näher am Arbeits- wartete Rechnung genü- 35 Hälfte der Amerikaner, platz wohnen, und so zog Ehrenreich bald gen, um das Leben aus dem dass die Armen selbst an den Stadtrand von Key West. Für 675 Gleichgewicht zu bringen. 27,9 30 schuld sind an ihrer Armut. Dollar mietete sie eine acht Quadratmeter Das Eis der eigenen Existenz Ehrenreich beschreibt ei- Okt. große Wohnwagenhälfte. Damit hatte sie es ist millimeterdünn. Wer ne andere Realität: Die besser als viele ihrer Kollegen. Eine lebte durchbricht, kommt ohne 199092 94 96 98 2001 Working Poor vernachlässi- in ihrem Auto auf dem Parkplatz, andere Hilfe nicht wieder raus. gen ihre eigenen Kinder, teilten sich zu viert ein Zimmer. Dass ihr Experiment finanziell eng wer- um sich um die von anderen zu kümmern. In Minnesota erlebte Ehrenreich dann, den würde und körperlich aufreibend, dar- Sie leben in miesen Behausungen, damit wie die Abwärtsspirale in Schwung kommt. auf hatte Ehrenreich sich eingestellt. andere Häuser perfekt gewienert werden Als sie die Kaution für eine Wohnung nicht Schließlich kam sie nicht ganz unvorbelas- können. Sie leiden Not, damit die Inflation vorstrecken konnte, zog sie in ein Billig- tet. Ihr Vater war Kumpel in einer Kupfer- gering bleibt und die Aktienpreise hoch. motel: 37 Dollar zahlte sie pro Nacht für mine in Montana gewesen, ihre Mutter „United we stand“, ruft es seit den An- ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und Putzfrau, ihr erster Mann Hilfsarbeiter, be- schlägen vom 11. September von jeder Pla- große Angst, weil die Tür nicht richtig vor er Gewerkschaftsfunktionär wurde. katwand der USA – für Ehrenreich ein schloss. Kochen konnte man dort nicht. Sie alle waren Blaumann-Intellektuelle, Grund, einen neuen Gesellschaftsvertrag Also musste sie Junk-Food kaufen. Arbeiter mit ausgeprägtem politischem Be- zu fordern: „Wenn unser Sinn für Solida- „Es ist unglaublich teuer, zu arm für eine wusstsein und klarem Klassenverständnis. rität stärker sein soll als der Stoff der US- Wohnung zu sein“, sagt Ehrenreich. Dabei Doch die tagtäglichen Demütigungen, de- Flagge, müssen wir Amerikas arme Arbei- kam sie besser ausgerüstet in diese Welt als nen Niedriglohnarbeiter ausgesetzt sind, ter einbeziehen.“ Michaela Schießl

der spiegel 2/2002 81 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

dend: Wie kriegt man den anonymen Kunden? Durch Werbung? Großhändler? BERUFE Sponsoraktionen? In der Autobranche war die Kernfrage: Wie werde ich in der Pro- duktion noch produktiver? Die Konstruk- Die Zahlen-Kolonne teure müssen lernen, schon während des Denkens zu sparen. In der Porzellan- Sie gelten als Erbsenzähler. Doch die Wirtschaftsflaute macht’s industrie hat neben dem Marketing wie- derum die Logistik das besondere Augen- möglich, dass ein lange angefeindeter Stand zu ungeahnten Ehren merk von Controllern: der Einkauf von kommt: 2002 könnte das Jahr der Controller werden. Rohstoffen, der Lagerbestand, der Versand. Und das in einem durchweg gesättigten homas Rövekamp sieht aus wie Jan und als Trainer sozusagen Controller-Con- Markt: Osteuropa und Asien sind starke Hofer in Alt: grau meliert, akkurat troller. Konkurrenten. Und wer kriegt heute zur Tgescheitelt, die Falten im Gesicht „Nee, alles drei nicht“, sagt Rövekamp, Konfirmation noch Tafelgeschirr?“ übersichtlich und gut sortiert. Jan Hofer „dann passt schon eher das Bild von Mo- Es scheint jedenfalls einen Paradigmen- liest emotions- und fast ausdruckslos die ses als Controller. Der hatte eine Zielvor- wechsel im Image von Rövekamps Berufs- „Tagesschau“-Nachrichten, Thomas Röve- stellung: Wir wollen ins Gelobte Land. gruppe zu geben. Denn welchen Erbsen- kamp ist Controller. Dann kam das strategische Controlling: Mit zähler hätte man vor fünf Jahren mit Bei beiden kann man sich nicht vor- welchen Instrumenten kommen wir ans Kennedy verglichen? Nun aber, da über- stellen, dass sie im Kino beim Hollywood- Ziel? Zu Fuß? Per Schiff? Dann das opera- all gejammert wird über Rezession und Melodram „Titanic“ weinen Wirtschaftsflaute, brummt würden. „Nein“, bestätigt die Zahlen-Kolonne der Rövekamp, „mich hat bei Kostensenker und Gürtel- diesem Film fasziniert, wie enger-Schnaller, Pfennig- viel Geschirr dabei kaputt- fuchser und Optimierungs- ging.“ fetischisten, von denen es Rövekamp war erst Con- allein in Deutschland rund troller in der Brauindustrie, 50000 gibt. dann bei einem Automobil- Den ganzen Tag auf der zulieferer, zuletzt Chefcon- Suche nach Einsparungen troller beim Porzellanher- und Prozesssteuerungen, steller Hutschenreuter. Jetzt häufig nur Kleinviehmaß- sitzt er als Finanzchef im nahmen, die erst über das Vorstand des in BHS table- Jahr verteilt Ertrag bringen. top AG umfirmierten Unter- Da wird die Raumtempera- nehmens. tur ab 17 Uhr um zwei Grad Rövekamp war einer der gedrosselt. Besucherkittel ersten Deutschen seines werden bei 60 statt bei 90 Standes. „Ich weiß noch, Grad gewaschen. Selbst das wie meine Frau und ich vor Toilettenpapier wird portio- 20 Jahren bei unserer Ver- niert verteilt. mieterin einzogen. Abends Wer sich so etwas aus- rief die dann heimlich bei denkt, hauptberuflich, hat meiner Frau an: Sagen Sie keinen guten Ruf. Und er mal, was ist das eigentlich, leidet darunter, dass er kei- ein Controller?“ nen guten Ruf hat. Heute weiß man immer- „Man hat ständig damit hin, dass das nichts Unan- zu kämpfen, Arsch der Fir- ständiges ist. Aber das Bild ma zu sein“, sagt Harald

vom Pullunder tragenden OLAF TIEDJE Hollenstein, Teilnehmer bei Erbsenzähler mit Unterbiss Controller Rövekamp: Penetranz muss sein einem Plaut-Weiterbildungs- hält sich wacker. Und das, seminar. obwohl sich Controller ebenso wacker tive Controlling: Haben wir genug Pro- „Der Druck von oben ist bei Controllern bemühen, es zu kippen. viant? Sind wir trainiert? Wie teilen wir gigantisch“, sagt Volker Hartmann, eben- „Ein guter Controller war Christoph Ko- uns auf?“ Als dann die Ägypter dem Volk falls Seminarteilnehmer, „die Fluktuation lumbus, weil er neue Wege beschritt“, sagt Israel kriegerisch folgten, plante Moses das, ist hoch. Das Klima ist hart. Man muss auf- Professor Wolfgang Männel, Ordinarius für was Leute wie Rövekamp nun „diversifi- passen, was man sagt“, sagt er. Betriebswirtschaftslehre an der Universität zierte Zielabweichung“ nennen: die Flucht Thomas Rövekamp sitzt heute im Vor- Erlangen-Nürnberg. durchs Rote Meer. „Bei allem, was er tat, stand und strahlt: „Es ist ein Zukunfts- „Ein guter Controller war Jakob Fug- wusste Moses: Die Knappheit der Res- beruf.“ Oder er macht Witze: „Kennen ger, weil er genug Geld hatte, das er dem sourcen ist die Grundlage seines Wirt- Sie den? Ein Pessimist, ein Optimist und Kaiser leihen konnte“, sagt Professor Kurt schaftens.“ ein Controller sitzen in einer Kneipe vor Vikas, wissenschaftlicher Berater für Con- Die ändert sich natürlich im Laufe der einem Glas. ,Halb voll‘, sagt der Opti- trolling-Fragen bei der Unternehmensbe- Zeiten, im Laufe der Kulturen und vor al- mist, ,halb leer‘ meint der Pessimist. ‚Das ratung Plaut. lem innerhalb der verschiedenen Indu- Glas ist für seinen Zweck 100 Prozent zu „Ein guter Controller war John F. Ken- striebranchen. groß‘, erklärt der Controller.“ Über sol- nedy, weil er was anpackte und es nicht „Als ich in der König-Brauerei arbeite- che Gags lachen Leute, die bei „Titanic“ aussaß“, sagt Herbert Dienst, Controller te, war das Marketing-Controlling entschei- nicht weinen.

84 der spiegel 2/2002 Controller, der Beruf, den Welches kranke Hirn, so war vor 20 Jahren bei Robert Rövekamp vor Jahren einmal Lembkes heiterem Beruferaten ganz freundlich und leise gefragt kaum jemand erraten hätte, hat worden, welches kranke Hirn hat seine Wurzeln im industriellen sich denn das ausgedacht? „,Wir Zeitalter. Natürlich gab es beide gehen jetzt mal Kaffee schon bei den Pharaonen Auf- trinken, ohne Handy und Stress‘, passer und Prozessoptimierer. hab ich dem geantwortet; man Natürlich waren Einrichtungen ist als Controller immer auch wie die mittelalterlichen Zünf- Verkäufer seiner Ideen. Und te auch Qualitätssicherungsan- wenn man vorn rausfliegt, kommt stalten, aber erst mit Erfindung man hinten wieder freundlich des Förder- und Fließbandes rein.“ wurde eine Steuerung der ma- Mit Penetranz hat er es so ge- schinellen Arbeitsvorgänge schafft, dass bei Hutschenreuter notwendig. nicht mehr der Umsatz die abso- Den eigentlichen Impuls be- Tankstelle lute Größe für Verkäufer war. kam der Beruf allerdings viel Doch nicht immer sind Control- später und aus dem US-ame- ling-Maßnahmen so sinnvoll. rikanischen Militär. Dort über- Im Schweizer Bankverein sa- legte man sich nach dem Zwei- ßen einst Controller, die die Ak- ten Weltkrieg, dass ein Pan- zeptanz der Geldautomaten un- zer nicht nur Geld in der An- ter den Kunden erhöhen wollten. schaffung kostet, sondern auch Die Herren ließen, teuer, teuer, noch in der Wartung, Pflege, Glashäuschen rund um die Geld- Lagerung, Verschrottung. Eine automaten bauen. Dass so ein Rechnung, die dem Öffentli- Ort ein geradezu ideales Über- chen Dienst im Deutschland nachtungsquartier für Obdach- der siebziger Jahre noch nicht lose ist, wurde nicht mit einkal- in den Sinn kam. Da wurden kuliert. Es folgten: Kundenrück- Schwimmbäder gebaut, ohne gang, Umsatzeinbußen, Image- daran zu denken, dass man verlust. sie in Stand halten, die Bade- Die Controller eines Ölmultis meister bezahlen, das Wasser Flugverkehr errechneten, dass kürzere Schläu- wechseln, Chlor kaufen und che an den Tankstellen-Zapfsäu- Umkleidekabinen reparieren len weniger kosten als lange, und muss. schafften, teuer, teuer, kürzere „Heute kann sich kein Be- an. Dass die Kunden deshalb trieb mehr leisten, mit Woher- mehr rangieren mussten, länger soll-ich-wissen-ob’s-im-Mai-reg- zum Tanken brauchten und we- net-Zauderern zu arbeiten“, niger zufrieden wieder abfuh- sagt Rövekamp. ren, wurde nicht einkalkuliert. Für Controller ist die Zeit Folge: höhere Kundenverweil- also ideal. Professor Vikas, seit dauer an der Zapfsäule, Bedie- über 30 Jahren als beratender nerfrust, Umsatzeinbußen, Image- Betriebswirt tätig, nennt für verlust. diese Entwicklung mehrere Aber es gibt auch Unterneh- Gründe: Spartenorganisation men, die einen Controller drin- und Dezentralisierung erfor- gend brauchen: „Die katholische

derten ein Kontrollinstrumen- (U.) (M.); GERD LUDWIG BERG / DPA OLIVER (O.); SCHNARR / BAUMGARTEN NORBERT Kirche“, sagt Rövekamp, „die tarium, vor allem bei immer Autoindustrie wäre ein Traum.“ Kein anderes größer werdenden Unterneh- Controlling-Projekte: „Rein pekuniäre Maßnahme“ Unternehmen habe so wenig Ah- menseinheiten. Dabei ist die nung von seinen Besitzverhält- nahe liegende nicht immer die beste die mit einem Riesen-Hype aufstiegen und nissen, würde deswegen so an seiner Kapa- Lösung. genauso schnell auch wieder verglühten“, zität und Kompetenz vorbei leben. „Die Bei der Lufthansa zum Beispiel seien in sagt Vikas kühl. haben ein dreistelliges Milliardenvermögen der Economy Class bei den Inlandsflügen Die Hauptschwierigkeit für Controller und wissen das nicht.“ Erfrischungstuch und Snack eingespart liegt nicht im Umgang mit Planabwei- Fünf bis zehn Jahre müsste man für Pla- worden, sagt Vikas. Stattdessen könne sich chungen, Kostendeckungsbeiträgen und nung, Berechnung und Umsetzung in- der Kunde einen Schnellimbiss mitneh- Soll-Ist-Vorstellungen, sondern im ganz vestieren, rechnet er vor, dann könne man men, der am Eingang bereitliegt. „Eine normalen, täglichen Umgang mit Mitar- die ersten Erfolge sehen: eine gemeinsame rein pekuniäre Maßnahme, die sicher nicht beitern. „Der extrovertierte Marketing-Lei- Zielvereinbarung, eine gemeinsame Spra- der Kundenzufriedenheit dient – und des- ter will anders angesprochen sein als der che, eine differenzierte Ressourcenkon- halb fragwürdig ist.“ Nun ja, mittlerweile techniklastige Produktionsingenieur“, sagt trolle. Religion – rein rechnerisch. haben die Lufthansa-Controller auch die Rövekamp, „bei beiden ist nur eines gleich: Dass Rövekamp dabei seine Berufs- Fresstüten gestrichen. Vermeide als Controller immer die Frage: bezeichnung verlieren würde, stört ihn Was aber aus Unternehmen wird, die Wie kommt diese Abweichung zu Stande? nicht. „Die würden mich ja nie Control- Controlling nicht ernst nehmen, sehe man Sonst fühlen die sich angegriffen, mauern, ler nennen, sondern höchstens Prälat C „an den ganzen Dot.com-Unternehmen, meckern.“ oder so.“ Katrin Wilkens

der spiegel 2/2002 85 Werbeseite

Werbeseite Trends Medien

COMEDY „Männer arbeiten schneller“ Anke Engelke, 36, über Frauen-Comedy und Männer-Witz

SPIEGEL: Am 11. Januar startet Ihre neue Sat.1-Comedy-Serie „Ladykracher“, bei der Sie über 13 Folgen in 250 verschiedene Frauenrollen schlüpfen. Wollen Sie uns er- klären, wie Frauen wirklich sind? Engelke: Ich würde mir niemals anmaßen, irgendjemandem was erklären zu wollen. Ich werde auch immer nach dem Hinter- grund von Pointen gefragt, warum die Frau jetzt genau so reagiert. Das weiß ich nicht.

Es gibt in der Comedy einfach nur immer (R.) / MELDEPRESS PRESS (L.); VOELKEL ALEXANDER / ACTION MOELL FRANK die gleichen Frauentypen: schöne Frauen, Schwaderlapp Lanz die auch klug sind, schöne Frauen, die es schwer haben, und die derbe Frau, bei der ZDF-INTENDANZ alle denken sollen, die kriegt es prima ge- meistert. Das ist mir einfach zu wenig. SPIEGEL: Warum wirken viele Ihrer Frauen- Clements neue Kandidaten gestalten grenzdebil, stets im Kampf zwi- schen Epiliergerät und Schreikrampf? m 18. Januar steht der nächste Ter- abgestimmt. Wohl aber nicht mit dem Engelke: Es sind nur Ausschnitte aus dem Amin für die Wahl eines neuen beim Wahlgremium beliebten Amtsin- Kosmos vieler Frauen. Ich überlege mir ZDF-Intendanten an, nachdem am 6. haber Stolte, der seinen einstigen Re- gar nicht so, ob Dezember keine Entscheidung gefal- ferenten Schwaderlapp seit dessen Aus- ich übertreibe len war. Und schon beginnt das Na- stieg beim ZDF 1997 zu seinen Intim- oder parodiere, menskarussell wieder, sich zu drehen. feinden zählt. Auch die Nominierung ob es diese Nun schickt auch NRW-Ministerpräsi- von Lanz erfolgte nicht ohne besonde- Frauentypen dent Wolfgang Clement (SPD), der sich res politisches Kalkül: Der Chefredak- überhaupt gibt. in der ersten Runde zwar nicht mit Kri- teur von Deutsche-Welle-TV ist seit 25 Grenzdebil ist tik, dafür aber mit Namen zurückhielt, Jahren CDU-Mitglied. Doch ohnehin das jedenfalls seine lange angekündigten Kandidaten sind die Wahlchancen beider Kandida- nicht. Dazu bin ins Rennen. Der Deutsche-Welle-Fern- ten im 77-köpfigen Fernsehrat unge- ich zu gerne sehdirektor Christoph Lanz, 42, sowie wiss. Als möglicher Konsenskandidat auch nicht der Endemol-Manager Werner Schwa- wurde bereits ARD-Programmdirektor bekloppt. derlapp, 51, werden auf dem Clement- Günter Struve von der „Süddeutschen SPIEGEL: Bezeich- Ticket und damit auch für die SPD an- Zeitung“ ins Spiel gebracht. Allerdings Engelke nenderweise sind treten. Es sei kein „Solotanz“, so ein verbleiben noch zehn Tage für neue die meisten Gags Sprecher von Clement, man habe sich Darsteller des Intendantenstadls. für Ihre Frauen-Comedy von Männern geschrieben. Engelke: Dass sie Männer sind, bedeutet nicht, dass sie Frauen nicht kennen. Dafür KRIMISERIEN zumindest was den Schauplatz und war ja auch ich da, um ihnen zu erklären, die Leibesfülle des Cop-Darstellers wie das ist mit dem Beine-Epilieren. Män- Bullen aus der Provinz Joseph Hannesschläger angeht. Und ner arbeiten pointierter und schneller. Es weil Deutschland so schön ist, wie gibt nicht viele Frauen, die Comedy schrei- ord und Totschlag vor Alpen- seine Landschaften typisch sind, hat ben, und die machen in erster Linie politi- Mkulisse – mit dieser Mischung das ZDF bereits eine weitere Regio- sche Sachen, mit erhobenem Zeigefinger. schafft der beleibte Schauspieler nal-Krimiserie in Arbeit: Noch in So bin ich nicht. Ottfried Fischer als diesem Jahr soll die SPIEGEL: Wollen Sie nach „Liebesluder“ „Bulle von Tölz“ für „Polizeidirektion von Detlev Buck noch mal zurück auf die Sat.1 regelmäßig schö- Schleswig-Holstein Kino-Leinwand? ne Quoten. Das fiel Süd“ (Arbeitstitel) Engelke: Kino ist definitiv das Nächste. offenbar auch beim starten, in der Ann- Zwei Sachen sind bereits in Planung, es ist ZDF auf, das von Mitt- Kathrin Kramer und aber noch nichts fest. Ich würde gern aus- woch dieser Woche an Charlotte Schwab probieren, wie es ist, im Kino lustig zu sein. in einer neuen Serie als forsch-moderne Und bei „Ladykracher“ habe ich gemerkt, die „Rosenheim-Cops“ Kommissarinnen zwi- wie viel Spaß es macht, auf der Bühne zu antreten lässt. Ein Fall schen Rapsfeldern

stehen. Da haben wir uns gleich überlegt, von unverhohlener ERIKA HAURI / ZDF und Meeresstrand wieder ein Bühnenprogramm zu machen. Format-Abkupferei, Hannesschläger (mit Karin Thaler) ermitteln.

der spiegel 2/2002 87 Fernsehen

Vorschau sem Gruselkrimi von Thorsten Näter wie gewohnt gute Einschaltquoten erja- gen. Diesmal fahnden die beiden Ham- Kleine Träume burger Kommissarinnen nach einem Montag, 0.25 Uhr, ZDF Triebtäter, der junge Frauen grausam zu Der 12-jährige Ghareeb sehnt sich Tode quält. Mit schwarzer Maske und nach einem Vater, nach ein bisschen Umhang à la Batman verkleidet, lässt Wohlstand und dem Respekt der Er- der Unhold die Kripo im Dunkeln tap- wachsenen. In der patriarchalischen pen. Zu Hilfe eilt Sebastian van Leuyen Gesellschaft Ägyptens versucht seine (Christian Berkel), ein charmanter Psy- chiater. Während sich Sabrina Hals über Kopf in ihn verliebt und in seinem Designer-Schlaf- zimmer landet, bleibt die blon- de Ellen skeptisch: Das Charak- ter-Profil des Psychiaters stimmt erschreckend genau mit dem Bohringer, Depardieu in „Zwei Frauen“ des Täters überein. re – und Nachbarinnen. Allmählich Die Katzenfrau freunden sie sich an, und Maud wird Donnerstag, 21.00 Uhr, ARD Patentante von Mayas Baby. Doch Wenn Männer sich in Männer was wird aus den Dreien, als die „einfühlen“, zum Beispiel die Deutschen ein paar Jahre später Herren Peter Probst (Buch) und beginnen, auch aus Paris Juden zu Martin Enlen (Regie) in einen deportieren? Caroline Huppert, braven Familienvater, kommt Schwester der Schauspielerin Isabelle schlimmstenfalls eine Schmon- Huppert, hat Nine Moatis Roman zette wie diese dabei heraus: „Rose d’Alger“ in einen ergreifenden Leo (Ulrich Reinthaller), Ethik- Fernsehfilm über eine Frauenfreund-

ZDF lehrer und glücklich verheiratet, schaft verwandelt. Szene aus „Kleine Träume“ fährt zu einer Tagung nach Ve- rona. Dort umgarnt ihn die Polizeiruf 110: verwitwete Mutter, ihm nach Kräften schöne Elsa (Erika Marozsán) und zerrt Um Kopf und Kragen beim Erwachsenwerden zu helfen. Als ihn schließlich ins Bett. Leo bereut den Sonntag, 20.15 Uhr, ARD 1967 der Sechstagekrieg gegen Israel Seitensprung und beichtet. Die Ehefrau Eine junge Frau, sportlich und hübsch, ausbricht, stilisiert der Junge den Dik- nennt ihn einen „Scheißkerl“, aber al- hat sich offenbar umgebracht. Sie war tator Gamal Abdel Nasser zum Über- les könnte wieder gut werden, würde Streifenpolizistin – und wurde von ih- vater und wird in den Krieg hinein- die italienische Alptraumfrau nicht in ren Kollegen seit Monaten gemobbt gezogen. Der Regisseur Khaled El München auftauchen und – und sexuell belästigt. Ähn- Hagar zeichnet mit dieser einfachen das Hollywood-Eifersuchts- liche reale Fälle in München, Geschichte ein packendes Stimmungs- drama „Eine verhängnisvolle Berlin und Neuss sorgten in bild aus Ägyptens jüngerer Vergan- Affäre“ lässt grüßen – Leo den vergangenen Jahren für genheit, in der die Bevölkerung des ganz für sich haben wollen. Schlagzeilen; ein spannen- Landes Nassers Propagandafeldzug Elsa ist eine groteske Männer- des Sujet also für einen erlag. „Kleine Träume“, entstanden phantasie von mediterraner „Polizeiruf 110“. Zwar er- 1993, ist der erste von vier Filmen, Glut: Sie läuft in merkwür- weist sich in der Story der die das ZDF im Rahmen der Reihe digen Schleiergewändern Autorin Carolin Otto der „Menschen im Islam“ ausstrahlt – umher, schmollt und schreit, vermeintliche Selbstmord trotz des aktuellen Interesses am wenn ihr etwas nicht passt. dann doch als Mord mit

Thema Islam jedoch erst nach Mitter- Ein bisschen Sex gibt es auch, / ARD DEGETO reichlich abgedroschenem nacht. doch selbst dabei schaut Marozsán Motiv, und Regisseur Peter Schauspieler Reinthaller so Patzak überfrachtet den Doppelter Einsatz: leidend und sorgenvoll, als frage er sich, Film ein wenig mit Video-Clip-Ästhe- Im Visier der Bestie in welche Pubertätsklamotte er da hin- tik, Zeitlupen, Schnellvorläufen und Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL eingeraten ist. Farbverfremdungen – trotzdem: ein Sabrina (Despina Pajanou) und Ellen gelungener TV-Krimi, der durchaus (Petra Kleinert) sind wieder im „Dop- Zwei Frauen in Paris anschaulich den Alltag der Schutz- pelten Einsatz“ – und dürften mit die- Freitag, 20.45 Uhr, Arte polizei dokumentiert. Von der öden Maya (Romane Bohringer), die politisch Geschwindigkeitskontrolle bis zum Pajanou in „Doppelter Einsatz“ engagierte Jüdin, und Maud (großartig: ekelhaften Leichenfund muss „Poli- Julie Depardieu), die eher gedankenlos zeiruf“-Kommissarin Jo Obermaier in den Tag hineinlebende Geliebte eines (Michaela May), die undercover in Faschisten, sind zwei sehr gegensätz- die Mobbing-Wache eingeschleust liche Frauen im Paris der dreißiger Jah- wird, jeden Einsatz durchhalten.

der spiegel 2/2002 Werbeseite

Werbeseite Medien

SPIEGEL-GESPRÄCH „Geistige Orientierung“ Der neue Springer-Chef Mathias Döpfner über das Finanzdesaster in Europas größtem Zeitungshaus, sein Verhältnis zu den Großaktionären Friede Springer und Leo Kirch sowie die Rolle der „Bild“-Zeitung im beginnenden Wahlkampf

SPIEGEL: Herr Döpfner, wann haben Sie zum Döpfner: Natürlich, nur! Im Ernst: Die Va- gen die 68er-Generation und deren ersten Mal eine „Bild“-Zeitung gekauft? riante, dass jemand einfach aus Überzeu- Werte? Döpfner: Als Schüler. gung handelt, scheidet bei Ihnen offenbar Döpfner: Das wäre in dieser Form banal SPIEGEL: Wollen Sie uns einreden, dass Sie aus. Die Unterstützung des transatlanti- und falsch. Im Übrigen hat sich das Thema ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Frie- schen Bündnisses und die Solidarität in der zum Glück historisch erledigt. densbewegung mit der „Bild“ über den freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den SPIEGEL: Warum haben Sie sich dann im Pausenhof marschiert sind? Vereinigten Staaten ist einem Land des la- vergangenen Jahr so mühsam an Joschka Döpfner: Ich habe dazu sogar Krawatte ge- tenten und manchmal virulenten Anti- Fischer und seinen damaligen Kampf- tragen. Das war noch schlimmer. Offener amerikanismus wichtiger denn je. Ich bin gefährten abgearbeitet? Widerstand gegen den Zeitgeist. überzeugt davon, dass wir unsere Mitar- Döpfner: Die „Welt“ hat in der Tat eine in- SPIEGEL: Dabei gehören Sie zu einer Ge- beiter mit verbindlichen Werten auf Dau- tensive Debatte zu diesem Thema geführt. neration, die Springer vor allem … er viel besser motivieren als mit jedem Für den gesamten Verlag war das aber kein Döpfner: … als rechte Kampfpresse be- noch so raffinierten Aktienoptionspro- wichtiges Thema. Fischer hatte seine poli- schimpft hat, ich weiß. Günter Wallraffs gramm … tische Vergangenheit verdrängt, und daran Enthüllungen über die Methoden der SPIEGEL: … das zurzeit ohnehin wenig wert haben bei uns im Haus Journalisten Anstoß „Bild“ haben damals ja alle verschlungen. wäre. genommen. Das ist alles. Döpfner: Unsere Aktien werden in den SPIEGEL: Bundeskanzler Gerhard Schröder nächsten Jahren sehr attraktiv, da bin ich sah das anders: Er hat Springer eine Kam- ganz sicher. pagne gegen seine Regierung vorgeworfen. SPIEGEL: Und wenn, wie geschehen, „Bild“ Döpfner: Das war ein durchsichtiger Ein- einen kritischen Kommentar zur US-Stra- schüchterungsversuch. Aber damit müssen tegie in Afghanistan druckt, bekommen wir leben. Der Axel Springer Verlag ist die Verantwortlichen eine Abmahnung? stark wie ein Löwe, aber manchmal will er Döpfner: Das ist ein gutes Beispiel, wie un- geliebt werden wie ein Hauskätzchen. sere Grundsätze zu verstehen sind: als Doch das geht nicht. Leitplanken für Debatten – und nicht als SPIEGEL: Was haben Sie im Rückblick aus Denkverbot. Harte Kritik an den jewei- der Debatte gelernt? ligen Akteuren ist erlaubt

JOSE GIRIBAS (L.); RONALD FROMMANN (R.) FROMMANN (L.); RONALD JOSE GIRIBAS und gewünscht. Wenn aber Verlagseigner Friede Springer, Kirch jemand zum Beispiel Pro- „Keine Schlangengrube“ bleme mit Amerika und den amerikanischen Wer- SPIEGEL: Springer war stets der politischste ten hat, dann möge er bitte Medienkonzern der Bundesrepublik. Wo in einem anderen Verlags- stehen Sie heute? haus arbeiten, bei uns Döpfner: Wir haben ein bürgerliches, libe- nicht. ral-konservatives Profil, aber keine partei- SPIEGEL: Wie wäre es denn politische Präferenz. Unsere Journalisten mit einem sechsten Grund- sind stattdessen seit Jahrzehnten vier satz, dem Widerstand ge- Grundsätzen verpflichtet: dem Engage- ment für die deutsche und europäische Einheit, der Aussöhnung mit den Juden Mathias Döpfner begann nach und der Unterstützung der Lebensrechte einem Studium der Musik- und Thea- des Staates Israels, dem Einsatz für die terwissenschaft als Schallplattenre- freie und soziale Marktwirtschaft sowie der dakteur der „FAZ“. Bei Gruner+Jahr Bekämpfung des politischen Totalitarismus war er zunächst Vorstandsassistent, gleich welcher Richtung. dann Chefredakteur von „Wochen- SPIEGEL: Kompliment. Sie sind seit gerau- post“ und später „Hamburger Mor- mer Zeit wohl der erste Unternehmens- genpost“. 1998 wechselte Döpfner, 38, chef, der Axel Springers Prinzipien fehler- zum Springer-Blatt „Welt“. 1999 wur- frei referieren kann. Jüngst haben Sie Ihren de der Schützling der Verlegerwitwe Redakteuren sogar noch die Liebe zur Friede Springer in den Vorstand beru- Nato und zu den USA in die Verträge fen, dessen Vorsitz er zum 1. Januar schreiben lassen. Wollten Sie damit bei der übernahm. Verlegerwitwe Eindruck machen?

90 der spiegel 2/2002 Baustelle der Springer-Zentrale in Berlin Ruinöser Wettbewerb

gängers August Fischer. Bei einem ge- sunden Zeitungsgeschäft hätte Sprin- ger derlei aber doch locker wegstecken müssen. Döpfner: Ergebnisbelastend wirkten das Buchgeschäft sowie nicht rentable Ob- jekte in allen Bereichen. Außerdem hat es nötige Investitionen im hohen drei- stelligen Millionenbereich für moderne Drucktechniken gegeben. Allein im Zeitungsbereich sind unsere Kosten in- Angeschlagener Medienriese nerhalb eines Jahres, von 1999 zu 2000, um 143 Millionen Euro angestiegen, Der Springer-Konzern in Zahlen bei den Personalkosten, aber auch bei Umsatz- und Gewinnentwicklung Honorar-, Reise- und Spesenetats.

PAUL LANGROCK / ZENIT PAUL SPIEGEL: August Fischer nannte bei Umsatz Gewinn *Für 2001 wird in Millionen Euro 2902 mit einem Amtsantritt als Ziel, den Konzern drin- Döpfner: Die 68er haben damals einen 2664 Millionen- gend zu internationalisieren sowie Umsatz 2351 2460 verlust großen Aufbruch inszeniert, und davon ist 2260 gerechnet und Rendite zu verdoppeln. Nichts davon extrem wenig übrig geblieben. hat er erreicht. Mit welcher Regierungs- SPIEGEL: Stattdessen steht Ihr Verlag seit 1428 erklärung gehen Sie ins Amt? Jahrzehnten wie ein Fels in der Brandung? Döpfner: Gus Fischers Weichenstellungen Döpfner: Sie sagen es. Springer hat in der für das Unternehmen waren völlig richtig. Sache richtig gelegen und im historischen 141 151 Von Regierungserklärungen halte ich im 84 108 98 14* Rückblick so viel Recht bekommen wie Übrigen wenig, wir sollten durch erbrach- 1996 1997 1998 1999 2000 1. Halbjahr keine andere publizistische Kraft in die- 2001 te Leistungen überzeugen. Aber ich nenne sem Land. Die Einheit ist gekommen, das Aktienkurs in Euro 140 Ihnen drei Prioritäten. Erstens die Markt- Bildungsideal der 68er in der Sackgasse führerschaft im deutschsprachigen Kern- gelandet. Ich erwarte für unsere Weitsicht 120 geschäft, also bei den Zeitungen und Zeit- kein öffentliches Lob. Aber ich will auch 100 schriften. Wo wir dies nicht erreichen und nicht einzelne „Bild“-Schlagzeilen von nachhaltig in die Verlustzone geraten, gibt 1968 entschuldigen müssen. Dass unsere 80 es nur drei Möglichkeiten: restrukturieren, Blätter damals manches überspitzt und sich Quelle: Thomson 60 verkaufen oder einstellen. damit teilweise intellektuell isoliert haben, Financial Datastream SPIEGEL: Und Ziel Nummer zwei? ist bekannt. Aber mit Steinen zu werfen 40 Döpfner: Wir müssen unser Printgeschäft, oder mit Worten – das bleibt ein Unter- 1996 1997 1998 1999 2000 2001 schon um von der deutschen Konjunktur schied. Verkaufte Auflage unabhängiger zu werden, weiter interna- SPIEGEL: Kommen wir zu künftigen 4,8 4,77* „Bild“ tionalisieren, vor allem in West- und Ost- Schlachten: Welche Partei wird Springer 4,6 4,52* europa. Mindestens so wichtig ist allerdings im beginnenden Bundestagswahlkampf un- 4,4 auch die Übertragung unserer Marken und terstützen? 4,2 in Millionen Inhalte auf digitale Vertriebswege – unse- Döpfner: Keine Sorge: Kampagnen für oder re dritte Priorität. 2,8 2,74* 2,59* gegen einen Kanzlerkandidaten werden 2,6 SPIEGEL: Das klingt aber weitaus vorsich- wir nicht führen. 2,4 tiger als vor zwei Jahren. Damals war SPIEGEL: Bislang hat die „Bild“-Zeitung „Bild am Sonntag“ Ihre Prioritätenliste eindeutiger: 1. Inter- noch in jedem Wahlkampf eine große Rol- 460 „Welt am Sonntag“ net, 2. Internet, 3. Internet. le gespielt. Soll sie fortan nur noch bei der 440 in Tausend 465* Döpfner: Damit habe ich als Chefredakteur Wahl von Ludern und Partyhühnern mit- 420 403* in einem Kommentar die Prioritäten des mischen? 400 World Economic Forums in Davos be- Döpfner: Auf keinen Fall. „Bild“ wird mit 380 schrieben. Auch ich habe damals die Ent- offenem Visier Probleme ansprechen – auf 260 „Die Welt“ wicklung des Internet überschätzt. In der 264* allen Seiten. 240 217* deutschen Medienbranche befand ich mich SPIEGEL: Sie sind der sechste Vorstandschef 220 damit freilich in nahezu lückenloser Ge- in elf Jahren. 26 Vorstände haben in dieser 200 *3. Quartal Quelle: IVW sellschaft. Aber es wäre ein Fehler, auf die Zeit das Haus verlassen. Wie finden Sie 1996 1997 1998 1999 2000 2001 übertriebene Internet-Euphorie jetzt mit sich in einem Verlag zurecht, der als überzogener Depression zu reagieren. Schlangengrube gilt? SPIEGEL: Wohl wahr. Einen Gewinnein- SPIEGEL: Wie wäre es zur Abwechslung mal Döpfner: Der Axel Springer Verlag ist kei- bruch wie Springer hat im Boomjahr 2000 mit einem profitablen Geschäftsmodell? ne Schlangengrube. Er bietet vielmehr sonst kaum einer geschafft. Haben Sie Ihre Döpfner: Mit unserem Online-Buchhänd- beste Voraussetzungen für eine zukunfts- Anzeigenannahme geschlossen, oder was ler „Booxtra“ schreiben wir seit Septem- fähige Unternehmenskultur der Kreati- ist da passiert? ber schwarze Zahlen. Gratisjournalismus vität, der Integrität und des Unternehmer- Döpfner: Das Jahr 2000 war vor allem durch allerdings ist kein Geschäftsmodell – weder tums. Aber natürlich haben die zahlrei- Zukunftsinvestitionen geprägt. auf Papier noch online. Deshalb werden chen Führungs- und Strategiewechsel das SPIEGEL: Sie meinen die verpatzten Aus- wir den Service von „bild.de“ gemeinsam Haus belastet. lands- und Fernsehabenteuer Ihres Vor- mit unserem Partner T-Online kosten-

der spiegel 2/2002 91 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Medien pflichtig machen. Weitere Marken, bei uns Döpfner: Die Regularien des Kapitalmarkts versuchen, seine Marktanteile auszuwei- und in anderen Verlagen, werden folgen. erlauben mir hierzu keine Stellungnahme. ten. Das wird noch mehr kleinere Verlage Sollte dieses Modell scheitern, dann wis- SPIEGEL: Das Verhältnis zwischen Kirch und und Zeitungen in Schwierigkeiten bringen. sen wir zumindest: Mit journalistischen Friede Springer ist über die Jahre hinweg Dann kommt es zum großen Zeitungs- Angeboten ist im Internet nichts zu ver- immer schwierig gewesen. Welche Szena- sterben. dienen. rien haben Sie, falls Kirch in seiner Fi- SPIEGEL: Ihr Rettungsplan, das ist dann das SPIEGEL: Ist Fernsehen für Sie ein Zu- nanzkrise seinen Springer-Anteil verkaufen hilflos-hektische Zusammenlegen von Zei- kunftsmarkt? muss? tungen, die gar nicht zueinander passen – Döpfner: Leider gehört der Sendermarkt Döpfner: Seitdem ich im Hause bin, habe wie jüngst bei der „Welt“ und der „Berliner nicht zu unserem Kerngeschäft. ich das Verhältnis der beiden nur als aus- Morgenpost“? SPIEGEL: 15 Prozent gelten in der Branche gesprochen konstruktiv erlebt. Ich weiß Döpfner: Moment mal. In diesem Fall pro- als gute Rendite und sind zum Beispiel bei nicht, ob es vorher anders war. Jedenfalls fitieren wirklich beide Titel, publizistisch Bertelsmann Vorgabe für alle Bereiche. kann ich mit der Aktionärsstruktur des wie wirtschaftlich. Die „Morgenpost“ kann Welches Ziel haben Sie sich und Ihrem Verlags mit Frau Springer als Hauptgesell- sich ganz auf ihre Kernkompetenz, die Re- Verlust bringenden Verlag gesetzt? schafterin und Kirch als Großaktionär sehr gionalberichterstattung, konzentrieren. Die Döpfner: Unser Potenzial ist gewaltig, aber gut leben. wenigen überregionalen Seiten profitieren von pauschalen Zielen halte ich nichts. Sie SPIEGEL: Warum haben Sie dann systema- vom großen Korrespondentennetz der sind nicht marktgerecht. In Hamburg ver- tisch die unternehmerischen Verbindun- „Welt“. dienen Sie nun mal anders als im ruinösen gen zu Kirch abgebrochen? Es gibt, abge- SPIEGEL: Und die „Welt“? sehen von ProSiebenSat.1, Döpfner: Bei der ändert sich nichts, weil sie kein einziges gemeinsames ihren Berliner Regionalteil schon seit ei- Geschäft mit Ihrem Münch- nem Jahr erfolgreich von der „Morgen- ner Partner mehr. post“ bezieht. Hinzu kommen die positi- Döpfner: Dafür gibt es in je- ven Effekte im Anzeigengeschäft und auf dem Einzelfall sachliche der Kostenseite. Argumente. SPIEGEL: Ist das Zusammenlegen beider SPIEGEL: Und wie ist Ihr Blätter womöglich nur ein weiterer Schritt Verhältnis zu Friede Sprin- hin zu einer großen Zentralredaktion, die ger? Manche wollen Sie sämtliche Springer-Medien bespielt? schon als künftigen Adop- Döpfner: Eine Zentralredaktion ist völlig tivsohn der Verlegerwitwe unrealistisch. Aber lassen Sie es mich so sa- sehen. gen: Wie weit wir auf dieser Strecke gehen Döpfner: Würden Sie bitte werden, hängt auch davon ab, wie erfolg- auch bei Rudolf Augstein reich das Projekt läuft. Deshalb werden hinterlegen, dass ich jeder- wir uns in den nächsten drei Jahren darauf zeit zur Verfügung stehe? konzentrieren und nicht gleich an anderen SPIEGEL: Internationale Me- Stellen ähnliche Kooperationen einleiten, dienunternehmer wie John die über das hinausgehen, was „Bild“ und

M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE / PEOPLE M. TINNEFELD Malone und Rupert Mur- „Bild am Sonntag“ seit über einem Jahr er- Springer-Gala in Berlin*: „Leitplanken für Debatten“ doch, die derzeit gemein- folgreich praktizieren. sam Kirch in die Zange SPIEGEL: Dabei geben Sie dann den weit- Wettbewerb von Berlin. Deswegen wird es nehmen, drängen mit Macht auf den deut- sichtigen Verleger, den geistigen Erben des individuelle Ziel-Renditen geben. schen Fernsehmarkt. Erwarten Sie eine Firmengründers Axel Springer? SPIEGEL: Der Markt achtet aber auf die Zahl ähnliche Entwicklung auch in der Presse? Döpfner: Mit dem Begriff Verleger bin ich unter dem Strich. Döpfner: Auf jeden Fall. Die angeschla- vorsichtig. Das kann man sich nur verdie- Döpfner: Eben! genen deutschen Lokalzeitungen sind ein nen. Aber der Aufsichtsrat hat sich bewusst SPIEGEL: Und da ist Springer, trotz seiner gefundenes Fressen für ausländische Un- für einen Journalisten als Vorstandschef schlechten Finanzlage, als eigenständige ternehmen. Schließlich erschwert das entschieden. Außerdem glaube ich schon, Einheit überlebensfähig? Kartellrecht deutschen Verlagen wie Sprin- dass ein Haus wie Springer so etwas wie Döpfner: Davon bin ich fest überzeugt. Wir ger oder Holtzbrinck, vor allem aber geistige Orientierung braucht. wollen nicht Global Player werden, son- kleinen Familienverlagen, weitere Zu- SPIEGEL: Kennen Sie die oft zitierte Döpf- dern unseren Unternehmenswert steigern. käufe. ner-Kurve? Ich sehe kein Heil in Fusionen, die selbst- SPIEGEL: Was haben Sie gegen Wettbewerb? Döpfner: Das ist eine Erfindung der „taz“. zweckhaft daherkommen und vor allem Döpfner: Gar nichts. In einer zweiten Pha- Mit dieser Kurve ist es wie überall im Le- mit Integrationsproblemen belastet sind. se könnte allerdings ein ausländischer ben: Sie geht mal nach oben und mal SPIEGEL: Fusionen sind das eine, Trennun- Großverlag mit einem brutalen Preiskampf nach unten. Bei meiner Zeit als Chef- gen das andere. Erklären Sie uns doch mal, redakteur der „Wochenpost“ und der wie Sie Ihren finanziell angeschlagenen „Hamburger Morgenpost“ ist die Auflage, Großaktionär Leo Kirch loswerden. wie bei meinen Vorgängern und Nach- Döpfner: Wie kommen Sie denn darauf? folgern auch, gefallen. Bei der „Welt“ ging SPIEGEL: Kirch ist verpflichtet, Ihnen in die- sie dann nach oben. Sie sehen: Der Trend sem Jahr für den Springer-Anteil an seiner stimmt. Im Übrigen hilft es, sehr früh auch ProSiebenSat.1 Media AG rund 800 Mil- Misserfolge und Presseschmähungen er- lionen Euro auszuzahlen. Wann wollen Sie lebt zu haben. Das vermittelt Eigenschaf- diese Option ausüben? ten, die besonders in meiner jetzigen Aufgabe wichtig sind: Bodenhaftung und

RONALD FROMMANN RONALD Demut. * Oben: Verleihung der Goldenen Kamera am 6. Februar 2001; rechts: mit den Redakteuren Konstantin von Ham- Döpfner (M.) SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Döpfner, wir danken Ihnen merstein und Frank Hornig. „Bodenhaftung und Demut“ für dieses Gespräch.

94 der spiegel 2/2002 TV-Gastgeberin Schöneberger und sich irgendwann so weit vorgebeugt, „Diesmal scharf, Sigi?“ dass ihr die Kamera durch den Ausschnitt hindurch bis auf die Zehen geschaut hat. schauern Kultstatus. Selt- Am Ende hat Schmidt gesagt, dass sie eine sam ist das vor allem, wenn eigene Sendung haben sollte. Am nächsten man schaut, wer bislang so Tag hatte sie ihre eigene Show. alles zu Gast war. „Barbaras plötzlicher Aufbruch ins Wun- Wer zu „Blondes Gift“ derland“ ist jetzt drei Jahre her. Bei kommt, darf meist nirgends Schmidt war sie inzwischen sechsmal und sonst mehr hin. Die Gäste- ist damit dritthäufigster Gast. Sie hat ein liste liest sich wie ein Aus- TV-Tennismagazin moderiert und macht zug aus dem Pflegeheim seit zwei Jahren das Frühstücksfernsehen der deutschen Fernseh- „Weck Up“ auf Sat.1. Trotzdem macht sie branche. Es ist, als wäre die vor allem eins: Marginal-Fernsehen. Das „Was macht eigentlich?“- Tennismagazin lief beim Quotenzwerg DSF, Seite des „Stern“ zum TV- „Weck Up“ sendet sonntags morgens um Format geronnen. Wolf- 8 Uhr an jeder vernunftbegabten Zielgrup- gang Lippert? Oh! Ingrid pe vorbei, und „Blondes Gift“ … eben! Steeger? Lebt die noch? Woran liegt das bloß? Frank Zander? Du lieber Wahrscheinlich daran, dass eine derarti- Himmel! ge Show nur als bewusstes Rand-TV funk- Schön ist es trotzdem, tionieren kann. Hier darf die Moderatorin weil Schöneberger wun- ihren Gast schon mal mit den Worten be- derbar plaudern kann und grüßen: „Jetzt bist du bei uns, und danach spontan lustige Sätze sagt, kommt nur noch ein Schwarzes Loch.“ in denen das Wort „pop- Die Sendung lebt von Selbstironie, von pen“ vorkommt, ohne dass durchsichtigen Kulissen und dem eigentlich gleich ein Toilettenwitz verbotenen Dialog mit den Leuten dahin- folgt wie bei Stefan Raab. ter. „Ist die Kamera diesmal scharf, Sigi?“, Genauso darf sie dann feh- fragt Schöneberger den Kameramann und lerfrei „anthroposophisch“ ignoriert dann ihren Gast, um nacheinan- sagen oder „soziologischer der mit dem Producer, dem Tontechniker labelling approach“, was und dem Regieassistenten Boshaftigkeiten

EVA SCHREIBER / PEOPLE IMAGE SCHREIBER / PEOPLE EVA sowieso lasziver klingt. auszutauschen. Gegen die durchgestylten Hochglanz-Shows der großen Sender ist das regelrecht anar- MODERATOREN chisch. Vor allem aber ist es er- frischend, weil es zeigt, dass Fern- Kluges Luder sehen nicht perfekt sein muss, um zu unterhalten. Mit der anarchischen Talkshow Es könnte also alles ganz wun- derbar sein mit dieser Moderato- „Blondes Gift“ steigt Barbara rin, die ihre Gäste so leichtfüßig Schöneberger zur Kultfigur der massakriert. Nur nimmt sie aus Nach-Viva-Generation auf. unerfindlichen Gründen dann immer die falsche Abzweigung. iese Frau hat was von einer fehlge- Gerade erst wälzte sie sich in ei- leiteten Walküre. Sie schreitet nicht Moderatorin Schöneberger, Talkgast Zander nem Luderanfall in auberginefar- Dzum Auftritt vor die Kamera, sie Pflegeheim der Fernsehbranche benem Dessous durch das Sprin- stürmt. Der blonde Zopf ist so lang wie ger-Herrenblatt „Maxim“. Oder das Dekolleté tief. Wenn sie die Stimme an- Überhaupt dreht sich die ganze Show sie versuchte sich als Einpeitscherin des hebt, rücken ihre Talkgäste unwillkürlich nur darum, ihr zuzuhören. Das weiß sie TV-Totalflops „Girlscamp“. Oder sie geht ein paar Zentimeter von ihr ab. Ihre 1,73- natürlich selbst, und deshalb sagt sie dann zur ZDF-Fernsehvorhölle „Blond am Statur wirkt dabei wie 1,85. Mindestens. auch mal einem ihrer eher schweigsamen Sonntag“, setzt sich zwischen Marijke Barbara Schöneberger, 27, hat eine eige- Gäste: „Am liebsten wäre ich einfach bei Amado und Ralph Morgenstern und macht ne Talkshow im „Ballungsraumfernsehen“. mir selbst zu Gast.“ Genauso hat sie sich eine Sendung, die so wehtut, dass man da- Das klingt fast so schlimm wie „Rechtsver- ihre TV-Karriere bisher erquatscht. nach drei Wochen freiwillig Arte schaut. ordnungsermächtigung“ oder „Bindehaut- Zum Geldverdienen neben dem Sozio- Vielleicht ist das alles so, weil Schöne- entzündung“, ist es aber eigentlich gar nicht. logiestudium jobbte sie 1998 als Assistentin berger ständig auf dem Absprung scheint, Gemeint sind die lokalen Großstadtsender, von Elmar Hörig in dessen Gameshow-Irr- aber nicht weiß, wohin. Sie sagt: „Ich muss die zur abendlichen Hauptsendezeit das sinn „Bube, Dame, Hörig“. Schon damals nicht in der ersten Reihe stehen.“ Aber gleiche Programm senden: etwa Hamburg hat sie bald mehr geredet als Hörig. Des- dann ist da wieder die Sehnsucht nach der 1, TV Berlin, TV München und seit neues- wegen und weil sie – wie gesagt – auch eigenen großen Show. „Bis jetzt“, sagt sie, tem auch der Ruhrpott-Sender TV NRW. noch ziemlich gut aussieht, durfte sie dann „ist immer noch alles von allein auf mich 140 Episoden von „Blondes Gift“ sind auch in die „Harald Schmidt Show“. zugekommen.“ mittlerweile gelaufen, und irgendwie müs- „Harald hat gedacht, dass er sich da eine Zusammen wirkt das alles entweder ar- sen überraschend viele Leute hingeschaut blonde Dumpfbacke eingeladen hat“, sagt rogant oder nicht ehrgeizig genug. „Ich haben, denn inzwischen hat die Show vor sie. Große Brüste, kleines Hirn. Also hat bin“, sagt sie dann, „ja eh zu dick fürs allem unter Viva-entwachsenen Jungzu- sie geredet und gewitzelt und kokettiert Fernsehen.“ Thomas Schulz

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Werbeseite Szene Gesellschaft

MODE Klüger werden mit: Freche Kopie Harriet Rubin eistens sind sie rot-weiß-blau Mkariert, und auch für die Die 49-jährige Bestsellerautorin großvolumigen Exemplare liegt („Machiavelli für Frauen“) über der Anschaffungspreis noch unter- den Trend zur Selbständigkeit halb der Kosten für ein Päckchen Zigaretten: Billige Einkaufsta- SPIEGEL: Unter dem Motto „Soloing“ schen aus Kunststofffaser, wie sie fordern Sie Menschen dazu auf, sich vor allem in Shops für Großein- von ihrer Firmenidentität zu befrei- käufer bereitliegen. Zeichneten en und ihren Job hinzuschmeißen. die Taschen an europäischen Hat denn jeder das Zeug dazu? Flughäfen lange Zeit diejenigen – Rubin: Mein Buch „Soloing“ wendet meist osteuropäischen oder asiati- sich an Menschen, die auf privile- schen – Reisenden aus, denen bei gierten Stellen sitzen, die aber für der Passkontrolle eine besondere die Sicherheit ihre Identität aufgege- Aufmerksamkeit sicher war, so ben haben: Oft kommen sie morgens fühlen sich derzeit Designer her- und gehen abends, ohne noch irgend- ausgefordert, mit dem Billig- etwas von dem zu tun, was sie ei- image des Materials zu arbeiten. gentlich mal machen wollten. Das Juliane Heise ironisiert die hohen nimmt ihnen ihr Selbstwertgefühl, Outfit-Ansprüche reisender Busi- aber sie ändern nichts – aus Angst. ness-People, indem sie aus dem SPIEGEL: Sie haben es geschafft: Sie sperrigen Plastikmaterial konven- beraten Manager und schreiben Best- tionelle Herrenanzüge und kon- seller. Was ist der Un- servative Damenkostüme schnei- terschied zu vorher? dern ließ. Und den von der Berli- Rubin: In den Jahren, ner Designerin Heike Ebner (alias in denen ich als Lek- Florinda Schnitzel) entworfenen torin angestellt war, Damen-Blouson nebst dazu pas- schmeckte mir zwar sendem Hundemäntelchen darf das Kantinenessen, man getrost als freche Persiflage und ich hatte Erfolg.

CHRISTIANE HAID CHRISTIANE auf den exklusiven Burberry- Aber ich hatte kei- Blouson der Designerin Ebner Karo-Look verstehen. ne Verfügungsgewalt – nicht einmal über Pa-

pierbestände –, sondern ETTLINGER MARION nur eine Maschine in Rubin TERROR zögernd zu antworten, schüre eher Pa- Gang zu halten. Nun nik als sie zu verhindern. Für Vincent T. habe ich eine Firma mit nur einer Keine Panik Covello vom New Yorker Zentrum für Angestellten: mir selbst. Risiko-Kommunikation kommt es dar- SPIEGEL: Wann merkt man, dass man n den USA beschäftigen sich Sozial- auf an, ein „Wissensvakuum zu vermei- reif ist zum Soloisten? Iwissenschaftler mit der Frage, wie Re- den“. Dieses werde oft mit Gerüchten Rubin: Wenn man nicht mehr sagen gierungen bei Terroranschlägen mit bio- gefüllt. Beistand erhalten die Wissen- kann, dass man seinen Job liebt. logischen Waffen Massenpanik vermei- schaftler von David Ropeik vom Har- SPIEGEL: Was unterscheidet den So- den können. Die Forscher kritisieren vard-Zentrum für Risiko-Analyse: Infor- loisten vom Aussteiger? das Verhalten der Behörden während mation fördere das Vertrauen in „jene Rubin: Der Aussteiger verliert an Ein- der jüngsten Anthrax-Anschläge und Menschen, deren Aufgabe es ist, uns zu fluss, denn er ist weg vom Fenster. machen Hoffnung: Laut Thomas Glass, beschützen“. Und hat meistens kein Geld. Der So- Epidemiologe an der Johns-Hop- loist wird besser bezahlt als vorher, kins-Universität in Baltimore, ha- und er wird respektiert. ben Menschen wenig Neigung zur SPIEGEL: Ihr Lieblingsbeispiel eines Panik. Im Unterschied zur Annah- Soloisten ist der Philosoph Henry me des FBI und des Zentrums für David Thoreau, der seine Stelle als Seuchenbekämpfung, die während Beamter verließ, um zurückgezogen der Anthrax-Anschläge der Öf- an einem See zu leben. fentlichkeit präzise Informationen Rubin: Thoreau hat sich beigebracht, nicht zumuten wollten, verhelfe sein eigenes Haus zu bauen und sich Aufklärung zu sozialem Verhalten. selbst zu ernähren. Das hat ihn un- Die Öffentlichkeit müsse, so Glass, abhängig gemacht. „Ich will sicher- von Anfang an einbezogen sein in gehen, dass die Welt mich nicht ver- die Verteidigung gegen Attacken ändert“, heißt es bei ihm. Das ist der

mit Biowaffen. Informationen X / STUDIO / GAMMA STEVE LISS Kernsatz des Soloing. zurückzuhalten und auf Fragen Chicagoer Familie mit Gasmasken

der spiegel 2/2002 97 Szene

Was haben Sie da gedacht, Mrs. Windsor? Die britische Schauspielerin Barbara Windsor, 64, über einen Besuch von Elizabeth II. am Set der Seifenoper „Eastenders“ „Die Queen hat gelacht, ehrlich. Ist es eine Verschwörung der Pressefotografen, dass wir nie ein Bild der lachenden Queen präsentiert bekommen? Sie war die Lockerste von uns allen. Was waren ich und das Team der BBC-Soap nervös. Un- sere Königin zu Besuch auf dem Set. Als hätten wir eine Militäroperation vorbe- reitet, jeder Satz wurde geübt. Am Ende habe ich sie durchs Studio geführt, unse- re Bar „Queen Victoria“ hat ihr beson- ders gefallen. Beim Abschied hat sie mich nach meinem schönen Nachnamen ge- fragt. Ich verriet ihr, dass das der Name meiner Tante sei, den ich mir als Künst- lernamen zugelegt habe. Sie hat mir im Gegenzug leider nicht verraten, wie sie es schafft, in ihrem Alter eine Haut wie

Porzellan zu haben.“ REUTERS

Queen Elizabeth, Schauspielerin Windsor

TRENDS richtet und gepflegt werden möchte, INTERNET beweist der Erfolg des Buchs „Die Was Mönche wissen Schule der Mönche“ (Herder Verlag, Sex-Spürhund Freiburg) von Peter Seewald, vom n Zeiten politischer Unsicherheit Kommunisten zum gläubigen Katho- im M. fühlt sich sicher, seit sein Computer Iwird auf menschliche Tugenden liken konvertierter Münchner Autor Jihn überwacht. M. ist ein amerikani- zurückgegriffen. Momentan sind es und Gründer der Firma „Gutes aus scher Sexualstraftäter auf Bewährung, in vor allem die Benediktinermönche, Klöstern“. Die erste Auflage seiner dessen Rechner der US-Bundesstaat Illinois deren Lebensregeln wieder diskutiert benediktinischen „Inspirationen für das Internet-Überwachungsprogramm „Cy- und deren klösterliche Produkte ge- unseren Alltag“ war in wenigen Wo- ber-Sentinel“ einbauen ließ. Das Programm kauft werden. Demut steht in hohem chen verkauft. Gute Zeiten für geisti- soll sicherstellen, dass M. im Internet Ansehen, von ihr verspricht sich der ge Getränke nach altem Rezept, das keine Sexseiten ansteuert und in Chaträu- metaphysisch heimatlose Mensch erkannte auch die Spirituosen-Firma men keine Erwachsenen und Kinder beläs- Orientierung. Der Versand „Gutes Bacardi; dort widmet man sich seit tigt. Sollte M. im Netz Pornoseiten betrach- aus Klöstern“ verzeichnet einen Herbst mit neu erwachter Liebe dem ten, sollte er in Internet-Chats Sätze tippen, deutlichen Zugewinn an Kunden- vor zehn Jahren ins Portfolio aufge- die häufig von Pädophilen benutzt werden, interesse bei den Körperpflegepro- nommenen „Bénédictine“, einem würde das Programm automatisch M.s dukten. Dass auch die Seele unter- Kräuterlikör, den vor etwa 500 Jah- Bewährungshelfer alarmieren. „Der Cyber- ren der Benediktinermönch Ber- Sentinel hält mich an einer kurzen Leine“, nardo Vincelli destillierte und sagt M., „das gefällt mir.“ Entwickelt von der dessen genaue Rezeptur auch Firma Security Software Systems, sollte das heute noch streng geheim gehal- Programm ursprünglich Eltern helfen, die ten wird. Nicht allein das Pro- Internet-Nutzung ihrer Kinder zu überwa- dukt zähle, lässt Bacardi verlau- chen. Im Sangamon County in Illinois kon- ten, sondern seine „Welt des trolliert der Internet-Spürhund nun nicht Geistes und der Emotionen“. mehr potenzielle Opfer, sondern Täter. Feh- Beim Einschenken des würzig- lerfrei arbeitet das Programm noch nicht. Als süßen 40-Prozentigen empfiehlt M. vor kurzem mit Freunden Online-Poker es sich trotzdem, des alten Bene- spielte, verlor er und schickte Flüche ins dikt von Nursia zu gedenken. Netz. Das Programm schlug Alarm. Ein Der nannte „das rechte Maß“ Wort von M.s Mitteilung an seine Freunde Seewald-Buch, Likör „Bénédictine“ die „Mutter aller Tugenden“. lautete: Fuck.

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EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Die Unbekannten fotografierten und filmten die nackte Elvira, wollten Sex, Elvira B. log, sie leide an Aids, Elvira erlöste ihre Entführer manuell. Im Reich der Deuter „Elvira wurde von der Sex-Mafia entführt“, tobte der Vater. „An ihren Handgelenken hat sie Vermisst, missbraucht, geflüchtet – eine Schweizer Kellnerin Druckspuren. Was auf eine Fesselung verwirrt die Öffentlichkeit. schließen lässt“, sagte die Polizei. „Elvira sagt die Wahrheit“, wusste lvira B. brach auf wie immer: „Ich höre Elvira nachts in meinem die Chefin. locker und sonnig, den Discman Innern rufen. Ich weiß: Elvira lebt“, Nach vier langen Tagen und langen Ean den Leib gefesselt, schwarze hauchte die Mutter. Nächten, fast ohne Schlaf und ständig Trainingshose, schwarzes Jäckchen, Am Freitag, 21.46 Uhr – Elvira B. war bewacht, setzten die unbekannten Män- weißes T-Shirt. „Tschüs“, sprach sie seit vier Tagen verschwunden –, ging ner Elvira B. in einen Wagen, gefesselt, und ging. Es war Montag, der 29. Ok- bei der Sonderkommission die Meldung vermummt, fuhren los, warfen sie ir- tober 2001. Am Morgen des anderen ein, die junge Frau sei bei ihrem Vater, gendwo aus dem Fahrzeug in die dunk- Tages, 6.42 Uhr, rief die Mutter die Restaurant „Kronenbräu“ in Herisau. le Nacht. Polizei. Ihre Tochter sei vom Joggen „Bis sie sich aufgerappelt hatte, wa- nicht wieder gekommen, 27-jährig ren die Verbrecher weg“, wusste die und blond, Serviertochter von Beruf, Mutter. eine Frohnatur. Elvira rannte weg, sie wusste nicht, Die Kantonspolizei berief eine wo sie war. Sie versteckte sich, wenn Sonderkommission, die Sonderkom- ein Auto vorbeifuhr und fand ihren mission „Elvira“. Um 7.50 Uhr bot Vater im „Kronenbräu“ zu Herisau. sie eine Suchmannschaft auf, 20 Män- „Sie schlotterte und zitterte, sie war ner, um 14 Uhr einen Helikopter, total verwirrt und weinte, sie sprach der drei Stunden lang die Welt um nicht“, sagte der Vater. Urnäsch absuchte, Kanton Appenzell Fahndung, landesweit. Ausserrhoden, Schweiz. Aus Zürich „Elvira ging vier Tage durch die ließ man einen Spürhund anreisen. Hölle“, berichtete „Blick“, das Mas- Elvira war nicht zu finden. Nachts senblatt. flatterte ein „Super Puma“ der „Sie braucht jetzt dringend Ruhe“, Schweizer Armee durchs Gelände, bat die Mutter. fahndete mit Infrarot. „Alles erfunden“, gestand Elvira „Wir müssen von einem Verbre- B. am Abend des 7. November, „ich chen ausgehen“, deutete die Polizei. Aus der „Aargauer Zeitung“ bin gar nie entführt worden, war vier „Elvira ist eine liebe, ehrliche und Tage bei einem Kollegen.“ Sie könne anständige junge Frau“, sagte ihre nicht erklären, was sie dazu getrie- Chefin, Wirtin zur „Linde“ in Bischofs- „Äußerlich ist sie kaum verletzt, psy- ben habe. Sie sei nicht die Frohnatur, zell. chisch aber am Boden“, sprach die Po- für die sie alle hielten, ihre Probleme, „Sie hätte uns gesagt, wenn sie Pro- lizei. die Trennung von ihrem Freund, das bleme gehabt hätte“, sprach Elviras Elvira, dünner denn je, sagte aus, sie Leben überhaupt, all dies ... sie könne Bruder. sei, rennend unterwegs, von zwei Män- nicht erklären. Am Mittwoch, 31. Oktober, begann nern, der eine groß und kräftig, 18- bis „Eine Form der unreifen Konflikt- die Sektorensuche. 50 Polizisten kauer- 25-jährig, der andere klein und schmäch- lösung“, sagte ein Psychiater dem Zür- ten im Gras, suchten Unbestimmtes. Um tig, 25 bis 30 Jahre alt, in einen dunklen cher „Tages-Anzeiger“. 11.36 Uhr fand einer Elviras Discman, viertürigen Personenwa- „Von Problemen hat am Straßenrand, nur 300 Meter neben gen gezerrt und dann, sie doch nie etwas ge- dem Haus der Mutter. 15.30 Uhr, Be- nach der Fahrt von viel- sagt“, meinte der Vater. ginn der Feinsuche am Fundort des leicht einer Viertelstun- „Wenn die wieder in Geräts durch Schüler der Polizeischule de, in einen kellerglei- der ‚Linde‘ serviert, St. Gallen. chen Raum gesperrt kommen wir nicht mehr „Elviras Anblick“, lobte Elviras Vater, worden, schmutzige Ma- hierher“, sprachen die ein Chauffeur, geschieden, „war für tratze, Blecheimer als Stammgäste. mich jedes Mal wie ein Sonnenauf- Toilette, Brei, Brot, Was- „Vielleicht hat Elvira gang.“ ser. Die Männer, meist B. ihre Entführung gar Donnerstag, 1. November. Erneuter maskiert, sprachen eine nicht erfunden“, zirpte Suchflug entlang von Wasserläufen und Sprache, die Elvira nicht ein Fernsehpsychologe, Brücken. Befragung der Anwohner. verstand, vielleicht Tür- „sondern sie erfindet Die Polizei tat ihr Mögliches und kisch. Und sie zwangen nun bloß deren Erfin- bat, für den kommenden Samstag, sie, sich auszuziehen. dung, um sich so vom neun Feuerwehren zu Hilfe und die „Ich dachte, ich müss- Schrecken des Fakti-

Sektion Säntis des Schweizer Alpen- te sterben“, sagte Elvira PRESS ZÜRICH / DPA KEYSTONE schen zu befreien.“ Clubs, 230 Leute. B. den Polizisten. Kellnerin Elvira B. Erwin Koch

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FAMILIENPLANUNG Das Wunschkind Darf man Menschen nach Maß produzieren? Eine britische Familie will im Reagenzglas genau das Kind zeugen, das mit seinen Stammzellen einen kranken Sohn retten kann. Von a

as neue Kind wird als Klümpchen beginnen im Labor einer Privat- Dklinik in Nottingham. Der Arzt wird ihm Zellen entnehmen, ihm und den anderen Embryonen, die er im Rea- genzglas produziert hat aus dem Samen Raj Hashmis und den Eiern seiner Frau. Er wird die Zellen genetisch testen las- sen und das künftige Kind auswählen, das am besten passt für den gewünsch- ten Job. Er wird es Shahana Hashmi in die Gebärmutter pflanzen und hoffen, dass es wächst und die neun Monate übersteht. Es wird ein Wunschkind sein, wie es bis- her in Europa noch keines gab. Es soll das Leben seines Bruders retten, der jetzt drei Jahre alt ist und der bald sterben wird, wenn das neue Kind ihm nicht hilft. Eine seltsame Zukunft. Eine seltsame Familie überhaupt. Erst vier Kinder, dar- unter eines mit einer schweren erblichen Krankheit, die das Blut verzehrt. Dann ein fünftes, das den kranken Bruder retten soll, aber nicht kann. Jetzt sollen es sechs Kinder werden, das sechste aus dem Reagenzglas, und in einem Reihenhaus-Wohnzimmer im nord- englischen Leeds sitzt Shahana Hashmi und kämpft darum, dass sie das tun darf. Sie kämpft darum, den Vorgang normal zu finden, kämpft gegen Kritiker, „wie können die nur? Wie kann irgendjemand uns kritisieren für das, was wir tun? Wol- len Sie die Todesstrafe? Finden Sie das richtig? Wollen Sie die Todesstrafe für Zain?“ Shahana Hashmi ist 37, schmal und eher rastlos, Raj zwei Jahre älter, groß und ruhig. Ein Elternpaar sitzt da in seinem Wohnzimmer und blickt auf ein Knäuel aus Kindern, das sich auf ihrem Teppich balgt, es besteht aus dem einjährigen Haris und dem dreijährigen Zain. Man sieht nicht, im Moment jedenfalls nicht, dass Zain todkrank ist seit seiner Geburt. „Beta-Thalassämie“ heißt sein Leiden, das bedeutet, dass sein Blut nicht in der Lage ist, genug Sauerstoff zu bin- den, weil es ihm an roten Blutkörperchen fehlt. Wenn man Zains Körper sich selbst überließe, würde der Junge nicht älter als zehn. Weil er regelmäßig Trans- fusionen und Medikamente bekommt, hat er die Chance auf ein paar wenige Jah- re mehr. Patient Zain im Krankenhaus: Regelmäßig Blut tanken, damit er überlebt

100 der spiegel 2/2002 ie warten, sie sind nervös an diesem Andererseits ist da auch Simon Fishel, Sie hat Karriere gemacht, als Wohnungs- SDezember-Tag, der eine Entscheidung der ehrgeizige Klinikchef am privaten verwalterin, mit 17 Männern, die ihr unter- bringen soll für Zains Leben, eine Vor- „Park-Hospital“ in Nottingham, der 1978 stellt waren, und männlichem Sekretär. entscheidung jedenfalls. Die „Human Fer- schon zu dem Team gehörte, das dem Sogar eine Scheidung hat sie sich er- tilisation and Embryology Authority“ ersten Retortenbaby Louise Brown auf die laubt, nach kurzer, früher Ehe, zwei Kin- (HFEA) wird ihr Votum abgeben, das ist Welt half. Er hat sich zum Fürsprecher der hatte sie da schon, Neesa und Amil. die Aufsichtsbehörde, die zuständig ist für der Hashmis gemacht, hat den Antrag Dann lief ihr Raj über den Weg, Ge- den Umgang mit künstlich erzeugten Em- gestellt, will die künstliche Befruchtung schäftsmann aus gutem Hause, stattlich, bryonen. Im Auftrag der Regierung wird übernehmen, will den passenden Embryo gut aussehend, aber leider, so sah es ein sie darüber urteilen, ob das moralisch finden und verpflanzen. Den Hashmis Teil der Verwandtschaft wenigstens, war vertretbar und damit legal ist, was die nicht zu helfen, sagt er, sei ein „ethisches er kein Sohn einer pakistanischen Muslim- Hashmis zur Rettung ihres Sohns vor- Versagen“. Familie, sondern ein indischstämmiger haben. Sikh. Raj und Shahana war das egal. Sie „Er braucht passendes Knochenmark. Der Junge wird sterben, haben geheiratet, sie wollten Kinder. Und Oder Stammzellen“, sagt Raj Hashmi; sie kannten das hässliche Wort „Beta- wachsam sitzt er seiner Frau gegenüber, er wenn man seinen Thalassämie“: In vielen Mittelmeerländern sagt nicht viel, er hat den dunklen Blick Körper sich selbst überlässt ist die Krankheit verbreitet, auf Zypern der Verachtung für jene, die seine Pläne vor allem, aber in Asien eben auch. kritisieren: „Es ist vielleicht ein bisschen Und es gibt Shahana Hashmi, und die Shahana wusste, dass sie die Anlage viel verlangt, dass die Leute verstehen, was ist nicht der Typ, der darauf wartet, dass das dafür hatte, aber solange Raj frei davon so eine Krankheit bedeutet. Aber wir ver- Schicksal oder die Politik entscheiden, wie war, konnte ja nichts passieren, sagten die stehen es schon.“ ihr Leben verläuft. Pakistanischer Abstam- Ärzte. Raj ließ sich testen, 1997, in einem Was sie wollen, sagt Shahana Hashmi, ist mung ist sie und muslimischen Glaubens, staatlichen Labor. „Negativ“, lautete der die „Selektion“. Sie wollen die Erlaubnis, aber keine dieser strengen, den Traditionen Befund. Amaan wurde geboren, er ist jetzt dass ihre Reagenzglas-Embryonen getestet unterworfenen Frauen, wie man sie in den viereinhalb und gesund. werden, Präimplantationsdiagnostik (PID) pakistanischen Vierteln Englands oft sieht. Dann kam Zain, am zweiten Weih- heißt das Verfahren und ist in Großbritan- Sie trägt kein Kopftuch. Sie hat studiert. nachtsfeiertag 1998. Ein hübsches Baby, ge- nien, anders als in Deutsch- rade sieben Pfund schwer, land, auch erlaubt. Aber bis- aber es ging ihm schlecht. her durfte man es nur an- Ein paar Stunden nach der wenden, um genetisch kran- Geburt fing er an, sich zu er- ke Embryonen vor dem Ein- brechen, und hörte nicht pflanzen auszusondern. Die mehr auf. Er hatte keinen Hashmis wollen mehr. Hunger. Er bekam Pusteln Das neue Kind soll ja im Gesicht. Haut und Au- nicht nur danach ausgesucht gen hatten einen Gelbstich, werden, dass ihm die Tha- Gelbsucht diagnostizierten lassämie erspart bleibt. Es die Ärzte, aber das allein soll eines sein, dessen Ge- war es nicht. Er war drei Mo- webe perfekt zum kranken nate alt, da krümmte er sich Bruder passt. Mit dem Blut unter Schmerzen, und we- aus seiner Nabelschnur, mit nig später brachten Kran- seinen Stammzellen, die kenhausärzte den Befund man dort reichlich findet, an, der doch eigentlich nicht soll es dafür sorgen, dass wahr sein konnte: Beta-Tha- Zain überlebt. lassämie. Es gibt Aufruhr deswegen „Er braucht einen Kno- in Großbritannien, seit die chenmarkspender“, sagten Öffentlichkeit im Juli von die Mediziner. „Suchen Sie. den Plänen der Hashmis Vielleicht finden Sie jeman- erfuhr. den in der Familie.“ Klar ha- Robert Winston hat sehr ben sie testen lassen, jeden, deutlich seine Meinung den sie überreden konnten, kundgetan, ein prominen- aber es war niemand dabei, ter Londoner Mediziner der in Frage kam. Und in der und Reproduktionsspezia- Verwandtschaft gab es Leu- list: „Entwürdigend“ nennt te, die nicht mitmachen er den geplanten Vorgang. wollten: „Da seht ihr es. Das Ein Kind werde da er- konnte ja nicht gut gehen“, schaffen, das nicht wie ein sagten die, und dass die Mensch erwünscht, sondern Krankheit des Sohnes eine „wie eine Ware“ sei. Strafe Gottes sei. Sie hatten Lebensschützer haben ja immer schon gewusst, sich zu Wort gemeldet, die dass kein Segen ruhe auf Gruppe „Life“ beispielswei- dieser Ehe zwischen einer se, die von einem „Desi- Muslimin und einem Sikh. gnerbaby“ spricht, von ei- In den Spenderlisten fand

nem „Ersatzteillieferanten“ OKAPIA sich niemand, alle Aufrufe für den kranken Zain. Eizelle bei der Befruchtung: Suche nach dem perfekten Kind waren vergebens, und weil

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überhaupt so wenige Men- ne Chancen, dass er völlig schen aus ethnischen Min- gesund wird, bei mehr als 90 derheiten registriert waren, Prozent. Diese Stammzellen hat Shahana nun selbst eine aus der Nabelschnur sind Hilfsorganisation gegründet, besser verträglich als Kno- die speziell dort um Spen- chenmarksspenden von Er- der wirbt: „Zain’s Bone wachsenen, sie werden Marrow Foundation“. Im- Zains Knochenmark erset- merhin 4000 Leute haben zen und gutes Blut bilden sich dort eintragen lassen. können, wie bei jedem an- Aber noch immer ist nie- deren gesunden Menschen mand Passendes für Zain da- auch. bei. Auch Haris nicht, Haris, Aber ein Restrisiko bleibt, der gezeugt wurde, um sei- dass die Spende nicht aus- nen Bruder zu retten. Aber reicht. Dass Zain später dann konnte er es nicht. doch noch Knochenmark braucht, das das neue Kind n einem Wohnzimmer in also spenden müsste, viel- ILeeds spielt der dreijähri- leicht immer wieder spen- ge Zain, der Hilfe braucht, den müsste. Lange, bevor mit dem einjährigen Haris, man es fragen könnte, wür- der seine Existenz der de es zur Überlebenskrücke Krankheit des Bruders ver- für Zain. dankt. In diesem Wohnzim- Es gilt die Ansprüche von mer nimmt Shahana Hashmi Haris, die Ansprüche des ihren Jüngsten in den Arm, neuen Babys zu bedenken, „komm, Haris, mein Klei- und Shahana versichert ner“, sie wiegt ihn, „wir natürlich, das werde man mussten etwas tun, also ha- tun: „Wir werden es lieben ben wir das getan. Weil es wie die anderen. Und oben- sonst nichts zu tun gab. Nur drein ist es ein Geschenk.“ das konnte man machen: Und es gibt ja auch Zains noch ein Kind.“ Ansprüche, es gibt die Lei- Damals, vor zwei Jahren, den dieses Jungen, der auf wussten sie noch nicht viel einmal viel blasser wirkt, von PID. Also wurde Haris müde plötzlich. Mittag ist es, auf natürliche Weise gezeugt und er sieht aus, als habe und ausgetragen und gebo- ihm jemand alle Energie ab- ren, und es war ein Spiel mit gesaugt. dem Glück. Er hätte die Er packt sein Kissen, Krankheit erben können – packt sich damit aufs Sofa, er bekam sie nicht. Er war er kann nicht mehr. Das

gesund, aber schon in der HANSON / ARENA IMAGES STEVE kommt jetzt oft vor, man 12. Schwangerschaftswoche Mutter Hashmi, Sohn Haris: Als Retter gezeugt merkt es, die letzte Blut- hatten sie es erfahren: dass transfusion ist schon drei er kein Retter sei. Dass sein Gewebe nicht auf dem Schulhof quälen, wenn sich her- Wochen her. Und Raj Hashmi, Manager zu Zain passt. umspricht, wer er ist? bei British Telecom, erfolgreich und bis vor In ihrem Wohnzimmer in Leeds umarmt Und das neue Baby, wird es sagen: kurzem noch in dem Glauben, dass die Shahana Hashmi ihren Sohn Haris und sagt, „Was bin ich eigentlich, einfach ein Welt meistens funktioniert, wie man sie „wir hätten ihn abtreiben können“, sie strei- Mensch oder eine medizinische Sensa- haben will, Raj blickt müde auf seinen chelt ihn und sagt, dass sie darüber nach- tion?“ Wie Schwarze Kunst klingt das, müden Sohn und sagt: „Was glauben Sie? gedacht hatten, sehr darüber nachgedacht, wie Hexenzauber, wenn man seine Ge- Können Sie sich vorstellen, wie Zain sich ob er überhaupt geboren werden sollte, schichte Kindern erzählt: „Man nehme fühlt? Ich weiß, wie das wehtut, was wir oder Platz machen, im Bauch seiner Mutter, die Nabelschnur eines neugeborenen mit ihm machen. Ich habe es ausprobiert.“ für den nächsten Versuch. Sie sagt: „Wir Säuglings“. Wird es für die anderen je- Vor ein paar Monaten hat er getestet, haben es dann eben doch nicht getan.“ mand Normales sein können, ein unbe- wie sich das anfühlt, wenn eine Spritze ins Hat er gespürt, dass seine Eltern ent- schwertes Kind? Es wird Fragen zu lösen Fleisch sticht und eine Nacht lang darin täuscht waren, als er zur Welt kam – ob- haben, wenn es erwachsen ist. Es wird bleibt, so wie das mit Zain an fünf von wohl er ein gesundes, hübsches Baby war? klären müssen, ob es sich in seinem Ur- sieben Tagen geschieht. Wenn der Junge Irgendwann wird er Fragen stellen, spä- sprung als zweckgebundene Existenz schläft, abends nach sieben Uhr, dann ter dann, wenn er zu begreifen beginnt, begreift, mit einem „Ich“ als bloßem Ne- schleicht jemand nach oben ins Kinder- wer er ist. „Warum habt ihr mich ge- beneffekt, oder ob es beschließen kann, zimmer, hofft, dass Zain nicht aufwacht, zeugt?“, wird er vielleicht wissen wollen, dass es ein Mensch ist wie die anderen reibt ihm die Betäubungscreme auf den „wolltet ihr mich oder nur mein Blut?“ auch. Leib und bohrt ihm die Injektionsnadel ins Was wird er später denken? „Ihr habt mich Wenn alles gut geht, wenn der erwählte Fleisch. In den Bauch soll das Zeug ei- nur gemacht, damit ihr meine Zellen Embryo die neun Monate in der Gebär- gentlich, aber meistens nehmen sie einen kriegt?“ mutter überlebt, wenn die Transplantation Oberschenkel, weil es dort nicht ganz so Wird er glauben, dass er in den Augen klappt und Zain die Stammzellen gut an- schmerzt. Pro Nacht braucht der Junge der Familie ein Versager sei? Wird man ihn nimmt – dann, sagen die Ärzte, liegen sei- zehn Milliliter Desferal.

102 der spiegel 2/2002 Das Mittel muss langsam in den Körper weit gehen, wie die Wissenschaft uns mein Kind.“ Allah, sagt sie sich, wenn sie gepumpt werden, weil sich der Organismus trägt“. darüber nachdenkt, wird nichts dagegen ha- sonst wehrt. Es dient dazu, das überschüs- Es ist, als müssten in dieser Familie, die- ben. Er wird entscheiden, welches dieser sige Eisen abzubauen, das sich in Leber, ser seltsamen Familie, stellvertretend alle Klümpchen im Reagenzglas welche Eigen- Herz und Drüsen sammelt von den Blut- Fragen gelöst werden, die die moderne schaft haben wird. Er wird bestimmen, wel- transfusionen, die er alle vier Wochen be- Medizin der Menschheit neu stellt: Was ist ches überlebt. kommt; das Medikament soll schützen, aber der Mensch? Wozu gibt es ihn? Darf man Sie geht diesen Weg und ist entschlossen, schwere Nebenwirkungen hat es auch: Seh- bestimmen, als Elternteil, als Mediziner, ihn zu Ende zu gehen, notfalls über den störungen zum Beispiel, und auch beim wer das Recht hat zu existieren? Europäischen Gerichtshof, notfalls mit ei- Gehör kommen Behinderungen öfters vor. ner Fahrt in die USA, wo man, anders als Nachts verliert die Creme an Wirkung, „Wir mussten etwas tun – in Europa, das schon darf, was sie will. dann reißt Zain sich oft die Nadel aus dem Einstweilen wirbt sie und sammelt of- Bein. Sie muss wieder rein, aber das schafft und nur das konnte man machen: fensiv Spenden, denn das staatliche Ge- man nur ein paar Mal, irgendwann kriegt noch ein Kind“ sundheitssystem wird ihre Behandlung ja man es nicht mehr hin, das Kind zu quälen, nicht zahlen. Und um die öffentliche Mei- Raj sagt, er wisse ja, was man da spürt: Zains Mutter verweist darauf, dass die nung kämpft sie auch: Es sei kostengünsti- „Es tut weh beim Reinstechen. Es ist lästig Auswahl von Embryonen im Reagenz- ger für die Staatskasse, erklärt sie, wenn die Nacht über. Und wenn man die Nadel glas doch immer noch besser sei als man sie ihren Kinderwunsch erfüllen las- rauszieht, schmerzt es auch.“ eine Abtreibung, sie kann ja auch nicht se. Die Transfusionen, die täglichen Sprit- Morgens, wenn man die Spritze entfernt, mehr auf viele natürliche Zeugungen zen, das alles zahlt der Staat, das kostet ist das Bett oft voller Blut. Noch fragt der rechnen, mit 37 Jahren hat sie nicht mehr eine Menge, und ein gesunder Zain, argu- Junge nicht, warum macht ihr das mit mir? viel Zeit. mentiert sie, sei ein billigerer Zain. P.GOETGHELUCK / SPL / AGENTUR FOCUS (L.); NOTTINGHAM POST (R.) POST FOCUS / SPL AGENTUR (L.); NOTTINGHAM P.GOETGHELUCK Embryo beim Gentest, Reproduktionsmediziner Fishel: Selektion als ethische Pflicht?

Nur beim Pinkeln schreit er manchmal: Sie sagt auch, es sei ihr wichtig, diesen bends, der Junge liegt im Bett mit sei- „Guck mal, Mama! Schon wieder orange!“ medizinischen Durchbruch zu schaffen, da- Aner Nadel im Leib, er hat sich nicht Sie wollten Neesa dazu bringen, dem mit andere Familien andere kranke Kin- gewehrt, er wehrt sich selten, abends Jungen die Krankenschwester zu spielen, der durchbringen können. Sie findet nicht, kommt die Nachricht von der HFEA, und die 17-jährige Halbschwester, aber die hät- dass sie für sonstige Folgen dieses Durch- die lautet so: „Im Prinzip“, erklärt die te gern alles Mögliche gespendet, Blut und bruchs verantwortlich zu machen sei. Sie Behörde, sei es künftig „gestattet, Gewe- Knochenmark und was es sonst noch so will nicht darüber nachgrübeln, ob ihr neu- beproben in Verbindung mit Präimplan- gibt, aber dem Kleinen die Spritze in den es Baby der Vorläufer einer neuen Sorte tationsdiagnostik durchzuführen“, bei Körper zu bohren, das konnte sie nicht. Mensch sein könnte, die nicht einfach nur „ernsthaften genetischen Krankheiten“ je- Tagsüber, die erste Zeit nach einer lebt, sondern bestimmt ist für einen Zweck. denfalls. Dieses Wort: „gestattet“ – es ist Transfusion jedenfalls, ist er meist ziemlich In der „Sunday Times“ stellte ein Wissen- ein Sieg, Shahana Hashmi empfindet das fit, die Augen blitzen, er hat Hunger, er schaftsautor kürzlich die Frage, ob durch so. Sie jubelt. Ein guter Tag. Ein großarti- spielt. Aber an Tagen wie diesem, jetzt im das Hashmi-Projekt, so schrecklich Zains ger Tag. Dezember, da die Reserven zu Ende gehen, Krankheit auch sein möge, nicht der An- Noch im Januar soll die endgültige Ent- da er müde ist, so furchtbar müde, an sol- fang einer „lukrativen Ersatzteil-Industrie“ scheidung fallen, die Einzelfallprüfung im chen Tagen weiß der Kleine natürlich, dass zu befürchten sei. „Solche Fragen“, sagt Fall Zain Hashmi, und seine Eltern tun es ihm schlecht geht. Und irgendwann wird Shahana, sie sagt es etwas unwillig, „das schon so, als ob sie in ihrem Sinne ausfal- er erfahren, dass er sterben wird, wenn müssen andere klären.“ len müsse. nichts geschieht. Sie spielten Gott, hören die Hashmis und Die Reagenzglas-Embryonen machen sie ihr Doktor von Abtreibungsgegnern. „Wir auf jeden Fall. Man muss die Eier bald a sitzt das Ehepaar Hashmi mit erschaffen nichts. Wir selektieren nur“, sagt ernten, die Mrs. Hashmi noch produzieren Dseinem verzweifelten Einzelfall und Shahana Hashmi und zuckt nicht zusam- kann, „sie ist ja nicht mehr sehr jung“, will in der Forschung eine Tür aufstoßen, men bei diesem Wort, sie denkt nicht an hat Doktor Fishel gewarnt, „viele Eier sie will, so drückt es Shahana aus, „so dessen Geschichte, sie denkt nur: „Ich will werden es nicht mehr sein“. Vielleicht

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hat sie ihren Kindern später viel zu er- zählen. Von jenen Geschwisterklümpchen, beispielsweise, die möglicherweise gesund sind, aber für Zain nicht taugen: Die sol- len im Eisschrank der Klinik in Nottingham lagern, damit irgendjemand sie später adoptiert. Sie sagt, sie glaube an Offenheit, aber wie weit wird sie gehen? Wird sie von ihrer Abtreibung reden? Von jenem Kind, das die Hashmis gleich nach Haris bekom-

Die überzähligen Embryonen werden im Eisschrank lagern, bis jemand sie adoptiert

men wollten, ein natürlich gezeugtes wie Haris, nur leider war es krank, so wie Zain? Sie hat die Schwangerschaft beendet, acht Monate ist das jetzt her. Soll Zain das wis- sen? Muss das sein? Diese Entscheidungen über Leben und Nicht-Leben – wie kann man die erklä- ren? Für Zain, das geborene kranke Kind, tut sie alles. Das andere durfte nicht ge- boren werden, weil es dieselbe Krankheit hatte wie er.

DAVID PARRY DAVID Vielleicht wird Zain eines Tages fragen, Familie Hashmi: „Vielleicht ist es viel verlangt, dass die Leute unsere Lage verstehen“ ob seine Eltern ihn wirklich haben woll- ten, ihn, das Kind mit Thalassämie. Und sechs, vielleicht acht Embryonen werden das neue Baby auch. Die Kinder sollen die was diese Klage eigentlich sollte, die sie sie kriegen, Fishel wird die Proben zum Akten lesen, später, und Shahana hofft, zurzeit gerade vorbereiten. Gegen das Test verschicken, aber es ist nicht sicher, dass es Haris trösten wird, wenn man ihm staatliche Krankenhauslabor wollen sie dass ein passendes Kind dabei sein wird. sagen kann: „Deine Nabelschnur haben vorgehen, das versagt hat im Jahr 1997, Die Chancen stehen 1:3. Und dieses Kind wir gespendet. Es gibt sicher irgendwo ein das Raj Hashmi als Thalassämie-negativ muss erst noch die Zeit bis zur Geburt anderes Kind, das dir sein Leben ver- getestet hat, und er hatte die Anlage da- überstehen. dankt.“ zu doch. Dieses Labor wollen sie zur Wenn – dann wird ein paar Monate spä- Ein Buch mit Bildern vom menschlichen Rechenschaft ziehen, im Namen ihres ter der junge Zain in die Klinik kommen, Körper haben sie gekauft, mit Knochen- Sohnes. damit sein Körper die Blut bildenden marksbildern drin, und Zain blättert oft Vielleicht wird Zain das eines Tages Stammzellen seines Bruders übernimmt. darin, Shahana glaubt, er sei „sehr inter- nicht als Fürsorge verstehen. Vielleicht Raj will die Operation auf Video aufzeich- essiert“. Alles soll er einmal wissen, sagt wird er fragen: „Wie? Ihr habt geklagt da- nen, Zain soll alles wissen, und Haris und sie, und wenn sie meint, was sie sagt, dann gegen, dass es mich gibt?“ ™ Junge, komm bald wieder Ortstermin: Von Wilhelmshaven aus in den Krieg – aber wohin und gegen wen?

er Tag, an dem die Bundesmarine fehlshaber der Flotte, Vizeadmiral Lutz vom Jemen nach Mogadischu segelt, und den Kampf gegen den Terror auf- Feldt. Ringsum warten die Familien und unter ein paar Teppichen finden die deut- Dnimmt, beginnt mit einer Lieferung Freunde der Soldaten und machen Bilder. schen Marinesoldaten Osama Bin Laden. Kartoffeln. Ein grüner Laster vom Groß- Es regnet nicht mehr. Es könnte aber auch sein, dass der Ma- markt steht an der Ostmole in Wilhelms- Der Vizeadmiral kommt gleich zur Sa- rineverband so nutzlos vor sich hin gam- haven, Säcke werden entladen, erst che und sagt den Soldaten, dass dies ein melt wie einst die deutschen Truppen im Kartoffeln, dann Zwiebeln. An der Lan- Einsatz ist, „der Sie aus Nordeuropa und Wüstensand von Belet Huen in Somalia. dungsbrücke liegen links die Fregatte seinem Winter in das Arabische Meer mit Dass man wehrhaft im Arabischen Meer „Niedersachsen“ und rechts die Fregatte seinen für uns ungewohnten Klimaver- dümpelt und hin und wieder auf Landgang „Emden“, die bald in See stechen wird. hältnissen führen wird“. Er kündigt un- in Dschibuti zuschaut, wie Einheimische Zwei Grad Celsius, der Wind ist frisch an verhohlen an, dass „das Wetter also ganz für einen Olympiasieg im Marathonlauf diesem 2. Januar, Stärke fünf, graue Wol- sicher in den kommenden Monaten ein trainieren. Mehr ist nämlich nicht los. ken mit einem Gelbstich. Möwen, ein Hub- wichtiger, bestimmender Teil Ihres Lebens Vizeadmiral Feldt hat es schwer mit sei- schrauber. Tannenbäume werden von Bord im Einsatz bleiben“ wird. ner Rede. Er soll seine Jungs aufbauen, geworfen. Es beginnt zu reg- aber er kann ihnen nicht sagen, nen. „Scheiße“, ruft jemand an was ihr Nutzen sein wird. Da Bord der „Emden“. „Scheiße“, geht es den Kollegen vom Heer ruft immer jemand beim Mi- besser. Sie werden bald in Ka- litär, ob es Wasser regnet oder bul für Sicherheit und Frieden Granaten. sorgen. „Wird Zeit, dass wir hier Der Einsatz der Marine ist wegkommen“, kräht ein See- bislang eher ein Symbol für die mann, der mit anderen eine Beflissenheit der Bundesregie- Leiter schleppt. Weg, nur weg rung, den Amerikanern ein tol- hier, raus aus der Kälte, aus ler Freund zu sein. Und ein dem Regen. Aber wohin? Symbol dafür, dass die west- Bis nach Afghanistan, wo bis- liche Welt nicht weiß, wie es lang der Krieg gegen den Terror nach dem Sieg über die Taliban geführt wird, schaffen sie es weitergehen soll im Kampf ge- nicht. Das Land hat keine gen den Terror. Küste. Wohin dann? Aber was heißt schon Kampf?

„Erst mal nach Kreta“, ruft HECKER / DDP (U.) DAVID (O.); JÖRG SARBACH „Das Risiko unserer Reise heu- ein Maat von Bord der „Em- Marinesoldat der Fregatte „Köln“, Freundin: Die Besten der Treuen te nach Wilhelmshaven zum Ab- den“ herunter, „mehr wissen schiednehmen ist unvergleich- wir auch nicht.“ Ans Horn von Afrika, das Zu anderen Themen kann er den Sol- lich viel größer als das des Einsatzes der ist gewiss, aber welcher Staat wird zur Ba- daten leider wenig sagen. „Vieles ist noch Soldaten“, sagt Feldt den Angehörigen. sis? Dschibuti? Somalia? Warm und regen- offen und wird auch noch offen bleiben.“ Wozu dann eine Flotte von drei Fregatten arm ist es überall dort, das immerhin. Bis Zum Beispiel gibt es noch keine „Rules of und fünf Schnellbooten entsenden? zu 1800 deutsche Soldaten werden braun Engagement“. Es steht also nicht fest, wer Wenn der Feind nicht greifbar wird, werden. genau der Feind ist und mit welchen Mit- dann muss man sich eben an den Freunden Die Motoren der „Emden“ dröhnen, ein teln er bekämpft werden darf. messen. Feldt fordert die Soldaten auf, dass Schlepper kommt, es geht gleich los. 3800 Gehört das lange Messer dazu, das sich „wir auch diesmal im Vergleich mit unse- Tonnen verdrängt das Schiff, die Maschi- ein Matrose an Bord der „Köln“ nach Pi- ren Kameraden anderer Marinen eher ein nen leisten 51600 PS. An Bord sind 219 ratenart zwischen die Zähne steckt? Seine Beispiel geben, als uns an ihnen zu orien- Mann, zudem zwei Kampfhubschrauber Freundin auf der Mole macht mit klammen tieren“. So haben die Deutschen immerhin vom Typ „Sea Lynx“, ein 76-Millimeter- Fingern ein Foto. Alle treten fröstelnd von ein Minimalziel: die Besten der Treuen Geschütz, zwei 20-Millimeter-Geschütze einem Bein auf das andere. Wann geht’s werden, die Weltmeister der Nutzlosen. sowie Flugkörper vom Typ „Harpoon“, endlich los in die versprochene Sonne? Feldt ist fertig, die Soldaten marschieren „Sea Sparrow“ und „Ram“. Ein großes, Erst muss Feldt doch noch ein paar Wor- zurück an Bord. Ihre Reihe löst sich bald mächtiges, wehrhaftes Schiff. Aber auf wen te über den Auftrag verlieren: „Ihr Auf- auf, weil die Frauen und Freundinnen soll es schießen, wen soll es einschüchtern? trag konzentriert sich auf ein Aufgaben- ihre Männer herauspflücken und ein letz- Zunächst wird es nur bis zur nächsten spektrum, das von der Kontrolle des See- tes Mal herzen. Als die „Emden“ ablegt, Wilhelmshavener Mole geschleppt, wo verkehrs in festgelegten Seegebieten bis hat der Wind die Wolken vertrieben. Der schon die Fregatte „Köln“ liegt. Eine Grup- zur Sicherung von besonders gefährdeten Himmel ist so blau wie über dem Arabi- pe Marinesoldaten marschiert von Bord, Fahrzeugen reicht.“ Vager geht es nicht. schen Meer und die Sonne so strahlend steht dann stramm auf einer nassen Wiese Der Traum wäre natürlich, dass die „Em- wie in der Ferne. Warum dann noch aus- und hört eine Abschiedsrede vom Be- den“ eine arabische Dau aufbringt, die laufen? Dirk Kurbjuweit

der spiegel 2/2002 105 Sport

Testfahrer Wurz im McLaren-Mercedes (in Monza)

WOLFGANG WILHELM

FORMEL 1 Sherpas im Kreisverkehr Nach knapp drei Monaten Fahrverbot beginnt der Grand-Prix-Zirkus diese Woche mit den Testläufen für die nächste Saison. Bis zur Premiere Anfang März müssen die neu entwickelten Rennwagen schnell und zuverlässig gemacht werden – eine Materialschlacht an den Grenzen der Physik.

lexander Wurz ist der meistbe- in Melbourne nicht mal acht Wochen ver- cher Techniker wird bis zum Grand-Prix- schäftigte Fahrer der Formel 1. bleiben, um die neu entwickelten Renn- Auftakt nicht mehr nach Hause kommen. AMehr als 14 000 Kilometer hat er autos schnell und zuverlässig zu machen, „Bis Ende Februar“, glaubt Mercedes-Mo- voriges Jahr in McLaren-Mercedes-Renn- wird das eingesparte Geld nun mit Vollgas torsportchef Norbert Haug, „wird es kei- wagen zurückgelegt. An Grand-Prix-Wo- hinausgeblasen. „Das werden die stressigs- nen Tag geben, an dem sich nicht irgendwo chenenden waren seine Fähigkeiten am ten, aber auch interessantesten Wochen ein Formel-1-Rad dreht.“ Selbst wenn die Lenkrad indes nicht gefragt. Da saßen im des Jahres“, sagt Wurz. Einsatzautos schon im Cargo-Jumbo nach Silberpfeil die Stars: Mika Häkkinen und Der Druck auf die Teams ist enorm. Nie Australien unterwegs seien, prophezeit der . zuvor haben die Ingenieure ihre Hightech- Schwabe, „wird weiter getestet“. Denn Wurz, 27, hat den eigentümlichen Ideen so komprimiert ausprobieren müs- Schließlich gehört es schon länger zum Job eines Testpiloten. Und das bedeutet: sen. Und nie zuvor nahmen mehr Auto- teuren Brauch der Rennställe, dass sie se- keine Gegner, keine Zweikämpfe, keine mobilkonzerne den Kampf um die Formel- parate Testcrews unterhalten – mit eigenen Überholmanöver. Kein Publikum, kein 1-Weltmeisterschaft auf: Mit der Rückkehr Autos, eigenen Mechanikern und eigenem Ruhm, keine Niederlagen. Kein Sport. Nur von Renault und dem Einstieg von Toyota Fahrer. Während die Rennmannschaften Kilometer. sind nunmehr sieben Werke am Start. von März bis Oktober alle 14 Tage einen Von dieser Woche an ist der Österreicher Die Folgen der globalen Marketing- Grand Prix bestreiten, ziehen die 30 bis wieder ausgebucht. Das fast dreimonatige schlacht werden dieser Tage auf dem Circuit 50 Mitarbeiter starken Versuchsabteilungen Testverbot, auf das sich die Formel-1- de Catalunya in Barcelona sichtbar: Die in ihrem eigenen Takt von Strecke zu Teamchefs zwecks Kostendämpfung erst- großen Teams sind zum Testbeginn am 7. Ja- Strecke: ein Paralleluniversum, der be- mals verständigt hatten, ist vorüber. Und nuar mit jeweils drei Rennwagen angereist, rühmten Showtruppe immer ein wenig vor- weil bis zur Saisonpremiere Anfang März das Personal wurde aufgestockt, und man- aus. Denn alles, was in den Laboratorien

106 der spiegel 2/2002 Lehrfahrten Testkilometer mit Formel-1- Quelle: Rennwagen 2001 „Sport Auto“

1. Alexander Wurz Fahrer km McLaren-Mercedes ohne 2. Luca Badoer Grand- Ferrari km 3. Marc Gené Prix- BMW-Williams Einsatz km 4. Pedro de la Rosa Arrows, Prost, Jaguar km 5. BAR km 6. Juan-Pablo Montoya BMW-Williams km 7. Ferrari km 8. Prost, Jordan km WOLFGANG WILHELM WOLFGANG 9. Rubens Barrichello McLaren-Testcrew: Ein Paralleluniversum, der Showtruppe immer voraus Ferrari km 10. lautet ein Gesetz des Rennsports, ist bierte Alexander Wurz einen neuen Ent- Jordan km …… … nur durch Fahren zu ersetzen. wurf aus – mit dem David Coulthard beim 14. Nick Heidfeld Und wer sein Auto während der dritten Rennen prompt zum Sieg fuhr. Sauber km Saison nicht kontinuierlich weiter- Für komplexere Bauteile sind die Vor- …… … entwickelt, so heißt ein anderer laufzeiten deutlich länger. Bereits im ver- 16. Ralf Schumacher Lehrsatz, der wird in der Startauf- gangenen August testete Wurz in Monza BMW-Williams km …… … stellung rasch nach hinten durch- Getriebeteile des McLaren Jahrgang 2002, 24. Heinz-Harald Frentzen gereicht. Das Wettrüsten im Grenz- der erst am übernächsten Samstag zur Jordan, Prost km bereich der Physik hat mit dem Jungfernfahrt starten wird und Ferrari den Dauerduell Ferrari gegen McLaren- WM-Titel wieder abjagen soll. Mercedes längst absurde Formen an- Nur zwei Teams, Toyota und BAR, ha- der Formel-1-Industrie ersonnen und er- genommen. Doch Geld spielt fast keine ben ihre Modelle für diese Saison schon schaffen wird, muss sich vor dem Renn- Rolle mehr, seit Firmen wie Daimler- fertig. Alle anderen präsentieren ihre Krea- einsatz erst bei Probefahrten bewähren – Chrysler, BMW oder Ford den Grand-Prix- tionen in den kommenden Wochen – und und landet nicht selten auf dem Sondermüll. Zirkus als jene Bühne entdeckt haben, auf behelfen sich bis dahin bei den Tests mit Von , dem renommierten der Marktanteile zu erobern sind. Über Vorjahres- oder Interimsautos, in denen Ferrari-Konstrukteur, wird berichtet, dass eine Milliarde Euro hat Toyota für seine neue Komponenten wie Motor oder Auf- er es auf der Suche nach Sekundenbruch- ersten drei Formel-1-Jahre veranschlagt. hängungsteile schon eingebaut sind. teilen in einem Jahr mal auf 45 verschiede- Ein neuer Schub für die Kostenlawine. So werden die Frontberichte von den ne Frontflügel gebracht hat. Jede Variante Seit 1993 hat McLaren seinen Testaufwand ersten Fahrten, wechselweise aus Barcelo- versprach am Computer einen Zeitgewinn, auf fast 40000 Kilometer in 90 Tagen pro na und Valencia, auch kaum zur Standort- jede musste im Windkanal ihre Tauglichkeit Jahr verdoppelt, Ferrari und Williams mel- bestimmung dienen: Die kleineren Teams, beweisen, doch keine bestand die Praxis den ähnliche Umfänge. die ihre Sponsoren-Akquise noch nicht ab- auf Asphalt. Zwar bedienen sich Ingenieu- Den Stammpiloten ist das nicht mehr geschlossen haben, versuchen mit fabulö- re wie Byrne modernster Rechner, die fast zuzumuten. „Wenn so einer das volle Test- sen Rundenzeiten Schlagzeilen zu machen alles simulieren können. Doch Fahren, so programm abwickeln müsste“, sagt Patrick und sich als Geheimfavoriten zu stilisieren Head, Technikchef im BMW- – was mit einem untergewichtigen Auto Williams-Team, „wäre er im nicht allzu schwierig ist. Die großen Teams Mai ausgebrannt.“ konzentrieren sich auf den ersten Grand Bei den großen Rennstäl- Prix. „Was bis dahin passiert“, sagt Welt- len sitzen deshalb manche meister Michael Schumacher, „ist mir Testfahrer häufiger im Cock- wurscht.“ Dass sein Ferrari anfänglich von pit als ihre prominenten Kol- Kinderkrankheiten gebremst werden könn- legen. Ihr Geschäft ist, te, hält der gelernte Kfz-Mechaniker für • das Fahrzeug für das fol- normal: „Im Prinzip ist ein Formel-1-Auto gende Rennen zu trimmen, doch ein kompletter Prototyp.“ • langfristig technische Neu- Und weil mit jedem Entwicklungsschritt heiten zu erproben, übers Jahr neue Krankheiten dräuen, hat • kurzfristig auf Defekte Ferrari eine zusätzliche Planstelle geschaf- oder Schwächen beim letz- fen: Neben dem Italiener Luca Badoer, der ten Rennen zu reagieren. voriges Jahr 13963 Kilometer zum Wohle So erwies sich etwa der Schumachers absolvierte, verstärkt der Frontflügel des McLaren im ersten WM-Lauf des Vorjah- * Mit Michael Schumacher, Teamchef und Schu-

BAZUKI / REUTERS MUHAMMAD res als nicht konkurrenzfähig. macher-Manager Willi Weber nach dem WM-Sieg am Ferrari-Testpilot Badoer (hinten)*: Absurdes Wettrüsten Gut zwei Wochen später pro- 22. Oktober 2000 in Sepang (Malaysia).

der spiegel 2/2002 107 Sport WOLFGANG WILHELM (L.); STEVE MITCHELL / EMPICS (R.) MITCHELL (L.); STEVE WILHELM WOLFGANG Testpilot Wurz (mit McLaren-Ingenieur), BAR-Rennfahrer Panis (Mitte)*: „In höheren Sphären bewegen“

Brasilianer Luciano Burti als vierter Werks- ihren Fahrstil auf das Auto ein, die ande- Doch für Rennfahrer wie Wurz, der im fahrer die Test-Equipe aus Maranello. ren stellen das Auto auf ihren Fahrstil ein. Benetton-Team nach vier Jahren und 52 Der Zwang zum Perfektionismus reißt Wurz kann sich keine Eigenheiten leisten. WM-Läufen keine Zukunft mehr hatte, alle mit: Insider erwarten, dass 2002 die „Ich musste meinen Stil aufgeben, um als kam die Offerte von McLaren einem Sti- ersten Teams gleichzeitig auf zwei Test- Teammitglied zu funktionieren.“ pendium in Harvard gleich. Sein Vorgänger strecken ins Manöver ziehen werden. Da hilft es zwar, dass die Techniker na- Panis hatte gar einen gut dotierten Job als McLaren-Mercedes hat für einige Tage das hezu alle Funktionen der Rennwagen auf Stammfahrer bei einem Mittelklasseteam Rollfeld eines englischen Provinzflugha- ihren Monitoren abrufen können, insge- abgelehnt: „Ich wollte wissen, was ich leis- fens angemietet. Dort wird Darren Turner, samt 2500 Parameter. „Doch bei der Feh- ten kann, wenn ich im besten Auto sitze.“ der vierte Mann im Rennstall, am Steuer leranalyse kommt es immer noch auf den Als McLaren-Testfahrer stieß der Fran- sitzen. Es gilt, auf den langen Geraden Da- Fahrer an“, sagt Wurz. „Wenn ich ein über- zose dann in Geschwindigkeitsbereiche, die ten aus dem Windkanal mit dem Wider- steuerndes Auto habe, dann fahre ich nicht er nicht kannte. Er sah, dass er von Welt- stand britischer Landluft zu vergleichen. so, dass das Problem auftaucht, sondern meister Häkkinen nicht weit entfernt war: Die Bosse von McLaren-Mercedes wa- ändere meine Fahrweise so, dass ich das „Das gab mir wieder Selbstvertrauen.“ Wie ren es auch, die 1999 bei der Rekrutierung Problem nicht habe. Die Sensoren kriegen nach einer Frischzellenkur für die Psyche des Testpersonals neue Maßstäbe setzten: das nicht mit. Also muss ich es mündlich kehrte Panis ins Grand-Prix-Geschehen Sie verpflichteten Olivier Panis, der mit 91 vortragen.“ zurück – und war 2001 im BAR-Rennstall Grand-Prix-Einsätzen und einem Sieg Das ist vor allem bei der dieses Jahr des öfteren schneller als sein Teamgefähr- mehr Meriten vorzuweisen hatte als die so bedeutenden Reifenentwicklung wich- te, Ex-Weltmeister Jacques Villeneuve. meisten Stammpiloten der Konkurrenz. tig. Denn McLaren-Mercedes hat den Von so einem Comeback träumen sie Das englisch-deutsche Team hatte er- Partner gewechselt, von Bridgestone zu alle, die Sherpas im Kreisverkehr: Wurz kannt, dass junge Talente, die bislang gern Michelin. bei McLaren, Badoer (50 Grand-Prix- als Tester angeheuert wurden, oft sinnlee- Die optimale Laufflächenmischung zu Einsätze) bei Ferrari, der Spanier Marc re Runden drehen. Arrivierte Formel-1-Pi- finden ist heikel: Dazu werden zunächst Gené (33 Rennen) bei Williams und künf- loten verlangen zwar siebenstellige Dollar- Runden gedreht mit dem bislang besten tig der Spanier (17 Ren- Honorare; doch dafür konnte Panis das Reifen. Dann wird eine erste Neuentwick- nen) bei Renault. „Ich werde technisch und Auto mit sicherer Hand am Limit balancie- lung aufgezogen und die Zeit gemessen. fahrerisch gestärkt aus den beiden Jahren ren – und den Ingenieuren anschließend Es folgt die zweite Neuentwicklung. Dann bei McLaren herausgehen“, glaubt Wurz, präzise Beobachtungen mitteilen. wird wieder der Ausgangsreifen montiert: „ich werde gelernt haben, mich in höheren Auch die Stammfahrer Häkkinen und Back-to-back heißt die Methode. Sphären zu bewegen.“ Coulthard waren über die Kompetenz des Sie fußt auf der Erkenntnis, dass sich Bei jedem Grand-Prix-Wochenende hat Kollegen erfreut. Denn oft wurden sie am der Asphalt durch Gummiabrieb oder Wet- der Österreicher Präsenzpflicht. Er Rennwochenende mit technischen Neu- tereinflüsse ständig verändert. In Monza schwärmt davon, wie es sei, bei allen Mee- heiten konfrontiert, die nur der Franzose etwa rechnet man vormittags zu jeder hal- tings und Briefings Vorschläge einzubrin- zuvor ausprobiert hatte. „Sie mussten mir ben Stunde mit einem Temperaturanstieg gen, das komplette Bild zu sehen, die Kon- vertrauen“, erinnert sich Panis. von zwei Grad. „Nur wenn man immer kurrenz an der Strecke zu beobachten und Zu ambitioniert sollten Testfahrer jedoch wieder zur Ausgangsmischung zurück- deren Strategie auszuspionieren: „Mir nicht sein. So achten die Ingenieure darauf, kehrt“, sagt Wurz, „weiß man, ob das Auto macht es nichts aus, Zuträger zu sein.“ das Auto nicht auf die Eigenarten des Do- schneller geworden ist oder die Strecke.“ Ein frommer Selbstbetrug. Denn als mestiken auszurichten. „Wenn wir alles auf Selbst Spitzenkräfte im Formel-1-Ge- Häkkinen seinen Rücktritt bekannt gab meinen Stil abstimmen“, sagt Alexander werbe, die ansonsten für ihre Arbeitsmo- und ein finnischer Wunderknabe namens Wurz, der Panis nach einem Jahr ablöste, ral berühmt sind, verzichten gern auf der- Kimi Räikkönen im Herbst zu dessen „dann kann es sein, dass es den Grand- lei Mühsal. „Wenn man mich fragt, ob ich Nachfolger berufen wurde, fühlte sich Prix-Piloten nicht mehr hilft.“ Jeder Renn- lieber teste oder Fußball spiele“, gesteht Wurz schmählich übergangen. fahrer besitzt seine Bewegungsmuster, wie Champion Schumacher, „muss ich sagen: In einem Augenblick von Nachdenk- er aufs Gas tritt, einlenkt oder die Bremse Fußball macht mehr Spaß.“ lichkeit stellte er sich neulich die Frage, ob bedient – so wie jeder Tennisprofi sich ei- er überhaupt noch „Sportler“ sei, „oder nen individuellen Aufschlag angewöhnt hat. nur Testfahrer?“ Er fühle sich, befand er * Mit Teamkollege Jacques Villeneuve und Teamchef Grundsätzlich unterteilt Wurz Formel-1- David Richards bei der Präsentation des neuen Autos am dann, „wie der Reservetorwart bei einer Piloten in zwei Lager: Die einen stellen 18. Dezember 2001 in Brackley (England). Fußball-WM“. Alfred Weinzierl

108 der spiegel 2/2002 Vor allem das beliebte „Bullriding“ ten. Auf Anzeigentafeln leuchtet der Slo- OLYMPISCHE WINTERSPIELE scheint für die bevorzugten Rassen Texas gan: „Stop Olympic Rodeo!“ Longhorn und Hereford eine einzige Tor- Mit derlei Attacken hatten die Pro- Hals- und tur. Weil die zur Unterfamilie der Bovinen grammgestalter am großen Salzsee nicht zählenden Tiere von Natur aus eher gemüt- gerechnet. Dabei sind Tierschützer wie liche Wesen sind, werden sie mittels Elek- Mechthild Mench berüchtigt für ihre Verve. Beinbruch troschocks aggressiv gemacht. Nicht min- Im April düpierte sie bei der Aktionärs- der schmerzhaft ist jene Variante, bei der versammlung in Berlin die Vorstandsriege In Salt Lake sollen im Rahmen- die Stiere mit dem so genannten Flanken- von DaimlerChrysler. Weil der Autogigant schutz auf Betriebstemperatur gebracht Rodeos in Amerika sponsert, enterte programm auch fürs Bullenreiten werden: Ein Lederriemen quetscht die Ge- Mench das Podium und hielt eine Brand- Medaillen vergeben werden. Tier- nitalien und bringt die Rinder so zum er- rede. Das Auditorium quittierte den Auf- schützer protestieren gegen den wünschten „Bocken“. tritt mit Applaus. Kampf zwischen Stier und Cowboy. Anfänglich ignorierten die Olympia-Ver- Die Spiele-Macher in der Mormonen- anstalter in Salt Lake City die Proteste. stadt wollen die Sache trotzdem durchzie- m die Würde gepeinigter Tiere Doch allmählich droht, nach Bestechungs- hen. Rund 200000 Dollar kostet die kerni- kämpft Mechthild Mench, 40, auf skandal und Immobilienaffäre, neuerlicher ge Wildwest-Sause in der 2600 Zuschauer Ubreiter Front. Ihren Hamster rettete Imageschaden. fassenden Arena. Sämtliche Eintrittskarten die gelernte Dolmetscherin aus einem Ver- Dass sich in Scott Hamilton, 1984 Olym- sind verkauft. Außerdem, sagt T. J. Walker, suchslabor. Die Guppys in ihrem Aquarium piasieger im Eiskunstlauf, eine Ikone des Sprecher des Profiverbandes PRCA, sei entführte sie bei einem Bekannten, der die Fische verhungern lassen wollte. Zuletzt galt die Fürsorge der Münchne- rin allerdings einer weniger handlichen Spezies. „Anti-Corrida“, so heißt die in- ternational tätige Aktionsgruppe, die sie vor zwei Jahren gegründet hat. Corrida heißt auf Spanisch „Stierkampf“. Denn mannigfaltig ist das Leid des Paar- hufers. Und so geriet jüngst gar eine Ver- anstaltung in Menchs Visier, bei der sich eigentlich Menschen quälen: die Olympi- schen Winterspiele in Salt Lake City. Weil sich beim Treffen der Weltjugend traditionsgemäß nicht nur begnadete Kör- per versammeln sollen, sondern auch der Geist gefordert sein möge, werden die sportlichen Wettkämpfe seit eh und je von einem Rahmenprogramm begleitet. Neben Oper und Tanz gehört, je nach Austra- gungsort, auch landestypische Folklore dazu. Den Veranstaltern in Utah fiel nichts Besseres ein als: Rodeo. Geplant haben die Initiatoren einen dreitägigen Wettbewerb zwischen Mata- doren aus Kanada und den USA. Denn dieser Volkssport für Provinzrambos aus dem Mittleren Westen erfreut sich nicht nur großer Beliebtheit beim Publikum – der Sender ESPN überträgt das Spektakel

sogar live. Angeblich offenbart sich in dem PHOTO HUBBELL DAN Duell Cowboy gegen Rindvieh „Amerikas Streitfall Rodeo: „Amerikas Erbe in Reinkultur“ Erbe in Reinkultur“. Weltweit sind Tierschützer wie Mecht- amerikanischen Wintersports der Bewe- Sport nun mal „eine Sache der Betrach- hild Mench auf der Zinne. Mal abgesehen gung anschloss, war ja abzusehen. Bereits tungsweise.“ davon, dass Rodeo eine „pathetische Sei- vor den Spielen 1996 in Atlanta insistierte Das sieht ausgerechnet das Internationa- te des Wilden Westens“ beleuchte, die der sensible Kufenkünstler erfolgreich ge- le Olympische Komitee (IOC) anders. Un- „längst in die Geschichtsbücher“ gehöre, gen das Ritual, bei der Eröffnungsfeier Tau- längst trafen sich Mench und ihre Kampf- sei der Ritt auf dem Bullen auch aus ethi- ben fliegen zu lassen. Die Vögel, so Ha- genossen aus den USA in Lausanne mit dem scher Sicht „schlichtweg untragbar“. miltons Einwand, könnten ins olympische Chef der Medizinischen Kommission des Die Argumente sind schwer von der Feuer geraten und geröstet werden. IOC, Patrick Schamasch, zur Krisensitzung. Hand zu weisen. Die Disziplin „Kälber- Weit mehr Sorge bereiten dem Organi- Der Termin endete mit einem Teilerfolg. fangen“, bei der die Cowboys ihre Kunst- sationskomitee die medienträchtigen Auf- Als Schamasch erfuhr, dass an die sieg- fertigkeit im Lassowerfen demonstrieren, tritte der Aktivisten. So trübt seit Wochen reichen Cowboys genauso wie an die endet für die gehetzen Kreaturen regel- der so genannte Tiger Truck der US-Tier- Sportler Medaillen verliehen werden sol- mäßig mit Frakturen an den Läufen. Beim schutzgruppe Shark die Stimmung beim len, erteilte er diesem Vorhaben, besorgt „Stierringen“ brechen die Jäger, meist gut olympischen Fackellauf. Am Aufbau des um den Ruf der olympischen Symbole, dotierte Profis, den Tieren nicht selten so- Propagandamobils schockt eine Video- schon mal eine Absage: „Das werden wir gar den Hals. Show Besucher mit Rodeo-Grausamkei- nicht mitmachen.“ Gerhard Pfeil

der spiegel 2/2002 109 Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

UKRAINE Waffen für die Taliban? erblüffende Entdeckun- Vgen wollen Späher des russischen Aufklärungs- dienstes SWR, teilweise ge- tarnt als Katastrophenhel- fer, bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan gemacht ha- ben: Die Taliban sollen in großem Umfang Rüstungs- güter aus der Ukraine be- zogen haben. Russische Sicherheitsexperten ver- dächtigen den ukrainischen VICTOR POBEDINSKY / AP VICTOR Medienmagnaten Wadim / AP B. K. BANGASH Rabinowitsch, gemeinsam Rabinowitsch, russische Schützenpanzer der Taliban (August 2001) mit führenden Geheim- dienstlern militärische Ausrüstung über Pakistan an die Tali- ze im Einsatz, erinnert sich, dass bereits 1995 in abgehörten ban geliefert zu haben. Mitte der neunziger Jahre habe Rabi- Funksprüchen von Taliban-Kommandeuren Rabinowitsch als nowitsch, der derzeit in Israel lebt, mit dem Chef des ukrai- Vermittler von Kriegsgerät genannt worden sei. Die Ukraine nischen Sicherheitsdienstes Leonid Derkatsch und dessen Sohn hatte dem israelischen Staatsbürger Rabinowitsch – der in sei- Andrej militärisches Gerät an die Taliban vermittelt, so Wik- nem Geburtsland vor allem als umtriebiger Oligarch bekannt tor Iljuchin, Mitglied des Sicherheitsausschusses der Duma in ist – im Juni 1999 wegen dubioser Geschäftspraktiken zunächst Moskau. Die Lieferungen von 150 bis 200 Panzern T-55 und auf fünf Jahre die Einreise verboten, „im Interesse der Si- T-62 an die Taliban seien vom pakistanischen Geheimdienst ISI cherheit des Landes“. Doch schon Ende Juli desselben Jahres besorgt worden, behauptet der Moskauer Militärjournalist hob der Sicherheitsdienst das Verbot wieder auf – womöglich Wlad Schurygin, der gemeinsam mit Iljuchin den Schiebe- wegen guter Beziehungen Rabinowitschs zum damaligen Ge- reien nachging. Danach hätte das Kiewer Staatsunternehmen heimdienstchef Derkatsch. Dessen Sohn Andrej war Rabino- „Ukrspezexport“, für Waffengeschäfte zuständig, eng mit dem witschs Geschäftspartner in der Kiewer Radio- und Fernseh- ukrainischen Geheimdienst zusammengearbeitet. Ein unlängst gesellschaft Ära. nach Moskau geflohener pakistanischer ISI-Offizier habe die Aus dem sicheren Israel, das seine Staatsbürger Ermittlern an- Rüstungshilfe für die Taliban via Ukraine bestätigt. Auch derer Länder nicht ausliefert, hat Rabinowitsch, der alles be- Oberst Wiktor Krjukow, Mitte der neunziger Jahre bei den rus- streitet, die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine in Kiew sischen Grenztruppen an der tadschikisch-afghanischen Gren- aufgefordert, die Vorwürfe gegen ihn zu untersuchen.

CHINA Menschen zweiter Klasse. Die Folge: In China nehmen sich weitaus mehr Kampagne gegen Bäuerinnen das Leben als in ande- ren Ländern, wie die Weltgesund- prügelnde Männer heitsorganisation WHO ermittelte. Unter den 20- bis 34-jährigen Land- ede dritte Frau in China wird in frauen ist Selbstmord mittlerweile Jder Ehe Opfer von körperlicher eine der häufigsten Todesursachen. und psychischer Gewalt: Laut Unter- Geprügelt wird nicht nur in der Un- suchungen der Akademie für Sozial- terschicht: Fast die Hälfte der Täter wissenschaften in Peking sind über hat eine höhere Schulbildung. Die 180 Millionen Chinesinnen betroffen Pekinger Regierung will die häusli- – die Dunkelziffer ist um ein Vielfa- che Gewalt nun mit Propaganda- ches höher, da viele ihr Leid aus kampagnen, TV-Serien, mehr Fami- Scham verheimlichen. Grund für den lienberatung und strengeren Ge- Missbrauch sind wachsender Leis- setzen bekämpfen. Polizisten sollen tungsdruck, Arbeitslosigkeit, Dro- gezwungen werden, gegen schla- gen- und Alkoholkonsum. Zudem ist gende Ehemänner konsequenter es der Partei nicht gelungen, die vor vorzugehen. Bislang werten die

allem auf dem Lande fest verwurzel- / TG SCHÖNLEIN Beamten Gewalt in der Familie nicht te Ansicht auszurotten, Frauen seien Bäuerinnen beim Reispflanzen selten als Kavaliersdelikt.

der spiegel 2/2002 111 Panorama

SCHWEIZ Für Gott und die Stasi pitzel des Ost-Berliner Ministeriums für SStaatssicherheit kundschafteten jahr- zehntelang kirchliche Einrichtungen in der Schweiz und die theologische Fakultät der Universität Zürich aus. So verdingten sich Berliner und Leipziger Theologen bei der Hauptabteilung 20, Unterabteilung 4 (XX/4) des MfS, in deren Aufgabenbereich die Ob- servierung kirchlicher Institutionen und der Kampf gegen „politische Untergrundtätig- keiten“ von Gottesmännern gehörte. Das

AFP / DPA Vordringen der Stasi in die neutrale Eidge- Energieminister Odinga beim Wahlkampf nossenschaft während des Kalten Krieges hat jetzt der evangelisch-reformierte Zür- KENIA cher Theologe und Pfarrer Jürgen Seidel in einer wissenschaftlichen Arbeit erstmals Von Magdeburg zur Präsidentschaftskandidatur minutiös nachgezeichnet. Was bisher in hel- vetischen Kirchenkreisen höchstens ver- n der DDR war er ein viel verspre- Schergen gefoltert wurde und dreimal mutet wurde, belegt Seidel vor allem an- Ichender Student, dann ein Kicker für ins Gefängnis musste, offenbar mit dem hand einschlägiger Dokumente aus der Ber- den 1. FC Magdeburg. Zurück in seiner alternden Diktator versöhnt. Bereits im liner Gauck-Behörde an drei Fallstudien: Heimat, machte er sich einen Namen vergangenen Jahr ging Odingas Natio- In ihrem Allwissenheitswahn verlangten die als Dissident. Inzwischen gilt Raila nal Development Party mit Mois Kenya Stasi-Chefs von ihren Agenten detaillierte Odinga in Nairobi als Hoffnungsträger African National Union eine Koalition Protokolle über Einrichtungen wie das Zür- seines Stammes – der Luo im Westen ein. Durch das Parteienbündnis sichert cher Institut Glaube in der 2. Welt, in dem des Landes. Der Energieminister im Ka- sich Odinga die Stimmen der eigenen das religiöse Leben im Ostblock dokumen- binett von Präsident Daniel arap Moi Anhänger und die Zustimmung des tiert wurde. Über dessen Angehörige ver- profiliert sich als chancenreicher Nach- Moi-Lagers. Die Wahl des studierten fasste etwa IM „Hagen“ genauestens Be- folger des autokratischen Führers, weil Verfahrenstechnikers dürfte auch für richt: Augenfarbe, Alter, Größe, Haarfarbe, Moi laut Verfassung nicht wieder kandi- bessere Beziehungen zur Bundesrepu- selbst die Körperhaltung beim Gebet waren dieren darf. Die Aussicht auf Amt und blik sorgen – Odinga spricht perfekt erwähnenswert. „Auch auf Grund der An- Pfründen hat Odinga, der als Oppositio- Deutsch und verbringt seinen Sommer- gaben von Hagen hätte Institutsleiter Eugen neller vor 20 Jahren noch von Mois urlaub meist in der Nähe von Kiel.

BRASILIEN ren großer Firmen bewegen sich nur noch in gepanzerten Fahrzeugen und Wachstumsbranche mit mehreren Leibwächtern in Brasili- ens Finanzmetropole; viele fliegen mit Entführung Hubschraubern zur Arbeit. Dennoch wurden zahlreiche bekannte Unterneh- erstärkte Sicherheitsmaßnahmen mer oder ihre Angehörigen im vergan- Vfür Banken und Geldtransporte ha- genen Jahr verschleppt, darunter die ben in São Paulo Entführungen zu einer Tochter des Fernsehmoguls Silvio San- neuen Wachstumsbranche des organi- tos. Washington Olivetto, der Leiter von sierten Verbrechens gemacht: Im ver- Brasiliens bekanntester Werbeagentur

ENDE / BILDERBERG gangenen Jahr fielen nach offiziellen W/Brasil, wurde im Dezember von Angaben bis einschließlich Gangstern entführt, die sich als Polizis- November 267 Menschen ten verkleidet hatten, und ist noch heu- in die Hände von Kidnap- te in der Gewalt der Kidnapper. Aller- pern, im gesamten Jahr dings werden auch immer mehr Mittel- 2000 waren es nur 63. Der schicht-Brasilianer Opfer der Verbrecher. dramatische Anstieg ist in Die Gangster lauern in der Nähe von Wahrheit um ein Vielfaches Bankautomaten, zwingen Kunden in höher, da die meisten Ent- ein Auto und fahren mit ihnen so lange Hubschrauber-Landeplatz in São führungen nicht der Polizei zu Bankautomaten, bis die Entführten

Paulo, Entführungsopfer Olivetto FRIDMAN P. gemeldet werden. Direkto- alle eigenen Konten geleert haben.

112 der spiegel 2/2002 Ausland

Kontakte zu renommierten Theologen wie dem Basler Professor Karl Barth ge- knüpft – allerdings, so stellt Seidel fest, sei die Ausbeute der DDR-Schlapphüte im Allgemeinen äußerst mager gewesen. „Die machten in-

tern viel Lärm, hatten aber PRESS ACTION

DER SPIEGEL (L.); HANS LACHMANN (R.) DER SPIEGEL (L.); HANS LACHMANN letztlich wenig in der Hand.“ Hafen von Dubai Stasi-Chef Mielke, Theologieprofessor Barth Manche der spitzelwilligen DDR-Theologen erhielten GOLFSTAATEN Voss bei einem Aufenthalt in der DDR so- Gelder aus einem Stipendienprogramm – fort verhaftet werden können“, glaubt Sei- damit konnten sie sich ein Semester an Euro als Vorbild del. Übergeordnetes Ziel des von Erich der Universität Zürich als Gasthörer leis- Mielke geführten Ministeriums für Staats- ten. Einer der Informanten, ein inzwi- eflügelt von den Erfolgsberichten über sicherheit sei es gewesen, umfassendes schen emeritierter Leipziger Professor, Bdie Einführung des Euro, wollen die Material über „ideologisch-politische“ zeige bis heute keine Reue. „Der ist immer sechs arabischen Golfstaaten bis 2008 ihre Tätigkeit kirchlicher Einrichtungen zu noch überzeugt, das Richtige getan zu ha- Zahlungsmittel zu einer Einheitswährung, sammeln. Auch hätten die DDR-Agenten ben“, sagt Seidel. dem „Arabischen Dinar“, verschmelzen. Schon in diesem Jahr werden die Mitglied- staaten des Golfkooperationsrats (Bahrein, Katar, Kuweit, Oman, Saudi-Arabien, Ver- einigte Arabische Emirate) beginnen, ihre nationalen Wirtschaftsziele durch ein ver- bindliches Regionalkonzept zu ersetzen – zunächst wollen die sechs Petromonar- chien ihre unterschiedlichen Finanz- und Handelsstrukturen angleichen. Besonders weit reichende Folgen dürfte ein von Ka- tar eingebrachter „Übergangsplan“ haben, der darauf hinausläuft, ab 2003 etwa 50 Prozent der Erdölverkäufe auf der Basis des Euro abzuwickeln. Die Teilabkoppe- lung vom US-Dollar wäre nicht nur ein Prestigegewinn für die EU-Währung, aus- ländische Experten bewerten sie als Signal an Washington: Die USA sollen mehr

ACTION PRESS ACTION Druck auf Israel ausüben, doch noch ein Großmünster in Zürich Friedensabkommen mit den Palästinen- sern abzuschließen.

JAPAN te. Um verlorenes diplomatisches Terrain zurückzugewinnen, wird Premier Juni- Furcht vor dem Rivalen chiro Koizumi diese Woche zu einer Rei- se durch die Region starten. In Singapur apan bangt um seinen Einfluss in Süd- will er die Gründung einer regionalen Jostasien. Anlass zur Sorge ist das ge- Entwicklungshilfe-Agentur vorschlagen, meinsame Vorhaben Chinas und des an der sich außer Japan und Asean auch Bündnisses südostasiatischer Staaten China, Südkorea, die USA, Australien, (Asean), bis zum Ende dieser Dekade die Neuseeland und die Weltbank beteiligen größte Freihandelszone der Welt mit 1,7 sollen. Mit ähnlichen Initiativen hatte Ja- Milliarden Menschen zu schaffen. Von pan in der Vergangenheit wenig Erfolg: So dem Plan, der auf Pekings Initiative blockte Chinas Präsident Jiang Zemin zurückgeht, wurde die Regierung in Tokio während der Asien-Krise 1997 den japa- völlig überrascht. Zwar stünde es auch Ja- nischen Vorstoß ab, einen asiatischen pan frei, dem Regionalverband beizutre- Währungsfonds zu gründen. Auch Tokios ten, zumal es bereits mit Singapur und jüngster Plan stößt in der Region auf Südkorea über die Gründung einer eige- Skepsis, da das hoch verschuldete Japan

nen Wirtschaftsgemeinschaft verhandelt. / AP KRAFT BROOKS derzeit seine Entwicklungshilfe kürzt. Aber Tokio fürchtet, dass der Rivale Chi- na dann die Führung übernehmen könn- Kontrahenten Jiang, Koizumi (2001)

113 ALI BURAFI / DPA Demonstranten vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires: „Kollaps der zivilen Gesellschaft“

ARGENTINIEN Die Betrogenen vom La Plata Fünf Präsidenten in 13 Tagen: Das Schmierenstück der politischen Klasse mitten im Staatsbankrott mündete in einer „Regierung der nationalen Rettung“. Doch die Brutalisierung der Gesellschaft und der drohende Verlust der Ersparnisse lassen neue Anarchie befürchten.

m Morgen nach der Gewaltnacht me im Hinterzimmer seines leer gefeg- Gefühl der physischen Überlegenheit. Den mochte zunächst keiner dem ande- ten Ladens. Beraubten indessen blieb nur die würgen- Aren in die Augen sehen. Und noch Der Ekel ist dem alten Herrn ins Ge- de Wut ihrer Ohnmacht – und, nach 18 Tage später gingen Täter und Opfer sich ge- sicht geschrieben. „Nur elf Tage vorher Jahren Demokratie, neue Sehnsucht nach zielt aus dem Weg. hatte die Frau des Hurensohns sich unter einem Regime der eisernen Hand. Doch lange hielt diese Scheu nicht an in meinen Augen den Stapel Polohemden und Vor allem in den gesichtslosen, flach hin- Ingeniero Budge, einer ärmlichen Vorstadt das Kinderrad gegriffen“, erinnert er sich, gestreckten Vorstädten des Zwölf-Millio- von Buenos Aires: An Silvester wünschte „während er selbst zusammen mit seinem nen-Molochs Buenos Aires sind Hundert- der Häuptling der Plünderer – ganz unge- Bruder mein Schaufenster ausräumte. Tags tausende Argentinier gebrandmarkt vom niert in seinen frisch gestohlenen Klamot- darauf schüttelte die ganze Sippe beim Trauma der Plünderungen und der Ge- ten – dem ausgeraubten Nachbarn „alles Anblick meiner eingeschlagenen Scheibe walttaten, die zunächst den Sturz des vom Gute für 2002“. Entgeistert, tonlos, ver- scheinheilig den Kopf. Und ich muss wei- Volk gewählten Präsidenten Fernando de la schämt erwiderte der Bestohlene: „Danke ter so tun, als wären diese Leute ganz nor- Rúa herbeiführten. Spontan freilich waren schön, dir natürlich auch.“ male Nachbarn. Es ist deprimierend.“ diese Unruhen nicht. Agitatoren der Pero- Dazu noch die beim Jahreswechsel ob- Diese Intifada des Diebstahls und des nisten provozierten sie; in den Armenvier- ligatorischen Umarmungen und Abküsse- Mundraubs, die vor Jahresende über meh- teln hatten sie leichtes Spiel. reien: „Fast hätte ich gekotzt, als ich seine rere Großstädte des Landes hereinbrach, Das Ergebnis der weihnachtlichen Ge- Bartstoppeln an meiner Wange spürte“, hat bei vielen Tätern eine Haltung ver- walt, die 29 Todesopfer forderte, war 13 gesteht Don Rosendo mit gepresster Stim- schlagener Dreistigkeit hinterlassen, ein Tage später, am Mittwoch vergangener Wo-

114 der spiegel 2/2002 Ausland che, in Buenos Aires zu besichtigen: Eduar- Volk und in aller Welt in Verruf gebracht. lichkeit, als er gleich nach seiner Verei- do Duhalde, 60, Peronist, hielt Einzug im Und doch: Wird das Land nicht abermals digung zu den peronistischen Gewerk- Regierungspalais Casa Rosada. Das Präsi- von bürgerkriegsträchtigen Konflikten er- schaftsbossen eilte, um mit ihnen die Par- dentenamt, das ihm die Wähler noch vor schüttert, die früher oder später, nach alter teihymne anzustimmen. Die verherrlicht zwei Jahren verweigert hatten, war ihm südamerikanischer Erfahrung, den Appell den längst verstorbenen, einst populären am vorigen Dienstag endlich vom Parla- an die Kasernen auszulösen pflegen? Diktator und dreimaligen Präsidenten Juan ment zugeschanzt worden. „Der Kollaps der zivilen Gesellschaft, Domingo Perón in kindisch primitiven Ver- Die blau-weiß-blaue Präsidentenschär- den wir erlebt haben, wird noch viel gra- sen: „Perón, Perón, wie groß du bist!/Mein pe um die sonst unscheinbare Gestalt ge- vierender durch das Schmierenstück, das General, mein höchster Wert!“ wickelt, wurde der populistische Veteran die Politiker anschließend geliefert haben“, Mit jenem stereotyp triumphierenden Duhalde als neuer Staats- und Regierungs- meint der Schriftsteller und politische Grinsen, das er von seinem historischen chef der Argentinier vereidigt. Er muss nun Kommentator Rogelio García Lupo. Fünf Vorbild übernommen hat, verkündete Ro- das Land aus dem Bankrott herausführen. Präsidenten in 13 Tagen seien mitten im dríguez Saá als erste Maßnahme, die Zah- Dafür darf der von baskischen Einwande- Bankrott der Republik eine unerhörte Zu- lung der Auslandsschulden zu suspendie- rern abstammende Duhalde bis Dezember mutung – auch wenn zwei davon, die Vor- ren – was von den peronistischen Volks- 2003 das Mandat zu Ende bringen, das sein sitzenden von Senat und Abgeordneten- vertretern wie eine Siegesmeldung gefeiert damaliger Opponent De la Rúa bei den wurde. Mit den auf diese Weise „einge- Wahlen vom Oktober 1999 eroberte. sparten“ Mitteln würde er eine Million De la Rúas schmachvoller Abgang ist Argentiniens Trauma neuer Arbeitsplätze schaffen, prahlte „El nach gut zwei Wochen schon beinahe ver- Wirtschaftsdaten 2001 Adolfo“. gessen. Der erschreckend temperament- Zum Präsidenten der Nationalbank er- * lose und entschlussarme Politiker war der AUSLANDSVERSCHULDUNG nannte Rodríguez Saá einen populären Lawine der Gewalt keinen Augenblick 140,6 Milliarden Dollar Fernsehkommentator, der sich prompt ver- gewachsen. Der Ausnahmezustand, den plapperte: Seine Ankündigung, etliche Mil- er daraufhin verhängte, wurde von der WIRTSCHAFTSWACHSTUM* liarden einer neuen Währung (neben Peso Polizei als Freibrief für den Schuss- und Dollar) drucken zu wollen, erschien waffengebrauch verstanden. Bald verblu- –1,9 Prozent wie das Signal zur Rückkehr in die Hyper- teten Demonstranten vor der Casa Rosada, inflation Ende der achtziger Jahre, als die indessen Berittene in Uniform wie Kosaken BRUTTOINLANDSPRODUKT* argentinische Geldentwertung bis zu 7000 in die Menge preschten und mit Gummi- 7544 Dollar pro Kopf Prozent im Jahr erreichte. peitschen um sich schlugen. Der Mittelstand hatte genug von diesem Vier Tage vor Heiligabend, bewacht von gefährlichen Unfug – und er hat gelernt, ARBEITSLOSENQUOTE Oktober *geschätzt; 17 Scharfschützen seiner Leibgarde, stieg Quelle: seinen Protest zu artikulieren. Wie schon De la Rúa auf das Dach des Präsidenten- 18,3 Prozent DBLA, Indec gegen Ende der Präsidentschaft De la Rúas palais und entschwand mit dem Hub- griffen die bürgerlichen Schichten zu einer schrauber. Die vielen Todesopfer dieses kammer, Ramón Puerta und Eduardo Ca- ungewöhnlichen Waffe. Sie stammte aus blutigen Advents bleiben für immer mit maño, eigentlich nur als Staatsnotare bei dem Küchenbereich: Kochtopf, Deckel und seinem Namen verbunden – es war ein den Wachablösungen fungierten. Holzlöffel entpuppten sich als wirksame Blutbad, das an die finsteren Zeiten der Die siebentägige Präsidentschaft des Instrumente, um den Regierenden durch Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 er- Peronisten Adolfo Rodríguez Saá jedoch Lärmterror die Meinung zu sagen. Als im innerte: Die Generäle ließen Tausende er- war ein Rüpelspiel, das mitten in der feinen Barrio Norte und dem Zentrum von morden, aber das geschah unter Ausschluss Staatstragödie nicht erheiternd, sondern Buenos Aires der nächtliche Geräusch- der Öffentlichkeit. nur entnervend wirkte. Das von der Pero- pegel anstieg, erfuhr der jeweilige Herr- Könnte den Argentiniern, wie ein Leit- nisten-Partei beherrschte Parlament hatte scher in der Casa Rosada – erst De la Rúa, artikel der „Washington Post“ spekuliert, ausgerechnet eine der vom Ruch der Kor- dann auch „El Adolfo“ –, dass die Zeit reif nach beinahe zwei Jahrzehnten Demokra- ruption besonders stark umwehte Erschei- für die Abdankung war. tie abermals ein Putschregime drohen? Auf nung unter den Provinz-Gouverneuren „Cacerolazo“ heißt der neue politische den ersten Blick erscheint die Vermutung zum Präsidenten und obersten Krisen- Begriff – etwa: die Rebellion der Kochtöp- abenteuerlich – so sehr hatten die regie- manager erhoben. fe. Juan José Sebreli, dem bekanntesten renden Generäle Videla, Viola und Galtie- Und „El Adolfo“, wie sein Spitzname Soziologen Argentiniens, ist diese politi- ri das argentinische Militär beim eigenen lautet, zog das höchste Amt in die Lächer- sche Kampfform unheimlich. Er erinnert

Fünf Präsidenten in 13 Tagen REUTERS MARIANO SANCHEZ / DPA SANCHEZ MARIANO Nachfolger Staatschef auf Ramón Puerta Abruf: FABIAN GREDILLAS / AFP GREDILLAS / DPA FABIAN DYN / GETTY IMAGES DYN REUTERS von den Eduardo Fernando de la Rúa Peronisten Adolfo Rodríguez Saá Camaño Amtsinhaber Eduardo Duhalde

der spiegel 2/2002 115 Ausland daran, dass es im Nachbarland Chile eben- versprechender Musterschüler. Menem da- Bankrott getrieben und die Argentinier um falls der Mittelstand war, der 1973 mit un- mals mit hinreißender Chuzpe: „Argenti- die Früchte ihrer Arbeit betrogen“. ablässiger Lärmentwicklung gegen die nien zählt nicht mehr zu den Unterent- Um auf dem Weg ins Verderben den Volksfront-Regierung des Marxisten Sal- wickelten. Meine Reformen sind irreversi- Umkehrschub einzuschalten, muss nun vador Allende agitierte: Die Satten klap- bel. Unsere Rückkehr in die Erste Welt alles anders werden. Mit seiner astro- perten mit leeren Töpfen, um die Militärs steht außer Frage.“ nomischen Auslandsschuld von gut 140 zu den Waffen zu rufen. Die Folge waren Doch die Zeiten haben sich gewandelt: Milliarden Dollar ist Argentinien zunächst 16 Jahre Diktatur unter Augusto Pinochet. „Argentinien ist pleite, Argentinien ist im einmal gezwungen, den Zinsendienst zu Auf der einen Seite die Plünderer in den Eimer!“, rief Eduardo Duhalde – Menems suspendieren. Zugleich nahm Duhalde Ab- Armenvierteln, auf der anderen der Mit- einstiger Vize – in den Plenarsaal des Kon- schied von dem kurzfristigen Ziel der telstand, der sich ohrenbetäubend mit gresses. Das Vokabular des kleinwüchsi- „Schaffung von einer Million neuer Ar- Küchenwerkzeug artikuliert und damit ent- gen Anwalts und demagogisch versierten beitsplätze“, wie sie noch „El Adolfo“ in nervte Präsidenten zum Rücktritt bewegt: Peronisten war für die fernsehende Nation Aussicht gestellt hatte. Für den Soziologen Sebreli sind das „un- bestimmt. Duhalde macht sich die Stim- Ob die Argentinier sich damit „aus dem berechenbare Kräfte, die sich gegen die mung der meisten Argentinier zu Eigen, Sonnensystem hinauskatapultieren“, wie politische Klasse Argentiniens in ihrer Ge- um gegen einen neuerlichen Entrüstungs- ein regierungskritischer Ökonom anmerk- samtheit erheben“ könnten. sturm im Volk zumindest rhetorisch ge- te? Gemeint ist wohl, dieses Land mit sei- Wenn auch mit Verspätung, scheinen die wappnet zu sein. nen gewaltigen Ausmaßen werde wegen Berufspolitiker in Buenos Aires diese Ge- Das „perverse Modell“ seiner Amtsvor- Zahlungsunfähigkeit bald zur Kategorie ge- fahr nun doch zu wittern: Nach Wochen gänger Menem und De la Rúa, mit der ge- scheiterter Staaten gerechnet werden, die der Führungslosigkeit, der Blamagen und setzlich vorgeschriebenen Bindung des als internationale Sozialfälle auf nicht viel des Chaos rauften sie sich zusammen und Peso an den Dollar, habe „zwei Millionen mehr als humanitären Beistand zählen dür- bescherten den 37 Millionen Argentiniern unserer Landsleute in die Armut gewor- fen. Dabei galt der Pampa-Staat am Be- am vergangenen Donnerstag wenigstens fen“, schimpfte Duhalde; es habe „den Mit- ginn des vergangenen Jahrhunderts noch ein handlungsfähig scheinendes Kabinett. telstand zerstört, unsere Industrie in den als eines der reichsten Länder der Erde. Vorher freilich musste Edu- Auf einen solchen Gedanken ardo Duhalde – nach dem würde gewiss niemand verfal- Debakel mit „El Adolfo“ – als len, der am vergangenen Don- konsensfähiger Staatschef ge- nerstag irgendeine Bank in kürt werden. Für ihn stimmten Buenos Aires aufsuchte – etwa immerhin über 80 Prozent der die kleine Filiale der „Banco Volksvertretung: eine breite par- Galicia“ im mittelständischen lamentarische Notgemeinschaft, Belgrano-Viertel. Da standen die im Wesentlichen aus den viele Argentinier Schlange in beiden großen, miteinander ver- der vergeblichen Hoffnung, sich feindeten Traditionsparteien Ar- etwas Geld vom eigenen Konto gentiniens besteht – Peronisten zu holen. Da die Aufhebung der und Bürgerlich-Radikalen. Für Dollar-Parität (und damit eine Letztere gab es ein überzeugen- drastische Abwertung des Peso) des Motiv, ausnahmsweise für schon seit langem befürchtet einen Peronisten zu stimmen: wurde, hatte die Regierung den Damit werden Neuwahlen ver- Zugang zum Geld drastisch ein- hindert, bei denen der Partei geschränkt, um einen allgemei- des gerade abgedankten De la Rúa ein existenzgefährdendes Debakel gedroht hätte. Diese Parteigängern beider Seiten widernatürlich anmuten- de Verbindung soll, wie Duhal- de hofft, dessen „Programm zur Rettung der Nation“ ermögli- chen, das er den Volksvertretern zunächst nur in groben Umris- sen präsentieren konnte. Der Hauptinhalt des Rettungspro- gramms aber ist klar: Nach über einem Jahrzehnt kehrt die Re- publik am Rio de la Plata dem neoliberalen Wirtschaftsmodell den Rücken zu. Dieses war von den großen Industrienationen, vor allem von den USA, als Erfolgsrezept für Entwicklungsländer propa- giert worden, und Argentinien galt eine Zeit lang – in den frühen neunziger Jahren, unter

dem gewendeten Peronisten / AP ANELI PABLO Carlos Saúl Menem – als viel Bürgerliche Protestaktionen, gewalttätige Krawalle in der Hauptstadt: „Argentinien ist pleite, Argentinien

116 der spiegel 2/2002 AFP / DPA Parade des argentinischen Militärs: „Überwältigendes Unbehagen an der Demokratie“

nen Sturm auf die Banken und die offene in welcher Währung, sind praktisch ein- Doch auch der Spaß an der Gewalt gab Pleite zu verhindern. gefroren. dem historischen Augenblick eine beson- Nur: Nicht einmal die zugesicherte Sum- Und seit Anfang der Woche stehen im dere Note. Nahe am imposanten Kongress- me von 1000 Pesos (bisher gleich Dollar) als geschäftlichen Zentrum von Buenos Aires gebäude, das dem Kapitol in Washington monatliches Höchstlimit steht den Kunden wieder „arbolitos“ herum: Als „Bäum- nicht unähnlich ist und noch einige Brand- zur Verfügung. „No hay sistema“, wird ih- chen“ werden in Argentinien jene Leute wunden vom gerade vergangenen Jahres- nen mit hilfloser Freundlichkeit mitgeteilt bezeichnet, die einen festen Platz auf ende aufweist, kam es am Tag der Duhal- – die Computerverbindung zur Zentrale dem Trottoir haben, aber beileibe nicht der de-Wahl zu einer zünftigen Straßen- sei leider zusammengebrochen. Ein etwa Prostitution nachgehen, sondern als ehr- schlacht. Die Peronisten schafften ihre 60-Jähriger fordert immer wieder mit hoch- bare Schwarzhändler den Geldwechsel Trommler und Schläger aus den Industrie- rotem Kopf: „Ich habe 10000 US-Dollar betreiben. vierteln herbei, indessen die extreme Lin- eingezahlt, und die will ich jetzt zurück- Im Vorgriff auf die Abwertung verlang- ke im Parlament ihre jugendlichen Feuer- haben, in Dollar!“ Wie ein schwerer Fall ten die plötzlich sprießenden „Bäumchen“ köpfe aufmarschieren ließ. wird der Mann schließlich zum Manager auf der Avenida Corrientes schon am Der Anblick habe „einer Postkarte aus vorgelassen. Dienstag 1,40 Pesos für den US-Dollar. So dem Beirut der Kriegsjahre“ geglichen, In seiner Parlamentsrede hatte der ge- erfahren viele Argentinier noch vor der of- meinte die bürgerliche-liberale „Nación“. rade gewählte Eduardo Duhalde versi- fiziellen Verlautbarung, dass ihr gutes Geld Erst der Einsatz von Tränengas, Holz- chert: „Wer Dollar eingezahlt hat, erhält von jetzt an um ein gutes Drittel weniger knüppeln und Gummigeschossen durch die Dollar, wer Pesos hinlegte, erhält Pesos.“ wert ist: das Bankguthaben, die Pesos unter Polizei konnte das Duell der Steine- und Was der Peronist nicht sagte, ist jedoch: der Matratze, die Altersversorgung, die Le- Flaschenschleuderer beenden. Sechs Ver- ab wann? Die Konten der Argentinier, egal bensversicherung, das zugesicherte Kran- wundete lagen im Krankenhaus, als die kengeld – alles ist praktisch um ein Drittel Abgeordneten und Senatoren den Pero- weniger geworden, obwohl sich an den nisten Duhalde feierlich zum Präsidenten Zahlen nichts verändert hat. kürten. Die Wertverminderung ist aber auch für Wenn die Erkenntnis um sich greift, dass den Laien leicht daran zu erkennen, dass so gut wie alle Argentinier in der vergan- in den Läden die Preise in die Höhe genen Woche auf – vorerst noch – unauf- schießen. In den Apotheken, die für viele fällige Weise ein gutes Stück ärmer gewor- ihrer Arzneien in US-Dollar zahlen muss- den sind, kann es bis zum nächsten „Ca- ten, verschwinden wichtige Produkte aus cerolazo“ eigentlich nicht mehr lange sein: den Regalen. Dem Diabetiker, der drin- Die Rebellion der Kochtöpfe, bisher ein gend Insulin braucht, wird schon mal emp- eher aufsässig-karnevalistisches Unterfan- fohlen, das Schnellboot über den La Plata gen des Mittelstands, könnte blitzschnell nach Uruguay zu nehmen. „Es ist, als ob vom „überwältigenden Unbehagen an der man uns den Sauerstoff entziehen würde“, Demokratie“ angesteckt werden, meint der klagte ein verzweifelter Familienvater am angesehene Journalist Horacio Verbitsky, Freitag in der Zeitung „Página 12“. ein Mann der Linken. In solchen Zeiten appellieren die Politi- Mehrere Voraussetzungen für ein „auto- ker gern an den Patriotismus. Auch Eduar- ritäres Abenteuer“ seien bereits gegeben: do Duhalde stellte inzwischen klar, dass 40 Prozent der Argentinier, berichtet Ver- dies nicht der richtige Augenblick für den bitsky, haben schon im vergangenen Peronisten-Marsch sei; angebracht sei viel- Oktober bei einer Gallup-Meinungsum- mehr die Nationalhymne. Und die wurde frage angegeben, liebend gern auf Parla- denn auch mit starkem Engagement ge- ment und Parteien verzichten zu wollen, sungen nach dem Amtseid Duhaldes in der wenn sich nur endlich ein „starker Mann“

MARIANA BAZO / REUTERS BAZO MARIANA Casa Rosada: „Hört, o Sterbliche, den hei- finden würde, der wieder für Ordnung ist im Eimer!“ ligen Ruf – Freiheit, Freiheit, Freiheit!“ sorgt. Carlos Widmann

der spiegel 2/2002 117 Ausland

TERRORISMUS Die seltsame Nummer 20 Mit dem Prozess gegen Zacarias Moussaoui beginnt in den USA die juristische Aufarbeitung des 11. September. Der Angeklagte war in Haft geraten, weil ein Fluglehrer aufpasste.

ie FBI-Agenten in Minneapolis müssen sich so gut wie nie mit welt- Derschütternden Ereignissen herum- schlagen. Im Normalfall jagen sie radikalen Tierfreunden oder Aktivisten anderer Randgruppen hinterher, die den kleinen, netten Bundesstaat Minnesota unsicher machen. Am 15. August des vergangenen Jahres rief ein Fluglehrer der Pan-Am-Flugaka- demie an und berichtete vom merkwürdi- gen Gebaren eines Schülers von eher lau- siger Begabung, der im Fliegen unterrich- tet werden wolle, nicht aber im Starten oder Landen. Der zuständige FBI-Agent DDP war sofort hellwach und stimmte mit dem WIN MCNAMEE / REUTERS Mann am anderen Ende der Leitung über- Angeklagter Moussaoui, Anwalt Roux: Indizienkette mit Überzeugungskraft ein, dass dieser gezielte Erwerb von Kennt- nissen nur einem bestimmten Zweck die- Einmal auf der Spur, versuchte das FBI- che zu kommen. So standen beispielswei- nen könnte: einer Flugzeugentführung. Büro in Minnesota die großmächtige Zen- se 2 der 19 Attentäter auf der US-Fahn- Tags darauf saß Zacarias Moussaoui im trale in Washington für den Fall zu erwär- dungsliste. Die amerikanischen Geheim- Gefängnis. Bei seiner Beschäftigung mit men. Doch die erlesenen Routiniers teilten dienste wussten, dass sie in die USA ein- dem verdächtigen Flugschüler fiel dem die Aufregung nicht. Sie verweigerten die gereist waren, vermochten aber nicht, sie FBI-Agenten auf, dass dessen Studenten- Erlaubnis, den Computer des Häftlings zu aufzuspüren. visum für die Vereinigten Staaten ausge- knacken, weil die Verdachtsgründe nicht In der großen Gefühlswelle, die Ameri- laufen war; das reichte zur Festnahme. Der hinreichten – und weil sie an die Regel ka nach den Anschlägen in New York und französische Geheimdienst untermauer- glaubten, dass dort hinten in der Provinz Washington erfasste, ist elementare Kritik te dann schon am 5. September den Ver- eh nur Kinkerlitzchen passieren. an den Großorganisationen FBI und CIA dacht des Fluglehrers: Moussaoui, 33, be- Die Episode in Minnesota gehört zu den nur gedämpft vorgetragen worden. Das än- saß Verbindungen zur Terrororganisation verpassten Gelegenheiten, den Terroristen dert sich jetzt, da die Tragödie vor Gericht al-Qaida. noch vor dem 11. September auf die Schli- verhandelt wird. Der Prozess gegen Mous- saoui, der am vergangenen Mitt- woch im beschaulichen Städt- chen Alexandria im Bundesstaat Virginia seinen Anfang nahm, dient als weltweit beachteter Prä- zedenzfall. Aus der Sicht des überaus kon- servativen Justizministers John Ashcroft ist das Gerichtsverfah- ren „ein wichtiger Schritt, Ge- rechtigkeit für die Opfer des 11. September herzustellen“. Für die Teilnahme an der „Verschwörung, Menschen in den Vereinigten Staaten zu töten und zu ver- stümmeln“, droht die Todes- strafe. Die ist allerdings ohne diplomatische Querelen mit ei- nem befreundeten Land nicht zu haben, denn Moussaoui ist fran- zösischer Staatsbürger, und die Regierung in Paris hat schon vorsorglich gegen das mögliche Urteil Protest eingelegt.

HUBERT BOESL / DPA HUBERT Moussaoui war offensichtlich Einsturz des New Yorker World Trade Center: Gerechtigkeit für die Opfer? als 20. Selbstmordattentäter aus-

118 der spiegel 2/2002 Werbeseite

Werbeseite Ausland ersehen. In den drei Maschinen, die in New zidmission auf sich allein gestellt gewesen York und Washington explodierten, hatten sein soll. Mohammed Atta und die anderen FLUGSICHERHEIT jeweils fünf Terroristen das Kommando an Attentäter aus Saudi-Arabien und dem sich gerissen. In der vierten aber, die in Nahen Osten traten stets im Tandem oder Enthüllte Körper Pennsylvania abstürzte, saßen nur vier im Trio auf. Der Angeklagte schweigt auf Attentäter. alle Fragen und beteuerte in einem Brief Die US-Luftfahrtindustrie rüstet In der arbeitsteiligen Attentäter-Ge- an seine Mutter, die in Alexandria mit ih- meinschaft gehörte Moussaoui zu den rem Anwalt François Roux auftrat, seine auf: Mit Hilfe von neuen Scannern Häuptlingen und nicht zu den Indianern. Unschuld. will sie ihre Schlampereien wett- Die Unterscheidung lässt sich an den Da- Bislang ist ihm auch nicht nachzuwei- machen und Terroristen schon beim ten der Einreise ablesen: Wer lernen soll- sen, dass er in den USA zu einem der Ter- Einchecken entdecken. roristen Verbindung aufgenommen hätte. Die Anklage operiert deshalb mit Indizien, as kalifornische Fresno hat wenig, die Überzeugungskraft aus der Überein- womit es protzen könnte. Ihren stimmung mit den Vorbereitungen der 19 DWohlstand verdanken die Bürger Attentäter gewinnen. dem großflächigen Anbau von Melonen, Wie bei Mohammed Atta, der das Flug- Baumwolle und Weintrauben. Zu den zeug in den Nordturm des World Trade größten Attraktionen der Stadt gehört seit Center steuerte, oder Ziad Jarrah, der die hundert Jahren das Wohnhaus des Farmers Maschine entführte, die in Pennsylvania Theo Kearney, der es seinerzeit als „Rosi- abstürzte, fand sich bei Moussaoui ein nenkönig“ von Kalifornien zu gewissem Handbuch über das Steuern eines Groß- Ruhm brachte. raumflugzeuges. Wie Atta interessierte sich Dass ausgerechnet Fresno in diesen Ta- Moussaoui für landwirtschaftliche Sprüh- gen als eine Art Frontstadt im Kampf gegen flugzeuge. Informationen darüber fand das den internationalen Terrorismus gilt, liegt FBI nach dem 11. September in den Da- an der Entscheidung des Bürgermeisters, teien seines Computers. den Flughafen einem einzigartigen techni- Vor allem aber erhielt Moussaoui Geld schen Feldversuch zu öffnen. aus denselben Quellen wie die anderen Wer durch eine der beiden Sicherheits- Gruppen: aus den Vereinigten Arabischen schleusen in der Abfertigungshalle tritt, Emiraten am Persischen Golf von Dscha- steht seit kurzem zwei silbrig glänzenden, mal al-Fadl, dem Kassenwart des al-Qaida- etwa 1,80 Meter hohen Metalltürmen ge- Netzwerkes; aus Hamburg von Ramsi genüber, die genau das leisten sollen, wor- Binalshibh, der auch einmal als Nummer an das Bodenpersonal regelmäßig schei- 20 vorgesehen war, aber kein US-Visum tert: Attentäter auf Anhieb von harmlosen bekam. Die Telefonnummer der Hambur- Passagieren zu unterscheiden. ger Wohngemeinschaft, in der auch Atta Das Herzstück des neuartigen Sicher- und Marwan al-Shehhi gelebt hatten, fand heitssystems ist ein Computer, der über sich ebenfalls bei Moussaoui. eine Digitalkamera das Gesicht jedes Flug- Für Angeklagte wie den Franzosen hat reisenden in Sekundenschnelle speichert, sich die amerikanische Regierung eigent- elektronisch in 80 markante Kennzei- lich eine eigene Gesetzbarkeit einfallen las- chen zerlegt und dann mit den in einer Da- sen: Militärtribunale. Deren Vorteil besteht tenbank abgelegten Fotos von Verdäch- darin, dass die Beweisführung weniger an- tigen abgleicht. Stimmen mindestens 14 spruchsvoll ausfallen kann als vor einem Charakteristika überein, also etwa Augen- Zivilgericht. Zudem werden Beweismittel abstand, Ohrenform oder Nasengröße, der Geheimdienste von den Militärrichtern schlägt das Gerät Alarm. leichter akzeptiert. Wie zuverlässig der Gesichtsscanner ar- Tatsächlich tobte hinter den Kulissen ein beitet, lässt sich zurzeit zwar noch schwer heftiger Kompetenzstreit zwischen Justiz- abschätzen. Bislang haben FBI und Justiz-

WIN MCNAMEE / REUTERS und Verteidigungsministerium. Am Ende behörden nur die Bilder einiger Klein- Gerichtsgebäude in Alexandria, Journalisten schloss sich Ashcroft der Empfehlung sei- krimineller herausgerückt, die dann mit Präzedenzfall mit weltweiter Beachtung ner Beamten an, Moussaoui vor einem Zi- Fahndungsfotos aus dem Internet etwas an- vilgericht anzuklagen. Präsident George gereichert wurden. Die Erfolgsquote ist da- te, mit einem Großraumflugzeug herum- W. Bush gab ihm Recht. mit von vornherein deutlich begrenzt; dass zukurven, kam frühzeitig, wie Moussaoui, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Metalltürme auch so mehrmals am Tag der sich seit Februar 2001 in Amerika auf- ist im Übrigen noch damit beschäftigt, losschrillen, erklären die Hersteller mit hielt. Der größte Teil des Fußvolks traf erst genaue Verfahrensregeln für das Militär- „vorübergehenden Anpassungsschwierig- Ende Juni ein. tribunal auszuarbeiten, das ausgerechnet keiten“. Seine ersten Flugversuche unternahm der auf dem Marinestützpunkt Guantánamo Über mangelnde Nachfrage können sich talentlose Schüler in Norman im Bundes- auf Kuba eingerichtet werden könnte. Die die beiden Sicherheitsunternehmen Pelco staat Oklahoma. Er benahm sich wie ein ty- Zeit drängt nicht, da die wirklichen Tali- und Visionics, die den Detektor nach dem pischer Student, hatte reichlich Bekannte, ban-Koryphäen bis zum Freitag nicht un- 11. September zur Serienreife entwickelt vertrieb sich die Zeit mit Computerspielen ter den Kriegsgefangenen zu finden wa- haben, dennoch nicht beklagen. oder im Fitness-Studio. Er besaß allerdings ren. Und natürlich wäre es für Rumsfeld, Als erster internationaler Großflughafen ein Bankkonto, auf das er die stolze Sum- Bush und Ashcroft die Erfüllung eines will nun der Logan Airport in Boston ab me von 16000 Dollar eingezahlt hatte. Traums, wenn sie ihm den Prozess machen Mitte des Monats alle Terminals mit sol- Zu den Merkwürdigkeiten des Falls könnten: Osama Bin Laden, der die 20 chen Maschinen ausrüsten, wenig später Moussaoui gehört, dass er bei seiner Sui- Attentäter schickte. Gerhard Spörl sollen Palm Beach in Florida und das

120 der spiegel 2/2002 Flugdrehkreuz Dallas folgen. Gegen Terroristen wie Moham- Kein Wunder, dass sich der Kurs med Atta und seine Glaubens- der Software-Firma Visionics, brüder, die sich in den USA mo- die das Computerprogramm für natelang unbemerkt auf ihren die digitale Gesichtserkennung Einsatz vorbereiten konnten, liefert, seit dem 11. September hilft die neue Überwachungs- mehr als verdreifacht hat. technik nichts. Die biometrische Messung, Hinzu kommt, dass bislang wie die elektronische Raster- nirgendwo eine einheitliche Da- fahndung unter Experten heißt, tei existiert, auf die Flughäfen ist der derzeit technisch an- Zugriff nehmen könnten. Ob spruchsvollste Versuch, die Si- FBI, CIA oder die Landesämter cherheit auf amerikanischen der Polizei: Jede Behörde führt Flughäfen zu verbessern. Jahre- ihr eigenes Archiv, über das sie lang haben die Fluggesellschaf- eifersüchtig wacht. Und das, so ten gewissenhafte Kontrollen am sagen Bürgerrechtler, ist auch Boden nur als lästigen Kosten- gut so. Sie verweisen auf die faktor betrachtet. Gefahr eines flächendeckenden Nun, da Fliegen bei den US- Einsatzes der neuen Technik. Bürgern als ziemlich gefährliche Erste Versuche, Videoscree- Angelegenheit gilt, überschla- ning auch in Innenstädten ein- gen sich die Airlines und Flug- zusetzen, gibt es bereits. So ha- häfen geradezu, entschlossenes ben die Behörden in Tampa Handeln zu demonstrieren. (Florida) im Sommer damit be- Unter Führung einer eigens gonnen, das Vergnügungsviertel geschaffenen Verwaltung, der Si- der Stadt mit Digitalkameras zu cherheitsbehörde des Verkehrs- überwachen. ministeriums (Transportation Se- Das Ergebnis fällt allerdings, curity Administration), wollen Elektronische Gesichtserkennung*: Mehrmals täglich Fehlalarm jedenfalls aus Sicht der Fahnder, eine Reihe von Airports speziel- eher ernüchternd aus: Zwar le Lesegeräte installieren, die elektronisch aufgesetzten Brille oder einem glatt ra- kann das neue Videosystem pro Minute Fingerabdrücke nehmen und ans FBI über- sierten Kopf lässt sich der Computer nicht 100 Gesichter aus der Menge picken und mitteln. Rund fünf Milliarden Dollar wird mehr narren. mit der örtlichen Datei flüchtiger Gewalt- die Ausrüstung mit Scannern kosten, die Voraussetzung für eine erfolgreiche Ter- verbrecher abgleichen, doch gelang der künftig jedes Gepäckstück vor dem Ein- roristenabwehr schon am Abfertigungs- Polizei mit Hilfe der teuren Investition bis- laden auf gefährliche Güter durchleuchten schalter ist freilich ein perfekter Datensatz, her nicht eine Verhaftung. sollen – bislang wurden gerade mal zehn und eben da setzt die Skepsis von Sicher- Die meisten Experten sind sich denn Prozent des Gepäcks kontrolliert. heitsexperten an. Nur wer bei den Behör- auch darin einig, dass die Fluglinien weni- Vor allem die Versuche, mutmaßliche den als Verdächtiger mit Bild gespeichert ger darauf vertrauen sollten, rechtzeitig zu Terroristen schon vor dem Einsteigen zu ist, und dazu noch einem hinreichend erkennen, was einer im Schilde führt, als identifizieren, verfolgen die Fluglinien mit scharfen, den können die Geräte zur elek- vielmehr, was ihre Fluggäste so am Leibe großem Interesse. Der Vorteil intelligenter tronischen Gesichtserkennung auch als tragen. Kamerasysteme, wenn sie denn wie ver- potenzielles Sicherheitsrisiko herausfiltern. Gerade die klassische Kontrolltechnik sprochen arbeiten, liegt auf der Hand. Wer hat in letzter Zeit enorme Fortschritte ge- die Biometrie überlisten will, muss sich macht, und sie ist, im Gegensatz zum bio- * Oben: auf dem Flughafen von Fresno (Kalifornien); schon einer schmerzhaften Gesichtsopera- unten: mit Attentäter Abd al-Asis al-Umari auf dem Flug- metrischen Gesichtsscreening, bereits über tion unterziehen. Von einem Bart, einer hafen Portland (Maine) am 11. September 2001. die Testphase hinaus. Beim „Entry Scan“ beispielsweise laufen die Passagiere durch eine Luftschleuse, die selbst geringste Mengen von Spreng- stoff elektronisch erschnüffelt. Der „Body Search“ wiederum, ein drei Meter hohes, schrankförmiges Gerät, derzeit in Atlanta im Einsatz, tastet jeden Fluggast mit Rönt- genstrahlen ab. Die US-Gesundheitsbehörde hat den Röntgenbeschuss bereits genehmigt. Die Strahlenbelastung einer Kontrolle ent- spricht in etwa jener Dosis, die ein Passa- gier bei einem Transatlantikflug alle 36 Sekunden abbekommt. Tatsächlich besitzt das Hightech-Gerät, das künftig die lästi- ge und erwiesenermaßen unzuverlässige Tastkontrolle entbehrlich machen könnte, nur einen Nachteil: Es enthüllt nicht nur, was ein Fluggast unter seiner Kleidung verborgen hält – es bildet auch ziem-

DPA lich detailgetreu seine Körperkonturen Videobild des Selbstmordpiloten Atta*: Ernüchterndes Ergebnis ab. Jan Fleischhauer

der spiegel 2/2002 121 Ausland Mahner mit Makel Zalmay Khalilzad, Ex-Berater eines Ölkonzerns, schrieb Bush das Drehbuch für den Afghanistan-Krieg. or vier Jahren saß der Berater nischen Unocal-Konzern verpflichten einer amerikanischen Ölfirma lassen, der mit der saudi-arabischen Vmit den Vertretern der afghani- Delta Oil um die Lizenzen für Öl- und schen Taliban-Regierung beim Dinner Gasleitungen in Zentralasien konkur- im Houstoner Hilton-Hotel, und die rierte, die durch Afghanistan führen kleine Runde war sich einig im Enthu- sollten. Als Berater war er bestens ge- siasmus für ein Milliarden-Dollar- eignet, weil er alle Mitspieler seit lan- Geschäft, das sich mit Öl- und Gas- gem kannte. Die Unocal brauchte in pipelines in Zentralasien erzielen ließe. Asien wie in den USA politischen Es erleichterte die Konversation, dass Rückhalt für ihr Projekt. Indische Panzertruppen in Kaschmir: Massive sich der Amerikaner in Dari unterhal- Die Taliban spielten die Konzerne ten konnte. Denn Zalmay Khalilzad und die Staaten, die hinter ihnen stan- wurde in Masar-i-Scharif geboren und den, gegeneinander aus. Khalilzad ver- INDIEN/PAKISTAN wuchs in Kabul auf, bis er in die Verei- fertigte fortan politische Analysen für nigten Staaten ging, um den Wirren da- die Rand Corporation, einem Think- General unter heim zu entkommen. Tank, der dem Pentagon nahe steht. Ansonsten wartete er ebenso wie seine Freunde Richard Cheney, Zugzwang Richard Perle oder Paul Wol- fowitz, mit denen er in den Re- Schlüsselfigur im Konflikt gierungen von Ronald Reagan und George Bush Senior zusam- der Nuklearmächte ist Islamabads mengearbeitet hatte, die Jahre Präsident Musharraf. Kann er ab, bis Bill Clinton das Weiße die radikalen Islamisten zähmen? Haus verließ. Gemeinsam hatte diese Koro- ervez Musharraf zeigte sich „offen na einst in den achtziger Jahren und flexibel“, seine Stimmung war die Mudschahidin – und über Pversöhnlich: „Wir müssen uns beide den pakistanischen Geheim- in Sachen Kaschmir bewegen.“ Also reich-

R.D. WARD / DEPARTMENT OF DEFENSE / DEPARTMENT R.D. WARD dienst auch Osama Bin Laden – te Pakistans Präsident dem indischen Pre- Khalilzad, US-Verteidigungsminister Rumsfeld gegen die sowjetischen Invaso- mierminister Atal Behari Vajpayee die Wertschätzung für die Taliban verflogen ren aufgerüstet. Ihr schienen die Hand – im Juli, am Taj Mahal in Agra. religiösen Eiferer, aus denen die Tatsächlich ist seither Bewegung in die Das einträchtige Treffen ist heute für Taliban entsprangen, nützlich im Kalten Beziehungen beider Staaten gekommen. Khalilzad ein ziemlich unangenehmer Krieg. Dann zog der Golfkrieg das In- Allerdings ganz anders als geplant. Erinnerungsposten. Der Mann, der im teresse Amerikas ab. Was waren die Seit dem 13. Dezember, als ein Selbst- rasanten Tempo zwischen Universität Gotteskrieger gegen Saddam Hussein? mordkommando von fünf Pakistanern ein und Staatsdienst, zwischen Think-Tank Vor zwei Jahren schrieb Khalilzad Blutbad vor dem Nationalparlament von und Ölkonzern hin- und herpendelte, dann mit einem Kollegen einen Text Neu-Delhi anrichtete, werden immer neue ist im vergangenen Jahr zu enormem über „Afghanistan: Ein Schurkenstaat Panzer im winterkalten Kaschmir auf- Einfluss in der Bush-Regierung gekom- konsolidiert sich“. Die Wertschätzung gefahren. Mittelstreckenraketen wurden men. Seit kurzem ist er sogar Sonder- für die Taliban war verflogen. Der Auf- stationiert und beinahe täglich Granaten botschafter des amerikanischen Präsi- satz las sich vielmehr wie die Hand- abgefeuert. Die Truppen beiderseits der denten für Afghanistan. Und falls sich lungsanleitung zum Kampf gegen Mul- die Regierung von Hamid Karzai sta- lah Omar und Osama bin Laden. Nach bilisiert, dürfte Khalilzad, 50, Bot- dem 11. September hielt sich Präsident schafter seines neuen Landes in seiner Bush erstaunlich genau daran. Kein alten Heimat werden. Wunder, Khalilzad gehörte da schon Die Anekdote aus dem Jahr 1997 seinem Nationalen Sicherheitsrat an, passt so gar nicht in das makellose Bild zuständig für Afghanistan und den Per- vom ehernen Mahner, der immer schon sischen Golf. um die tödliche Gefahr wusste, die Als Sonderbotschafter des Präsi- von den Taliban ausgeht: So aber stellt denten muss sich Khalilzad nun ganz sich Khalilzad dar, dieser Nimbus um- Afghanistan widmen. Das wichtigste gibt ihn in Washington – ein unbe- Projekt im Kampf gegen den Terroris- stechlicher, kenntnisreicher Intellek- mus, den Sturz Saddams, müssen sei- tueller, den die Heimat nicht loslässt. ne alten Freunde ohne ihn voran-

1997 hatte sich Khalilzad vom kalifor- treiben. Gerhard Spörl / AP (R.) AP (L.); SWARUP MANISH Gegner Musharraf, Vajpayee Pläne von Atomanlagen ausgetauscht

122 der spiegel 2/2002 ge USA-Kritiker, zu Washingtons un- verzichtbarem Partner gegen die vom eigenen Geheimdienst ISI geförder- ten Taliban. Pakistan, aus dessen Haushalt jede vierte Rupie dem Mi- litär zufließt, wurde mit überlebens- wichtigen Krediten belohnt. Um die Krise zu entschärfen, muss der Realpolitiker Musharraf glaub- würdig jenen radikalen Organisa- tionen den Boden entziehen, die er bislang für seine außenpolitischen In- teressen gegenüber Indien instrumen- talisiert hat. Diese Fundamentalisten nehmen versprengte al-Qaida-Mit- Neu-Delhi glieder auf und genießen vor allem TADSCHIKISTAN Agra erheblichen Rückhalt in der zu 97 Pro-

INDIEN REUTERS zent muslimischen Bevölkerung. Drohung mit Krieg Beobachter fürchten deshalb, Mu- unter pakistanischer sharraf könnte eine Kehrtwende, zu- Waffenstillstandslinie stehen, in höchster Verwaltung CHINA mal unter indischem Druck, politisch nicht Alarmbereitschaft, Gewehr bei Fuß. Waffenstillstandslinie unter überleben. Denn der Anspruch auf ein von Trotz solcher Militärpräsenz war das K chinesischer indischer Hoheit befreites Kaschmir gehört Provinzparlament in Srinagar vorigen Mitt- a s Verwaltung zum Kern des nationalen Selbstverständ- c h m i r woch erneut das Ziel von Attentätern, wie Srinagar Kargil nisses. Seine Preisgabe würde womöglich schon am 1. Oktober, als 38 Menschen star- den nächsten Putsch provozieren. unter indischer Verwaltung ben. Extremisten stürmten diesmal die Islamabad Andererseits: Eine starre Haltung ge- Abgeordnetenkammer mit Handgranaten, Jammu genüber Neu-Delhi bringt Pakistan immer Stunden später überfielen Gesinnungs- PAKISTAN näher an den Rand des Krieges und könn- brüder eine Kaserne nahe Jammu – ein te ebenfalls zum Kollaps des Musharraf- Rückschlag für all jene, die sich vor dem 200 km INDIEN Regimes führen. Soldaten müssten in südasiatischen Wirtschaftsgipfel am Wo- solcher Zahl an der Grenze zusammen- chenende in Katmandu um eine diploma- Im indischen Teil gezogen werden, dass etwaige Unruhen in tische Wende der Krise bemühten. Kaschmirs leben Buddhisten, 16% Hindus anderen Landesteilen nicht mehr wir- Sikhs und 4% Die USA, Russland, China und arabi- etwa andere kungsvoll bekämpft werden könnten. sche Nationen versuchten in einer Art Te- Millionen Religions- Vielleicht hat Musharraf Glück. Trotz gruppen 80% Muslime lefonkette, die feindlichen Nachbarn zur 7,1 Einwohner, des Aufmarschs beiderseits der Waffen- Raison zu bringen. Am Donnerstag brach davon heute... stillstandslinie im seit 1949 geteilten Kasch- Großbritanniens Premier Tony Blair als mir sendete Indien vor dem Gipfel in Kat- Vermittler auf. Mäßigung ist dringend nö- mandu versöhnliche Signale. Am Neu- tig: Indien droht Pakistan massiv mit Krieg Anhängern. „Ich schätze seine Bemühun- jahrstag tauschten beide Regierungen, wie und hat eine Fahndungsliste übergeben, gen“, lobte US-Präsident George W. Bush seit elf Jahren üblich, Verzeichnisse aus auf der die mutmaßlichen Drahtzieher der seinen Partner im Afghanistan-Krieg. Bis- mit aktuellen Angaben über zivile und mi- Attentate und der seit Jahren anhaltenden lang allerdings duldete Musharraf einen litärische Atomanlagen sowie deren Lage. Guerrilla-Aktionen auf indischem Territo- Guerrillakrieg in Kaschmir, der eigentlich „Sie finden Indien bereit, alle Themen rium verzeichnet sind. Islamabad soll 20 unter die Rubrik Terror fällt. durch Dialog zu lösen“, beruhigte Vaj- Verdächtige verhaften – oder die Konse- Am 9. April 1999 war Musharraf zum payee. Allerdings bestand er auf Ausliefe- quenzen tragen. Generalstabschef der pakistanischen Ar- rung der verhafteten Islamisten-Führer, So wird Musharraf zur Schlüsselfigur des mee befördert worden. Der damalige Pre- was Pakistan bisher ablehnt. Zwei Tage Konflikts. Vom Geschick des 58-Jährigen, mier Nawaz Sharif hielt ihn für einen Mann später begrüßte Neu-Delhis Außenminister die Islamisten-Organisation in Pakistan zu ohne politische Ambitionen. Einen Monat Jaswant Singh seinen pakistanischen Amts- zähmen, hängt der Frieden ab. Doch der später kam es im kaschmirischen Bezirk kollegen Abdul Sattar in Katmandu und Präsident, zugleich oberster Militär seines Kargil zu schweren Gefechten, ausgelöst wechselte Artigkeiten. Offizielle Gespräche Landes, steckt in der Klemme. durch muslimische Rebellen, die mit Billi- mit Musharraf schloss Vajpayee für die Daheim gilt er als unpopulär, und bei gung von Musharrafs Armee auf indisches Dauer der Tagung jedoch aus. Wahlen würde derzeit nur jeder elfte Bür- Gebiet vorgedrungen waren. Deren Beginn verzögerte sich, weil Pa- ger für ihn stimmen. Zugleich ist er einer Indien wehrte sich wirkungsvoll, Sharif kistans Präsident nicht pünktlich erschie- der wichtigsten US-Verbündeten im Kampf musste den Rückzug anordnen, seine Ge- nen war. Musharraf hatte sich angesichts gegen den Terrorismus und wird vom Aus- neräle reagierten beleidigt. Musharraf der immer noch brisanten Lage entschlos- land einhellig unterstützt. Auf dem in Delhi selbst kritisierte den Premier als Feigling sen, auf einem Umweg anzureisen. geborenen Sohn eines Karrierediplomaten und bezichtigte ihn der „Unterwerfung“ Er schob einen Kurzbesuch beim chi- lastet nun die Bringschuld, gegen eigene unter amerikanisches Diktat. Am 12. Ok- nesischen Ministerpräsidenten Zhu Rongji Landsleute vorzugehen – der General steht tober setzte er den korrupten Sharif in ei- ein, bat China als ältesten Verbünde- unter Zugzwang. nem unblutigen Staatsstreich ab. ten Pakistans um Rückendeckung und Untätig war er bisher nicht. Die beiden Schon kurz nach seiner Amtsübernahme jettete, verspätet, von Peking nach Ne- Anführer der von Indien beschuldigten verpflichtete sich Musharraf zu demokra- pal. So vermied er es, über indischen Luft- radikalen Muslim-Organisationen Lashkar- tischen Wahlen; dieses Jahr sollen sie end- raum zu fliegen – denn der ist eigent- i-Toiba und Jaish-i-Mohammed ließ er lich stattfinden. Und nach dem 11. Sep- lich für pakistanische Maschinen ge- nacheinander verhaften, nebst etwa 130 tember wurde ausgerechnet er, der einsti- sperrt. Rüdiger Falksohn

der spiegel 2/2002 123 „Kinderhilfe“-Chef Erös, Lehrerinnen und Schüler: Wohltaten gegen Wohlverhalten

Damit will der Bundeswehroffizier ab AFGHANISTAN Januar, zeitgleich mit dem Einrücken der Uno-Friedenstruppen in Kabul, in der Uni- versitätsstadt Jalalabad drei Schulen für „Tee mit dem Teufel“ rund 1500 Kinder eröffnen. Auch das städ- tische Provinzkrankenhaus soll mit seinen Ein bayerischer Militärarzt hat eine Hilfsorganisation gegründet, Spendengeldern teilweise wieder in Be- trieb genommen werden. um beim Aufbau des zerstörten Landes zu helfen. Im Afghanistan-Experte Erös gehört inzwi- Reich der Paschtunen bewegt er sich sicher zwischen allen Fronten. schen zu den umtriebigsten Vortragsrei-

n der Neujahrsnacht, als schließlich schwärmen sie von alten auch die letzte große Schlacht um Tora Zeiten, schwören sich ewige IBora, die vermeintliche Fluchtburg Freundschaft und gehen, wie Osama Bin Ladens, geschlagen war, stießen es im Reich der Paschtunen in Jalalabad, der ehemaligen Winterresi- unter Männern nicht unüb- denz der alten Hautevolee Afghanistans, lich ist, Händchen haltend zwei Männerfreunde auf die Nachkriegs- durch den Garten – bewacht zeit an. von einem Dutzend finster Einem Mann mit kräftigem Leib und aussehender Kerle mit Ka- Schnauzbart servierte der ehemals ge- laschnikows. fürchtete Mudschahid und königstreue Ende der achtziger Jahre, Stammesfürst Zaman Ghamsharik, 45, grü- während des Sowjetfeldzugs nen Tee und frischen Ingwer. Zaman war in Afghanistan, hatte sich erst kürzlich aus dem französischen Exil Erös für mehrere Jahre beur- zurückgekehrt und samt seinen afghani- lauben lassen, um bei der me- schen Kriegern im Kampf gegen die Tali- dizinischen Versorgung zu ban zu früherer Bedeutung aufgestiegen. helfen. Einer seiner Patienten

Sein Gast, ein Liebhaber dicker Havanna- damals: Zaman, der 1988 in KEMBER / ROPI FINDLAY Zigarren, war erkennbar ein Europäer, einen sowjetischen Hinterhalt „Kinderhilfe“-Milchausgabe: 500000 Mark Aufbauhilfe auch wenn er das landesübliche Shahwar geraten war. Kameez, eine Pluderhose mit knielangem Es war womöglich der Anfang einer je- senden. Ob vor dem Rotary-Club in Bay- Hemd, trug: Der deutsche Militärarzt Rein- ner typischen Helferkarrieren, wie sie einst reuth oder dem Ärzteverein in Lüneburg, hard Erös, 53, verbrachte auf dem mit etwa Rupert Neudeck („Cap Anamur“) ob in „Tagesthemen“ oder „Report“ – Orangenhainen bestandenen Anwesen Za- oder Karl-Heinz Böhm (Menschen für überall erklärt Erös die archaische Welt der mans seinen Silvesterurlaub. Menschen) begannen. Schon seit 1998 be- Paschtunen. Den muslimischen Kommandeur aus treibt Erös mit seiner Frau Annette, 49, in Dabei testet er regelmäßig die Schmerz- Jalalabad und den praktizierenden Ka- Peschawar eine Schule für afghanische grenze seines Dienstherrn: „Das intensive tholiken, der sonst in München im Rang Flüchtlingskinder. Seit Kriegsbeginn im öffentliche Engagement konveniert bei al- eines Oberstarztes dient, verbindet so Oktober sammelte der sechsfache Famili- ler Großherzigkeit und Toleranz nicht im- etwas wie die Blutsfreundschaft zwi- envater in der Freizeit für seinen Verein mer mit den Dienstaufgaben“, erklärt sein schen Winnetou und Old Shatterhand. „Kinderhilfe Afghanistan“ 500000 Mark – Vorgesetzter, Generaloberstabsarzt Karl Wann immer sie sich treffen, wie vor sehr viel Geld in einem Winkel der Welt, Wilhelm Demmer, „und es wäre auch nicht wenigen Wochen in Zamans Sommer- in dem das Monatsgehalt eines Lehrers schlecht, wenn sich Herr Erös ab und an im residenz im pakistanischen Peschawar, oder einer Ärztin kaum 100 Mark beträgt. Vokabular mäßigen würde.“ Etwa wenn

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der Oberstarzt behauptet, te Schule in Peschawar besucht, treten die Afghanistan Komitee – eine CDU-nahe die vom US-Militär unter- Lehrerinnen an, um mucksmäuschenstill Vereinigung, die während der Sowjet- stützte Nordallianz sei für einem halbstündigen Monolog über invasion vom Auswärtigen Amt und vom die meisten Afghanen eine Deutschland, den Krieg und die Freund- U. S. State Department unterstützt wurde „Mörderbande“, oder die schaft beider Länder zu lauschen. Die Bil- (SPIEGEL 44/1988) – etwa ein halbes Dut- „bornierte Diplomatie“ dung der von den Taliban geknechteten zend Ärzte in den Osten und den Süden der Amerikaner kritisiert: Frauen, sagt Erös, liege ihm besonders am Afghanistans. „Wer in der Vorhölle ar- Herzen. Gleichzeitig aber gilt: „Ich habe In wochenlangen Fußmärschen zogen beitet, muss im Stande nichts gegen Frauen, ich will mir nur nichts die Freiwilligen mit jeweils rund 30 Mann sein, mit dem Teufel ab von ihnen sagen lassen.“ starken Karawanen aus Trägern, Köchen und zu eine Tasse Tee zu Diese eigentümliche Mischung aus au- und einheimischen Hilfsmedizinern durch trinken.“ toritärem Traditionalisten und Radikalde- die Berge Afghanistans, aus Angst vor den So unterhält Erös bis mokraten hat Erös’ Leben, für dessen Be- sowjetischen Bombern stets im Schutz der heute Kontakt zu einzel- schreibung ihm ein großer Hamburger Dunkelheit. In so genannten Höhlenklini- nen Taliban, zum Beispiel Buchverlag gerade eine fünfstellige Summe ken, natürlichen oder eigens in die Berge zu Mullahi Ahmad, 27. Der angeboten hat, stets bestimmt. gesprengten Hohlräumen, in denen man ehemalige Assistent des 1973 warf der Reserveoffizier der sich einigermaßen sicher fühlen konnte, geistigen Taliban-Ober- Fernspähtruppe linke Demonstranten, die unterhielt die Organisation schließlich 14 hauptes Mullah Omar eine Vorlesung über den Hypothalamus in Medizinstationen und behandelte in einem dient auch jetzt noch im eine Diskussion über die Unterdrückung Jahr immerhin 180000 Patienten. pakistanischen Akhora der libanesischen Bauern umwandeln woll- Als ein kleiner Junge, mit dem Erös sich

DERMOT TATLOW DERMOT Kha Hak als persönlicher ten, aus dem Hörsaal. Spaß bereitete es angefreundet hatte, nach einem Bombar- Sekretär des Chefs der ihm, im Dienstanzug der Bundeswehr, also dement qualvoll starb, konnte der Arzt den Haqqania-Koranschule, der einstigen Tali- mit Fernspäherbarett, Springerstiefeln und seelischen Stress nicht länger ertragen: ban-Kaderschmiede. Lederhandschuhen, ins Kult-Musical Erös wurde apathisch, schlief schlecht und Erst vor wenigen Wochen hat Erös im „Hair“ zu gehen – „Hippies erschrecken“. begann zu trinken. Ein Bundeswehrkolle- Palmengarten des Regent Guesthouse von Doch als der katholische Pfarrer seiner ge, der ihn in Pakistan besuchte, überre- Peschawar den Taliban zum abendlichen Gemeinde im Niederbayerischen nach dem dete ihn zu einer Therapie in Deutschland. Palaver getroffen. Dabei ließ Ahmad, ein 11. September die Gelegenheit nutzte, den Aus der Schwäche machte Erös eine Stär- höflicher Mann mit dunklem Bart und Islam zu verteufeln, drohte Erös dem Got- ke: In Vorträgen vermittelt der Militärarzt goldener Uhr am Handgelenk, keinen tesmann in einem Vier-Augen-Gespräch: heute deutschen Offizieren vor Auslands- Zweifel daran, dass der Kampfgeist seiner „Noch einmal, und ich stehe während der einsätzen Risiko und Heilungschancen ei- Leute noch nicht erloschen sei: „Aber Predigt in der Kirche auf und erzähl Ihnen ner seelischen Verwundung. wir unterscheiden zwischen persönlicher mal was über Allah.“ In der Bundeswehr gilt Erös als beson- derer Fall – einer, der nervt, aber auch Er- folg hat. Über seinem Schreibtisch in der Münchner Sanitätsakademie hängt als Leit- spruch eine preußische Maxime: „Herr, dazu hat Sie der König zum Stabsoffizier gemacht, dass Sie wissen müssen, wann Sie nicht zu gehorchen haben.“ Als er Mitte der achtziger Jahre vom ersten seiner illegalen Afghanistan-Trips zurückkehrte und in der Presse darüber berichtete, prüften Vorgesetzte sofort, in- wieweit der damalige Oberfeldarzt, der sich unerlaubt im kommunistischen Macht- bereich und im Kriegsgebiet aufgehalten hatte, disziplinarrechtlich zu belangen sei. Es kam ganz anders: Wegen seines Afgha- nistan-Engagements verlieh ihm Bundes- präsident Richard von Weizsäcker das Bun-

R. EROES desverdienstkreuz. Arzt Erös (l., 1988): Freiwilliger Dienst in afghanischen Höhlenkliniken Inzwischen bewegt sich der bayerische Urtyp dank seines ausgeprägten Machtin- Freundschaft zu einem Deutschen und der Seinen Wissensvorsprung zu demon- stinkts im Reich der Paschtunen fast schon deutschen Regierung, die unser Feind ist“, strieren, vergisst der konservative Bil- so sicher wie ein afghanischer Stammes- erklärte er seinem Gastgeber. Bis heute ist dungsbürger Erös nie. Mit Vorliebe trak- fürst. Im Windschatten seines Seelenver- Ahmad überzeugt: „Der Krieg ist nicht tiert er seine Umgebung mit lateinischen wandten, des mächtigen Nangahar-Kom- vorbei, wir kommen zurück.“ Sentenzen und examiniert sie mit Ge- mandeurs Zaman, will er nun beim Aufbau Die orientalische Betrachtungsweise schichtszahlen über Schlachten und Frie- des zerstörten Landes mithelfen. irritiert den Deutschen kaum. Erös, vom densschlüsse. Langfristig zieht es Erös womöglich dann Bayerischen Rundfunk gerade zum In Sachen Afghanistan ist er jedoch auch ganz an den Hindukusch, nach Pagh- „Bayern des Jahres 2001“ gekürt, muss alles andere als ein Theoretiker. Bis man: Das hügelige Kleinod bei Kabul wur- sich vermutlich kaum verstellen, um sich Ende 1990 lebten Erös und seine Familie de stark zerstört durch die Kriegswirren selbst wie ein afghanischer Patriarch zu über drei Jahre in der Grenzstadt Pescha- der letzten 20 Jahre. Doch fühle er sich verhalten. war, in der drei Millionen Muslime, davon dort, sei es einmal wiederhergestellt, wie Bei ihm gibt es Wohltaten gegen Wohl- eine Million afghanische Flüchtlinge, zu Hause: „Das ist das Oberammergau von verhalten. Wenn er die von ihm gegründe- wohnen. Von dort schickte das Deutsche Afghanistan.“ Susanne Koelbl

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ESSAY Israel am Abgrund Von Reuwen Moskowitz

n jedem Menschen steckt ein guter Dr. Jekyll, aber auch ein es erst 1988, nachdem schon die erste Intifada auf den Straßen böser Mr. Hyde – und das gilt auch für Völker. Israel etwa hat brannte, auf die Israel mit ungewöhnlicher Härte reagiert hatte. Ivor mehr als 50 Jahren mit der Gründung des Staates sein wun- Die Tatsache, dass es Israel dennoch nicht gelang, den Aufstand derbares Gesicht gezeigt. zu unterdrücken, führte schließlich zu den Oslo-Verträgen. Auch war Die Ausrottung eines Drittels aller Juden und die fast völlige die PLO-Führung zu der Einsicht gekommen, dass die Madrid-Frie- Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Europa hatten zu einer denskonferenz von 1991 die letzte Gelegenheit sein könnte, das Verletzung geführt, die unheilbar schien. Danach ereignete sich Westjordanland noch für einen palästinensischen Staat zu retten. das Wunder von 1948. Dieses Mirakel kam freilich nicht vom Premier Jizchak Rabin und sein Außenminister Schimon Peres, Himmel, sondern von einem kleinen Teil des jüdischen Volkes, der aber auch Palästinenser-Führer Jassir Arafat haben sich sehr sich in Palästina, in Erez Israel, niedergelassen hatte und ver- bemüht zu verinnerlichen, dass der Weg der Gewalt verlassen zweifelt versuchte, eine sichere Heimstätte aufzubauen. Nie zu- werden muss, um mit schmerzhaften Kompromissen die teuflische vor war einem Volk ein solch überraschender und eigentlich un- Konfliktspirale endlich zu stoppen. Gleichzeitig aber haben sich möglicher Wandel von unerhörter Vernichtung zu einzigartiger beide Seiten mit der Umsetzung der Verträge sehr schwer getan. Anerkennung gelungen. Allerdings muss man vielleicht zuerst verstehen, welch schmerz- Abgesehen von den arabischen Nationen, die von diesem Auf- haften Kompromiss die PLO damals eingegangen ist: Die Unter- stieg wie kein anderer Teil der Erde direkt betroffen waren, be- schrift unter den ersten Vertrag war faktisch die Anerkennung wunderte die ganze Welt der Grenzen Israels vor dem den Neubeginn Israels und Sechstagekrieg von 1967. Das begleitete ihn mit großer bedeutete für die Palästinen- Sympathie, voller Respekt ser, dass ihre zukünftige Hei- vor den Errungenschaften mat weniger als ein Viertel des jungen Staates. jenes Palästina umfassen Dieser Aufstieg wurde je- würde, das noch in der Zeit doch leider begleitet von ei- des britischen Mandats ihre nem lange währenden Kon- Heimat gewesen war. Außer- flikt mit dem palästinensi- dem verpflichteten sie sich, schen Volk und bildete mit die israelischen Siedlungen den Kriegen, die sich nach in Palästina bis zum endgül- 1948 wiederholten, den 100- tigen Friedensvertrag, der für jährigen Krieg des Nahen 1998 vorgesehen war, zu dul- Ostens. Und mehr und mehr den. Für Israel hingegen be- zeigte sich dabei das häss- deutete die Unterschrift un- liche Gesicht Israels. Diese ter die Verträge – die auf den Fratze ist Folge eines fal- Beschlüssen des Uno-Sicher- schen Sicherheitskonzepts. heitsrats 242 und 338 basie-

Dabei durften wir anfangs / AP 77 ZOOM ren – den Verzicht auf die seit noch auf Verständnis setzen. Palästinenser-Protest auf dem Tempelberg: Karussell der Gewalt 1967 besetzten Gebiete und Das Sicherheitsbedürfnis Is- war zudem ein erstes Signal raels war offensichtlich, angesichts der Tatsache, dass sich bis für den Verzicht auf das besetzte Ost-Jerusalem und die Anerken- 1977 die ganze arabische Welt weigerte, die legitime Existenz des nung eines palästinensischen Staates. Staates auch nur anzuerkennen. Dann aber kam es im November So ist auch der fieberhafte Wettbewerb zu verstehen, der dar- 1977 durch den Besuch Anwar al-Sadats in Jerusalem zu einem aufhin von beiden Seiten begonnen wurde, diese Verträge zu un- dramatischen Ausbruch aus dem Teufelskreis von Gewalt und terlaufen. Wie andere Menschen auch, verlassen Politiker nicht so Gegengewalt. Ein Jahr danach schaffte es der amerikanische Prä- einfach und blitzartig festgefahrene Denkweisen und Überzeu- sident Jimmy Carter, einen Frieden zwischen Ägypten und Israel gungen. Es mag sein, dass Jizchak Rabin, hätte man ihn nicht er- auf den Weg zu bringen. Es war eine hoffnungsvolle Wende. mordet, vielleicht noch die Charakterzüge eines Charles de Denn mit den Vereinbarungen von Camp David wurde auch erst- Gaulle, eines Konrad Adenauer oder eines Willy Brandt hätte ent- mals eine Autonomie für die Palästinenser erwogen. Nach fünf wickeln können. Die hatten ihre Nationen auf schwierigen Wegen Jahren Selbstverwaltung sollte Palästina ferner die Möglichkeit ge- zum Frieden mit sich selbst, ihren Nachbarn, ihrer Vergangenheit boten werden, sich politisch selbst zu bestimmen oder eine Kon- und ihrer Geschichte geführt. föderation mit Jordanien einzugehen. Leider haben unsere Politiker die große Gunst jener Stunde och Rabin wurde ermordet. Und selbst in der kurzen Zeit nicht aufgegriffen und sich um die Gewährung der Autonomie ge- seines Amtes (nach den Osloer Verträgen) war auch er drückt. Man kann dieses bewusste Unterlaufen eines unter- Dschwer unter den Druck politischer und militärischer Krei- schriebenen Vertrages vielleicht damit rechtfertigen, dass zu der se geraten, die von der Gewalt der ersten Landnahme geprägt wa- Zeit auch die palästinensische Führung noch nicht zu jener nöti- ren. Anstatt konsequent und mutig die eingegangenen Verpflich- gen Reife und Einsicht gekommen war, um dem mutigen Beispiel tungen umzusetzen, wurde nun begonnen, das Westjordanland Sadats zu folgen und die Existenz Israels anzuerkennen. Dazu kam durch viele israelische Umgehungsstraßen in einen Flickenteppich

126 der spiegel 2/2002 zu verwandeln. Dieses Vorgehen sollte die Entstehung eines zu- von nicht langer Zeit, bis wieder Kräfte mit einer Taliban-Men- sammenhängenden Territoriums für einen zukünftigen palästi- talität nach der Macht in unseren Nachbarstaaten greifen. Die Ta- nensischen Staat verhindern. Damit ging – ob mit oder ohne Ra- liban-Mentalität ist ein Virus, das mit dem Sieg der Amerikaner bins Wissen – die Vermehrung, Verstärkung und Vergrößerung der in Afghanistan nicht aus der Welt ist. umstrittenen israelischen Siedlungen im Westjordanland und dem Das weitere Beharren auf dem überholten israelischen Sicher- Gaza-Streifen einher. heitskonzept gefährdet aber auch Israel als einzig echte Demo- Man kann die Ängste und die Vorsicht der israelischen Politi- kratie im Nahen Osten. In der Knesset, dem israelischen Par- ker verstehen. Die traumatisch schwere Last der Vergangenheit lament, sind bereits stark antidemokratische Kreise vertreten. Sie wirkt hemmend und lähmend auf jeden Versuch, Risiken einzu- träumen davon, Israel in einen theokratischen Staat umzu- gehen, um den vorhandenen Konflikt beizulegen. Übertriebene wandeln und sind an der Regierung von Ariel Scharon maßgeb- Vorsicht wird jedoch mit der Zeit ebenso verhängnisvoll für jede lich beteiligt. Scharon und höchstwahrscheinlich nach ihm sein Aussicht, irgendwann noch einmal in Frieden in diesem Land zu- interner Rivale aus dem Likud-Block, Benjamin Netanjahu, der sammenzuleben. Fast alles, was im letzten Jahrhundert in diesem ihm bereits arg im Nacken sitzt, gelten durchaus nicht als die „ul- Land geschehen ist, treibt die beiden Völker in die falsche Rich- tima ratio“ für die rechtsradikale und orthodoxe Szene Israels. tung, und die Endstation ist leider ein furchtbarer Abgrund. Angesichts dieser Lage können die Nationen gar nicht wachsam Ein alter Witz erzählt von zwei Juden, die in einem genug sein, insbesondere Europa. Alle müssen auf jene Zug fahren. Sobald der Zug am ersten Bahnhof hält, Weimarer Tendenz in Israel achten, bei der die Demo- stöhnt einer der beiden. Beim zweiten Bahnhof stöhnt Deutschland kratie inzwischen von immer weniger Demokraten ge- er noch mehr und wird unruhig, bei der dritten Station muss seine tragen wird. Vor dieser Gefahr muss Deutschland, die- wird er richtig panisch. Darauf fragt der andere: „War- Befangenheit se wichtige Säule der Europäischen Union, seine Ver- um stöhnst du immer lauter und jämmerlicher von überwinden gangenheitsbefangenheit überwinden, um entscheidend Bahnhof zu Bahnhof?“ Er erhält zur Antwort: „Warum und weitsichtig und weitsichtig mitzuwirken an einem einigermaßen soll ich nicht stöhnen und beunruhigt sein? An jedem gerechten Frieden im Nahen Osten. Die Zeit, in der eine Bahnhof merke ich, dass ich in die falsche Richtung fah- mitwirken an hoffnungsvolle Friedensentwicklung im Nahen Osten re.“ Der andere schaut ihn verdutzt an: „Warum steigst einem Frieden von den mutigen Entscheidungen Israels und Palästinas du dann nicht einfach aus und nimmst den nächsten Zug bestimmt wurden, ist vorbei. Die Tapferen, die die Os- zurück?“ Die Antwort: „Ich habe schon meinen Fahrschein gelöst. loer Verträge unterschrieben, waren nicht tapfer genug, um den Ich habe einen guten Sitzplatz. Wer weiß überhaupt, wann ein Zug Feind zum Freund zu machen. in die andere Richtung geht und ob noch je einer kommt?“ So Nun kommt es zur Explosion. Die Friedensbemühungen unse- fährt er weiter in die falsche Richtung. res ehemaligen Premiers Ehud Barak, die unermüdlichen Be- Und so ergeht es auch uns: Wir sind unfähig geworden zur Ein- mühungen von US-Präsident Clinton und die gegenwärtigen sicht, dass wir uns vor langem einmal falsch entschieden haben. Bemühungen der Gesandten der Europäischen Union, des Clin- Wir wollen nicht umsonst so teuer bezahlt haben. Uns fehlt der ton-Nachfolgers George W. Bush und des deutschen Außenminis- Mut, schnell umzusteigen. ters Joschka Fischer waren erfolglos, nicht weil Arafat – wie be- Der Mann, der als Architekt des Staates Israel gilt, war David hauptet – kein Partner für den Frieden ist, sondern weil versucht Ben-Gurion. In der großen Euphorie der Staatsgründung wurde er wurde, dem Kern der palästinensischen Frage durch geringe Ab- gequält von der Frage „Wie soll es weitergehen?“ Israel hatte da- speisungen und unwürdige Manipulationen auszuweichen. mals eine Schlacht gewonnen, ohne jedoch außer Gefahr zu sein. Die zweite Intifada ist nicht nur Ergebnis des unverantwort- Mehr und mehr unabhängige arabische Staaten waren entstanden. lichen Besuchs von Scharon auf dem Tempelberg im September Zwar gestanden die Staaten, die Israel 1948 überfallen hatten, ihre 2000, sondern auch des Versuchs Ehud Baraks und Clintons, Arafat Niederlage ein und unterschrieben die Waffenstillstandsabkom- einen endgültigen Friedensvertrag aufzuzwingen. Barak wagte men, weigerten sich jedoch kategorisch, Israel anzuerkennen. zwar, die Frage Jerusalems auf den Tisch zu legen, machte aber Vielleicht hat diese Sturheit bewirkt, dass die Israelis sich mit deutlich, dass Israel nicht bereit sei, den muslimischen Teil zurück- gleicher Sturheit weigerten, die geringsten Kompromisse einzu- zugeben. Hinzu kommen die ungelösten Probleme der Flüchtlin- gehen, sowohl was die Chance auf Rückkehr eines Teils der paläs- ge von 1948 und 1967, die Fragen des von Israel enteigneten Ver- tinensischen Flüchtlinge betrifft als auch hinsichtlich der Rückgabe mögens von Palästinensern im Westjordanland und die Situation der besetzten oder annektierten Gebiete. Die schwer zu vertei- der jüdischen Siedlungen. Alles zusammen ist ein vergifteter Pfeil digenden Waffenstillstandsgrenzen und die furchtbaren Trauma- im Fleisch der Palästinenser. Es ist naiv oder besser gesagt un- ta der Nazi-Zeit, in der das jüdische Volk ohne Hilfe von außen ehrlich und unverantwortlich, von Arafat oder irgendeinem an- in die Gaskammern getrieben wurde, führten dazu, dass Ben- deren palästinensischen Führer zu erwarten, die Lösung dieser Gurion ein Sicherheitskonzept wählte, das im besten Fall bis zu drängenden Fragen noch weiter auf die lange Bank zu schieben. jenem Moment akzeptabel war, in dem Israel vom größten ara- Nun stehen wir vor der Frage, ob eine Rettung der Osloer Ver- bischen Nachbarn – Ägypten – anerkannt wurde. träge noch möglich ist, obwohl man das Rad der blutigen Ereig- Danach aber hat die Stärkung der militärischen Überlegenheit nisse seit Beginn der zweiten Intifada nicht zurückdrehen kann. in einer Zeit der Raketen, Atomwaffen und biologischen Waffen Jedenfalls nicht durch die Israelis und nicht durch die Palästi- Israel nur weniger sicher gemacht. Und der Versuch, von Syrien nenser. Das blutige Karussell der Gewalt ist nur noch durch einen und den Palästinensern nach einem ganz anderen Maß territoriale dramatischen und wagemutigen Schritt von außen aufzuhalten. Zugeständnisse zu verlangen als von Ägypten oder Jordanien, Weil Amerika nicht unvoreingenommen war in seinen Frie- schwächt die Sicherheit Israels mehr und mehr. densbemühungen und die verschiedenen israelischen Regierun- gen seit Oslo den Frieden nicht vorangetrieben haben, sollte jetzt o malen manche Intellektuelle jetzt das schreckliche Szenario ganz schnell die Europäische Union ein Angebot machen, etwa eines Untergangs Israels an die Wand: In einer Welt des in Form einer engeren Anbindung an die EU, das von beiden Sei- Swachsenden islamischen Fundamentalismus und der arabi- ten nicht so einfach zurückzuweisen ist. schen Frustration durch die stets ungeheure israelische Überle- Jetzt muss Europa erkennen, dass die Stunde des Handelns ge- genheit kann Israel nicht überleben. In solch einer Welt können kommen ist. aber auch die einigermaßen säkularen arabischen Staaten wie Ägypten, Syrien und Jordanien nicht überleben. Es ist nur eine Moskowitz, 1928 in Rumänien geboren, Opfer von nationalsozialistischer Verfolgung und Vertreibung, wanderte 1947 nach Palästina aus. Der Historiker, der über Deutsche Frage nicht allzu langer Zeit, bis auch andere Länder im Nahen und Juden zwischen Geistesmacht und Gewalt promovierte, ist Mitbegründer eines Osten in den Besitz von ABC-Waffen kommen. Es ist eine Frage jüdisch-arabischen Friedensdorfes bei Tel Aviv.

der spiegel 2/2002 127 Im Royal National Park süd- lich von Sydney war das Feuer nicht zu stoppen. Der zweitäl- teste Nationalpark der Welt ist nur noch eine verkohlte Fläche. Tausende Beuteltiere – Kängu- rus, Koalas und Wombats – ka- men in den Lohen um. Am Küsteneinschnitt des Sussex Inlet mussten 7000 Men- schen ihre Siedlungen verlassen und die Flucht an den Strand antreten. Auf der Suche nach Alten und Kranken nahm die Feuerwehr regelrechte Razzien von Haus zu Haus vor. Noch am Freitag war der Ferienort Bendalong, den eine dicke Ascheschicht bedeckte, durch die Brände abgeschnitten. Australien machte sich un- terdessen auf die Suche nach den Schuldigen an dem De- saster, bei dem bisher ein Ge- biet von der doppelten Größe

REUTERS Londons zerstört wurde. Dabei Löschhubschrauber über einem Vorort von Sydney: Suche nach den Schuldigen sind Buschfeuer auf dem fünf- ten Kontinent nichts Unge- Biest vom See Burragorang, überrollte bei- wöhnliches: Schon Kapitän Cook hielt an- AUSTRALIEN nahe einen Trupp von Brandbekämpfern. lässlich seiner ersten Reise entlang der Ost- „Glut fegte in die Wipfel der Bäume und küste im Logbuch fest, dass überall Rauch Glut in ließ sie explodieren“, berichtete Chris Tier- und Feuer sichtbar seien. ney, der mit seinen Kollegen in ein Lösch- Buschbrände waren für die Aborigines, fahrzeug geflohen war, um sich mit Decken Australiens Ureinwohner, stets Anlass zu den Wipfeln zu schützen. Essgelagen. Grund: Beuteltiere, die vor Dann ging es zu wie auf dem Gefechts- den Flammen flohen, waren für sie leich- Großbrände verheerten riesige feld eines Hightech-Kriegs. Per Funk riefen ter zu bejagen. Die Asche wiederum düng- die Männer einen Großhubschrauber vom te den Boden, förderte das Wachstum von Flächen im Bundesstaat Typ S-64 Erickson „Air Crane“ zu Hilfe, Gras und schuf neue Futterstellen. Neusüdwales. Kinder und Jugend- der dank Satellitensteuerung neun Tonnen Die modernen Australier freilich haben liche zündelten mit – Wasser über dem Inferno abwarf und die sich am mythischen Busch der Ureinwoh- vornehmlich aus Langeweile. vom Tode Bedrohten rettete. Bob Carr, Re- ner versündigt – mit Kohlekraftwerken, gierungschef von Neusüdwales und selbst riesigen Rodungen und einer Urbanisie- ndlich, am Donnerstag voriger Wo- ein begeisterter Buschgänger, hatte den rung, wie es sie sonst nirgendwo gibt: che, waren die fahlen Schwaden und Helitanker wegen der australischen Som- 82 Prozent der Bevölkerung leben an der Edie Rauchglocke über Sydney, der merhitze und der Ferien extra angemietet. Ostküste in einem schmalen Küstenstreifen Vier-Millionen-Metropole am Pazifik, ver- Er will nun zwei Exemplare kaufen. von nur 100 Kilometer Breite. Wild wu- schwunden. Das Panorama der Busch- chern die Vororte – fast immer Siedlun- brände, die an Weihnachten ausgebrochen Brandherde gen aus Holzgebäuden – in das Buschland waren und die Olympiastadt umzingelt hat- Blue hinaus. ten, wich erstmals ein wenig zurück. Mountains Blitzschlag war an Weihnachten mut- Doch Bürgermeister Frank Sartor konn- maßlich die Ursache des ersten Brands, te trotzdem nicht Entwarnung geben. Das Sydney vielleicht aber auch ein achtlos weggewor- Ende der Katastrophe war noch längst fenes Konservenglas, das wie eine Lupe nicht abzusehen. Gut hundert Brandherde Burra- wirkte und an dem sich das Unterholz ent- loderten im Bundesstaat von Neusüdwales, gorang- zündete. Doch dann kamen die Feuerleger, und die Prognose verhieß wenig Gutes: See Royal von denen bis Freitag 24 festgenommen weiterhin Temperaturen über 35 Grad, bö- National wurden. 15 von ihnen waren Kinder und ige Winde und eine Abnahme der Luft- Park Jugendliche zwischen 9 und 16 Jahren. Ein feuchtigkeit, die Sydney gerade eine Atem- Brandstifter wollte gar die ausgedorrte pause verschafft hatte. Wiese neben einer Tankstelle abbrennen. Im Gebirgszug der Blue Mountains, die Die Polizei von Neusüdwales vermutet, sich nordwestlich der Weltstadt erstrecken, AUSTRALIEN dass sich die jungen Zündler in den Schul- und in der Küstenzone südlich von ihr tob- ferien langweilten und „action“ in den ten kilometerlange Feuerfronten. Busch- Sydney Parks veranstalten wollten. Premier Carr werk und brennende Eukalyptusbäume will die Täter hart angehen: „Wir müssen verwandelten die Luft über den Bergen in sie am Schlafittchen packen und ihre Nasen aufsteigende Flammen. Eine besonders ge- Bendalong Sussex 50 km in der Asche reiben, für die sie verant- walttätige Feuerwalze, das so genannte Inlet wortlich sind.“ Joachim Hoelzgen

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regt, in so geschliffenen Sätzen, POLEN dass sein Polnisch fast ein biss- chen künstlich klingt. 20 Jahre ist es her, als er Pan- Persilschein im zer auffahren und den „Som- mer der Solidarno£ƒ“ nieder- walzen ließ. „Ich habe noch in Schreibtisch der Nacht zuvor auf ein Zeichen gewartet“, sagt er, aber die So- Der ehemalige Militärdiktator lidarno£ƒ sei nicht kompromiss- Jaruzelski hat sich mit bereit gewesen. „Wir haben uns alten Gegnern versöhnt und hofft eben nicht verstanden.“ Mit der Verhängung des auf einen besseren Kriegsrechts, so beteuert er seit Platz in der Geschichte. Jahren, habe er nur den Ein- marsch der Sowjetarmee ver- r lebt mitten in der Stadt, nur ein hindert und außerdem ein wirt- paar Minuten vom Bahnhof entfernt. schaftliches Fiasko: „Die So- EDurchs Fenster seines spartanisch wjetunion hätte uns Gas und Öl eingerichteten Büros blickt er auf das neue abgedreht. Im Bergbau wurde SKARZYNSKI / AFPJANEK / DPA Polen: Blaugelb blinkt es bei Ikea, rotgold gestreikt. Bei der Kälte hätte das Ex-Staatschef Jaruzelski (2001): Unglücklicher Held bei McDonald’s, an den Fassaden der Kauf- eine Katastrophe gegeben!“ Die häuser leuchten auch jetzt im Januar noch einstigen Brüder aus Moskau gehören Danzig und Stettin 1970. Damals kamen 44 Tausende Glühbirnen. zweifellos zu den Schuldigen im Drama. Menschen ums Leben. Doch das Verfahren Doch den General a. D. Wojciech Jaru- Manchmal nimmt der lichtempfindliche hängt in der Luft, so wie das endgültige ge- zelski, 78, den ehemaligen Verteidigungs- General die Sonnenbrille ab, die ihn da- schichtliche Urteil über ihn. minister, Staats- und KP-Chef der Volks- mals eher berüchtigt als berühmt gemacht Lange, zumindest so lange, wie die spä- republik Polen, beeindruckt die bunte Glit- hatte, weil mancher im Westen hinter den teren Gewinner der Solidarno£ƒ an der zerwelt nicht. Der alte Kämpfer beschäftigt dunklen Gläsern das Böse vermutete. Macht waren, galt Jaruzelski als Feind der sich fast ausschließlich mit seiner eigenen Wenn er sich aber die Lider mit den Hän- Freiheit. Immerhin verschwanden in der Rolle, sieht sich als unglücklicher Held in den reibt, kommen bloß kleine, müde Au- Zeit des Kriegsrechts Tausende Aktivisten einer Tragödie: Er habe seinem eigenen gen zum Vorschein. in Haftlagern. Viele kehrten nicht zurück. Land den Krieg erklären müssen, um es Schon vor fünf Jahren hatte das polni- „Selbstmord“ stand dann lapidar auf dem zu retten, wie er immer wieder betont. sche Parlament, der Sejm, entschieden, Totenschein. Kein Gast muss den General auf den Ge- dass sich Jaruzelski für die Verhängung des Laut Umfragen scheinen die Polen in- waltakt vom Dezember 1981 ansprechen. Kriegsrechts nicht vor Gericht verantwor- zwischen ihren Frieden mit dem alten Sol- Er beginnt von selbst, so wie ein Kranker ten muss. Doch die Staatsanwaltschaft hat daten geschlossen zu haben. Über die Hälf- einem Fremden ungefragt sein chronisches einen anderen Grund gefunden, ihn anzu- te aller Befragten glaubt, das Kriegsrecht Leiden darlegt. Stundenlang kann er über klagen: wegen seiner Rolle bei der Nie- sei „eher richtig“ gewesen, nur noch ein das Kriegsrecht reden, ruhig, nie aufge- derschlagung des Werftarbeiterstreiks in Viertel hält die Diktatur des Generals wei- terhin für verdammenswert. Auch die Wendekommunisten, die derzeit erneut an der Macht sind, breiten einen verklären- den Schleier über die unschöne Geschichte. Polens heutiger Präsident Aleksander Kwa£niewski, 47, er- lebte den Danziger Arbeiter- aufstand als kommunistischer Jugendfunktionär. Mit sicherem Gespür für die neue Milde im Land nennt er das Kriegsrecht zwar noch „ein Übel“, das „die Hoffnung auf Demokratie er- stickte“. Zugleich nimmt er den einstigen Diktator in Schutz: Jaruzelski habe damals ge- glaubt, „zum Guten des Landes aus patriotischer Überzeugung“ gehandelt zu haben. Morgens, so erzählen Mitar- beiter in Kwa£niewskis Staats- kanzlei, frage Jaruzelski sei- ne Frau am Frühstückstisch: „Wird das polnische Volk mir jemals verzeihen?“ Dann ant-

DAVID BURNETT / CONTACT / AGENTUR FOCUS / AGENTUR BURNETT / CONTACT DAVID worte die Generalsgattin: „Si- Panzerwagen in Warschau (1981): Einmarsch der Sowjetarmee verhindert? cher, Wojciech.“

130 der spiegel 2/2002 Einer, der ihn schon lange kennt, glaubt, dass Jaruzelski diese Frage bis an sein Le- bensende stellen wird, selbst wenn ihm sei- ne ärgsten Feinde längst vergeben haben. Sogar der Publizist und Solidarno£ƒ-Strei- ter Adam Michnik, der unter Jaruzelskis Herrschaft seine Kommentare als Kassiber aus dem Gefängnis an den SPIEGEL schickte, hat dem General öffentlich ver- ziehen und nennt ihn einen „Ehrenmann“. Jaruzelski will wieder respektiert wer- den. Noch vor dem Mauerfall habe er doch Buße getan, sagt er. Schon 1989 habe er ge- gen den Betonflügel der kommunistischen Partei den Weg zur Demokratie freigege- ben. Und das Kriegsrecht sei schließlich auch eine verzweifelte Maßnahme gewe- sen, um 36 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs einen erneuten Einmarsch von deutschen Soldaten zu verhindern. Er zieht ein Papier aus dem Schreib- tischfach. „Ablauf der Handlungen nach Eintreffen des Signals“ steht da in deut- scher Sprache, darüber, in kleiner Schrift: „Geheime Kommandosache“. Auf nur zwei Seiten wird eine Offensive der Nationalen Volksarmee der DDR gegen Polen skizziert. Verzeichnet ist in diesem Szenario der Vorstoß der 9. Panzerdivision der NVA. Nach drei Tagen Vorbereitung hätte sie die Oder überschreiten und sich in Polen festsetzen sollen. Der auf Moskauer Geheiß entworfene Plan, von SED-Chef Erich Honecker unterzeichnet, stammt aus dem Spätherbst 1980. Die Entscheidung ge- gen eine Intervention war aber bereits vor der Ausrufung des Kriegsrechts gefallen. Sind die Einlassungen des Generals des- halb fromme Legenden, die davon ablen- ken sollen, dass er damals nicht das Vater- land, sondern nur das Regime der Kom- munisten retten wollte? Das wird ihm von Historikern vorge- worfen, die – so sieht er das – nicht nach- vollziehen können, welche gewundenen Wege einer suchen muss, der 1939 vor den Deutschen nach Litauen flüchtete und spä- ter nach Sibirien deportiert wurde. Dort besuchte er eine Offiziersschule, auf der er die Russen kennen gelernt hat – und die hohe Kunst, sich ihren Umarmungen sowie ihrer „brüderlichen Hilfe“ zu entziehen: Das sei sein Lebenswerk geworden. Jaruzelski fährt mit dem Finger über die NVA-Karte, die er als seinen Persilschein versteht. Mitunter besucht ihn der frühere Sowjetbotschafter Jurij Kaschlew. Er haut ihm derb auf die Schulter, lacht laut und verschwindet dann mit ihm hinter einer schalldichten Tür. Noch immer gibt es of- fenbar Themen zu besprechen, die andere nichts angehen. Der Bodyguard des Russen spendiert dem Bodyguard des Polen eine Zigarette. Sie bevorzugen dieselbe Marke. Zum Ab- schied umarmt der alte Sowjetdiplomat den General – so wie ein großer Bruder ei- nen jüngeren umarmt, der Pech hatte im Leben. Claus Christian Malzahn der spiegel 2/2002 131 Ausland

Asiaten und Weiße bei Straßenschlachten Der Krieg in Afghanistan hat deren Iso- GROSSBRITANNIEN gegeneinander und mit der Polizei über lation nur noch verschärft. Nach dem 37 Millionen Mark Sachschaden angerich- 11. September beschimpften und attackier- Parallele tet. 400 Polizisten waren verletzt worden, ten englische Krawallmacher Muslime auf fast ebenso viele Randalierer verhaftet. offener Straße. Junge Islamisten wieder- „Besonders beeindruckt“ zeigte sich um unterstützen den Kampf von Osama Welten jetzt das vom Innenministerium beauf- Bin Laden und rekrutierten Freiwillige für tragte Untersuchungsteam über die „Tiefe den Dschihad. Statt harmonischen Multikultis der Polarisierung“. Asiaten und Weiße, so Um Brücken zwischen den Entfremde- der Bericht, führten „parallele Leben“; ten zu bauen, hat das Untersuchungsteam herrschen im Norden Englands ohne Berührungspunkte in Schulen, Kir- eine Liste von 67 konkreten Vorschlägen Rassismus und Gewalt. Vor allem chen oder am Arbeitsplatz. formuliert. Dazu gehört die Idee, von Re- die Muslime sondern sich in In der boomenden Weltstadt London ligionsgemeinschaften getragene Schulen einer geschlossenen Subkultur ab. dominiert zwar nettes und tolerantes Mul- zu verpflichten, mindestens ein Viertel al- tikulti-Miteinander; doch in den abgeta- ler Plätze an Schüler mit anderer Glau- s war nur ein kleines Interview. Dass kelten Industrierevieren Nordenglands bensrichtung zu vergeben. Labour-Innenminister David Blun- sieht es anders aus. Das englische Wohl- Nach einem anderen Vorschlag sollen Ekett dennoch mit wenigen Sätzen standsgefälle vom reichen Süden zum ar- Einwanderer bei ihrer Einbürgerung einen derart die Gemüter erregte, lag am Ge- men Norden ist das größte aller EU-Län- Eid auf die Queen ablegen. Ein solcher genstand: Einwanderung, Rasse und Re- der. Die Armut trifft besonders die Fami- Schwur stieße auch bei den Anhängern der ligion gehören auch in der britischen Poli- lien der Einwanderer aus Pakistan und rechtsextremen British National Party tik zu den sensibelsten Themen. Immi- Bangladesch, die in den vergangenen Jahr- (BNP) auf Zustimmung, die zum Teil die granten aus fremden Kulturen müssten zehnten kamen, um in den Textilfabriken Unruhen des vergangenen Sommers pro- die britischen Normen ak- zeptieren, befand der von Geburt an blinde Blunkett. Außerdem sollten Einwande- rer sich „bescheidene Kennt- nisse der englischen Spra- che“ erarbeiten, wenn sie Untertanen Ihrer Majestät, also britische Staatsbürger, werden wollten. Wie immer in dieser briti- schen Variante des Streits um eine „Leitkultur“ schlugen sofort die Emotionen durch. Der prominente schwarze

Gewerkschaftschef Bill Mor- (U.) LONDON (R.); THE INDEPENDENT, ANDREW WIARD/REPORTPHOTOS

Rassenkrawalle in Nordengland*: Den Opfern die Schuld zugeschoben?

zu arbeiten. Diese Industrie ist inzwischen vozierten. BNP-Führer Nick Griffin kün- abgewickelt, und in dem von Asiaten be- digte an, seine Partei werde die Forderung wohnten Bradforder Stadtteil Manningham Blunketts nach dem „Akzeptieren der Junge Asiatinnen in Bradford etwa sind 38 Prozent arbeitslos. Normen“ künftig in ihren Flugblättern ver- Armut im Industrierevier Neben Armut und Segregation er- wenden. schwert offenbar die Religion den asiati- Unter den Asiaten der nordenglischen ris hielt Blunkett vor, solche Ansichten ken- schen Einwanderern in Nordengland die Stadt Burnely, wo die Rechtsextremen bei ne man von „Politikern aus Deutschland, Integration. Als Muslime haben sie größe- den letzten Wahlen auf über elf Prozent ka- Österreich und neuerdings Dänemark“. re Schwierigkeiten, sich in der säkulari- men, findet Blunkett wenig Zuspruch. Sher Der Innenminister schiebe „den Opfern sierten westlichen Gesellschaft zu bewe- Ali Miah, Sekretär eines bangladeschischen die Schuld zu“, den Immigranten, die un- gen als Hindus, Buddhisten oder Christen. Wohlfahrtsvereins, ärgert sich besonders ter Armut und dem Versagen der Politiker Während mittlerweile die Hälfte aller über die Aufforderung des Innenministers, in London litten. schwarzen Männer und ein Drittel aller Englisch zu lernen. Angeheizt wird die Debatte durch die schwarzen Frauen, die aus der Karibik Die Briten hätten 200 Jahre den indi- Veröffentlichung einer Studie über die Ur- stammen, Weiße heiraten, schließen mus- schen Subkontinent beherrscht, meint der sachen der nordenglischen Rassenunruhen limische Asiaten Ehen fast nur unter sich. ehemalige Labour-Gemeinderat, „und ha- des vergangenen Sommers. In Oldham, ben sie vielleicht eine unserer Sprachen Bradford, Burnley und Leeds hatten junge * Am 7. Juli 2001 in Bradford. gelernt?“ Michael Sontheimer

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eher bescheiden: Kugelblitze dauern oft zehn Sekunden; sie bewegen sich manchmal durch Glas hindurch; sie verschwinden mit einem Knall, wobei bisweilen ein Schaden entsteht. Fazit: „Jeder von uns meint, dass seine jeweilige Theorie alle oder zumindest die meisten Beobachtungen von natürlichen Kugel- blitzen erklärt – auf teilweise widersprüchliche Weise.“ Selbst nach Lektüre der sieben Fachaufsätze erscheinen die versam- melten Anekdoten indes so rätselhaft wie zuvor – etwa der Bericht eines russischen Lehrers: Ein glühender Ball hüpfte 20-mal auf seinem Kopf auf und ab, ohne ihn zu verletzen. Dann verschwand die Leuchterscheinung spurlos. WEATHERSTOCK Angeblicher Kugelblitz im japanischen Nagano (1988)

KUGELBLITZE Leuchtender Spuk ie leuchten gelb oder blau, sind groß wie Fußbälle, gleiten Sangeblich durch Wände in Räume hinein und zerplatzen plötzlich wie ein böser Spuk. Die legendären Kugelblitze hal- ten seit Jahrzehnten Wissenschaftler aus aller Welt zum Nar- ren; niemand konnte bislang schlüssig erklären, wie sie entste- hen. Weil sie extrem selten sind, gibt es kaum Fotos von ihnen. Bisweilen wird sogar ihre Existenz abgestritten und der ganze Spuk als eine elektromagnetisch hervorgerufene Halluzination der Beobachter abgetan. Doch nun widmet die ehrwürdige britische Royal Society dem vertrackten „Ball Lightning“ ein

ganzes Heft ihrer Fachzeitschrift „Philosophical Transactions A“. BPK Trotz dieses Aufwands bleiben die vorläufigen Erkenntnisse Kugelblitz in einer Scheune (Holzstich aus dem 19. Jahrhundert)

MINICOMPUTER TIERE beobachtet haben. Ihre Hypothese: Die Tiere richten ihre Stimmlage nach den Apples zweiter Anlauf Tonhöhe gleich Asthöhe? akustischen Eigenschaften ihrer jeweili- gen Umgebung. Inmitten von schallhem- uch die Computergeschichte er oben sitzt, singt hoch und mendem Unterholz sind die eher langsa- Ascheint sich zu wiederholen. Wschnell, wer unten haust, singt tief men, tiefen Töne des Ameisenschlüpfers Apple wagt einen zweiten Versuch, und langsam. So lässt sich der erstaunli- sehr leicht wahrzunehmen und tragen den Markt der Organizer (PDA) zu er- che Zusammenhang von Asthöhe und weiter als hohes Gezwitscher. Vogelarten obern. Der neue Minirechner soll an- Tonhöhe zusammenfassen, den Vogel- dagegen, die ein Revier in 20 Meter geblich „iWalk“ heißen und in sei- kundler im Urwald von Venezuela an- Höhe zu verteidigen haben, nutzen die nem Design dem schicken neuen MP3- hand von fünf verschiedenen Vogelarten dort fast ungehinderte Ausdehnung Player „iPod“ ähneln. Die ersten Vi- der Schallwellen und kön- deoaufnahmen eines Prototypen auf nen sich daher durch der Insider-Website www.spymac.com hohe, schnelle Melodien sorgten in der Gemeinde der gläubi- mit einem größeren Ton- gen Macianer bereits für einige Aufre- umfang im weiten Um- gung. Demnach verfügt der neue De- kreis bemerkbar machen. signer-Minirechner über ein ähnlich Ähnlich wie gute Kompo- elegantes Drehrädchen wie der iPod nisten stellen sich Vögel sowie über einen großen Bildschirm, auf die jeweilige Klang- der gleichzeitig als berührungsemp- landschaft ein, sagt der findliche Eingabefläche dient. Bereits Ornithologe Erwin Ne- 1993 brachte Apple überhastet den meth von der Österreichi- Minicomputer „Newton“ heraus, der schen Akademie der Wis- floppte. Die Produktion wurde über- senschaften in Wien, der eilt wieder eingestellt, der folgende die Forschungsgruppe ko- Boom verpasst. Nun droht der entge- ordiniert: „Die eine gengesetzte Fehler: Apple könnte mit Musik passt gut in eine

seinem Designerstück zu spät auf den INC. / PETER ARNOLD MARIGO LUIZ Kathedrale, die andere überfüllten Markt stoßen. Ameisenschlüpfer besser in einen Jazzclub.“

der spiegel 2/2002 135 Prisma Wissenschaft · Technik

ARCHÄOLOGIE Keltische Wanderarbeiter ntegrationsprobleme von entwurzelten Fremdarbeitern sind Inichts Neues. Keltische Stämme, die im Jahr 278 vor Christus aus dem kalten Norden Europas über den Bosporus nach Anatolien einwanderten, bewahrten auch in der Fremde ihre eigene Kultur. Das legen neue Grabungsfunde von strangulierten und enthaup- teten Körpern nahe, die in Gordion gefunden wurden, einer anti- ken Ausgrabungsstätte 80 Kilometer südwestlich von Ankara. Nach dem Tod Alexanders des Großen zerbrach das makedonische Reich. Ein Heer von 20000 keltischen Kriegern nutzte das Macht- vakuum und fiel in Makedonien ein, begleitet von einem Tross aus 10000 Frauen, Kindern und Händlern. Die Einheimischen nannten sie „Galater“ und heuerten sie als Söldner an. Schließlich ließen sich die Veteranen in der Stadt Gordion nieder, wo in goldenen Zeiten einst der legendäre König Midas geherrscht hatte. Doch die Wan- derarbeiter übernahmen nicht die lokale Leitkultur, sondern be- harrten auf ihren keltischen Namen und pflegten weiter die rauen Sitten ihrer Heimat – wozu auch Menschenopfer und Kannibalis- mus gehörten. „Bislang waren die archäologischen Beweise für eine größere Anwesenheit der Galater nicht überwältigend“, be-

REX GEISSLER richten die Forscher in der Zeitschrift „Archaeology“, „bis wir Grabhügel des König Midas in Gordion nun die schrecklichen Beweise für Menschenopfer fanden.“

UMWELT Nähe kommt, droht von der oft über 100000 Kilometer Giftige Luft in Neuwagen langen Staubwolke zerfetzt zu werden: Staubkrümel, die utos stinken nicht nur aus dem Auspuff, sondern 100-mal schneller als ein Aauch im Innenraum. Vor allem in Neuwagen ist Jumbo auf ein Hindernis tref- die Luft durch giftige Ausdünstungen belastet. Das ha- fen, wirken zerstörerisch wie ben Luftmessungen des australischen Forschungsver- Gewehrkugeln. Nun haben bunds Csiro ergeben. „Wer sich in einen Neuwagen US-Wissenschaftler eine Art setzt, kann Giftkonzentrationen antreffen, die weit schusssichere Weste für über den nationalen Grenzwerten liegen“, sagt Steve Raumsonden entwickelt. Die Brown, Fachmann für Luftqualität bei Csiro. Bis zu Hülle gegen das Staub-Bom- sechs Monate nach Auslieferung der Fahrzeuge halten, bardement besteht aus sieben laut Brown, die bedenklich hohen Konzentrationen Lagen der Kunststofffaser von Substanzen wie Benzol, Toluol, Aceton und Styrol Kevlar, die bis zu fünfmal an. Im Lauf der über zwei Jahre angelegten Studie härter ist als Stahl. Zum Ein- beklagten sich die Benutzer von Neuwagen unter an- satz kommt der neuartige derem über Kopfweh, Schwellungen, Lungenreizungen Schutzpanzer erstmals bei

und Übelkeit. Der gemessene Chemikalien-Cocktail UNIVERSITY CORNELL der Nasa-Kometensonde aus 22 Substanzen, so die Studie, führe „schon bei „Contour“-Sonde (Zeichnung) „Contour“, die in diesem halb so hohen Konzentrationen binnen wenigen Minu- Sommer starten soll. Der ten zu Reaktionen“ wie Unwohlsein, Müdigkeit und RAUMFAHRT Flugkörper hat den Auftrag, sich Orientierungs- bis auf rund hundert Kilometer störungen. Brown Kugelsichere Sonde den Kernen der beiden Kometen fordert daher scho- „Encke“ und „Schwassmann- nendere Lösungs- ometen gehören zu den äl- Wachmann 3“ zu nähern und mittel sowie die Ktesten Himmelskörpern im von dort aus hochauflösende Einführung eines Sonnensystem. An ihnen wollen Aufnahmen zu machen. Im Rah- Qualitätssiegels für Astronomen studieren, woraus men der 150 Millionen Dollar die Luftqualität in sich die Urmaterie einst zusam- teuren Mission wird der fliegen- Autos. „Leute, die mensetzte. Doch die Boten aus de Roboter erstmals auch in ei- einen Neuwagen der Gründerzeit von Sonne und nen elektronischen Winterschlaf kaufen, sollten die Planeten scheinen sich gegen die versetzt: Wie ein Schläfer rast ersten sechs Mona- wissenschaftliche Erforschung die Sonde blind, stumm und

CSIRO te immer gut lüf- durch Raumsonden zu sträuben. taub durchs All, um Energie und Brown bei Lufttest ten“, rät Brown. Denn jedes Objekt, das in ihre Kosten zu sparen.

136 der spiegel 2/2002 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft FOTOS: IZW FOTOS: Tierarzt Göritz (l.) bei der Untersuchung eines betäubten Elefanten in Tansania: Nie wieder Grautiere aus der Freiheit rauben

TIERE Samenraub in der Savanne Zwei Berliner Tierärzte haben sich auf die künstliche Fortpflanzung von Wildtieren spezialisiert und sich damit weltweit einen Namen gemacht. Die Veterinäre verhelfen vor allem Elefanten zu Nachwuchs, die sich in Zoo und Zirkus nur selten vermehren.

ur wenige Menschen haben so vie- Washington D. C. Die dortigen Tierärzte Nur dann spült Kollege Göritz die Samen- len Elefantenbullen zu einem Or- nennen seine wissenschaftlichen Väter aus fäden in das Weibchen. Ngasmus verholfen wie Thomas Deutschland in einer Mischung aus Dank Acht Jahre lang haben die beiden, die Hildebrandt. Der 38 Jahre alte Tierarzt und Respekt die „Berlin Boys“. sich bereits zu DDR-Zeiten als Studenten mag dafür auf Stehpartys im heimischen Vom „Absamen“ des Elefantenbullen der Humboldt-Universität anfreundeten, Berlin entsetzte Blicke ernten, aber Zoo- mittels elektrischer Stimulation bis zum ihre Methode immer wieder verändert und direktoren in aller Welt verehren ihn. Einspülen der Spermien durch einen me- verbessert. Die künstliche Besamung Mit seinem Mitstreiter Frank Göritz, 38, terlangen Schlauch reichen die Dienste der kommt genau zur rechten Zeit: In Zoos hat Hildebrandt am Institut für Zoo- und deutschen Pioniere. Eine entscheidende und Zirkussen droht Elefantenmangel. Da Wildtierforschung in Berlin eine Methode Rolle bei dieser künstlichen Besamung die grauen Riesen in Gefangenschaft nur von kolossaler Tragweite entwickelt: die spielt Hildebrandt. Er kennt sich mit der – äußerst unwillig miteinander verkehren, Zucht von Elefanten durch künstliche Be- aus menschlicher Sicht – höchst merkwür- ergeht es ihnen – in puncto Fortpflanzung samung. digen Anatomie der Elefantenkühe besser – ähnlich wie den Deutschen: Es sterben Die vor allem in Liebessachen sensiblen aus als jeder andere. mehr, als neue geboren werden. Dickhäuter pflanzen sich in Gefangenschaft Weil Elefanten so groß sind und eine so Verschärfter Artenschutz und eine sen- nur selten fort. Doch jetzt sind die Berliner dicke Haut haben, kann man sie von außen sible Öffentlichkeit machen es nahezu un- Babymacher dabei, das zu ändern: Auf mit dem Ultraschall praktisch nicht unter- möglich, die Nachfolger der Generation ihren Einsätzen in aller Welt haben sie be- suchen: Der Schall dringt nur etwa 20 Zen- der Greise wie früher einfach aus der frei- reits sieben Elefantenkühe künstlich ge- timeter ins Gewebe. Hildebrandt hat des- en Wildbahn zu fangen. „Ohne künstliche schwängert. Drei Babys wachsen gegen- halb eine stabförmige Ultraschallsonde ent- Besamung könnten Zooelefanten inner- wärtig im Bauch der Mütter heran, die vier wickelt, die an der Spitze leicht gebogen halb von zwei Jahrzehnten verschwunden anderen sind sogar schon auf die Welt ge- ist. Dieses Instrument schiebt er einen Me- sein“, schrieb kürzlich das Wissenschafts- kommen. ter tief in den Darm des Weibchens und magazin „Science“. Das frischeste Kind, ein tapsiger Elefan- dreht es in Richtung der Geschlechtsorga- „Mit unserem Verfahren wird es möglich tenknabe, verzückt seit seiner Geburt am ne. Auf diese Weise kann er erkennen, ob sein, die gefangenen Elefanten in ausrei- 25. November die Besucher des National- der Schlauch mit den Spermien tatsächlich chender Zahl zu vermehren“, hofft Hilde- zoos in der amerikanischen Hauptstadt bis in die Gebärmutter vorgeschoben ist. brandt. Niemals mehr müsse man die

138 der spiegel 2/2002 DDR damals vieles daran, sei- deutschland zugewanderten Kollegen krie- ne Karriere zu verhindern. gen. „Zu Hause bezahlt man uns wie Viermal wurde sein Antrag, zweitklassige Ostwissenschaftler“, sagt Tiermedizin studieren zu dür- Hildebrandt. „Doch sobald wir Berlin ver- fen, abgelehnt, ehe er schließ- lassen, sind wir die großen Weltexperten.“ lich doch einen Nachrücker- Und denen wuchsen nach Ende des Kal- platz bekam. Die wissen- ten Krieges gewichtige Aufgaben zu: vor al- schaftlichen Leistungen des lem die künstliche Besamung von Elefan- politisch unbeugsamen Stu- ten – und neuerdings auch von Nashör- denten waren so glänzend, nern. dass er staatliche Stipendien Bei den Weibchen beider Tierarten ist es erhielt und in die „Meister- eine Kunst, den richtigen Zugang zu fin- klasse für Biotechnologie“ den. Die Scheidenöffnung liegt nämlich ein aufgenommen wurde. bis zwei Meter tief im Hinterteil verborgen. Gemeinsam mit Studien- Nur mit Hilfe der Ultraschall-Überwachung freund Göritz besorgte sich gelingt es, den Schlauch mit dem Sperma Hildebrandt bei einem Hu- durch die weitläufigen Geschlechtskanäle manmediziner der Charité ins Ziel zu manövrieren. heimlich Ultraschallgeräte – Im Vergleich zu Elefanten seien Nas- und untersuchte damit die In- hörner „noch unberechenbarer“, erzählt timbereiche von Afrikani- Tierarzt Göritz. Wolle man einem Nas- schen Zwergziegen, Haus- hornbullen Sperma abnehmen, dann kra- pferden, Yaks und Makaken. che und scheppere es wie im Film „Hata- „Ich war fasziniert und über- ri!“. Als die Berliner Tierärzte und ameri- rascht, wie präzise man die kanische Kollegen vor kurzem einen inneren Organe mit Ultra- Bullen mit vier Autos in die Enge trieben, Tierarzt Hildebrandt*: „Er ultrabeschallt alles, was lebt“ schall erkunden konnte“, er- waren zwei Gefährte schrottreif, ehe eine innert sich der Veterinär. Betäubungsspritze den Wüterich besänf- gewaltigen Grautiere aus der Freiheit rau- Auch als am 9. November 1989 die Mau- tigte. Göritz: „Der Bursche rammte sein ben. Schon mehr als 50 Elefantenspezia- er fiel, verfolgte Hildebrandt konsequent Horn immer so richtig schön in den Kühler listen aus Deutschland, England, Holland, seinen Weg: Während Zehntausende Ost- unseres Wagens.“ Israel, Kroatien, Italien und den USA Berliner zum Feiern gen Brandenburger Doch von so etwas lassen sich die „Ber- möchten die Methode der Berliner über- Tor strömten, eilte er auf dem Fahrrad zum lin Boys“ nicht schrecken. Mit ihrem jun- nehmen. Ost-Berliner Tierpark in Friedrichsfelde. gen Kollegen Robert Hermes, 32, einem Die virtuose Schlauchführung der Deut- An diesem Abend musste er einem Yak Fachmann für Spermienaufbereitung, ha- schen soll auch anderen bedrohten Tierar- eine Hormonspritze geben, um die Rei- ben sie im Herbst zwei Breitmaulnashörner ten das Überleben sichern. Hildebrandt hat fung von Eiern anzuregen – was dank der künstlich besamt. Ob der Akt, der sich in sich mit Ultraschallsonden bereits in die pünktlichen Injektion dann auch geschah. einem kanadischen Safaripark vollzog, zu inneren Organe von mehr als 200 Tierarten Nach der Wende blieben die Tierärzte Nashörnchen führt, das werden Schwan- hineingewagt. Die im Berliner Zoo leben- ihrem Institut treu – auch wenn sie als gerschaftstests in den nächsten Tagen zei- de Pandabärin Yan Yan bekam es mit dem ehemalige DDR-Forscher nur 90 Prozent gen. Anstrengend war er in jedem Fall: vordringlichen Doktor ebenso zu tun wie des Lohnes erhalten, den ihre aus West- Hildebrandt ging anschließend wegen ein riesenhafter Komodowaran Rückenschmerzen in eine und eine deutsche Feldhäsin. Rettung aus der Retorte? mehrwöchige Kur. Im Nationalzoo zu Washington Auch in der freien Wild- hat sich Hildebrandt sogar einmal Tiere, an denen Methoden der Reproduktionsmedizin erprobt werden bahn ist das Know-how der einem Kraken inwendig genähert. Bestand in freier in Gefan- Berliner gefragt. Im letzten Wildbahn genschaft „Der ultrabeschallt so ziemlich Großer Sommer untersuchten sie alles, was lebt oder krabbelt“, Panda stark gefährdet rund 1000 rund 130 das Fortpflanzungsverhal- kommentiert Richard Montali, ten von Elefanten in Tan- Tierarzt am Nationalzoo. Nördliches Breit- vom Aussterben rund 30 10 sania. Hildebrandt schob Als einer der ersten westlichen maulnashorn bedroht seine Ultraschallsonde in Forscher hatte Montali die wissen- Tiere, die zuvor vom Hub- schaftliche Potenz der Berliner Kol- schrauber aus betäubt wur- Gorilla stark gefährdet rund 126 000 570 legen erkannt und sie bereits vor den. Er trug einen selbst dem Fall der Mauer in ihrem entwickelten Helm, in dem Plattenbau in Friedrichsfelde be- Eulen- vom Aussterben rund 60 k. A. er die schemenhaften Ul- sucht, der seinerzeit noch die papagei bedroht traschallbilder aus dem „Forschungsstelle für Wirbeltierfor- Leib der Dickhäuter direkt schung der Akademie der Wissen- Schwarzfußiltis ausgestorben Wieder- 450 vor Augen hatte. schaften der DDR“ beherbergte. in freier Wildbahn ansiedlung Mit seiner futuristischen Weil sich Hildebrandt Kopfbedeckung konnte der schon als Schüler kritisch Gepard gefährdet rund 12 000 rund 1000 Experte sogar zentimeter- über das kommunistische Re- kleine Elefantenembryo- gime geäußert hatte, setzte die Indischer stark gefährdet rund 43 000 420 in Zoos; nen in tonnenschweren Elefant 16 000 Müttern erkennen. Einem Arbeitstiere betäubten Bullen wieder- * Mit speziellem Sichthelm bei der Ul- traschalluntersuchung eines südlichen Tiger stark gefährdet rund 6300 rund 1100 um schoben die Berliner Breitmaulnashorns. einen elektrischen Stimu-

der spiegel 2/2002 139 Wissenschaft latorstab in den Darm und massierten zu- Erfolgreicher waren voriges Frühjahr ita- gleich den meterlangen Penis – dann kam lienische Tierärzte: Sie haben eine Schaf- AUTOMOBILE es zum Samenraub in der Savanne. unterart geklont, das in seiner Heimat Kor- Das Treiben der Deutschen sei „ein glän- sika und Sardinien selten gewordene Muff- Haken am zendes Beispiel, wie Wissenschaft zum lon. Das Zellmaterial für den Klon stammt Wohle bedrohter Arten arbeiten kann“, von einem Muttertier, das man kurz nach urteilt Michael Keele vom Oregon Zoo im seinem Tod gefunden hatte. Das Erbgut des Himmel amerikanischen Portland. Tieres wurde in eine entkernte Eizelle eines Um seltene Tiere vor dem Aussterben gewöhnlichen Hausschafs gesteckt und auch Der Lancia Thesis soll zum zu bewahren, machen chinesische Wissen- von einem solchen ausgetragen. schaftler noch ganz andere Dinge: Sie ver- Diesem Artenschutz durch Klonen kann neuen Flaggschiff von Fiat werden. suchen Pandabären zu klonen. Bereits im Tierarzt Hildebrandt allerdings nichts ab- Der angeschlagene Konzern will damit an eine fast vergessene Luxustradition anknüpfen. ie Holzleiste am Armaturenbrett hat dicke Poren und ähnelt einem unla- Dckierten Bleistift. In den Sitzpolstern steckt ein Material, das eher an Strickjacken als an Luxusautos denken lässt: Wolle. Werkstoffe von erhabener Schlichtheit sollen den Lancia Thesis adeln – die Wol- le etwa als Reminiszenz an das feinst ge- wobene und von Kennern geschätzte „Lan- cia-Tuch“ vergangener Zeit. Als teuerstes Auto des Fiat-Konzerns wird der Oberklassewagen im Mai zu Prei- sen ab etwa 35 000 Euro auf den Markt kommen. Der Wagen stehe für „die Rück- kehr zu den großen Flaggschiffen“, erklär- te Roberto Testore, Vorstandschef der Au-

IZW tosparte von Fiat, ehe er zum Jahreswech- Veterinäre Hildebrandt, Göritz*: Schwierige Suche nach dem richtigen Zugang sel das kränkelnde Unternehmen verließ und seinen Platz für Nachfolger Giancarlo Jahr 1999 steckten sie die Körperzelle eines gewinnen. „Es werden nur die Gene eines Boschetti räumte. Weibchens in die Eizelle eines Kaninchens. Tieres kopiert. Die genetische Vielfalt der Zu den strategischen Fehlleistungen des Den auf diese Weise erschaffenen Klon- Art bleibt dadurch mitnichten erhalten“, mit 7,5 Milliarden Euro Schulden belasteten embryo wollen die Forscher zehn Monate gibt der Berliner zu bedenken. Industriekonzerns zählt die beharrliche lang am Leben erhalten haben; allerdings Selbst über seine eigene Pionierarbeit ur- Vernachlässigung ihrer ältesten noch exis- wurde er nicht in ein Muttertier gesetzt. teilt Hildebrandt bescheiden: „Mit der tierenden Tochtermarke. Bis zur Übernah- künstliche Besamung können wir das Aus- me durch Fiat 1969 stand Lancia noch für sterben seltener Arten verzögern. Um es höchsten Luxus. * In den grünen Kitteln; beim erfolglosen Versuch, die Pan- dabärin Yan Yan im Zoologischen Garten Berlin künstlich aber zu verhindern, müssen wir den Le- Majestätische Gefährte prägten den Ruf zu besamen (Mitte 1999). bensraum der Tiere schützen.“ Jörg Blech der Marke vom ersten Tag an. Der Sage Technik nach musste das Werkstor 1906 hätte. Doch der Thesis ist mit für das erste Modell mit der dem V8 nicht ohne weiteres Spitzhacke verbreitert werden. kompatibel: Der leistungsstarke Firmengründer Vincenzo Lancia Motor überträgt zu viel Kraft bediente fortan eine elitäre Kli- auf die Vorderräder des Front- entel. trieblers, die dann zum Durch- Unvergessen sind etwa die Au- rutschen neigen. relia-Limousinen der fünfziger Vor 15 Jahren hatte Lancia be- Jahre, deren Türen sich ohne reits einen V8-Motor von Ferra- Mittelsäule wie die Portale eines ri in dem damaligen, ebenfalls Hauses zu beiden Seiten öffne- frontgetriebenen Topmodell The- ten. Technisch zählte Lancia zur ma verbaut. Bei vollem Kraftein- Speerspitze internationalen Au- satz aus dem Stand, urteilte das tomobilbaus, führte etwa als ers- Fachblatt „Auto, Motor und tes Unternehmen die Einzelrad- Sport“, produzierte der Wagen aufhängung an allen vier Rädern „statt Vortrieb blauen Qualm“. (1936) und serienmäßige Fünf- Der Thesis soll seine Insassen ganggetriebe (1939) ein. dagegen in höchstem Komfort Unter der Fiat-Herrschaft än- wiegen. Eine Fahrwerkselektro- derte sich die Marketing-Prio- nik namens Skyhook („Him- rität. Statt für Luxus stand Lancia melshaken“) passt den Härtegrad nun für Motorsport und gewann der Stoßdämpfer dem jeweiligen von 1987 bis 1992 sechs Rallye- Fahrbahnzustand und der Fahr- Weltmeistertitel in Folge. Doch weise an. inzwischen hatte Fiat das abge- Neuer Lancia Thesis, Klassiker Aurelia: Erhabene Schlichtheit Bei moderater Gangart auf wirtschaftete Staatsunternehmen gepflegtem Untergrund gleitet erworben, das fortan in der mit markant ausgeprägten Kotflügeln soll das 1,7 Tonnen schwere Gefährt in ver- Marketing-Architektur des Konzerns für „die typische Grafik von Luxusautos der meintlicher Schwebe dahin. Luxuswagen sportliche Autos stehen sollte. Lancia ver- dreißiger Jahre“ ausstrahlen. anderer Hersteller verfügen jedoch längst schwand in der Bedeutungslosigkeit. Als Unter den nostalgischen Formen verbirgt über aufwendigere Fahrwerkstechniken, Topmodell dient seit 1999 der Mittelklasse- sich freilich moderne Großserientechnik etwa hydraulische oder pneumatische wagen Lybra. Die Lancia-Jahresproduk- aus Konzernbeständen. Der große Lancia Federungen, die auch auf sehr schlechten tion dümpelt bei 160 000 Fahrzeugen – teilt sich eine Entwicklungsplattform mit Straßen ein komfortables Fahrerlebnis knapp ein Viertel der Prestigemarke Audi. dem Alfa-Topmodell 166, von dem auch der ermöglichen. Der neue Thesis wird nun mit einem ge- Sechszylindermotor mit 215 PS stammt, der So erscheint der erneute Lancia-Vorstoß planten Jahresabsatz von 25000 Stück nicht die stärkste Version des Thesis antreibt – ein in die gehobene Wagenklasse manchem gleich den großen Durchbruch markieren. sportliches Triebwerk, dessen kernige Klän- Kritiker eher wie ein Himmelfahrtskom- Vielmehr soll er Lancia als Anbieter von ge nicht wirklich zu dem gediegenen Cha- mando. Als VW-Chef Ferdinand Piëch, Luxusautos wieder ins Bewusstsein rücken. rakter des Wagens passen. selbst mit Volkswagen auf dem steinigen Dafür nahmen die Designer offensicht- Gern hätten die Konstrukteure einen Weg in die Luxus-Liga, den Lancia Thesis liche Anleihen aus der Vergangenheit. Der kultivierteren Achtzylinder gewählt. Sie kürzlich erstmals betrachtete, orakelte er schildförmige Kühlergrill erinnert an die liebäugeln derzeit mit einem V8-Aggregat düster: „Das ist ein Sargnagel.“ Nach einer großen Lancia-Modelle vergangener Jahr- von General Motors, auf das Fiat seit dem knisternden Atempause setzte er nach: zehnte. Die barock anmutende Karosserie Aktientausch mit dem US-Konzern Zugriff „Ein ganz langer.“ Christian Wüst Werbeseite

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damit also nicht aufgegeben. Denn für mich geht es hier um zentrale Fragen der BIOETHIK Forschungspolitik. SPIEGEL: Welche wären das? Simitis: Forschung darf sich nicht nach ir- „Aldi-Kinder für die Armen“ gendwelchen Moden richten, und ES-Zel- len sind gerade schwer in Mode. Wenn die Der Vorsitzende des Nationalen Ethikrats, Spiros Simitis, über die Länder und der Bund massiv in die For- schung mit adulten Stammzellen investier- verfrühten Heilsversprechen der Stammzell- ten, würden wir ganz andere Ergebnisse Forscher und das schädliche Profitstreben in der Wissenschaft haben. Zudem müssen wir über die Ethik der Forschung reden. Dass auf die Kritiker der Stammzell-Forschung ein solcher Zeitdruck aus- geübt wird, hat auch da- mit zu tun, dass Forscher in einem noch nie da ge- wesenen Umfang darauf bedacht sind, Patente zu bekommen. Wenn aber – wie in den Vereinigten Staaten – alljährlich die Namen der neuen Gen- millionäre veröffentlicht werden, wenn Universitä- ten gemeinsam mit For- schern Aktiengesellschaf- ten gründen, dann steht fest: Wir begeben uns in einen Bereich, in dem letztlich nur der Gewinn zählt. Doch Forschung, die sich am maximalen BERT BOSTELMANN / ARGUM BOSTELMANN BERT YORGOS NIKAS / SPL / AGENTUR FOCUS NIKAS / SPL AGENTUR YORGOS Gewinn orientiert, ist de- Menschlicher Embryo, Ethikrat-Vorsitzender Simitis: „Letztlich zählt nur noch der Gewinn“ naturierte und unzulässi- ge Forschung. Simitis, 67, ist Professor für Arbeitsrecht Simitis: Ich habe lange geschwankt zwischen SPIEGEL: Welchen Einfluss hatte dieser an der Universität Frankfurt am Main der Bereitschaft, einen Import hinzuneh- Druck aus Wissenschaft und Wirtschaft auf und ehemaliger Datenschutzbeauftrag- men, und einem Moratorium, das den Im- die Entscheidung des Ethikrats? ter Hessens. Seit Jahren beschäftigt sich port erst einmal aufgeschoben hätte. Das Simitis: Das Dilemma der ES-Zell-Debatte der Jurist mit den Risiken der modernen Moratorium hätte sehr, sehr viele Vorteile war doch, dass man damit in Deutschland Biotechnik. gehabt – leider hätte es in dem aufgeheizten zu einem Zeitpunkt begonnen hat, an dem Klima politisch keine Chance gehabt. bereits weitgehend Vorentscheidungen ge- SPIEGEL: Unter Ihrer Leitung hat sich der SPIEGEL: In seiner Stellungnahme zählt der troffen waren, die es sehr schwer machen, Nationale Ethikrat mehrheitlich für den Ethikrat viele noch strittige Punkte auf. alternative Wege zu beschreiten. Vor we- Import von embryonalen Stammzellen Gleichwohl befürwortet er den Import. Ist nigen Tagen hat mir jemand gesagt: ,War- (ES-Zellen) nach Deutschland ausgespro- das nicht ein Widerspruch? um debattieren Sie im Ethikrat überhaupt chen. Nimmt dieses Votum die Abstim- Simitis: Nein. Der Import ist auf drei Jah- weiter über ES-Zellen? Es gibt doch schon mung des Bundestags vorweg? re befristet, und somit bleibt nun genug einen eigenen Markt dafür, und deshalb Simitis: In keiner Weise. Der Ethikrat Zeit, endgültig darüber zu entscheiden, ob lohnt es sich doch gar nicht mehr, weiter zu zeichnet nur Argumentationslinien auf. die ES-Zell-Forschung akzeptabel ist oder argumentieren!‘ Gegen eine solche Men- Jetzt ist es Zeit, dass der Bundestag selber nicht. Meine skeptische Haltung habe ich talität kann man nur schwer angehen. entscheidet. SPIEGEL: NRW-Minis- SPIEGEL: Kritiker werfen dem Ethikrat vor, Rohstoff Embryo Weltweit vorhandene humane Stammzell-Linien terpräsident Wolf- nur Erfüllungsgehilfe der Regierung zu gang Clement (SPD) SCHWEDEN 25 sein. Das Gremium sei nicht demokratisch will die ES-Zell-For- gewählt, sondern vor allem mit solchen Ex- schung in Nordrhein- perten bestückt worden, die ein dem Bun- Westfalen etablieren. INDIEN 10 USA 20 deskanzler Schröder (SPD) genehmes Vo- Spötter sagen, er tum abgeben. ISRAEL 4 wolle die stillgeleg- Simitis: Auch Verfassungsrichter entschei- ten Bergwerke durch den vielfach anders, als es diejenigen, die Stammzell-Fabriken sie ins Amt gewählt haben, erwartet hatten. ersetzen. Genauso verhält es sich mit den Mitglie- Simitis: Der Ethik- dern des Nationalen Ethikrats. AUSTRALIEN 6 rat hat ausdrücklich SPIEGEL: Warum haben Sie als Stammzell- Quelle: NIH Stem Cell Registry; erklärt, dass öko- Forschungs-Kritiker einem begrenzten ES- bis August 2001 nomische Faktoren Zell-Import am Ende doch zugestimmt? bei der Entschei-

144 der spiegel 2/2002 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft dung über ES-Zellen keine Rolle spielen dürfen. MEDIZIN SPIEGEL: Die ES-Zell-Forschung gilt jedoch als sehr lukrativ; sie bietet die Aussicht auf die Therapie bisher unheilbarer Krank- heiten. Auch der Ethikrat geht in seinem Putzmunter im Sterbezimmer Votum auf die Chancen der ES-Zell-For- schung ein. Viele alte Menschen leiden unnötig an Übelkeit, Simitis: Niemand kann die Therapiehoff- nung ignorieren. Die Wissenschaftler des Verwirrtheit oder Schwindelanfällen: Ihre Beschwerden sind häufig Ethikrats haben jedoch immer wieder klar unerkannte Nebenwirkungen von Medikamenten. gesagt, dass Therapien in absehbarer Zeit noch überhaupt nicht in Sicht sind. nische Pharmakologie am Kli- SPIEGEL: Kanzler Schröder selbst hat das nikum Mannheim leitet. Die geflügelte Wort von der „Ethik des Hei- meisten Beschwerden seiner lens“ in die Debatte gebracht. Großmutter seien ganz einfach Simitis: Ich hüte mich generell vor geflü- Nebenwirkungen der verschrie- gelten Worten. Ich sage nur: Wer auf the- benen Medikamente gewesen. rapeutische Erfolge setzt, enttäuscht Hoff- Obwohl sie die meisten Pa- nungen, und wer nur auf Patente erpicht tienten stellen, läuft auf kaum ist, pervertiert die Forschung. Schließlich einem Gebiet der Heilkunst muss er nach außen hin ständig den Ein- so viel schief wie bei der Be- druck erwecken, wir stünden unmittelbar handlung alter Menschen. „Ein großer Teil von ihnen ist ent- „Wer als Biowissenschaftler nur weder überbehandelt, be- auf Patente erpicht ist, kommt also zu viele, oder ist unterbehandelt, bekommt also pervertiert die Forschung“ zu wenig Medikamente“, kon- statiert Rainer Gladisch, der vor der großen Entdeckung, die wirt- am Mannheimer Klinikum die schaftlich große Erfolge verspricht, ob- Gerontologie leitet. gleich er wissen muss, dass das nicht der Über 60-Jährige leiden schät- Fall ist. zungsweise fast dreimal so häu- SPIEGEL: Was soll falsch daran sein, wenn fig unter Nebenwirkungen wie sich der Bonner Forscher Oliver Brüstle jüngere Patienten. In einer im Verfahren zur Herstellung von Nervenzel- „Journal of the American Ge- len aus Stammzellen patentieren lässt? riatrics Society“ veröffentlich- Simitis: Zu Einzelfällen äußere ich mich ten Studie, für die 332 Bewoh- nicht. Aber generell bringt die Patentie- ner eines Altenheims vier Jah- rung die Forschung der Universitäten weg re lang untersucht wurden, traf von ihrer eigentlichen Aufgabe: das Wissen dies auf mehr als 65 Prozent der

zu mehren. Ich werde darauf bestehen, / ARGUM BOSTELMANN BERT Patienten zu. Oft werden die dass wir im Ethikrat über Biopatente aus- Pharmakologe Wehling*: Vergiftung der Oma entdeckt Beschwerden nicht als Neben- führlich diskutieren. wirkungen erkannt und deshalb SPIEGEL: Die Befürworter des ES-Zell-Im- enn Martin Wehling als Junge mit weiteren Medikamenten behandelt – ports im Ethikrat argumentieren, der frühe seine Großmutter besuchte, ging ein Teufelskreis. Embryo besitze noch keinen uneinge- Wes der alten Dame fast immer Auch bis zu 23 Prozent der Kranken- schränkten Lebensschutz. Was spricht schlecht. Weil sie an hohem Blutdruck litt, hauseinweisungen älterer Menschen, so ha- dann noch gegen Gentests an künstlich er- bekam sie eine Tablette zur Wasseraus- ben neue Studien gezeigt, sind auf Neben- zeugten Embryonen, der Präimplanta- scheidung und ein herzstärkendes Mittel. wirkungen zurückzuführen. „Fehler und tionsdiagnostik (PID), die in Deutschland Gegen ihre eigentlichen Beschwerden Nebenwirkungen bei der medikamentösen bislang verboten ist? schien das aber nicht zu helfen. Ständig Behandlung alter Menschen“, klagt der Simitis: Auch über die PID müssen wir im war sie verwirrt, wusste kaum noch, wo sie Nürnberger Gerontologe Wolfgang Mühl- Ethikrat schleunigst reden. An ihr ent- war oder was sie gerade tat, und außerdem berg, „sind ein ernst zu nehmendes ge- scheidet sich, wo unsere Gesellschaft die war ihr fast immer übel. Schließlich muss- sundheitspolitisches und finanzielles Pro- Grenzen für die Gentechnik zieht. Ich te sie sogar regelmäßig eine Tablette gegen blem.“ Der Mediziner kennt sogar Fälle sage, eine Gesellschaft, die Krankheiten den Brechreiz schlucken. von Todgeweihten, die nach Absetzen ih- nicht hinnimmt und sie für überflüssig er- Doch eines Tages ging es ihr plötzlich rer Medikamente putzmunter das Sterbe- klärt, ist eine inhumane Gesellschaft. Ich blendend. „Hat der Hausarzt endlich das zimmer verließen. bin überzeugt, dass mit der PID ein Se- richtige Mittel für dich gefunden?“, fragte Vielen Ärzten dämmert mittlerweile, lektionsprozess beginnen würde. Zugleich Wehling seine Großmutter. „Nee, min dass dringend etwas geschehen muss. Me- würde sich eine Einstellung durchsetzen, Jung“, kam die Antwort, „der Hausarzt, dikamentenspezialist Wehling: „Der Be- die Kinder nur noch als auf Wunsch be- der ist gestorben.“ darf an Aufklärung und Forschung ist gi- stellbare Produkte ansieht. Es darf nicht „Der Hausarzt hat bei der Therapie min- gantisch.“ Der Mediziner hat deshalb mit sein, dass sich die Reichen dereinst ein destens fünf bis sechs Fehler gemacht“, seinem Kollegen Gladisch am Klinikum Armani-Kind leisten können und sich die sagt Wehling, der heute das Institut für Kli- Mannheim ein Zentrum für Gerontophar- Armen mit einem Aldi-Kind zufrieden ge- makologie gegründet. Sie haben bereits Interview: Jörg Blech, ben müssen. * Mit einer Broschüre des Zentrums für Gerontopharma- eine ganze Reihe von Gründen für den Gerald Traufetter kologie am Klinikum Mannheim. Missstand ausfindig gemacht:

146 der spiegel 2/2002 • Ein über 60-Jähriger nimmt im Benzodiazepine wirken nicht Durchschnitt drei Medika- nur beruhigend und Angst lö- mente ein, dreimal mehr als send, sie entspannen auch die ein jüngerer Patient (siehe Muskeln und beeinträchtigen Grafik). Mit der Anzahl der die Koordination. Die Wahr- Medikamente aber steigt das scheinlichkeit zu stürzen – mit Risiko von Wechselwirkungen der Gefahr schwerer Knochen- und damit Nebenwirkungen brüche – wird durch die Pillen- dramatisch an. einnahme drastisch erhöht. • Eine Mehrzahl der auf dem Bei einer Studie von Mühlberg Markt erhältlichen Medika- kam zudem heraus, dass sich im mente wurde nie gesondert an Alter die Aufnahme einiger Ben- alten Menschen erprobt. So zodiazepine im Darm verändert; fehlt es an Grundwissen, wie anders als bei Jungen nimmt die die eingesetzten Substanzen Konzentration im Blut nach ei- im Körper älterer Menschen nem Abfall plötzlich wieder zu. wirken. „Das hat uns wirklich sehr über- • Alte sehen oft schlecht, haben rascht“, sagt Mühlberg, „und es

Gedächtnisprobleme und sind / ARGUM BOSTELMANN BERT zeigt mal wieder, dass vieles bei motorisch ungeschickt; des- Gerontologe Gladisch: „Entweder zu viel oder zu wenig“ der Therapie alter Menschen halb unterlaufen ihnen leicht wirklich unberechenbar ist.“ Einnahmefehler, die schnell zu Über- delanfälle, die zu schlimmen Stürzen Gerade deshalb, fordern die Mediziner, oder Unterdosierungen führen können. führen können; Kreislaufversagen. müssten neue Arzneimittel an alten Men- • Gerontopharmakologie wird im Studi- Auch Schmerz- und Beruhigungsmittel schen extra getestet werden – doch das Ge- um kaum unterrichtet, Fortbildungen oder Blutdruck senkende Medikamente genteil ist der Fall. „In sehr vielen Studien sind selten. Selbst die spärlichen Er- können zu solchen Symptomen führen. für die Neuzulassung von Medikamenten“, kenntnisse der Experten gelangen oft Doch oft werden diese Beschwerden nicht kritisiert Mühlberg, „werden Menschen nicht zu den behandelnden Ärzten. einmal als Nebenwirkungen erkannt. „Ge- über 70 systematisch ausgeklammert.“ Dabei wären viele der typischen Fehler rade Verwirrtheit“, so Mühlberg, „wird oft Die Pharmafirmen begründen dies meist leicht vermeidbar: Oft berücksichtigt der fehlinterpretiert, nach dem Motto: Die damit, dass sich alte Menschen in ihrem Hausarzt beispielsweise nicht, dass die Nie- Oma ist halt verwirrt.“ jeweiligen Gesundheitszustand zu sehr renfunktion im Alter immer weiter nach- Auch eine andere typische Arznei- voneinander unterscheiden würden; ein lässt. Die Nierenschwäche führt wiederum nebenwirkung wird oft nicht als solche Vergleich und damit sinnvolle Ergebnisse dazu, dass Medikamente langsamer ausge- erkannt: das so genannte Parkinson- seien bei ihnen nicht mehr möglich. schieden werden und sich dadurch im Kör- Syndrom. Dabei treten die gleichen Sym- Gladisch und Mühlberg sehen dieses per anreichern. „Bei gleicher Dosierung ptome auf wie bei der gleichnamigen Problem. „Aber auch berechtigte metho- haben wir in Einzelfällen einen fünffach Krankheit – vor allem eine Steifheit der dische Bedenken“, so Gladisch, „dürfen erhöhten Blutplasmaspiegel eines Medika- Muskeln. Doch im Gegensatz zur Parkin- nicht der Grund dafür sein, die größte Pa- ments gemessen“, berichtet Mühlberg. son-Krankheit wird das Parkinson-Syn- tientengruppe einfach gar nicht Was bei einem 40-Jährigen die richtige drom nicht durch eine Hirndegeneration zu untersuchen.“ Dosis ist, kann einen 70-Jährigen schon ausgelöst, sondern zum Beispiel durch Die Mediziner vermuten, dass 3,47 3,5 vergiften. So kam vermutlich auch die Psychopharmaka wie Neuroleptika und sich die Konzerne auch aus Übelkeit bei Wehlings Großmutter zu Antidepressiva. Alte Menschen sind be- Angst vor negativen Ergeb- Stande: typisches Anzeichen einer schlei- sonders anfällig dafür. nissen so auffällig zurückhal- 3,0 chenden Vergiftung mit dem Herzmittel „Vor kurzem“, erzählt Wehling, „wurde ten. Gladisch: „Vieles spricht Digitalis. ich zu einem angeblich depressiven Pa- dafür, dass einige Medi- Oft wissen die behandelnden Ärzte noch tienten gerufen, der lag steif wie ein Brett kamente bei alten Men- nicht einmal, dass die Nieren ihrer älteren im Bett. Die Antidepressiva, die er bekam, schen schlechter wirken – 2,62 2,5 Patienten schwächeln. Ein bestimmter halfen nicht. Kein Wunder: Sie waren die die Firmen haben Angst, Blutwert, der bei jüngeren Menschen an- Ursache seines Problems – er hatte eine dass so etwas in den zeigt, ob die Filterorgane noch ordentlich Parkinson-Krise.“ Wehling setzte sofort Studien herauskommen arbeiten, liegt im Alter auch bei einge- alle Medikamente ab und verabreichte ein könnte. 2,0 schränkter Nierenfunktion fast immer im Gegenmittel. „Am nächsten Tag“, sagt er, Veronika Hackenbroch Normbereich. Aus diesem Grund wären „ist der Patient wieder aufgestan- eigentlich aufwendigere Tests oder Be- den.“ In diesem Fall ging es gut Pharmacocktail 1,5 rechnungen erforderlich – für viele aus. „Aber“, fügt Wehling hinzu, für Rentner Hausärzte eine Überforderung. „was meinen Sie, wie oft so etwas Durchschnittlicher Kommt es tatsächlich zu einer Überdo- passiert?“ täglicher Arzneimittel- 1,15 sierung, hat ein älterer Organismus zudem Tückisch sind auch „Problem- verbrauch pro Person 1,0 viel weniger Reserven, mit den Nebenwir- Medikamente“ wie die Benzodia- im Jahr 2000* kungen fertig zu werden. Viele Alte ver- zepine, etwa Valium oder Adum- schlimmern das Problem noch dadurch, bran, die als Schlaf- und Beruhi- dass sie zu wenig trinken. Mühlberg: „Vie- gungsmittel verordnet werden. 0,5 le stauben fast.“ Wenn dann die verab- „Viele alte Menschen“, so Mühl- Alter 0,33 reichten Pillen die Wasserausscheidung er- berg, „nehmen die schon jahre- *in definierten Tagesdosen höhen, ist der gesundheitliche Absturz vor- lang, so dass man die Pillen, weil programmiert. sie körperlich und psychisch ab- 0 5 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Jahre Die Folgen zu starker Austrocknung: hängig machen, nur noch schwer bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis und Verwirrtheit bis hin zum Delirium; Schwin- absetzen kann.“ 4 9 14 24 34 44 54 64 74 84 älter

der spiegel 2/2002 147 Die Wiedergeburt des Kosmos Wann erlöschen die letzten Sterne? Wird dann noch Leben im Weltall möglich sein? Versiegt der Zeitstrom? Astrophysiker haben jetzt entdeckt, wie es mit Sonnen und Galaxien in ferner Zukunft weitergehen wird. Viele Himmelsforscher glauben sogar, dass sich das Universum dereinst fortpflanzen könnte..

Spiralgalaxie M 74 (im Sternbild Fisch): Die Sternenpracht ist nur eine Art Sahnehäubchen auf dem Backwerk des Schöpfers

s war ein Mann Gottes, der auf die Galaxien rasend schnell von der Erde fort gende Hypothese: Vor Äonen, so der Idee mit dem Urknall kam. Ende der bewegen. Priester, explodierte ein „Uratom“, aus Ezwanziger Jahre erfuhr der junge bel- Die fernen Sterneninseln, so fiel Le- dem dann Raum, Zeit und Materie ent- gische Priester und Astronom Georges Le- maître auf, verhalten sich wie Granat- standen seien. maître von einer rätselhaften Entdeckung. splitter nach einer Detonation. Kurz dar- Die Himmelsforscher waren entsetzt. Ihr Sein amerikanischer Forscherkollege Ed- auf veröffentlichte er im Wissenschafts- gottesfürchtiger Kollege musste sich irren. win Hubble hatte beobachtet, dass sich alle magazin „Nature“ eine phantastisch klin- Unter allen Umständen wollten sie in ihren

148 der spiegel 2/2002 Titel

kosmologischen Modellen so etwas wie ei- Schicksalsfrage des Universums gelöst. Mit nen Schöpfungsakt vermeiden. neuen Messungen konnten sie das Szena- Doch der Priester behielt Recht. Heute rio eines kollabierenden Weltalls widerle- zweifelt kaum noch ein Astronom daran, gen. Für die meisten Astrophysiker gibt es dass alles einmal mit einem großen Knall kaum noch einen Zweifel: Das Universum angefangen hat. Vor 15 Milliarden Jahren wird niemals enden. Statt in einem Höl- glühte demnach eine winzige Kugel, be- lenfeuer zu verbrennen, werden die Ster- stehend aus der unvorstellbar dicht kom- ne allmählich an Altersschwäche sterben. primierten Energie des gesamten Weltalls, Der Weltraum aber besteht fort – bis in plötzlich auf und explodierte – ein kosmi- alle Ewigkeit. scher Feuerzauber begann, der Galaxien, Zu Grabe getragen haben die Forscher Sonnen, Planeten und am Ende Tiere und mit ihren neuen Befunden folglich den Menschen hervorbrachte. Weltuntergang. Die Urangst vor dem Jüngs- Auch über das Ende der Welt machte ten Tag, die sich tief ins kollektive Be- sich der Gottesmann schon so seine Ge- wusstsein eingegraben hat, ist zumindest danken. Das Universum, so ahnte er, wer- für das Weltall insgesamt unbegründet. de einen sanften Tod sterben. „Die Ent- Schon die alten Germanen fürchteten wicklung der Welt könnte man mit dem sich davor, dass ihnen der Himmel auf den Ende eines Feuerwerks vergleichen“, ver- Kopf fällt. „Die Sonne wird schwarz“, heißt kündete Lemaître (der später Präsident der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften wurde). „Wir stehen auf einer gut gekühl- Lauter Wunder sorgten ten Schlacke und sehen das langsame Ver- dafür, dass aus dem Ur- schwinden der Sonnen.“ Der Priester scheint auch mit seiner knall die beste aller mög- zweiten Vermutung richtig zu liegen. Sei- lichen Welten hervorging ne Idee vom allmählichen Erstarren des Weltenraums deckt sich verblüffend mit den neuesten astronomischen Ent- es in der „Edda“, der rund 1000 Jahre al- deckungen. ten Heldensaga. „Es stürzen vom Himmel Generationen von Kosmologen haben die strahlenden Sterne.“ sich darüber den Kopf zerbrochen, wie es Mit ähnlichen Worten erwartete auch

STSCI / NASA / ASTROFOTO / NASA STSCI mit den Sonnen und Galaxien in ferner der christliche Apokalyptiker Johannes Zukunft weitergeht. Wird das baldige Ende der Welt. Am Jüngsten das Weltall unaufhörlich ex- Tag, prophezeit die Bibel in der Offenba- Wie ein Tochteruniversum entstehen könnte pandieren, nach Art eines rung des Johannes, werde ein „gewaltiges Luftballons, der immer wei- Beben“ die Welt erschüttern; sodann fal- Irgendwo im Universum ter aufgeblasen wird? Oder len die „Sterne des Himmels auf die Erde bildet sich urplötzlich wird es, wie ein Luftballon, herab“. in einem winzigen Volu- men eine Vakuumblase, aus dem die Luft entweicht, Den Teufel werden sie tun. Vielmehr in der eine extrem hohe irgendwann wieder in sich wird sich das Universum immer weiter und Energiedichte herrscht zusammenfallen? Nach die- immer schneller ausdehnen. Unaufhaltsam („falsches Vakuum“). sem zweiten Szenario wür- entfernen sich die Galaxien voneinander. den die Galaxien am Ende „Um uns herum“, sagt der Münchner aufeinander zu stürzen. Und Astrophysiker Gerhard Börner, „wird es in etwa 50 Milliarden Jah- immer einsamer werden.“ Die Vakuumblase dehnt ren vereinigte sich sämtliche Was ist das bloß für ein Weltraum? „Et- sich mit gewaltiger Ge- Materie wieder in einem was Trostloseres und Sinnloseres als dieses schwindigkeit aus und einzigen Klümpchen – das Ende kann man sich kaum vorstellen“, schafft sich dabei neu- Universum endete in einem beklagt der australische Physiker und en Raum, der immer Endknall. Buchautor Paul Davies. stärker vom übrigen Weltraum abgeschnürt Kältetod oder Höllenfeu- Für viele dürfte das ein Schock sein. Ein wird. er? Nicht einmal der speku- Schöpfungsakt wie der Urknall, der im- lationsfreudige, wegen einer merhin bis zur Entstehung komplexen Le- unheilbaren Muskelerkran- bens führte, scheint dem kosmischen Rä- kung an den Rollstuhl ge- derwerk ja noch so etwas wie einen Sinn zu fesselte britische Kosmolo- verleihen. Mit dieser naturwissenschaft- Nach 10 –37 Sekunden ge Stephen Hawking traute lichen Version der Schöpfungsgeschichte MUTTER- trennt sich das Tochter- sich bislang eine Prognose können auch religiöse Menschen gut le- UNIVERSUM vom Mutteruniversum. über den Ausgang des kos- ben. „Die Erkenntnis des Urknalls“, so for- Für einen Beobachter mischen Spiels zu. „Ganz muliert es der vatikanische Astronom und erschiene diese Abna- in der bewährten Tradition Jesuitenpater William Stoeger, „hat das belung wie die Entsteh- der Propheten“, erklärte Bild Gottes nur veredelt.“ ung eines Schwarzen Lochs, das sofort der Gelehrte listig, „gehe Warum aber sollte ein Gott ein Univer- wieder verschwindet. ich auf Nummer Sicher sum schaffen, das irgendwann einfach nur und sage beide Möglichkei- auskühlt und erstarrt? Worin kann der Sinn ten vorher.“ vollkommener Leere liegen? Gibt es etwas Nun jedoch haben sei- Sinnloseres als einen grenzenlosen Raum, TOCHTERUNIVERSUM ne Forscherkollegen die in dem nichts mehr passiert? „Vielleicht

der spiegel 2/2002 149 Bartelmann. „Diese Beobachtungen er- möglichen uns Rückschlüsse, wie stark sich die Krümmung des Weltalls im Laufe der Zeit verändert hat.“ Das erstaunliche Ergebnis: Der Welt- raum ist so gut wie gar nicht gekrümmt. Ein Lichtstrahl, der sich durch den leeren Raum fortbewegt, wird auch nach Jahr- milliarden praktisch nicht von seiner ge- radlinigen Bahn abgelenkt. Dieses Ergebnis hat weit reichende Kon- sequenzen. So folgt daraus, dass der Kos- mos bei weitem nicht so viel Materie ent- hält wie von manchen Wissenschaftlern er- wartet. Denn gäbe es eine größere Stoff- menge im Kosmos, müsste der Weltraum stärker gekrümmt sein – dies ergibt sich jedenfalls zwingend aus Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, nach der jeder massetragende Körper den umlie- genden Raum verformt. Von der Dichte der im Weltall verteilten Materie wiederum hängt es ab, ob der Kos-

ESO mos wieder zu einem komprimierten Feu- Messballon „Boomerang“ in der Antarktis*: Echo des Urknalls aufgefangen erball zusammenschnurrt – oder ob er in einer ewigen Leichenstarre dahinsiechen suchen wir aber nur verzweifelt nach die letzten Sterne erlöschen. Von diesem wird: Denn je mehr Sterne, Planeten und einem Sinn, wo gar keiner zu finden ist“, Zeitpunkt an bevölkern Himmelskörper Staubwolken es im Weltall gibt, desto stär- meint der Schweizer Astronom Gustav den Weltenraum, die den wirren Träumen ker bremst ihre gegenseitige Anziehungs- Tammann. eines Riesen entsprungen scheinen: Tote kraft den noch eine ganze Weile anhalten- Und im Übrigen haben manche Forscher Sonnen verwandeln sich in gläserne Kugeln den Schwung der Anfangsexplosion – ähn- auch die Hoffnung, dass am Ende ein neu- aus Wasserstoffeis; Schwarze Löcher fres- lich wie die Schwerkraft der Erde dafür er Anfang stehen könnte. In ferner Zu- sen die Überreste sterbender Galaxien; sorgt, dass ein hochgeworfener Stein kunft, so glauben viele Kosmologen, sei bizarre Atome umkreisen einander, jedes zurück auf den Boden fällt. eine phantastisch klingende Wendung mög- von ihnen größer als das gesamte heutige Doch wegen der nun ermittelten, viel zu lich: Das Weltall könnte sich fortpflanzen Universum. geringen Materiedichte hat die Schwerkraft und vermehren, indem es Tochter-Univer- Erst seit wenigen Monaten wissen die keine Chance mehr, die kosmische Auf- sen auf die Welt bringt – dies wäre dann Astrophysiker, wie das kosmische Spiel blähung noch einmal umzukehren. „Das eine Art kosmische Wiedergeburt. ausgehen wird. Die Antwort auf diese Universum wurde gewogen“, so Bartel- Die US-Astrophysiker Fred Adams und Schicksalsfrage fanden sie über dem irdi- mann, „und für zu leicht befunden.“ Greg Laughlin haben sogar schon detail- schen Südpol. lierte Berechnungen über die Ewigkeit an- Von der Eiswüste der Antarktis aus Alter des Universums: –43 gestellt. Das Ergebnis ihrer Forschungen ließen sie Messballons bis in die Strato- 0 Sekunden 10 Sekunden ist die bislang umfassendste Untersuchung sphäre aufsteigen. Dort bot sich den In- über die letzten Tage des Kosmos. Ihre Ge- strumenten des „Boomerang“-Experi- dankenflüge führen in Räume und Zeiten, ments ein ungestörter Blick bis tief in den welche die menschliche Vorstellungskraft Weltraum. Weitere Messballons wurden bei weitem übersteigen**. von der texanischen Wüste aus gestartet. Adams und Laughlin teilen die Ge- Die fliegenden Observatorien hatten den schichte des Weltalls in fünf Epochen ein: Auftrag, genauer als je zuvor die kosmische Sie reichen vom Zeitalter der Urmaterie bis Hintergrundstrahlung zu untersuchen. Da- zum Zeitalter der Dunkelheit. „In der Bio- bei handelt es sich um das Nachglühen des grafie des Universums“, so resümieren die Urknalls; gleichsam als Echo des Schöp- beiden Forscher, bildeten die seit dem Ur- fungsdonners wabert die Reststrahlung bis knall vergangenen 15 Milliarden Jahre nur heute durchs All. Mit nie da gewesener Ge- „einen höchst unbedeutenden Zeitraum“. nauigkeit registrierten die Ballon-Instru- In ferner Zukunft werde das Weltall nicht mente darin winzige Temperaturschwan- mehr wiederzuerkennen sein: „Beim kungen. Übergang von einem Zeitalter zum nächs- Diese Kräuselungen, so glauben die Kosmische Chronik ten verändern sich Inhalt und Wesen des Astrophysiker, entstammen jenen Regio- Geburt und Sterben des Universums ziemlich drastisch.“ nen, in denen die Materie bereits in der Universums Zu einem erschreckend fremdartigen Frühzeit des Universums dichter gepackt Schauplatz mutiert das All vor allem, wenn war als anderswo. Die Verklumpungen wa- ren demnach die Saatkörner, aus denen Das Universum entstand aus reiner * Vor dem Start zur Messung der kosmischen Hinter- später Galaxien und Sterne sprossen. Energie. Unmittelbar nach dem Urknall war grundstrahlung. „Mit den Ballons konnte die Ausdeh- das All kleiner als ein Atomkern. In der Ver- ** Fred Adams und Greg Laughlin: „Die fünf Zeitalter nung dieser uralten Strukturen so exakt des Universums. Eine Physik der Ewigkeit“. Deutsche teilung der Energie gab es kleine Unregel- Verlags-Anstalt, Stuttgart und München; 272 Seiten; 19,90 wie nie zuvor vermessen werden“, erläu- mäßigkeiten. Euro. tert der Garchinger Astrophysiker Matthias

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lein wäre dazu viel zu schwach. Die Astro- Kampf um die Zukunft des Kosmos ist physiker sind inzwischen überzeugt, dass entschieden.“ unsichtbare Schattensubstanz die Galaxien Denn aus den Daten der Ballon-Beob- zusammenhält; sie bildet gleichsam das achtungen errechneten die Astrophysiker Rückgrat des ganzen Universums. eine weitere Überraschung: Im Universum Die den Nachthimmel erleuchtende wirkt offenbar eine unheimliche Gegen- Sternenpracht der Milchstraße ist nach die- kraft, die Sterne und Galaxien immer ser neuen Vorstellung nur noch eine Art schneller auseinander treibt. Schon heute Sahnehäubchen auf dem Backwerk des wirkt die „kosmische Anti-Gravitation“ Schöpfers. Wie verlorene Inseln treiben über große Entfernungen doppelt so stark die Sterne, Gaswolken und Spiralnebel in wie die Schwerkraft. Und je mehr das Uni- den unermesslichen Ozeanen des Kos- versum ausdünnt, desto stärker wird sich mos dahin. Höchstens fünf Prozent der die Anti-Schwerkraft bemerkbar machen – Gesamtmasse im All bestehen aus nor- wie bei einer Lawine, die nicht mehr auf- maler Materie. „Es berührt mich schon zuhalten ist. sehr“, gesteht der Kosmologe Börner, Bereits das Jahrhundertgenie Albert Ein- „dass der überwältigende Teil des Univer- stein hatte eine bizarre Energieform pos- sums aus ganz anderer Substanz besteht tuliert, die den Raum auseinander treiben als wir selber.“ sollte. Er brauchte einen solchen Gegen- Offen war bislang jedoch, wie viel ver- spieler zur Schwerkraft, um seine Idee ei- steckte Materie sich wirklich zwischen den nes statischen, ewig unveränderlichen Uni- Sternen verbirgt. Nach neuesten Schät- versums zu retten; als „Kosmologische zungen könnte weit über 80 Prozent aller Konstante“ führte er deshalb 1917 eine Art

WOLFGANG MARIA WEBER MARIA WOLFGANG Materie aus dem ominösen Dunkelstoff be- Anti-Schwerkraft in sein Formelwerk ein. Kosmologe Börner stehen. Die meisten Forscher vermuten, Als sich aber herausstellte, dass das Uni- „Um uns herum wird es immer einsamer“ dass die unsichtbare Geistermaterie, die versum einen Anfang hatte, störte die noch nie ein Mensch gesehen hat, sich vor Kosmologische Konstante in den Glei- Diese Entdeckung gibt der Himmelsfor- allem aus exotischen Elementarteilchen zu- chungen nur noch. Einstein bedauerte sei- schung eine ganz neue Wendung. Denn in sammensetzt, die in Myriadenschwärmen ne Kopfgeburt später als „größte Eselei den letzten Jahren war das Universum ei- durchs All schwirren. meines Lebens“. gentlich zunehmend schwerer geworden. Ist die dunkle Materie womöglich sogar Vor vier Jahren aber tauchten zur Über- Die Astrophysiker fanden immer mehr schwer genug, um die galoppierende Aus- raschung der Himmelsforscher erste Hin- Hinweise darauf, dass im All gewaltige dehnung des Universums aufzuhalten? Of- weise auf, dass es tatsächlich so etwas wie Mengen bislang unentdeckter, so genann- fenbar nicht. Nach den Ballonmessungen eine dunkle Energie gibt. ter dunkler Materie vorkommen. über dem Südpol spielt es für den weite- Als der australische Astronom Brian So muss es eine Art kosmischen Kitt ge- ren Verlauf der kosmischen Ereignisse Schmidt und sein US-Kollege Saul Perl- ben, der mit seiner massiven Anziehungs- nun keine Rolle mehr, wie viel dunkle Ma- mutter das Licht explodierender Sterne, so kraft verhindert, dass die mit hoher Ge- terie es genau gibt. In keinem Fall wird es genannter Supernovä, untersuchten, mach- schwindigkeit rotierenden Galaxien aus- genug sein, um die Expansion des Weltalls ten sie eine spektakuläre Entdeckung: Je einander fliegen; die sichtbare Materie al- noch stoppen zu können. Börner: „Der jünger die kosmischen Leuchtfeuer sind,

10 –35 Sekunden 15 Milliarden Jahre (gegenwärtiges Alter)

Innerhalb weniger als einer bil- lionstel Sekunde dehnte sich das Uni- versum schlagartig auf astronomische Größe aus. Die Unregelmäßigkeiten wuchsen entspre- chend mit. Diese Phase wird Inflation genannt. Die Spuren der frühen Unregelmäßigkeiten sind Erst nach der Ausdehnung kondensierte ein Teil der Energie zu Materie. Allmählich heute als Flecken in der kosmischen Hinter- entstanden Elementarteilchen und Atome. Wegen der Unregelmäßigkeiten aus der grundstrahlung messbar, die wie ein Nach- Inflation war die Materie nicht ganz gleichförmig verteilt: Gaswolken entstanden, aus glühen des Urknalls das All erfüllt. denen später Galaxien und Sterne wurden. Titel desto schneller rasen sie „Andererseits glaubt Fegefeuer: Dann nämlich bläht sich die voneinander fort. kaum noch jemand, dass Sonne, den Gesetzen der Sternenphysik Erwartet hatten die Him- wir die dunkle Energie folgend, unaufhaltsam zu einem Roten melsforscher das genaue wieder aus der Welt krie- Riesen auf und heizt ihren inneren Plane- Gegenteil. Eigentlich wa- gen“, sagt Kosmologe Bör- ten noch einmal richtig ein. Merkur und ren sie davon ausgegan- ner. „Sie ist offenbar die Venus werden von ihr ganz verschluckt. gen, dass der Schwung der treibende Kraft, die den Auf der staubtrockenen Erde schmelzen Urexplosion im Laufe der Lauf der künftigen Ereig- die Berge wie Butter. Was von ihr übrig vergangenen Jahrmilliar- nisse entscheidend prägen bleibt, ähnelt der sterilen Oberfläche des den längst nachgelassen wird – bis zum bitteren Mondes. hätte. Stattdessen sah es Ende.“ Für die Menschen aber wird die Luft be- nun ganz so aus, als wäre Zum ersten Mal haben reits vorher dünn. „In rund 500 Millionen nur wenige Milliarden die Astronomen damit das Jahren“, erklärt der Physiker Siegfried Jahre nach der Schöp- Drehbuch entziffert, wel- Franck vom Potsdam-Institut für Klimafol- fungsexplosion eine neue, ches das weitere Schick- genforschung (PIK), „werden wir alle er- abgemilderte Stufe des Ur- sal des Universums vor- sticken.“

knalls gezündet worden. WEBER MARIA WOLFGANG herbestimmt. „Wir sind Auf diese böse Überraschung stießen Schmidt: „Ich fürchtete, Astrophysiker Bartelmann jetzt in der Lage vorher- Franck und seine Mitarbeiter, als sie mit dass uns niemand glauben „Das Weltall ist zu leicht“ zusagen“, so Börner, „wie ihren Computermodellen simulierten, wie wird.“ die Geschichte von Son- sich das Klima der Erde in extrem langen Anfangs waren die meisten Himmels- nen, Planeten und Galaxien weitergehen kundler in der Tat ziemlich skeptisch. Vie- wird.“ le vermuteten, die Forscher hätten ihre Weltweit haben Physiker damit begon- Die dunkle Energie im Messungen mit dem Keck-Observato- nen, die Chronik der Zukunft aufzuschrei- Kosmos ist die treibende rium in Hawaii falsch gedeutet. Unsicht- ben. Sie versuchen beispielsweise zu be- bare Staubwolken, so ihr Einwand, hät- rechnen, in wie viel Milliarden von Jahren Kraft, die den Lauf der ten womöglich das Licht der fernen die Sternendämmerung anbricht, wann Ereignisse bestimmt Leuchtfeuer abgeschwächt; dadurch sei- sich die Atome auflösen und wie groß das en die Entfernungen falsch eingeschätzt Universum zu diesem Zeitpunkt sein wird. worden. Oder sie gehen der Frage nach, ob das ster- Zeiträumen verändert. Das Problem, das Doch vor wenigen Monaten haben bende Weltall auf wundersame Weise so- dabei sichtbar wurde: Schon vor ihrer Auf- Astrophysiker eine besonders gründliche gar Geburtshelfer eines neuen Universums blähungsphase scheint die Sonne immer neue Supernova-Messung vorgelegt. Das werden könnte. stärker. Alle einhundert Millionen Jahre Ergebnis blieb das gleiche. Für das Leben auf der Erde beginnt der nimmt ihre Leuchtkraft um ein Prozent zu. In die heutigen kosmologischen Model- Existenzkampf indes schon lange vorher. Die stärkere Sonneneinstrahlung führt le passt die dunkle Energie nur schwer rein. Deutsche Physiker haben kürzlich heraus- auf der Erde zu einer höheren Verdunstung „Sie ist ein Knochen, der quer in unserem gefunden, dass die Erde viel früher unbe- und damit auch zu mehr Niederschlag. Da- Hals liegt“, grollt der Physik-Nobel- wohnbar werden wird als gedacht. durch wiederum wird immer mehr Koh- preisträger Steven Weinberg von der Uni- Bislang erwarteten die Astronomen erst lendioxid aus der Atmosphäre herausge- versity of Texas in Austin. in fünf Milliarden Jahren eine Art solares waschen, landet mit dem Regen in Seen

in 100 Billionen Jahren in 100 Quintillionen Jahren

In den Galaxien sind sämtliche Gasvorräte zur Bildung neuer Sonnen Die Atomkerne lösen sich auf: Es kommt zum totalen Zerfall der Mate- verbraucht. Im Weltall verglühen die letzten Sterne. Übrig bleiben ihre rie. Damit verschwinden auch die matt leuchtenden Sternenüberreste und ausgebrannten Überreste, die nur noch eine verschwindend geringe die Planeten. Praktisch alle Lichtquellen im Kosmos erlöschen. Nur die Leuchtkraft haben. Schwarzen Löcher bleiben von dem Exitus verschont. und Flüssen und lagert sich schließlich als Kalkstein am Meeresgrund ab. In 500 Mil- lionen Jahren ist das Treibhausgas voll- ständig aus der irdischen Lufthülle ver- schwunden. Ohne eine Mindestkonzentration an Kohlendioxid in der Atmosphäre aber kön- nen keine Pflanzen gedeihen. Erst ver- kümmern alle Bäume und Sträucher, dann wächst auf der Erde auch kein Gras mehr. Menschen und Tieren geht die Luft zum Atmen aus. „All diese furchtbaren Sachen passie- ren in so ferner Zukunft“, meint tröstend der kanadische Sternenforscher Arnold Boothroyd, „bis dahin können sich die Menschen längst woanders ein nettes Plätz- chen gesucht haben.“ Von den rund 100 Milliarden anderen Sonnen der Milchstraße kämen in der Tat genug als Kolonien in Frage. Unter Ver- wendung ihres Klimamodells haben die PIK-Forscher schon mal für die verschie- denen Sternentypen der Galaxis durchge-

spielt, ob diese für ausreichend lange Zeit / ASTROFOTO SHIGEMI NUMAZAWA über „bewohnbare Zonen“ verfügen. Der Schwarzes Loch (Zeichnung): Dunkle Insel in einem Meer der Düsternis erstaunliche Befund: „Nach unseren Be- rechnungen“, sagt Franck, „könnte es in ihren nuklearen Brennstoffvorräten um. dings steht noch eine gewaltige Reserve der Milchstraße rund 50 Millionen be- Sie existieren folglich weit länger als größe- zur Verfügung: Jeder explodierende Stern wohnbare Planeten wie die Erde geben.“ re und massereichere Sterne. So brennt ein liefert wieder neuen Rohstoff. Langfristig als neue Heimat zu empfeh- Roter Zwerg bis zu 10000-mal so lange wie Wann immer irgendwo in der Milch- len sind all jene Planeten, die um Rote die Sonne – ein Unterschied in der Lebens- straße eine Sonne stirbt, schleudert sie ei- Zwergsterne kreisen. Rote Zwerge wiegen erwartung wie zwischen einer Eintagsflie- nen Teil ihrer glühenden Hülle hinaus ins zwar bis zu zehnmal weniger als die Er- ge und einem Elefanten. All. Aus diesen umherwabernden Schwa- densonne und leuchten über hundertmal Doch wie lange wird es überhaupt noch den können sich anderswo junge Sonnen schwächer (deshalb sind sie, obwohl so Sterne in der Milchstraße geben? Wann zusammenballen – nichts geht verloren. zahlreich in der Galaxis vertreten, mit werden die letzten von ihnen erlöschen? Dieses kosmische Recycling macht es bloßem Auge nicht zu erkennen). An sich wird die Galaxis schon in rund möglich, dass noch ewig lange Sterne am Sie haben aber einen großen Vorteil: zehn Milliarden Jahren ihren gesamten Himmel funkeln. Erst in rund 100000 Mil- Rote Zwerge gehen äußerst sparsam mit Vorrat an interstellarem Gas für die Bil- liarden Jahren, so die aktuelle Schätzung, dung neuer Sonnen ver- werden im Universum die letzten Sonnen 100 braucht haben. Aller- verglühen – eine Zeitspanne, die schwer in 10 Jahren fällt sich vorzustellen: Würde man die ge- samte Lebensdauer aller Sterne auf ein Er- denjahr herunterrechnen, dann wäre seit dem Urknall gerade die erste Stunde der Neujahrsnacht vorüber. Selbst nach dem Verglühen der Sonnen wird das Weltall aber nicht vollkommen leer und düster sein. Überall vagabundie- ren dann noch die ausgebrannten Ster- nenkadaver und ihre tiefgefrorenen Pla- neten umher – nach dem Zeitalter der „leuchtenden Sterne“ folgt das Zeitalter der „entarteten Sterne“. Die meisten Sonnen enden als so ge- nannte Weiße Zwerge. Allein in der Milch- straße wird es schließlich fast eine Billion davon geben. Einer von ihnen wird der klägliche Überrest der Erdensonne sein. Wenn sich die Sonne, nach einem langen feurigen Leben, zu einem Roten Riesen aufplustert, stößt sie einen großen Teil ih- rer glühend heißen Gashülle ab; dann Schließlich verdampfen auch die Schwarzen Löcher. Im Weltall existieren schrumpft sie zu einem Weißen Zwerg. keine Himmelskörper mehr. Der kalte und leere Raum dehnt sich immer Ein solcher Sternenkadaver besteht zum weiter aus. Einen Endpunkt des Universums gibt es nicht – es kann aber großen Teil aus „entarteter Materie“, die dazu kommen, dass sich Tochteruniversen bilden und abnabeln. sehr seltsame Eigenschaften aufweist: Je mehr Materie der Kadaver enthält, desto 153 stärker zieht er sich zusammen. Paradoxe Folge: Große Sterne verwandeln sich in kleine Weiße Zwerge; und kleine Sonnen in große Weiße Zwerge. Die Sonne beispielsweise wird zu einem Gebilde, das nur unwesentlich größer ist als die Erde. In dem dadurch entstehenden Weißen Zwerg ist zwar Restwärme gespei- chert, die er im Laufe vieler Jahrmilliarden in den Weltraum abstrahlen wird. Doch er leuchtet nur noch sehr schwach – ähnlich wie glühende Asche, die von einem lo- dernden Lagerfeuer übrig geblieben ist. Aber die Weißen Zwerge haben Zeit, sehr viel Zeit. Irgendwann gelingt es ih- nen sogar, die in der Milchstraße vorkom-

Weiße Zwergsterne leuchten so schwach wie glühende Asche, die vom Lagerfeuer übrig bleibt mende, äußerst scheue dunkle Materie ein- zufangen und in ihrem Innern zu verfeu- ern. Weil es gewaltige Mengen dieser Schattenmaterie gibt, erschließen sich die Weißen Zwerge einen schier unerschöpf- lichen Brennstoffvorrat. „Das Einfangen und Vernichten dunkler Materie stellt für die Weißen Zwerge der Zukunft eine äußerst wichtige Energie- quelle dar“, schreiben die amerikanischen Astrophysiker Adams und Laughlin in ih- rer Untersuchung über die langfristige Ent- wicklung des Universums. Durch diesen Prozess erzeuge ein Weißer Zwerg immer- hin eine Leistung von einer Billiarde Watt – so viel wie eine Million Atomkraftwerke. In einem Gedankenexperiment speku- lieren die beiden US-Forscher darüber, wie

sich die Verbrennung der dunklen Materie FOCUSSPL / AGENTUR nutzbar machen ließe: Eine hoch ent- Sternentstehungsgebiet im Orionnebel: Billard der Gestirne wickelte Zivilisation, so ihre Idee, könnte eine Kugelschale um den Weißen Zwerg brocken einsam durch düstere interstella- Die Materie selbst löst sich auf – und mit bauen, um die von ihm abgegebene Strah- re Weiten. ihr alle Weißen Zwerge, alle Planeten und lungsenergie aufzufangen. Zu einem solchen Schicksal kommt es ihre Monde, alle Asteroiden, Kometen und „Nehmen wir an, die Zivilisation in der unweigerlich durch einen Zusammenstoß Staubwolken. Umgebung eines Weißen Zwergs habe ei- oder Beinahe-Zusammenstoß des Über- Dieser Exitus wird zumindest von den ne Milliarde Mitglieder“, so Adams und rests der Sonne mit einem anderen Stern aktuellen Theorien der Teilchenphysiker Laughlin. „Jedes Mitglied hätte dann Zu- der Milchstraße. Bis zum Erlöschen der vorhergesagt. Demnach haben selbst Pro- gang zu einem Megawatt Leistung – ge- Sonne beträgt die Wahrscheinlichkeit für tonen und Neutronen, die Bausteine der nug, um 10000 Stereoanlagen mit voller einen solchen Crash zwar nur eins zu vier- Atomkerne, nur eine begrenzte Lebens- Lautstärke laufen zu lassen.“ zigtausend; aber weil der aus ihr hervor- dauer. In extrem langen Zeiträumen zer- Die Verhältnisse in der Umgebung die- gehende Weiße Zwerg viel länger existiert, fallen nach und nach alle chemischen Ele- ser glimmenden Kugel wären zudem über trifft das Ereignis irgendwann mit Sicher- mente; dabei entsteht vor allem Strahlung. einen irrsinnig langen Zeitraum stabil: Ein heit ein. Dabei werden dann sämtliche Pla- Wenn die Atome zerfallen, fängt es auf Weißer Zwerg vermag schätzungsweise 100 neten aus dem Sonnensystem hinausge- der sterilen Erdoberfläche an zu spuken. Trillionen Jahre Energie aus der dunklen schleudert. Der alchimistische Totentanz beginnt da- Materie zu gewinnen. Er brennt zwar nur Durch dieses Billard der Gestirne gehen mit, dass die schwereren Elemente sich in auf Sparflamme, dafür aber lebt er milliar- früher oder später alle Bindungen in der leichtere umwandeln: Gestein verdampft denmal länger als die Sonne, aus der er Milchstraße verloren. Sämtliche Planeten etwa zu Sauerstoff und Neon; Blei wird zu einst hervorgegangen ist. der Galaxis enden als Einsiedler, die hei- Gold. Schließlich verwandelt sich der ge- Auch die Erde wird es in dieser weit matlos durch den lichtlosen Raum irren. samte Planet in eine durchsichtige Kris- entfernten Zukunft wahrscheinlich noch Jedoch erst in einigen Quintillionen Jah- tallkugel aus Wasserstoffeis. Und jedes geben – allerdings treibt unser Planet dann ren gehen im Weltall endgültig die Lichter Mal, wenn einige ihrer Atome mit einem längst als tiefgefrorener, öder Gesteins- aus. Dann kommt es zum totalen Zerfall: Lichtblitz enden, versprüht diese Eisku-

154 der spiegel 2/2002 Titel ROGER RESSMEYER / CORBIS / PICTURE PRESS ROGER RESSMEYER / CORBIS PICTURE Keck-Teleskop auf dem Mount Kea in Hawaii: Forscher entdeckten eine unheimliche Gegenkraft, die alle Galaxien auseinander treibt gel ein paar Funken – bis von ihr nichts ergießen die in ihnen gespeicherte Energie Harrison das sterbende Weltall: „Dutzen- mehr übrig ist. ins allumfassende Nichts – die Explosion de von Jahrmilliarden vergehen in zuneh- Bei diesem Abgang nach Art einer Wun- eines Schwarzen Lochs entspricht der mender Dunkelheit; gelegentlich durch- derkerze erzeugt die Erde allerdings nur Sprengkraft von einer Milliarde Atom- dringt ein Lichtschimmer die sinkende kos- wenige Milliwatt; diese spärliche Leistung bomben. mische Nacht und verzögert noch einmal würde noch nicht einmal ausreichen, um Nach dem Ende der Schwarzen Löcher den Untergang eines Universums, das zu eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen. folgt die letzte Epoche des Universums: einer Existenz als galaktischer Friedhof Mit diesem letzten Aufflackern endet die das Zeitalter totaler Finsternis. verurteilt ist.“ Epoche der entarteten Sterne. Auch ohne Himmelskörper dehnt sich War’s das wirklich? Selbst hartgesottene Selbst danach wird das Weltall nicht völ- der leere Raum, unerbittlich angetrieben Wissenschaftler weigern sich zu glauben, lig leer sein. Denn ausgerechnet die mas- von der ihm innewohnenden dunklen En- dass dies alles gewesen sein soll. Aus der sivsten aller Himmelskörper bleiben ergie, immer weiter aus. Am Ende wächst unheimlichen Welt der Teilchenphysik zunächst von dem Zerfall verschont: die der Kosmos ins Grenzenlose. In Raumge- schöpfen sie Hoffnung, dass es auf wun- mysteriösen Schwarzen Löcher. Wie dun- bieten, die größer sind als das gesamte heu- dersame Weise doch irgendwie weiterge- kle Inseln ragen sie fortan aus einem Meer te beobachtbare Universum, befindet sich hen könnte. der Düsternis. buchstäblich nichts. Anderswo, ein paar Die Spur führt in das geheimnisvolle Ein Schwarzes Loch entsteht immer Billionen Lichtjahre entfernt, huscht we- Reich des Mikrokosmos. Nach den un- dann, wenn ein ausgebrannter, besonders nigstens noch ein einzelnes Lichtteilchen begreiflichen Regeln der Quantentheorie massereicher Stern unter dem Druck seiner durch die Unendlichkeit. ist selbst so etwas wie das Vakuum nicht eigenen Schwerkraft zu einem extrem hoch Geradezu als deprimierend empfindet wirklich leer. So können darin aus dem verdichteten Materieklumpen zusammen- der amerikanische Kosmologe Edward Nichts Teilchen wie geisterhafte Wesen schnurrt. Dabei verbiegt der Todesstern entstehen und sofort danach wieder ver- den Raum so stark, dass kein noch so gehen. flüchtiges Elementarteilchen und noch Der Kernphysiker Hans Christian von nicht einmal ein Lichtstrahl seinem düste- Baeyer hat das dynamische Vakuum mit ren Schlund zu entkommen vermag; des- poetischen Worten umschrieben: „Es ist halb erscheinen diese Gestirne unsichtbar. wie ein stiller See in einer Sommernacht, Mit ihrem Schwerefeld verzerren die dessen Oberfläche sich sanft kräuselt, Monster aber auch den normalen Zeit- während überall Paare von Elektronen ablauf. Je näher man ihnen kommt, desto und Positronen wie Glühwürmchen auf- langsamer gehen die Uhren. Und nahe ih- leuchten – ein geschäftiger und freund- rer Oberfläche bleibt die Zeit sogar fast licher Ort.“ ganz stehen. Es ist also keine Hexerei, Es kann aber auch passieren, dass eine wenn Schwarze Löcher den Zerfall der winzige Kräuselung sich urplötzlich zu ei- Atome überleben: In ihrem Innern leben ner Flutwelle auftürmt: Ebenso wie Teil- eben auch Protonen länger. chen aus dem Nichts auftauchen, ist es Doch irgendwann verlassen selbst diese nämlich möglich, dass das Vakuum selbst letzten Darsteller die Himmelsbühne. Nach ohne erkennbare Ursache in einen höheren Verstreichen eines Zeitraums, der die Energiezustand springt. Teilchenforscher menschliche Vorstellungskraft vollends nennen diesen energiegeladenen Zustand

sprengt (10 Milliarden Billiarden Billiarden AKG „falsches Vakuum“. Diese Vakuum-Ener- Billiarden Billiarden Billiarden Billiarden Himmelsforscher Einstein, Lemaître gie führt zu einer Kraft, die den Raum Jahre), platzen die Schwerkraftblasen und Sanfter Tod des Kosmos blitzartig auseinander drückt: Der Mikro-

der spiegel 2/2002 155 im Stande sein könnte, eine solche Vaku- um-Blase künstlich zu erzeugen; sie könn- ten sich, als letzten Ausweg aus einem dahinsiechenden Universum, einfach ein neues schaffen: „Wenn sie die Eigenschaf- ten und physikalischen Gesetze vorherbe- stimmen könnte, würde die Zivilisation sicherstellen, dass das Kind-Universum die Entwicklung von Leben begünstigt.“ So aberwitzig diese Idee auch klingen mag: Sie würde zumindest erklären, war- um unser eigenes Universum ein so gast- licher Ort ist. Kann es Zufall sein, dass von den unendlich vielen denkbaren Universen ausgerechnet ein solches entstanden ist, das die Bildung von Sternen, Planeten und sogar Leben ermöglicht? „Wenn wir Gott spielen und die Werte für die Naturkonstanten und -kräfte frei wählen könnten“, sagt der Physiker Da- vies, „würden wir wohl entdecken, dass fast alle Einstellungen das Universum un- bewohnbar machen würden.“ Wäre etwa die Schwerkraft, die schwächs- te aller Naturkräfte, nur geringfügig stär- ker, so hätten sich weder Sonnen noch Pla- neten bilden können; das Weltall wäre schon bald nach dem Urknall wieder in sich zusammengestürzt. Lauter solche (scheinbaren) Wunder ha- ben dafür gesorgt, dass aus dem Urknall die beste aller möglichen Welten hervorging. Hat also doch irgendjemand daran ge- dreht? Womöglich ein Schöpfergott? Oder gar eine gottgleiche Superzivilisation aus einem Vorgänger-Universum?

DPA Wie bei einer kochenden Supernova-Explosion*: Jeder sterbende Stern liefert Rohstoff für neue Sonnen Suppe, in der Blasen em- kosmos wächst sprunghaft zum Makrokos- Die Geburt eines neuen Universums, so porsteigen, könnten sich mos. die Theorie, würde damit beginnen, dass neue Universen entfalten Genau so eine Eruption des Vakuums irgendwo im nicht enden wollenden leeren muss in ferner Vergangenheit schon einmal Raum erneut eine mikroskopisch kleine Bla- aufgetreten sein: als es zum Urknall kam. se falschen Vakuums entsteht und sich mit Es gibt auch eine einfachere Erklärung. Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde extrem hoher Geschwindigkeit aufbläht. Weil eine Quantenfluktuation im Vakuum pumpte sich damals ein Raumgebiet von In weniger als einer Sekunde wird die immer wieder auftreten kann, gibt es wahr- der Größe eines Atoms auf die Größe des expandierende Vakuum-Blase vom umlie- scheinlich nicht nur ein einziges Univer- heute überschaubaren Universums auf. Am genden Weltraum abgeschnürt und schließ- sum, sondern unendlich viele, die getrennt Ende dieser Expansionsphase verwandelte lich abgetrennt: Das „Tochter-Universum“ voneinander existieren. sich die im falschen Vakuum gespeicherte nabelt sich ab. Bildhaft ähnelt dieser Prozess „Wie bei einer kochenden Suppe, in der Energie in Materie – ähnlich wie Wasser- einer Frucht, die von einem alten Apfel- andauernd Blasen emporsteigen“, so stellt dampf, der zu Regentropfen kondensiert. baum fällt und einen neuen entstehen lässt. sich das der Münchner Physiker Wolfgang Für den Schweizer Astronomen Tam- „Von diesem Moment an wird das neue Wild vor, „könnten sich immer neue Uni- mann könnte diese kosmische Inflation Universum stetig anwachsen und die üb- versen entfalten.“ auch das Rätsel lösen, woher die alles be- lichen Entwicklungsstadien durchlaufen“, Ereignet sich folglich ständig irgendwo stimmende dunkle Energie stammt: „Viel- erläutert der Theoretische US-Physiker ein neuer Urknall? Dann wäre das Welt- leicht handelt es sich bei ihr um den küm- Alan Guth, einer der Väter der Theorie all, das die Menschheit beherbergt, eben merlichen Rest, der von der irrwitzig ho- vom inflationären Urknall. „Für einen Be- doch nur ein statistischer Zufallstreffer. hen Vakuum-Energie übrig geblieben ist.“ obachter im Mutteruniversum würde das Fast alle anderen Universen hingegen kä- Viele Physiker sind überzeugt: Wenn Ereignis so aussehen, als ob ein Schwarzes men als Totgeburten auf die Welt – je- man nur lange genug wartet, wird es wie- Loch entsteht – das gleich danach wieder doch unbemerkt, denn niemand lebte dort, der zu einem solchen Schöpfungsakt kom- verschwindet.“ der die grenzenlose Ödnis wahrnehmen men. Der Urknall war kein Einzelfall. Einige Forscher gehen in ihren Spekula- könnte. tionen noch einen Gedankenschritt weiter. In der kosmischen Lotterie hätten die Die Zukunfts-Chronisten Adams und Menschen mit ihrem Universum also ein- * Aufgenommen mit dem Röntgensatelliten „Chandra“; bei dem kleinen hellen Punkt in der Bildmitte handelt es Laughlin halten es sogar für möglich, dass fach nur das große Los gezogen. sich vermutlich um den Überrest des explodierten Sterns. eine extrem fortgeschrittene Zivilisation Olaf Stampf

156 der spiegel 2/2002 Werbeseite

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MUSIK Vivaldi alla turca ls Mensch sei er langweilig ge- Awesen und als Musiker heillos überschätzt, lästerte der Komponist Igor Strawinski einst über seinen bis heute enorm erfolgreichen Barock- Kollegen Antonio Vivaldi. Ganz so schlimm war es wahrlich nicht, und Vivaldis bekanntestes Stück, die un- verwüstlichen „Vier Jahreszeiten“, sind eines der beliebtesten und meistaufgenommen Gustostücke der gesamten klassischen Musikliteratur. Nun kommt eine weitere, kuriose Einspielung hinzu. Die beiden türki- schen Zwillingsschwestern Ferhan und Ferzan Önder haben sich den

Ohrwurm, im Original für Solovioli- 2001 PETER BOETTCHER, ne und Streichorchester geschrie- Kraftwerk-Musiker in Roboterverkleidung (1997) ben, für zwei Klaviere bearbeiten lassen. Das Ergebnis klingt frisch, AUSSTELLUNGEN unbekümmert und ist nun auf der Terminators Vorfahren ie hießen Elsie und Elmer – und waren so etwas wie Adam und Eva des modernen Ro- Sboterzeitalters. Sie wussten genau, wo sich im Labor Aufladestationen befanden; dort rollten sie regelmäßig hin, um Energie zu tanken. Das Pärchen wurde 1950 der Öffentlichkeit vorgestellt. Ihm folgten vor allem in Amerika und Asien Modelle, die noch cleverer und beweglicher waren: Da gab es das einarmige Hopkins-Biest, den Orgel spielenden Wasubot oder den humanoiden Robo- terkopf Kismet, der mit seinem froschartigen Gesicht mensch- liche Stimmungen imitieren kann. Viele der Laborschöpfungen sind von nächster Woche an im Kölner Museum für Ange- wandte Kunst zu sehen: Die Ausstellung „Ex machina“ zeigt lustige Technik, ist aber auch eine aufschlussreiche Bilanz der jüngeren Menschheits- und Designgeschichte. Fast hat sich der Traum vom besten androiden Freund des Menschen erfüllt – nur am Äußeren haperte es lange. Einige Konstruktionen wir-

THOMAS RABSCH THOMAS ken wie eine Kreuzung aus einer Nähmaschine und dem Pianistinnen-Schwestern Önder Glöckner von Notre Dame. Vergleichsweise erfolgreich dage- gen glichen manche Menschen ihr Aussehen an das von Ro- CD „Vivaldi Reflections“ (EMI) er- botern an. Die Musiker der Gruppe Kraftwerk kultivierten ei- schienen. Als Beigabe glänzt das nen sterilen Robotik-Look, Arnold Schwarzenegger gab im ebenso attraktive wie virtuose Da- Film „Terminator“ einen besonders überzeugenden Maschi-

mendoppel noch mit fast vergesse- nenmenschen ab – schon deshalb, weil er wie jeder gute Robo- / ROTH ROBOTICS FRIENDLY nen Bach-Variationen des deutschen terfreund nicht zu viele Worte verlor (bis 14. April). Mäh-Roboter RL 500 Spätromantikers Gustav Nottebohm.

AUTOREN Stuckrad-Barre unter dem Titel „Deutsches Theater“ gerade sein bisher wohl bestes Buch (Kiepenheuer & Witsch, Köln; 288 Sei- Keile für den Kolumnisten ten; 12,90 Euro) veröffentlicht hat – und dessen Texte bestehen im Wesentlichen aus den Beiträgen einer „Stern“-Kolumne. Von eder Mensch ist ein Selbstdarsteller, und der Bundesverdienstkreuz-Verleihung an Marius Müller-Western- Jkaum einer weiß das so gut wie der Berli- hagen bis zum Besuch bei Manfred Krug beobachtet der Autor ner Autor und TV-Moderator Benjamin von Prominente bei ihren Rollenspielen in der Medienwelt – und of- Stuckrad-Barre, 26: Für seine Auftritte und fenbart bei allem Sarkasmus eine Dieter-Hildebrandt-verdächtige Buch-Seller („Blackbox“) bekommt er regel- moralische Ader. Am besten ist Stuckrad-Barre, wenn er selbst mäßig Haue – neuerdings auch vom „Stern“, fast keine Rolle spielt: Seine Beobachtungen rund um einen Fern- der ihm gerade unter der Rubrik „Fehlanzei- sehauftritt von Hellmuth Karasek und das Dramolett „Claus Pey-

JOACHIM GERN / STERN JOACHIM ge“ absprach, zu den „wirklichen Literaten“ mann kauft sich keine Hose, geht aber mit essen“ sind Glanz- Stuckrad-Barre zu gehören. Die Keile ist verwunderlich, weil stücke – weil da Meister der Selbstdarstellung lässig brillieren.

der spiegel 2/2002 159 Szene

LITERATUR Mord im Kirchenschiff TANZ ie zierliche Frau Baronin schreibt Historische DKrimis, wie Traditionalisten sie gern haben: ein überschaubarer, skurri- ler Tatort, eine beschränkte Anzahl von „Serenata“ Verdächtigen – jeder mit einem stich- haltigen Motiv – und ein Kommissar mit ie war ebenso kreativ wie langle- Stil und Grips. Sbig. Gret Palucca, die 1993 im Alter Seit Jahren beliefert Phyllis Dorothy von 91 Jahren starb, war neben Mary James, 81, die 1991 von der Queen we- Wigman in der ersten Hälfte des 20. gen ihrer Verdienste ums literarische Jahrhunderts die einflussreichste Iko- Morden zur Baroness James of Holland ne des modernen Tanzes in Deutsch- Park erhoben wurde, ihre treuen Fans land. Am 8. Januar wäre sie 100 Jahre mit immer neuen Mordrätseln. Diesmal alt geworden. Die Dresdner Hochschu- hat sie sich, wie schon der Titel verrät, le für Tanz, die ihren Namen trägt, einen schaurig-schönen „Tod an heiliger ehrt ihre Gründerin und langjährige Stätte“ ausgedacht. Schauplatz ist das Leiterin am Gedenktag mit einer abgelegene elitäre „Hommage à Gret Palucca“ im Schau- Priesterseminar St. spielhaus der sächsischen Landes- Anselm in Suffolk. hauptstadt. Aufgeführt wird unter an- Hier, an rauer Küste, derem eine der legendärsten Palucca- bildet die anglikani- Choreografien, „Serenata“. Maria sche Kirche in einem Zimmermann tanzt das Solo so, wie es viktorianischen Klos- auf Grund eines historischen Films mit terkomplex die viel der Meisterin aus dem Jahr 1934 re- versprechendsten konstruiert werden konnte. Der Film, Theologiestudenten der lange als verschollen galt, war erst

zu Pfarrern aus. BILDERDIENST ULLSTEIN in den achtziger Jahren in der Schweiz Doch die gottgefällige Tänzerin Palucca (1938) wieder entdeckt worden. Atmosphäre trügt. Einer der Studenten kommt unter naturgemäß mysteriösen Umständen zu Tode. Kurz darauf stirbt Kino in Kürze die herzkranke Haushälterin des Semi- nars einen schnellen Tod im Fernsehses- „Requiem for a Dream“ ist, und das sagt sich sel. Commander Adam Dalgliesh, er- nicht leicht, als Kinostück der härteste, unbarm- probter, Gedichte schreibender Haus- herzigste Drogen-Horrortrip, seit sich (vor in- und-Hof-Detektiv von P. D. James, zwischen elf Jahren) David Cronenberg an fährt nach St. Anselm, um diskret zu er- „Naked Lunch“ von William S. Burroughs ge- mitteln, ob es sich um Kapitalverbre- wagt hat. Wer Darren Aronofskys delirierenden chen handelt. Kaum ist er eingetroffen, Erstling „Pi“ kennt, wird ahnen, welcher Wahn- passiert ein grausiger Mord: Archidia- sinn ihn diesmal (einem Roman von Hubert kon Crampton, der administrative Auf- Selby Jr. folgend) erwartet: nichts Glattes, Ge- seher von St. Anselm, der das Priester- lacktes, sondern ein Sturm roher und wüster seminar schon lange schließen will, Bilder, ein Stakkato auf höchster Dringlichkeits- wird erschlagen in der Kirche aufgefun- stufe. Jared Leto spielt den jungen Junkie in den. Der Täter hat ihn mit einem Ker- der Todesspirale, Ellen Burstyn seine Mutter, zenleuchter im Kirchenschiff höchst die sich mit Schlankheitspillen um den Ver- unchristlich gemeuchelt. Commander stand bringt, so explosiv, dass man kaum sei- Dalglieshs Ermittlungen gestalten sich nen Augen traut: pures Halluzinationskino. Szene aus „Requiem for a Dream“ kompliziert: Sehr viele Menschen, so zeigt sich, hätten den ungemütlichen „Mein Stern“ erzählt, wie eine junge Liebe ent- Archidiakon gern um die Ecke gebracht steht und beinahe vergeht. Nicole und Christo- – und nicht wenige hätten auch die pher sind 15. Willst du mit mir gehen? Warum Gelegenheit dazu gehabt. Auch in der nicht? Ein Entschluss, ein Kuss, ein paar Tage Lösung des Rätsels beweist P. D. James später ist Schluss. Oder nicht? Regisseurin Va- ihre Meisterschaft in einer Krimikunst, leska Grisebach folgt ihren von den Laiendar- wie sie heute selten geworden ist: stellern Nicole Gläser und Christopher Schöps altmodisch, intelligent und blendend verkörperten Figuren, wohin die Verwirrung geschrieben. der Gefühle sie treibt. Der Zuschauer erlebt dies mit, als passierte es vor seinen Augen, fühlt sich aber nie wie ein Voyeur. Dem Film gelingt P. D. James: „Tod an heiliger Stätte“. Aus dem Engli- schen von Christa E. Seibicke; Droemer Verlag, Mün- es, in die Intimsphäre der Jugendlichen einzu- chen; 544 Seiten, 22,90 Euro. Gläser, Schöps in „Mein Stern“ dringen, ohne je wie ein Eindringling zu wirken.

160 der spiegel 2/2002 Kultur

Am Rande Hinkender Stiefel er an sich liebenswerte Itali- Dener ist verschnupft. Dass er mit der neuen Währung nicht gleich klarkommen würde, war zu erwarten. 1936,27 gute alte BETH A. KEISER / AP Lire gegen einen einzigen Euro The Who beim Benefizkonzert am 20. Oktober im New Yorker Madison Square Garden aufzurechnen musste als Zu- mutung empfunden wer- BENEFIZ den. Doch der wahre Stars unterm Sternenbanner Grund, warum die Stim- mung im Stiefel Euro- ls vor 32 Jahren beim Festival von Woodstock Jimi Hendrix die US-Nationalhym- pas hinkt, liegt tiefer: Ane anstimmte, klang seine Interpretation des „Star-Spangled Banner“ nach Krieg Seit Neujahr ist die und Zerstörung und Flugzeugen, die Vietnam niederbrannten. Hendrix ist längst tot. Mailänder Scala Aber Leute, die damals mit ihm und gegen die Politik ihrer Regierung auf der Bühne dicht, und das für standen – wie The Who oder Neil Young – scharen sich diesmal zusammen mit den Superstars des Rock’n’Roll unters Sternenbanner: Nach den Anschlägen vom 11. Sep- drei Jahre. Eigent- tember ist es wieder mal zum Symbol der Hoffnung und der Freiheit geworden. „Ame- lich sollte die erste rica: A Tribute to Heroes“ heißt eine Doppel-CD, die Anfang Februar auch als DVD Generalüberholung erscheint. Zu ihren Höhepunkten zählen „My City of Ruin“ von Bruce Springsteen, des 1778 eingeweihten „Walk on“ von U2 und Neil Youngs Interpretation von „Imagine“. Die Erlöse gehen an Singtempels schon bis 2003 über einen Fonds für Opfer des 11. September. Eine zweite Doppel-CD „The Concert for die Bühne gegangen sein. Aber New York City“ dokumentiert jene Benefizshow (unter anderem mit Elton John und nun braucht der Hausputz in David Bowie), die Paul McCartney für die Geschädigten des Attentats organisierte. Parkett, Logen und Aufgängen mehr Zeit (und mehr Euro), und das Land erstarrt: La Scala! Chiu-

TRICKFILM sa! Unvorstellbar! Denn dieses Opernhaus ist, wie il papa in Rom Drogendrama in Legoland oder la pasta landesweit, eine sa- krosankte Institution. Hier be- ine neue Filmgattung macht derzeit im Internet Furore – und verunsichert den kriegten sich einst die Callas und Edänischen Spielzeughersteller Lego. Bereits über hundert so genannter Brickfilms die Tebaldi aus vollem Halse. (etwa: Klötzchen-Filme) stehen zum kostenlosen Herunterladen im World Wide Web Hier wurde bei jeder feierlichen bereit (http://brickfilms.topcities.com). Lego-Männchen und -Weibchen agieren in den meist parodistischen Filmen wie der James-Bond-Satire „LegoLand Is Not Enough“. Saisoneröffnung die Schlacht der Neuerdings verstören auch regelrechte Hardcore-Werke die einst heile Lego-Welt: Couturiers geschlagen: Gucci ge- Der Gesellschaftsschocker „Girl“ etwa porträtiert ein Lego-Mädchen, dessen Lego- gen Prada, Blockabsatz gegen Papi alkoholisiert die Kokain schnupfende Lego-Mami verprügelt. Einige Brickfilme bleistiftdünnen Fersenheber. Und wurden mit Erfolg beim Sundance-Filmfestival vorgeführt. Der Lego-Konzern zeigt hier war schließlich auch im- sich trotzdem wenig erbaut: „Von diesen Machwerken müssen wir uns klar distanzie- mer eine landesweit anerkannte ren. Solche Inhalte stimmen ganz und gar nicht mit unseren Wertvorstellungen über- Bühne für soziale Machtkämpfe: ein“, teilte ein Lego-Sprecher mit und drohte juristische Schritte an. Gleichwohl Wurde gespielt oder gestreikt? sind die Dänen nicht ganz unschuldig an der Film-Manie: Ende 2000 brachten sie gemeinsam mit Regiestar Steven Spielberg ein „Lego & Steven Spielberg MovieMa- War das Orchester im Graben ker Set“ auf den Markt – eine Trickfilmer-Ausrüstung „für Kinder ab 8 Jahren“. oder im Ausstand? Kein teutoni- scher Schöngeist kann die Aus- wirkungen einer geschlossenen Scala wirklich nachempfinden, nicht mal bei der – gottlob theo- retischen – Vorstellung eines total verrammelten Hofbräuhauses. Fürs Erste spielt die Scala jetzt in einem Gebäude namens Teatro degli Arcimboldi. Für die Nation der Belcantisten schlechthin ist das noch weniger zumutbar als der neue Euro. Szenen aus dem Lego-Brickfilm „Girl“

der spiegel 2/2002 161 Kultur

„Warten auf Godot“-Probenszene mit Schauspieler Schmidt (r.) im Bochumer Schauspielhaus*

ARNO DECLAIR

SPEKTAKEL Der Clown in Ketten Für die Rolle des Lucky in Samuel Becketts „Warten auf Godot“ kehrte der Fernseh-Entertainer Harald Schmidt ans Theater zurück: Das Bochumer Schauspielhaus vermarktete seinen Auftritt zum Medienereignis der Saison.

lückliches Bochum. Wer hier einen Harald Schmidt, aufgewachsen im schwä- Mantel trägt statt eines Anoraks, bischen Nürtingen, später Schauspieler in Ggeht schon als Kulturereignis durch. Augsburg, jetzt Deutschlands bester En- Aber die Leute, die Leute: Die sind so tertainer und derzeit selbst auf dem Titel- freundlich und entspannt, als wäre Bochum bild des Bahn-Magazins zu sehen, spielt das Paradies auf Erden; sie reden gern in ei- den Lucky in Samuel Becketts „Warten auf nem leise singenden Ton; sie sind durch Godot“. Fremde nicht zu erschüttern. Das Stück ist nicht gerade neu, das Bo- Denn das Ruhrgebiet – dieses flache chumer Schauspielhaus ist, trotz seines und zeichenarme Land, zersiedelt zwi- ausgezeichneten Rufs, nicht der Nabel schen Baggerseen und Autobahnen, alten der deutschen Theaterwelt – doch Harald Stahlwerken, stillen Zechen und Pommes- Schmidt sorgt dafür, dass die Medienrepu- buden –, es ist Völkerwanderung gewöhnt. blik in Erwartung der Premiere am vergan- Erst kamen die Polen, dann kamen die genen Sonntag zitterte wie ein frisch gefan- Türken, und jetzt kommen die Journalis- gener Aal: Wie wird er es machen? Oder, ten: Harald Schmidt ist in der Stadt. im Theaterjargon gefragt, vom 6. zum 7.

Zwerg vor der „Schneewittchen“-Premiere BINDER LUDWIG * Mit Michael Maertens, Ernst Stötzner. in Butzbach: „Wie legst du die Rolle an?“ Klassische Beckett-Inszenierung von „Warten auf

162 der spiegel 2/2002 Lucky ist ein armes Schwein, das Schwein geheißen wird – und wohl die rät- selhafteste Figur in diesem Stück, das an Rätseln nicht arm ist. Er hat eine Hunde- leine um den Hals, trägt einen schweren Koffer, einen Klappstuhl, einen Picknick- korb und einen Mantel über dem Arm, schleppt sich nur mühsam vorwärts, wird mit einer Peitsche gezüchtigt, bespuckt, ge- schlagen und getreten, bricht irgendwann zusammen und liegt da wie tot; er sabbert und stottert und weint, und am Schluss hat er seine Stimme verloren und kann nicht einmal mehr stöhnen. Er ist nicht nur ein Knecht, er ist Leib- eigener; ein Sklave ohne Menschenrecht, der verkauft werden kann. Er spricht nur auf Befehl, und dieser Befehl heißt: „Denke!“ Dann zieht er – je nach Inszenierung – die Stirn mehr oder minder deutlich in Fal- ten, richtet sich auf oder krümmt sich noch mehr zusammen und spricht seinen Mo- nolog: ein glasklares Gestammel, eine stot-

ternde Kakophonie, einen mit unzähligen PRESS JUERGENS / ACTION RALF Phrasen und Fertigsätzen versetzten Text, TV-Entertainer Schmidt mit Talk-Gast Collien Fernandez: Charme des Als-ob in dem Gelehrsamkeit und Wissenschaft, Banalität und Anschauung und heller noch einmal – von allen historischen Be- Wenn er Polenwitze erzählt, dann tut er Wahn nicht einmal mehr grammatisch dingtheiten entkleidet, als eine Parabel – das eben als einer, der den Witz ironisiert ganze Sätze bilden. Bühnenspiel geworden ist. „Er will mich – was es ermöglicht, bei ihm über dieselbe „Auf Grund der“, hebt er an, „sich aus kleinkriegen“, sagt Pozzo, sein Herr, „aber Pointe zu lachen, die man seinem vielleicht den letzten öffentlichen Arbeiten von er kriegt mich nicht.“ reaktionären, fremdenfeindlichen Nach- Poinçon und Wattmann ergebenden Exis- Die gerne und gut erzählte Legende lau- barn übel nähme. tenz eines persönlichen Gottes kwakwa- tet, der Bochumer Dramaturg Thomas Seine Überschreitungen haben den kwakwa mit weißem Bart kwakwa außer- Oberender habe gefunden, der Lucky un- Charme des Als-ob, und so kann er ab- halb von Zeit und Raum der aus der Hö- serer Tage sei eigentlich Harald Schmidt: wechselnd an unser Bedürfnis an Unter- he seiner göttlichen Apathie göttlichen unser aller freiwilliger Clown, Sklave der haltung, Klatsch und Häme appellieren Athambie göttlichen Aphasie uns lieb hat Unterhaltungsindustrie, am Gängelband und an den Bildungsbürger in uns. bis auf einige Ausnahmen man weiß nicht der Werbegelder und der Gunst des Publi- Er geht vom Inneren der Gesellschaft warum aber das kommt noch“… und so kums, aber doch von rätselhafter, bösarti- an ihren Rand, ist kommentierender Beob- weiter. ger Souveränität … achter und engagiert zugleich, und seine Hat er diesen Text gesprochen, gegen Und Harald Schmidt habe tatsächlich, Ironie hat die Anmut eines Menschen, der Ende des ersten Akts, wird er wieder zum anlässlich eines geselligen Beisammenseins jederzeit wieder ernst werden kann. schweigenden, dann stummen Schweine- mit dem Bochumer Intendanten und „Go- Diese gläserne Undurchsichtigkeit aller- hund. Und doch legt das Stück die Frage dot“-Regisseur Matthias Hartmann, den dings legt ihn stärker fest auf sich selbst, nahe, ob diese machtlose, armselige Krea- lebenslangen Wunsch geäußert, einmal als Götz George an seine Rolle als Schi- tur nicht auch eine Wahl getroffen hat und Lucky, den Glücklichen, zu spielen. manski gekettet ist, denn George ist Schau- die Dialektik von Herr und Knecht (ohne Bei einer solchen Legende ist jegliche spieler, und Wandlungsfähigkeit ist sei- Hegel-Lektüre, meinte Adorno, sei das abweichende Wahrheit natürlich uninter- ne Profession: Kann aber Harald Schmidt Stück schlechthin nicht zu verstehen) hier essant. Die Sache nahm ihren glücklichen den Lucky so spielen, dass das Publikum Verlauf: In einem hervorragenden Ensem- den Moderator vergisst, den er immer ble probt Harald Schmidt die Rolle seiner spielt? Träume, wird als kollegial, bescheiden und Schmidt hat in Bochum, der Stadt der diszipliniert gerühmt – und sorgt mit all- Maloche, die körperlich anstrengendste dem erst recht dafür, dass die Eskapade Variante für seine Darstellung gewählt. ins klassische Fach zunächst einmal ver- Größer als seine Kollegen im Ensemble, standen werden muss als eine weitere Fa- Michael Maertens und Ernst Stötzner – die cette seiner genialischen Selbsterfindung. ihn niederringen müssen –, und, vor allem, Denn Harald Schmidt tritt ja nicht als seinen Herrn Pozzo (Fritz Schediwy) deut- Schauspieler auf in seiner Fernsehshow, lich überragend, entschied er sich dafür, sondern als Conférencier. Er ist der Mode- nicht nur über die Bühne zu schlurfen und rator als Hauptfigur, und damit wiederholt den Kopf zu senken – was vergleichsweise seine Rolle, was auch die Qualität seiner kommod sein müsste. Texte ausmacht: die Gleichzeitigkeit von Stattdessen geht er mit eingezogenen Innen und Außen. Schultern und angewinkelten Armen, steht da mit leicht gegrätschten und geknickten Beinen und erlaubt sich kein Zusammen- * Horst Bollmann, Stefan Wigger, Klaus Herm, Carl Rad- datz in der Regie von Samuel Beckett im Berliner Schil- sacken, kein Nachlassen der Spannung. Ein Godot“ (1975)*: Sabbern und Stottern ler Theater. Häufchen Elend ist er nicht. So löst er we-

der spiegel 2/2002 163 Kultur niger Erbarmen aus, als seine Rolle ermög- licht – bis auf den Moment, da er, durch Peitschenknall aus seinem Dämmer ge- KLASSISCHE MUSIK weckt, den Kopf hebt und das weiße Ge- sicht schief seinen Peinigern entgegenhält: spähend, in Erwartung einer weiteren Tor- „Ich spüre einen Aufbruch“ tur und wehrlos wartend. Der Schauspieler Harald Schmidt hat es gut in diesem Ensemble. Maertens und Klavier-Legende Maurizio Pollini über die schwierige Stötzner sorgen für einen virtuosen Wech- Schönheit zeitgenössischer Werke, seinen Perfektionismus und sel aus Intimität und Parodie, aus einem den Wechsel der Konzerthörer-Generationen zuweilen rührenden Innehalten und einer burlesken Dramatik. Als Pozzo und sein Schweinehund ab- gehen, winken sie den beiden nach und entwickeln aus ihrer Handbewegung ein kleines Fingerspiel, eine hochkomische Pantomime: in der eng am Text orien- tierten Inszenierung eine gelungene Im- provisation – die zudem für sie beide und das Publikum den schwierigen Mo- ment im besten Sinne überspielt, in dem das Zurückbleiben und der Zwang, ei- nen neuen Rhythmus zu finden, oft eine kleine Lähmung, eine Verlegenheit zur Folge hat. Schediwy gibt den Pozzo in rüder Kür- ze, hochfahrend und schneidend – und da- mit in einem gelungenen Gegensatz zu Stötzners rustikalem, fast gemütlichem Temperament und Maertens verschliffe- nem, mal beflissen unterwürfigem und mal perfid-hysterischem Tonfall. Und alle Schauspieler haben es gut auf der von Claus Peymanns einstigem Leib- ausstatter Karl-Ernst Herrmann eingerich- teten Bühne: Ausgekleidet in samtigem, tiefem Schwarz und beinahe leer, ist sie geteilt durch eine weiße Zwischen- plattform, auf der die Handlung spielt und die – eine diskret umgesetzte und höchst wirkungsvolle Idee – sich immer mal wie- der zu einer schiefen Ebene neigt. Die entschiedene Schlichtheit des Raums und eine subtile Lichtregie, verstärkt durch die strengen Kostüme (dunkle Anzüge und graue Hüte, nur in der Nuancierung die Differenz von den Clochards zum Her-

renmenschen und zum Schweinehund mar- GONTIER / DGG PHILIPPE kierend), lassen vor allem die Schauspieler Pianist Pollini: „Musik muss um ihrer selbst willen geschätzt werden“ wirken – und verraten ein Vertrauen in den Text, das umso wohltuender ist, als es Pollini, 60, ist einer der bedeutendsten rerseits fällt mir dabei gleich ein, was ich beinahe eine Ausnahme darstellt. Konzertpianisten der Welt. Seit 1960, als beim Stück empfinde, wie es in dieser Auf- Hartmann hat einen Klassiker klassisch er den Moskauer Chopin-Wettbewerb nahme-Sekunde war – und was ich beim inszeniert – im letzten Probenstadium viel- gewann, hat der Mailänder mit der nüch- nächsten Mal anders machen könnte. leicht noch ohne die letzten Härten und ternen Intensität seiner Interpretationen SPIEGEL: Die Auswahl beginnt bei Mo- Abgründigkeiten, die sein Ensemble sich eine ganze Klavier-Epoche mitgeprägt. zart, enthält aber auch Stücke von Schön- leisten kann. berg, Webern, Luigi Nono und Pierre Hinreißend die Idee, diese Ikone der SPIEGEL: Maestro Pollini, zu Ihrem 60. Ge- Boulez. Sie nehmen die Werke des 20. modernen Dramatik durch einen goldfar- burtstag bringt Ihre Plattenfirma eine üp- Jahrhunderts offenbar ernster als viele Kol- bigen Rahmen einzufassen, der den Büh- pige „Pollini Edition“ heraus – eine Kol- legen? nenraum umschließt – so ist das Bewusst- lektion Ihrer wichtigsten Aufnahmen. Wel- Pollini: Ja, das ist mir sehr wichtig. In mei- sein, dass „Warten auf Godot“ rasant und ches Stück mögen Sie am liebsten? nen Konzerten lasse ich Gegenwartskom- unaufhebbar in Westeuropa zum Zitat ge- Pollini: Es ist schwer, einen Favoriten zu ponisten oft das letzte Wort, sozusagen. worden ist, im Hegelschen Sinne aufgeho- nennen. Einerseits ist eine Einspielung in SPIEGEL: Aus Pflicht oder aus Neigung? ben: aufbewahrt, in Abrede gestellt und sich irgendwie objektiv: Es ist die Moment- Pollini: Natürlich ist es auch eine Pflicht. transformiert. Und so wird diese Inszenie- aufnahme einer ganz bestimmten Inter- Vor allem aber interessieren mich die Wer- rung auch zu dem, was sie ist: ein Abend pretation, die ich so nüchtern hören kann, ke enorm; ich mag sie. Zum Beispiel Stock- mit Goldrand. Elke Schmitter als stamme sie gar nicht von mir. Ande- hausens Klavierstücke, das sind wahre

164 der spiegel 2/2002 Meisterwerke, phantastisch gut geschrie- SPIEGEL: Für Franz Liszt heißt das: Die ben – sie klingen einfach großartig. große h-moll-Sonate und einige späte Cha- SPIEGEL: Liegt das nicht auch an Ihrer In- rakterstücke. Warum nur dies? terpretation? Pollini: Liszts Spätwerk zeigt einen Wen- Pollini: Danke, aber Sie müssen mir glau- depunkt: Es sind mit die ersten Versuche, ben: Es steht schon in den Noten. Ich habe über das tonale System hinauszugehen. auch jüngere Pianisten damit gehört; die SPIEGEL: Soll das heißen, Sie spielen diese Intensität war ähnlich überzeugend. Werke als historische Beweisstücke? SPIEGEL: Etliche Kollegen sagen, zum Stu- Pollini: Viel simpler: Ich spiele, was ich mag. dium solcher Stücke fehle ihnen die Zeit. Die überwältigende Melancholie in Liszts Pollini: Für das ungeheure Repertoire aus Spätwerken finde ich einfach sehr bewe- dem 19. Jahrhundert haben sie offenbar gend. Es sind Stücke, bei denen ich keine Zeit! Gut, viele neuere Werke sind tatsäch- Angst habe, ich könnte sie irgendwann satt lich besonders schwierig zu spielen und haben. Das gilt für alles, was ich öffentlich auswendig zu lernen. Aber es ist doch sehr spiele und aufnehme – wenn ich morgens wichtig für unser Musikleben, dass die aufwache und das Programm des Abends Stücke, die uns nah sind, auch ins Reper- sehe, möchte ich mich darauf freuen. toire kommen. Das sollte selbstverständlich SPIEGEL: Haben Sie sich jemals ein Stück sein. Leider gibt es nun zwischen den Ge- für später aufgehoben? genwartskompositionen und dem Publi- Pollini: Ich bin nun einmal ziemlich impul- kum eine Kluft, die selbst künftige Kreati- siv. Wenn ich etwas entdeckt hatte, wollte vität im Keim erstickt. Das ist traurig. ich es so bald wie möglich anpacken. Aber SPIEGEL: Aber hat es nicht immer auch es gibt natürlich Projekte: Den ersten Teil Neubewertungen gegeben? Gustav Mah- von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ ler wurde jahrzehntelang wenig gespielt, habe ich schon aufgeführt; ich würde mir heute gilt er als Erneuerer ersten Ranges. gern auch den zweiten vornehmen und dann Mit Ferruccio Busoni passiert gerade Ähn- beide aufnehmen. Aber das braucht Zeit. liches. Auch Hans Pfitzner und Max Reger SPIEGEL: Sie gelten als Perfektionist. Ge- werden jetzt wiederentdeckt. Liegt da nicht hen Sie methodisch vor? eine ganze Traditionslinie verborgen? Pollini: Nein, nicht wirklich. Ich nehme auf, Pollini: Mag sein. Pfitzner oder Reger ken- was ich seit langem spiele, als Dokument ne ich nicht gut genug. Bei Mahler ist der sozusagen. Am besten wäre es, wenn die Fall klar: Seine Tonsprache blieb weitge- Platte alles bündeln könnte, was man mit hend dem 19. Jahrhundert verpflichtet, dem Stück erlebt und darüber gedacht hat. aber geistig sind seine Werke ungeheuer Doch das gelingt nur sehr selten.

modern. Selbst mit Schubert war es ja so: PRESS / ACTION REX FEATURES SPIEGEL: Trotzdem, einige Ihrer Aufnah- Erst Pianisten wie Artur Schnabel oder Geigen-Star Vanessa Mae men scheinen die Hörer regelrecht erzogen Eduard Erdmann haben seine gewaltigen „Unsinniges Phänomen“ zu haben. Klaviersonaten wieder gespielt – nun sind Pollini: Ich glaube, ich habe da nur das Mi- sie ein fester Bestandteil des Repertoires. rangements und „Easy-Listening-Klassik“ nimum des Möglichen geleistet. SPIEGEL: Könnte es den Komponisten des zu ködern – etwa dem Geigensound von SPIEGEL: Aber ein Romantiker möchten Sie 20. Jahrhunderts nicht ähnlich ergehen? Vanessa Mae. Was halten Sie von diesem nicht genannt werden? Pollini: Es ist schon ein Unterschied, wenn Phänomen? Pollini (lacht): Ich würde mich geehrt fühlen. nicht nur einzelne Künstler und Werke, Pollini: Gar nichts. Musik muss für ihre in- SPIEGEL: Wirklich? So frei wie die Virtuo- sondern eine ganze Epoche nahezu in Ver- neren Werte einstehen können, sie muss sen vor hundert Jahren gehen Sie mit den gessenheit zu geraten droht – gerade die, in um ihrer selbst willen geschätzt sein. Alles Noten nie um. der die Sprache der Komponisten einen so andere ist Unsinn. Erst wenn jemand sich Pollini: Werktreue bedeutet eben auch gewaltigen Schritt nach vorn gemacht hat. Treue zum Komponisten – erst im 20. Jahr- Wenigstens kann heute niemand mehr be- hundert hat sich diese Einsicht durchge- haupten, er habe keine Zeit gehabt, Wer- „Ich würde mich geehrt fühlen, setzt. Was musste Toscanini noch um die an- ke des 20. Jahrhunderts kennen zu lernen. ein Romantiker gemessene Aufführung italienischer Opern SPIEGEL: Dennoch vermisst das Publikum genannt zu werden“ kämpfen! Die Spontaneität bleibt trotzdem darin die großen Gefühle. erhalten; sie ist ja das entscheidende Merk- Pollini: Ein pures Vorurteil. Werke von auf ein Stück, gerade auch ein schwieri- mal musikalischer Darbietung überhaupt. Pierre Boulez oder Luigi Nono sind voller ges, einlassen mag, hat er davon wirklich SPIEGEL: Sie sind quasi ein Botschafter Ita- Leidenschaften. etwas. Klassische Musik ist oft komplex; liens. Was denken Sie über die Situation in SPIEGEL: Oder rührt der Widerstand daher, diese Herausforderung lässt sich nicht um- Ihrer Heimat? dass das Konzertpublikum im Durchschnitt gehen. Aber glauben Sie mir, es ist die Pollini: Ich bin entschieden gegen die jet- immer älter wird? Mühe wert. zige Regierung. Kürzlich wurden da zum Pollini: Ein wenig wohl. Aber das wechselt. SPIEGEL: Haben Sie aus Sorge um das Zeit- Beispiel Haushaltsgesetze beschlossen, die An manchen Abenden habe ich viele jun- genössische immer einen großen Bogen ich für ein europäisches Land schlicht ge Zuhörer, die so aufmerksam sind, dass um Komponisten wie Tschaikowski oder unseriös finde. Es ist wirklich ein Skan- man sich richtig freuen kann: Da ist ein Rachmaninow gemacht? Oder finden Sie dal. Berlusconi klagt überall, wie ihn die Aufbruch zu spüren. Ich hoffe natürlich, deren Musik kitschig? Justiz verfolgt – dabei tun die Richter dass dieser Aufbruch weitergeht: Jüngere Pollini: Ich mag so beliebte Werke nicht ab- nichts als ihre Pflicht. Ein Glück, dass Ita- Konzertbesucher, neuere und unbekann- urteilen. Ich habe eben das Privileg und die lien Mitglied der EU ist. Nicht auszuden- tere Stücke, das fände ich richtig. Qual der Wahl – inmitten eines ungeheu- ken, was für Katastrophen sonst möglich SPIEGEL: Die Plattenfirmen versuchen jun- ren Fundus. Also wähle ich, was mir nah ist wären. Interview: Joachim Kronsbein, ge Leute mit „Weltmusik“, Crossover-Ar- und nahe geht. Johannes Saltzwedel

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Eröffnungssequenz seines Spielfilmdebüts „Tesis“ (1996). Eine Studentin (Ana Tor- KINO rent) schreibt ihre Abschlussarbeit über Gewalt in den Medien und stößt bei der Recherche auf die Blutspuren eines uni- Aus den Augen, in den Sinn versitären Zirkels, der so genannte Snuff Movies dreht und vor laufender Kamera Der Spanier Alejandro Amenábar gilt als junges Menschen tötet. Als sie einen dieser Filme findet, bringt sie es zunächst nicht über Regie-Wunder: Zu Hollywoods „Vanilla Sky“ lieferte er die Vorlage, sich, ihn anzusehen, schneidet aber die er selbst macht mit dem Horrorwerk „The Others“ Furore. Schreie eines gefolterten Mädchens auf Tonband mit und hört sie sich immer wie- ebannt verharren die neuen Dienst- Fast 100 Millionen Dollar hat „The der an. Erst danach wagt sie – und mit ihr boten des Hauses vor der letzten Others“, der mit einem überwiegend spa- Amenábars Film – hinter vorgehaltener Gverschlossenen Tür. Die Kamera nischen Team in der Heimat des Regisseurs Hand einen Blick auf das Blutbad. Dann setzt sich in Bewegung und fängt an, die gedreht wurde, allein in Nordamerika ein- nimmt sie die Hand weg. kleine Gruppe zu umkreisen. Für einen gespielt. Alle drei Filme des Regisseurs handeln Moment, als ein Rücken das Bild füllt, ver- Co-Produzent des Films war der Holly- von der Schwierigkeit, der Angst und dem sinkt die Leinwand im Schwarz. Der Film wood-Star Tom Cruise – und der kaufte Mut, den Tatsachen ins Auge zu sehen. schließt die Augen. auch die Rechte an Amenábars zweitem Der Held in „Abre los ojos“ (gespielt Dann schlägt er sie langsam wieder auf: Werk, „Abre los ojos“ („Öffne die Augen“, von Eduardo Noriega) ist nach einem Un- Die Kamera lässt den Rücken hinter sich 1997). Nun spielt Cruise im Remake – neben fall so entstellt, dass er das Dunkel sucht und gibt den Blick frei auf und eine Maske trägt, zwei Kinder: Lichtgestal- weil er seine eigene Häss- ten gleich treten sie, von lichkeit nicht ertragen Kerzen illuminiert, zwi- kann: „Letztlich geht es schen Tür und Angel in im Leben genau darum: Erscheinung. sich den Dingen zu stel- In einer einzigen Ein- len. Das Genre des Hor- stellung erzählt der 29- rorfilms ist perfekt ge- jährige Regisseur Alejan- eignet, uns mit unseren dro Amenábar in sei- inneren Dämonen zu nem Horrorfilm „The konfrontieren. Ich setze Others“, dass Anne (Ala- mich auf der Leinwand kina Mann) und Nicholas mit meinen eigenen Ängs- (James Bentley) anders ten und meiner Paranoia sind als andere Kinder. auseinander.“ Ihre Mutter Grace (Ni- In „The Others“ ver- cole Kidman), die 1945 in setzt der Regisseur seine einem Haus auf der Ka- Zuschauer zurück in die nal-Insel Jersey auf die Kindheit. Ängste, die Rückkehr ihres Mannes lange überwunden schie-

aus dem Krieg hofft, hat / LAIF / COVER QUIM LLENAS nen, brechen wieder Angst vor der Helligkeit. Filmemacher Amenábar: „Konfrontation mit den inneren Dämonen“ hervor und greifen um Ihre Kinder, sagt sie, lei- sich wie die unheimli- den an einer Lichtallergie. Sonnenstrahlen Penélope Cruz, die auch schon in „Abre los che Macht, die im Haus von Grace und könnten ihnen den Tod bringen. So offen- ojos“ dabei war – die Hauptrolle: „Vanilla ihren Kindern herrscht, aber nie Ge- bart der Film sein Thema: Was wollen die Sky“, inszeniert von Cameron Crowe, stalt annimmt und gerade deshalb all- Menschen im Dunkeln belassen, manchmal kommt Ende Januar in die deutschen Kinos. gegenwärtig wirkt. Ein Geräusch in der sogar um den Preis ihres eigenen Lebens, So strahlt der spanische Shooting Star Nacht, ein Fenster, das offen steht, eine und was kommt dennoch ans Licht? derzeit hell über Hollywood; zugleich aber Tür, die zuschlägt – mit minimalem Auf- „Ein guter Horrorfilm versucht nicht, kennt kaum einer die Gefahren des Lichts wand erreicht Amenábar den maximalen uns Angst einzujagen“, sagt Amenábar, besser als er. Schließlich handeln davon Effekt. und in seinen braunen Kinderaugen alle seine Filme. Wie die großen Regisseure spielt er gern scheint Altersweisheit aufzublitzen. „Im Amenábar kam 1972 in Santiago de Chi- Verstecken. Er verbirgt mehr, als er zeigt. Gegenteil: Er ruft Ängste in uns wach, lockt le zur Welt. Als er anderthalb war, über- Etwas sehen zu können ist in seinen Filmen sie hervor. Ein gelungener Spezialeffekt siedelte die Familie nach Spanien. In den ein bedrohtes Privileg. beeindruckt den Zuschauer nur für Se- neunziger Jahren studierte er in Madrid Als die Heldin in „Tesis“ im Schein kunden. Ein Bild, das sein Unterbewusst- Film. „Eines Tages, auf meinem Weg zur von Streichhölzern den dunklen Gang der sein trifft, lässt ihn nie wieder los. Dafür Uni, warf sich jemand vor die U-Bahn“, Erkenntnis beschreitet, sieht der Zuschau- braucht die Phantasie des Zuschauers erinnert er sich. „Die Fahrgäste mussten er Schwarz, sobald die Flamme erlischt. In Spielraum. Sie muss den Augen immer ein aussteigen und in einer langen Reihe am „Abre los ojos“ nehmen beschlagene Spie- Stück voraus sein können. Das spannends- Zug entlanggehen. Wenige Meter vor der gel und halbdurchsichtiges Glas dem Zu- te Geheimnis ist seit jeher: Was liegt hin- Unglücksstelle teilte sich die Reihe: Die ei- schauer mehrfach die klare Sicht. Die Um- ter der verschlossenen Tür?“ nen wandten den Blick ab und schlossen gebung des Hauses in „The Others“ ist Erst drei Spielfilme hat Amenábar ge- die Augen, die anderen wurden von der grau, neblig, undurchschaubar. dreht, und doch wird er im internationalen Leiche unwiderstehlich angezogen.“ „Ich will eine Atmosphäre von Unsi- Kinogeschäft bereits als junges Regiewun- Amenábar, der nicht hinschauen konn- cherheit schaffen“, sagt Amenábar. „Der der gefeiert. te, rekonstruierte dieses Erlebnis in der Zuschauer stellt sich die Frage: ‚Was pas-

166 der spiegel 2/2002 JAUCH & SCHEIKOWSKI JAUCH Noriega, Cruz in „Abre los ojos“ DEFD Fele Martínez, Torrent in „Tesis“ Mann, Bentley in „The Others“ DEFD Amenábar-Filme: Stille und Dunkelheit dienen als Mittel, um die Phantasie des Zuschauers zu wecken siert hier?‘ Und die Bilder antworten: ‚Wir bare gezeigt hat, zurück in die Zeit der Wie seine Filme ist Amenábar in jeder wissen es nicht.‘“ Unschuld. Sekunde höchst konzentriert. So war er Oft zeigt er in „The Others“ die Augen So suchte der Regisseur die verwun- auch in der Lage, den Trubel um seine der Figuren, die weit aufgerissen sind, aber schenen Häuser des Kinos der frühen sech- Person und die Amouren von Nicole Kid- nichts entdecken können: „Um den ziger Jahre wieder auf, in denen einige man, Tom Cruise und Penélope Cruz zu Schrecken zu visualisieren, ist das mensch- Kinderstuben des Genres liegen. überstehen. liche Antlitz eine bessere Projektionsfläche In „The Others“ hört man den Nachhall „Wir waren schon beim Schnitt des als die Leinwand.“ von zwei Meisterwerken des psychologi- Films, als wir erfuhren, dass Tom und Ni- Vor allem, wenn es fast weiß ist wie das schen Horrorfilms: „Schloss des Schre- cole sich scheiden lassen wollten“, berich- von Nicole Kidman in „The Others“. Die ckens“ (1961) und „Bis das Blut gefriert“ tet er. „Und wir waren bei der Mischung, Schauspielerin gibt der Leichenblässe ein (1963). als wir aus den Zeitungen von Tom und Gesicht. Ihre Sommersprossen scheinen „In beiden Filmen wird Stille eingesetzt, Penélope erfuhren. Doch all das hat die unter einer Eisschicht verschwunden zu um Spannung zu erzeugen“, schwärmt der Einstellung von Tom und Nicole zu unse- sein, das rote Haar ist erblondet und er- Regisseur. „Heute braucht man Ohren- rem Film nicht verändert.“ starrt in einer kunstvoll gelegten Frisur. schützer, wenn man ins Kino geht. ‚The Eher aus Höflichkeit, glaubt Amená- Kidman sieht aus wie Grace Kelly on the Others‘ dagegen ist ein Film über das Flüs- bar, habe Cruise ihn gefragt, ob er an „Va- rocks. Doch unter dieser kalten Oberfläche tern. In den USA lief unser Film zeitgleich nilla Sky“ mitwirken wolle: „Ich fühlte spürt man umso stärker die Leidenschaft mit ,Jurassic Park III‘. Mir wurde angst und mich geehrt, lehnte aber ab. Es sind schon des Muttertiers, das seine Jungen nicht aus bange. Ich dachte: Wenn der im Saal ne- zu viele europäische Regisseure in Hol- der Höhle lassen will. benan läuft, werden unsere Zuschauer die lywood an Remakes ihrer eigenen Filme Wie die großen Überraschungserfolge Dialoge nicht verstehen.“ gescheitert.“ der letzten Jahre, „The Blair Witch Pro- Amenábars Filme schärfen die Augen In der visuell stärksten Sequenz in ject“ und „The Sixth Sense“, lebt auch und schulen das Gehör. Sie beginnen alle- „Abre los ojos“ trägt der Held seine Mas- „The Others“ ausschließlich von Andeu- samt mit einem schwarzen Bild. Dann er- ke auf dem Hinterkopf, während er in ei- tungen – und führt den Zuschauern vor tönt eine Stimme, und der Film hebt an, die ner Disco tanzt. Im Gegenlicht kann der Augen, wie stark ihre eigene Vorstellungs- Geschichte zu erzählen. Zuschauer nicht ausmachen, welches sein kraft ist. „Man muss die Sinne des Zuschauers wahres Gesicht ist. „Ich glaube, dass das Kino mit den Bil- erst einmal wecken, und das tut man am Der „Vanilla Sky“-Regisseur Cameron dern der Gewalt, die wir täglich in den besten in der Dunkelheit“, sagt er, „je we- Crowe hat sich sehr viel Mühe gegeben, für Nachrichten sehen, nicht mehr mithalten niger man ihnen gibt, desto mehr müssen diese Bilder ein Pendant zu finden, und kann“, sagt Amenábar. „Wir sind einfach sie sich anstrengen.“ doch wirken sie bei ihm gegenüber dem nicht mehr in der Lage zu vergessen, dass Wenn Nicole Kidman in „The Others“ Original nur wie eine hohle Maske. das Blut auf der Leinwand künstlich ist.“ stickt, hört man nicht nur die Nadel, son- Um zu erkennen, wie stark Amená- Vielleicht sehnt sich ein Genre, das im Lauf dern sogar den Faden fallen – und der Zu- bars Arbeit ist, muss man die Augen kaum seiner Geschichte nahezu alles Vorstell- schauer ist ganz Ohr. öffnen. Lars-Olav Beier

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Clooney stellt sich geschickter an. Der Clooney (1998), die Umweltschützerinnen- FILM Sinatra-Film „Ocean’s Eleven“, in dessen Saga „Erin Brockovich“ mit Julia Roberts Remake er nun antritt, ist ein eher zu Recht (2000) und im selben Jahr der vierfach Os- George und seine vergessenes Nebenwerk: ein Filmjux aus car-prämierte Drogenthriller „Traffic“. Sie dem Jahr 1960, in dem zwar jener Lewis alle machten Soderbergh, immer noch erst Milestone Regie führte, der 30 Jahre zuvor 38, zum derzeit unangefochtenen Lieb- Spießgesellen mit der Remarque-Adaption „Im Westen lingsregisseur Hollywoods – zu einem nichts Neues“ berühmt geworden war; und Mann, der zumindest im Augenblick ei- Steven Soderbergh brachte es vom doch kaum mehr als ein Starvehikel mit Si- gentlich nichts falsch machen kann. natras „Rat Pack“-Kollegen Dean Martin Weil man in Hollywood in einer solchen Außenseiter-Regisseur zum Liebling und Sammy Davis Junior. In Deutschland Lage aber eigentlich auch nichts richtig ma- Hollywoods. In „Ocean’s Eleven“ kam das Werk unter dem sehr passenden chen kann, zeugt es trotzdem von Mut, mit zeigt er nun viele Superstars als gut Titel „Frankie und seine Spießgesellen“ welcher Leidenschaft sich Soderbergh in gelaunte Gentleman-Gangster. ins Kino. das Spaßprojekt „Ocean’s Eleven“ stürzte. Ein Film der Stars ist auch die neue „Reine Unterhaltung“ habe er sich zum Ziel as kann doch einen Weltmann nicht „Ocean’s Eleven“-Version. Außer Clooney gesetzt, behauptet der Mann – und doch erschüttern: Selbst im Gefängnis ist spielen Brad Pitt, Matt Damon, jede Men- verrät jede Szene eine wunderbare Liebe Dder Kerl so aus dem Ei gepellt, so ge flinker Hollywood-Nachwuchs und zum Detail, eine Lust an famos gewitzten aufsässig-frohgemut und manierlich, dass die Komiker-Haudegen Elliott Gould und (vom Drehbuchautor Ted Griffin blendend man sich wundert, wenn er am Tag seiner Carl Reiner mit – dazu, in der Rolle seines geschriebenen) Dialogen, eine Begeisterung Entlassung schnöde durchs Portal schreitet, Gegenspielers, eines skrupellosen Casino- für den Talmi-Glitzer von Las Vegas, die ohne den Schließern ein Trinkgeld in die bosses, Andy Garcia. Und Julia Roberts als den Film zu einem Vergnügen auch für jene Hand zu drücken: Danny Ocean ist ein Menschen macht, die schieres Unterhal- Mann, der, wie schon sein Name andeutet, tungskino gewöhnlich verachten. mit allen Wassern gewaschen ist – die al- Dabei sind die Tricks, mit denen Ocean lerteuersten Rasierwasser inklusive. und seine Jungs schließlich den großen, George Clooney spielt diesen smarten besser als jeder Atommeiler gesicherten Großkotz, als hätte er lebenslang auf diese Casinoschatz erbeuten, oft so undurch- Rolle gewartet wie Danny Ocean auf den sichtig wie die Sonnenbrillen der Gentle- großen Coup: Gut, Ocean rekrutiert sofort man-Gangster; keiner der Charaktere hat nach der Entlassung aus dem Knast zwei mehr Tiefe als das Kinderplanschbecken Hand voll Getreue (eben „Ocean’s Ele- eines Las-Vegas-Hotels; und selbst die Lie- ven“), um den größten Geldspeicher der besgeschichte zwischen Clooney und Ro-

Casinostadt Las Vegas zu knacken. Das ist CINETEXT berts wirkt etwa so glaubwürdig wie die knifflig genug. Clooney aber hat sich vor- Regisseur Soderbergh des Traumpaars Claudia Schiffer und Da- genommen, dem (neben Elvis Presley) größ- Spaßprojekt im Glitzer von Las Vegas vid Copperfield: Natürlich ist „Ocean’s Ele- ven“ auch ein kokettes Blendwerk. So scheinen sich ei- nige der Schauspieler selbst vor der Kamera fast wegzuschmeißen vor kaum unterdrücktem Gegriene über die Rol- len, die sie hier spielen dürfen. Der ganze „Rat Pack“-Mythos, die coo- len Posen, die nett zu- sammengesuchten Kla- motten: Mitunter wirkt der Film wie ein ein- ziger großer Bluff. Und KEVORK DJANSEZIAN / AP KEVORK DJANSEZIAN WARNER BROS. WARNER doch ist „Ocean’s Ele- „Ocean’s Eleven“-Mitspieler Pitt, Roberts in Los Angeles*, Filmszene mit Roberts, Clooney: Lust an der Pose ven“ kein Kostümfilm aus den goldenen Jah- ten Helden nachzueifern, der je in Las Ve- die Frau, für die Clooney/Ocean jeden ren von Las Vegas, sondern eine Rififi-Story gas Triumphe feierte: „Ol’ Blue Eye“ Frank Whiskey ungerührt stehen lässt. aus der Spielhölle des 21. Jahrhunderts. Sinatra. Das ist ein Spiel, bei dem man mehr Der Regisseur des neuen Films aber ist Vor allem George Clooney beweist, was als elf Joker im Ärmel haben sollte. Steven Soderbergh, dem 1989 mit der Pro- den Unterschied ausmacht zwischen Stil Frankie-Boy ist, so scheint’s, der Mann vinzballade „Sex, Lügen und Video“ ein und Styling: Seine Stimme ist kühl, aber der Stunde: Der britische Popstar Robbie krasser Außenseiter-Erfolg gelang (und zu- nie arrogant. Sein Lächeln ist unverschämt, Williams singt derzeit auf der Bühne und gleich ein Film, der nach Meinung vieler aber immer auch umwerfend charmant. auf CD einfach Sinatras Hits nach – und Kinogeschichtsschreiber Hollywood revo- Und seine Bewegungen sind nicht die fe- bezieht trotz grandioser Verkaufserfolge lutionierte) – und der nach reichlich ver- dernden Hopser eines windigen Hochstap- Prügel von der Kritik, die an seinen sonnig- stiegenen Projekten wie „Kafka“ (1991) lers, sondern die sicheren, ausgreifenden ehrfurchtsvollen Interpretationen den oder „Schizopolis“ (1996) schon als abge- Schritte eines Mannes, der sich seiner Sache brüchigen Charme der Vorbilder vermisst. schrieben galt. sicher ist – und der immer schneller und hel- Doch dann folgten die Gaunerstory „Out ler ist als der Rest: Dieser Kerl ist durch * Bei der Premierengala am 5. Dezember 2001. of Sight“ mit Jennifer Lopez und George nichts zu erschüttern. Wolfgang Höbel

168 der spiegel 2/2002 SCHRIFTSTELLER Auf dem schmalen Grat der Liebe Vier Bücher, in rascher Folge erschienen, haben die Schottin A. L. Kennedy auch in Deutschland bekannt gemacht: lauter ziemlich riskante Liebes- und Todesgeschichten. Von Urs Jenny

(oder umgekehrt), dem sie ihr fortdauern- des Verlangen gestand, sich aus dem Fens- ter zu stürzen, sagte: „Tu das nicht, Alison. Du würdest so albern aussehen.“ Das heißt: Er appellierte an ihr ästhetisches Empfinden, an den Rest von Eigenliebe, die niemals die Kontrolle würde aufgeben wollen, an ihr Formgefühl. Vor der Unmög- lichkeit, „gleichzeitig tot und Herrin der Lage“ zu sein, gab sie klein bei; deshalb, so sagt sie, lebt sie und schreibt sie, ihrer Ver- zweiflung treu, noch immer. Kann es denn sein, dass diese schottische Unglücksnärrin und Schmerzensmadonna so blind vor sich selbst ist? Dass sie nicht ahnt oder nicht weiß oder nicht wissen will, wie unnachahmlich vertrackt und verzau- bernd ihre Kunst, die sie fromm ihre „Be- rufung“ nennt, Unglück erzählend in Glück zu verwandeln vermag? Nicht viel mehr als ein Jahr ist es her, seit die ersten deutschen Leser das Buch mit dem Titel „Gleißendes Glück“ Freunden zusteckten, um das Vergnügen daran zu teilen, und so der Autorin (die bis dahin hier zu Lande ein Niemand war) zu erstaunlich lebhaftem Beifall verhalfen. Drei weitere Bücher von A. L. Kennedy sind innerhalb eines Jahres auf Deutsch er- schienen (was ungewöhnlich genug ist und, wie sie selbst findet, eigentlich zu viel), und schon lässt sich mit Sicherheit sagen:

MURDO MACLEOD Sie ist eine ganz ungewöhnliche, nämlich Autorin Kennedy: „Gott verfügt über einen exquisiten Humor“ höchst bezaubernde, verwirrende und ge- heimnisvolle Autorin, und bei aller Grazie n einem sonnigen Vorfrühlings- Unter den möglichen Gründen, warum eine literarische Tragikomikerin, die es nachmittag war sie aus ihrem Dach- sie dann doch nicht gesprungen ist, an je- faustdick hinter den Ohren hat. Azimmer im vierten Stock aufs Fens- nem Sonntagnachmittag vor bald vier Jah- Schon der Fall der durch und durch bie- terbrett gestiegen und blickte nun über die ren in Glasgow, nennt Alison Louise Ken- deren Glasgower Hausfrau Mrs. Brindle, Regenrinne aufs Pflaster hinab. „Ich woll- nedy nur einen einzigen, einen rührend die mit einem so eintönigen Alltag und ei- te es eigentlich nackt tun, so wie ich ins Le- lächerlichen: In dem Augenblick, als sie nem so dumpfen, zu Brutalität neigenden ben getreten war.“ Aber aus Scham hatte zum Letzten bereit war, ertönte von ir- Ehemann geschlagen ist, dass sie den Glau- sie doch nur die Schuhe ausgezogen. Sie gendwo her „der allerschlechteste Folksong ben an Gott verliert, war – in der Art, wie wollte von niemandem beobachtet werden der Welt“, eine pseudo-keltische Schnulze, ihn Kennedy unter dem Titel „Gleißendes und niemandem auf dem Kopf fallen. Doch die schon jedem Schulkind in Schottland Glück“ auftischte – gleichermaßen mit Iro- als die Luft rein war, sprang sie nicht. zum Hals heraus hängt. nie wie mit Horror gewürzt: Mrs. Brindle Sie hätte, wenn es überhaupt Gründe Das darf doch nicht wahr sein! mag sie erlag so hoffnungslos dem Zauber eines dafür braucht, die besten der Welt gehabt: gedacht haben. Nein, alles was recht ist, Selbsthilfe-Gurus namens Gluck – erst nur ein Liebesunglück, das ihr Selbstgefühl zer- aber von diesem Kitsch lasse ich mir mei- seiner Rundfunkstimme, dann auch sei- schmettert hatte; ein Rückenleiden, das sie nen Tod nicht versauen! So verstrich der nem TV-Talkshow-Charme –, dass sie ihm in Abhängigkeit von Schmerzmitteln trieb; Moment, in dem sie alles riskieren wollte. Hals über Kopf zu einem Philosophen- vor allem aber: Sie hatte den Glauben an Falls Gott diese Musik für sie bestellt habe, kongress nach Stuttgart nachreiste. ihre „Berufung“ verloren, an ihre Kunst. schrieb sie später, so zeige das, „dass Gott Bei genauerem Hinsehen erwies sich, Eine Frau Anfang dreißig; eine Schriftstel- als Autor über keine Scham, dafür aber dass der Mann, in dem Mrs. Brindle mit al- lerin, der es – wie sie meinte – für immer über einen exquisiten Humor verfügt“. ler Inbrunst ihren Erlöser sehen wollte, die Sprache verschlagen hatte; eine Ver- Ein zart fühlender alter Freund, von Be- zwar nicht direkt der Satan war, doch je- zweifelte schon jenseits aller Verzweiflung. ruf „Leichenbestatter und Schriftsteller“ denfalls selbst sehr erlösungsbedürftig –

der spiegel 2/2002 169 Kultur aber Kennedy brachte über ein paar Ab- gründe hinweg das unglaubliche Kunst- stück fertig, mit den beiden auf ein glaub- haft gutes Ende zuzusteuern. Dass ihr das gelang, lag vor allem am Raffinement ih- rer Dialoge: Dialoge, die den Eiertänzen und Springprozessionen auf dem vermin- ten Terrain der erotischen Annäherung nichts an Witz schuldig blieben; Dialoge, in denen jede Replik wie die Spitze eines Eisbergs daherkam. Theatermenschen hät- ten sich nach diesem Buch bei A. L. Ken- nedy am liebsten gleich eine Komödie be- stellt. Die Autorin selbst, Jahrgang 1965, be- schreibt ihren Weg umgekehrt, vom Thea- ter zur Prosa: Das Theater sei in ihrer Jugend in der schottischen Hafenstadt Dundee für sie Traumziel, Refugium, Ort

aller Leidenschaften gewesen. Obwohl / CONTACTO DAVILLA ihre Eltern – früh geschieden, die Mutter Kennedy-Idol „El Juli“: „Nähe einer religiösen Erfahrung“ Lehrerin, der Vater Psychologieprofessor, auf Wahrnehmungsstrategien spezialisiert fessionelle Zukunft zugetraut; aber noch duckmäuserische Art von Frömmigkeit, de- – sich für ihr einziges Kind etwas Solide- die ersten Erzählungen, durch die sie ren erste Dressurregel heißt: „Schuldge- res gewünscht hätten, habe sie als Stu- auffiel, seien aus Bühnenmonologen ent- fühle sind gut.“ Dass die kleine Alison (aus dentin an der University of Warwick dann standen. matrilinearen Gründen) als Kind walisisch- entschlossen das Theater zur Hauptsache Was sie auffällig machte (und das gilt für protestantischer Konfession geboren wur- gemacht; sie habe experimentierlustig ihre jüngsten Geschichten noch genauso), de, mag die Sache verstärkt haben, obwohl geschrieben, Regie geführt und selbst war ein durchaus tatenlustiges Interesse an sie als Kind eine Kirche von innen nur sel- gespielt („ideal, wenn man so schüchtern Sex. Das schottische Erbe, das Kennedy ten zu sehen bekam – eigentlich nur, weil wie ich ist“); habe sich dann jedoch – zu- (auch in sich selbst) als leidenschaftliche ihr Vater, wiewohl Atheist, sich als Orgel- mindest im show- und kommerznahen Schottin am leidenschaftlichsten verflucht, spieler hervorzutun liebte. Gott als Idee britischen Theaterbetrieb – keine pro- nennt sie „calvinistisch“, eine devote, findet Kennedy nach wie vor höchst faszi- nierend, doch die schottische Praxis erscheint ihr so maso- chistisch, dass sie dafür als neunte Dressurregel formuliert hat: „Gott hasst uns, und nichts Gottgefälligeres können wir tun, als uns selbst zu hassen.“ Diese Dressurregeln gehören (als „Schottische Methode zur Perfektionierung von Kindern“) zu den satirischen Seitentrieben in „Looking for the Possible Dance“, dem ersten Roman der damals 28-Jährigen, der un- ter dem etwas farblosen Titel „Einladung zum Tanz“ nun auch auf Deutsch vorliegt*. Es ist, voll gepackt mit subjekti- ver Erfahrung, das Buch einer

Frau Mitte zwanzig über eine COX STEVE Frau Mitte zwanzig, zu der sie Kennedy-Stück „True“ (in Glasgow): Totentanz mit Akrobaten doch deutlich Distanz zu halten sucht. Es ist kein bescheidenes Buch, nicht auf einem sehr schmalen Grat balancieren- in einem kommunalen Freizeitzentrum „calvinistisch“, es hat jugendlich-drauf- der Zweierbeziehungen, und die Dialoge ergattert, das sich zwar „Fun Factory“ gängerische Kühnheit und Verrücktheit. zeigen schon eine typisch Kennedysche Art nennt, doch ein eher ärmlicher, freud- Zugleich aber entfaltet sich schon in die- von viel sagender Verschwiegenheit: Noch loser Laden ist. Im fremden Birmingham sem Roman-Erstling ein sehr eigenes Talent wo die Wortwechsel am zärtlichsten, sinn- hatte sie sich in einen Mitstudenten na- für die Beschreibung empfindlicher, ge- lichsten sind, haben sie etwas von verbalem mens Colin verliebt (vielleicht nur, weil er fährdeter, von Augenblick zu Augenblick Schattenboxen. der einzige Schotte weit und breit war), Die Romanheldin Margaret ist nach hatte eine Weile mit ihm zusammengelebt dem Literaturstudium aus England in ihre und vielleicht etwas zu viel gekifft. Doch * A. L. Kennedy: „Einladung zum Tanz“. Aus dem Eng- lischen von Ingrid von Rosenberg und Gerd Stratmann. Heimatstadt Glasgow zurückgekehrt und nach dem Examen war er so grußlos Steidl Verlag, Göttingen; 320 Seiten; 19,50 Euro. hat einen begehrten Job als Betreuerin verschwunden, so abrupt Richtung Lon- Kultur don, dass sie ihn an die Drogen- auf die Hörner genom- szene verloren gab. men wird, und sie gibt Nun aber, drei Jahre später, ist nicht auf, bis ihr, nach er in Glasgow und in Margarets vielem schwer zu ertra- Leben wieder aufgetaucht, clean genden Gemetzel, das und munter und als Vertreter für Glück eines gelungenen TV-Satellitenschüsseln durch die Stierkampfs zuteil wurde. Gegend unterwegs: Auch das kann „Näher an einer religiö- ja eine Zukunft sein, wenn man sen Erfahrung habe ich seinen Bachelor in Literaturge- mich bei einer corrida nie schichte gemacht hat. Margaret gefühlt.“ und Colin bringen es fertig, auf- Der „Stierkampf“ Ken- einander ziemlich versessen und nedys sucht, als Autobio- zugleich doch stets voreinander grafie betrachtet, den auf der Hut zu sein, seltsam ei- Selbsthass exorzistisch an gensinnig auf Abgrenzung be- der Wurzel zu packen, zu- dacht. gleich aber ist es ein fak- Während Margaret in der „Fun tensattes Sachbuch, das al- Factory“ mit einer Theatergrup- les gründlich abhandelt, pe arbeitsloser Jugendlicher ein was zum Thema gehören Sketch-Programm entwickelt, das mag, Minotaurus oder bei einem Volkstanzfest (gälisch Gladiatorenkampf, Zucht- „Ceilidh“) für Stimmung sorgen stierlinien oder Formalitä- soll, entgeht ihrer Aufmerksam- ten des Rituals, und auch keit, dass ihr Colin nichts ahnend den geheimeren Affinitä- ein paar lokalen Mafiosi in die ten zwischen Künstler und Quere gekommen ist: Wie diese Torero und einer ihnen Gangster ihn ein paar Wochen gemeinsamen Todesbeses- nach der großen Ceilidh-Nacht – senheit nachspürt. Nicht einer ungemein schottisch über- nur prominente Aficio- bordenden Angelegenheit mit nados (wie Hemingway Labskaus und Haferkeksen, Cider und Montherlant) haben und Gesang – durch die Man- Selbstmord begangen, gel drehen, gleicht einer Exeku- sondern auch ein berühm- tion: eine Kreuzigung zu Mozart- ter Matador wie Juan Bel- Klängen, eine Todes-Grenzerfah- monte, dem ein Ruhe- rung, die den Roman beinahe stand ohne den Kitzel der sprengt. Todesnähe offenbar nicht Mit Jugendtheater kenne sie mehr der Mühe wert er- sich aus, doch in einem Laden wie schien.

der „Fun Factory“ habe sie nie ge- X / STUDIO GAMMA Schon als Literatur-An- arbeitet, sagt A. L. Kennedy im Kennedy-Thema Weltraum: „Sog der Unendlichkeit“ fängerin verstand A. L. Gespräch – stets auf dem Sprung, Kennedy ihr Schreiben um den (wie sie meint) gängigsten und ne Sprache, eigenen Staat, eigene Identität gern, statt sich auf das hohe Ross der Kunst dümmsten Verdacht gegen schriftstellern- an einem letzten grotesken Bild festhält, in zu schwingen, als Handwerk, schrieb ein de Frauen abzuwehren, nämlich dass al- dem das Beste und das Schlimmste mit- paar Fernsehspiele, auch das Drehbuch zu les, was sie schrieben, bloß autobiografisch einander verschmolzen sind, so haben wir dem Kinofilm „Stella Does Tricks“ (der sei. In dem Steckbrief auf der verspielten unseren Ceilidh.“ Geschichte einer minderjährigen Aus- Website „www.a-l-kennedy.co.uk“ ist sie Ein Rat jenes Freundes, den sie als reißerin aus Glasgow, die in London auf (chronologisch ein Stück vor der Reihe der „Schriftsteller und Leichenbestatter“ be- dem Strich landet), und nach dem „Stier- Literaturpreise, die sie inzwischen bekom- zeichnet, hat ihr geholfen, sich aus der Tie- kampf“-Buch hat sie sich als „ehemalige men hat) als „Winner of 1990 Social Work fe der Depression des Weder-Leben-noch- Autorin und ehemalige Selbstmörderin“ Today Award“ verzeichnet, was immer das Schreiben-mehr-Könnens zu ziehen: Nimm neuen Hausaufgaben zugewendet, hat für sein mag. Die Roman-Margaret wird wegen den nächstbesten Auftragsjob an, hatte er eine kanadische Produktion einen sechs- Aufsässigkeit gefeuert. gesagt, schreib ein Sachbuch! teiligen TV-Krimi mit dem Titel „Dice“ ge- Was es für Margaret und Colin so Das Sachbuch heißt „Stierkampf“ und schrieben und dann sogar neuen Mut zum schwer, ja schier unmöglich macht, mit- handelt von der mutwilligen Kunst, dem Theater gefasst: Für ihr Stück „True“, eine einander in ein Gleichgewicht zu kommen, Tod ins Auge zu blicken*. Es erzählt, wie Art Totentanz, bei dessen Uraufführung sind die wilden Schwankungen ihres Kennedy, mit Herz- und Rückenschmer- im Glasgower Kulturzentrum „Tramway“ Selbstgefühls, und für Kennedy zeigt sich zen geschlagen, 1998 nach Spanien reist, sie auch Co-Regie führte, sieht sie jedoch darin noch einmal der kleinmütige Grund- um eine Aficionada zu werden, und wie sie trotz enthusiastischer Kritiken, etwa in der zug des schottischen Wesens. Was sie als sich dann, Mal um Mal, in den Arenen zu Londoner „Times“, keine Zukunft auf an- Schottin an ihrem Volk am meisten hasst, unerschrockenem Hinschauen zwingt. Sie deren Bühnen, denn es ist für ein sehr spe- ist dessen Selbsthass. Diesen Selbsthass ist dabei, als ihr junges Idol Julián López zielles Ensemble aus Sprechern, Tänzern meint sie als Süßstoff in jener Schnulze zu López, genannt „El Juli“, von einem Stier und Akrobaten konzipiert. hören, die sie vor dem Todessprung zu- Und endlich, zögernd, hat sie wieder Er- rückzucken ließ, und sie nimmt ihn auch in zählungen zu schreiben begonnen, die nun * A. L. Kennedy: „Stierkampf“. Aus dem Englischen von der folkloristischen Sentimentalität des Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin; 160 Seiten; (zusammen mit ein paar früheren) auf Ceilidh wahr: „Wie jede Nation ohne eige- 16,50 Euro. Deutsch in dem Band „Ein makelloser

172 der spiegel 2/2002 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- Mann“ erschienen sind: allesamt Liebes- magazin „Buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- geschichten, also Liebesunglücksgeschich- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller ten und Geschichten vom Glücklichsein- Belletristik Sachbücher wollen wider alle Vernunft*. Sie sind wun- derbar in ihrer Finesse wie in ihrer Ironie 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter 1 (1) Stephen Hawking (und nichts davon geht Kennedys treuem und der Stein der Weisen Das Universum in der Nußschale Übersetzer Ingo Herzke verloren), denn Carlsen; 14,50 Euro Hoffmann und Campe; 25,95 Euro das Unnachahmliche ihrer Kunst liegt dar- 2 (2) Joanne K. Rowling Harry Potter 2 (3) Heinrich Breloer/Horst Königstein in, wie sie eine Person mit zärtlicher Um- und die Kammer des Schreckens Die Manns S. Fischer; 25 Euro sicht aufbaut und ihr dann so ruckartig den Teppich unter den Füßen wegreißt, dass Carlsen; 14,50 Euro 3 (2) Doris Schröder-Köpf/Ingke einem beim Lesen schwindlig wird. Brodersen (Hg.) Der Kanzler 3 (4) Umberto Eco Baudolino So erzählt Kennedy, wie einer in Lie- wohnt im Swimmingpool Hanser; 24,90 Euro besberauschtheit seine ganze Gardero- Campus; 19,90 Euro 4 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter be verramscht, um sich in neuen Kla- und der Gefangene von Askaban 4 (6) Florian Illies Anleitung zum motten als neuer Mensch zu fühlen, oder Unschuldigsein Argon; 17,50 Euro Carlsen; 15,50 Euro wie einen Ehebrecher nicht die Angst vor 5 (5) Siba Shakib Nach Afghanistan dem Erwischtwerden aus der Bahn wirft, 5 (6) Henning Mankell Die Brandmauer kommt Gott nur noch zum Weinen sondern die Angst vor dem sofortigen Zsolnay; 24,90 Euro C. Bertelsmann; 22 Euro Weltuntergang, oder wie ein bemerkens- 6 (5) Joanne K. Rowling Harry Potter wertes physikalisches Phänomen – dass 6 (4) Guido Knopp Die große Flucht ein Stück Würfelzucker im Dunkeln lila und der Feuerkelch Econ; 25 Euro Carlsen; 22,50 Euro aufflammt, wenn man mit einem Hammer 7 (9) Dietrich Schwanitz Bildung draufschlägt – erotische Phantasien ent- 7 (8) John R. R. Tolkien Der Herr Eichborn; 26,90 Euro zündet. der Ringe (mit Anhängen) 8 (8) Tippi Degré Tippi aus Afrika In der Hälfte dieser zehn Geschichten Klett-Cotta; 45 Euro Ullstein; 22 Euro steht eine männliche Figur mit ihren Er- 8 (7) Elke Heidenreich fahrungen im Mittelpunkt (so entgehe, sagt 9 (7) Peter Scholl-Latour Afrikanische Der Welt den Rücken Kennedy, eine Autorin am sichersten dem Totenklage C. Bertelsmann; 24 Euro Hanser; 15,90 Euro Verdacht des Autobiografischen). Ihre 10 (11) Anthony Bourdain Geständnisse Phantasie wagt sich bis ins Männerrevier 9 (10) Isabel Allende Porträt in Sepia eines Küchenchefs Blessing; 23 Euro der nonverbalen Kommunikation am Pis- Suhrkamp; 25,80 Euro 11 (10) Ahmed Rashid Taliban – soirbecken vor, und es steckt alles an listi- 10 (9) Ken Follett Das zweite Gedächtnis Afghanistans Gotteskrieger und ger Ironie darin, wenn sie einen Mann in Lübbe; 23 Euro der Dschihad Droemer; 19,90 Euro einer erotischen Tagträumerei zu sich selbst sagen lässt: „Ich weiß nicht, wie eine Frau 11 (12) Elizabeth George Nie sollst du 12 (13) Sebastian Haffner Geschichte das können soll…“ vergessen Blanvalet; 27 Euro eines Deutschen DVA; 19,90 Euro Ihre Figuren sind mit wenigen Ausnah- 12 (11) Paulo Coelho Der Alchimist 13 (16) Robbie Williams/Mark McCrum men schottisch, das muss wohl so sein, Diogenes; 17,90 Euro Robbie Williams – Somebody, doch ihr Spielraum hat sich geweitet, mal Someday Goldmann; 24,90 Euro 13 (15) Ildikó von Kürthy Herzsprung nach New York, mal in die Wälder Neu- Wunderlich; 16,90 Euro 14 (–) Joachim Bublath Chaos im englands und einmal, in der letzten Ge- Universum Droemer; 25,90 Euro schichte, bis ins Weltall, wo ein Astronaut 14 (18) Barbara Wood Himmelsfeuer in einem Space Shuttle lustlos Dienst nach W. Krüger; 23 Euro 15 (15) Stephen C. Lundin/Harry Paul/ Vorschrift macht. Er denkt an die ver- John Christensen Fish! 15 (13) Nicholas Sparks murkste Ehe, sehr weit unten und sehr weit Ueberreuter Wirtschaft; 12,90 Euro Weg der Träume weg, in die er doch zurückstürzen wird, Heyne; 18,90 Euro 16 (12) Wolf von Lojewski Live dabei und er denkt an die Todesversuchung, die Lübbe; 19,90 Euro ihn überkommt, wenn er „draußen“ zu tun hat: dass er sich nur mit einem winzigen 17 (17) Dietrich Schwanitz Männer Eichborn; 22,90 Euro Schubs abstoßen müsste, um schwebend Happy End garantiert: und träumend für immer spurlos in den Allein erziehender 18 (14) Petra Gerster/Christian Hilfssheriff sucht Trost Himmel hinein zu verschwinden – „der bei verbitterter Lehrerin Nürnberger süße Sog der Unendlichkeit“. Der Erziehungsnotstand Dann sucht er sich (was in der Enge des 16 (14) Catherine Millet Das sexuelle Rowohlt Berlin; 19,90 Euro Shuttle nicht leicht sein mag) eine unge- Leben der Catherine M. 19 (20) Gregor Schöllgen Willy Brandt störte Ecke, um zu masturbieren. Das Sper- Goldmann; 21 Euro Propyläen; 25 Euro ma bildet in der Schwerelosigkeit – auch dies ein bemerkenswertes physikalisches 17 (17) Dieter Hildebrandt Vater unser – 20 (–) Ulrich Wickert gleich nach der Werbung Zeit zu handeln Phänomen – „vollkommen runde Trop- fen“, die vor ihm schweben. Und nun Blessing; 19 Euro Hoffmann und Campe; wohin damit? Wie diese Kugeln ver- 20,95 Euro 18 (–) John R. R. Tolkien Der Hobbit schwinden lassen? Auch dafür zeigt „Ein Klett-Cotta; 16 Euro makelloser Mann“ einen Weg, einen sehr 19 (19) Sven Regener Herr Lehmann weiblichen, um es mal so zu sagen. ™ Eichborn Berlin; 18,90 Euro Was sind Werte noch * A. L. Kennedy: „Ein makelloser Mann“. Aus dem Eng- 20 (–) John Grisham Die Bruderschaft wert? Der Sitten-Guru der lischen von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach, Ber- Heyne; 23 Euro Nation gibt Auskunft lin; 176 Seiten; 16,50 Euro.

der spiegel 2/2002 173 Kultur

Untypisch ist, dass Kushner, in Man- einen einheimischen Mann kennen gelernt THEATER hattan geboren und in Louisiana aufge- hat und zum Islam konvertiert ist. Das Ers- wachsen, Interesse für Afghanistan ent- te ist wahrscheinlicher, das Zweite enthält Nackt in Kabul wickelte, als die meisten Amerikaner noch noch einen Funken Hoffnung auf ein Hap- nicht einmal wussten, wo das Land liegt. py End. Beides zusammen gibt Kushner Der Erfolgsdramatiker Tony Kushner Irgendwann stolperte er über ein Reise- die Gelegenheit, sein Publikum ins Afgha- buch von 1965, „An Historical Guide to nistan des Jahres 1998 zu entführen, in ein lässt eine britische Hausfrau Kabul“, und als ihn eine Londoner Schau- von Krieg zerstörtes, von Fanatikern re- in Afghanistan verschwinden – spieler-Freundin bat, für sie einen Mono- giertes Land. Wirr wie die Zustände ist New York beschert er log zu schreiben, nahm die fixe Idee Ge- auch der Plot. damit einen neuen Theater-Hit. stalt an. Milton, Homebodys Mann, und seine Kushner erfand eine Hausfrau, die, wie Tochter Priscilla kommen in Kabul an, wo as Textbuch ist 145 Seiten lang, die er, ein heftiges Interesse für Afghanistan sie einen obskuren Engländer namens Aufführung dauert – mit zwei kur- pflegt. Die Mittvierzigerin sitzt daheim in Quango treffen, der offiziell für eine Hilfs- Dzen Pausen – vier Stunden. Es gibt einem bequemen Sessel, liest Passagen aus organisation, tatsächlich aber für die briti- acht Shows pro Woche. Die Tickets kosten dem Kabul-Buch vor und verknüpft die sche Regierung arbeitet. Er ist gern in Af- 50 bis 60 Dollar, also nicht allzu viel für Geschichte des fernen Landes mit ihrer ei- ghanistan, weil er Opium und Heroin mag. New York, aber auch nicht wenig für ein genen. Das Leben am Hindukusch war im- Nicht lange, und auch der eher unter- Thema, das seit Monaten jeden Tag auf al- mer anstrengend und voller Wechselfälle, kühlte Milton gibt sich, von Quango ani- len Fernsehkanälen läuft. Mal heißt es wie ihre Ehe mit Milton: „Mein Mann und miert, dem Drogenrausch hin, während „America at War“, mal „The War against ich nehmen beide starke Antidepressiva. Priscilla nach ihrer verschwundenen Mut- America“. Immer geht es um das eine: Ich nehme häufig seine Pillen statt meiner, ter sucht und dabei wilde Abenteuer er- Neues aus Afghanistan. damit ich weiß, wie er sich fühlt.“ lebt. Ein wütender Tugendpolizist trak- tiert sie mit dem Gummiknüppel, weil sie ihre Burka abgelegt hat; dann lernt sie ei- nen sanften, älteren Tadschiken kennen, der Gedichte auf Esperanto schreibt und Priscilla anfleht, ein Buchmanuskript nach London mitzunehmen. Gegen Ende zieht sie sich sogar vor einem Sufi-Eremiten und den Zuschauern für eine rituelle Waschung auf der Bühne ganz aus – als hätte Chris- toph Schlingensief einen Karl-May-Roman für die Berliner Volksbühne dramatisiert. Kushner, der noch nie in Afghanistan war, lässt seine Akteure streckenweise Paschtu und Dari, zwei der afghanischen Landessprachen, sprechen. Die Zuschauer verstehen zwar kein Wort, sind aber trotz- dem beeindruckt. Und wenn dann eine af- ghanische Frau auf die Amerikaner ge- münzt ruft: „Ihr mögt die Taliban so sehr, bringt sie doch nach New York! Ach, kei- ne Sorge, sie sind schon unterwegs!“ – dann klingt das, als wäre der Autor ein Hellseher: Auch dies wurde vor dem 11.

JOAN MARKUS / RKA MARKUS JOAN September geschrieben. Szene aus Kushner-Stück „Homebody/Kabul“*: Aus dem Lehnsessel ins Trümmerland Bis Ende Januar sind die Vorstellungen ausverkauft; der nicht kommerzielle New Doch während die Reporter aus der Fast eine Stunde lang spricht „Home- York Theatre Workshop kann sich sogar Gegenwart berichten, ist Tony Kushners body“ (die Stubenhockerin) so über ihr ganzseitige Anzeigen in der „New York „Homebody/Kabul“ in jener Zeitlosigkeit Leben in London und die bewegte Ge- Times“ leisten. angesiedelt, in der die Kunst dem Leben schichte Afghanistans. Der absurde, furio- Der unerwartete Erfolg des Stücks hat si- sagt, wo’s langgeht. „Mein Stück ist keine se Monolog endet mit einem Gedicht des cher mit dem Bedürfnis vieler Amerika- Polemik; ich habe es vor dem 11. Septem- Persers Saeb Tabrisi aus dem 17. Jahr- ner zu tun, den Feind erleben zu wollen, ber geschrieben, und ich habe danach hundert, das die Schönheit Kabuls preist. ganz aus der Nähe, aber doch in sicherer nichts geändert, um es den aktuellen Er- „Sogar das Paradies ist neidisch auf das Distanz. Und ein wenig auch mit dem eignissen anzupassen“, sagt Kushner, 45, Grün deiner Gärten.“ Danach wird das Pu- schlechten Gewissen der Liberalen in Zei- der 1993/94 mit seinem Aidsdrama „Angels blikum in die erste Pause entlassen, und ten des Kriegs. Nach vier Stunden Sitz- in America“ den Pulitzer-Preis und zwei Frau „Homebody“ macht sich auf den Weg strapaze haben sie genug gebüßt und gehen Tony Awards gewann und seither in ihr gelobtes Land, wo freilich inzwi- geläutert nach Hause. zu den Top-Theaterautoren gehört. Außer- schen die Taliban regieren und allein rei- Kushner hofft, dass „Homebody/Kabul“ dem ist er schwul, Jude, Sozialist und sende Frauen ohne die übliche Vollkör- demnächst auch in Kabul aufgeführt wer- möchte die Welt verändern, also der ty- perkleidung unkalkulierbaren Risiken aus- den kann. Vorher aber sollte das Stück pische New Yorker Intellektuelle aus gesetzt sind. aufgezeichnet und das Video an den TV- Tom Wolfes Romanen und Woody Allens Die folgenden zwei Akte haben mit dem Sender al-Dschasira geschickt werden – da- Filmen. ersten nur insofern zu tun, als es darum mit auch die Osama-Bin-Laden-Fans in geht, ob die britische Touristin umgebracht der islamischen Welt etwas zum Lachen * Mit Kelly Hutchinson und Yusef Bulos. und in Stücke gerissen wurde oder ob sie haben. Henryk M. Broder

174 der spiegel 2/2002 auch Kelis und Finley Quaye mit- POP singen, erscheint Anfang März, die zugehörige Single „To Get Meistermixer Down“ in dieser Woche. Für das britische Magazin „Mixmag“, ein Zentralorgan der aus Bückeburg Club-Szene, ist die Arbeit des Discjockeys Maas bereits „die Der deutsche Discjockey größte Sache, die der modernen Tanzmusik seit Erfindung der Timo Maas bastelte einen Club-Hit Beine passiert ist“. Trotz der und durfte für Madonna schweren Bässe, die seine Elek- arbeiten. Nun präsentiert er sein tronik-Mixturen vorantreiben, eigenes Album. sind die meisten seiner Stücke packend und vor allem melodiös. nfang September, ein paar Tage vor Schon als Zehnjähriger hatte den Anschlägen aufs World Trade er auf die übliche Was-willst- ACenter, trat er im „Centro-Fly“ in du-mal-werden-Frage erwidert, New York auf. Der Club, einer der ange- den Beruf des DJs anzustreben. sagtesten der Stadt, war komplett gefüllt, Ehrgeizig arbeitete er an seiner doch draußen auf der Straße warteten noch Karriere: Mit 13 Jahren legte er anderthalbtausend Menschen auf Einlass zum ersten Mal bei Partys auf, – keine Chance, die ausgesperrten Tanz- mit 15 betrieb er zusammen fans mussten nach Hause gehen. mit einem Freund eine mobile In Südafrika haben sie ihn kürzlich drei Disco und beschallte Schulfeste. Tage lang mit einem Privatjet von einem Sound-Tüftler Maas: Schwere Bässe, sanfte Melodien Ende der achtziger Jahre stieg er Club zum nächsten geflogen. In Australien von Popmusik auf Techno um sorgte er ebenso für überfüllte Tanzflä- und versuchte, sich in Großstadt- chen wie in den USA, wo er zudem in ei- Clubs zu etablieren. Vergeblich. nem Amphitheater zusammen mit seinem Frustriert gab er Anfang der Soundbastler-Idol Moby Platten auflegte. neunziger Jahre wieder auf. „Die letzten zwei Jahre waren völlig ab- „Bückeburg ist eben nicht Ham- surd“, sagt Timo Maas, 32, „und so was burg“, sagt Maas, „wenn du aus von weit weg von dem, was ich bisher un- der Provinz kommst, hast du in ter normalem Leben verstanden habe – der Club-Szene einen schweren unglaublich krass, unglaublich beeindru- Stand.“ ckend und unglaublich erschreckend.“ Da schien es ihm vernünftiger, Gerade deshalb sei es ihm wichtig, so nach der Ausbildung zum Kom- Maas, zwischen all den stressigen Reisen in munikationselektroniker auf Si- alle Welt in seine Heimatstadt Bückeburg cherheit zu setzen: Nach der Leh- zurückkehren zu können: „Wenn ich nach re arbeitete er in einem Telekom- so einer Wahnsinnstour nach Hause kom- Laden in Hannover, verkaufte me, das Ortsschild sehe und meinen Nach- Handys und Telefonanschlüsse – barn, der sich wie immer darüber aufregt, und nahm in Hamburg dann doch dass ich zu schnell auf den Hof gefahren wieder seine DJ-Karriere in An- bin, dann ist das schon ungemein beruhi- griff. Dieses Mal hatte er mehr gend“, sagt er. Mit seiner Freundin, einer Glück: Er konnte an den Wo- gelernten Zahnarzthelferin, lebt er bis heu- chenenden im Hamburger Tech- te in der 21000-Einwohner-Stadt, 64 Kilo- no-Club „Tunnel“ auflegen.

meter südwestlich von Hannover. / GETTY IMAGES ALVAREZ CARLOS Vielleicht wäre er ewig Hobby- Richtig los ging es mit Maas’ Karriere Maas-Kundin Madonna: Anruf der Trendsetterin DJ geblieben, doch die Telekom erst vor gut zwei Jahren. Damals schuf er baute Arbeitsplätze ab, und Maas eine Remix-Version von Azzido da Bass’ „Für Madonna zu arbeiten ist das Größ- nutzte die Gelegenheit, von nun an eben „Dooms Night“ – und aus dem Song wur- te, was dir als Remixer passieren kann“, Vollzeit-DJ und Remixer zu sein. Tatsäch- de der Dancefloor-Überraschungshit des berichtet Maas, „sie ist bis heute der wich- lich engagierten ihn bald auch besonders Jahres 2000: In aller Welt legten DJs das tigste Trendsetter und der erfolgreichste wählerische britische Clubs, und Maas mix- Werk des Deutschen auf, die Platte ver- Popstar der Welt – und das überzeugt Leu- te Stücke zusammen, die immer mehr an- kaufte sich eine halbe Million Mal. te in der Musikwelt, denen Erfolge in der dere DJs spielten. In England und Deutschland wurde Dance-Szene sonst kaum was bedeuten.“ Inzwischen ist Maas fast dauernd unter- Maas zum DJ des Jahres gekürt, amerika- Fast alle Angebote, nun auch die Stücke wegs; für seine eigenen Produktionen hat er nische Journalisten verglichen seinen Ein- anderer Stars wie Britney Spears, der sich ein Tonstudio in Hannover eingerich- fluss auf die elektronische Musik mit dem Backstreet Boys, von ’N Sync oder Spice tet. An den Tagen, die er noch in der nie- legendärer Größen wie Kraftwerk oder Girl Melanie C zu veredeln, lehnten die dersächsischen Provinz verbringt, bereitet Giorgio Moroder – vor allem aber melde- beiden jungen Deutschen allerdings ab. der Hobbykoch gern aufwendige Menüs für te sich der amerikanische Pop-Megastar Stattdessen arbeiteten sie nur für wenige seine Freunde zu. Seine Leidenschaft für Madonna bei Maas und seinem Partner, Auserwählte wie Fatboy Slim, Garbage guten Wein und gutes Essen ist ihm mitt- dem Produzenten Martin Buttrich: Die bei- oder die schöne US-Sängerin Kelis und feil- lerweile durchaus anzusehen – und hilft den durften den Remix der Madonna- ten lieber an ihrem ersten eigenen Album: ihm doch, die langen Nächte hinterm DJ- Single „Don’t Tell Me“ besorgen. Das Timo-Maas-Werk „Loud“, auf dem Pult durchzustehen. Jörg Böckem

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Autor Dr. Hans Halter 22751204, Fax 25426583 Abonnement für Blinde KULTUR Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Matthias 6797522, Fax 6797768 Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Geyer, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Kronsbein, Reinhard Mohr, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke Schmitter, SAN FRANCISCO Marco Evers, Michaela Schießl, 3782 Cesar Chavez Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax E-Mail: [email protected] Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, Claudia Voigt, Susanne : 6437530 Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren, Reporter Ariane Barth, Urs Jenny, Dr. Jürgen Neffe SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Frankfurt am Main Tel. 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176 der spiegel 2/2002 Chronik 28. Dezember bis 4. Januar SPIEGEL TV

FREITAG, 28. 12. Währungsumstellung aller Zeiten geht MONTAG in den meisten Ländern so gut wie rei- 23.15 – 23.45 UHR SAT.1 NAHOST I Im Gazastreifen erschießen isra- bungslos über die Bühne. elische Soldaten einen palästinensischen SPIEGEL TV REPORTAGE Selbstmordattentäter. Es ist der erste AFGHANISTAN I Das erste Erkundungsteam Die Helden von Ground Zero – New Yorks schwere Zwischenfall, seit Palästinenser- der internationalen Sicherheitstruppe Feuerwehr und der 11. September präsident Jassir Arafat zwei Wochen zu- bricht von London aus in Richtung Kabul 343 Feuerwehrleute kamen in den Trüm- vor zum Gewaltverzicht aufgerufen hat. auf. Unter den etwa 150 Militärs aus mern des World Trade Center ums Leben. 18 Ländern sind 9 Offiziere der Bundes- Der Film beobachtet die Männer zweier SAMSTAG, 29. 12. wehr. New Yorker Feuerwachen – in Brooklyn KATASTROPHE Ein explodierendes Lager AFFÄRE Der „Stern“ greift erneut die um- von Silvesterknallern legt in der peruani- strittene Spendenpraxis der CSU auf, die schen Hauptstadt Lima zwei Einkaufs- sich durch Patenschaftsabonnements für zentren und mehrere Straßenzüge in den „Bayernkurier“ staatliche Zuschüsse Schutt und Asche. Im Flammeninferno verschafft hat. sterben fast 300 Menschen. ARGENTINIEN II Eduardo Duhalde wird SCHNEECHAOS Heftige Schneefälle lösen neuer Präsident – der fünfte in 13 Tagen. in Deutschland ein Verkehrschaos aus. Reisende müssen die Nacht auf Autobah- KASCHMIR Der Konflikt zwischen Indien SPIEGEL TV nen oder in Notunterkünften verbringen. und Pakistan spitzt sich zu. Bei Gefech- New Yorker Feuerwehrmann ten und Massakern sterben 35 Menschen. ARGENTINIEN I Aufgebrachte Demonstran- und Manhattan – in den ersten vier Wo- ten stürmen das Parlament des von einer MITTWOCH, 2. 1. schweren Wirtschaftskrise gepeinigten chen nach jenem Attentat, das zugleich Landes und randalieren. ANTI-TERROR-EINSATZ Sechs Schiffe der die größte Katastrophe in der Geschich- Bundesmarine laufen zum Horn von te der Feuerwehr New Yorks war. SONNTAG, 30. 12. Afrika aus. Dort sollen sie zur Überwa- chung der Seewege eingesetzt werden. DONNERSTAG STEPPENBRAND Etwa 15000 Feuerwehrleu- 22.00 – 22.55 UHR VOX te kämpfen gegen die Buschfeuer rund um die australische Millionenstadt Syd- DONNERSTAG, 3. 1. SPIEGEL TV EXTRA ney. Windböen fachen die Flammen an. NAHOST III Der US-Sondergesandte An- Zwischen Pop und Pucks – NAHOST II Israelische Soldaten töten im thony Zinni ist in Israel zu einer erneu- Showtime im Pott Gazastreifen sechs Palästinenser. ten Vermittlungsmission eingetroffen. Innerhalb einer Nacht muss die Arena Oberhausen von einer Eishockeyhalle in URTEIL Heftige Kritik löst der Bayerische einen Konzertsaal für die Girlgroup No MONTAG, 31. 12. Verwaltungsgerichtshof aus: CSU und ka- Angels umfunktioniert werden. SPIEGEL tholische Kirche attackieren ein Urteil, NEW YORK Der populäre Bürgermeister TV dokumentiert 48 Stunden vor und nach dem ein Lehrer künftig nicht mehr Rudolph Giuliani geht nach acht Jahren hinter den Kulissen des Entertainment- unter dem Kruzifix unterrichten muss. Amtszeit. Nachfolger wird sein republi- Tempels. kanischer Parteifreund Mike Bloomberg. FREITAG, 4. 1. SAMSTAG DIENSTAG, 1. 1. AFGHANISTAN II Im Afghanistan-Einsatz 22.00 – 23.50 UHR VOX EURO-EINFÜHRUNG Fast 306 Millionen Men- wird nach US-Angaben erstmals ein schen zwischen Finnland und Spanien amerikanischer Soldat bei einem Gefecht SPIEGEL TV SPECIAL zahlen nun mit dem Euro. Die größte getötet. Treffpunkt Kreißsaal – wenn Männer Väter werden Schwangere Frauen wachsen mit dem Bauch in ihre Mutterrolle hinein. Männer müssen sich die Vaterrolle erarbeiten: Kinderzimmer streichen, neue Möbel be- sorgen, Geburtsvorbereitungskurs besu- chen, Windeln kaufen … Vom ersten Herzton bis zum ersten Schrei – Männer auf dem Weg zur Vaterschaft. Beim Kricket-Länderspiel zwischen Australien und SONNTAG Südafrika am vergange- 22.35 – 23.20 UHR RTL nen Freitag in Sydney kann ein Flitzer Aufpas- SPIEGEL TV MAGAZIN ser und Sportler aus- Himmelfahrtskommando – wie Spezial- manövrieren. einheiten den Anti-Terror-Kampf in Flug- zeugen trainieren; Kampfauftrag Kabul – die gefährliche Friedensmission der Bun- deswehr in Afghanistan; Tod in Uniform – wenn Polizisten an der Heimatfront zu Opfern werden. WILLIAM WEST / AFP / DPA WEST WILLIAM

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gestorben gang Petersen brillierte. Lichtenfelds Ge- heimnis lag in der perfekten Vorbereitung, Gustav Rau, 79. Der Mediziner hatte eine mitunter recherchierte er monatelang, bis riesige Kunstsammlung zusammengetragen er den ersten Satz schrieb. Seine Karriere – um die am Ende seines Lebens ein un- als Autor begann 1964, nachdem er sei- schönes Gezerre einsetzte. Jahrzehntelang ne Stelle als Ressortleiter lagen die Werke in einem Schweizer Depot. Fernsehen bei der „Hörzu“ Rau selbst verbrachte einen Großteil seiner gekündigt hatte. 1971 er- Zeit in Afrika. Dort baute der Sohn eines hielt er für das Fernseh- Stuttgarter Fabrikanten eine Kranken- spiel „Deutschlandreise“ station auf. Mehrmals im Jahr reiste er den Grimme-Preis. Sei- durch die Welt, um Kunst zu kaufen, mal ei- ne immense Produktivität nen Renoir, mal einen Cézanne. Trotzdem machte ihn als einen der blieb der medienscheue Rau über Jahr- wenigen Fernsehautoren

zehnte ein Unbekannter. Dann zog er, namentlich bekannt, doch BILDERDIENST DEFD / ULLSTEIN inzwischen gesundheitlich angeschlagen, der Vielschreiber scheute nach Monaco. Nachdem er dort verwirrt die Öffentlichkeit. Gute Kritiken allerdings aufgegriffen worden war, wurde ihm ein konnte er nicht oft genug lesen. Herbert Vermögenspfleger zur Seite gestellt – wo- Lichtenfeld starb, wie erst jetzt bekannt mit der Hickhack um wurde, am 11. Dezember in Hamburg. das millionenschwere Kunstvermögen des Jan Kott, 87. „Kott mit uns“, pflegten kinderlosen Wohltäters Theatermacher zu sagen, die in den sech- begann. Ein deutsches ziger und siebziger Jahren Hand an Shake- Gericht machte ihn speare legten, die in „König Lear“ nun wieder zum Herr über Becketts „Endspiel“ sahen und im „Som- sein Vermögen. Doch mernachtstraum“ plötzlich „brutale Ero- diverse Anwälte in tik“. Kott, damals polnischer Literaturpro-

mehreren Ländern ran- / DPA FÖRSTERLING NORBERT fessor, hatte mit seinem Essay-Band „Sha- gelten weiter um die kespeare heute“, der 1964 auf Deutsch er- etwa 700 Kunstwerke. Auch noch, nach- schien, den Vorhang des konventionellen dem Rau das Kinderhilfswerk Unicef als Poeten-Bildes weggerissen und existenzia- Generalerben eingesetzt hatte. Gustav Rau listische Abgründe aufgetan – Abgründe, starb am 3. Januar bei Stuttgart. die er während der NS-Zeit als Jude erfah- ren hatte. Kotts Buch revolutionierte die Alfred Heineken, 78. Er sammelte Braue- Theaterwelt, Shakespeare wurde zum reien und Rolls-Royce. Und wenn die Kö- „Apokalyptiker“. Ende der Sechziger brach nigin ein Problem hatte, das sie nicht mit Kott mit dem Kommunismus und emi- ihrem Minister besprechen wollte, rief sie grierte in die USA. Jan Kott starb am 22. Alfred (Freddy) Heineken an, den reichs- Dezember in Santa Monica, Kalifornien. ten Mann der Niederlande. 1983 wurde er entführt und gegen die Zahlung von 31 Mil- Paul Hubschmid, 84. lionen Mark Lösegeld freigelassen. Heine- Er war, nach Wilhelm ken baute durch aggressives Marketing und Tell, der bekannteste viele Zukäufe das Unternehmen seines Schweizer und, nach Großvaters zum drittgrößten Biermulti der Cary Grant, der Welt aus. 2000 brachte es sein Konzern auf schönste Schauspieler, 75 Millionen Hektoliter Umsatz in 120 Län- im Kino wie auf der dern. Hätte er nicht die Familientradition Bühne der Nachkriegs-

als Brauer weitergeführt, dann wäre „King / DPA SCHNATMEYER zeit. Kokett (oder Freddy“ gern Werbemanager geworden. grüblerisch) hieß er Er sponserte die britische Serie „Hotel Ba- seine Memoiren „Schöner Mann, was bylon“. Das Resultat gefiel ihm aber nicht: nun?“. Zu tun hatte er immer: In über 120 „Zu viele Neger, zu wenig Bier.“ Alfred Filmen spielte er mit, gern als nobler Heineken starb am 3. Januar in Noordwijk Charmeur an der Seite schöner Frauen, bei Den Haag. so 1957 in Käutners „Zürcher Verlobung“ mit Liselotte Pulver oder 1966 in Will Trem- Herbert Lichtenfeld, 74. Schreiben war pers „Playgirl“ mit Eva Renzi. Theater- seine Leidenschaft. Die Fernsehspiele und geschichte machte er als Professor Higgins Serienteile – er war der Schöpfer der in dem Musical „My Fair Lady“, mit „Schwarzwaldklinik“ und zahlreicher an- dem 1961 in Berlin die deutsche Musical- derer Familienserien wie „Hotel Paradies“ Ära eingeleitet wurde; über 2000-mal gab oder „Der Landarzt“ – schätzte der Dreh- Hubschmid den Professor. Dichterinnen buchautor auf fast 300. Der gebürtige Leip- wie Ingeborg Bachmann knieten vor ihm ziger schrieb 16 „Tatort“-Folgen, darunter nieder („Mein Schwarm, mein Traum- auch das legendäre „Reifezeugnis“, in dem mann“). Paul Hubschmid starb am 1. Ja- Nastassja Kinski unter der Regie von Wolf- nuar in Berlin.

178 der spiegel 2/2002 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Eseln und anderem Getier. Dies tat er perfekt in der Farbgebung: Ein Flussufer mit weidenden Kühen er- schien einfach nur unbelebt, nachdem er seine Schutz- maske aus Wasserfarben auf- gebracht hatte. Asefi, der bei Entdeckung durch die Reli- gionspolizei um sein Leben zu fürchten gehabt hätte, fühlt sich nicht als Held. „Ich war nicht besonders tapfer. Es war nur meine Pflicht, die Gemälde zu retten“, sagt er, während er sorgfältig mit einem feuch- ten Schwamm die Wasser-

KEVIN SULLIVAN / TWP KEVIN SULLIVAN farbe von einem der Bil- Asefi der wischt.

Mohammed Jussuf Asefi, 40, Arzt und Jean Glavany, 52, sozialistischer Land- einer der führenden Maler Afghanistans, wirtschaftsminister in Frankreich, be- rettete mit einem schier unglaublichen schrieb jetzt in einem Buch „Politique Trick etliche wertvolle Gemälde vor dem folle“ („Verrückte Politik“) die ab- bilderstürmerischen Zugriff der Taliban. schreckenden Tafelsitten des französi- Die gefürchteten Gotteskrieger hatten schen Staatspräsidenten, dem er bei ei- während ihrer Herrschaft den Bann über nem Gala-Diner im Kreml „durch ei- Abbildungen belebter Wesen ausgespro- nen Zufall des Protokolls“ gegenüber

chen, denn Abbilder beleidigten den Is- saß. Obwohl an gewaltige ländliche GRANNAN KATY lam. Nach der Sprengung der über 30 Me- Völlereien gewöhnt, musste der Bau- ter hohen Buddha-Statuen in der Nähe der ernlobbyist doch staunen über Stadt Bamian, machte sich Asefi eilends Jacques Chiracs Umgang mit den daran, Anstößiges auf den Schätzen der vorgesetzten Speisen: „Welch ein Nationalgalerie den Blicken der Taliban zu Spektakel. Er isst nicht, er schlingt. Er entziehen: Sorgfältig übermalte er, ver- stürzt sich mit einer enthusiastischen steckt in einem kleinen Kabinett, auf rund Verfressenheit auf jede Platte – ohne 80 Bildern Darstellungen von Frauen, Män- die geringste Zurückhaltung.“ Auch Chi- nern und Kindern, von Kühen, Affen, racs Trinkgebaren verblüffte den Linken: „Und wie er trinkt! Ein Toast folgte dem an- Berry deren im infernalischen Rhythmus. Jedes Mal hob er das Glas: Towarischtsch!“ Gla- Halle Berry, 33, Oscar-preisverdächtige vany wird künftig häufiger auf sein Buch afro-amerikanische Schauspielerin („Jun- verweisen können. Der Genosse ist als gle Fever“, „Swordfish“), ging in ihrem Wahlkampfleiter des Premierministers Lio- neuen Film „Monster’s Ball“, so verkündet nel Jospin für die Präsidentschaftswahlen sie rechtzeitig zum Kinostart, aufs Ganze. im Frühjahr 2002 vorgesehen – gegen den In dem düsteren, in den Südstaaten ange- mutmaßlichen Kandidaten Chirac. siedelten Drama beginnt Berry mit dem

Kate Moss, 27, britisches Topmodel, ist die neue Muse des berüchtigten britischen Malers Lucian Freud, 79, der gerade eine schlechte Presse hat- te mit einem Porträt von Queen Elizabeth II., auf dem diese nach Kritikermeinung aussieht „wie einer der königlichen Hunde nach einem Schlaganfall“. Der Enkel des Begründers der Psy- choanalyse will die schmalhüftige Kindfrau Moss für seine nächste Ausstellung im Juni malen, der

ersten seit zehn Jahren. Freud hatte sich an Kate FREUD LUCIAN Moss gewandt, nachdem er ein Interview gelesen Freud-Werk hatte, in dem sie behauptete, Freud sei einer ih- rer Heroes. Dabei verkehrt die junge Frau mit ihrem alternden Halbgott durchaus auf Augenhöhe. Für das Dezember-Heft der RICHARD YOUNG / REX FEATURES RICHARD YOUNG REX FEATURES / ACTION PRESS / ACTION REX FEATURES britischen „Vogue“ posierte Kate Moss als Königin – als „queen Moss Freud of fashion“.

180 der spiegel 2/2002 verbitterten Gefängniswärter aus dem To- deszellentrakt (Billy Bob Thornton) eine emotional hochgeladene Affäre, nachdem ihr Ehemann ebendort hingerichtet wor- den ist. Regisseur Marc Forster hatte zunächst Bedenken, Halle Berry zu enga- gieren, wegen der Sexszene, wie er sie sich vorstellte. Denn die dunkelhäutige Schöne sei „immerhin ein Filmstar“. Nach eige- nem Bekunden wäre sie zu der Sexszene auch niemals fähig gewesen, „hätte ich in ‚Swordfish‘ nicht schon meine Brüste ent- blößt“. Aber so kam eins zum anderen; und am 19. Tag der dreiwöchigen Drehar-

beiten war es dann so weit. Jetzt errichtet OSSENBRINK FRANK die Schöne Schutzwälle: „Ich sage immer, Wulff mit Tochter Annalena Bill Bob und ich gingen drei Wochen mit- einander und hatten dann Sex. Wenn ich schlittenfahrt fragte Tochter Annalena, 8, mir die Szene jetzt anschaue, denke ich den Papa: „Wenn dir das Schlittenfahren so nur, wer ist das Girl da auf der Leinwand?“ viel Spaß macht, warum macht ihr das nicht auch mal mit euren in der Politik?“ Cem Özdemir, 36, Bundestagsabgeordne- Papa Wulff, offensichtlich voll mit der K- ter der Grünen aus Schwaben mit tür- Frage beschäftigt, fand die Idee prima und kischer Abstammung und laut Geburts- wollte Stoiber und Merkel „mal für einen urkunde Muslim, kam als personifiziertes Nachmittag auf den Schlitten setzen, und Engelchen und Teufelchen auf seiner Neu- am Ende der Fahrt haben sie sich ausge- jahrsgrußkarte daher. Motto der Botschaft: sprochen, und wir haben die Lösung“. An- „Einen himmlischen Start ins neue Jahr … nalena dachte nach: „Ach Papa, das ver- und höllisch viel Vergnügen, Gesundheit stehst du nicht. Denk doch mal an die Pfer- und Erfolg für 2002!“ Anlass für die über- de. Die mögen es nicht, wenn zwei an den irdische Aktion sei der mediale Abgesang Zügeln ziehen.“ auf die Grünen, denn „Totgesagte leben länger“, hofft der Öko-MdB. Die Idee Peter Liese, 36, Mitglied des Europäi- stamme allerdings von seiner österreichi- schen Parlaments und Vorsitzender der Ar- schen Webdesignerin Petra Ostrowski. Die beitsgruppe Bioethik der konservativen entwarf bereits den Özdemir-Teufel als EVP/ED-Fraktion, fühlt sich als funda- Bildschirmschoner, der sich im Abgeord- mentalistischer Taliban verleumdet. Der netenbüro „großer Beliebtheit erfreut“, für Forschungsfragen zuständige EU-Kom- missar Philippe Bus- quin hatte auf ei- nem Pressetermin die Konferenz der Eu- ropäischen Kommis- sion zum Thema Stammzellen vorge- stellt. Dabei wurde Busquin gefragt, war- um keine ausgewie- senen Gegner der Embryonenforschung eingeladen worden Özdemir-Neujahrsgruß seien. Der Kommissar entgegnete, es gehe wie der Abgeordnete bekennt. Der im Fe- hauptsächlich um wissenschaftliche Aspek- bruar um seine Wiederaufstellung in Ba- te, der Teilnehmerkreis sei ausgewogen, den-Württemberg kämpfende Grüne hofft man habe „keine Taliban“ eingeladen. jedenfalls, dass der Bürospott auf seiner „Dies ist eine unglaubliche Entgleisung“, Website nicht Wirklichkeit wird. Dort ste- empörte sich Liese. „Der Kommissar hen über dem fröhlichen Teufel die Worte scheint damit die Gegner der Embryonen- „Cemfreie Zone“. forschung mit dem verbrecherischen Regime der Taliban auf eine Stufe zu stellen.“ Kurz- Christian Wulff, 42, stellvertretender Bun- um: Die Gegnerschaft zur Embryonen- desvorsitzender der CDU und Chef der forschung ist „keine fundamentalistische Niedersachsen-Christenunion, erfuhr die- Extremposition, sondern eine relevante Posi- ser Tage im Winterurlaub die Spruchweis- tion in der europäischen Debatte“. Liese heit „Kinder und Narren sagen die Wahr- erwartet nun von Busquin eine Entschul- heit“ am eigenen Leib. Bei einer Pferde- digung „in aller Form“.

der spiegel 2/2002 181 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der Münchner „Abendzeitung“: Zitate „Wenn Oliver Kahn nach einem siegrei- chen Spiel auch verbal an einer Veredelung Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt des soeben Geleisteten interessiert ist, be- unter der Überschrift „Apokalypse Now dient er sich mit Vorliebe eines Adjekti- – ‚Max‘ und SPIEGEL bilanzieren“ ves: ‚Wahnsinn‘.“ zur „SPIEGEL-Jahres-Chronik 2001 – Der Rückblick“:

Das ist der augenfälligste Unterschied zwi- schen SPIEGEL und „Max“: Das Magazin aus Hamburg tut, was die Illustrierte aus Hamburg bloß ankündigt – es macht die Terroranschläge zu jenem Ereignis, das den Aus der „Ibbenbürener Volkszeitung“ Gang der Zeit womöglich tatsächlich durch- einander geworfen hat.

Aus den „Kieler Nachrichten“: „Der ent- Die „Berliner Zeitung“ über „Retrospect gegenkommende Pkw musste ausweichen, 2002“, die Jahrhundertchronik, die stürzte eine Böschung hinunter und wur- SPIEGEL ONLINE in Zusammenarbeit de schwer verletzt.“ mit digital publishing präsentiert:

Unter der Flagge des Infotainments ist nicht Aus dem Heiligenhausener Wochenblatt selten intellektfreie Leichtigkeit Trumpf. „Super Tipp“: „Die ersten polizeilichen Hauptsache billig, heißt die Maxime, wenn Ermittlungen … ergaben, dass das Feuer im unter dem Deckmantel der Wissensvermitt- Badezimmer der Wohnung ausgebrochen lung Schrott in Text und Bild zusammenge- ist. Die genaue Ursache und Sachscha- schustert wird, dass es einen barmt. Aus- denshöhe kann zurzeit jedoch noch nicht nahmen von der Regel gibt es dennoch ... beziffert werden. Der Brandort wurde be- eben Retrospect. Das in Kooperation mit schlagnahmt.“ SPIEGEL ONLINE erstellte Werk widmet sich in referenzhafter Tiefe dem 20. Jahr- hundert. Wo manch ein Nachschlagewerk aufhört, fängt dieses erst richtig an. Politik, Wirtschaft, Forschung, Gesellschaft, Kultur und Sport – kein Feld wird ausgelassen. Be- merkenswert auch die visuelle Seite: Videos gibt es hier nicht briefmarkengroß, sondern bildschirmfüllend. So kommen die immer wieder beeindruckenden historischen Do- kumente wirkungsvoll zur Geltung und sor- gen fast für perfektes Heimkino.

Der SPIEGEL berichtete … Anzeige in der „Heilbronner Stimme“ … in Nr. 46/2000 „Panorama – ,Subkul- tur der Gewalt beenden‘“ in einem In- terview mit Xabier Arzalluz, dem Chef Aus der „Werra Rundschau“: „Es ist kein der gemäßigten Baskischen Nationalis- Geheimnis, dass die Kaninchenzüchter tenpartei PNV, über Wege zum Frieden Nachwuchs beklagen.“ und dessen Absicht, Spanier, die im Bas- kenland leben, bei Wahlen so zu behan- deln wie die Deutschen auf Mallorca.

Dazu verfasste die Satiretruppe der „Nach- richten aus dem Marionettentheater“, Spa- niens Spitting Image mit Kultcharakter, ei- nen Sketch für den TV-Sender „Canal +“. Er wurde im soeben erschienenen Buch „21 Personen auf der Suche nach der Ma- rionette“ veröffentlicht. Aus „Freies Wort“ Arzalluz: Wollen Sie mich nach dem fragen, was ich dem SPIEGEL erklärt habe? Nachrichtensprecher: Genau. Sie sagen, dass Die Computer-Zeitschrift „c’t“ über ein diejenigen, die keine Nationalisten sind, kei- Internet-Portal: „Es informiert über On- ne Angst zu haben brauchen, weil sie wie line-Themen wie das richtige Verhalten in die Deutschen auf Mallorca leben können. Chats oder den Umgang mit Cyber-Porno- Arzalluz: Natürlich: Wer kein Nationalist ist, grafie, die es jeweils eltern- und kind- nimmt ein Flugzeug, und ab nach Mallor- gerecht aufbereitet.“ ca, zu den Deutschen.

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