Materialien zur Friedenserziehung Beispiele Praxis

www.volksbund.de

Pädagogische Handreichung - Arbeit für den Frieden

Trauer, Erinnerung, Mahnung

Grundlagen Tod - Trauer - Erinnerung Seite 4 - 17

Hinführung von Jugendlichen zum Volkstrauertag Seite 18 - 26

Gestaltung des Volkstrauertages Seite 27 - 44

Materialsammlung Gedichte - Texte - Musik Seite 45 - 63

Grundlagen und Materialien für einen zeitgemäßen Volkstrauertag

Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. Titelbild: Mahnmal „82 Kinder klagen an“ auf der Gedenkstätte Lidice bei Prag/Tschechien. Die Bronzeplastik wurde von Marie Uchytilova begonnen und nach ihrem Tod von Jiri Hampl beendet (siehe auch Seite 39).

Trauer Erinnerung Mahnung

Grundlagen und Materialien für einen zeitgemäßen Volkstrauertag

Pädagogische Handreichung

Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. Landesverband Bayern

von Erich und Hildegard Bulitta

Inhalt

Zu dieser Handreichung ...... 3 1. Grundlagen 1.1. Volkstrauertag – ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert oder notwendiger denn je? - Einführung ...... 4 1.2. Haben Tod, Trauer und Erinnerung in unserer heutigen Gesellschaft noch einen Platz?...... 6 Tod – Trauer – Ambivalenz der Trauer ...... 6 Trauer ist Erinnerung des Herzens ...... 7 Sind wir unfähig zu trauern?...... 7 Die Struktur der Trauer ...... 8 Der Umgang mit Trauernden...... 9 1.3. Erinnerung – was heißt das? ...... 10 Die subjektiv-persönliche Erinnerung...... 10 Die objektiv-öffentliche Erinnerung...... 11 Erinnerung am Volkstrauertag...... 11 Erinnerung und Trauer ...... 12 1.4. Opfer der beiden Weltkriege ...... 13 1.5. Kriege und Konflikte in der Welt seit 1945 (Auszug)...... 14 1.6. Aus der Satzung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge...... 16 1.7. Auszüge aus den Grundsätzen der Jugend- und Schularbeit im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V...... 17

2. Der Volkstrauertag 2.1. Geschichte des Volkstrauertages...... 18 2.2. Hinführung von Jugendlichen zum Volkstrauertag...... 20 Modell zur Entwicklung emotionaler Betroffenheit bei Jugendlichen ...... 20 Vermittlung von Grundlagenwissen, das inhaltlich zum Volkstrauertag gehört ...... 20 Aufdeckung der Geschichte mit ihren Fakten – Vergleich mit der heutigen Zeit ...... 20 Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins und die Einbeziehung der nationalen Geschichte in der heutigen, politisch veränderten Welt ...... 22 Konfrontation mit der Geschichte an Orten, an denen Leid und das persönliche Schicksal von Menschen der damaligen Zeit nachvollzogen werden können ...... 23 Kann die Arbeit des Volksbundes emotionale Betroffenheit hervorrufen?...... 25 2.3. Gestaltung des Volkstrauertages ...... 27 Auszüge aus Reden zum Volkstrauertag...... 27 Der Ablauf einer Gedenkstunde zum Volkstrauertag ...... 28 Einbeziehung von Jugendlichen in die Gestaltung einer Gedenkstunde zum Volkstrauertag ...... 28 Organisatorische Hinweise...... 29 Das Totengedenken: Denken – Gedenken – Trauer – Hoffnung ...... 31 Der offizielle Text...... 31 Das Totengedenken – was heißt das?...... 31 Das Totengedenken, 1. Abschnitt ...... 32 Das Totengedenken, 2. Abschnitt ...... 34 Das Totengedenken, 3. Abschnitt ...... 35 Das Totengedenken, 4. Abschnitt ...... 36 Das Totengedenken, 5. Abschnitt ...... 37 Das Totengedenken, 6. Abschnitt ...... 39 Das Totengedenken, 7. Abschnitt ...... 40 Totengedenken, einmal anders – Gedanken zum Volkstrauertag...... 43 Das Lied vom guten Kameraden...... 44

3. Materialsammlung für Gedenkstunden zum Volkstrauertag 3.1. Gedichte ...... 45 3.2. Texte ...... 54 3.3. Lesung...... 61 3.4. Lieder / Musik...... 63 Literaturhinweise...... 64

2 Zu dieser Handreichung Die offizielle Gedenkstunde Der offizielle Ablauf einer Gedenkstunde zum Volks- Der Monat November ist der sogenannte Trauer- trauertag ist vielerorts seit Jahren festgelegt. Zeitge- oder Totenmonat. Allerheiligen, Allerseelen, Toten- mäße Gestaltungsmöglichkeiten sollen jungen Men- sonntag / Ewigkeitssonntag und Volkstrauertag sind schen Wege zeigen, an dieser Gedenkstunde mitzu- Gedenktage, an denen sich viele Menschen an Ver- wirken. Dazu werden organisatorische Hinweise ge- storbene erinnern. Am Volkstrauertag trauern und er- geben. Zentraler Programmpunkt der offiziellen Ge- innern wir uns an Opfer von Krieg und Gewalt in der denkstunde ist das Totengedenken, das seine Bedeu- Vergangenheit und Gegenwart. tung auch im 21. Jahrhundert nicht verloren hat und worauf in dieser Handreichung besonders eingegan- Die vorliegende Handreichung mit dem Thema „Trau- gen wird. So wichtig dieses Totengedenken ist, so er, Erinnerung, Mahnung“ beschäftigt sich mit dem muss es jedoch gerade jungen Menschen, die die Thema „Volkstrauertag“. Zu viele und zu unterschied- beiden großen Kriege des vergangenen Jahrhunderts liche, ja sogar falsche Bewertungen dieses Tages nicht persönlich erlebt haben, inhaltlich näher ge- sind im Umlauf. Deshalb finden wir es an der Zeit, auf bracht werden. Deshalb werden die einzelnen Ab- die Aktualität und Wichtigkeit dieses Tages hinzuwei- schnitte des Totengedenkens in ausführlicher Form sen, ihn von den Vorurteilen zu befreien und gleich- mit Beispielen und Hintergrundinformationen belegt, zeitig Wege und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie auch um den Sinn dieses Textes und des Volkstrauertages junge Menschen die tiefere Bedeutung dieses Tages verstehen und ihre Bedeutung in die heutige Zeit ein- erkennen und die Gedenkstunde zum Volkstrauertag ordnen zu können. aktiv mitgestalten können. Einbeziehung junger Menschen Eine wichtige Erkenntnis, die dieser Handreichung Zielgruppe zugrunde liegt, ist die Notwendigkeit der Einbeziehung Die Handreichung wendet sich an alle, die sich mit junger Menschen in die Gestaltung des Volkstrauerta- dieser Thematik näher befassen möchten, z. B. Leh- ges. Eine große Rolle spielt dabei die emotionale Be- rerInnen aller Schularten, LeiterInnen der Jugendbe- troffenheit. Ein Modell verdeutlicht, wie dazu hinge- gegnungsstätten, Organisationen in Gemeinden und führt werden kann. Grundsätze aus der Jugend- und Kirchen, TeilnehmerInnen von Jugendlagern des Schularbeit des Volksbundes zeigen, wie junge Men- Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Mitglie- schen in die Verantwortung für die Friedensarbeit des der der Jugendarbeitskreise und Jugendoffiziere der Volksbundes einbezogen werden können. . Im Unterricht kann die Handreichung fä- cherübergreifend (auch im Projektunterricht) oder in Materialien verschiedenen Fächern aller Schularten eingebunden In die Handreichung sind aussagekräftige Bilder und werden, z. B. in Deutsch, Geschichte, Sozialkunde, Zitate eingestreut, die zum Nachdenken anregen sol- Ethik oder Religionslehre. len. Am Ende werden Gedichte und Texte vorgestellt und Möglichkeiten einer musikalischen Umrahmung Zentrale Themen des Volkstrauertages angeführt, die an diesem Tag von jungen Menschen Um die Bedeutung des Volkstrauertages in der heuti- verwendet werden können. Ein Beispiel für eine Le- gen Zeit inhaltlich besser zu verstehen, werden wich- sung zum Volkstrauertag schließt diesen Teil ab. tige Themen dieses Tages näher erklärt, Begriffe und Handlungsweisen im Zusammenhang mit dem Volks- Wir bedanken uns bei den KollegInnen des Pädagogi- trauertag kritisch hinterfragt und die Aktualität aufge- schen Landesbeirates in München, bei Frau Ingrid zeigt. Das soll für den Leser Anlass sein, sich selbst Ebert, bei Frau Dr. Monika Bulitta und Herrn Helmut ein Urteil über die Bedeutung dieses Tages und die Roth, sowie dem Volksbund Deutsche Kriegsgräber- damit verbundenen Gedenkstunden zu bilden. fürsorge – insbesondere bei Herrn Gerd Krause und Herrn Hans-Dieter Heine – für die konstruktive Mitar- Zunächst wird deshalb im ersten Teil auf unsere beit und Unterstützung bei dieser Handreichung. Trauerkultur mit den Begriffen „Tod“, „Trauer“ und den Wir hoffen, dass diese pädagogische Handreichung „Umgang mit Trauernden“ eingegangen, da sie mit eine zeitgemäße Grundlage für die Gestaltung von der Thematik „Volkstrauertag“ unmittelbar zu tun ha- Gedenkstunden zum Volkstrauertag durch junge ben. Da die persönliche und öffentliche Erinnerungs- Menschen ist und die heutige Generation nie in die kultur im Zusammenhang mit diesem Tag ebenfalls Lage kommen wird, eines Tages über eigene Opfer eine wichtige Rolle spielt, wird sie näher behandelt. von Krieg und Gewalt trauern zu müssen.

Erich und Hildegard Bulitta

Wichtig! Jedes Jahr können im Herbst zum Thema „Volkstrauertag“ auf den Internetseiten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge aktuelle Texte, Lieder und Gedichte abge- rufen werden (www.volkstrauertag.de, bzw. www.volksbund.de).

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Grundlagen

Volkstrauertag – ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert oder notwendiger denn je? – Einführung

Zugegeben: Die Überschrift ist provokativ. Das will sie Die persönliche Trauer der Betroffenen bewusst sein, denn um den Begriff „Volkstrauertag“ Viele Familien trauern am Volkstrauertag auch aus auch noch heute in seinem ganzen Ausmaß zu ver- persönlichen Gründen, weil sie Angehörige haben, die stehen, muss man sich mit dieser Problematik be- Opfer von Krieg und Gewalt wurden und auf einem schäftigen und sich danach eine eigene Meinung bil- örtlichen Friedhof oder einer Kriegsgräberstätte be- den. Die vorliegende Handreichung greift diese The- graben sind. Für manche ist es erstaunlich zu erfah- matik auf. Vollständigkeit kann jedoch nicht erwartet ren, dass die meisten Opfer der letzten Weltkriege Zi- werden, dazu ist das Thema zu komplex. Der Volks- vilopfer sind, vor allem Frauen und Kinder. Neben den bund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bietet dazu jähr- direkt Betroffenen ist es heute die Kinder- und Enkel- lich im Herbst weitere aktuelle Veröffentlichungen an. generation, die trauert. Sollen sie nicht trauern dürfen und das an einem Tag auch öffentlich zeigen? Fragen, die sie sich manche stellen Der Volkstrauertag ist ein Gedenktag, mit dem viele Menschen in unserer heutigen Gesellschaft nichts mehr anzufangen wissen, weil sie den Sinngehalt die- ses Tages nicht kennen. Nicht nur junge Menschen haben mit diesem Tag große Schwierigkeiten, weil ih- nen der Sinn nicht klar ist. Volkstrauertag hat irgend- etwas mit Krieg, mit Soldaten, mit Schicksalen, mit den Erlebnissen einer anderen Generation, mit Ver- gangenem, mit Tod und Trauer zu tun, so lauten viele Antworten auf die Frage nach dem Sinn und der Be- deutung des Volkstrauertages. Stimmen diese Ant- worten denn nicht? Haben wir etwas in dieses neue Jahrhundert mitgenommen, was eigentlich Geschichte des vergangenen Jahrhunderts sein sollte? Brauchen wir, nachdem wir zum Glück so lange keinen Krieg in unserem eigenen Land hatten, überhaupt noch einen Ein Ehepaar aus Polen trauert auf dem Friedhof Bayreuth-St. Volkstrauertag? Sollten die offiziellen Gedenkstunden Georgen am Grab eines Angehörigen. Der Tote ist ein aus Danzig stammender deutscher Soldat, der zur Wehrmacht eingezogen nicht doch lieber abgeschafft werden? Belastet uns worden war. 1945 starb er an den Folgen einer Verwundung im La- und vor allem die jüngere Generation, die den Krieg zarett in Bayreuth. Nach 55 Jahren konnte nun sein in Polen leben- nicht mehr erlebt hat, dieses Erbe nicht zu stark? Wa- der Bruder mit Ehefrau das Grab des Gefallenen besuchen. rum blicken wir nicht lieber in die Zukunft, wo unsere Chancen liegen? Um was oder wen und vor allem wa- Unser geschichtliches Erbe rum, wann und wie sollen wir denn da noch trauern? Im vergangenen Jahrhundert haben viele Diktatoren Ist der Volkstrauertag tatsächlich etwas Altmodisches, durch Gewaltmaßnahmen ihr eigenes Volk unter- Verstaubtes und Vergangenes, ein Relikt des 20. drückt und fremde Völker unterworfen. Millionen Men- Jahrhunderts, das in unserem Jahrhundert keinen schen kamen als Soldaten, in Konzentrationslagern Platz mehr hat? oder auf der Flucht um. Millionen Zivilisten ließen ihr Leben im Bombenhagel, viele starben als Zwangsar- Antwort auf Fragen beiter. Gerade unser Kontinent ist ein unrühmliches Das sind sicherlich Fragen, die sich viele stellen, die Beispiel dafür. So gibt es in Europa vielleicht nur we- sich nicht näher mit dem Volkstrauertag beschäftigt nige Familien, die keine Opfer von Kriegen und Ge- haben und seine Bedeutung nicht kennen. Bedenkt walt zu beklagen hatten und haben. Auch heute noch man aber, dass niemals in der Geschichte der leiden die Nationen unseres Kontinents an den Spät- Menschheit so viele Menschen Opfer von Kriegen, folgen dieser Hinterlassenschaft. Die vielen im Wes- brutaler Gewalt und Terroranschlägen geworden sind ten Europas schon vorhandenen und die immer noch wie im vergangenen und diesem Jahrhundert, stellt zu errichtenden Kriegsgräberstätten im Osten spre- sich die Frage vielleicht anders. Über 55 Millionen chen eine eindeutige Sprache. Sie machen den Besu- Menschen starben allein im Zweiten Weltkrieg. Mit cher sprach- und fassungslos, regen ihn dann mögli- den heutigen Massenvernichtungswaffen könnten in cherweise aber doch an, bei der wichtigen Arbeit des kürzester Zeit noch mehr Menschen getötet werden. Volksbundes für den Frieden mitzuhelfen.

Das Geheimnis der Versöhnung ist die Erinnerung. Richard v. Weizsäcker (geb. 1920)

4 Ausdruck des nationalen Gewissens Aktueller denn je Die nationale Trauer am Volkstrauertag beschäftigt Das vergangene Jahrhundert war, wie die Jahrhun- sich mit unserer Geschichte und ist Ausdruck des na- derte davor, geprägt von grausamen Kriegen in der tionalen Gewissens, das als „Über-Instanz“ wichtig ist ganzen Welt. Und Kriege werden wahrscheinlich lei- für die Ausbildung des individuellen Gewissens. Der der auch unser jetziges Jahrhundert bestimmen. Die Volkstrauertag sollte Anlass sein, sich der Folgen von Gegenwart, auch auf dem europäischen Kontinent, ist Krieg und Gewalt bewusst zu werden. ein trauriges Beispiel dafür. Krieg, Gewalt, Terror, Verletzung der Menschenrechte, Vorurteile, Intoleranz Anlass zum Nachdenken und Rechthaberei sind heute immer noch aktuell. Manche Gedenkstunde zum Volkstrauertag, die tradi- tionsgemäß jedes Jahr in den Gemeinden am Krie- Versöhnung über den Gräbern gerdenkmal stattfindet, könnte für einen Außenste- Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge trägt henden, der sich nicht näher mit dem Hintergrund die- dazu bei, dass Völker Vorurteile abbauen und dass ses Tages beschäftigt hat, vielleicht den Eindruck aus ehemaligen Feinden Freunde werden. So haben bestätigen, dass der Volkstrauertag tatsächlich ein junge Menschen aus einst verfeindeten Nationen mit Relikt vergangener Zeiten ist. Die Gemeinden veran- ihrer „Versöhnung über den Gräbern“ und beglei- stalten diesen Tag traditionell zusammen mit örtlichen tenden Aktionen trennende Schranken überwunden. Verbänden, Kirchen und Organisationen. Junge Men- Durch ihre gemeinsame Arbeit sind sie Freunde ge- schen oder Schulklassen findet man hier nur selten. worden und geblieben. In den Jugendbegegnungs- Vereinzelt werden Schüler in die Gestaltung der Ge- stätten und Jugendlagern des Volksbundes Deutsche denkstunde mit einbezogen, tragen Texte oder Ge- Kriegsgräberfürsorge setzen sich immer wieder junge dichte vor, oder es spielt ein Jugendblasorchester das Menschen über noch bestehende Grenzen hinweg „Lied vom guten Kameraden“. Das ist dann aber auch und tragen dazu bei, dass sich Menschen unter- schon alles. Sollte sich nicht aber gerade auch die schiedlicher Nationen näher kommen. Junge Men- jüngere Generation noch mehr mit den wichtigen schen sollten den Versöhnungsgedanken und die Themen unserer eigenen Geschichte, wie z. B. Überwindung von Krieg und Gewalt am Volkstrauer- „Krieg“, „Gewalt und ihre Auswirkungen“, „Schicksale tag aufgreifen. von Soldaten und Zivilopfern“, z. B. in der eigenen Gemeinde, näher beschäftigen? Es wäre sinnvoll! Von Paula Moderson-Becker stammt der Ausspruch: Denn diese Thematik ist eng verbunden mit gegen- „Traurig sein ist etwas Natürliches. Es ist wohl ein wärtigen und zukunftsweisenden Themen wie „Vorur- Atemholen zur Freude.“ teile“, „Verständigung“, „Versöhnung“, „Toleranz“, „Menschenwürde“ und „Frieden“, um daraus für die Sehen wir den Volkstrauertag als ein wichtiges Gegenwart und die Zukunft zu lernen. Erbe an. Benutzen wir ihn zum Atemholen, zum Nachdenken über Krieg und Gewalt, über uns und Der Volkstrauertag: eine Notwendigkeit unsere Mitmenschen in Europa und der Welt und Der Volkstrauertag ist notwendig, gibt er doch den freuen wir uns darüber, dass wir in einem Land Menschen die Möglichkeit, inne zu halten, sich wieder ohne Krieg leben. einmal die Folgen von Krieg und Gewalt zu verge- genwärtigen, die eigene Haltung zu überdenken und an die Verantwortlichen, die Politiker und jeden Ein- zelnen zu appellieren, andere Wege einer Konfliktlö- sung zu finden. Der Volkstrauertag unserer Zeit ist kein Heldengedenktag, denn nicht Kriegshelden ste- hen im Mittelpunkt, sondern die Kriegsopfer, die Opfer von Gewalt und Terror – und das sind neben den Sol- daten, auch Männer, Frauen und Kinder, Zwangsar- beiter, Verfolgte und Vertriebene und in den Gefange- nenlagern und KZs verstorbene Menschen. Deshalb gelten die Erinnerung, das Gedenken und die Trauer an diesem Tag allen Opfern von Krieg und Gewalt.

Der Volkstrauertag gibt uns allen die Gelegenheit, über Vergangenes nachzudenken und öffnet gleichzeitig den Blick für die Gegenwart und Zu- kunft. Er ist ein zeitloses Erbe – auch für zukünfti- Gedenkstunde mit jungen Menschen auf der Kriegsgräberstätte in ge Generationen. Cannock Chase, England

Erinnerung kann schmerzen. Sie zuzulassen bietet Wege zur Versöhnung. Ein Vertriebener aus Pommern, 2001

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Haben Tod, Trauer und Erinnerung in unserer Gesellschaft noch einen Platz?

„Gesundheit ist unser höchstes Gut“, sagt eine Re- fühlswelt eindringen müssen, obwohl unser Bewusst- dewendung. Aber dafür gibt es keine Garantie, auch sein dies verdrängt. Wir müssen den Tod zwar hin- wenn man sich noch so sehr darum bemüht. Deswe- nehmen, aber für Trauer ist keine oder nur wenig Zeit gen lebt so mancher „in den Tag hinein“, lebt „in und schon gar kein Platz in unserer Welt. Die The- Saus und Braus“ oder eventuell auch „von der Hand men Sterben, Tod und Trauer sind für viele tabu. in den Mund“, „bringt Leben ins Haus“ oder „in die Bude“. Trotzdem oder auch deswegen muss jeder Es gehört zu unseren Werten, dass der Tote nicht eines Tages „dem Tod ins Auge schauen“, er ist „auf vergessen wird und in Erinnerung bleibt. Die Ge- Tod und Verderben dem Schicksal ausgeliefert“, denksteine auf den Friedhöfen zeugen davon. Die auch wenn er „weder Tod noch Teufel fürchtet“. Kreuze auf den vielen Kriegsgräberstätten, die der Glück, Erfolg und Karriere sind uns oft wichtiger als Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im In- und die Gedanken an unser persönliches Ende. Ausland betreut, erinnern daran, dass Menschen – Soldaten und Zivilisten – im Krieg gestorben sind und Tod hier ihre letzte menschenwürdige Ruhestätte gefun- den haben. Hier können sie von Angehörigen, Der Tod in seinen verschiedenen Formen hat in die- Freunden und Fremden besucht werden. Die Kriegs- ser schillernden Welt der Gegenwart, die uns täglich gräberstätten sind deshalb „die großen Prediger des von Fernsehen und Werbung vorgegaukelt wird, kei- Friedens“, wie Albert Schweitzer treffend gesagt hat. nen Platz, höchstens in Form von spektakulären Un- glücksfällen, in beeindruckenden und hohen Opfer- Trauer zahlen von sensationellen Katastrophen, über die sachlich und häufig unbeteiligt in den Nachrichten be- Der Begriff „Trauer“ stammt aus dem althochdeut- richtet wird. Auch hier bestimmt die Nachfrage das schen „truren“ und bedeutet: „traurig sein“. Es ist ein Angebot. Spektakuläre Bilder sind eben gefragt, be- Zustand, der sich am besten durch Synonyme aus- friedigen die Sensationslust vieler Fernsehzuschauer, drücken lässt, z. B. Bedrückung, Freudlosigkeit, Ge- beeindrucken aber nur kurze Zeit. Hans Mathias drücktheit, Gram, Kummer, Leid, Melancholie, Mutlo- Kepplinger schreibt über die Rolle, die die Medien sigkeit, Niedergeschlagenheit, Schmerz, Schwermut, dabei spielen: „Statt sich auf Fakten zu konzentrie- Trübsal, Trübsinnigkeit, Wehmut oder Weltschmerz. ren, kommen häufig Mechanismen ‚kollektiver Skan- dalwahrnehmung’ zum Tragen.“ Als abstrakte Nach- Als „Trauer“ werden heute das schmerzliche Inne- richt begegnet der Tod uns in Kurzberichten der Ta- werden eines Verlusts von Dingen, Lebensumstän- geszeitungen oder in den Todesanzeigen, die man den und vor allem von Personen, zu denen ein Sinn- liest und nach kurzer Zeit vergisst. In Kriminalstücken bezug oder eine Bindung bestanden hat, sowie die und Unterhaltungsfilmen ist der Tod gespielt und fik- damit zusammenhängenden Ausdrucksphänomene tiv, er berührt uns nicht, schon gar nicht emotional verstanden. Dabei unterscheiden wir zwischen per- und wird zu unserem Vergnügen inszeniert. sönlicher und öffentlicher Trauer (s. S. 8).

Sterben, Tod und Trauer sind keine Themen, über Ambivalenz der Trauer: die man gerne spricht. Schon der Gedanke daran wird weit von und vor sich hergeschoben. Sterben, Tod und Trauer sind etwas für das Alter, denken vie- le. Wir reden uns gerne ein, dass nur alte und schwer Erinnerung kranke Menschen sterben. Über den Tod wird ge- schwiegen, er wird verschwiegen, über ihn spricht Vergangenheit ÕÕÕ Trauer ÖÖÖ Zukunft „man“ nicht. Hoffnung Aber der Tod kommt, und zwar bestimmt, nur der Zeitpunkt ist ungewiss. Menschen „im besten Le- bensalter“ sterben – auch im Krieg (in dem nicht nur Soldaten umkommen, sondern auch Frauen und Kin- Der Begriff „Trauer“ ist ambivalent. Zum einen betrifft der). Und plötzlich greift der Tod durch sein Werk in er die abgeschlossene oder auch noch offene Ver- das Leben einer Familie, eines Freundes oder Be- gangenheit und drückt sich aus in Verzweiflung, Be- kannten und auch in unser Leben ein. Er ist plötzlich drückung, Elend, Kummer, Leid und Schmerz oder da, ist gegenwärtig, aber stört und verstört uns, rührt sogar Wut, zum anderen die offene und ungewisse an unsere Gefühle, die wir nach außen hin beherr- Zukunft, die von Hoffnung geprägt ist. Diese ist stets schen müssen, so wie wir es gelernt haben – „cool unter Verarbeitung oder Einbeziehung der Vergan- bleiben“ heißt das heute. Der Tod will – und das liegt genheit und Gegenwart in die Zukunft gerichtet. „Wie in seinem Wesen –, dass wir in unsere eigene Ge- geht es weiter?“ ist dabei die zentrale Frage.

6 Trauer ist Erinnerung des Herzens Versöhnung kann es nur geben, wenn wir uns er- innern und gemeinsam über das trauern, was ge- Erinnerung ist im persönlichen Bereich häufig durch schehen ist. In dieser Trauer dürfen wir allerdings Liebe geprägt. Je stärker die Liebe zu einer verstor- nicht verharren. Sie ist auf die Zukunft gerichtet. benen Person war, desto nachhaltiger und tiefer ist Eine friedliche Zukunft wird auch von den jungen die Trauer nach ihrem Tod. Wie Forscher um die So- Menschen verschiedener Nationen gestaltet wer- ziologin Deborah Carr an der Universität Michigan, den, die sich heute bei der Arbeit an und über den USA, gezeigt haben, sitzt die Trauer umso tiefer, je Gräbern näher gekommen sind. glücklicher die Beziehung war. Ist das der Grund, wa- rum auch nach Jahrzehnten Hinterbliebene um ihre im

Zweiten Weltkrieg gefallenen Partner trauern? Trauer und Verzweiflung brauchen Zeit, Zeit zum Überwinden der Trauer und nicht zum Vergessen. Sie brauchen aber auch einen Ort, an dem der Trauernde seine

Trauer zeigen kann.

Die Hinterbliebenen des Zweiten Weltkrieges haben häufig nur wenige Erinnerungen an einen gemeinsa- men kurzen Lebensabschnitt. Sie waren jung und hat- ten Zukunftspläne. Die zusammen verbrachte Zeit während eines Fronturlaubs wurde intensiv erlebt und stand unter dem Zeichen der Freude und der Hoff- nung, aber auch des Abschieds. Dazu kam die stän- dige Angst der Daheimgebliebenen um den Mann, Sohn oder Bruder im Feld und die Angst des Soldaten um seine Familie zu Hause. Die Feldpostbriefe waren Am Grab des Vaters auf dem Soldatenfriedhof Cassino (Italien). zwar Lebenszeichen, aber es war nie sicher, ob der Hier ruhen 20 051 Gefallene des Zweiten Weltkrieges. Schreiber tatsächlich noch lebte. Diese Trauer um die toten Familienangehörigen hält häufig bis in die heuti- Sind wir unfähig zu trauern? ge Zeit an. Sind wir unfähig zu trauern, wie A. & M. Mitscherlich Trauer als Verpflichtung für den Frieden fragen? Die Unfähigkeit zu trauern ist uns Deutschen Trauer bedeutet Anteilnahme am Mitmenschen. Am vorgeworfen worden. Wie sozialpsychologische Un- Volkstrauertag trauern die Repräsentanten des Staa- tersuchungen zeigen, löste gerade die Auseinander- tes um die Opfer von Krieg und Gewalt – in der Ver- setzung mit dem Nationalsozialismus heftige Polari- gangenheit und Gegenwart. Aus dieser Trauer ent- sierungen aus, die nicht ohne Wirkungen blieben und steht die Verpflichtung, alles zu tun, damit nicht erneut heute noch anhalten. Die Zerschlagung des National- Menschen Opfer von Kriegen und Gewalt werden. Wir sozialismus mit der nachfolgenden Teilung Deutsch- erinnern, weil wir nicht vergessen können und nicht lands und später der Untergang der DDR stellten Um- vergessen dürfen. Wir müssen die Botschaft der Milli- brüche dar, in denen kollektive Werte und Normen onen Gräber aufgreifen. Ihre Botschaft heißt „Frieden grundlegend in Frage gestellt wurden. Die Folge war, und Versöhnung“. Dafür einzutreten ist eine Mahnung, dass sich die Frage nach Schuld und verantwortli- die die Opfer, um die am Volkstrauertag getrauert chem Handeln jeweils neu stellte. wird, uns mitgeben. Die Autoren A. & M. Mitscherlich beschäftigten sich in Gemeinsam trauern und sich versöhnen einer Analyse mit der Frage nach dem nationalen Die Versöhnungsarbeit, wie sie der Volksbund Deut- Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangen- sche Kriegsgräberfürsorge seit 1953 mit Beginn sei- heit in Deutschland. Sie vermissten bei diesem Um- ner Jugendarbeit auf den Kriegsgräberstätten betreibt, gang Trauer, denn „wo Schuld entstanden ist, erwar- ist ein guter Weg, sich über die gemeinsame Trauer ten wir Reue und das Bedürfnis der Wiedergutma- um die Opfer der Kriege und Aufarbeitung der Ver- chung. Wo Verlust erlitten wurde, ist Trauer, wo das gangenheit zu versöhnen und an einem friedlichen Ideal verletzt wurde, ist Scham die natürliche Konse- Europa mitzuarbeiten. Versöhnung und Versöh- quenz. Die Verleugnungsarbeit erstreckte sich glei- nungsarbeit kann nicht verordnet werden, schon gar chermaßen auf die Anlässe für Schuld, Trauer und nicht „von oben“ vom Staat. Versöhnung und Verge- Scham.“ Aus ökonomischen Gründen hielt man es je- bung kann der Einzelne nur im Dialog erreichen. Sie doch meist für besser, sich mit der Gegenwart und ih- stellen nicht die Frage nach der Schuld, setzen aber ren Aufgaben zu beschäftigen. ein Bewusstsein historischer Schuld und Verantwor- tung voraus.

Menschen, die man vergisst, sterben ein zweites Mal. jüdisches Sprichwort

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Die Wahrheit nicht verleugnen Verdrängung unterscheiden: „Verleugnung ist ein Ab- A. & M. Mitscherlich schreiben über die Verleugnung wehrmechanismus, der sich auf störende Wahrneh- der Wahrheit: „In der Pyramide der Verantwortung mung der äußeren Realität bezieht. Störend heißt, stellt sich das dann so dar, dass der ,Führer’ durch dass die Wahrnehmung Unlust erweckt. Verdrängung den politischen Druck von außen zu seinen Entschei- gilt der Unlust bereitenden Wahrnehmung eigener dungen gezwungen war. Das löste eine Befehlskette Triebregungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird aus, der sich niemand zu entziehen vermochte; al- ungenau Verdrängung für alle Entlastungsversuche lenthalben herrschte – so vernimmt man es in retro- von störenden Erfahrungen benutzt.“ spektiver Selbstrechtfertigung – ein alles entschul- dender Befehlsnotstand. Bei den Versuchen, Schuld Die Erinnerung bewusst machen abzuschütteln, wird bemerkenswert wenig der Opfer Bewusstes Erinnern, das Eingestehen der (eigenen gedacht – gleichgültig, ob es sich um die eigenen oder nationalen) Schuld und die nationale Trauerar- oder um die der Gegenseite handelt. Das lässt das beit sind aber notwendig, um dem unbewussten Wei- Ausmaß des Energieeinsatzes erkennbar werden, der terwirken der einstigen Ideale des Nationalsozialismus zur Verleugnung der in Wahrheit keineswegs so ein- und deren Fortbestand entgegenwirken zu können. In deutigen Zwangslage der Vergangenheit notwendig der Analyse kann man der jungen Generation zeigen, ist. Die Gefühle reichen nur noch zur Besetzung der wie und was sie aus der Geschichte für die Zukunft eigenen Person, kaum zu Mitgefühlen irgendwelcher lernen kann. In der Erinnerungsarbeit geht es nicht Art aus. Wenn irgendwo ein bedauernswertes Objekt nur um die Erinnerung an konkrete Ereignisse, son- auftaucht, dann ist es meist niemand anderer als man dern auch um Erinnerung an Verhaltensweisen und selbst.“ Wertvorstellungen, an Gefühle und Fantasien. In ihrer Analyse finden die Autoren A. & M. Mitscherlich Verleugnung und Verdrängung Gründe für das Ausbleiben von Trauerreaktionen, auf Es handelt sich in diesem Fall um einen Schutzme- die an dieser Stelle aus Platzgründen jedoch nicht chanismus, um die Erinnerung an höchst erregende näher eingegangen werden kann. Wir verweisen des- Ereignisse aus dem Bewusstsein verschwinden zu halb auf das Literaturverzeichnis. lassen. Schuld macht Schweigen! Hierbei muss man nach A. & M. Mitscherlich zwischen Verleugnung und

Die Struktur der Trauer

Trauer Ð subjektiv-persönliche Trauer objektiv-öffentliche Trauer

Trauer eines Subjek- Trauer in Form von Emotion verbindet die Trauer einer Gemeinschaft, z. B. tes, d. h. als persönlich Anteilnahme, d. h. subjektiv-persönliche und Stadt, Gemeinde oder Staat, Betroffener, der selbst „Mit“empfinden, „Mit“- objektiv-öffentliche Trauer. und ihrer Repräsentanten oder über einen anderen gefühl, Mit„leid“ an Eine echte Trauer ohne Organisationen über vergange- (aber nicht über sich!) der Trauer anderer, Emotionen ist nicht möglich! nes und / oder gegenwärtiges trauert, zu dem eine die einen selbst be- Das wären sonst nur Lippen- Geschehen, das viele betrifft oder persönliche Bezie- rührt. Diese Form der bekenntnisse! Eine „sachliche“, berührt, z. B. Kriege, Katastro- hung bestanden hat. Trauer ist zeitlich be- d. h. nicht echte Trauer und phen, Terroranschläge oder Tief empfundene grenzt, weil die Erin- eine damit verbundene Ereignisse von regionaler, Trauer dauert lange. nerung an den Anlass „neutrale“ oder „sachlich- nationaler oder internationaler Sie kann, wie die verblasst. Interesse nüchterne Trauerfeier“ ohne Bedeutung. Die Trauer und die Erinnerung an eine oder nur Neugierde Emotionen, d. h. nur das damit verbundene Erinnerung geliebte Person, ein im Hinblick auf das Festhalten an einem formalen daran kann in besonderen Fällen Leben lang anhalten. Leid anderer ist Ritual, sollte es nicht geben! lange aufrecht erhalten werden, keine echte Trauer! z. B. am Volkstrauertag.

Echte „menschliche“ Trauer kommt aus dem Inneren, d. h. vom Herzen und kennt keine Altersgrenze. Sie kann zeitlich begrenzt oder endlos sein. Trauer ist in allen Gesellschaften an Rituale gebunden. Es ist eine wichtige Aufgabe des Staates, seiner Repräsentanten und des ganzen Volkes, die Trauer am Volkstrauertag aus der Verantwortung und dem Bekenntnis zur nationalen Geschichte zu bewahren!

8 Kann man Trauer heilen? An den Gräbern der Gefallenen und Toten aus beiden Trauer und Schmerz haben eines gemeinsam: Man Weltkriegen haben Angehörige die Möglichkeit, sich will oder muss beides offensichtlich schnell wieder zu erinnern und ihre ganz persönliche Trauer zu zei- loswerden. Gegen körperliche Schmerzen helfen Tab- gen, um diese zu überwinden. letten. Wirken sie nicht, nimmt man eine höhere Do- sis. Tabletten lindern auch den seelischen Schmerz. Von den Gräbern geht eine Friedensbotschaft an die Man lenkt sich gerne ab, sucht Trost und versucht, nachkommenden Generationen aus. Deshalb hat der nicht daran zu denken. Aber wie lange hilft diese Volksbund schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg „Therapie“ – und vor allem: Ist es eine wirkliche Hei- die Jugend in seine Arbeit eingebunden. Die Fürsorge lung, die den tiefen seelischen Schmerz so einfach für die Gräber liegt zukünftig in den Händen der jun- wegradiert? Die Vergangenheit gehört zu uns und in gen Generation. Die Begegnung mit jungen Men- der Trauer geht es nach M. Mitscherlich-Nielsen dar- schen anderer Nationen an den Gräbern lässt Ge- um, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, was schichte aufarbeiten und ermöglicht Gespräche, Ver- zur Folge hat, dass man sich selbst und andere bes- söhnung und Freundschaft – und somit langfristig ser verstehen kann. Nicht aufgearbeitete Trauer, d. h. Frieden. keine Analyse des seelischen Geschehens macht körperlich und seelisch krank. Man Der Umgang mit Trauernden kann den Schmerz und Verlust eines Angehö- rigen, mit dem der Trauernde eine tiefer ge- Trauernde Menschen sind uns hende mitmenschliche Gefühlsbeziehung ge- unangenehm. Viele wissen nicht, wie sie habt hatte, nicht verdrängen, weil etwas mit ihnen umgehen sollen und wir verloren ging, mit dem man eng (emotional) scheuen uns vor einer Begegnung mit verbunden war. In diesem Zusammenhang ihnen. Deswegen lässt man Trauernde sollte man auf den Unterschied zwischen oft alleine. Vielleicht machen wir das Trauer und Melancholie hinweisen, den schon auch, weil wir uns über unsere eigenen Sigmund Freud klar gemacht hat: In der Gefühle oft nicht im Klaren sind, weil wir Trauer fühlt man sich verarmt, aber nicht in befürchten, die Fassung zu verlieren und seinem Selbstwert erniedrigt. Letzteres mitzutrauern. Tränen und Trauer gelten geschieht jedoch dem Melancholiker. Ihm oft als Zeichen der Schwäche. Möglichst widerfährt „eine außerordentliche schnell will man deswegen wieder zur Herabsetzung seines Ich-Gefühls, eine Tagesordnung übergehen. Für Trauer ist großartige Ich-Verarmung“. daher nur wenig oder kein Platz im realen Leben, vor allem nicht für Betroffene. Die Rolle des Volksbundes Deutsche Die Trauernde (Friedhof Mariànské Kriegsgräberfürsorge bei der LàznČ, Marienbad, Trauern lassen Trauerarbeit Tschechien) „Memento mori“, „Gedenke der Toten“, Der Volksbund ist die Organisation, die die lautete der Sinnspruch früherer Zeiten. Geschichte und das Wissen über das leidvolle Unsere moderne Gesellschaft handelt jedoch oft nicht Schicksal der Opfer aufrecht erhält. Die eigene per- danach. Deshalb sind Trauer und Trauernde „Störfak- sönliche Geschichte hat immer mit der historischen toren“ in unserer heutigen Zeit. In der Öffentlichkeit Geschichte zu tun. Es ist das große Verdienst des wirken sie peinlich, verursachen Angst, erschrecken Volksbundes, dass er den vielen Toten auf den uns und wir wenden uns ab. Trauer hat allenfalls in Kriegsgräberstätten ihre Namen wieder gegeben hat. den eigenen vier Wänden zu geschehen. Toleriert Er hat die Anonymität der Toten aufgehoben und ih- wird sie auf dem Friedhof und am Grab. Trauer nen ihre Identität zurückgegeben. So wurde den Über- braucht aber auch Raum und Zeit. Trauer ist kein Zei- lebenden die Möglichkeit gegeben, ihre persönliche chen von Schwäche, sondern von Stärke. Stärke, sich Trauer an den Gräbern zuzulassen. mit dem Verlust auseinander zu setzen. Stärke, zu Auch heute noch suchen Angehörige beim Volksbund seinen Gefühlen zu stehen und Hilflosigkeit, Kummer nach dem Grab ihrer im Zweiten Weltkrieg gefallenen und Verzweiflung zuzulassen. Trauer ist nämlich not- oder vermissten Verwandten. Die vielen Angehörigen, wendig, um über den Verlust eines Menschen hin- die sich deswegen im Internet (www.volksbund.de) wegzukommen. Nur wer seine Trauer ausleben kann, einloggen, beweisen das. Familien möchten wissen, ist auch in der Lage, den Verlust ins eigene Leben zu wo ihr Angehöriger liegt, um Gewissheit zu haben und integrieren und sich in einer jetzt neu und anders ge- um dort auch trauern zu können. Die Öffnung der ordneten Welt wieder zurecht zu finden. Auf die Zeit Grenzen nach Osten hat vielen Hoffnung gemacht, der Trauer folgt die Phase der Neuorientierung, die nach Jahrzehnten der Ungewissheit doch noch etwas Suche nach neuen Wegen, die erst ein Weiterleben über den Verbleib eines Angehörigen zu erfahren. ermöglichen.

Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden. Bertolt Brecht (1898 – 1956)

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Erinnerung – was heißt das?

Die Erinnerung ist wie ein Bilderbuch. Jedes Bild steht Stets kommt die Erinnerung aber aus dem Innern ei- für einen Teil der Vergangenheit und führt beim Sich- nes einzelnen Individuums und ist geprägt von Stim- Erinnern zu unterschiedlichen Reaktionen. Dabei un- mungen oder Erlebnissen. Sie ruft Bilder, Gefühle und terscheidet man zwischen subjektiv-persönlicher und Worte hervor und kann sich im Lauf der Zeit verschö- objektiv-öffentlicher Erinnerung. Der Unterschied zeigt nen, idealisieren oder auch negativ verändern. Es ge- sich auch in der Redeweise „Ich erinnere mich an ...“ hört auch zu unserem Wesen, persönliche Erinnerun- und „Wir (alle, d. h. die Gesellschaft) erinnern an ...“. gen anderen mitzuteilen und nicht zu verbergen.

Erinnerung Ó Ô subjektiv-persönlich objektiv-öffentlich

Die subjektiv-persönliche Erinnerung

Bei der subjektiv-persönlichen Erinnerung erinnert sich ein einzelner Mensch (Subjekt) an Ereignisse des eigenen Lebens, z. B. aus der Kindheit oder dem Ju- gendalter oder an historische Ereignisse unter persönlicher Miteinbeziehung als Beteiligter, Beobachter oder Zeitzeuge. Diese Erinnerung ist individuell und bezieht sich auf eine einzelne Person. Die subjektiv- Die Erinnerung ist eine Flasche mit einem dünnen Hals: persönliche Erinnerung kann faktisch, bewusst oder „periit pars maxima“ – der größte Teil geht verloren; unbewusst, ja sogar traumatisch sein. aus dem Emblembuch des Covarrubias Orozco (1610)

subjektiv-persönliche Erinnerung Ý Þ faktische Erinnerung traumatische Erinnerung Ý Þ Ø persönliches Erinnern historisches Erinnern Erinnern an Extremsituationen

Ich erinnere mich an Ich erinnere mich an historische Ich erinnere mich an einschneidende wichtige persönliche Ereignisse, z. B. Machtergreifung persönliche Erfahrungen, d. h. menschliche Ereignisse, z. B. Geburtstage, Hitlers, Kriegsbeginn und Kriegs- Extremsituationen, die weit über der übli- Hochzeitstag, Todestag von ende, Währungsreform, Gründung chen menschlichen Erfahrung liegen, z. B. Verwandten und Freunden, der Bundesrepublik, 17. Juni, Bombennacht, Reichspogromnacht, Juden- Geburt eines Kindes, Examen, Fall der Mauer, Wiedervereinigung, verfolgung, Aufenthalt im Konzentrations- berufliche Ereignisse, ... Terroranschläge in den USA, ... lager, Verschüttet-Sein, Fronterlebnisse, Konfrontation mit dem Feind und die Ereignisse erzeugen Bilder, Worte und Gefühle, an die man „Notwendigkeit“ des Tötens, Flucht und sich zu bestimmten Anlässen erinnert. Subjektiv-persönliche Vertreibung, unerwarteter oder plötzlicher und historische Erinnerung sind oftmals miteinander ver- Verlust eines Familienmitglieds im Krieg, knüpft. Stimmungen und das persönliche Erleben verstellen Terroranschlag, schwerer Unglücksfall, ... oft die Wahrnehmung der Fakten und das Urteil in dieser Folgen: Sache. Erinnerung heißt auch „etwas aufarbeiten“. Nur Ø wenn diese Aufarbeitung in tiefere Schichten des Unterbe- Trauma (= Wunde, Verletzung, Einwirkung wusstseins eindringt, kritisch analysiert wird und die Verbin- von Gewalt, seelische Erschütterung), dung von der Vergangenheit zur Jetztzeit herstellt, kann die sozialer Rückzug, Depression, Unruhe, Voraussetzung zum inneren und äußeren Frieden geschaffen Schuldgefühle, psychisches Leid bis ins werden. Dieser Prozess kann durchaus schmerzlich sein! hohe Alter, auch wenn das Trauma viele Erinnerung ist die Vorbedingung von Trauer. Man kann Jahrzehnte zurückliegt, „Posttraumatische erst trauern, wenn man sich erinnert. Dabei muss jeder Belastungsstörung“ (PTBS) mit entspre- Einzelne die Fakten für sich klären und ihre Bedeutung chenden Krankheitsbildern bei Verdrän- muss für ihn spürbar werden. gung und Nichtaufarbeitung (s. S. 12).

10 Die objektiv-öffentliche Erinnerung unbewusste Vorstellungen, Assoziationen und Ver- gleiche geweckt. Das weit Entfernte tritt in einen kultu- Im Unterschied zur subjektiv-persönlichen Erinnerung rellen Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Ge- ist die objektiv-öffentliche Erinnerung neutraler und schehen. Das Schlagwort dafür heißt „nationale Iden- eine Erinnerung „von außen“, die sich mehrere oder titätsbildung“, die sich als „Über-Ich“ herausbildet. viele Individuen teilen. So erinnern sich z. B. bei ei- nem Klassentreffen nach vielen Jahren Schulkamera- Um bei unserer nationalen Geschichte zu bleiben, den an Verhaltensweisen eines Mitschülers, die die- sollte bei der objektiv-öffentlichen Erinnerung auch an ser schon längst vergessen hat. Viel wichtiger ist aber Gedenktagen klargestellt werden, dass deutsche Ver- die objektiv-öffentliche Erinnerung einer ganzen Nati- gangenheit nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus on, d. h. der Gesellschaft mit ihren Repräsentanten ist, sondern ebenso die Zeit davor und danach. So oder eines Volkes. Sie bezieht sich auf die nationale gehört beispielsweise die Widerstandsbewegung im Vergangenheit und muss ein nationales Geschichts- Dritten genauso dazu wie der Weg nach Euro- bewusstsein bilden. K. H. Bohrer hat dafür die Begriffe pa nach dem 2. Weltkrieg und unsere Rolle im ge- „historisches Nahverhältnis“ und „historisches Fern- genwärtigen Weltgeschehen. Unsere Geschichte trägt verhältnis“ geprägt. „Objektiv“ heißt auch, dass das wie die Geschichte jeder Nation positive und negative national orientierte Bekenntnis zur eigenen Geschich- Züge. te nicht politisch instrumentalisiert werden darf! Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist Das historische objektiv-öffentliche Erinnern ist kein durch seine ganze Arbeit und seine Aufgaben be- bloßes Zurückrufen von Ereignissen oder Fakten der strebt, die objektiv-öffentliche Erinnerung bewusst Vergangenheit aus der Erinnerungslosigkeit in die werden zu lassen und am nationalen Gedenktag des Gegenwart, sondern viel komplexer. Dabei werden Volkstrauertages besonders darauf hinzuweisen.

objektiv-öffentliche Erinnerung Ý Þ im Allgemeinen im Besonderen Bewusst-Werden der Vergangenheit einer Nation Erinnerung an diese nationale Vergangenheit und Bildung eines nationalen Gedächtnisses: anlässlich eines nationalen Gedenktages, z. B. am Volkstrauertag: Wir (alle) erinnern objektiv an ... Wir (alle) erinnern heute objektiv an ...... unsere nationale Geschichte: das „historische ... nationale und internationale Geschichte, Nahverhältnis“ und „historische Fernverhältnis“. an Ereignisse und auch subjektive Erlebnisse. Ziel: Ø Die Erinnerung am Volkstrauertag bezieht sich auf – Einordnung in historische Zusammenhänge Ereignisse und Folgen der dunklen Seiten unserer – Erzeugung von Vorstellungen, Assoziationen und nationalen Vergangenheit und das Ergebnis der Vergleichen mit dem gegenwärtigen Geschehen beiden Weltkriege unter Einbeziehung von – Bildung einer nationalen Identität. Kriegen und Gewalt in der Gegenwart.

Die Erinnerung am Volkstrauertag: – Erinnerung an menschliche Erfahrungsgeschichte – Erinnerung an die Fehler der Vergangenheit und – Veranstaltung der Repräsentanten des Volkes Übernahme der Verantwortung für den Frieden in unter Einbeziehung der Bevölkerung der Gegenwart und Zukunft – Bekenntnis zur nationalen Geschichte und der – Mahnung gegen Geschichtsvergessenheit damit verbundenen Trauer über die Opfer von – Mahnung zu Toleranz, Völkerverständigung, Krieg und Gewalt Versöhnung, Vorurteilslosigkeit und Frieden – Erinnerung an ähnliche (inter)nationale Ereignisse – Mahnung zur Einhaltung der Menschenwürde in der Gegenwart – Aufzeigen von Wegen auch für junge Menschen – Erinnerung an Kriege und ihre Auswirkungen auf zu Gewaltlosigkeit und Frieden Menschen, Länder und Kulturen – Sensibilisierung für die Würde des Anderen – Erinnerung an die Unantastbarkeit und Unverletz- barkeit der Menschenwürde Erinnerung ist die Basis für eine friedliche Zu- – Erinnerung an die Kriegsgräber„fürsorge“ des kunft. Der Volkstrauertag stellt eine Verbindung Volkes und seiner Repräsentanten zwischen subjektiver und objektiver Erinnerung und Trauer, der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und der Mahnung für die Zukunft her.

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Erinnerung und Trauer Persönliche Erinnerungen Eindrücklich haben wir noch das Bild eines älteren Man kann nur persönlich oder öffentlich trauern, wenn Mannes in Erinnerung, der im Jahr 2000 an der Lan- man sich erinnert und der Anlass der Trauer bewusst desfeier aus Anlass des Volkstrauertages in Würzburg wird. Verdrängung, vor allem der traumatisierten teilnahm und sich am Massengrab der Gedenkstätte Trauer-Ursache, macht krank, wie Betroffene und verneigte. Danach wirkte er tief erschüttert. Wir spra- Psychotherapeuten immer wieder feststellen. chen mit ihm und er berichtete, dass hier auch sein Vater liege, der bei dem verheerenden Bombenangriff Stichwort: Trauma auf Würzburg am 16. März 1945 ums Leben gekom- men war. Ein Trauma ist ein „kurz oder lang anhaltendes Ereig- nis von außergewöhnlicher Bedrohung, das nahezu Beim „Kreuzweg der Nationen“ auf der Kriegsgräber- bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen wür- stätte Wildflecken (Unterfranken) erinnert eine Stele de.“ Diese Definition der Weltgesundheitsorganisation an den Angriff auf Dresden am 13. Februar 1945. Bei umfasst Folter, sexuellen Missbrauch, Kriegsgräuel, einer Führung berichtete uns eine ältere Dame, dass Terrorismus und Naturkatastrophen als Auslöser. Es sie damals als achtjähriges Mädchen diesen Angriff sind Extremereignisse, die unerwartet, unvorherseh- miterlebt hatte. Es sei Faschingsdienstag gewesen bar und plötzlich auftreten, und bei Betroffenen eine und sie habe noch ihr Faschingskostüm getragen. Sie existentielle Angst verursachen, die lang nachwirkt. konnte dann nicht mehr weitersprechen, wandte sich Mögliche Folgen: Die Opfer werden durch ihre Erinne- ab und weinte – über 56 Jahre danach waren die rung „überflutet“. In der Folge wehren sie sich dage- schrecklichen Bilder von damals wieder lebendig. gen, bis hin zum Gedächtnisverlust. Sie scheuen sich, an das Trauma erinnert zu werden. Auch Schreckre- Persönlich tief bewegt zeigte sich auch jener Unbe- aktionen, Reizbarkeit und Albträume treten auf. kannte, den wir zufällig Anfang März 2001 auf der größten Kriegsgräberanlage des Landes Mecklen- Die Posttraumatische Belastungsstörung burg-Vorpommern auf dem Golm (Insel Usedom) tra- Die Mannheimer Kohortenstudie (Schepank 1987) be- fen. Im Gedenkraum informierten wir uns über das legte, dass es Zusammenhänge zwischen dem eige- damalige Geschehen: Anfang März 1945 war Swine- nen Erleben in der frühen Kindheit und der psychi- münde mit Flüchtlingen und Soldaten überfüllt. Östlich schen Gesundheit bzw. Krankheit in der Gegenwart der Swine warteten endlose Trecks auf die Möglich- gibt. Untersuchungen von Holocaust-Opfern zeigten, keit einer Überfahrt. Der Hafen war voll von Flücht- dass die schweren Traumatisierungen in lingsschiffen aus Hinterpommern, West- und der Kindheit gravierende Auswirkungen Ostpreußen. Auf dem Bahnhof standen auf ihre psychische Gesundheit haben überfüllte Lazarettzüge zur Abfahrt bereit, als können. Krankheitsbilder, die in Folge sol- 671 amerikanische Bombenflugzeuge am 12. cher Traumatisierungen auftreten, werden März 1945 die Stadt in ein brennendes Inferno als „Posttraumatische Belastungsstörung“ verwandelten. Mehr als 20 000 Menschen (PTBS) bezeichnet. „Trauma“ wird dabei starben in den Mittagsstunden dieses Tages. als eine Erfahrung definiert, die weit über Den Überlebenden bot sich ein grauenvolles der üblichen menschlichen Erfahrung liegt Bild. Es blieb keine Zeit für eine Registrierung und bei fast jedem psychisches Leiden der Toten. Die Front rückte nach und mit ihr zur Folge haben kann, z. B. bei den tausende weitere Flüchtlinge. Wegen der Überlebenden, Angehörigen der Opfer Seuchengefahr mussten die Toten und Augenzeugen der brutalen schnellstens bestattet werden. Terroranschläge in den USA am 11. September 2001, die die Welt Während wir uns darüber unterhielten, erschütterten. Dass die Auswirkungen bis unterbrach uns dieser Unbekannte: „Es war ins hohe Alter bei einem Teil der noch viel schlimmer, als es hier geschildert „Die Frierende“, wird.“ Er berichtete uns, dass er damals bei Betroffenen des NS-Regimes hin- Kriegsgräberanlage einwirken, wiesen Kruse und Schmitt auf dem Golm der Bestattung der Toten dabei gewesen sei. (1994) bei einer Untersuchung jüdischer (Insel Usedom) Er könne sich noch an das erste Opfer Lagerhäftlinge nach. Jüngst zeigte eine erinnern, das er begrub: Ein Soldat übergab Veröffentlichung, dass nach Balkan-Einsätzen die ihm ein Baby. Er nahm es in die Arme und legte es Zahl von Bundeswehrsoldaten mit PTBS, der auf dem Golm ins Grab – so wie man ein Baby bestat- schwersten aller Stress-Reaktionen, steigt. Dabei tre- tet. Später aber warf man die Toten fuhrwerkweise in ten die traumatischen Beschwerden zum Teil erst lan- die eilends ausgehobenen Gruben. Weiterreden konn- ge nach dem Einsatz auf. te auch dieser Mann nicht mehr.

Da Kriege in den Seelen von Menschen ihren Ursprung haben, muss auch die Verteidi- gung des Friedens in der Seele des Menschen entstehen. Präambel der UNESCO (1945)

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Opfer der beiden Weltkriege *

1. Weltkrieg Gefallene deutsche Soldaten ...... 1 973 000 Vermisste deutsche Soldaten...... 100 000 Gefallene und vermisste Soldaten der übrigen Welt...... 7 200 000 Verluste der Zivilbevölkerung der Welt...... 500 000 Menschenverluste im 1. Weltkrieg insgesamt...... 9 737 000

2. Weltkrieg Gefallene deutsche Soldaten (einschl. Österreicher)...... 3 100 000 Vermisste deutsche Soldaten (einschl. Österreicher) ...... 1 200 000 Verluste der deutschen Zivilbevölkerung ...... 500 000 Verluste durch Vertreibung und Verschleppung ...... 2 251 500 Verluste der Zivilbevölkerung in Österreich...... 24 300 Verluste der Deutschen durch politische, rassische und religiöse Verfolgung ...... 300 000 Deutsche Verluste insgesamt ...... 7 375 800

Verluste der Streitkräfte Italiens ...... 313 000 Verluste der Zivilbevölkerung Italiens...... 165 700 Verluste der Streitkräfte der westlichen Alliierten **...... 610 000 Verluste der Zivilbevölkerung der westlichen Alliierten ** ...... 690 000 Verluste der Streitkräfte der ost- und südosteuropäischen Länder (ohne Sowjetunion) ...... 1 000 000 Verluste der Zivilbevölkerung der ost- und südosteuropäischen Länder (ohne Sowjetunion) ***...... 8 010 000 Verluste der sowjetischen Streitkräfte **** ...... 13 600 000 Verluste der Zivilbevölkerung der Sowjetunion ...... 6 700 000 Verluste der Streitkräfte der Vereinigten Staaten...... 229 000 Verluste der Streitkräfte der übrigen Welt, insbesondere Ostasiens ...... 7 600 000 Verluste der Zivilbevölkerung der übrigen Welt, insbesondere Ostasiens...... 6 000 000 Vermisste des 2. Weltkrieges, soweit als verstorben anzusehen ...... 3 000 000

Menschenverluste im 2. Weltkrieg insgesamt...... 55 293 500 Kriegsbeschädigte des 1. Weltkrieges...... 21 100 000 Kriegsbeschädigte des 2. Weltkrieges...... 35 000 000

Über 120 Millionen Menschen verloren in den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts Leben und Gesundheit! Hinter diesen Zahlen stehen Schicksale.

* Das Zahlenmaterial stammt aus Unterlagen der Deutschen Dienststelle in Berlin, der früheren Wehr- machts-Auskunftsstelle (WASt), Arbeitsbericht 1986 – 1988. ** = ohne die Vereinigten Staaten. *** Bei Kriegsende belief sich die Zahl der ermordeten jüdischen Männer, Frauen und Kinder auf fast 6 Mil- lionen (Quelle: Dokumentation Obersalzberg, Berchtesgaden) **** Nach neueren Angaben der sowjetischen Behörden (23.3.1991) sind im Zweiten Weltkrieg 8 668 400 Soldaten umgekommen. Die sowjetischen Gesamtverluste sollen 27 Millionen Menschen betragen.

Die 55 293 500 Toten des Zweiten Weltkrieges sind eine unvorstellbar große Zahl. Jemand hat einmal nachgerechnet und stellt es sich so vor:

Jeweils 50 Menschen stehen nebeneinander in einer Reihe. Hinter ihnen stehen eng gedrängt wieder 50 Menschen.

Und das setzt sich fort, über 1 Million Mal und ergibt eine Strecke von über 1000 km, A-Bomb Dome (Atombomben-Dom), das bekannteste die von den Alpen bis zur Nordsee reicht. Wahrzeichen in Hiroshima, ehemals ein Bürohaus. Hier gedenken jedes Jahr am 6. August die Menschen der Opfer des Atombombenabwurfs am 6.8.1945 um 8.15 Uhr. Bis zum Jahre 2001 waren es 221 893 Tote.

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Kriege und Konflikte in der Welt seit 1945 (Auszug)

Kriege und Konflikte Zeit Kriege und Konflikte Zeit

Palästina-Unruhen 1945 – 1948 „Fußballkrieg“ zwischen Juli 1969 Indonesischer Unabhängig- 1945 – 1949 El Salvador und Honduras keitskampf Chinesisch-sowjetische seit 1969 Griechischer Bürgerkrieg 1945 – 1949 Grenzkonflikte Chinesischer Bürgerkrieg 1946 – 1949 1. Kambodscha-Invasion 1970 1. Vietnamkrieg 1946 – 1954 Indisch-pakistanischer Krieg 1971 Kaschmirkonflikt (Indien, Pakis- 1947 – 1949 und ostpakistanischer Bürger- tan) seit 1965 krieg 1. Israelisch-arabischer Krieg 1948 – 1949 4. Israelisch-arabischer Krieg 1973 Aufstand in Malaysia 1948 – 1950 („Jom-Kippur-Krieg“) Bürgerkrieg in Kolumbien 1948 – 1953 2. Libanesischer Bürgerkrieg seit 1975 Südmolukken-Aufstand 1950 Kämpfe um das ehemalige seit 1975 Chinesischer Einmarsch in Ti- 1950 – 1951 Spanisch-Sahara bet 2. Kambodscha-Invasion 1978 Korea-Krieg 1950 – 1953 Somalisch-äthiopischer 1978 Aufstände in Marokko 1953 – 1956 Krieg Revolutionskrieg in Kuba 1953 – 1959 Jemenitischer Krieg 1979 Algerien-Krieg 1954 – 1962 (Süd- und Nordjemen) 2. Vietnam-Krieg 1954 – 1975 Tansanisch-ugandischer 1979 Unruhen auf Zypern (Türkei, 1955 – 1959 Krieg Griechenland, UNO) 1963 – 1967 Chinesisch-vietnamesischer 1979, 1987 1974 Grenzkrieg 2. Israelisch-arabischer Krieg 1956 Afghanistan 1980 – 1988 („Suez–Krieg“) Libanonfeldzug 1982 Ungarn-Aufstand 1956 Falklandinseln 1982 1. Libanesischer Bürgerkrieg 1958 Bürgerkrieg in Nicaragua seit 1982 Indisch-Chinesische Grenz- 1959 – 1962 Sri Lanka seit 1983 konflikte Sudan seit 1983 Aufstand in Tibet 1959 – 1960 Bürgerkrieg in Mosambik 1987 – 1993 Laotischer Bürgerkrieg 1959 – 1975 Bürgerkrieg in Somalia 1988 Rassenunruhen in Südafrika 1960 – 1994 Liberia 1989 Kongo-Krisen 1960 – 1964 ehem. UdSSR (Bürgerkriege seit 1990 1967 – ? und Nationalitätenkonflikte in Schweinebucht-Invasion 1961 Armenien, Aserbaidschan, (Kuba, USA) Moldawien, Georgien, Tsche- Goa-Invasion 1961 tschenien, Tadschikistan) Unabhängigkeitskrieg in Portu- 1961 – 1974 Golfkrieg (Irak, Kuwait, UNO) 1990 – 1991 giesisch-Guinea Bürgerkrieg in Jugoslawien seit 1991 Unabhängigkeitskrieg in 1961 – 1975 Bürgerkrieg in Sierra Leone seit 1993 Mosambik Bürgerkrieg in Burundi seit 1994 Unabhängigkeitskrieg in 1961 – 1976 Bürgerkrieg in Jemen 1994 Angola Israel (Intifada) seit 1995 Bürgerkrieg in bthiopien seit 1961 Ecuador – Peru 1995 Kurden-Kriege in Iran und 1961 – 1970 Kenia u. Tansania (Bombenan- 1998 Irak seit 1974 schläge auf US-Botschaft) Jemenitischer Bürgerkrieg 1962 – 1970 Serbien und Kosovo 1998 – 1999 Aden-Krise 1962 – 1967 Kongo 1998 – 1999 Indonesisch-malaysischer 1963 – 1966 bthiopien – Eritrea 1998 – 2000 Krieg Bosnien 1999 Dominikanischer Bürgerkrieg 1965 Ost-Timor 1999 Bürgerkrieg in Rhodesien 1965 – 1980 Kaschmir (Indien – Pakistan) 1999 3. Israelisch-arabischer Krieg 1967 Tschetschenien 1999 („Sechs-Tage-Krieg“) Israel (Al-Aksa-Intifada) seit 2000 Biafra-Krieg 1967 – 1970 Indonesien (Rassenunruhen) 2001 Invasion in der Tschechoslo- 1968 USA (Terroranschläge) 2001 wakei USA (und europäische Länder) 2001 Bürgerkrieg in Irland seit 1968 – Afghanistan

14 Einige Fakten dazu: • Die Waffenarsenale und modernen Waffenver- Allen internationalen Konflikten seit 1945 ist gemein- nichtungsmittel mit ihrer Computerisierung neh- sam, dass sie ohne förmliche Kriegserklärung began- men immer mehr zu. Zu diesen gehören neben nen, wie sie eigentlich die Haager Landkriegsordnung den Atomwaffen die biologischen und chemischen von 1907 zwingend vorschreibt, so dass sie formal ei- Waffen. Sie reichen aus, um die Menschheit gentlich keine Kriege waren. Deshalb fanden sie, so- mehrmals zu vernichten. Die B-Waffen sind als fern sie nicht noch weitergehen, bisher ihr (vorläufi- „Atombombe des armen Mannes“ (B-Terrorismus) ges?) Ende allenfalls durch Waffenstillstände. Die bekannt und stellen eine große Gefahr dar. Trotz einzige Ausnahme ist der Friedensvertrag zwischen völkerrechtlichen Verbots werden C-Waffen welt- bgypten und Israel (1979), der nach dem Willen der weit in großem Umfang hergestellt. beiden beteiligten Staaten und der USA den Auftakt • Mikrowellenwaffen mit der Möglichkeit der Ge- zu einer allgemeinen Friedensregelung im Nahen Os- hirnwellenmanipulation und „Cyber-Soldaten“ er- ten bilden sollte, aber seine Dauerhaftigkeit noch er- möglichen aus der Sicht der Verantwortlichen den weisen muss. Die meisten Kriege und bewaffneten „perfekten Krieg“. Sie sind deshalb so tückisch, Konflikte seit 1945 sind sog. „low intensity wars“, bzw. weil sie mit den menschlichen Sinnesorganen „low intensity conflicts“ (= Kriege und Konflikte von ge- nicht wahrgenommen werden können. ringer Heftigkeit), in denen der vermeintlich Schwä- • Die verheerende Zerstörungskraft der Bomben chere besiegt wurde. In diesen Kriegen und / oder von Hiroshima und Nagasaki ist vergleichsweise bewaffneten Konflikten kamen aber besonders viele gering gegenüber der Zerstörungskraft heutiger Menschen ums Leben, vor allem Zivilpersonen. Atombomben. Von 1953 bis in die 90er Jahre wurde im Schnitt alle 10 Tage eine Atom- oder • Bei den internationalen Konflikten seit 1945 han- Wasserstoffbombe zu Testzwecken gezündet. delte es sich um Ost-West-Konfrontationen im • Wie die Kriege im Kaukasus und im Kosovo zei- Kalten Krieg oder es lagen ihnen ältere Konflikte gen, wird auf die Bevölkerung keine Rücksicht zwischen zwei oder mehreren Staaten zugrunde, genommen. Die Langzeitfolgen für die Zivilbevöl- deren Wurzeln sich in die vorkoloniale Zeit zu- kerung mit den gesundheitsschädlichen Auswir- rückverfolgen lassen. kungen sind auch langfristig nicht abschätzbar. • Parallel zur Anzahl der Kriege konnte seit 1945 • Der Begriff „Krieg“ wird oft umschrieben, z. B. eine stetige Zunahme der Waffenarsenale beob- „bewaffneter Konflikt“ oder „Operation“. Die Zivil- achtet werden. Mitte der 70er Jahre waren viele opfer bezeichnet man als „Kollateralschaden“. Atomwaffen in Deutschland stationiert und viele Atomraketen auf Deutschland gerichtet. Die gegenwärtige weltpolitische Lage zeigt, dass • Zwei Kategorien können gebildet werden: nationa- das Streben nach Frieden und Kooperation eine le und internationale Konflikte. Zwei Drittel aller dringende Aufgabe aller Staaten ist, wenn Mensch Kriege seit 1945 sind innerstaatliche und nur ein und Natur dieses Jahrhundert überleben sollen. knappes Viertel internationale Kriege. Allein 1992 wurden mit 52 Kriegen so viele Kriege geführt wie Christa Wolf schreibt in ihrem Buch „Kassandra“, dass nie zuvor seit 1945. es auch einen Vorkrieg gibt, der sich z. B. in der • Zwischen 1945 und 1992 war eine stetige Zu- Sprache äußert. Ganz deutlich zeigte sich das in der nahme der Kriege zu beobachten. Über 90 Pro- Vergangenheit in unserem Verhältnis zu Frankreich. zent fanden in Regionen der Dritten Welt statt. Schon lange vor den Kriegen wurde über die andere • 2001 gab es weltweit 46 Kriege. Am stärksten be- Nation gehetzt. Die Pädagogische Handreichung des troffen war Asien mit 16, Afrika mit 14 sowie der Landesverbandes Bayern „Deutsche und Franzosen – Vordere und Mittlere Orient mit 12 Konflikten. Es 1870/71 – Durch den Krieg gewinnt man keinen Frie- folgten Lateinamerika und Europa mit jeweils zwei den“ und die zweisprachigen Handreichungen „Von kriegerischen Auseinandersetzungen. der Erbfeindschaft zur deutsch-französischen Freund- Nach Schätzung der Arbeitsgemeinschaft Kriegs- schaft“ (3 Hefte) zeigen das in anschaulicher Weise ursachenforschung an der Universität Hamburg auf. Im Golf-Krieg und im Kosovo-Konflikt lag der sind in diesen Kriegen seit deren Beginn mehr als Krieg schon lange vor dem Ausbruch förmlich „in der 7 Millionen Menschen zu Tode gekommen – die Luft“. meisten von ihnen Zivilisten. • Die gegenwärtigen Kriege fordern Millionen To- desopfer und noch mehr Verwundete, wobei der Anteil der getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zu den gefallenen Soldaten ansteigt.

Hass bringt uns nicht weiter. Jeder Einzelne von uns muss Liebe in die Welt hinaustra- gen. Gerade jetzt. Ein Hinterbliebener des Terroranschlages in New York, 2001

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Aus der Satzung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Präambel

Arbeit für den Frieden bedeutet für den Volksbund:

• Toleranz zu üben und ein humanes Menschenbild zu wahren, • für die freiheitlich demokratische Grundordnung und für die Versöhnung innerhalb des Volkes einzutreten, • das humanitäre Völkerrecht zu achten, • um die Aussöhnung und Verständigung der Völker bemüht zu sein, • die Begegnung und das gemeinsame Wirken junger Menschen aller Nationen an den Gräbern zu fördern.

Die Arbeit des Volksbundes hat diesen Zielen zu dienen. Sie steht, aufbauend auf den Wertvorstellungen un- seres Kulturverständnisses, die das Gedenken an die Toten gebieten, unter dem Leitwort

Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden.

§ 2 der Satzung: Der Volksbund hat folgende Aufgaben:

1. Das verpflichtende Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft als Mahnung zum Frieden un- ter den Völkern und zur Achtung der Würde und der Freiheit des Menschen zu wahren und zu pflegen; 2. für die Ruhestätten der deutschen Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft im In- und Ausland zu sorgen; [...] 3. die deutschen Kriegstoten beider Weltkriege und ihre Gräber zu erfassen; 4. die Angehörigen der Kriegstoten in Angelegenheiten der Kriegsgräberfürsorge zu betreuen; [...] 7. den Volkstrauertag zu gestalten oder an seiner Gestaltung mitzuwirken; 8. die Begegnung junger Menschen an den Ruhestätten der Toten und die Auseinandersetzung mit deren Schicksal zu fördern; 9. Jugend- und Bildungsarbeit zu betreiben [...]

Diese Aufgaben des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge sind zeitlos.

Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden

Junge Menschen sammeln für die Friedensarbeit des Volksbundes Drei Generationen treffen sich am Kriegsgrab in Lommel (Belgien). Deutsche Kriegsgräberfürsorge und engagieren sich für die Jährlich kommen ca. 700 000 Besucher auf unsere Kriegsgräber- Kriegsgräber„fürsorge“. stätten im In- und Ausland.

Wir sprechen von den Gesetzen des Krieges, als ob der Krieg nicht die Zerstörung aller Gesetze wäre. Nicolas Léonard Sadi Carnot (1796 – 1832)

16 Auszüge aus den Grundsätzen der Jugend- und Schularbeit im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

Auftrag der Jugend- und Schularbeit des Volksbundes:

Die Arbeit des Volksbundes geht im In- und Ausland von den Grabstätten der Opfer von Krieg und Gewalt aus. Die Pflege der Kriegsgräberstätten und das verpflichtende Gedenken an diese Opfer als Mahnung zum Frieden sind satzungsgemäße Aufgaben des Volksbundes. Diese Aufgabe wird schwieriger, weil immer mehr Menschen den Jahrgängen entstammen, die den letzten Weltkrieg nicht erlebt haben. Im gleichen Maße wird sie für die Nach- kriegsgeneration bedeutungsvoller: Neben dem Gedenken an die Opfer von Krieg und der Gewalt wird die Mah- nung zum Frieden zu einem weiteren vorherrschenden Motiv für die Unterstützung der Arbeit des Volksbundes. Dies geschieht durch die Begegnung junger Menschen an den Ruhestätten der Toten.

Die Bereiche der Jugend- und Schularbeit sind insbesondere: – friedenspädagogisches Arbeiten in den Schulen und Jugendbegegnungsstätten; – Durchführung von Jugendlagern; – Mitarbeit in Jugendarbeitskreisen.

Ziele der Jugend- und Schularbeit und deren Verwirklichung

Ziel [...] ist es, junge Menschen zu einer gesellschaftspolitischen Verantwortung unter friedenspädagogischen As- pekten zu erziehen und sie gleichzeitig für die ideellen und praktischen Aufgaben des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. zu gewinnen. Das bedeutet, junge Menschen sollen • durch ihre Mitarbeit einen Beitrag für die Völkerverständigung leisten; • sich angesichts der Gräber als Folge von Krieg und Gewaltherrschaft mit der Vergangenheit auseinander set- zen und für ein Zusammenleben der Völker in Frieden und Freiheit eintreten; • verstehen, inwieweit geschichtliche Entwicklungen, menschliche Unzulänglichkeiten und menschliche Verir- rungen jene Umstände hervorbrachten und hervorbringen, die zum gewaltsamen Tod vieler Menschen führten und immer noch führen; • erkennen, dass Menschen verschiedener Völker, Kulturen, Religionen und Generationen nur dann in Frieden miteinander leben können, wenn sie Verständnis füreinander aufbringen; • erkennen, dass Toleranz die Voraussetzung für ein Miteinander ist; • begreifen, dass die verantwortliche Mitarbeit jedes Einzelnen Grundlage der Demokratie ist.

Jugendliche bei einem Jugendlager in Cannock Chase (England). In über 4.000 nationalen und internationalen Jugendlagern haben freiwillig bis jetzt mehr als 180 000 junge Menschen verschiedener Nationen teilgenommen, auf den Gräbern gearbeitet, im Gespräch Versöhnungsarbeit geleistet und sind dabei Freunde geworden.

So äußert sich ein Teilnehmer dazu: Koschek aus Polen: „Ich finde es gut, dass sich die Na- tionen über den Gräbern versöh- nen, denn es gibt schon zu viele Unterschiede zwischen uns. Wir verstehen uns sehr gut und wir leis- ten einen kleinen Beitrag für den Frieden. Diese Idee finde ich gut, und deswegen bin ich auch hier.“

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Der Volkstrauertag

Geschichte des Volkstrauertages

Am Volkstrauertag gedenken das deutsche Volk und Ideen“ im Mittelpunkt der Feiern zum Volkstrauertag mit ihm die Repräsentanten des Staates der Opfer stehen, sondern der Tag diente der Demonstration von Krieg und Gewalt. Getrauert wird in den Gemein- der „Macht und des Wehrwillens des Dritten “. den, an Kriegerdenkmälern, in Kirchen, auf Kriegs- „Heldentum“, „Opfer“ und „Kampfbereitschaft“ waren gräberstätten und in einer zentralen Gedenkstunde die Schlagworte. Der Heldengedenktag fand immer der Bundesregierung in Berlin. am 5. Sonntag vor Ostern statt und wurde aus der Bindung an das Kirchenjahr herausgelöst. 1939 wurde 1920: der erste Volkstrauertag dieser Tag einheitlich auf den 16. März verlegt und in- Der Volkstrauertag wurde 1920 vom Volksbund (ge- haltlich mit der „Wiederherstellung der Wehrhoheit“ gründet am 16. 12. 1919) als Gedenktag an die verbunden. Sinngehalt und Datum hatten nichts mehr Kriegstoten des 1. Weltkrieges eingeführt. Nicht „be- mit dem früheren Volkstrauertag zu tun. Unverhüllt fohlene Trauer“ war das Motiv, vielmehr sollte der Tag wurde seitens der Regierung über die Auflösung des ein nicht zu übersehendes Zeichen der Solidarität Volksbundes gesprochen. Zuletzt wurde kaum noch sein. Verbundenheit derjenigen, die der Krieg ver- der Kriegstoten gedacht. Der letzte Heldengedenktag schont hatte, mit den Hinterbliebenen, die persönliche wurde 1945 begangen. In seiner hasserfüllten Rede Verluste zu beklagen hatten. Am 5. März 1922 fand ging Hitler mit keinem Wort auf die Millionen Opfer die erste offizielle Volkstrauertagsfeier im Deutschen des bestehenden Krieges ein. Reichstag zu Berlin statt. Reichstagspräsident Löbe hielt die Rede. In einem von Feindbildern geprägten 1950: Volkstrauertag in der Bundesrepublik Europa stellte er Versöhnung und Verständigung un- Deutschland ter den Völkern in den Mittelpunkt seiner Ansprache. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde der Volkstrauertag auf Betreiben des Volks- 1923: Festlegung auf einen bestimmten Tag bundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge wieder einge- 1923 einigte man sich darauf, den Volkstrauertag auf führt. 1950 fand die erste zentrale Gedenkfeier nach den 1. Fastensonntag (6 Wochen vor Ostern) zu le- dem Krieg im Plenarsaal des Deutschen Bundestages gen. Auf ausdrücklichen Wunsch der evangelischen in statt. In Erinnerung an die Zeit vor 1933 ver- Kirche wurde er später auf den 2. Fastensonntag ver- legte man diese Veranstaltung auf den 1. Fastensonn- legt. tag und seit 1952 auf den zweiten Sonntag vor dem 1. Adventsonntag. Druck von der NSDAP Schon vor der Machtergreifung Hitlers wurde von der Nach 1945: Das Gedenken an die Opfer des Fa- NSDAP auf den Volksbund Druck ausgeübt. Anfangs schismus in der SBZ und DDR war er nur gegen das christliche Symbol der fünf Auch in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und Kreuze gerichtet, später ging man zu massiven Dro- später in der DDR fanden Gedenkstunden für die Op- hungen über. fer des Faschismus (OdF) statt. Die „Deutsche Volks- zeitung“ schrieb dazu bereits am 1. Juli 1945: „Opfer 1934: Heldengedenktag des Faschismus sind Millionen Menschen und alle Das Reichsgesetz vom 27. 2. 1934 bestimmte den diejenigen, die ihr Heim, ihre Wohnung, ihren Besitz Volkstrauertag zum Staatsfeiertag und benannte ihn verloren haben. Opfer des Faschismus sind die Män- um in „Heldengedenktag“. Die amtliche Begründung ner, die Soldat werden mussten und in den Bataillo- vermischte die Volkstrauertagstradition mit NS-Politik, nen Hitlers eingesetzt wurden, sind alle, die für Hitlers da sie die Opfer des Ersten Weltkrieges mit den getö- verbrecherischen Krieg ihr Leben geben mussten. Op- teten NSDAP-Anhängern gleichsetzte. Damit wurde fer des Faschismus sind die Juden, die als Opfer des auch der Volksbund von den Nationalsozialisten für Rassenwahns verfolgt und ermordet wurden, sind die ihre Ziele missbraucht. Träger des Volkstrauertages Bibelforscher und die ‚Arbeitsvertragssünder’ ... Aber war jetzt nicht mehr der Volksbund, sondern waren soweit können wir den Begriff ‚Opfer des Faschismus’ die Wehrmacht und die NSDAP. Die Richtlinien über nicht ziehen. Sie haben alle geduldet und Schweres Inhalt und Durchführung erließ der Reichsminister für erlitten, aber sie haben nicht gekämpft.“ Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Joseph Goeb- bels. Nicht die Trauer um die Gefallenen, nicht der Die militärischen und zivilen Kriegstoten wurden au- Gedanke der Versöhnung und Verständigung zwi- ßerdem nicht in die staatliche Trauer einbezogen. Es schen den Völkern sollte als „überholte pazifistische war nicht erwünscht, über die toten „Deutschen“ zu

Es gibt nur ein Heldentum: die Menschen zu kennen und sie trotzdem zu lieben. Romain Rolland (1866 – 1944)

18 sprechen, schon gar nicht, nach gefallenen Angehöri- wesentliche Aufgabe des Volkstrauertages ist es, gen zu fragen. Es gab auch keine Gedenkplatten, die Ausdruck der Trauer, des Gedenkens und des Nach- die Namen der deutschen Opfer festhielten. Vielmehr denkens zu sein. Vom Volkstrauertag soll ein Denk- wurden die sowjetischen Helden z. B. mit Kranznie- anstoß für das ganze Volk und für jeden Einzelnen derlegungen geehrt. Die Fürsorge um die Gräber, so ausgehen. Bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Kir- sie denn auf dem Gebiet der DDR waren, wurde che, Wissenschaft und Kultur unterstreichen mit ihren privaten Initiativen und der evangelischen Kirche Gedenkreden die Bedeutung des Auftrages und die überlassen. Über die Gräber im Ausland gab es Arbeit des Volksbundes. offiziell keine Informationen. „Nach Gräbern deutscher Soldaten sucht man nicht!“ hieß es. Bei Nachfragen Gedenken an die Toten musste man mit „Konsequenzen“ rechnen. „Hunderttausend Tote, das ist eine Statistik. Aber ei- Festhalten an dem Gedenktag für die OdF ner, der fortgeht und nicht wiederkommt, das Die DDR hielt bis zu ihrem Ende an dem Gedenktag schmerzt – das ist viel mehr“, äußerte Antoine de für die OdF fest. Dafür wurde zumindest bis 1966 der Saint-Exupéry. Diese hunderttausend Toten sind aber 12. September und danach der 10. September fest- auch „hunderttausend“ eigene und einmalige Namen gesetzt. Spätestens seit 1979 führte der Tag auch die und „hunderttausend“ einzelne Schicksale der betrof- Bezeichnung „Internationaler Gedenktag für die Opfer fenen Familien: der Frauen, Kinder und der Eltern. Es des faschistischen Terrors und Kampftag gegen Fa- waren aber nicht nur „hunderttausend Tote“, son- schismus und imperialistischen Krieg“. Neben dem dern über 120 Millionen Menschen, die in den bei- Gedenktag für die OdF hatte die Vereinigung der Ver- den Weltkriegen Leben oder Gesundheit verloren. folgten des Naziregimes (VVN) seit 1947 die Tradition begründet, alljährlich die Befreiungstage einzelner All diese Menschen unterschiedlichster Nationalität Konzentrationslager zu begehen. hatten Wünsche und Hoffnungen auf eine Zukunft, die aufgrund menschenverachtender Politik brutal zerstört Volkstrauertag nach der Wiedervereinigung wurden. Millionen Frauen litten nach dem Tod ihres 1992 – nach der Wiedervereinigung Deutschlands – Mannes Not und mussten ihre Kinder alleine erziehen. fand die zentrale Gedenkstunde der Bundesregierung Millionen Kinder haben ihren Vater nie kennen gelernt zum Volkstrauertag wieder in Berlin (in der Berliner und mussten ohne ihn aufwachsen. Millionen Men- Philharmonie) statt. 1993 wechselte man in das schen mussten in Bombennächten oder auf der Flucht Reichstagsgebäude über. Als dieses umgebaut wur- ihr Leben lassen. Millionen starben an den Kriegsfol- de, war bis 1998 der Berliner Dom Rahmen der Zent- gen, in den KZs oder als Zwangsarbeiter (s. „Opfer ralveranstaltung. Seit 1999 ist der Plenarsaal des der beiden Weltkriege“, S. 13). Viele von ihnen haben Reichstagsgebäudes Veranstaltungsort der zentralen auf den Kriegsgräberstätten des Volksbundes Deut- Gedenkstunde der Bundesregierung. Schirmherr ist sche Kriegsgräberfürsorge ihre letzte Ruhestätte ge- jeweils der amtierende Bundestagspräsident. Die funden. Sie sind Mahnung zum Frieden.

Jedes Jahr, meist im Herbst, führt der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eine Haus- und Straßensammlung durch. Auch bei der Musikschau der Nationen in Bremen und ähnlichen Veranstaltungen sammeln junge Menschen für die Friedensaufgaben des Volksbundes.

Bitte helfen Sie mit bei dieser wichtigen Arbeit!

Wenn von einem geliebten Menschen nicht mal ein Grab bleibt, an dem man weinen kann, entsteht ein dauerhafter Vermisstenzustand. Sibylle Jatzko, Psychotherapeutin, 2001

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Hinführung von Jugendlichen zum Volkstrauertag

Junge Menschen sollten an die Bedeutung des Volks- greifen, das Sich-Erinnern und das Kennen lernen von trauertages herangeführt und in die Gestaltung einer Fakten und die Konfrontation. Um emotional betroffen Gedenkstunde eingebunden werden. Nur aus dem zu werden, muss auch ein persönliches Interesse vor- Erkennen der Zusammenhänge und aus der emotio- liegen. Kann die heutige junge Generation für Kriegs- nalen Betroffenheit angesichts der Schicksale der vie- ereignisse des vergangenen Jahrhunderts und die len Opfer kann eine Haltung erwachsen, die dauerhaft Folgen sensibilisiert werden? Wir meinen „ja“. auf Frieden und Versöhnung ausgerichtet ist. Zu die- Vier Stufen führen dazu, wobei die Reihenfolge stu- ser Betroffenheit findet man durch emotionales Be- fenartig (Stufenmodell) oder auch beliebig sein kann.

Modell zur Entwicklung emotionaler Betroffenheit bei Jugendlichen

Vermittlung von Aufdeckung der Entwicklung eines Konfrontation mit der Grundlagenwissen, Geschichte mit ihren Geschichtsbewusstseins Geschichte an Orten, das inhaltlich zum Fakten – Vergleich und Einbeziehung der an denen Leid und das Volkstrauertag mit der heutigen Zeit nationalen Geschichte persönliche Schicksal gehört in der heutigen, politisch von Menschen der veränderten Welt damaligen Zeit nachvoll- zogen werden können

Emotionale Betroffenheit kann sich erst im Zusammenspiel dieser vier Voraussetzungen entwickeln! Sie wird durch aktives Handeln an geschichtsträchtigen Orten verstärkt (z. B. Teilnahme an einem Jugendlager oder sonstigen Aktivitäten). Emotionale Betroffenheit kann nicht verordnet oder abgefragt werden! Sie muss von selbst aus dem Inneren kommen, kann und sollte aber durchaus von außen angeregt werden.

Vermittlung von Grundlagenwissen, das ration – Teil der Zeitgeschichte waren bzw. sind. In inhaltlich zum Volkstrauertag gehört diesem Zusammenhang müssen das Verhalten und die Wertvorstellung der damaligen Bevölkerung ana- Das ist eine Voraussetzung, um später emotionale lysiert werden. Hier geht es auch darum, latente Er- Betroffenheit auch bei jungen Menschen zu erzeugen. lebnisse, die oft traumatischer Art sind, der damaligen In dieser Handreichung wurde dazu auf wichtige Generation aufzuzeigen und so ein Gespräch zwi- Grundbegriffe wie „Tod“, „Trauer“, „Erinnerung“, schen Generationen zu ermöglichen und Versöh- „Krieg“, „Gewalt“ eingegangen, auf verwandte The- nungsarbeit in den Familien zu leisten. men hingewiesen und Hintergrundwissen dazu gebo- ten. Eine Behandlung dieser Themen im Unterricht Schwierigkeit einer Aufarbeitung kann unabhängig vom Volkstrauertag erfolgen. Die Warum leiden heute noch viele unter den Erlebnissen Lehrpläne der Bundesländer schaffen hierfür die Vor- der damaligen Zeit? Sie waren in einem autoritären aussetzungen. Die pädagogischen Handreichungen System aufgewachsen, das in die Familie hineinwirk- des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge sol- te, weil auch die Generation davor autoritäre Struktu- len dazu Anregungen geben. Der Aufenthalt in einer ren zeigte. Die Erziehung zum Individuum mit dem in- Jugendbegegnungsstätte des Volksbundes Deutsche dividuellen und freiheitlich-demokratischen Denken Kriegsgräberfürsorge und der Besuch der dazugehö- und Handeln unserer Zeit gehörte nicht zum damali- rigen Kriegsgräberstätte bieten sich für die Bearbei- gen Erziehungsstil. „Einordnen, Gehorchen und An- tungen dieser Thematik hervorragend an. ordnungen ausführen“ lautete das Motto bei der Mehrheit der Bevölkerung – und übrigens noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Alle waren in die damaligen Aufdeckung der Geschichte mit ihren Zwänge, die Denkmuster, die Sprache und die Fakten – Vergleich mit der heutigen Zeit Werteordnung eingebunden. Der Erziehungsstil war autoritär. Verbote und Strafen waren wichtige Wichtiger denn je ist es, dass Jugendlichen ein Ge- Erziehungsmittel. Der Vater war die Autorität in der schichtsbewusstsein vermittelt wird. Dazu gehört Familie, dem man ohne Widerrede gehorchte, und im auch, nicht nur abfragbares Faktenwissen der Ver- Staat war es der „Führer“, dem man bedingungslosen gangenheit zu vermitteln, sondern auch „in die Tiefe“ Gehorsam leisten musste. An diese Zeit erinnern sich zu gehen und Jugendlichen zu zeigen, dass ihre El- viele nur ungern, weswegen es schwierig ist, das tern und Großeltern – genauso wie die heutige Gene- damalige Geschehen aufzuarbeiten.

20 Aufdeckung der regionalen Geschichte zählungen ihrer Mutter. Und plötzlich war dieser Vater Auch die Aufdeckung der (regionalen) Geschichte nach dem Krieg da, traumatisiert vom Krieg: Er war während der NS-Zeit gehört heute dazu, denn die ein Fremder, der in das geordnete Familienleben mit SchülerInnen wollen wissen, was früher geschah. der Mutter als Bezugsperson eindrang. Konnte dann Immer mehr Schulen führen Projekte zu diesem The- überhaupt noch eine familiäre Beziehung mit dem Va- ma durch. Es geht nicht darum, Schuldgefühle zu er- ter als „Familienoberhaupt“ aufgebaut werden? zeugen, sondern sich der Vergangenheit zu stellen. Neben der Erinnerung muss auch die Bedeutung für die Gegenwart deutlich gemacht werden, denn das Thema ist hochaktuell. Die SchülerInnen könnten so Brücken schlagen zu Themen wie z. B. Rechtsextre- mismus, Ausländerfeindlichkeit, Terror und Terroris- mus, Gewalt im Alltag sowie ihrer Verharmlosung in den Medien und Computerspielen.

Geschichte begreiflich machen Die Geschichte der Eltern und Großeltern muss für die jetzige Generation begreiflich gemacht werden. Die persönliche Geschichte ist ein Teil der damaligen Zeitgeschichte, die durch Nöte und Zwänge, die Wer- teordnung der damaligen Zeit und das nationalsozia- listische Gedankengut geprägt war. Diese damaligen Werte der Eltern und Großeltern waren am 8. Mai 1945 plötzlich bedeutungslos. Dazu kam der Tod des „Führers“ und das Ende des Dritten Reiches. Das al- les wurde von vielen Menschen als persönlicher Ver- Der Vater lust empfunden und bedeutete auch das Ende man- kommt nach Hause. cher Selbsttäuschung. „Es ist aus!“ „Wie soll es jetzt weitergehen?“ fragten sich damals viele beim Anblick der zerbombten Städte und angesichts der materiellen Wichtige Aufgabe der Schule Not, des Leids und des persönlichen Verlustes von Es ist eine wichtige Aufgabe der Schule, die damalige Angehörigen und Freunden. Zeit und die damit verbundene persönliche Geschich- te der Erlebnisgeneration den SchülerInnen gegen- Die Rolle des Vaters wärtig zu machen. Vergleiche mit der heutigen Zeit Der Krieg war das zentrale Erlebnis im Leben vieler sind dabei unerlässlich, um aus der Geschichte zu Menschen und hat sie und ihre Kinder geprägt. Wa- lernen. Es muss immer wieder deutlich gemacht wer- rum haben diese Kinder oftmals kein Verhältnis zum den, dass die Irrwege im 20. Jahrhundert katastrophal Vater gehabt? Er war Soldat im Krieg gewesen und geendet haben und die Forderung nach einem geein- kannte sein Kind nur von Bildern, die er mit sich trug. ten und friedlichen Europa eine wichtige Aufgabe ist. Nur gedanklich konnte sich der Vater in der Ferne die Man sollte sich dabei nicht nur auf die NS-Zeit be- Entwicklung seines Kindes und die Arbeit seiner Frau schränken und auch nicht auf die beiden Weltkriege vorstellen. Das Bild war Trost und Halt an der Front allein. Die Vor- und Nachkriegsgeschichte ist dabei mit ihrem leidvollen Erleben, und der Vater hat die genauso wichtig wie das Verhalten anderer Staaten Familie zu Hause als „heile Welt“ empfunden. Der Va- zu Diktatoren – von Stalin bis zu Milosevic. Es gehört ter versuchte, aus der räumlichen und zeitlichen Fer- auch dazu, die Ursachen von Krieg, Gewalt und Ter- ne seiner väterlichen Verantwortung gerecht zu blei- rorismus in Europa und der übrigen Welt im 20. und ben und das Gespräch mit den Kindern durch Briefe beginnenden 21. Jahrhundert zu analysieren und die in Gang zu halten. Töchter und Söhne haben den Va- Folgerungen daraus zu ziehen. ter oft nicht persönlich gekannt, sondern nur aus Er-

... sich kennen lernen -

Wiedersehen nach Jah- ren der Kriegs- gefangenschaft. Viele Kinder und Väter kannten einander nicht.

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Entwicklung eines Geschichtsbewusst- Vergangenheitsbewältigung seins und die Einbeziehung der nationa- Andrzej Szcypiorski hielt bei einer Podiumsdiskussion den Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ für einen len Geschichte in der heutigen, politisch semantisch falschen Begriff, denn was vergangen sei, veränderten Welt das sei vergangen. Das Faktische ist das Vergange- ne, das als solches eben vergangen ist und nicht Die zentrale Frage dabei ist: Gibt es neben dem per- mehr geändert oder „bewältigt“ werden kann. Es geht sönlichen Erinnern auch ein nationales Erinnern? Was darum, die Vergangenheit zu verstehen, die jeder in heißt es, das Volk oder die Nation erinnert sich? Sol- sich trägt. Im individuellen Leben zählt und existiert len sich nur die älteren Menschen erinnern, die den nur das, was im Hier und Jetzt als Erinnertes gegen- Krieg miterlebt haben? Können sich denn junge Men- wärtig ist und zugänglich gemacht wird. Müller- schen der Nachkriegsgeneration überhaupt an den Hohagen hat dafür den Begriff der „Geschichte in uns“ Zweiten Weltkrieg, seine Auswirkungen und Folgen geprägt. für die Betroffenen „erinnern“? Sollen sie sich nur dar- an erinnern oder auch an gegenwärtiges Geschehen? Wichtig bei einer Aufarbeitung ist es auch zu erken- nen, dass Diktatoren nicht als solche geboren werden. Die Schuldfrage A. Mitscherlich und F. Mielke schreiben dazu im Vor- Neben der faktischen Erinnerung an Daten oder Ge- wort zu ihrem Buch „Medizin ohne Menschlichkeit“: gebenheiten wird häufig das Erinnern im Zusammen- „Es ist deshalb nicht genug, nur zu erschrecken über hang mit der deutschen Schuldfrage verdrängt, vor al- das, was geschehen konnte, sondern immer zugleich lem bei der Kriegsgeneration, die mit ihren Kindern die Wahrheit in sich einzulassen, dass es von Men- nicht über ihre persönliche Rolle im Dritten Reich schen getan wurde, die nicht als Monstren zur Welt spricht. Die Erinnerung daran macht sprachlos und kamen, die vielmehr oft in ziemlich unauffälliger Weise tief sitzende Sprachlosigkeit ist eine Langzeitfolge. mit geläufiger Begabung es zu Fachkenntnissen und Hannah Arendt schreibt dazu: „Eine ganze Reihe begehrten Stellungen in unserer Gesellschaft brach- Deutscher, die besonders nachdrücklich auf der deut- ten, ehe sie die erworbenen Fähigkeiten der Mensch- schen Schuld im Allgemeinen und ihrer eigenen lichkeit narkotisch lähmten und in eine weltzerstöreri- Schuld im Besonderen besteht, gerät in eigenartige sche Trieblust zurücksanken.“ Verwirrung, wenn sie ihre Meinung artikulieren muss. Diese Personen machen aus irgendeiner Mücke Die Vergangenheit aufarbeiten gleich einen Elefanten, während etwas wirklich Unge- Eine vollständige Aufarbeitung der NS-Geschichte heuerliches ihrer Aufmerksamkeit völlig entgeht. Eine und ihrer Folgen würde den Rahmen dieser Handrei- Variante dieser Verwirrung besteht darin, dass Deut- chung sprengen. An dieser Stelle wird deshalb nur die sche, die ihre eigene Schuld eingestehen, in vielen Problematik angerissen. Die Aufarbeitung unserer Fällen, nüchtern betrachtet, ganz unschuldig sind, Geschichte darf sich nicht nur auf die negativen Sei- wohingegen diejenigen, die sich wirklich etwas haben ten des Dritten Reiches beschränken. Dazu gehören zu Schulden kommen lassen, das ruhigste Gewissen auch z. B. die Widerstandsbewegung und die Erinne- der Welt haben.“ rung an unsere „Ferngeschichte“, d. h. die Jahrhun- derte davor. Aber auch die Nachkriegsgeschichte mit Die Sprachlosigkeit überwinden der Hinführung zu einem geeinten Europa ist gerade Es ist eine biologische Tatsache, dass die Kriegsge- aus dem Bewusstsein der eigenen Geschichte und neration stirbt und mit ihr verschwindet die persönli- der Verantwortung für die Zukunft wichtig. che Erinnerung, über die sie oft jahre- oder jahrzehn- telang nicht mit ihren Kindern gesprochen hat, weil sie teilweise traumatisiert war. Junge Menschen der heu- tigen Zeit – die Enkel und Urenkel dieser Generation – können sich nicht an das erinnern, was auch zur deutschen Geschichte gehört. Ihr Wissen haben sie aus Büchern, Filmen (teilweise verzerrten Inhalts) oder Erzählungen. Sie haben die damalige Zeit, die Not, die Zwänge, die damalige Werteordnung und die Die Geschichte hat Hierarchie der Nationalsozialisten mit dem „Führer“, ein dreifaches der auch „Anführer“ und Symbolfigur eines ganzen Antlitz: nach links, nach rechts und Volkes war, nicht erlebt. Er war das „Idol“ vieler, wie geradeaus, d. h. sie man im heutigen Sprachgebrauch sagen könnte. In schaut zurück in die vielen Schulen wird in Projekten Zeitgeschehen auf- Vergangenheit, sie gearbeitet. Im Dialog mit Zeitzeugen kann dadurch die sieht die Gegenwart und sie blickt in die Sprachlosigkeit dieser Generation überwunden wer- Zukunft. den. Diese Aufarbeitungsarbeit ist auch für junge Aus den „Icones Menschen notwendig und wichtig, um daraus für die Symbolicae“ des eigene Gegenwart und Zukunft zu lernen. Christophoro Giarda (1626)

22 Versöhnungsarbeit im Dialog Das Engagement junger Menschen fördern Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit kann auch noch Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie enga- Jahrzehnte nach dem damaligen Geschehen nur im giert auch die heutige Schülergeneration bei diesem Dialog geschehen. Seit der Öffnung der Grenzen Thema mitarbeitet, „Material“ besorgt und woher sie nach Osten arbeitet der Volksbund Deutsche Kriegs- Informationen bekommt. Da tauchen z. B. alte Fotos gräberfürsorge auch daran: Er ermöglicht Begegnung dieser Personen auf, werden vergilbte Feldpostbriefe zwischen Menschen der Erlebnisgeneration und der aus verstaubten Koffern am Dachboden hervorge- heutigen Jugend. So kann an den Gräbern und in den kramt oder in der Ortschronik geblättert. Hier findet Jugendbegegnungsstätten des Volksbundes Ge- ein interessiertes Gespräch zwischen Generationen schichte aufgearbeitet werden. statt. Dabei wird Geschichte lebendig, personalisiert und verinnerlicht und ist nicht nur auf „trockenes“ Fak- Konfrontation mit der Geschichte an Or- tenwissen beschränkt. Einzelschicksale sind es, die ten, an denen Leid und das persönliche emotionale Betroffenheit hervorrufen und im Ge- dächtnis der jungen Generation haften bleiben. Schicksal von Menschen der damaligen Zeit nachvollzogen werden können Geschichte in einem Schullandheim erleben Viele Schulklassen unternehmen eine Klassenfahrt in Die Konfrontation an geschichtsträchtigen Orten ist für ein Schullandheim. Dort kann man ohne die Zwänge viele Jugendliche (und auch Erwachsene) mit einem des Schulalltags lernen, andere Lernformen auspro- Schock verbunden, wenn man z. B. an den Besuch bieren und Gemeinschaft erleben. Viele Schulland- eines Konzentrationslagers oder einer Kriegsgräber- heime bieten für bestimmte Projekte Voraussetzungen stätte denkt. Diesen Schock halten wir für wichtig. zu bestimmten Themenkreisen an. Was spricht ei- Denn hier können das Leid und das persönliche gentlich dagegen, das Thema „Friedenserziehung“ in Schicksal von Menschen der damaligen Zeit am Ort verstärktem Maße in Schullandheimen anzubieten? des Geschehens nachvollzogen werden. Gerade die Warum sollte eine Schulklasse im Rahmen eines sol- Konzentrationslager zeigen, wie brutal, wie men- chen Aufenthaltes nicht auch einmal einen Tag zum schenverachtend Menschen mit Menschen umgegan- Thema „Friedenserziehung“ einplanen? In Unterfran- gen sind. Aus einer solchen Konfrontation ergibt sich ken (Nordbayern) wurde diese Idee aufgegriffen und ganz von alleine das Nachdenken über die persönli- deshalb haben sich im „Volksbund Jugendforum Un- che Zukunft, über gegenwärtiges und zukünftiges terfranken“ engagierte LehrerInnen und Journalisten Denken und Handeln. zusammengefunden, um im Rahmen einer „Friedens- erziehung vor Ort“ Kriegsgräberstätten, die in der Nä- „Geschichte vor Ort“ erleben he von Schullandheimen liegen, pädagogisch in einer Schulklassen sollten zunächst einmal den Ort aufsu- Handreichung so aufzubereiten, dass dem Lehrer Hil- chen, der fast überall vorhanden ist: der örtliche fe gegeben wird, wie er einen solchen Tag gestalten Friedhof, das Kriegerdenkmal, die Gedenktafel in der kann – eine Idee, die durchaus Nachahmung finden Kirche oder in der Schule. Hier kann im Rahmen des sollte! (s. Literaturhinweise) Geschichtsunterrichts „Geschichte vor Ort“ nachvoll- zogen und sogar erlebt werden. Es dürfte wohl kaum einen Friedhof geben, auf dem nicht Kriegsopfer be- stattet sind. Die Namen dieser Opfer, die auf einem Gedenkstein, einer Gedenktafel, auf den Kreuzen der Familiengräber oder in der Kirche „verewigt“ sind, sind den SchülerInnen vielleicht bekannt. Hier kann der Krieg „vor Ort“ durch seine Auswirkungen, das Leid und Elend der örtlichen Bevölkerung personalisiert werden, denn hinter diesen Namen verbergen sich persönliche Schicksale von ortsbekannten Personen und Daten des Todesanlasses. Wer war das? Wie waren sie im Ort eingebunden? Warum und wo sind sie gefallen oder gestorben? Wo befanden sie sich und warum waren sie dort? Wen hinterließen sie? Wie ging es mit den Familienangehörigen und Verwandten weiter? Was war damals? ... sind nur einige Fragen, Der Volksbund führt regelmäßig junge Menschen an Soldaten- die sich von ganz allein ergeben und auf die im Unter- gräber. Das Bild zeigt eine Schulklasse auf der deutschen Kriegs- richt näher eingegangen werden kann. gräberstätte Costermano am Gardasee (Italien). Hier ruhen 23 000 Gefallene des Zweiten Weltkrieges. Die SchülerInnen eines Gym- nasiums stehen betroffen vor den endlosen Gräberreihen.

Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben. George Santayana (1863 – 1952)

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Besuch von Kriegsgräberstätten Teilnahme an einem Jugendlager Emotionale Betroffenheit wird vor allem durch einen Es gibt viele junge Menschen, die mehrmals an einem Besuch auf einer der vielen Kriegsgräberstätten im In- solchen Jugendlager teilnehmen und dies auch wei- und Ausland hervorgerufen. Diese Anlagen beeindru- terempfehlen. Diese Arbeit macht ihnen nicht nur cken zunächst durch ihre Größe. Die vielen Kreuze Spaß, sondern sie sehen darin auch eine Möglichkeit, mit den vielen Namen und den Lebensdaten junger zusammen mit Jugendlichen anderer Nationen bei Menschen machen auch Jugendliche nachdenklich. gemeinsamer Arbeit am Grab etwas für den Frieden Schon nach dem Betreten einer Kriegsgräberstätte tun zu können. Wenn ein junger Mensch z. B. einen kehrt plötzlich Stille in der Gruppe ein. Da viele Grabstein von Moos reinigt und den Namen – viel- Kriegsgräberstätten einen Besucherraum mit einer leicht eines Gleichaltrigen – mit Farbe nachzieht, wird Dauerausstellung oder Informationstafeln eingerichtet das wahrscheinlich zum Nachdenken über die The- haben, können sich die Gruppen näher informieren. In men „Krieg, Gewalt und Frieden“ anregen. Gerade am den Gräberlisten findet man vielleicht sogar den eige- Kriegsgrab wird die Sinnlosigkeit von Kriegen sicht- nen Familiennamen oder Tote aus dem eigenen Ort. bar. Es wird deutlich, dass diesen jungen Toten die Das ist Anlass, nachzuforschen. Die Jugendlichen Zukunft genommen wurde. brauchen bei einem solchen Besuch die Unterstüt- zung ihrer LehrerInnen. Sie sehen z. B. auf den Grab- steinen, dass Gefallene in ihrem Alter waren, ganze Familien hier ruhen oder Mütter mit ihren Kindern be- stattet sind. Kriegsgräberstätten sind nämlich nicht nur Orte, an denen gefallene Soldaten ruhen, sondern auch Plätze, an denen Ziviltote bestattet sind. Die größte Kriegsgräberstätte in Deutschland liegt auf dem Golm (Insel Usedom). Hier wurden sehr viele Zi- vilopfer des Luftangriffes auf Swinemünde beigesetzt. Die Schlichtheit der Anlage macht den Besucher nachdenklich. Diese Kriegsgräberstätte ist so bedeu- tend, dass der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfür- sorge in unmittelbarer Nähe eine Jugendbegegnungs- stätte errichtet, um Begegnungen z. B. mit polnischen Schulklassen und Jugendgruppen zu ermöglichen. An diesen Gräbern lassen sich leidvolle Geschichte und ihre Auswirkungen lebendig erklären und Friedenser- ziehung vor Ort leisten. „Flucht und Vertreibung“ und die personifizierte „Geschichte von Zivilopfern“ sind dort nur einige der Schwerpunktthemen.

Kriegsgräber„fürsorge“ in der Zukunft Überlebende im Kleinen Lager Buchenwald, April 1945 Diese Themen müssen auch in die Gegenwart wirken, weil nur hier auf Dauer Interesse geweckt werden kann und Betroffenheit möglich ist. Wie an anderer Besuch eines Konzentrationslagers Stelle dieser Handreichung erwähnt wurde, hat der In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach dem junge Menschen ein Konzentrationslager oder eine Zweiten Weltkrieg junge Menschen in die Verantwor- ähnliche Gedenkstätte besuchen. Die erhalten geblie- tung für die Kriegsgräberpflege eingebunden, weil er benen Einrichtungen, die Informationstafeln, Ausstel- wusste, dass sie die Träger dieser wichtigen Arbeit in lungsgegenstände und Filme hinterlassen bei Jugend- der Zukunft sind. Die Bedeutung dieser Arbeit kann lichen einen bleibenden Eindruck. Das Ausmaß des und darf nicht unterschätzt werden! Die vielen Leids, die ungeheuere Anzahl der Millionen Opfer, die Jugendlager, die jedes Jahr im In- und Ausland beispiellose Grausamkeit und die menschenverach- durchgeführt werden, sind eine wichtige Maßnahme, tende Denk- und Handlungsweise der Nationalsozia- um die Kriegsgräber„fürsorge“, d. h. die Fürsorge (= listen ist so erschreckend, dass junge Menschen nicht Pflege) für die Kriegsgräber zu gewährleisten und ihre nur emotional betroffen, sondern sogar geschockt Mahnfunktion für den Frieden auch für zukünftige sind. Aus diesem Schockerlebnis heraus kann es für Generationen zu erhalten. Erwachsene, die nicht in Jugendliche nur eines geben: Das darf sich nie mehr der Jugendarbeit tätig sind, sollten diese wichtige wiederholen! Die Diskussionen, die sich daran an- Arbeit des Volksbundes unterstützen! Die heutigen schließen müssen, hinterlassen von selbst tiefe Be- Jugendlichen sind es schließlich, die die zukünftigen troffenheit.

Aufgaben der Pflege übernehmen sollen.

Erschreckend für uns war, dass viele Gefallene nicht älter waren als wir. SchülerInnen nach dem Besuch einer Kriegsgräberstätte

24 Kann die Arbeit des Volksbundes emotio- Die Bedeutung des Volkstrauertages nale Betroffenheit hervorrufen? Da die Mahnung dieses Tage über die persönliche Trauer hinausgeht, ist es auch für zukünftige Genera- Die Einbeziehung der Schule in die Arbeit des Volks- tionen wichtig, den Volkstrauertag beizubehalten. Der bundes ist schon immer ein wichtiges Anliegen gewe- Volkstrauertag dient nämlich nicht nur der individuel- sen. Die Beschlüsse und Empfehlungen der Kultus- len Trauer der Angehörigen, die eine wichtige Be- ministerkonferenz und des Bundeselternrates unter- zugsperson verloren haben und ihre Trauer auch heu- stützen den Volksbund in seinen Aufgaben. Durch te noch zeigen, sondern er ist auch ein Gedenktag seine gezielte Jugendarbeit kann der Volksbund und Anlass, sich mit unserer Geschichte auseinander Deutsche Kriegsgräberfürsorge Grenzen und Gräben zu setzen und an die vielen Opfer von Krieg und Ge- überwinden und junge Menschen ehemals verfeinde- waltherrschaft zu erinnern. Erinnerung, Tod und Trau- ter Nationen am Kriegsgrab zusammenführen. Das er und das Bekenntnis zur nationalen Geschichte sind Motto „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für wichtige Begriffe, die am Volkstrauertag in das Be- den Frieden“, das 1953 beim ersten Jugendlager in wusstsein der ganzen Nation übergehen müssen. Lommel (Belgien) entstand, ist weiterhin zukunftswei- send und gibt auch nachfolgenden Generationen die Möglichkeit, Vorurteile abzubauen und gemeinsam neue Wege für ein gewaltfreies Zusammenleben der Völker zu finden. Ziel ist es, junge Menschen an die Gräber heranzuführen.

Der Gang über ein Gräberfeld und das Betrachten der knappen Angaben zur Person auf dem Grabstein er- zeugt gerade bei jungen Menschen Betroffenheit und ist Motivation zur möglichst authentischen Erkundung von Einzelschicksalen. Hier finden wir den Ansatz der friedenspädagogischen Aufgaben des Volksbundes. Sie führen über das Erkennen der Konsequenz von Brutalität und Vernichtung zu einem Verhalten der To- leranz und Verständnis, auch in der Beurteilung unse- rer Probleme der Gegenwart. Die Auseinanderset- zung mit Krieg und Gewalt und der Völkerverständi- gung mit der „Versöhnung über den Gräbern“ entwi- ckelt neben der Betroffenheit die Bereitschaft, sich ak- tiv für Frieden und Verständigung einzusetzen.

In seinen Jugendlagern und Jugendbegegnungsstät- ten ermöglicht es der Volksbund jungen Menschen sich mit dieser Thematik auseinander zu setzen. Als Freunde gehen junge Menschen nach einem Jugend- lager oder nach dem Aufenthalt in einer Jugendbe- gegnungsstätte auseinander und wissen jetzt: Gegen Freunde kann man nicht kämpfen!

Aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge tritt durch sein Handeln für Verständigung, Versöhnung und Frieden ein. Er führt jährlich viele Menschen an Gedenk- und Kriegsgräberstätten und zeigt dort, dass Kriege und Konflikte immer Opfer gefordert haben und noch fordern. Jedes Jahr erinnert der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge öffentlich am Volks- trauertag daran. Das Gedenken an die vielen Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft wird am Volkstrauer- Friedensdenkmal der Kinder in Hiroshima – tag zum Nachdenken darüber, warum immer wieder auch in Erinnerung an die kleine Sadako Sasaki: Mit zwei Jahren erlebte sie die Katastrophe. Zehn Jahre später erkrankte sie an Kriege geführt werden und ob wir Menschen bereit Leukämie aufgrund der hohen Strahlenbelastung. Einem japani- sind, für Versöhnung, Vorurteilslosigkeit, Toleranz, schen Spruch folgend, nach dem eine Krankheit geheilt würde, Gewaltlosigkeit, Freiheit und Frieden einzutreten, um wenn man 1000 Papierkraniche falte, begann sie damit trotz ihrer „aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen“, fürchterlichen Schmerzen. Nach dem 644. Kranich starb sie. Noch heute falten Kinder in aller Welt zu ihrem Gedenken Kraniche. Die wie ein Motto des Volksbundes Deutsche Gedenkstätte ist über und über mit Papierkranichen und Friedens- Kriegsgräberfürsorge lautet. wünschen von Menschen vieler Nationen bedeckt.

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Auch in unserem Jahrhundert ist der Volkstrauer- tag aktuell, • weil uns Kriege, Gewalt und Terrorismus als eine Gefährdung unseres Gemeinwesens und als Ur- sache für Trauer täglich begegnen: - in der Gewalt gegen ethnische Minderheiten, Ausländer und Flüchtlinge - in menschenverachtenden Terroranschlägen, die den Tod vieler unschuldiger Menschen und großen materiellen Schaden in Kauf nehmen - in Folter und Misshandlungen - in der Vertreibung ganzer Volksgruppen aus den ihnen angestammten Gebieten - in der Gewalt in Familie, Schule, Beruf und in der Freizeit - in der Gewalt als „Medienspektakel“; • weil die politischen und menschlichen Verfehlun- gen der Vergangenheit uns immer wieder – auch in der Gegenwart – einholen; • weil die Bereitschaft, aus der Geschichte lernen zu wollen, noch nicht umfassend und konsequent genug vorhanden ist; • weil Kriege nicht nur dem Gestern angehören, sondern heute wieder zum politischen Mittel zur Durchsetzung bestimmter Ziele geworden sind; • weil Kriegsgräber nicht Relikte der Vergangenheit

Plakat von Käthe Kollwitz, 1924 sind, sondern erschütternde Mahnmale in der Ge- genwart und Zukunft darstellen; Betroffenheit durch Erinnerung • weil Kriegsgräber und die Ursachen und Folgen Erinnerungen gehören zu unserer individuellen und der Kriege wie schicksalhafte Brücken von Volk nationalen Identität. Erinnerungen an Geschehnisse zu Volk, von Mensch zu Mensch und von Geden- und Personen sind es, die uns prägen. Erinnerungen ken zu Gedenken wirken. an unsere eigene Geschichte beeinflussen das politi- sche Handeln und den verständnisvollen Umgang mit Gerade am Volkstrauertag geht von den Kriegs- unseren ehemaligen Kriegsgegnern und Opfern. Die- gräbern eine Mahnfunktion an die jetzt Lebenden se Erinnerung an unsere Vergangenheit darf daher und die zukünftigen Generationen aus. Sie lautet: niemals aus unserem persönlichen und nationalen Denken und Gedächtnis verschwinden! Der Volks- • „Nie wieder Krieg!“ trauertag „erinnert“ uns daran. Der Volksbund Deut- • „Verhindert Gewalt!“ sche Kriegsgräberfürsorge hat den Mut, uns mit die- • „Lernt aus der Vergangenheit!“ sem Tag immer wieder an unsere eigene Geschichte • „Tut alles, um miteinander auszukommen!“ und unsere Zukunftsaufgaben, die Vermeidung von • „Überwindet Hass, Vorurteile und Intoleranz!“ Krieg und Gewalt und den Erhalt des Friedens zu er- • „Achtet die Menschenwürde!“ innern und emotionale Betroffenheit hervorzurufen. • „Arbeitet für Frieden und Versöhnung!“

1987 führte Wolfgang Mischnik, ehemaliger Vorsit- Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat zender der F.D.P.-Bundestagsfraktion, in seiner Rede sich in den vergangenen Jahrzehnten stets an diese zum Volkstrauertag u. a. aus: Mahnungen gehalten und wird auch weiterhin immer daran arbeiten. Seit Motto lautet deshalb: „... Das Nachdenken über unsere Vergangenheit gebietet es auch, über Sinn und Inhalt des Volks- „Versöhnung über den Gräbern – trauertags nachzudenken. Nicht über ein ,Ja’ oder Arbeit für den Frieden“. ein ,Nein’ zum Volkstrauertag. Wer den Volkstrau- ertag in Frage stellt, sollte sich an den Spruch von Nur Versöhnung kann jetzt und zukünftig Krieg Konfuzius erinnern: ,So wie ein Volk seine Toten und Gewalt verhindern! verehrt, so offenbart sich seine Seele vor dir.’ ...“

Wir müssen lernen, unsere Konflikte zu lösen, ohne dem Gegner nach dem Leben zu trachten. Alexander Mitscherlich (1908 – 1982)

26 Gestaltung des Volkstrauertages

Auszüge aus Reden zum Volkstrauertag 1993, Dr. Theo Waigel, Bundesfinanzminister: „... Es gibt nur wenige Familien in Deutschland, die 1922, Paul Löbe, Reichstagspräsident: nicht ihr ganz persönliches Opfer zu beklagen haben. „... Noch sind die Wunden des Krieges nicht vernarbt. Ich war fünf Jahre alt, als meine Eltern die Nachricht Eines aber liegt hinter uns, das Massensterben durch vom Tode meines Bruders erhielten, der am 30. Sep- körperliche Gewalt; eines kann uns niemand verweh- tember 1944 im Alter von 18 Jahren in Frankreich ge- ren, die Ehrung derjenigen, die in der Schlacht gefällt fallen ist. Erst im August dieses Jahres konnte vom wurden, die nach langer Qual der Tod erlöste. ...“ Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge das Grab meines Bruders auf der Kriegsgräberstätte im elsässi- 1954, Dr. Konrad Adenauer, Bundeskanzler: schen Niederbronn identifiziert werden. ... „... Die gemeinsame Trauer soll uns verbinden, ge- meinsam die Lasten unserer Zeit zu tragen. Wir ge- Vor zwei Wochen stand ich zum ersten Mal an diesem denken heute auch der Furchtbarkeit des Krieges. Wir Grab mit seinem schlichten Kreuz. In mir wurde die sehen im Geiste vor uns die Toten und Verwundeten. Erinnerung daran lebendig, welch unendliches Leid Wir sehen die brennenden Städte und Dörfer, aber wir damals in mein Elternhaus einzog. Und ich wurde mir hören auch tief in unserem Innern die mahnende bewusst, in wie vielen Wohnungen zur selben Zeit in Stimme der Toten. Wir hören ihre Stimme. Wir wis- Deutschland, in Frankreich oder in Russland die sen, was sie zu uns sagen, und wir wollen ihrem Ver- Trauer über den Tod eines geliebten Menschen Ein- mächtnis entsprechend uns alle mit ganzer Kraft ein- zug halten ließ und wie die französische oder die rus- setzen für den Frieden. An diesem Tag sei das ihnen sische Mutter um ihren Sohn genauso geweint hatte, zu Ehren unser besonderes Gelöbnis, uns einzuset- wie meine Mutter um ihr Kind, meinen Bruder. zen mit ganzer Kraft für den Frieden in der Welt! ...“ ... Nicht geplant, Zufall oder Fügung war es, dass am 1980, Leo Tindemans, belgischer Ministerpräsi- gleichen Tag, als ich das Grab meines Bruders be- dent: suchte, die Grundsteinlegung für eine Jugendbegeg- „ ... Viele Fragen drängen sich bei dem einen Trauer- nungsstätte durch den französischen Minister Mestre tag auf. Die Millionen Opfer des letzten Krieges for- stattfand. Deutsche und französische Jugendliche, dern uns auf, über die Ursachen eines solch furchtba- Jugendgruppen und Schulklassen pflegen die Gräber ren Geschehens nachzudenken. Es genügt jedoch der früheren Gegner. Eine Jugendinitiative des Frie- nicht, die Ergebnisse und Ideen zu analysieren, die zu dens und der bleibenden Versöhnung. ...“ dem Weltbrand geführt haben. Mit Mut müssen wir uns auch dafür einsetzen, dass solche Katastrophen 2000, Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident: in Zukunft vermieden werden. ...“ „... Die Trauer erfüllt erst dann ihren umfassenden Sinn, wenn wir sie als Aufforderung zum Handeln ver- 1990, Prof. Dr. Rita Süßmuth, Bundestagspräsi- stehen – im Sinn derer, um die wir heute trauern. Es dentin: sind die Erinnerungen an die einzelnen Opfer des na- „... Wer fordert, das Bedrückende der Kriege, ihre tionalsozialistischen Kriegs- und Rassenwahns, die an vermeidbaren Opfer, Leiden und Tod unzähliger Men- diesem Tag besonders weh tun – der Verlust von Va- schern zu vergessen, die Vergangenheit ruhen zu ter, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, von lassen, der übt sich nicht als Mensch. ... Er will nicht Freunden und Nachbarn, von Familie, zu Hause, der innehalten, nachdenken, umdenken, umgestalten und Heimat. Umfassende Friedensarbeit – das ist der mitwirken an der Verringerung von Unfrieden, Leid ethische Auftrag der Ermordeten und Getöteten. Die- und Bedrängnis. ...Trauern fordert uns, ist mit An- sen Auftrag zu erneuern, ist Sinn des Volkstrauerta- strengungen und harter Arbeit verbunden. Es ist eine ges. ...“ unablässige Arbeit an unseren Schwächen, an unse- rem menschlichen Versagen. ...“ 2001, Dr. Wolfgang Huber, Bischof: „... Wenn wir uns an diesem Volkstrauertag versam- 1992, Valentin M. Falin, Botschafter a.D. der ehe- meln und uns vor den Opfern von Krieg und Gewalt maligen UdSSR: verneigen, dann schließt das die Verpflichtung ein, „... Wie vor zwanzig Jahren, so gehe ich heute davon dass wir alles in unseren Kräften Stehende tun, um aus, dass die Lebenden zu keiner echten Versöhnung die Wiederholung solcher Opfer zu verhindern. ...“ gelangen, solange jeder in sich die Kraft, Entschlos- senheit und Weitsicht nicht findet, die Gefallenen zu versöhnen. ...“

Glaubt nicht, Ihr hättet Millionen Feinde. Euer einziger Feind heißt – Krieg. Erich Kästner (1899 – 1974)

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Der Ablauf einer Gedenkstunde zum Volkstrauertag Ergänzend oder alternativ zu einer Gedenkstunde könnten junge Menschen folgendes tun: • Die Verantwortlichen sind zwar in der Gestaltung der Bereits vor einer Gedenkstunde führen Schulklas- Gedenkstunde zum Volkstrauertag frei, dennoch gibt sen ein Unterrichtsprojekt zum Thema „Friedens- es einige Programmpunkte, die bei keiner offiziellen erziehung vor Ort“ durch. • Gedenkstunde fehlen sollten. Dazu gehören das To- In diesem Zusammenhang besuchen sie den ört- tengedenken, die Kranzniederlegung und das „Lied lichen Friedhof und suchen Gräber, auf deren vom guten Kameraden“. Grabsteinen an gefallene oder vermisste Soldaten erinnert wird oder an Menschen, die bei einem Einbeziehung von Jugendlichen in die Bombenangriff ums Leben gekommen sind. Bei der Gedenkstunde zum Volkstrauertag werden Gestaltung einer Gedenkstunde zum Kerzen angezündet und auf diese Gräber gestellt. Volkstrauertag • Eine andere Möglichkeit ist es, Blumen am Krie- gerdenkmal, am Ehrenmal des Ortes, an der Die Einbeziehung von Jugendlichen in die Gedenk- Kriegsgräberstätte im Ort, in der Kirche oder in stunde zum Volkstrauertag muss vorbereitet werden. der näheren Umgebung niederzulegen. Dazu gehören Hintergrundwissen und die Beschäfti- • Eine Alternative könnte auch eine schulinterne gung mit den Themen Krieg und Gewalt, Tod und Gedenkstunde sein. In manchen Schulen findet Trauer. Geschichte muss für Jugendliche begreifbar man sogar eine Gedenktafel für ehemalige Schü- gemacht werden. Es muss ihnen klar werden, was ler, die im Krieg gefallen sind. Krieg tatsächlich bedeutet, welches Leid er über Ge- nerationen von Menschen bringt und was Tod und Diese methodischen Hinweise gelten selbstverständ- Sterben eigentlich heißen. Die aktive Beteiligung von lich auch für Gedenkstunden, die außerhalb der Schu- Jugendlichen an der Gedenkstunde zum Volkstrauer- le vorbereitet werden. tag kann nicht darin gesehen werden, dass junge Menschen Texte auswendig lernen und sie ohne inne- Volkstrauertag als Anlass für weitere Aktionen ren Bezug dazu öffentlich vortragen. Sie müssen sich Wichtig bei allen Aktionen ist es aber, dass mit der mit ihrem Beitrag identifizieren können und in die Ver- Gedenkstunde zum Volkstrauertag das Thema nicht anstaltung eingebunden werden. abgeschlossen ist, sondern anschließend oder jährlich aufs Neue weitergeführt wird. Das sind wir den Über- „Das geht auch mich etwas an!“ lebenden und auch Toten schuldig – auch deswegen, Junge Menschen dürfen bei einer Gedenkstunde zum um die Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren. Volkstrauertag nicht das Gefühl haben: „Damit habe Das können z. B. Unterrichtsprojekte oder Gesprächs- ich nichts zu tun“, sondern sie müssen spüren: „Das runden sein. Die Begegnung und die Diskussion mit geht auch mich etwas an!“ Der Text des offiziellen To- Zeitzeugen kann für beide Seiten fruchtbar sein. Eine tengedenkens muss daher für Jugendliche Fortsetzung des Themas kann auch eine Teilnahme nachvollziehbar sein, damit er auch emotional an einem Jugendlager des Volksbundes Deutsche verstanden und verarbeitet werden kann. Beispiele Kriegsgräberfürsorge, die Mitarbeit in einem Jugend- dafür sind ebenfalls in dieser Handreichung zu finden arbeitskreis oder der Aufenthalt in einer Jugendbe- (s. Abschnitt „Das Totengedenken – was heißt das?“). gegnungsstätte sein. Die Begegnung mit jungen Men- schen anderer Nationen führt zu Freundschaften, die dem Frieden dienen. Ein weiterer Vorschlag wäre auch, dass eine Schule oder eine Jugendgruppe für einige Zeit den Blumenschmuck an der Gedenkstätte oder die Patenschaft für die Betreuungsaufgaben an Kriegsgräbern übernimmt.

Wer seine Vergangenheit vergisst, verliert seine Identität.

Andrzej Szcypiorski (geb. 1924) Zentrale Gedenkstunde zum Volkstrauertag in Berlin im Reichstag

28 Organisatorische Hinweise im Heimatort? (Bevölkerungsstruktur, städtebauli- che Veränderungen, Anzahl der Opfer von Krieg Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. und Gewalt in der Gemeinde etc.); sieht es als seine Aufgabe an, den Volkstrauertag als • Befragen von älteren Menschen, Zeitzeugen; eine gute und für alle Generationen Sinn stiftende • Aufsuchen von Archiven (Stadt- / Gemeinde- / Tradition zu bewahren. Dies aber setzt die Bereit- Kreis- / Zeitungsarchive etc.) und Auswerten von schaft zur zeitgemäßen bnderung der Formen und Dokumenten; verantwortlichen Einbindung von jungen Menschen • Besuch von themenbezogener Ausstellungen, voraus, ohne dabei in eine unreflektierte Anbiederung Dokumentationen und anderen Darbietungen zum an den jeweiligen Zeitgeist abzugleiten. Thema „Krieg und Gewalt“, „Frieden“, „Leben und Tod“, „Leiden und Opfer“; Verantwortung übernehmen • Beschäftigung mit literarischen Zeugnissen (Ge- Es wäre nicht zu verantworten, wollte man die Beteili- dichte, epische Texte und Berichte), die Krieg, gung von Jugendlichen etwa nur darin sehen, halb Gewalt und Frieden zum Thema haben; verstandene Texte auswendig lernen zu lassen, die • Ansehen themenbezogener Bilder, Filme, Videos; dann öffentlich rezitiert werden sollen. Die Jugendli- • Beschäftigung mit musikalischen Werken zum chen müssen aus Einsicht mitarbeiten und Verantwor- Thema „Tod und Trauer“ (Requiem, Trauer- tung übernehmen, sie müssen wissen, was sie tun marsch u. a.); und warum sie es tun, sie müssen sich mit ihrem Bei- • Auswerten älterer Programme von Gedenkfeiern trag und dessen Intention identifizieren können. (Was wurde bereits gemacht?); • Auswerten der Internetseiten des Volksbundes Dialog fördern Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit „Gräber- Gedenkstunden zum Volkstrauertag müssen so ge- suche online“ und Informationen über die Jugend- staltet werden, dass der Dialog der Generationen ge- und Schularbeit des Volksbundes. fördert oder gar herausgefordert wird. Sie dürfen kei- ne geschlossene Veranstaltung ehemaliger Kriegs- Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche teilnehmer sein. Die künftigen Volkstrauertage müs- Kriegsgräberfürsorge e.V. sen offen sein für TeilnehmerInnen aller Generatio- • (pädagogische) Handreichungen, Filme, Videos, nen. Daher müssen sie ein die Generationen verbin- Dia-Serien, Vorträge; dendes Element enthalten und das ständige Ringen • Besuch einer Jugendbegegnungsstätte des um den Frieden auf der Grundlage einer differenzier- Volksbundes: z. B. Ysselsteyn (Niederlande), ten Geschichtsbetrachtung bewusst machen. Der Lommel (Belgien), Niederbronn (Elsass) oder Fu- grundgesetzliche Auftrag zur Friedenserziehung rich- ta-Pass (Italien). Die Kontaktanschriften sind beim tet sich auch an die Schulen und die Träger der freien Volksbund erhältlich. Jugendarbeit. Realisation Anregungen für die Vorbereitung, Gestaltung und Die gesammelten Eindrücke und Erfahrungen der Nachbereitung des Volkstrauertages „Einstimmungsphase“ müssen nun geordnet und ein Der Volkstrauertag bietet sich mit seinem friedensstif- Programm zusammengestellt werden. Dieses Pro- tenden Anliegen als Thema eines Projektvorhabens gramm soll das Ergebnis eigener Auseinandersetzung für Schulklassen und Jugendgruppen an. Ziel muss es mit dem Thema „Volkstrauertag“ sein und die Gege- dabei sein, die Volkstrauertagsveranstaltung am Hei- benheiten von Ort und Zeit einbeziehen. matort verantwortlich mitzugestalten. Doch gilt es zu- nächst, das Interesse der jungen Menschen für dieses • Fragenkatalog Thema zu wecken, sie zu sensibilisieren. Freiwillig- Der folgende Fragenkatalog gibt Hilfestellung: keit, Einsicht und Identifizierung mit der Aufgabe sind - Wer ist Träger der Veranstaltung (Stadt, Kreis, Ge- der Schlüssel für einen Erfolg. Ist die Entscheidung meinde, Vereine, Kirche, Schule, Volksbund)? gefallen, sollte eine phasenbezogene Projektarbeit - Welcher Teilnehmerkreis (Bevölkerung, örtliche beginnen, bei der die jungen Menschen von Anfang Repräsentanten, Vereine, Bundeswehr, andere Schu- an beteiligt und verantwortlich einbezogen werden len, Jugendverbände, Eltern, Freunde, Bekannte, Mit- (Einstimmung, Realisation und Reflexion). glieder und Freunde des Volksbundes)?

- Unter welchem Motto soll die Gedenkstunde stehen? Einstimmung - Wann soll die Veranstaltung beginnen? Wesentliches Ziel dieser Phase ist es, die SchülerIn- - Wie lange soll sie dauern (nicht zu lang)? nen auf die Aufgabe einzustimmen, sie zu ermuntern, - Wo soll sie stattfinden? damit die Gestaltung der Gedenkstunde als persönli- - Wie ist eine Kranzniederlegung einzuplanen che Herausforderung empfunden wird. Diese Ein- (evtl. nur getrennt von der Veranstaltung möglich; stimmung kann auf vielen Wegen erreicht werden: • überlegenswert: statt zu vieler Kränze Spende an den Aufsuchen örtlicher Gedenk- oder Kriegsgräber- Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge)? stätten; - Wer hält eine Ansprache? • Spurensuche in der Regionalgeschichte: Welche - Welche Jugendliche tragen Texte vor? Auswirkungen hatten Krieg und Gewaltherrschaft - Wer soll die musikalische Gestaltung übernehmen

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(Schulchor, Gemeinde- / Kirchenchor, Gesangverein In der Handreichung sind auch Anregungen für Chor- am Ort, Schulmusiker, andere Musiker)? und Instrumentalstücke aufgeführt. Alt und Neu, Klas- - Findet ein Gottesdienst statt? sisch und Modern lassen sich gut kombinieren; nicht - Wer spricht ein Gebet (Pfarrer, ein Mitglied des Kir- ein Entweder-Oder ist gefragt, sondern ein Sowohl- chenvorstandes, SchülerIn)? als-auch. - Wer spricht das Totengedenken? - Soll nach der Veranstaltung noch eine Begegnung Das international bekannte „Lied vom guten Kamera- („Empfang“) stattfinden? den“ gilt allerdings im allgemeinen Verständnis der äl- - Welche Kosten sind zu veranschlagen und wer trägt teren Generationen als fester Bestandteil einer Ge- sie? denkstunde. Dieses Lied wirkt gewiss als Trompeten- - Wie kann die Presse wirksam eingebunden werden? solo, aber eine Interpretation, z. B. als Streichersatz, Mit der Beantwortung dieser Fragen steht eigentlich als Vokalsatz oder als Duett von Trompete und einem das Programm. anderen Instrument (etwa Orgel), kann auch ein- drucksvoll sein. • Programmfolge Hier gibt es keine verbindliche Richtlinie. Doch kann Die AG muss nun geeignete Interpreten für die aus- auch die Programmfolge phasenbezogen gegliedert gesuchten Titel finden, die bereit sind, mitzuwirken. werden: 1. Chorlied / Instrumentalstück, einleitende / Reflexion begrüßende Worte als Einstimmung, Diese Phase hat den Charakter einer „Erfolgskontrol- 2. Gedenkrede, Textvorträge, Vorführungen als Rea- le“ und eröffnet alle Möglichkeiten einer (konstrukti- lisation, ven) Kritik. Der „Volkstrauertag als gemeinsame Akti- 3. Gebet, Totengedenken, Kranzniederlegung, Mu- on“ wird ausgewertet anhand von persönlichen Ein- sikstück als Reflexion, Hymnen. schätzungen, Empfindungen und Beobachtungen, von Fotos, von Presseveröffentlichungen, eventuellen Ra- Dieser „3er-Takt“ hat sich bewährt, lässt er doch in dio- oder Fernsehbeiträgen oder aufgrund eines eige- den einzelnen Takten viele Möglichkeiten der Umset- nen Video-Mitschnittes. zung eigener Vorstellungen zu. Musikalische Zwi- Der folgende Fragenkatalog hilft bei der Nachberei- schenspiele können die Teile sinnvoll verbinden. tung: - Wurde das Programm planmäßig durchgeführt? • Gruppenarbeit - War der Zeitansatz angemessen? Zunächst beschäftigt sich die gesamte Schulklasse / - Waren die Darbietungen der textlichen und musikali- Jugendgruppe mit dem Volkstrauertag und damit zu- schen Beiträge durch die Akteure zufriedenstellend? sammenhängenden Themen global. Gemeinsam - Wie kamen die Text- und Musikbeiträge beim Publi- stimmt man sich ein, bespricht den Fragenkatalog und kum an? einigt sich auf eine Programmfolge. Dann heißt es, - Wie groß war die Beteiligung an der Veranstaltung? dieses Programm zu realisieren. Hier bietet sich die (Anzahl der geladenen Gäste und Bürger) Weiterarbeit in Arbeitsgruppen (AGs) an; z. B. - Inwieweit war der eingeladene Teilnehmerkreis tat- „AG-Text“ und „AG-Musik“. sächlich anwesend? - Welche Altersstruktur spiegelte sich im Teilnehmer- „AG-Text“ kreis wider? (Wie könnte sich das ändern?) Mitglieder dieser AG sollen die Jugendlichen sein, die - Wie haben die Medien die Veranstaltung „verkauft"? die Texte vortragen. Aufgabe ist es, geeignete Texte - Was wurde nicht bedacht, was hätte anders laufen auszusuchen, zusammenzustellen, evtl. selber zu ver- müssen? fassen und deren Vortrag zu üben. Die Materialsamm- lung dieser Handreichung gibt Anregungen dazu. Zu- Alljährlich wiederkehrende Herausforderung? sätzlich erhält die AG den Auftrag - zusammen mit Am Ende steht allerdings eine entscheidende Frage: dem Klassenlehrer / Jugendgruppenleiter - mit dem Wäre man bereit, eine derartige Veranstaltung noch- Hauptredner (Gedenkrede), ggf. mit dem Sprecher mals verantwortlich zu gestalten und könnte die Ge- des Totengedenkens und / oder mit dem Pfarrer in staltung des Volkstrauertages zur alljährlich wieder- Verbindung zu treten, um zeitliche Absprachen zu kehrenden Herausforderung für junge Menschen wer- treffen und die Programmfolge zu erläutern. den?

„AG-Musik“ Erarbeitet von Hans-Dieter Heine (Bundesjugendrefe- Ein wichtiger Faktor für die würdige und zeitgemäße rent) und Wolfgang Held (Mitarbeiter im LV Nordrhein- Gestaltung einer Gedenkstunde ist die Auswahl und Westfalen) Darbietung der Musik. Hier sollte vor allem der Hoff- nung in der Trauer Ausdruck verliehen werden. Si- Anregungen zur Gestaltung von Gedenk- cherlich haben „klassische“ Trauermärsche einen un- stunden und Gottesdiensten zum Volks- zweifelhaften, eindeutigen Bezug und eignen sich in- sofern auch als Einstimmung, aber als „Hoffnungsträ- trauertag erhält man beim Volksbund ger“ können sie weniger dienen. Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

30 Das Totengedenken: Gedenken und Trauer beziehen sich auf die Vergan- Denken – Gedenken – Trauer – Hoffnung genheit, während das Denken auch die Gegenwart mit einbezieht. Wir erinnern und denken dabei an die Menschen, die Opfer von Krieg und Gewalt geworden Am Volkstrauertag „gedenken“ und „trauern“ der sind. Die Hoffnung weist in die Zukunft und macht Staat, seine Repräsentanten und die Bevölkerung. In- uns und zukünftigen Generationen Mut, uns für Ver- dividuell trauern Familienangehörige um die Opfer in söhnung, Toleranz, Gewaltfreiheit und Frieden einzu- ihrer eigenen Verwandtschaft. Für sie ist dieser Tag setzen. ein Anlass, sich zu erinnern, an die Verstorbenen zu denken, zu trauern und zu hoffen. Genauso wie bei Inhaltlich hat sich das Totengedenken im Laufe der der individuellen Trauer ist die offizielle Gedenkstunde Zeit geändert: Nach dem Ersten und Zweiten Welt- ein Anlass zum Innehalten und benötigt Raum und krieg hatte fast jede Familie Opfer zu beklagen. Man Zeit. Bewusst wird bei dem offiziellen Totengedenken gedachte der Soldaten, KZ-Opfer, Zivilisten, Frauen Wert auf das persönliche Fürwort „wir“ gelegt. Es ist und Kinder, die im Bombenhagel oder auf der Flucht nicht das unpersönliche „man“, hinter dem man sich umgekommen waren. Heute trauert man außerdem verbergen oder verstecken kann. um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Der offizielle Text des Totengedenkens gliedert sich in Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer vier Bereiche: Verfolgung, um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei Denken, Gedenken, Trauer und Hoffnung. uns Schutz suchten.

Das Totengedenken – der offizielle Text

Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefan- genschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wur- den oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchten.

Wir trauern mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen, um die Toten. Doch unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der Welt.

Das Totengedenken – was heißt das? Auf den folgenden Seiten wird daher versucht, die einzelnen Abschnitte des offiziellen Totengedenkens Die Gedenkstunde zum Volkstrauertag und vor allem „mit Inhalt“ zu füllen“, um den Sinngehalt zu vertiefen das Totengedenken dürfen nicht zur Routine werden! und einen Bezug zur Geschichte und zur Gegenwart Die Inhalte müssen immer wieder neu definiert wer- herzustellen. Texte und Bilder sollen eine Anregung den und sich der aktuellen politischen Situation an- sein, über die einzelnen Abschnitte nachzudenken. passen, damit sie für junge Menschen verständlich Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wird in werden. Werte, Haltungen, Einstellungen und Konse- Zukunft jeweils im Herbst im Internet Materialien zum quenzen daraus müssen auch für junge Menschen Volkstrauertag zur Verfügung stellen (Adressen: nachvollziehbar sein. www.volkstrauertag.de oder www.volksbund.de).

Weil die Toten schweigen, beginnt alles immer wieder von vorn. Gabriel Marcel (1889 – 1973)

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Das Totengedenken, 1. Abschnitt Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Was ist Krieg? Meinungen – Merkmale – Definitionen – Ursachen

„Ach der Krieg! Der Krieg! Wenn „Krieg ist keines Dinges Vater. Es gibt viele Definitionen über man ihn – wie ich – aus der Nä- Krieg geht vorüber. Nur seine diesen Begriff. Die Konfliktfor- he gesehen hat, kann man nur Folgen wirken weiter. Die Ursa- scher des SIPRI-Instituts (= tiefe Abscheu vor ihm haben. Er chen der Folgen, die ein Krieg Stockholm International Peace ist die schlimmste Geißel der auslöst, haben immer eine lange Research Institute) bezeichnen Menschheit und sicher muss Vorgeschichte. Und die Folgen einen Krieg als „länger andau- man alles tun, um ihn zu ver- wiederum überdauern einen ernde, gewaltsame Austragung meiden.“ Krieg zuweilen um Jahrhunder- von Interessenkonflikten, bei der te.“ mehr als 1000 Tote zu beklagen (Graf Helmuth von Moltke, sind.“ preußischer , (Peter Bamm 1875) aus „Eines Menschen Zeit“) (SIPRI-Institut)

Merkmale eines Krieges 3. Zwischenstaatliche Kriege: Kriege, in denen In Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher sich Streitkräfte der etablierten Regierungen min- István Kende (1917 – 1988) definiert die AKUF (Ar- destens zweier staatlich verfasster Territorien ge- beitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung) Krieg genüberstehen, und zwar ohne Rücksicht auf ih- als einen gewaltsamen Massenkonflikt, der alle fol- ren völkerrechtlichen Status. genden Merkmale aufweist: 4. Dekolonisationskriege: Kriege, in denen um die • An den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Befreiung von Kolonialherrschaft gekämpft wird. Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens 5. Sonstige innerstaatliche Kriege. auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Zahlreiche Kriege lassen sich nicht eindeutig einem Regierung handelt. dieser Typen zuordnen, weil sich verschiedene Arten • Auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zent- überlagern oder sich die Art des Krieges im Verlauf ralgelenkter Organisation der Kriegführenden und der Kampfhandlungen verändert, so dass sich Misch- des Kampfes gegeben sein. typen bilden. • Die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als Ursachen von Kriegen und Konflikten gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d.h. Als Ursache von Kriegen und Konflikten gibt es viele beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Gründe, wobei es heute kaum noch einen Konflikt Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem gibt, der nur einen Grund hat. Meistens treffen mehre- Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften statt- re der folgenden Ursachen zu: finden und wie lange sie dauern. • ethnische und religiöse Zugehörigkeit Als bewaffnete Konflikte werden gewaltsame Aus- • wirtschaftliche Interessen wie Rohstoffsicherung einandersetzungen bezeichnet, bei denen die Krite- oder Welthandel rien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllt • politische oder ideologische Interessen sind. In der Regel handelt es sich dabei um Fälle, in • krasse Unterschiede in der Versorgungslage denen eine hinreichende Kontinuität der Kampfhand- • Migration lungen nicht mehr oder auch noch nicht gegeben ist. • unterschiedlicher Verlauf der historischen, natur- räumlichen, kulturellen oder politischen Grenzen Kriegstypen zwischen den Regionen Die AKUF unterscheidet zwischen fünf Kriegstypen: • unterschiedliche Auslegung der Menschenrechte 1. Antiregime-Kriege: Kriege, in denen um den in verschiedenen Regionen Sturz der Regierenden oder um die Veränderung oder den Erhalt des politischen Systems oder gar der Gesellschaftsordnung gekämpft wird.

2. Autonomie- und Sezessionskriege: Kriege, in Im Krieg ist kein Heil. Um Frieden bitten denen um größere regionale Autonomie innerhalb des Staatsverbandes oder um Sezession vom wir alle. Staatsverband gekämpft wird. Vergil (70 – 19 v. Chr.)

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Eskalation der Kriege

1870/71 = 19.7.1870 – 26.2.1871 ca. 250 000 Gefallene = 7 Monate und 10 Tage = 5328 Stunden = 47 Gefallene pro Stunde Kosten: ca. 15 Milliarden Goldmark

1914/18 = 1.8.1914 – 11.11.1918 ca. 10 000 000 Gefallene = 4 Jahre und 103 Tage = 1563 Tage = 37 517 Stunden = 267 Gefallene pro Stunde Erstes Kriegsjahr: 153 Tage = 5 Monate = 42 500 Tote der deutschen Armee Direkte Kosten: 730 Milliarden Goldmark, indirekt 610 Milliarden Goldmark

1939/45 = 1.9.1939 – 2.9.1945 ca. 55 000 000 Tote = 6 Jahre und 2 Tage = 2 194 Tage = 52 646 Stunden = 1 045 Tote pro Stunde Direkte Kosten: 1 Billiarde Dollar, indirekte Kosten: 2 Billiarden Dollar fast 20 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in Europa, davon über 14 Millionen Deutsche

Ein Soldat erlebt das Kriegsende Alle starren nur auf den Papierfetzen am Anschlag- brett. Dann einer leise: „Ob das wahr ist? - Man weiß Dirschau, 10. Mai 1945: ja nie ... So wenig wie vorher ... Wieder nur Propa- ganda? Nur eine Mausefalle für uns? WER sagt Sowjetisches Sammellager deutscher Kriegsgefange- WAS? - dann ab nach Sibirien.“ ner aus Danzig und Ostpreußen. Sehr früh am Mor- Jetzt stehen schon zwanzig, dreißig um mich herum. gen. Trotz der Tausenden hier auf engstem Raum: Ich drücke mich hindurch; schleiche davon. Krieche in Keine Menschenseele zu sehen. den stinkenden, winzigen Stall, in dem wir zu dritt Irgendwo fern lärmen russische Soldaten; fern fallen nächtigen. Jauche am Boden. Ziehe den grauen Man- Schüsse, wie schon während der ganzen Nacht. tel über mein Gesicht. Der Ratten wegen. Ein Gedan- Ich starre auf die Anschlagtafel: „9. Mai: Das Deut- ke noch: Kapitulation neunter Mai. sche Reich hat kapituliert. Hitler ist tot.“ Ich stehe und Meiner Mutter Geburtstag. Ich weine. starre. Ich sehe nichts um mich herum. Das ist nun der Tag, auf den wir alle mehr als sechs Jahre lang gewartet haben? Freude? Erleichterung? Ich starre und starre. Ent- spannung? Nichts, Nichts, Nichts. Ausgebrannt. Leer. Erschöpft. Zerrieben. – Ist das wirklich nun der ersehnte große Tag? Wird jetzt alles anders? Wird jetzt Friede sein? Werden wir, werde ich heimkehren? Wann? ... und was dann? „Es ist kein Krieg mehr!“ schreit es plötzlich aus mir heraus. „Krieg vorbei!" - ich brülle es. Aus einem Verschlag kriechen zwei, drei Gestalten. Bleich. Recken sich. „Bist du besoffen?“ schnauzt mich einer an. Tonlos sage ich - deute mit dem Finger auf den Anschlag: „Komm her! Lies!“ Er kommt. Liest. Schreit: „Frieden! - Kommt her! - Frieden! Kommt alle raus! - Kein Krieg mehr!“ Aber was da kommt, sind ein paar wankende, bleiche Gestalten. Ausgemergelt. Verdorrt.

Gesichter des Krieges: Überlebende eines Luftangriffs

Im Kriege sind wir alle gleich. Aber unter tausend Braven trifft eine Kugel einen Unersetz- lichen. Mit seinem Tode wird der Kultur eines Volkes eine Hand abgeschlagen, ein Auge blind gemacht. Franz Marc (1880 – 1916, Grabschrift für seinen Freund August Macke)

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Das Totengedenken, 2. Abschnitt ... Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Tod – millionenfaches Soldatenschicksal Das Jahrhundert der Flüchtlinge

„... Kaum eine irdische Hoffnung mehr, den siche-

ren Tod vor Augen oder ein Schrecken ohne Ende Flüchtlinge gab es schon immer. Flucht und Vertrei-

in Gefangenschaft, irgendwo im Raum aller bung gibt es, seit sich Menschen in Gesellschaften

Unbarmherzigkeit. Wir wissen nun, was sich um organisierten, Herrschaftssysteme etablierten, Kriege

uns ereignet hat. Anfängliche Hoffnung auf eine um Vorherrschaft und Territorien austrugen und Kolo-

baldige Wende hat sich zerschlagen, wir wissen, nialisierung betrieben. Flucht, Exil und Flüchtlinge

dass wir noch lange aushalten müssen. ...“ sind globale Phänomene, die vor allem im Umfeld verschiedener Konfliktsituationen auftreten. Im 20. Aus einem Feldpostbrief, 7. Januar 1943, Stalingrad Jahrhundert haben die Flüchtlingsbewegungen ein nie zuvor da gewesenes Ausmaß erreicht, weshalb der Begriff „das Jahrhundert der Flüchtlinge“ geprägt wur- de. Seit den 80er Jahren wurde immer deutlicher, 21 Millionen Menschen auf der Flucht dass die Fluchtbewegungen nur ein Teil der weltweit zunehmenden Migration sind. Daten und Fakten zum Weltflüchtlingstag Tatsache ist: Die ärmsten Länder der Welt nehmen Die UN-Vollversammlung hat den 20. Juni zum Welt- die meisten Flüchtlinge auf. flüchtlingstag erklärt. Dieser steht unter dem Motto „Respekt für Flüchtlinge sowie Anerkennung der posi- tiven Beiträge für die Gesellschaft“. Als Flüchtlinge Gegenwärtige Ursachen der Flucht und gelten jene Menschen, die außerhalb ihres Landes le- Vertreibung ben und nicht zurückkehren können, weil sie wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Mei- „Es gibt in der Regel keinen einzelnen Fluchtgrund, nung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe sondern eine Mischung von Fluchtgründen. Kriege um ihr Leben fürchten müssen. verbinden sich mit Hungersnöten (...), die manifeste Gewalt von Diktaturen mit der strukturellen Gewalt Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes von Massenelend“ (Nuscheler). (UNHCR) in Genf waren zu Beginn des Jahres 2001 Dabei lassen sich vier Hauptursachen herausfiltern: über 21,1 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist • Hauptursache Krieg: ethno-politische Konflikte, jeder 284. Erdbewohner. Rund ein Drittel aller Flücht- Politisierung und Fundamentalisierung, Über- linge wurde Ende 2000 in Afrika gezählt. Am 20. Juni gangsgesellschaften, Eigendynamik von Kriegen, soll daher jeder innehalten und über die Einsamkeit Staatszerfall und Chaotisierung der Kriegsfüh- und das Gefühl der Verlassenheit nachdenken, das rung, Zerstörung von Wirtschaft und Gesellschaft viele Flüchtlinge empfinden müssen. Flüchtlings- • Repression und Verfolgung von Minderheiten schutz ist kein wohltätiger Akt, sondern eine morali- • sche und rechtliche Verpflichtung aller Völker. Armut • Umweltkatastrophen

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Das Totengedenken, 3. Abschnitt ... Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Hamburg 1945: Innerhalb des Lagers Neuengamme waren an Häft- Die Kinder vom Bullenhuser Damm lingen Tuberkulose-Versuche durchgeführt worden. Die Leitung dieser Versuche hatte der SS-Arzt Dr. Die Sorge, dass die heranrückenden britischen Trup- Heißmeyer. Versuchspersonen für diese medizinisch pen zuviel über das Lager Hamburg-Neuengamme sinnlosen Experimente waren neben russischen Häft- und die Brutalität der Bewacher erfahren könnten, lingen auch 20 jüdische Kinder im Alter von fünf bis war bestimmend für die Evakuierungsaktionen in den zwölf Jahren aus Polen, den Niederlanden, Frank- letzten Tagen des Dritten Reiches. Am 15. April 1945 reich und Jugoslawien. Sie waren eigens für diese hatten britische Truppen das Lager Bergen-Belsen Versuche im Dezember 1944 von Auschwitz nach befreit und dabei Tausende von Opfern katastropha- Neuengamme gebracht und dort getrennt von den ler hygienischer und versorgungsmäßiger Vernach- übrigen Häftlingen untergebracht worden. Im April lässigung vorgefunden. Zwar waren die Verhältnisse 1945 verlegte die SS diese Kinder in das Außen- in Neuengamme nicht so schlimm, dennoch ent- kommando Bullenhuser Damm, das in einer Schule schlossen sich die Verantwortlichen, das Lager Neu- untergebracht war. Sie wurden dort in einem Keller- engamme zu räumen. raum durch den SS-Standortarzt Dr. Trzebinski mit Ein Vorgang, der aus den Ereignissen während der Spritzen betäubt und dann erhängt. Ebenso erging es letzten Tage des Lagers Neuengamme herausragt, den vier Pflegern. Nach der Aussage Trzebinskis im ist die Ermordung von 20 Kindern mit ihren Häftlings- Curio-Haus-Prozess am 29. März 1946 erfolgte die- pflegern im Außenkommando Bullenhuser Damm. ser Mord auf Anweisung aus Berlin, da die Kinder den Alliierten nicht in die Hände fallen sollten. In der Janusz-Korczak-Schule (ehemalige Schule Bullenhuser Damm) befindet sich eine Gedenkstätte im Keller. Eine Wandinschrift erinnert an die Opfer der Ermordung.

AM 20. APRIL 1945 WURDEN HIER ZWANZIG JÜDISCHE KINDER AUS FRANKREICH, ITALIEN, JUGOSLAWIEN, DEN NIEDERLANDEN UND POLEN ERMORDET.

ALEXANDER HORNEMANN, 9 JAHRE JAQUELINE MORGENSTERN, 12 JAHRE MAREK STEINBAUM, 10 JAHRE S. GOLDINGER, 11 JAHRE EDUARD HORNEMANN, 12 JAHRE LEIKA BIRNBAUM, 12 JAHRE MAREK JAMES, 6 JAHRE ELEONORA-LENKA WITONSKA, 5 JAHRE W. JUNGLIEB, 12 JAHRE RUCHLA ZYLBERBERG, 8 JAHRE ROMAN WITONSKI, 6 JAHRE H. WASSERMANN, 8 JAHRE R. ZELLER, 12 JAHRE LOLA KLIGERMANN, 12 JAHRE SERGIO DE SIMONE, 7 JAHRE RYWKA HERSZBERG, 6 JAHRE GEORGES-ANDRÜ KOHN, 12 JAHRE B. MEKLER, 11 JAHRE E. REICHENBAUM, 10 JAHRE MANIA ALTMANN, 5 JAHRE

IHRE BETREUER AUS FRANKREICH UND DEN NIEDERLANDEN, DIE KZ-HÄFTLINGE DIRK DEUTEKOM, 1. 12.1895, TYPOGRAPH, ANTON HÖLZEL, 7.5.1909, FAHRER, PROF. DR. RENÜ QUENOUILLE, 6.12.1884, ARZT, PROF. DR. GABRIEL FLORENCE, 2.6.1886, BIOLOGE UND VIERUNDZWANZIG UNBEKANNTE SOWJETISCHE KRIEGSGEFANGENE WURDEN IM HEIZUNGSRAUM DIESER SCHULE EBENFALLS DURCH ERHÄNGEN UMGEBRACHT.

Wenn wir annehmen, dass das Leben lebenswert ist und dass der Mensch ein Recht hat zu leben, dann müssen wir eine Alternative zum Krieg finden. Martin Luther King, Jr. (1929 – 1968)

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Das Totengedenken, 4. Abschnitt ... Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten.

Marianne Cohn Marianne Cohn Eine deutsche Jüdin leistet Widerstand im Ich werde morgen verraten, heute nicht besetzten Frankreich Ich werde morgen verraten, heute nicht. Marianne Cohn wurde 1921 in Breslau geboren. Im Heute reißt mir die Nägel aus. Jahre 1935 musste die Familie nach Frankreich flüch- Ich werde nichts verraten. ten. Während des Krieges ging Marianne in den Un- tergrund und widmete sich als Mitglied des jüdischen Ihr kennt die Grenze meines Mutes nicht. Widerstandes der Rettung von Kindern. Das Städt- Ich kenn sie. chen Annemasse an der Schweizer Grenze diente als Ihr seid fünf harte Pranken mit Ringen. letzte Etappe beim Schmuggeln der Kinder in die Ihr habt Schuhe an den Füßen. Schweiz. Mit Nägeln beschlagen. Emmanuel Racine [...] organisierte einen Transport von 28 jüdischen Kindern im Alter von vier bis fünf- Ich werde morgen verraten, heute nicht. zehn Jahren. Emmanuel und Marianne sammelten die Morgen. Kinder in Lyon und brachten sie, versteckt in einem Ich brauch die Nacht, um mich zu entschließen, Lastwagen, am 31. Mai 1944 an die Schweizer Gren- Ich brauch wenigstens eine Nacht, ze. Kurz davor hielt eine Streife der SS sie an. Alle Um zu leugnen, abzuschwören, zu verraten. Kinder und ihre Begleitung wurden verhaftet und ins Um meine Freunde zu verleugnen, provisorische deutsche Gefängnis in Annemasse ein- Um dem Brot und Wein abzuschwören, geliefert. Marianne wurde tagelang gefoltert, denn sie Um das Leben zu verraten, weigerte sich beharrlich, die Fluchtrouten und die Ver- Um zu sterben. trauensleute der Fluchtorganisation zu verraten. Der Bürgermeister von Annemasse, Jean Deffaugt, Ich werde morgen verraten, heute nicht. stellte die Deutschen unerschrocken zur Rede, indem Die Feile ist unter der Kachel, er sie des Verbrechens der Einkerkerung kleiner Kin- Die Feile ist nichts fürs Gitter, der beschuldigte. Entnervt ließen sie 17 Kinder frei. Die Feile ist nicht für den Henker, Marianne, fünf Jungen und sechs Mädchen blieben im Die Feile ist für meine Pulsader. Gefängnis. [...] Heute habe ich nichts zu sagen. Rettung der Kinder Ich werde morgen verraten. Am 3. Juli 1944 kamen plötzlich mitten in der Nacht Gestapoleute aus Lyon und holten drei Frauen her- (Aus dem Französischen übertragen von Wolf Bier- aus, unter ihnen Marianne Cohn. Am 22. Juli forderte mann) der Kommandant von Annemasse, Meyer, den Bür- germeister auf, die elf Kinder zu einem Transport be- reit zu stellen. Deffaugt bettelte den Offizier an und versprach ihm, sie anderweitig unter seiner persönli- chen Verantwortung unterzubringen. Er unterschrieb ein Verpflichtungsdokument und versteckte die Kinder im Sommerlager der Pfarrei St. Joseph, wo sie die Befreiung erlebten. Annemasse wurde am 21. August 1944 befreit. Nur Marianne Cohn wurde in einem Schuppen aufgefunden. Sie war am 8. Juli 1944, im Alter von 23 Jahren, ermordet worden. Die Kinder wurden nach Annemasse zurückgebracht und übergaben ihren Betreuern ein Gedicht, das Ma- rianne Cohn im Gefängnis verfasst hatte. Es wurde in Frankreich veröffentlicht. Häftlingszeichnung: Treffen am Lagerzaun

Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut. Perikles (550 v. Chr. bis 429 v. Chr.)

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Das Totengedenken, 5. Abschnitt ... Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchten.

Terrorismus – der Krieg von heute? Terrorismus ist die Sammelbezeichnung für alle Ar- New York 11. September 2001: ten von Gewaltanwendung und Einsatz aller Mittel Synonym für den bisher brutalsten Terroran- und moderner Technologien durch verdeckte Grup- schlag der Menschheitsgeschichte pen. Dabei handelt es sich um gezielte Bestrebungen zur Überwindung der freiheitlich-demokratischen Der internationale Terrorismus erreichte die USA mit Grundordnung eines Staates durch gewaltsamen den bislang schrecklichsten Anschlägen der Terroris- Kampf von Fanatikern, z. B. schwere Anschläge oder mus-Geschichte. Am 11. 9. 2001 rasten kurz nach Ar- Lahmlegung der Computernetze. Ziel ist es, medien- beitsbeginn innerhalb von 18 Minuten zwei entführte wirksam viele Opfer unter der Zivilbevölkerung zu for- Flugzeuge in die beiden über 400 m hohen Zwillings- dern („bodycount“), den „Gegner“ zu zerstören und zu türme des World Trade Center in New York und ver- demütigen. Terrorismus darf nicht mit dem Begriff „Ex- ursachten ein Inferno unvorstellbaren Ausmaßes. tremismus“ verwechselt werden. Nach kurzer Zeit stürzten beide Türme in sich zu- sammen und begruben Tausende von Menschen. Es Ein Terrorist bezeichnet sich selbst meist als Frei- wären mehr gewesen, hätten sich schon alle Beschäf- heits- oder Widerstandskämpfer. Er ist aber häufig ein tigten im Gebäude aufgehalten. skrupelloser Fanatiker. Eine weitere entführte Maschine steuerte in das Pen- tagon in Washington, ein viertes, ebenfalls entführtes Eine terroristische Vereinigung ist ein Zusammen- Flugzeug stürzte bei Pittsburgh ab. Es flog wahr- schluss politisch oder religiös gleich gesinnter Perso- scheinlich auf ein anderes strategisch wichtiges Ziel nen mit dem Ziel, eine politische Staatsmacht zu zer- zu, aber die Passagiere, die im Flugzeug von den An- stören. Dazu sind ihr alle Mittel recht, z. B. Menschen- schlägen in New York erfahren hatten, verhinderten raub, Mord oder Anschläge. Nach dem deutschen das. Die mit großer Präzision ausgeführten Selbst- Strafgesetzbuch ist eine solche Vereinigung verboten mordanschläge auf amerikanische Schalt-, Macht- und die Mitglieder werden bestraft. und Finanzzentren kosteten Tausende von Men- schenleben. Diese nationale Tragödie geschah vor den Augen der Gewalt Weltöffentlichkeit, die das unglaubliche Geschehen Gewalt gibt es in unterschiedlichen Formen. Wir un- am Bildschirm live mitverfolgte. Die Form der Durch- terscheiden körperliche Gewaltanwendung und seeli- führung, das Ausmaß der Massentötung und die Ex- sche Gewalt. Gewalt zeigt sich überall, z. B. in der tremtraumatisierung der Opfer und der Augenzeugen Familie, an Kindern und Frauen und am Arbeitsplatz. überstiegen jegliche menschliche Vorstellungskraft. Über diesen privaten Bereich hinaus ist Gewalt auch innerhalb eines Staates (z. B. in Diktaturen) oder zwi- schen Staaten in Form von Krieg möglich. Nicht im- „Terrorismus“ und verwandte Begriffe: mer ist es so, dass Gewalt von einem scheinbar Stär- keren an einem Schwächeren verübt wird. Oftmals ist Als Terror wird zum einen die Gewalt- oder Schre- es auch umgekehrt. Ein Unterlegener, Unterdrückter, ckensherrschaft verstanden, zum anderen eine Er- körperlich Schwächerer oder Besiegter wird gewalttä- scheinungsform des (politischen) Machtkampfes, bei tig, z. B. in Form von Vergeltung(smaßnahmen) oder dem keine Rücksicht auf Leben, Gesundheit oder Ei- Rache in unterschiedlichen Formen. gentum des Gegners und der Zivilbevölkerung ge- Alljährlich wird am 25. November, dem „Tag gegen nommen wird und demokratische Spielregeln außer Gewalt an Frauen“, dieser Opfer gedacht. Acht gelassen werden. Dazu gehören z. B. Anschlä- Besonders hervorzuheben ist die Folter, die häufig als ge, Misshandlungen, Folter, Massenexekutionen, Ver- „namenlose Gewalt“ bezeichnet wird. Ihr fehlt oft die mögenskonfiszierung und Liquidierung. Stimme, die auf sie hinweist und sich für die Opfer einsetzt.

Terroranschläge sind Medienereignisse. Das freut die Attentäter, stört die Behörden und bringt die Journalisten in Bedrängnis. Beau Grosscup (Professor am Institut für Politische Wissenschaften der University of California in Chico, 1998)

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Folter – Opfer sinnloser Gewalt

Konvention über die Rechte des Kindes, Artikel Nach dem Völkerrecht sind die Staaten verpflichtet, 37: „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass kein Folter präventiv zu bekämpfen und auf Übergriffe zu Kind der Folter oder einer anderen grausamen, un- reagieren. Dabei ist unwichtig, wo die Folter stattfin- menschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder det und ob es sich bei dem Täter um Vertreter des Strafe unterworfen wird.“ Staates oder um Privatpersonen handelt. Nach am- nesty international wird noch immer in 70 Staaten ge- Afrikanische Charta der Menschenrechte und foltert, darunter auch in vielen scheinbar demokrati- Rechte der Völker, Artikel 5: „Jedermann hat An- schen Ländern. spruch auf Achtung seiner Menschenwürde und auf Folter und Misshandlungen vor allem an Frauen sind Anerkennung seiner Rechtspersönlichkeit. Jede überall Realität. Die Folterungen haben ihre Wurzeln in einer weltweiten Tradition, die den Frauen nicht die Form der Ausbeutung und Herabsetzung, insbeson- dere Sklaverei, Sklavenhandel, Folter, grausame, gleichen Rechte zugesteht wie den Männern. Dazu unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder gehören Vergewaltigungen weiblicher Strafgefange- Behandlung sind verboten.“ ner, sexuelle Folter im Krieg und auf der Flucht, Misshandlungen durch Ehemänner und Frauenhan- Inter-Amerikanische Konvention zur Verhütung del. Rund 20 Prozent aller Frauen haben nach Anga- ben einer Weltbankstudie körperliche und sexuelle und Bestrafung von Folter, Artikel 6: „Die Vertrags- staaten stellen sicher, dass jede Folterhandlung und Gewalt erlitten. Dank der mutigen Berichte von Frau- jeder Versuch, die Folter anzuwenden, eine Straftat en aus dem ehemaligen Jugoslawien und politischen im Sinne des Strafgesetzbuchs darstellt und mit ho- Drucks wurde vor dem Tribunal in Den Haag das ers- hen Strafen geahndet wird, die der Schwere der Tat te Mal sexuelle Gewalt gegen Frauen im Krieg als gerecht werden.“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit behandelt.

Internationale Bestimmungen gegen Folter: Folter beenden Nach amnesty international ist es eine Aufgabe aller, UN-Konvention gegen Folter und andere grausa- die Folter zu beenden. Zwar richten sich die meisten me, unmenschliche oder erniedrigende Behand- der Empfehlungen an Regierungen, da sie die Pflicht lung oder Strafe, Artikel 2: „Jeder Vertragsstaat trifft und die Mittel haben, Veränderungen herbeizuführen wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige und die Achtung vor den Menschenrechten sicherzu- oder sonstige Maßnahmen, um Folterungen in allen stellen. Doch auch nichtstaatlichen Organisationen, seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu Angehörigen verschiedener Berufsgruppen sowie je- verhindern.“ dem Einzelnen von uns kommt bei der Bekämpfung der Folter eine wichtige Rolle zu. UN-Erklärung über den Schutz aller Personen vor Wie kann die Folter abgeschafft werden? Es genügt Folter und anderer grausamer, unmenschlicher nicht, einfach nur die Landesgesetze zu ändern, oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, Arti- denn die meisten Formen der Folter und Misshand- kel 3: „Kein Staat darf Folter oder andere grausame, lung sind bereits jetzt per Gesetz verboten. Der unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Kampf muss im umfassenden Sinne darauf ausge- Strafe zulassen.“ richtet sein, eine ungesetzliche und nicht hinnehmba- re Praxis zu beseitigen. Das bedeutet, darauf hinzu- UN-Grundsätze zum Schutz von Jugendlichen, arbeiten, dass sowohl Regierungen und ihre Einrich- denen die Freiheit entzogen ist, Artikel 67: „Sämtli- tungen als auch die Zivilgesellschaft eine permanen- che Disziplinarmaßnahmen, die grausamer, un- te Wachsamkeit gegenüber dem Problem der Folter menschlicher oder erniedrigender Behandlung entwickeln. Es bedeutet die Durchsetzung von Re- gleichkommen, beispielsweise Körperstrafen, Dun- formen, um der routinemäßigen Anwendung der Fol- kelarrest, strenge oder Einzelhaft oder jede andere ter vorzubeugen. Und es bedeutet schließlich auch, Bestrafung, die die körperliche oder seelische Ge- dass sowohl die Öffentlichkeit als auch die Behörden sundheit des betreffenden Jugendlichen beeinträchti- eines Landes auf einzelne Fälle von Folterungen gen könnte, sind strikt verboten.“ energisch reagieren, damit Folterern das Handwerk gelegt und andere davon abgeschreckt werden, ähn- liche Verbrechen zu begehen.

Mit Gewalt sind noch nie Probleme gelöst worden. In Kriegen hat es noch nie Gewinner gegeben. Gewalt ist immer auch ein politischer Offenbarungseid. Sie zeigt, dass man ar- gumentativ am Ende ist und sie beendet die Kommunikation zwischen den Konfliktkpar- teien. Doch nur durch Kommunikation kann eine Problemlösung gefunden werden. Hans-Joachim Ehlers (Verleger, 2001)

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Das Totengedenken, 6. Abschnitt ... Wir trauern mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen, um die Toten.

Orte grausamen Verbrechens – Spiegel der Gewalt

Lidice 1942 ten und den Waffenstillstand zu überwachen. Trotz- Lidice war bis 1942 ein Bergarbeiterdorf mit etwa 500 dem wurde die Region nicht völlig entmilitarisiert. Mili- Einwohnern bei Prag. Es wurde von den Nationalso- tärische Aktivitäten gingen weiter. Dazu gehörten zialisten am 9. Juni 1942 als Vergeltung für den bei auch die Beschießung der Stadt durch die VRS und einem Attentat getöteten stellvertretenden Reichspro- bewaffnete Zusammenstöße. Gleichzeitig kamen wei- tektor für Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, ter Flüchtlinge und Vertriebene aus der Umgebung in niedergebrannt und dem Erdboden gleich gemacht. die Stadt, so dass die Bevölkerung von Srebrenica Dabei wurden alle Männer über 15 Jahre erschossen, Mitte 1995 auf 35 000 – 42 000 Menschen geschätzt die Kinder von den Müttern getrennt und die 182 wurde. Frauen in ein Konzentrationslager überstellt. Sämtli- che Kinder wurden zur „Sonderbehandlung“ nach Po- Am 11. Juli 1995 nahmen serbische Truppen unter len gebracht. 82 Kinder wurden dort gnadenlos durch der Führung von General Ratko Mladic die bosnische Auspuffgase in speziell dafür hergerichteten Autos im Stadt Srebrenica ein. Die UN-Soldaten, die den deutschen Vernichtungslager Chelm im besetzten Po- Schutz gewährleisten sollten, leisteten aber keinen len vergiftet. Nur 7 Kinder überlebten aufgrund ihrer Widerstand. In den Nachrichtenagenturen häuften äußeren Merkmale – blond, blaue Augen – und erschie- sich die Meldungen über Massenexekutionen an mos- nen „eindeutschungsfähig“. Für ganze 50 Reichsmark lemischen Männern der Stadt. „Unbeschreibliche Vor- wurden sie an deutsche Familien verkauft. Nach diesem gänge von Morden, Vergewaltigungen und Terrorisie- Massaker wurde der Ort zum Symbol für Widerstand. rung haben sich abgespielt“, schilderte Ankläger Mark Spontan benannten sich Dörfer in anderen Ländern Harmon die Ereignisse vom Juli 1995. Die serbischen aus Solidarität in Lidice um. Angreifer hätten „barbarische Taten“ von „unvorstell- barem Ausmaß“ ausgeführt. Danach sonderten die „Das darf sich nicht wiederholen!“ sagten sich damals Serben moslemische Frauen und Kinder aus und de- die überlebenden Mütter, als sie „ihr Lidice“ nach dem portierten sie. Die Männer wurden abgeführt und Krieg wieder aufbauten. größtenteils erschossen. Zirka 8 000 moslemische Männer dieser Stadt sind seither verschwunden und 1972 wurde mit der Errichtung der ausdrucksstarken wurden vermutlich ermordet. Rund 2000 Leichen wur- Statuen am Ort des Verbrechens begonnen (s. Titel- den gefunden, von denen bis jetzt 450 identifiziert werden konnten. bild). Nach der politischen Wende konnten sie nur mit Hilfe von Sponsoren fertig gestellt werden. Das (Nach einem Bericht von amnesty international, 1995) Mahnmal wurde von Marie Uchytilova begonnen und nach ihrem Tod von Jiri Hampl beendet. amnesty international glaubt, dass es während der Eroberung von Srebrenica und danach zu schweren Verletzungen grundlegender Menschenrechte ge- Srebrenica 1995 kommen ist. Zu diesen Übergriffen gehören absichtli- Srebrenica, eine kleine Stadt in Ostbosnien nahe der che und willkürliche Tötungen von Zivilisten, Verge- Drina, die die Grenze zwischen Bosnien-Herzegowi- waltigung, willkürliche Festnahme und Misshandlung. na und Serbien bildet, wurde Schauplatz des größten amnesty international ist auch der Meinung, dass wei- Massenmordes und Völkermordes in Europa seit En- tere Berichte über Massenhinrichtungen von Festge- de des Zweiten Weltkrieges. nommenen und Gefangenen nicht als übertrieben ab- getan werden sollten. Seit dem April 1992 wurde Srebrenica (im ehemaligen Jugoslawien) von bewaffneten Gruppen der bosnisch- serbischen Armee (VRS) belagert. Sie waren nicht in Aber die Geschichte wiederholt sich! der Lage, die Stadt einzunehmen. Am 16. April 1993 Lidice und Srebrenica sind leider keine Einzelfälle! In erklärte die Resolution 819 des UNO-Sicherheitsrates der Vergangenheit hat solch unmenschliches und Srebrenica und seine Umgebung zu einer „Schutzzo- grausames Geschehen vielerorts stattgefunden und in ne” und forderte eine Beendigung der militärischen der Gegenwart wiederholen sich diese Fälle in vielen Aktivitäten in dem Gebiet. UNPROFOR-Einheiten Ländern. Mütter haben in einem Krieg besonders zu wurden in der Region stationiert und erhielten das leiden und trauern um ihre Kinder, Männer und Eltern. Mandat, die Sicherheit der Bewohner zu gewährleis-

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Das Totengedenken, 7. Abschnitt ... Doch unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der Welt.

Ist die Verantwortung für den Frieden nur Arbeit für den Frieden ist keine Pflicht, sondern ei- eine Pflicht? ne Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft dieser und den nachfolgenden Generationen. Wer Als Verantwortung bezeichnet man die ethische Ver- zu dieser nicht bereit ist, zeigt, dass er die Arbeit pflichtung eines Menschen zum Tun oder Unterlas- für ein friedliches Miteinander nicht ernst nimmt. sen, zum Einstehen für die Folgen des Tuns und Un- terlassens. Ein jüdisches Sprichwort sagt: „Das Vergessenwollen Das bedeutet: verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ • Verantwortung ist immer an Freiheit gebunden

und setzt Rechenschafts- und Schuldfähigkeit „Zusammen müssen wir eine menschlichere, brü- voraus. Nur dann kann man auch „zur Verant- derlichere Welt in einem vereinten Europa aufbau- wortung gezogen“ werden. en, ausgehend von heiligen Werten, dem Respekt • Verantwortung kann nur eine Einzelperson tragen, vor der Würde des Menschen und seiner Freiheit aber Institutionen, Parteien oder Organisationen im Denken und Tun. Nur dann können wir glau- können verantwortlich für etwas sein, z. B. wenn ben, dass das Martyrium unserer Millionen Opfer sie zu wenig für den Frieden tun. • der Schoah (= Holocaust) nicht vergeblich gewe- „Verantwortung für ...“ (eine Person oder Sache) sen ist.“ (Alain Goldmann, Großrabbiner des Oberra- heißt, dass man bereit ist, diese zu übernehmen. tes der Israeliten von Paris bei der Gedenkstunde auf • „Wegschauen“, wenn Unrecht geschieht, und die dem Deportiertenfriedhof Gurs, Frankreich, 2001). Geschichte leugnen oder vergessen, heißt, die Verantwortung leugnen. Die Verantwortung für den Frieden darf kein statisch Oft wird Verantwortung mit dem Begriff „Pflicht“ oder bestehender Zustand oder Vorgang sein mit einem „Pflichterfüllung“ gleichgesetzt oder verwechselt. Die Anfang und einem Punkt am Ende, sondern ist ein Gegenüberstellung macht das deutlich: permanenter Prozess, der auch ständig überprüft

werden muss. Pflicht(erfüllung) Verantwortung

Fremdbestimmung Eigenbestimmung Vollzieher eines Auftrags Wegweiser, Gestaltender der Auftrag ist durchsetz- Verantwortung ist nicht bar, evtl. Strafandrohung durchsetzbar oder er- bei Nichterfüllung zwingbar kein oder nur wenig Handlungsspielraum ist Handlungsspielraum offener eine Sinnfrage wird nicht die Sinnfrage ist Grund- gestellt, evtl. auch kein lage des Denkens und „Nachfragen“ möglich Handelns eigenes Handeln und Ur- Bereitschaft und Fähig- teilsfähigkeit sind ganz keit zum selbständigen oder z. T. außer Kraft ge- Urteilen und Handeln setzt setzt häufig Nichtwissen erfordert überschaubares oder Unkenntnis voraus Denken und Wissen Ausrichtung und Denken Ausrichtung des Han- am Detail delns auf das Ganze Unser Hoffnungsträger für den Frieden: die Jugend keine Frage nach der Frage nach den Auswir- Wahrheit und Folgen des kungen in der Gegenwart Versöhnung über den Gräbern – Tuns für sich und andere und Zukunft Arbeit für den Frieden gegenwartsbezogen zukunftsbezogen (Motto unserer Jugendarbeit)

Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Willy Brandt (1913 – 1972)

40 Internationale Jugendprojekte gegen Ge- ... klare demokratische Positionen beziehen walt, Fremdenfeindlichkeit, Vorurteile, Mit diesen Projekten soll gezeigt werden, dass Ju- gendliche klare demokratische Positionen beziehen Rechtsextremismus und Krieg und leben und sich damit deutlich von extremistischen Bewegungen distanzieren und Gegenkonzepte vertre- Es ist Intention des Volksbundes Deutsche ten und leben. Kriegsgräberfürsorge, Schulen und Jugendgrup- pen bei der aktiven Auseinandersetzung mit die- ... in Jugendlagern und Jugendbegegnungsstätten sen Themen zu unterstützen. Dabei sollen auch Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. die eigenen pädagogischen Potenziale der Schu- sieht diese Jugendprojekte als selbstverständlichen len und Jugendgruppenleiter genutzt und sinnvoll Bestandteil und Kernstück seiner Jugendarbeit an. eingesetzt werden. Neben den in den Sommerferien im In- und Ausland stattfindenden Jugendlagern betreibt er als einziger Die von den Kriegsgräbern ausgehende Mahnung Kriegsgräberdienst der Welt eigene Jugendbegeg- zum Frieden wird von den Projektpartnern pädago- nungsstätten, die von eigenen pädagogischen Kräften gisch genutzt. Dabei ist wichtig, dass Jugendliche aus betreut werden. verschiedenen Ländern und Kulturkreisen einander kennen lernen und erfahren, wie junge Menschen in ... die Begegnung und der Umgang mit der Ge- anderen Ländern mit Vorurteilen, Gewalt, Rechtsex- schichte tremismus und Ausländerfeindlichkeit umgehen, was Für viele, vor allem für die Jüngeren sind die Toten sie darüber denken und welche Handlungsstrategien der Weltkriege Fremde, von denen sie nichts wissen. sie im Umgang damit entwickelt haben. Die Rahmenbedingungen und gleichzeitig die Zielset- zungen für die Jugend- und Schularbeit des Volks- Andersartigkeit kennen lernen bundes sind: das Aufbrechen der Anonymität des Ein- Fremdheit und Andersartigkeit im Denken und Fühlen zelschicksals, die Auseinandersetzung mit der Ge- werden auf der intellektuellen Ebene und im Dialog schichte, das Hinterfragen der Ursachen und Folgen miteinander wahrgenommen und erfahren, Positionen von Krieg und Gewaltherrschaft, der Umgang mit der werden verglichen und überprüft und der Andere, Kriegsgräberstätte selbst, die Frage nach Schuld und Fremde wird dabei nicht als bedrohlich und beängsti- Verantwortung, die Frage nach der Verantwortung der gend erlebt, sondern als junger Mensch mit ähnlichen jüngeren Generationen für die Gestaltung einer friedli- Sorgen, Wünschen, Problemen und Gedanken. chen Zukunft und die Arbeit an den Kriegsgräbern als Ausgangspunkt für internationale Jugendbegegnun- Im Mittelpunkt steht die Begegnung mit Jugendlichen gen. anderer Nationen. Neben dem Austausch und der In- formation ist der tägliche Umgang miteinander wichtig, ... gegen das Vergessen d.h. miteinander reden, essen, arbeiten, singen, Die Kriegsgräberstätten verlangen nach einer kontinu- diskutieren, wohnen und feiern. Mit gemeinsamen ierlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte. Die Ausflügen und Besuchen von Gedenkstätten sollen Nutzung von Kriegsgräberstätten als Lernorte und die die jüngste Geschichte und damit auch die Betonung ihrer Gedenkstättenfunktion stehen im Vor- gemeinsam erlittenen Kriege erfahrbar gemacht wer- dergrund. Die Herausbildung von Netzwerken enga- den. gierter Jugendlicher soll gefördert werden. Visionen einer gemeinsamen friedlichen Zukunft Jährlich nehmen über 7000 Jugendliche an den Pro- Die beteiligten jungen Menschen sollen als Repräsen- jekten in den Jugendbegegnungsstätten des Volks- tanten ihrer Generation und ihrer jeweiligen Länder bundes teil. Davon sind über 60 Prozent Schulklassen Bilder und Visionen einer gemeinsamen friedlichen aus allen Bundesländern. Zukunft entwickeln. Sie entwerfen einen Friedensver- trag für die beteiligten Partner, für dessen Einhaltung ... ist Ziel unserer Jugendarbeit sie stehen und dessen Inhalt sie in ihren Schulen, El- Eine so praktizierte Jugendarbeit regt Jugendliche ternhäusern und in ihrem sozialem Umfeld propagie- und Erwachsene zu geschichtlicher Einordnung und ren und auch leben. Bewertung und somit zu diskursiven (und häufig kon- troversen) Versuchen der Vergegenwärtigung und re- Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unter- flexiven Bewältigung erlebter oder überlieferter Zeit- stützt solche Jugendprojekte auch im Namen und im geschichte an. Solche gewünschte Lernprozesse er- Interesse aller Bürgerinnen und Bürger. Dem Ruf der geben sich allerdings nicht „von selbst“, sie bedürfen Menschen nach sinnvollen Jugendprojekten, von de- vielmehr der Vermittlung von Informationen und Zu- nen aus nach Frieden und Miteinander mit fremden sammenhängen. Menschen gesucht wird, soll entsprochen werden. (Hans-Dieter Heine, Bundesjugendreferent)

Es hat mir sehr gut gefallen, und ich glaube, dass es eine gute Idee ist, auf diese Art und Weise etwas für den Frieden zu tun. Johan aus Schweden, Teilnehmer an einem Jugendlager

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Hoffnungsträger Jugend – Auch das gehört zu unserer Jugendarbeit!

Festtag für Alona Nach kurzer Diskussion im Leitungsteam war die Seit Jahren organisiert der Landesverband Hamburg „Operation Alona“ geboren. Dabei wollten unsere Jugendlager im Raum St. Petersburg. Untergebracht Teilnehmer die 50 Rubel, die sie als Verpflegungs- sind die Jugendlichen in einem Internat für Sehbehin- pauschale bei Tagesausflügen erhielten, für Alona derte in der Ortschaft Mag, etwa 25 km nordwestlich spenden. Die Teilnehmer, russische wie deutsche, von Sologubowka, dem größten deutschen Soldaten- waren von dieser Idee sehr angetan. Schnell kamen friedhof. Die Schüler kommen aus allen sozialen 750 Rubel zusammen und unser Gärtner legte aus Schichten Russlands und sind teilweise auch Waisen. seiner Aufwandspauschale die Differenz hinzu. Wäh- So auch Alona, von der diese Geschichte handelt. rend eines Tagesausfluges nach St. Petersburg kauf- Wir nahmen die 17-Jährige in unsere Campgemein- te unsere russische Gruppenleiterin Irina für Alona ei- schaft auf, weil sie sonst die Sommerferien allein im ne Brille. Das Geld reichte sogar noch für neue Klei- Internat hätte verbringen müssen, denn Alona ist dung. Vollwaise. Für Alona war dies, als ob Weihnachten, Geburtstag Alona war in ungewohnter Umgebung sehr unsicher, und alle anderen Festtage auf einen Tag fielen. Als denn sie hat eine Sehstärke von nur 20 Prozent. Eine sie dann zwei Tage später die neue Brille abholte, sah Sehhilfe trug sie nicht. Auf meine Frage erklärte sie sie die Welt im wahrsten Sinne des Wortes mit neuen verschämt, dass sie zwar ein Rezept für eine Brille Augen. habe, aber kein Geld. Die Brille sollte etwa 1000 Ru- „Operation Alona“ war ein voller Erfolg. Wie mir Alona bel, umgerechnet etwa 25 Euro kosten. Für Alona un- am Ende unseres Camps anvertraute, hatte sie zum bezahlbar, denn sie lebte von 500 Rubel Waisenrente ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal Zuneigung, im Monat. Wärme und Geborgenheit erfahren und würde die Zeit mit uns nie vergessen. René Alfeis

„Werfen Sie Ihre Vorurteile über Bord! Die Friedenserziehung beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. ist eine runde Sache!“ – Empfehlung des Bundeselternrates

Die Initiativen des pädagogischen Arbeitskreises des Die Jugendbegegnungsstätten des Volksbundes Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. zur Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. stellen einen po- Friedenserziehung sind aus Sicht des Bundeselternra- sitiven Ansatz für das friedliche Zusammenwachsen tes (BER) ein gutes und wichtiges außerschulisches Europas und vielleicht – bei einer weiteren Öffnung Angebot. Der BER kann die Schulen nur ermuntern, auch für andere Teile der Welt – als wichtige Begeg- diese Angebote zu nutzen, da sie fundiert und sach- nungsstätten dar. Die Atmosphäre und das Klima in lich auf die gesellschaftlichen Notwendigkeiten der diesen Einrichtungen ist für alle Tagungen ein Gewinn Friedenserziehung eingehen. Insbesondere die me- und tragen zur Annäherung Jugendlicher verschiede- thodisch gut aufbereiteten Handreichungen sollten ner Nationalitäten bei. Die Friedenspädagogen des von Schulen häufiger angefordert und im Unterricht Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. sind eingesetzt werden. hierbei zudem sehr hilfreich und gut ausgebildet.

Als hilfreich betrachtet der BER die Kontaktlehrerse- Der BER würde es begrüßen, wenn der Volksbund minare, die für Lehrer und Lehrerinnen eine gute Vor- Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. seine Aktivitäten bereitung für diese nicht ganz leichte Aufgabe im Un- auch in den neuen Bundesländern ausweiten könnte terricht darstellen. Sie vermitteln Inhalte, Methoden und dort mit einer größeren Präsenz vertreten wäre. und Techniken, wie Friedenserziehung heute in den Schulen aufbereitet und vermittelt werden kann. Gleichzeitig zeigen sie auch Möglichkeiten auf, wie außerhalb des Klassenzimmers Sensibilität für das Renate Hendricks wichtige Thema Frieden geschaffen werden kann. Vorsitzende des BER

Wir haben nicht zu wählen zwischen Osten und Westen, wir haben nicht zu wählen zwi- schen Rot und Schwarz, sondern wir haben nur zu wählen zwischen Gut und Böse! Das Gute ist der Frieden und das Böse ist der Krieg! Friede ist Freiheit und der Krieg ist Gewalt. Victor de Kowa (1904 – 1973)

42 Totengedenken, einmal anders – Gedanken zum Volkstrauertag

Volkstrauertag, Wir trauern um die Menschen, das Volk trauert, die als Opfer der Nazizeit in Konzentrationslagern das Volk sind wir. missbraucht und getötet wurden, Wir trauern. die alle diese Kriege nicht wollten.

Wir trauern um die Millionen Toten der Weltkriege. Wir trauern um die chronisch Kranken und Behinderten, die nicht in das nationalsozialistische Menschenbild Wir trauern um die Soldaten, passten, die ihre Eltern nie wieder sahen, und die deshalb getötet wurden, die ihre Frauen und Kinder nie wieder sahen, die alle diese Kriege nicht wollten. deren Leben doch gerade erst angefangen hatte, die alle diese Kriege nicht wollten. Volkstrauertag, das Volk trauert, Wir trauern um die Menschen, alte und junge, das Volk sind wir. die ihre Heimat verlassen mussten, Wir trauern, die alles verloren, aber wir gedenken auch. die den Strapazen der Flucht nicht gewachsen waren und unterwegs starben, Gedenken heißt, die alle diese Kriege nicht wollten. wir haben euch nicht vergessen, wir wollen aus dem Vergangenen lernen, Wir trauern um die Menschen, den Mut aufbringen, die in den Lagern an Seuchen erkrankten es nie wieder zuzulassen. und ohne ärztliche Hilfe starben, die alle diese Kriege nicht wollten.

Wir trauern um die Kinder, die erfroren und verhungerten, (Von SchülerInnen der Dannewerk-Realschule deren Leben vorbei war, ehe es richtig begonnen hatte, Schleswig zum Volkstrauertag) die alle diese Kriege nicht wollten.

Eine von 724 Kriegsgräberstätten, die der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in 43 Staaten betreut.

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Das Lied vom guten Kameraden Noch heute ist das Lied am Volkstrauertag zu hören, wenn der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht wird. Teil der offiziellen Veranstaltung zum Volkstrauertag Auch bei Trauerfeiern der Bundeswehr wird die Melo- ist das „Lied vom guten Kameraden“. „Woher stammt die gespielt, da die Kameradschaft bei ihr eine wichti- der Text?“ und „Passt das Lied noch in die heutige ge Rolle spielt. Das Gesetz über die Rechtsstellung Gedenkkultur?“ fragen sich viele. Text und Melodie ru- der Soldaten schreibt dazu in §12: „Der Zusammen- fen unterschiedliche Standpunkte hervor und die Dis- halt der Bundeswehr beruht wesentlich auf Kamerad- kussion darüber ist konträr und wird oftmals emotional schaft. Sie verpflichtet alle Soldaten, die Würde, die geführt. Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten und Das Lied hatte aus der Sicht der damaligen Soldaten ihm in Not und Gefahr beizustehen. Das schließt ge- im Befreiungskrieg gegen Napoleon sicher eine Be- genseitige Anerkennung, Rücksicht und Achtung deutung. Auch in den folgenden Kriegen, in denen fremder Anschauungen ein.“ man „Mann gegen Mann“ direkt gegen den „Feind“ Das Lied hat Eingang in internationale Liederbücher kämpfte, war der Kamerad an der Seite wichtig. Das gefunden, darunter auch in japanische. Im Holländi- Lied drückt die Verbundenheit des Soldaten mit dem schen heißt es „Ik had een wapenbroeder ...“ und die Kameraden aus, der gefallen ist. französische Fremdenlegion singt das Lied ebenfalls Aber hat diese ursprüngliche Kameradschaft auch („J’avais un camarade ...“). Sogar in der Weltsprache heute noch im Zeitalter der Massenvernichtungswaf- Ido liegt eine globalisierte Fassung vor: „Me havis fen einen Sinn? Sieht der Pilot des Kampfjets noch kamarado tu plu bonan trovas ne tamburo nin vokadis das einzelne Opfer oder die vielen Opfer, deren Tod il apud me iradis sampaze quale me. ...“ er mit dem Abdrücken einer Rakete auslöst? Ist es in der Jetztzeit noch notwendig, weiterhin an dem Ritual Der gute Kamerad des Liedes festzuhalten? Beim Volksliedarchiv in Ich hatt einen Kameraden, Freiburg erhält man zu Text und Melodie dieses Lie- Einen besseren findst du nit des nähere Informationen. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite Geschichte des Liedes in gleichem Schritt und Tritt. Wie bei vielen Volksliedern sind auch die Urheber dieses Liedes vergessen. Der ursprüngliche Titel lau- Eine Kugel kam geflogen, tete „Der gute Kamerad“. Der Text wurde 1809 von Gilt’s mir oder gilt es dir? Ludwig Uhland (1787 – 1862) in Tübingen verfasst. Ihn hat es weggerissen, Angeregt wurde er von dem Lied „Rewelge“ aus des Er liegt mir vor den Füßen, „Knaben Wunderhorn“. Er schrieb ihn während des Als wär’s ein Stück von mir. Befreiungskrieges der Tiroler unter Andreas Hofer ge- gen Napoleon. Der junge Dichter nahm am Leid der Will mir die Hand noch reichen, Österreicher teil. Er trauerte vor allem um seinen För- Derweil ich eben lad. derer Leo von Seckendorf, der als österreichischer Kann dir die Hand nicht geben, Hauptmann gefallen war. Uhland fühlte auch mit den Bleib du im ew’gen Leben Badenern, die unter französischem Befehl gegen die Mein guter Kamerad! aufständischen Tiroler ziehen mussten. Er wurde auf- gefordert, für ein Flugblatt „zum Besten der (badi- schen) Invaliden des Feldzugs“ ein Kriegslied zu ver- fassen. Da sein Beitrag zu spät beim Verlag ankam, nahm sein Freund Justinus Kerner den „Guten Kame- raden“ in seinen „Poetischen Almanach für das Jahr 1812“ auf. Danach erschien der Text in den Gedicht- bänden Uhlands und 1848 im „Deutschen Volksge- sangbuch“ von Hoffmann von Fallersleben. 1825 gab Friedrich Silcher (1789 – 1860) dem Text die Melodie. Wahrscheinlich ist, dass er die Melodie des schweizerischen Volksliedes „Ein schwarzbrau- nes Mädchen hat ein’n Feldjäger lieb“ aufgegriffen hat, denn auf dem Notenblatt schrieb er: „Aus der Schweiz, im 4/4 Takt verändert, v. Silcher“. 1827 wur- de das Lied mit dem Text von Uhland veröffentlicht und entfaltete im Laufe der Zeit eine einzigartige Wir- kung. Seit dem Ersten Weltkrieg wurde es zum natio- nalen Trauerlied, war Bestandteil des militärischen Abschiedszeremoniells (z. B. bei der Beerdigung Hin- denburgs 1934) und ertönte an Kriegsgräbern und an Gräbern von Ziviltoten. Stilles Gedenken an einen gefallenen Kameraden

44 Materialsammlung für Gedenkstunden zum Volkstrauertag

Gedichte

Auf meinen Schultern Des Krieges Buchstaben

Auf meinen Schultern trage ich meinen Vater. Kummer, der das Mark verzehret, Er hängt über meinem Rücken. Raub, der Hab und Gut verheeret, Ich sehe mich um, wenn wieder ein Fotoreporter kommt Jammer, der den Sinn verkehret, Was wollen sie nur von mir? Elend, das den Leib beschweret, Grausamkeit, die Unrecht lehret, Ist es nicht die natürlichste Sache der Welt, sind die Frucht, die Krieg gewähret. dass ich meinen Vater mit mir trage (Friedrich von Logau, 1604 – 1655) durch die zerschossene Landschaft Koreas, fort aus der Feuerzone, fort in das Hinterland des Krieges, wenn er hungrig und schwach ist zu Mittag und seine Füße müde sind vom langen Umherirren, von Tagen und Nächten zwischen den Fronten? Friede Ich spüre meinen Vater auf meinen Schultern. „Bloß keinen Zank So hat schon Aeneas den alten Anchises und Streit.“ aus dem zerstörten Troja getragen. So werden mich meine Söhne auf dem Rücken tragen Das heißt auf Englisch durch die Schrapnellgeschosse des nächsten Krieges, ganz einfach durch das Zischen der Flammenwerfer, PEACE die das Blitzlicht der Wochenschauen sind. und auf französisch PAIX (Wieland Schmied, geb. 1929) und auf russisch MIR und auf türkisch BARIS Postkarte an junge Menschen und auf hebräisch SHALOM Gebt nicht nach, wie wir getan haben, und auf deutsch Folgt den Verlockungen nicht, denkt nach, verweigert, FRIEDE Verweigert, lehnt ab. oder: Denkt nach, eh ihr Ja sagt, Du komm, Glaubt nicht sofort, glaubt auch dem Einleuchtenden nicht, lass uns Glauben schläfert ein, und ihr sollt wach sein. zusammen spielen, Fangt mit einem weißen Blatt an, schreibt selber die ersten Worte, zusammen sprechen, Lasst euch nichts vorschreiben. zusammen singen, Hört gut zu, hört lange zu, aufmerksam, zusammen essen, Glaubt der Vernunft nicht, der wir uns unterwarfen. zusammen trinken Fangt mit der stummen Revolte des Nachdenkens an, prüft und zusammen leben Und verwerft. damit wir leben. Bildet langsam das Ja eures Lebens. (Josef Reding, geb. 1929) Lebt nicht wie wir. Lebt ohne Furcht.

(Walter Bauer, 1904 – 1976)

Wichtig!

Jedes Jahr können im Herbst zum Thema „Volkstrauertag“ auf den Internetseiten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge aktuelle Texte, Lieder, Gedichte und Rede- vorschläge abgerufen werden (www.volkstrauertag.de bzw. www.volksbund.de).

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Es ist Krieg Ihr Frauen aus bgypten und Libyen, Trinkt ihre Tränen aus dem Nil, Ihr Frauen meines Landes, Ihr werdet Mut finden und Tapferkeit. Junge und Alte, Ihr Frauen aus Kongo und Liberia, Schwarze und Weiße, Trinkt ihre Tränen aus dem Kongo, Es ist Krieg. Ihr werdet euer Gefühl der Minderwertigkeit ablegen. Der Wind Ihr Frauen aus Sambia und Simbabwe, steht gegen uns, Trinkt ihre Tränen aus dem Sambesi, Die Gesetze sprechen gegen uns. Erkenntnis wird euch zuteil werden. Es ist Krieg. Ihr Frauen aus Süd- und Westafrika, Doch verzweifelt nicht, Trinkt ihre Tränen aus dem Limpopo, wir werden gewinnen. Und ihr werdet Befreiung erfahren. Wir wollen weiterkämpfen, Uns Frauen Afrikas, Immer vorwärts gehen, Die wir in Ketten gebunden sind, Nie zurück. Gehört die Gewissheit, Dass wir gewinnen werden. Ihr Frauen meines Landes, Wir wollen weiterkämpfen, Mütter und Töchter, Immer vorwärts gehen, Arbeiterinnen und Hausfrauen, Nie zurück.

Es ist Krieg. (Gcina Mhlophe, geb. 1958; farbige Geschichten- Festgelegte Traditionen erzählerin aus Südafrika schrieb dieses Gedicht Arbeiten gegen uns, 1981, zur Zeit der Apartheid; veröffentlicht in: „Love Starre Religionen Child“, Peter Hammer Verlag, Wuppertal) Behaupten sich gegen uns. Es ist Krieg. Frieden Doch verzweifelt nicht,

Wir werden gewinnen. Frieden entgleitet Wir wollen weiterkämpfen, Dem Anmaßenden, Immer vorwärts gehen, Ist kein neues Parfüm, Nie zurück. Das aufgetragen

Animiert und aufputscht, Ihr Frauen meines Landes, Auch keine Diskobeleuchtung Mutter Afrikas geliebte Töchter, Zum Ein- und Ausschalten. Schwarze wie Weiße, Und er steht nicht Es ist Krieg. zum Verkauf. Mächte der Ausbeutung Zuviel Blut Erniedrigen unsere Mutter Afrika Hat unsere Erde getränkt, Und uns, ihre Töchter. Als dass er sich kaufen ließe, Der Verachtung anheim der einfache Frieden. Fällt ihr mütterliches Lächeln,

Sie hat gesehen, Er ist Freiheit und Lachen, Wie ihre Kinder verkauft wurden, Eine ansteckende Krankheit, Ihre Sklavenketten Und soviel wertvoller Sind Jahrhunderte alt. Als alle Edelsteine, Keine Zeit nun zum Weinen für uns, Die wir kostbar nennen. Sie hat Ströme von Tränen geweint. Kein Einzelner allein Was fließt den Nil hinab, Kann darauf hoffen, Wenn nicht ihre Tränen, Ihn weiterzugeben. Was fließt den Kongo hinab, Frieden Wenn nicht ihre Tränen, Ist ein unsterbliches Licht, Was fließt den Sambesi hinab, Sein Leuchten lebt in uns, Wenn nicht ihre Tränen, Sein Glanz geht von uns aus. Was fließt den Thukela hinab, Wenn nicht ihre Tränen, (Gcina Mhlophe s. o., geschrieben 1985) Und was fließt den Fluss Kei hinab, Wenn nicht Mutter Afrikas Tränen?

Es ist schön, in Frieden zu ruhen, aber es ist besser, in Frieden zu leben. Eintrag im Besucherbuch auf der Kriegsgräberstätte in Costermano (Italien)

46 man muss was tun 1944 / 1945 man muss was tun 1944 1945 muss man was tun was muss man tun krieg krieg tun muss man was krieg krieg krieg krieg man hätte was getan krieg krieg hätte man was getan krieg mai was hätte man getan krieg hätte man was getan krieg krieg tun was man muss krieg was man tun muss krieg tun muss man was krieg was muss man tun krieg

(Franz Mon, geb. 1926) (Ernst Jandl, 1925 – 2000)

Wächst ein Kind ...

Wächst ein Kind mit Kritik auf – lernt es zu verurteilen! Wächst ein Kind mit Hass auf– lernt es zu kämpfen! Wächst ein Kind mit Spott auf – lernt es, scheu zu sein! Wächst ein Kind mit Schmach auf – lernt es, sich schuldig zu fühlen! Wächst ein Kind mit Toleranz auf – lernt es, geduldig zu sein! Wächst ein Kind mit Ermutigung auf – lernt es, selbstsicher zu sein! Wächst ein Kind mit Lob auf – lernt es, dankbar zu sein! Wächst ein Kind mit Aufrichtigkeit auf – lernt es, gerecht zu sein! Wächst ein Kind mit Sicherheit auf – lernt es, zuversichtlich zu sein! Wächst ein Kind mit Anerkennung auf – lernt es, sich selber zu schätzen! Wächst ein Kind mit Güte und Freundlichkeit auf – lernt es, die Welt zu lieben!

(Unbekannter Verfasser)

Irgendwo im Osten

Irgendwo im Osten für meine matten Tage. liegt ein Grab. Darf die Frage Meine Seele klingen? sucht Irgendwo im Osten und wird nicht müde. liegt mein Grab Was du warst, Hast Du das bist du, Blumen, heut’ und immer. Birken, Schon ein Schimmer Beter – dieses Irgendwo Irgendwo? wäre Trost (Karl Hochmuth, geb. 1919)

Kein Mann ist so dumm, den Krieg herbeizuwünschen und nicht den Frieden; denn im Frieden tragen die Söhne ihre Väter zu Grabe und im Krieg die Väter ihre Söhne. Herodot (484 v. Chr. – ca. 430 v. Chr.)

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Hiroshima Hiroshima (Wishful thinking) Der den Tod auf Hiroshima warf Ging ins Kloster, läutet dort die Glocken. There’s a shadow of a man at Hiroshima Der den Tod auf Hiroshima warf Where he passed the moon Sprang vom Stuhl in die Schlinge, erwürgte sich. In a wonderland at Hiroshima Der den Tod auf Hiroshima warf Beneath the augustmoon Fiel in Wahnsinn, wehrt Gespenster ab Hunderttausend, die ihn angehen nächtlich And the world remembers his face Auferstandene aus Staub für ihn. Remembers the place was here

Nichts von alledem ist wahr. Fly the metal bird to Hiroshima Erst vor kurzem sah ich ihn And the way a load Im Garten seines Hauses vor der Stadt. Speak the magic word to Hiroshima Die Hecken waren noch jung und die Rosenbüsche zierlich. Let the sky explode Das wächst nicht so schnell, dass sich einer verbergen könnte Im Wald des Vergessens. Gut zu sehen war And the world remembers his name Das nackte Vorstadthaus, die junge Frau Remembers the flame was Hiroshima Die neben ihm stand im Blumenkleid Das kleine Mädchen an der Hand And the world remembers his name Der Knabe, der auf seinem Rücken saß Remembers the flame was Und über seinem Kopf die Peitsche schwang. Hiroshima, Hiroshima, ... Sehr gut erkennbar war er selbst (Unbekannter Verfasser) Vierbeinig auf dem Grasplatz, das Gesicht

Verzerrt von Lachen, weil der Photograph Hinter der Hecke stand, das Auge der Welt. Verdun, viele Jahre später

(Marie Luise Kaschnitz, 1901 – 1974) Auf den Schlachtfeldern von Verdun finden die Toten keine Ruhe. Täglich dringen dort aus der Erde Helme und Schädel, Schenkel und Schuhe.

Über die Schlachtfelder von Verdun Frieden laufen mit Schaufeln bewaffnete Christen, kehren Rippen und Köpfe zusammen Von dem Turme im Dorfe klingt und verfrachten die Helden in Kisten. Ein süßes Geläute; Man sinnt, was es deute, Oben am Denkmal von Douaumont Dass die Glocke, im Sturme nicht schwingt. liegen zwölftausend Tote im Berge. Mich dünkt, so hört’ ich’s als Kind; Und in den Kisten warten achttausend Dann kamen die Jahre der Schande; Männer vergeblich auf passende Särge. Nun trägt’s in die Weite der Wind, Dass Frieden im Lande. Und die Bauern packt das Grauen. Gegen die Toten ist nichts zu erreichen. Wo mein Vaterhaus fest einst stand, Auf den gestern gesäuberten Feldern Wächst wuchernde Heide; liegen morgen zehn neue Leichen. Ich pflück’, eh ich scheide, Einen Zweig mir mit zitternder Hand. Diese Gegend ist kein Garten, Das ist von der Väter Gut und erst recht kein Garten Eden. Mein einziges Erbe; Auf den Schlachtfeldern von Verdun Nichts bleibt, wo mein Haupt sich ruht, stehn die Toten auf und reden. Bis einsam ich sterbe. Zwischen bhren und gelben Blumen, Meine Kinder verwehte der Krieg; zwischen Unterholz und Farnen Wer bringt sie mir wieder? greifen Hände aus dem Boden, Beim Klange der Lieder um die Lebenden zu warnen. Feiern Fürsten und Herren den Sieg. Sie freun sich beim Friedensschmaus, Auf den Schlachtfeldern von Verdun Die müß’gen Soldaten fluchen – wachsen Leichen als Vermächtnis. Ich ziehe am Stabe hinaus, Täglich sagt der Chor der Toten: Mein Vaterland suchen. „Habt ein besseres Gedächtnis!“

(Ricarda Huch, 1864 – 1947) (Erich Kästner, 1899 – 1974)

48 Soldatenfriedhof Die jungen toten Soldaten

Die Luft ist brüchig. Die jungen toten Soldaten sprechen nicht. Fünftausend Kreuze Aber man hört sie in stillen Häusern: In Reih und Glied, Wer hat sie nicht gehört? Streng ausgerichtet Sie haben ein Schweigen, das spricht für sie, Auf Vordermann. nachts, wenn die Uhr schlägt. Sie sagen: Wir waren jung. Nach dem Abendappell Wir sind gestorben. Denkt an uns. Gehen sie in die Stadt. Sie sagen: Wir haben getan was wir konnten, Sie bevölkern Ruinen aber bevor es vorbei ist, ist es nicht getan. Und schwarze Brücken, Sie sagen: Wir haben unser Leben gegeben, Werfen Laub in die Grachten. aber bevor es vorbei ist, kann keiner wissen, was unsere Leben gaben. Sie besuchen den Dom Sie sagen: Unser Tod ist nicht unser. Und verdunkeln den Heiland. Er ist euer; Aber es glimmen die silber- er wird bedeuten, was ihr daraus macht. Beschlagenen Ecken des Messbuchs. Sie sagen: Ob unser Leben und Tod für Frieden war, Und das Stigma 1 der Abendröte und für neue Hoffnung, Brennt auf den Dächern. oder für nichts, können wir nicht sagen, denn ihr müsst es sagen. Als Fensterschatten Sie sagen: Wir lassen Euch unsere Tode. Lehnen sie an der Wand der Bar. Gebt ihnen Sinn. Sie hauchen Eis in die Gläser. Wir waren jung, sagen sie. Wir sind gestorben. Sie blicken aus Gitarren Denkt an uns. Den Frauen nach. (Archibald MacLeish, 1892 – 1982,

übersetzt von E. Fried) Kurz vor Mitternacht

Hallt gräberhin Das Todes Clairon 2, So fing es an Das trostlose Trommeln, Die große Retraite 3, Zuerst ging man mit Keulen aufeinander los. Der Zapfenstreich. Es folgten Speer, Pfeil und Bogen, doch das war bald auch schon nicht mehr genug, In erster Helle was Besseres musste her, Stehen sie wieder und man höre und staune, Starr im Geviert. man erfand die Pistole. Fünftausend Kreuze. Auch die Kanonen ließen sich nicht lumpen Streng ausgerichtet und erschienen kurz darauf. Auf Vordermann. Danach kamen sie angeflogen, - die Handgranaten, (Peter Huchel, 1903 – 1981) zu Verteidigungszwecken, für den Rucksack nie zu groß, leicht und praktisch. Etwas verspätet rollten sie an, Nacht-Denken die Panzer, das musste ja so sein. Nur Krieger Nur das tollste Ding, was man je erfand, vergessen tapfer war eine Bombe, die aus Atom bestand. und Abschied Ein großer Pilz, macht sie stark. ihr Markenzeichen, wo er wächst, sich nichts mehr regt und (Dagmar Leupold) mit der Erde bald alles zu Ende geht.

(Petra Rötzer, Hauptschülerin, 15 Jahre Aus: Fragen und Versuche, Zeitung der Freinetbewegung)

1 griechisch: Stich, Wund- oder Brandmal 2 Signalhorn 3 Rückzug; früher Zapfenstreich der Kavallerie

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Alle Tage Verzicht

Der Krieg wird nicht mehr erklärt, Aus dem Haus, in dem ich geboren bin, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte hat mich der Krieg vertrieben. ist alltäglich geworden. Der Held Da hab ich VERGELTUNG! und NIEMALS VERZICHT! bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache tief in mein Gedächtnis geschrieben. ist in die Feuerzonen gerückt. Die Uniform des Tages ist die Geduld, Das liebe Haus meiner Kinderzeit die Auszeichnung der armselige Stern steht heute nicht leer und verlassen: der Hoffnung über dem Herzen. Die Fremden, die nun da zu Hause sind – soll ich sie verfluchen und hassen? Er wird verlieren, wenn nichts mehr geschieht, Im Haus, in dem ich einst lachte und sang, wenn das Trommelfeuer verstummt, hör ich ihre Kinder jetzt lachen. wenn der Feind unsichtbar geworden ist Nähm’ ich mir’s mit Gewalt zurück, und der Schatten ewiger Rüstung würd ich sie heimatlos machen. den Himmel bedeckt. Spielt weiter, ihr Kinder, ich seh euch gern. Er wird verlieren Nichts soll euren Frieden stören. für die Flucht vor den Fahnen, Das Haus, in dem ich geboren bin, für die Tapferkeit vor dem Freund, das soll euch für immer gehören. für den Verrat unwürdiger Geheimnisse (Gudrun Pausewang, geb. 1928) und die Nichtachtung jeglichen Befehls.

(Ingeborg Bachmann, 1926 – 1973)

vater komm Paul vater komm erzähl vom krieg Neunzehnhundertsiebzehn vater komm erzähl wiest eingerückt bist an einem Tag unter Null geboren, vater komm erzähl wiest gschossen hast vater komm erzähl wiest verwundt wordn bist rannte er wild über den Kinderspielplatz, vater komm erzähl wiest gfallen bist fiel, und rannte weiter vater komm erzähl vom Krieg den Ball werfend über den Schulhof, (Ernst Jandl, 1925 – 2000) fiel und rannte weiter

das Gewehr im Arm über das Übungsgelände, fiel, und rannte weiter Über einige Davongekommene an einem Tag unter Null Als der Mensch in ein russisches Sperrfeuer Unter den Trümmern und fiel. Seines Bombardierten Hauses (Rainer Brambach, 1917 – 1983) Hervorgezogen wurde, Schüttelte er sich Und sagte: Nie wieder.

Jedenfalls nicht gleich.

(Günter Kunert, geb. 1929)

Die größten Verbrecher sind immer noch diejenigen, die sich abwenden und das Unrecht nicht sehen wollen, obwohl sie wissen, dass es Unrecht ist. Bob Dylan (geb. 1941)

50 Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde

Aber nach vielen Jahrmillionen war der Mensch endlich klug genug. Er sprach: Wer redet hier von Gott? Ich nehme meine Zukunft selbst in die Hand. Er nahm sie, und es begannen die letzten sieben Tage der Erde.

Am Morgen des ersten Tages Die anderen starben an Hunger beschloss der Mensch weil etliche von ihnen die Schlüssel frei zu sein und gut, schön und glücklich. zu den Getreidesilos versteckt hatten. Nicht mehr Ebenbild eines Gottes, Und sie fluchten Gott, sondern ein Mensch. der ihnen doch das Glück schuldig war. Und weil er etwas glauben musste, Es war doch der liebe Gott! glaubte er an die Freiheit und an das Glück, an die Börse und an den Fortschritt, Am fünften Tag an die Planung und an seine Sicherheit. drückten die letzten Menschen den roten Knopf, Denn zu seiner Sicherheit denn sie fühlten sich bedroht. hatte er den Grund zu seinen Füßen gefüllt Feuer hüllte den Erdball ein, mit Raketen und Atomsprengköpfen. die Berge brannten, und die Meere verdampften, und die Betonskelette in den Städten Am zweiten Tag der letzten Zeit standen schwarz und rauchten. starben die Fische in den Industriegewässern, Und die Engel im Himmel sahen, die Vögel am Pulver aus der chemischen Fabrik, wie der blaue Planet rot wurde, das den Raupen bestimmt war, dann schmutzig braun und schließlich aschgrau. die Feldhasen an den Bleiwolken von der Straße, Und sie unterbrachen ihren Gesang für zehn Minu- die Schoßhunde an der schönen roten Farbe in der ten. Wurst, die Heringe in Öl auf dem Meer Am sechsten Tag und an dem Müll auf dem Grunde des Ozeans. ging das Licht aus. Denn der Müll war aktiv. Staub und Asche verhüllten die Sonne, den Mond und die Sterne. Am dritten Tag Und die letzte Küchenschabe, verdorrte das Gras auf den Feldern die in einem Raketenbunker überlebt hatte, und das Laub auf den Bäumen, ging zugrunde an der übermäßigen Wärme, das Moos an den Felsen die ihr gar nicht gut bekam. und die Blumen in den Gärten. Denn der Mensch machte das Wetter selbst Am siebten Tag und verteilte den Regen nach genauem Plan. war Ruhe. Es war nur ein kleiner Fehler Endlich. in dem Rechner, der den Regen verteilte. Die Erde war wüst und leer, Als sie den Fehler fanden, und es war finster über den Rissen und Spalten, lagen die Lastkähne auf dem trockenen Grund die an der toten Erdrinde des schönen Rheins. aufgesprungen waren. Und der Geist des Menschen Am vierten Tag irrlichtierte als Totengespenst über dem Chaos. gingen drei von vier Tief unten, Milliarden Menschen zugrunde. in der Hölle, aber Die einen an den Krankheiten, erzählte man die spannende Geschichte die der Mensch gezüchtet hatte, von dem Menschen, denn einer hatte vergessen, die Behälter zu ver- der seine Zukunft in die Hand nahm, schließen, und das Gelächter dröhnte hinauf die für den nächsten Krieg bereit standen. bis zu den Chören der Engel. Und ihre Medikamente halfen nichts. Die hatten zu lange schon wirken müssen (Jörg Zink, geb. 1922) in Hautcremes und Schweinelendchen.

Die Frage des Friedens ist keine Frage an die Welt, sondern eine Frage an jeden selbst. Karl Jaspers (1883 – 1969)

51

Wann ist denn endlich Frieden? Wenn jeder eine Blume pflanzte

Frieden, Frieden – alles schreit nach Wenn jeder eine Blume pflanzte, Frieden, Frieden, Frieden, Frieden. jeder Mensch auf dieser Welt, Ich will auch und einfach: Frieden, und, anstatt zu schießen, tanzte Frieden ohne Wenn und Aber. und mit Lächeln zahlte statt mit Geld – wenn ein jeder einen andern wärmte, Frieden, Frieden woll’n sie alle, keiner mehr von seiner Stärke schwärmte, Frieden woll’n auch die großen. keiner mehr den andern schlüge, Frieden auch die kleinen Fürsten, keiner sich verstrickte in der Lüge, Frieden wollen all die Führer, wenn die Alten wie die Kinder würden, Präsidenten und Monarchen, sie sich teilten in den Bürden, Bettler, Waffenfabrikanten, wenn dies WENN sich leben ließ, Generäle und Minister. wär’s noch lang kein Paradies – Frieden! Frieden! – alles schreit, bloß die Menschenzeit hätt’ angefangen, Ost und West auf beiden Seiten. die in Streit und Krieg uns beinah ist vergangen. Friedenskämpfer sind sie alle, (Peter Härtling, geb. 1933) die in aller Offenheit,

Massenmorde vorbereiten. Krieg und Frieden Frieden, Frieden über alles! Panzer und Raketenwaffen, Krieg ist etwas Bomben, Giftgas und Bazillen, im Fernsehen Overkill – alles will! man kann es abschalten Frieden! Krieg ist etwas Ach, um ihres Friedens willen, in der Zeitung ach, dass solcher Frieden werde, man kann Salat drin einwickeln dazu brauchen all die Großen dieser Erde, Krieg ist etwas immer noch ’nen kleinen Sieg, das die Alten erlebt haben aber immer neue Feinde. man kann’s nicht mehr hören Ach, zum Frieden, den die meinen, braucht es Krieg. Krieg ist meistens weit weg (Wolf Biermann, geb. 1936) Frieden ist nichts was man mal anschalten kann Der Mandelzweig Frieden ist nichts Der jüdische Schriftsteller Schalom Ben-Chorin hat was sich schnell mitten im Krieg, im Jahr 1942, folgende Verse auswickeln lässt gedichtet: Frieden ist nichts Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, was man Jüngeren oder blteren ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? überlassen soll Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, Frieden beginnt immer achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit. ganz nah Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt. (Ingeborg Görler, geb. 1937)

Der Mensch ist der einzige unter den Primaten, der die Tötung seiner Artgenossen plan- voll, in größerem Maßstab und enthusiastisch betreibt. Der Krieg gehört zu seinen wich- tigsten Erfindungen; die Fähigkeit Frieden zu schließen, ist vermutlich eine spätere Er- rungenschaft. Die ältesten Überlieferungen der Menschheit, ihre Mythen und Heldensa- gen, handeln hauptsächlich von Mord und Totschlag. Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929, Aussichten auf den Bürgerkrieg, 1944)

52 Frieden

Frieden ist ein Geschenk Gottes, Frieden ist wie eine Blume. aber es kommt nicht schön verpackt Die Saat dazu liegt im Boden, vom Himmel gefallen. aber sie kann nur wachsen, Man kann ihn auch nicht mit noch so viel wenn der Boden gut ist, Geld kaufen. die Sonne für warmes Klima sorgt, Auch im Lotto kann man ihn nicht gewinnen. Regen den Boden feucht hält, Er ist nicht wie ein Schatz kein zu starker Wind sie abknickt. irgendwo auf der Welt vergraben. Sie kann sich nur vermehren, wenn es um sie herum noch viele Frieden ist ein Geschenk, gedeihende Blumen gibt. ein Geschenk in uns. Wir müssen ihn in uns finden, Frieden ist wie eine Blume. ihn herauslassen, Die Saat dazu liegt im Menschen, unseren Egoismus überwinden, aber Frieden kann nur wachsen, den Frieden verbreiten. wenn wir das Gute in uns wirken lassen, wenn wir für Wärme im Miteinander Für den Frieden müssen wir alle etwas tun, der Menschen sorgen, wenn wir friedlich mit er ist nicht nur Sache der Politiker. anderen umgehen, anderen helfen und Wir alle können etwas für den Frieden tun, uns helfen lassen, miteinander sprechen, den Menschen zeigen, wie man in Frieden andere ausreden lassen, wenn wir ihnen zusammen leben, eine neue Welt schaffen kann. zuhören, ihre Meinung akzeptieren wenn wir aufeinander zugehen, Wir müssen Frieden schaffen, keinen Menschen ausgrenzen, indem wir Menschen dieser Welt keinem Menschen den Mut nehmen. miteinander sprechen, einander zuhören, Frieden kann es in der Welt geben, Freude und Kummer teilen, wenn viele Menschen so uns gegenseitig helfen, mit anderen umgehen. uns die Hände reichen! Wir wollen damit anfangen.

(Von SchülerInnen der

Dannewerk-Realschule Schleswig

zum Volkstrauertag)

Frieden

Frieden – was ist das? Betonung völkischer, rassischer oder religiöser Unterschiede oder Abbau ungerechter Vorurteile? Nicht – Krieg? Anpassung oder Wagnis? Sehnsucht nach Ruhe und Stille? Zustand oder ständige Aufgabe für die Zukunft? Unerfüllbarer Traum? – Eine Utopie? Gefühlvolle Appelle oder zielbewusste Planung? Innere Zufriedenheit des Einzelnen trotz Not und Gewalt und Krieg? Frieden – was ist das? Erzwungenes Verhalten des Schwächeren? Großmut der Stärkeren? Die UNO? Entscheidung zur unbedingten Gewaltlosigkeit? Die Politiker? Die Militärs? Frieden – was bedeutet das? Die Parteien? Die Kirchen? Balance of power (terror)? Oder ...? Erhaltung bestehender Verhältnisse oder „Gewaltlosigkeit ist kein Verzicht auf Taten!“ Aktion für soziale Gerechtigkeit in der Welt? (Martin Luther King Jr., 1929 – 1968)

Der Krieg ist ein Massaker von Leuten, die sich nicht kennen, zum Nutzen von Leuten, die sich kennen, aber sich nicht massakrieren. Paul Valéry (1871 – 1945)

53

Texte

Dann gibt es nur eins!

Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Was- serrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützengewehre montieren, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst statt Puder und Kakao Schießpulver ver- kaufen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das Leben, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst Hasslieder singen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Pfarrer auf der Kanzel. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst den Mord segnen und den Krieg heilig sprechen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Kapitän auf dem Dampfer. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keinen Weizen mehr fahren – son- dern Kanonen und Panzer, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Pilot auf dem Flugfeld. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Bomben und Phosphor über die Städte tragen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Schneider auf deinem Brett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Uniformen zuschneiden, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Richter im Talar. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst zum Kriegsgericht gehen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransport, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du Mutter in Frisco und London, du am Hoangho und am Mississippi, du Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins: Sagt NEIN! Mütter sagt NEIN!

Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann: dann: In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die großen Schiffe stöhnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge gegen die toten vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und muschelüberwest den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich, fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben – die Straßenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kratzerzerrissenen Straßen –

54 eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwälzen, gefräßig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitäten und Schauspielhäusern, auf Sport- und Kinderspielplätzen, grausig und gierig, unaufhaltsam – der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis wird in der verdorrten Erde vertrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden bckern erfrieren und die Kühe werden ihre totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken in den Instituten werden die genialen Erfindungen der großen brzte sauer werden, verrotten, pilzig ver- schimmeln in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern werden die letzten Säcke Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und Kirschsaft verkommen – das Brot unter den umgestürzten Tischen und auf den zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter wird stinken wie Schmier- seife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten Pflügen hingesunken sein wie ein erschlagenes Heer und die stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras bedeckt, zerbröckeln – zerbröckeln – zerbrö- ckeln – dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehba- ren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend – und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbun- ker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch – all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn – – wenn – – wenn ihr nicht NEIN sagt. (Wolfgang Borchert, 1921 – 1947)

Ausblick (1897)

Wenn ich auch ganz gut weiß, dass neun Zehntel der Dutzend weiße Blätter umzuschlagen und dorthin zu gebildeten Welt die (Friedens-) Bewegung noch ge- schreiben: Nun wie ist es gekommen? Siehe S. –. Dann, ring schätzen und ignorieren – und eines dieser wenn ich beim Weiterschreiben ganz unvermutet auf Zehntel sie sogar befeindet – das tut nichts –, ich ap- diese Frage stoße, kann ich sie beantworten. Und so pelliere an die Zukunft. Das zwanzigste Jahrhundert frage ich hier einen viel, viel späteren Leser, der diesen wird nicht zu Ende gehen, ohne dass die menschli- Band vielleicht aus verstaubtem Bodenkram hervorge- che Gesellschaft die größte Geißel – den Krieg – als holt hat: „Nun, wie ist es gekommen, hatte ich Recht?“ legale Institution abgeschüttelt haben wird. Ich habe Der möge dann auf den Rand die Antwort schreiben – bei meiner Tagebuchführung die Gewohnheit, bei ich sehe die Glosse schon vor mir: „Ja, Gott sei Dank!“ Eintragungen von Situationen, die drohend oder ver- heißend sind, ein Sternchen zu machen, ein Paar (Berta von Suttner, 1843 – 1914)

Wolfgang Borchert schrieb vor Jahrzehnten unter dem Eindruck des Krieges:

„Als sie zweiundzwanzig waren, schossen sie mit achtzig waren, da starben sie. Sie wurden nebeneinan- Gewehren nach einander. Als sie zweiundvierzig wa- der begraben. Als sich nach hundert Jahren ein Regen- ren, warfen sie mit Bomben. Als sie zweiundsechzig wurm durch ihre beiden Gräber fraß, merkte er gar nicht, waren, nahmen sie Bakterien. Als sie zweiund- dass hier zwei verschiedene Menschen begraben wa- ren. Es war dieselbe Erde.“

Ich habe ihn erschossen ...

Nachher fuhr ich an den qualmenden Trümmern vor- erschossen, und dabei liefen mir die Tränen über die bei. Aus der Luke hing ein Körper, der Kopf nach un- Backen. Nun weine ich schon seit drei Nächten über den ten, seine Füße waren eingeklemmt und brannten bis toten russischen Panzerfahrer, dessen Mörder ich bin. zum Knie. Der Körper lebte, der Mund stöhnte. Es Die Kreuze von Gumrak erschüttern mich und vieles, müssen entsetzliche Schmerzen gewesen sein. Und über das die Kameraden mit geschlossenem Mund hin- es gab keine Möglichkeit, ihn zu befreien. Selbst wegsehen. Ich fürchte, nie mehr ruhig schlafen zu kön- wenn es diese Möglichkeit gegeben hätte, wäre er nen, wenn ich heimkommen sollte zu Euch, Ihr Lieben. doch nach Stunden qualvoll gestorben. Ich habe ihn Mein Leben ist ein entsetzlicher Widerspruch.

(Unbekannter Soldat aus Stalingrad)

55

Jemand besucht etwas mit seinem Kind

„Der Bauer hat gesagt: erst rechts und dann links bis Stein hinwerfe, da war die Sache mit Blanchard. zu dem halbhohen Haus und dann immer gradeaus Besinnst du dich auf sein Bild? Es steht bei Vater auf ... Warte mal ... Hier ist die Bürgermeisterei ... da ist dem Schreibtisch. Ja, der Mann mit dem großen Bart ...das war früher nicht ... das hat hier nie gestanden und dem ulkigen Stock. Das war Blanchard. Junge, ... Ah, hier ist die Chaussee. Jetzt weiß ich weiter. wenn du den gekannt hättest! – so einen gab es nicht Also, pass auf mein Junge, da drüben lagen wir: von mehr. Klug und anständig und so ein Freund! So ein gu- dem kleinen Berg an bis ungefähr hierher. Nein, es ter Freund wie dein Freund René. Der Blanchard – Gu- hat sich mächtig verändert – das war hier alles nicht. ten Tag Madamchen, na immer noch so rüstig auf den Na, gar nichts war – gar nichts. Hier lagen wir, dann Beinen? Ja, sehr heiß! – der Blanchard, der lag da auf kam eine ganze Weile nichts, das war das dem Horchposten. Das ist ein Posten, der muss hor- Niemandsland – das gehörte keinem ... und dann chen, wann die Feinde kommen. Und da kam ein kamen die Deutschen. Da drüben lagen sie – der Schrapnell geflogen, und ein Eisenstück muss ihn gera- Horchposten lag hier, nein warte mal, da – ja, gerade de in den Bauch getroffen haben. Das war nachts um da, wo jetzt der Teich ist. Ihr Graben fing da an. Jetzt zwölf. Junge, halt doch meinen Finger nicht so fest, es erkenne ich alles wieder. Immer vier Tage hier vorn, tut dir ja hier keiner was! Und da hat er geschrieen, drei dann drei Tage Ruhe hinten. Na, Ruhe ... Und dann Nächte und zwei Tage hat er noch gelebt. Nach mir hat der Urlaub, da wurdest du geboren – und dann er immer gerufen, nach mir und nach seiner Mutter. Die wieder her. Nein, die Bauern waren alle fort – es Stimme wurde immer leiser. Zuletzt hat er nur noch ganz waren nur Soldaten hier. Wir hatten aneinander leise mit seinem Verbandsfetzen gewinkt – ganz wenig. vollkommen genug. Komm mal ein Stück weiter nach Wir konnten ihn nicht holen. Niemand durfte heraus – es vorn, vielleicht kann ich dir da etwas zeigen. Bist du wäre der sichere Tod gewesen. Damals waren die Deut- müde? Wir waren auch müde, manchmal. Ja, nachts schen gerade furchtbar erbittert, ich glaube sie hatten auch, du Dummerchen. Grade nachts. Meinst du, da eine Schlacht verloren. Und da mussten wir ihn liegen hat’s aufgehört? Na – man konnte schon sehen: sie lassen, den Blanchard, die ganze Zeit über. Ich wollte haben Raketen angezündet. Ja – viele. Viele sind auf ihn schießen – damit er nicht so zu leiden brauchte. totgeschossen. Siehst du dort oben die schwarzen Aber es ging nicht, er lag in einer Mulde, und ich konnte Kreuze? Das ist der Soldatenfriedhof, da liegen sie, auch nicht. Er hat so geschrieen, dass sie aus dem Ne- da liegen sie alle ... Siehst du, über dieses Feld hier bengraben zu uns gekommen sind, weil sie wissen woll- muss der Graben gelaufen sein, grade hier. Und da! ten, was es da gäbe. Hier war das. Da hinten ist der da, wo der Baum steht, da lagen die anderen. Dazwi- Feldwebel gefallen, da war der große Einschlag, bei schen? Dazwischen war ein leeres Feld. Fünfmal dem zwei Korporalschaften daraufgegangen sind ... da sind wir da gelaufen, fünf Angriffe haben sie gemacht ungefähr muss ich gestanden haben. Nein, nein! Das ist ... und sie sind auch darüber hin gelaufen, die Deut- nur in deinen Lesebüchern so. Du musst nicht glauben, schen ... immer ist alles so geblieben, wie es war. Da was in deinen Geschichtsbüchern steht – es ist alles drüben, aber natürlich – genau an der Stelle – da war nicht wahr. Dies hier – das ist wahr, Junge ...“ der Offiziersunterstand, von da kamen immer nachts „Was hast du, Papa? Warum sagst du nichts mehr? die Krankenträger, und hier waren die größten Ein- Nimm doch die Hand von den Augen –! Papa –!“ schläge. Und da, gerade da, wo ich jetzt den kleinen (Kurt Tucholsky, 1890 – 1935)

Ein Kind berichtet

Nguyen van Hoi, 10 Jahre alt, berichtet:

„Ich war auf dem Weg zur Schule, morgens früh. Wir spielten etwas auf der Wiese, mein Freund und ich. Plötzlich hörten wir Flugzeuge. Wir hatten gelernt, uns sofort hinzuschmeißen. Es war sehr laut. Ich lag auf dem Rücken. Ich schrie. Mein Rücken tat entsetzlich weh. Ich konnte nicht mehr aufstehen. Ich weiß nicht mehr, was geschah. Später saß meine Mutter am Bett. Ich war im Krankenhaus. Meine Beine waren noch da. Ich spürte nichts mehr.“

Nguyen wird immer auf den Rollstuhl angewiesen sein; er kann nie wieder gehen.

56 Krieg

Ein Mädchen fragte seine Eltern: „Warum hat Onkel „Bei uns nicht“, sagte die Mutter. „Aber jeden Tag ist ir- Peter nur einen Arm? Hatte er einen Autounfall?“ gendwo auf der Erde Krieg.“ „Nein“, sagte die Mutter. „Sein linker Arm ist im Krieg Und wieder ein anderes Mal sah das Mädchen die Ta- verwundet worden. Die brzte mussten ihn ganz ab- gesschau im Fernsehen, und es sah, wie Frauen und nehmen.“ Kinder durch eine brennende Straße rannten. Ein Junge Ein anderes Mal fragte das Mädchen. „Stimmt es, war dabei, der schleppte ein schweres Bündel hinter dass bei Matthias im Keller siebzehn Tote liegen? sich her. Ein brennendes Holzstück fiel auf das Bündel. Das hat er uns erzählt.“ Der Junge blieb stehen und schlug mit der flachen Hand „Unsinn!“ sagte die Mutter. „Früher stand dort ein an- auf die Flammen. deres Haus. Es wurde im Krieg von einer Bombe ge- „Schmeiß es doch weg! Lauf weiter!“ rief das Mädchen troffen. Alle Menschen, die dort wohnten, waren im am Fernsehapparat. „Lass es doch brennen!“ Keller verschüttet. Aber man hat sie später ausge- „Dort ist Krieg“, sagte die Mutter. „In dem Bündel ist al- graben und beerdigt. Matthias soll sich nicht wichtig les, was der Junge noch hat, alle seine Kleider und sein tun mit einem so großen Unglück.“ Bettzeug. Die Leute sind auf der Flucht, sie haben keine Wieder ein anderes Mal fragte das Mädchen: „Wa- Wohnung mehr.“ rum habe ich nur einen Großvater? Ist der andere Dann kamen andere Bilder. Das Mädchen sah Männer schon lange tot?“ mit Gewehren, die schossen auf andere Männer. „Er ist im Krieg gefallen, eine Kugel hat ihn in den Das Mädchen rief: Kopf getroffen“, sagte der Vater. „Damals war Mutter „Warum machen die Menschen denn immer wieder so alt, wie du jetzt bist.“ Krieg?“ „Und das war dein Vater?“ fragte das Mädchen die „Weil sie zu dumm und zu selbstsüchtig sind“, sagte der Mutter. Vater. „Weil sie immer noch nicht gemerkt haben, dass Sie nickte. Krieg für alle nur Unglück bringt.“ „Aber jetzt ist doch kein Krieg?“ fragte das Mädchen. (Ursula Wölfel, geb. 1922)

Ausschnitte aus dem Interview, das die Zeitschrift „Der Spiegel“ 1981 mit dem amerika- nischen Erfinder der Neutronenwaffe, Samuel T. Cohen geführt hat:

Spiegel: Wann haben Sie die Bombe erfunden? Cohen: Das geschah im Sommer 1958. Spiegel: Was war das für eine Entdeckung? Cohen: Es ist das, was wir eine saubere Kernwaffe nennen. Nämlich mit wenig Radioaktivität. Spiegel: Entwickeln Sie gerne Waffen? Cohen: Ehrlich gesagt, ja. Es ist eine Herausforderung. Eine sehr faszinierende Beschäftigung. Spiegel: Wie denkt Ihre Frau über die Bombe? Cohen: Meine Frau beschäftigt sich absolut nicht mit der Bombe. Sie spielt Tennis und beschäftigt sich mit dem Haushalt. Spiegel: In welchem Falle könnte ihre Bombe zum Einsatz kommen? Cohen: In einer herkömmlichen Kriegssituation, z. B. beim Kampf um eine Stadt. Hoch oben in der Luft, so 600 bis 900 Meter über der Stadt, käme die Neutronenbombe zur Explosion. Der Luftdruck, der bei einer Explosion hoch oben in der Luft entsteht, erreicht die Erdoberfläche nicht. Die Neutronenbombe wird deshalb als Bombe geschildert, die Menschen tötet, aber Eigentum verschont. Spiegel: Kann sich die Zivilbevölkerung vor dieser Bombe schützen? Cohen: Die Bürger können zweierlei tun: die Stadt verlassen, bevor die Schlacht beginnt oder Schutz unter der Erde suchen. Spiegel: Was passiert mit den Soldaten, über denen die Bombe explodiert? Cohen: Die werden schwer verletzt durch intensive Bestrahlung mit Neutronen. Innerhalb eines bestimmten Strahlengebietes werden sie außer Gefecht gesetzt, gelähmt. Spiegel: Sterben sie danach? Cohen: Ja, die meisten sterben nach einiger Zeit. Je dichter sie dran sind, desto schneller sterben sie. Spiegel: Ist das nicht ein schrecklicher Tod? Cohen: Sterben ist immer schrecklich. Spiegel: Glauben Sie, dass es Krieg gibt? Cohen: Ja. Schrecklich, das zu sagen, aber ich glaube, es liegt einfach in der Natur des Menschen: das Kämpfen. In jedem Krieg haben die Parteien stets ihre besten Waffen eingesetzt. Ich befürchte also nicht nur, dass es wieder Krieg gibt, sondern, dass dann auch Kernwaffen eingesetzt werden.

57

Jesus macht nicht mehr mit

Er lag unbequem in dem flachen Grab. Es war wie sind. Und die Leute sind manchmal so steif und immer reichlich kurz geworden, so dass er die Knie krumm gefroren. Das knirscht dann so, wenn sie in krumm machen musste. Er fühlte die eisige Kälte im die engen Gräber geklemmt werden. Und die Erde ist Rücken. Er fühlte sie wie einen kleinen Tod. Er fand, so hart und eisig und unbequem. Das sollten sie den dass der Himmel sehr weit weg war. So grauenhaft ganzen Tod lang aushalten. Und ich, ich kann das weit weg, dass man gar nicht mehr sagen mochte, er Knirschen nicht mehr hören. Das ist ja, als wenn Glas ist gut oder er ist schön. Sein Abstand von der Erde zermahlen wird. Wie Glas. war grauenhaft. All das Blau, das er aufwandte, Halt das Maul, Jesus. Los, raus aus dem Loch. Wir machte den Abstand nicht geringer. Und die Erde müssen noch fünf Gräber machen. Wütend flatterte war so unirdisch kalt und störrisch in ihrer eisigen Er- der Nebel vom Mund des Unteroffiziers weg auf Je- starrung, dass man sehr unbequem in dem viel zu sus zu. Nein, sagte der und stieß zwei feine Nebel- flachen Grab lag. Sollte man das ganze Leben so striche aus der Nase, nein. Er sprach sehr leise und unbequem liegen? Ach nein, den ganzen Tod hin- hatte die Augen zu: Die Gräber sind doch auch viel durch sogar! Das war ja noch viel länger. Zwei Köpfe zu flach. Im Frühling kommen nachher überall die erschienen am Himmel über dem Grabrand. Na, Knochen aus der Erde. Wenn es taut. Überall die passt es, Jesus? fragte der eine Kopf, wobei er einen Knochen. Nein, ich will das nicht mehr. Nein, nein. weißen Nebelballen wie einen Wattebausch um den Und immer ich. Immer soll ich mich in das Grab le- Mund fahren ließ. Jesus stieß aus seinen beiden Na- ben, ob es passt. Immer ich. Allmählich träume ich senlöchern zwei dünne ebenso weiße Nebelsäulen davon. Das ist mir grässlich, wisst ihr, dass ich das und antwortete: Jawoll. Passt. immer bin, der die Gräber ausprobieren soll. Immer Die Köpfe am Himmel verschwanden. Wie Kleckse ich. Immer ich. Nachher träumt man noch davon. Mir waren sie plötzlich weggewischt. Spurlos. Nur der ist das grässlich, dass ich immer in die Gräber stei- Himmel war noch da mit seinem grauenhaften Ab- gen soll. Immer ich. stand. Jesus sah noch einmal auf seinen zerrissenen Hand- Jesus setzte sich auf und sein Oberkörper ragte et- schuh. Er kletterte aus dem flachen Grab heraus und was aus dem Grab heraus. Von weitem sah es aus, ging vier Schritte auf einen dunklen Haufen los. Der als sei er bis an den Bauch eingegraben. Dann stütz- Haufen bestand aus toten Menschen. Die waren so te er seinen linken Arm auf die Grabkante und stand verrenkt, als wären sie in einem wüsten Tanz über- auf. Er stand in dem Grab und sah traurig auf seine rascht worden. Jesus legte seine Spitzhacke leise linke Hand. Beim Aufstehen war der frisch gestopfte und vorsichtig neben den Haufen von toten Men- Handschuh am Mittelfinger wieder aufgerissen. Die schen. Er hätte die Spitzhacke auch hinwerfen kön- rot gefrorene Fingerspitze kam daraus hervor. Jesus nen, der Spitzhacke hätte das nicht geschadet. Aber sah auf seinen Handschuh und wurde sehr traurig. Er er legte sie leise und vorsichtig hin, als wollte er kei- stand in dem viel zu flachen Grab, hauchte einen nen stören oder aufwecken. Um Gottes willen keinen warmen Nebel gegen seinen entblößten frierenden wecken. Nicht nur aus Rücksicht, aus Angst auch. Finger und sagte leise: Ich mach nicht mehr mit. Was Aus Angst. Um Gottes willen keinen wecken. Dann ist los, glotzte der eine von den beiden, die in das ging er, ohne auf die beiden anderen zu achten, an Grab sahen, ihn an. Ich mach nicht mehr mit, sagte ihnen vorbei durch den knirschenden Schnee auf das Jesus noch einmal ebenso leise und steckte den kal- Dorf zu. ten nackten Mittelfinger in den Mund. Widerlich, der Schnee knirscht genauso, ganz ge- Haben Sie gehört, Unteroffizier, Jesus macht nicht nauso. Er hob die Füße und stelzte wie ein Vogel mehr mit. durch den Schnee, nur um das Knirschen zu vermei- Der andere, der Unteroffizier, zählte die Sprengkör- den. per in eine Munitionskiste und knurrte: Wieso? Er Hinter ihm schrie der Unteroffizier: Jesus! Sie kehren blies den nassen Nebel aus seinem Mund auf Jesus sofort um! Ich gebe ihnen den Befehl! Sie haben so- zu: Hä, wieso? Nein, sagte Jesus noch immer eben- fort weiterzuarbeiten! Der Unteroffizier schrie, aber so leise, ich kann das nicht mehr. Er stand in dem Jesus sah sich nicht um. Er stelzte wie ein Vogel Grab und hatte die Augen zu. Die Sonne machte den durch den Schnee, wie ein Vogel, nur um das Knir- Schnee so unerträglich weiß. Er hatte die Augen zu schen zu vermeiden. Der Unteroffizier schrie – aber und sagte: Jeden Tag die Gräber aussprengen. Je- Jesus sah sich nicht um. Nur seine Hände machten den Tag die Leute da reingeklemmt in die Gräber, die eine Bewegung, als sagte er: Leise, leise! Um Gottes ihnen immer nicht passen. Weil die Gräber zu klein willen keinen wecken! Ich will das nicht mehr. Nein.

In früheren Zeiten sagte man: Es ist süß und notwendig, fürs Vaterland zu sterben. Im modernen Krieg jedoch gibt es fürs Sterben nichts Süßes und Notwendiges. Man krepiert wie ein Hund und ohne guten Grund. Ernest Hemingway (1899 – 1961)

58 Nein. Immer ich. Immer ich. Er wurde immer kleiner, dass er zwei Tage nichts isst und redet, und lässt ihn kleiner, bis er hinter einer Schneewehe verschwand. laufen. Dann ist er wieder ganz normal für eine Zeit Ich muss ihn melden. Der Unteroffizier machte einen lang. Aber melden muss ich ihn erst mal. Schon weil feuchten wattigen Nebelballen in die eisige Luft. Mel- der Alte seinen Spaß dran hat. Und die Gräber müs- den muss ich ihn, das ist klar. Das ist Dienstverwei- sen doch gemacht werden. Einer muss doch rein, ob gerung. Wir wissen ja, dass er einen weg hat, aber es passt. Das hilft doch nichts. melden muss ich ihn. Warum heißt er eigentlich Jesus, grinste der andere. Und was machen sie dann mit ihm? grinste der ande- Oh, das hat weiter keinen Grund. Der Alte nennt ihn re. immer so, weil er so sanft aussieht. Der Alte findet, er Nichts weiter. Gar nichts weiter. Der Unteroffizier sieht so sanft aus. Seitdem heißt er Jesus. Ja, sagte schrieb sich einen Namen in sein Notizbuch. Nichts. der Unteroffizier und machte eine neue Sprengla- Der Alte lässt ihn vorführen. Der Alte hat immer sei- dung fertig für das nächste Grab, melden muss ich nen Spaß an Jesus. Dann brüllt er ihn zusammen, ihn, das muss ich, denn die Gräber müssen ja sein.

(Wolfgang Borchert, 1921 – 1947)

Die Geschichte von Onkel Erwin

Eines Tages hieß es, es sei Krieg und Onkel Erwin Da fing die Tante wieder an zu weinen, und der dicke konnte nicht mehr zum Schwimmen gehen, weil er in Herr machte die Sache kurz. Er sagte etwas vom seiner Fabrik richtige Flugzeuge zu bauen hatte und „Dank der Nation“ und dass Onkel Erwin ein „Held“ nun täglich zwei Stunden länger arbeiten musste. sei. Eine französische Kugel habe ihn in den Kopf ge- Das war ihm gar nicht recht, denn er ging so gerne troffen. Bei Verdun. Dann ging er weiter. mit uns an den Rhein. Aber er sagte: „Das ist immer Ich hatte gar nicht gewusst, dass Onkel Erwin mit noch besser als draußen.“ den Franzosen böse war. Die Tante weinte viele Wo- Eines Tages kam ein Einschreibebrief für Onkel Er- chen. win. Er zeigte ihn der Tante, und die fing an zu wei- Dann hatte sie keine Zeit mehr dazu. Die sechs Kin- nen, und Onkel Erwin sagte: „Es nutzt alles nichts.“ der wollten ihr Essen wie immer, und zerrissen die Da packte er seine Sachen und fuhr weg. Hosen wie immer und wollten neue Segelschiffe ha- Eines Tages kam ein freundlicher dicker Herr in ben. brauner Uniform und fragte nach den Kindern, die er Das ist die Geschichte von Onkel Erwin. gar nicht kannte. Ob Erwin oder Pierre oder Franklin – es ist ja immer dasselbe. (Unbekannter Verfasser)

Zwei von vielen Feldpostbriefen

Am 25. Juli 1943 schreibt A. in einem Feldpostbrief Am 18. Mai 1943 berichtet Frau L. an ihren Mann an ihren Mann an der Ostfront nach einem Luftangriff über neue britische Luftangriffe auf Duisburg: auf Hamburg: „... Der Angriff war tatsächlich sehr schlimm. Wir ha- „Heute, der Sonntag, ist ein schwarzer Tag! In der ben die ganze Zeit (fast eine Stunde dauerte der An- Nacht hatten wir einen stundenlangen bösen Angriff. griff) auf dem Boden gelegen wegen des Luftdrucks. Hamburg hat es hart getroffen. Man sah das Feuer Ich hatte manchmal auch das Gefühl, als wenn es förmlich lodern. Die ganze Reeperbahn, der Hafen, uns diesmal erwischen würde und wir nicht mehr le- Wandsbek, das Berliner Tor, das Reichshof Hotel, bend heraus kämen. In den ersten Tagen warn 169 die große Feuerwache Berliner Tor, alles dahin! ... Tote gemeldet. Aber die Zahl hat sich bestimmt noch Auch der Hauptbahnhof ist getroffen. Sehr viele Tote! um ein Beträchtliches erhöht, denn es waren sehr Furchtbar, furchtbar! Es hat so gebrannt, dass heute viele im Keller eingeschlossen. Die Stadt sieht wirk- Morgen alles mit Asche übersät war. Und den gan- lich verheerend aus ...“ zen Tag hat es noch geflockt. ... Das Leben ist nicht mehr schön. Wer weiß, wie lange man noch lebt! ...“ (Aus „Kain, wo ist dein Bruder“, von Hans Dollinger, 1984, S. 207 und 200)

Jede Generation sieht ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation je- doch weiß, dass sie die Welt nicht neu erbauen wird, aber vielleicht fällt ihr eine noch größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern. Albert Camus (1913 – 1960)

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aus: Im Westen nichts Neues

[...] Es ist still, die Front ist ruhig bis auf das Gewehr- Ohne Entschluss halte ich die Brieftasche in der Hand. geknatter. Die Kugeln liegen dicht, es wird nicht plan- Sie entfällt mir und öffnet sich. Einige Bilder und Briefe los geschossen, sondern auf allen Seiten scharf ge- fallen heraus. Ich sammle sie auf und will sie wieder zielt. Ich kann nicht hinaus. hineinpacken, aber der Druck, unter dem ich stehe, die „Ich will deiner Frau schreiben“, sagte ich hastig zu ganze ungewisse Lage, der Hunger, die Gefahr, diese dem Toten, „ich will ihr schreiben, sie soll es durch Stunden mit dem Toten haben mich verzweifelt ge- mich erfahren, ich will ihr alles sagen, was ich dir sa- macht, ich will die Auflösung beschleunigen und die ge, sie soll nicht leiden, ich will ihr helfen und deinen Quälerei verstärken und enden, wie man eine unerträg- Eltern auch und deinem Kinde –“ lich schmerzende Hand gegen den Baum schmettert, Seine Uniform steht noch halb offen. Die Brieftasche ganz gleich, was wird. ist leicht zu finden. Aber ich zögere, sie zu öffnen. In Es sind Bilder einer Frau und eines kleinen Mädchens, ihr ist das Buch mit seinem Namen. Solange ich sei- schmale Amateurfotografien vor einer Efeuwand. Neben nen Namen nicht weiß, kann ich ihn vielleicht noch ihnen stecken Briefe. Ich nehme sie heraus und versu- vergessen, die Zeit wird es tilgen, dieses Bild. Sein che sie zu lesen. Das meiste verstehe ich nicht, und ich Name aber ist ein Nagel, der in mir eingeschlagen kann nur wenig Französisch. Aber jedes Wort, das ich wird und nie mehr herauszubringen ist. Er hat die übersetze, dringt mir wie ein Schuss in die Brust – wie Kraft, alles wieder zurückzurufen, es wird stets wie- ein Stich in die Brust – [...] der kommen und vor mich hintreten können. (Erich Maria Remarque, 1898 – 1970)

Eine Kindererinnerung aus Hiroshima

Die Zeit vergeht schnell. Sechs Jahre sind schon Fast keiner von ihnen war wiederzuerkennen. Manchen vorbei, seit Hiroshima zu einem Opfer der Atombom- war die Haut weggebrannt, ihre Gesichter waren rot und be gemacht wurde. Jetzt erheben sich mit jedem Jahr geschwollen, man sah rohes Fleisch, und es war schwer neue Häuser und neue Straßen entstehen. Die Stadt zu erkennen, wo ihre Augen und ihr Mund waren. Rauch sieht wieder schön aus. von brennenden Häusern lag über der Stadt. Es war Ich war fünf Jahre alt, als die Atombombe auf unsere schwarz wie die Hölle und der ganze Himmel war be- Stadt kam. Nachdem ich Vater zum Büro gebracht deckt. Es war ein schrecklicher Anblick. hatte, spielte ich vor dem Haus. Plötzlich gab es eine Ich klammerte mich an meine Mutter, mein ganzer Kör- Wolke aus gelbem Rauch und einen unbeschreibli- per zitterte. Da kam Vater heraufgerannt. Sein Ge- chen lauten Krach. Es war mir so, als ob aus weiter sichtsausdruck war unbeschreiblich von Schmerz erfüllt. Ferne meine Mutter rief: „Oma Shige!“ Er hatte eine furchtbare Wunde auf dem Rücken, und Mir war, als ob etwas sehr Schweres auf mich drück- man konnte nicht sagen, ob sie schwarz oder gelb war, te, und ich konnte mich nicht bewegen. Allmählich aber es war eine schreckliche Farbe. Das Haar auf sei- wurde der Rauch dünner, und ich konnte erkennen, nem Kopf sah aus, als ob es mit Asche bedeckt war. Als dass das Haus zerstört war. Mutter gelang es, aus wir am Flussufer entlang flohen, überholten wir immer der zerstörten Küche herauszukommen. Im Haus mehr Menschen, die nicht mehr die Kraft zum Weiterge- selbst konnte man keinen Schritt tun. hen hatten und hingefallen waren. Wenn ich jetzt meine Oma war krank und hatte im Schlafzimmer im Bett Augen schließe, erinnere ich mich an all diese furchtba- gelegen. Sie wurde so, wie sie war, verwickelt im ren Anblicke, und mir ist, als zittere ich wieder. Bettzeug, durch den großen Druck herausgeschleu- Bald danach starb Vater an der radioaktiven Krankheit. dert. Glücklicherweise wurde sie überhaupt nicht ver- Die Wunde an meinem Bein heilte lange nicht, und es letzt. dauerte ein ganzes Jahr, bis ich keinen Verband mehr „Hilfe, Hilfe!“ Als Mutter diesen Schrei hörte, eilte sie zu tragen brauchte. nach nebenan und fand die Großmutter der Nach- Ich verabscheue aufrichtig einen derartigen fürchterli- barn unter den Ruinen ihres Hauses gefangen. Mut- chen Krieg. Bitte, jedermann in Japan und jedermann in ter warf Dachziegel, Gebälk und Glas beiseite und der ganzen Welt, bitte macht nicht noch einen Krieg und zog sie heraus. Flammen erhoben sich, und wir lasst uns zusammengehen und einander in Frieden an konnten keine Minute länger im Haus bleiben. Mutter den Händen halten. Lasst uns glücklich leben wie die nahm Oma auf den Rücken, und wir kletterten auf Singvögelchen. Ich denke, es ist besser, wenn keine das Flussufer. Viele Menschen flohen aus der Stadt. Atombomben gemacht werden. (Shigeko Hirata)

In der Verletzung der Menschenwürde liegt der Keim des Todes. Francois-René de Chateaubriand (1768 – 1848)

60 Lesung

„In ihren Briefen lebten sie fort ...!“

Erzähler: In allen fünf Kontinenten unserer Erde liegen die letzten Ruhestätten an der Front gefallener oder in der Kriegsgefangenschaft verstorbener deutscher Soldaten aus den beiden Weltkrie- gen des vergangenen Jahrhunderts. Die Liste der Ländernamen liest sich fast wie ein Welt- atlas: von bgypten, bthiopien und Afghanistan bis hin zu den USA, Zaire und Zypern.

Während an vielen Gräbern im In- und Ausland nicht nur Blumen niedergelegt werden kön- nen, sondern auch Besuche von Angehörigen möglich sind, ist oft den Hinterbliebenen des Toten nur ein inzwischen vergilbtes Foto, die Erkennungsmarke, der Ehering oder auch nur ein letzter Brief geblieben. Er allein hält die Erinnerung wach an den Vater, den Ehemann, Bruder oder Sohn der Familie, der nicht wieder heimkam. Diese Briefe berichten nicht nur von den Schrecken des Krieges. Sie sind auch der Beweis einer zutiefst humanen Gesin- nung und legen Zeugnis ab von den schweren seelischen Belastungen, die ihre Verfasser zu erdulden hatten, als sie fern der Heimat in fremden Ländern Krieg führen mussten. Ur- sprünglich nur für die Verwandten bestimmt, sind sie heute – viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – zu bewegenden Dokumenten geworden, die die Nachwelt – und damit uns alle – mahnen, nie wieder die Waffen gegeneinander zu erheben. Aus jeder ein- zelnen Zeile spricht die tiefe Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit. Zugleich aber spiegelt sich das Geschehen wider, das die Briefschreiber erlebten, bis ihnen der Tod die Feder aus der Hand nahm. Oder es sind die Berichte über den Opfergang anderer, denen es nicht mehr vergönnt war, ein letztes Lebenszeichen zu hinterlassen. Sie alle leben in ihren Briefen fort, die dem Buch „Kain, wo ist dein Bruder“ entnommen sind.

Aus einem Brief eines Neunzehnjährigen an seinen Bruder kommt die Todesahnung des Schreibers zum Ausdruck, der bald danach sein junges Leben verlor:

1. Schüler: „Man spricht unter den alten Frontsoldaten wenig vom Tod. Aber wenn man einmal an ihn denkt, dann ist es, als ob eine tiefe Trauer, eine Lähmung der Gedanken heraufzöge. Es ist die Angst vor dem großen Dunkel, das jenseits steht und das zu beschreiben so hart und unsicher ist. Hier im Leben, da hat man noch seine blühenden Hoffnungen, sieht nur das Schöne, das wieder kommen müsste. Tod ist ein harter, schwerer Verzicht. Verzicht auf alle Dinge, die unter gewöhnlichen Bedingungen ein Leben noch lebenswert machen. Er ist Ab- schied von all dem, was einem lieb war. Er ist ganz hinein ins Ungewisse.“

Erzähler: Aus dem Kessel von Stalingrad erreichte die Angehörigen noch ein letzter Brief; sein Absen- der starb später in einem russischen Gefangenenlager:

2. Schüler: „Kaum eine irdische Hoffnung mehr, den sicheren Tod vor Augen oder ein Schrecken ohne Ende in der Gefangenschaft. Anfängliche Hoffnung auf eine baldige Wende hat sich zer- schlagen. Wir wissen, dass wir noch lange aushalten müssen. So weit menschenmöglich ist es mir gelungen, innerlich aufrecht zu bleiben und nicht drohenden Verzweiflungsgedanken zu verfallen. Wir haben uns tief in die Erde eingegraben, die wir so unendlich lieben. Alles andere weiß ich im ewigen Schicksalswillen eingeschlossen.“

Erzähler: Zu den größten seelischen Belastungen der Soldaten an allen Fronten gehörte jene Zeit- spanne, zwischen dem Ende des Heimaturlaubes und dem Wiedereintreffen bei den Kame- raden an der Front. Ein bei den Kämpfen auf der Krim im Jahr 1944 Gefallener hat diese Ge- fühle wie folgt zum Ausdruck gebracht:

3. Schüler: „Gestern, nach neunzehntägiger Reise, bin ich nun endlich bei meiner Truppe wieder gelan- det. Nun geht der alte Tanz wieder los. Was ist mit uns, wenn wir wirklich dieses alles über- stehen? Wir sind alte Männer, mit allen möglichen Gebrechen und Krankheiten behaftet. Unsere Jugend haben wir nie genießen können. Unser jugendlicher Geist und unser unbe- schwerter Frohsinn sind reifen und ernsten Absichten gewichen. Unsere Seelen und unsere Herzen sind hart geworden durch das viele Blut, das wir gesehen haben, unsere Hände sind unsauber vom Blut, das sie vergossen haben.“

Erzähler: Die unmittelbare Begegnung mit dem Tod auf dem Schlachtfeld beschreibt in seinen hinter- lassenen Aufzeichnungen ein Augenzeuge, der ein Jahr später selber fiel:

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1. Schüler: „Das Sturmgeschütz rollt heran. Hinter dem Turm liegen drei Tote. Ich fasse mit zu, die blei- schweren Körper sind noch warm. Man kann es gar nicht fassen, dass aus diesen Körpern das Leben entwichen sein soll. Zwei Träger kommen vorsichtig durch den Schnee gewatet. An einem Birkenknüppel schaukelt straff die herabhängende Zeltplane. Unendlich behutsam setzen sie ab. Der Arzt schlägt die Plane auseinander und dreht sich um – zu spät. Umsonst die Qual der Träger, ihr weiter Weg durch Schnee und Buschwerk und Feuer. Welche Last bedeutet ein lebloser Körper? Wie viel das menschliche Antlitz doch selbst in der Zerstörung von seiner Eigenart behält.“

Erzähler: Nicht nur an den Fronten wurde täglich gestorben. Auch in den Vernichtungslagern des NS- Regimes war der Tod allgegenwärtig. Kaum eines der Opfer dort aber besaß die Möglichkeit, ein letztes Lebenszeichen zu hinterlassen. Für sie alle soll daher ein Bericht verlesen werden, den ein junges Mädchen zu Protokoll gab, nachdem es alle Gefährdungen überlebt hatte:

1. Schülerin: „Wir kamen nach Auschwitz. Dichtgedrängt und halberstickt fuhren wir in geschlossenen Waggons. Alle verabschiedeten sich voneinander, denn wir wussten, dass dort die Öfen und die Gaskammern auf uns warteten. Obwohl wir oft darüber sprachen, konnte sich niemand vorstellen, wie es sein würde. Als wir abends in Auschwitz ankamen, trieb man uns nach Birkenau. Nachts saßen wir in einem großen Saal. Es war so schrecklich, dass ich es nicht beschreiben kann. Wir weinten, beteten oder saßen stumpf da. Manche waren schon so gleichgültig. Mutti presste mich an sich und flüsterte, ich solle mich nicht fürchten, denn Gott würde uns bestimmt so erretten wie bisher. Ich wollte Mutti nicht traurig machen und tat so, als wenn ich keine Angst hätte. In Wirklichkeit zitterte ich am ganzen Leibe. Man gab uns kein Essen, aber wir spürten auch keinen Hunger. Weshalb sollten wir essen, wenn wir doch sterben mussten?“

Erzähler: Als die Sowjets Ostpreußen erreichten, war auch bald Königsberg eingeschlossen. Im dorti- gen Lazarett liegend, beschrieb ein Verwundeter die verzweifelte Situation der Stadt; er starb wenig später an den Folgen seiner schweren Verletzungen:

2. Schüler: „Die russische schwere Artillerie schießt in die Stadt, sie brennt schon überall. Kein Brot zu haben. Der Russe ist hier acht Kilometer entfernt. Unsere Mädchen baten uns, sie im Ernst- fall zu erschießen. Nun habe ich mich mit unserer eingeschlossenen Lage abgefunden. Ein Heraus gibt es nicht mehr. Entweder Gefangenschaft oder das Ende im Kampf. Wie gerne hätte ich Euch alle noch einmal wiedergesehen. Aber es sollte nicht sein. Wenn es nicht Gnade geben sollte, müsste ein Wunder geschehen. Nun weint nicht um mich, die Schicksa- le aller anderen guten Deutschen sind ja alle in ihrer Art gleich.“

Erzähler: Während die Soldaten noch in und um Ostpreußen kämpfen, versuchte sich dort die Zivilbe- völkerung auf mancherlei Wegen vor den Schrecken des Krieges zu retten. Viele gingen an Bord des Dampfers „Wilhelm Gustloff“, der kurz nach dem Auslaufen von einem sowjeti- schen U-Boot torpediert wurde und über 5 000 Menschen mit sich in die Tiefe riss. Eine Überlebende hat den Tod im eisigen Wasser der Ostsee mit ansehen müssen:

2. Schülerin: „Wir erreichten das Oberdeck, hatten alle Schwimmwesten an. Plötzlich neigte sich das gro- ße Schiff auf die Seite, eine große Dünung spülte Wellen aufs Schiff. Bine saß neben mir, mein Mann hinter uns. Bine sah mich groß an und ernst und sagte: „Mutti, du glaubst doch nicht, dass wir mit unseren Kleinkindern da durchkommen? Das ist also der Tod.“ Sie legte den Kopf auf meine Schulter und gab mir einen Kuss. Als ich im Wasser zu mir kam, sprach mein Mann hinter mir: „Wir suchten nach Bine, konnten sie aber unter den treibenden Men- schen nicht entdecken.“ In unserer Nähe ein Schlauchboot, das ich erreichen konnte. Als ich meinem Mann zuredete, auch auf das Schlauchboot zu kommen, konnte er sich schon nicht mehr bewegen und sagte immer nur: „Ich kann nicht mehr.“ Ich habe gebettelt und geredet in meiner höchsten Not und musste ihn dann loslassen, weil auch meine Hände ihn nicht mehr halten konnten. Mein Mann ist nicht mehr auf das Boot gekommen.“

Erzähler: Noch einmal soll ein Soldat zu Wort kommen. In seinem hinterlassenen Tagebuch hat er Eindrücke von seiner Rückkehr aus der Heimat an die Front festgehalten, die eine geradezu beklemmende Aussagekraft haben:

3. Schüler: „Kurz vor unserem Reiseziel halten wir auf freier Strecke. Die Brücke über die Lutschessa ist von den Russen gesprengt worden. Wir müssen aussteigen und über flüchtige Notstege hinweg die

62 Brücke beschreiten. Die Nacht ist sternenklar und bitter kalt. In der Tiefe gurgelt leise der Fluss. Ein stärkeres symbolisches Erlebnis ist kaum denkbar. Geisterhaft ist dieser schweigende Solda- tenhaufen, der im Mondschein im Gänsemarsch von einem Ufer zum anderen zieht. Unerbittlich trennt der schwarze Fluss unter unsern unsicher schlurfenden Füßen den Glanz und die Glückse- ligkeit der verlebten Urlaubstage von der Ungewissheit und Gefährdung der Zukunft, die uns emp- fängt. Wer von uns wird die Brücke in umgekehrter Richtung je überschreiten dürfen?“

Erzähler: Wie der Schreiber dieser Zeilen, so haben auch Millionen anderer Kriegsteilnehmer die Brü- cke zur Heimat nie wieder überschreiten können. Ihre Gräber liegen irgendwo in Europa oder Übersee, und ihr Bild verblasst langsam in der Erinnerung ihrer Angehörigen.

3. Schülerin: Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg scheint vieles vergessen, können sich die meisten nicht mehr erinnern oder sie wollen sich nicht erinnern:

• Über 3 Millionen deutsche Soldaten aber starben im Krieg • Über 1 Million Menschen werden heute noch vermisst • Über 500 000 Tote gab es in der Zivilbevölkerung • Über 2 Millionen Menschen starben durch Vertreibung und Verschleppung • Über 300 000 Deutsche wurden durch politische, rassische oder religiöse Verfol- gung getötet • Millionen von Menschen, darunter allein 6 Millionen Juden, starben in den Kon- zentrationslagern.

Insgesamt über 55 Millionen Tote kostete der Zweite Weltkrieg. Über 700 deutsche Friedhö- fe wurden vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Ausland angelegt. Über 15 000 Gräberstätten im Inland sowie Tausende von Friedhöfen anderer Nationen entstanden. Sie alle sind Mahn- und Gedenkstätten. Still klagen sie an.

Heute ist wieder Volkstrauertag, der Tag, an dem wir aller Opfer der Kriege gedenken. Ein stiller Tag, an dem uns die Toten mahnen, nichts und niemanden zu vergessen.

(Von SchülerInnen der Wolfskeel-Realschule Würzburg)

Lieder / Musik

• „Maurische Trauermusik“, Wolfgang Amadeus • „Dies irae“, aus der Missa da Requiem, Guiseppe Mozart Verdi • Streichquartett, KV 156, 3. Satz, Wolfgang Ama- • „Tod, wo ist dein Sieg?“, aus Deutsches Re- deus Mozart quiem, Johannes Brahms • Streichquartett, Andante aus Opus III, Johann • Motette „Mitten wir im Leben sind“, op. 23, Nr. 3, Christian Bach F. Mendelssohn-Bartholdi • Streichquartett, Aus der Musik der Streicher, op. • „Brüder“, Hartmut Engler und Ingo Reidl 44/IV, Paul Hindemith • „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott“ (Chor- • Air Moderato; Courante Allegro, John Jenkins satz), J. H. Schein • Allegro con spirito, James Hook • „Lieder für den Frieden“ – CD des Volksbundes • Orchesterwerk, „Letzte Briefe aus Stalingrad“, Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit verschiede- 10. Sinfonie, Aubert Lemeland nen Liedern • Orchesterwerk, Larghetto aus dem Concerto • „Wann ist denn endlich Frieden“, Wolf Biermann grosso, Nr. 6, g-Moll, Georg-Friedrich-Händel • Weitere bekannte Lieder zum Frieden: • „War Requiem“, Benjamin Britten “Where have all the flowers gone ...” • „Credo und Crucifixus“, aus der Großen Messe, „Wie große Berge von Geld ...“ Anton Bruckner „Schalom ...“

Nach 500 Jahren Krieg wurde zwischen Lagasch und Umma (Süd-Irak) vor 4500 Jahren der erste bekannte Friedensvertrag abgeschlossen. Aus einer alten Handschrift

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Literaturhinweise

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64 © 2002 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. Landesverband Bayern Maillingerstraße 24, 80636 München Telefon: (0 89) 18 80 77, Telefax: (0 89) 18 66 70 E-Mail: [email protected]

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Hinweis: Für den Fall, dass Rechtsinhaber nicht feststellbar waren, werden diese gebeten, sich an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Landesverband Bayern, zu wenden. Berechtigte Ansprüche werden im üblichen Rahmen abgegolten.

2002: Heft 1 Die Jugendbegegnungsstätten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e .V.

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