Historische Vereinigung Wesel e.V. 2015 WESEL UND DER UNTERE NIEDERRHEIN

BEITRÄGE ZUR RHEINISCHEN GESCHICHTE

1 WESEL UND DER UNTERE NIEDERRHEIN BEITRÄGE ZUR RHEINISCHEN GESCHICHTE

Historische Vereinigung Wesel e.V. 3 Umschlag: VUE DE WEZEL, Kupferstich, koloriert, 22,2 x 36 cm, sog. „Guck - kastenblatt“ bei Mondhare, , um 1750. Guckkastendarbietungen kann man als Vorgänger von Kino und Fern- sehen betrachten, mit denen auf Jahrmärkten gute Geschäfte zu machen waren. In einem Panoptikum konnte man weltberühmte Sehenswürdigkeiten – durch das Linsensystem des Guckkastens vergrößert – bestaunen (siehe Umschlag-Rückseite). Da dieses System spiegelverkehrte Bilder zeigte, mussten die Vorla- gen Spiegelbilder sein – siehe auch BRAUN, Volkmar: Geschichtliches Wesel, Band 3, Wesel 1979, S. 16, 17.

Die Herausgabe dieses Buches wurde gefördert durch die VERBANDS-SPARKASSE WESEL

WESEL UND DER UNTERE NIEDERRHEIN

BEITRÄGE ZUR RHEINISCHEN GESCHICHTE

Herausgeber und Verlag: © Historische Vereinigung Wesel e.V., 2015 Alle Rechte vorbehalten Redaktion: Hermann Knüfer, Manfred Krück, Werner Köhler Layout: Günther Rogmann Herstellung: B.o.s.s Druck und Medien GmbH

ISBN: 978-3-929605-38-9

4 Inhalt

Vorwort 7

Irmgard HantscHe Die Festung Schenkenschanz 9 und ihre Bedeutung bei den Auswirkungen des niederländisch-spanischen Krieges (1568–1648) auf den Niederrhein

Peter Bruns 1629 – Wesel wird von den Spaniern befreit 35 1893 – versenktes spanisches Kriegsschiff entdeckt günter WartHuysen Münzprägung und Geldumlauf am Niederrhein 47 Zur geldgeschichtlichen Entwicklung in Wesel und Umgebung utta angelIka landau Sophie Caroline Lisette Richter geb. Krupp (14. 3. 1777 – 24. 12. 1864) und Johann Zaremba 71 martIn WIlHelm roelen Georg Friedrich Veenliet, ein Weseler Forty-Eighter 79

Werner köHler Saatkrähen gegen den Hunger 95 Wesel im Ersten Weltkrieg

Helmut langHoff Wilhelm Carl Ridder – Ein Soldat aus Wesel im Ersten Weltkrieg 129

5 Volker kocks Die Außensportplätze in Wesel und deren Vereine bis 1945 161 Ein Beitrag zur Sportgeschichte von Wesel

Josef Vogt Die Friedenskirche „Zu den Heiligen Engeln“ 181 Das Reduit des ehemaligen Forts Fusternberg als Fundament für die Kirche

alBrecHt HoltHuIs Zwischen Anpassung und Widerstand – Kirchenkampf in Wesel 189 Ein Beitrag zur Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel im Dritten Reich

claus-dIeter rIcHter-kraneIs Familie Günther Ein Mensch ist dann erst tot, wenn auch die Erinnerung an ihn 207 gestorben ist Talmud

WInfrIed eVertz Wie die Stadt Wesel zu ihrem Namen kam 215 Neue Erkenntnisse zur Deutung des Ortsnamens

Autoren 224

Bildnachweis hintere Umschlag-Innenseite

6 Vorwort

Aus Anlass ihres 25-jährigen Bestehens im Jahre 2003 hat die Historische Vereinigung ihren ersten Sammelband zur Geschichte der Stadt Wesel und ihres regionalen Umfelds veröffentlicht. Nach der Herausgabe des zweiten Bandes im Jahre 2006 und des dritten Bandes 2009 sowie des vierten Bandes 2012 setzt sie nun mit dem vorliegen- den fünften Band ihre erfolgreiche Arbeit fort. Er enthält insgesamt zwölf Beiträge, die nach bewährtem Konzept Personen, besondere Ereignisse und Stationen in der wechselvollen Geschichte der Stadt Wesel und der Region Niederrhein zum Gegenstand haben. Zwei Beiträge befassen sich – mit unterschiedlichen Aspekten – mit dem niederländisch-spanischen Krieg (1568–1648), von dem Wesel und der unte- re Niederrhein unmittelbar betroffen waren. In vier Beiträgen werden Weseler Bürgerinnen und Bürger mit ihren ganz persönlichen Schicksalen in unterschiedlichen Lebenssituationen dargestellt. Zwei Beiträge schildern die besondere Not von Weseler Bürgerinnen und Bürgern, der eine den Hunger im Ersten Weltkrieg, der andere den Konlikt im Kirchenkampf der Evangelischen Gemeinde im Dritten Reich. Wie ein Fort zum Fundament einer Kirche wurde, zeichnet ein Beitrag über die Friedenskirche „ Zu den Heiligen Engeln“ nach. Ein weiterer Beitrag thematisiert noch einmal die Frage nach der Herkunft des Namens „Wesel“. Dass es unabhängig von der großen Politik auch Geschichte gibt, wird schließlich in zwei Beiträgen anschaulich dargestellt, und zwar in der ge- schichtlichen Entwicklung von Münzprägung und Geldumlauf in Wesel und zum anderen in der Geschichte der Sportplätze und deren Vereine in Wesel.

Allen Autorinnen und Autoren und allen, die auf andere Weise zum Gelingen des Buches beigetragen haben, sei an dieser Stelle für ihr Engagement herz- lich gedankt.

Wesel, im September 2015

Hermann Knüfer Vorsitzender der Historischen Vereinigung Wesel e.V.

7 niederrheinbrücke Wesel

8 Irmgard Hantsche

Die Festung Schenkenschanz und ihre Bedeutung bei den Auswirkungen des niederländisch-spanischen Krieges (1568–1648) auf den Niederrhein1

Der niederländisch-spanische Krieg (1568– Doch nicht die europäische Dimension 1648), bekannt auch unter der Bezeich- des 80-jährigen Krieges ist das Thema die- nung ‚80-jähriger Krieg‘, war die Ausein- ses Beitrags, sondern seine auf den Nieder- andersetzung, in der die sieben nördlichen rhein bezogenen regionalgeschichtlichen Provinzen der Niederlande ihre Unabhän- Aspekte. Denn seine Auswirkungen waren gigkeit von Spanien und damit vom Haus auch hier deutlich. Er beschränkte sich nicht Habsburg erkämpften, das um die Mitte auf die habsburgischen Gebiete. Vielmehr des 16. Jahrhunderts den Nordwesten des erfass te er auch Territorien, die nicht zu den Heiligen Römischen Reiches deutscher Niederlanden gehörten, so das Herzogtum Nation beherrschte. Eigentlich handelte Kleve, dessen bedeutendste Stadt Wesel war. es sich bei diesem ‚Freiheitskampf der Das Herzogtum Kleve war von 1511/21 bis Niederlande’ um eine bilaterale Ausein- 1609/14 Teil der Vereinigten Herzogtümer, andersetzung, aber sie fand große Beach- die sich im spanisch-niederländischen Krieg tung und teilweise auch Unterstützung in zwar neutral verhielten, aber dennoch von mehreren europäischen Staaten, z. B. in den Kriegshandlungen nicht verschont blie- England und Frankreich, und besaß lang- ben. Das Herzogtum Kleve grenzte im Nor- fristig große Bedeutung für die europäische den und Westen, zum Teil auch im Süden an Geschichte und zwar bis heute. Sehr ver- niederländisch-habsburgisches Territorium einfachend gesprochen geht die Existenz und wurde von diesem fast eingeklemmt. dreier Mitgliedsstaaten der Europäischen Wesel lag, wie die Karte2 (vgl. Abb. 1) zeigt, Union, nämlich der beiden Königreiche keine 30 km Luftlinie vom Herzogtum Gel- Niederlande und Belgien sowie des Groß- dern entfernt, das seit dem Vertrag von Ven- herzogtums Luxemburg, auf den 80-jähri- lo 1543 habsburgischer Besitz war und seit gen Krieg zurück. Denn durch ihn zerbrach der Reichsteilung Karls V. im Jahre 1555 zu die historische Einheit der Niederlande, in- den spanischen Niederlanden gehörte. We- dem die sieben nördlichen Provinzen zur sel stand daher allein schon wegen seiner völkerrechtlich unabhängigen Republik der geographischen Lage in der Gefahr, von Vereinigten Niederlande wurden und auch den kriegerischen Auseinandersetzungen aus dem Heiligen Römischen Reich deut- tangiert zu werden, die 1568 offen ausge- scher Nation ausschieden. Die südlichen brochen waren zwischen Spanien und den Niederlande hingegen, also das heutige aufständischen nördlichen Niederlanden. Luxemburg sowie Belgien (allerdings ohne Diese hatten 1581 ihre Unabhängigkeit von das ehemalige Territorium des Bistums Lüt- Spanien erklärt, konnten sie aber erst im tich), blieben spanischer (ab 1713 dann Januar 1648 nach einem jahrzehntelangen österreichischer) Besitz und gehörten bis Krieg völkerrechtlich erlangen. zur Neuordnung Europas in der napoleoni- Für Wesel verschärfte sich diese strate- schen Ära weiterhin dem Deutschen Reich gisch gefährliche Lage dadurch, dass im an. Herzog tum Geldern bei der spanisch-nieder- ländi schen Auseinan der setzung bzw. im

9 abb. 1: das Herzogtum geldern 1543.

10 abb. 2: geldern im 17. Jahrhundert.

11 80-jährigen Krieg un- terschiedliche We ge eingeschlagen wur- den. Die drei geldri- schen Niederquartiere Arnheim, Nimwegen und Zutphen schlossen sich den aufständischen Provinzen an, während das Oberquartier an seiner Zugehörigkeit zu Spanien festhielt, wo- durch es zu einer Tei- lung des historischen Herzogtums Geldern kam (vgl. Abb. 2). We- sel geriet damit gewis- sermaßen zwischen die Fronten, obwohl es im neutralen und an den kriegerischen Ausein- andersetzungen eigent- lich nicht beteiligten Herzogtum Kleve lag. Weil die beiden krieg- führenden Parteien sich in ihren Auseinander- setzungen nicht auf das niederländische Ge biet beschränkten, sondern auf den gesamten Nie- derrhein ausgriffen, muss dessen Geschichte bei der Betrachtung der spanisch-niederländi- schen Auseinanderset- zungen mit einbezogen abb. 3: territorien am niederrhein um die mitte des 16. Jahrhunderts. wer den (vgl. Abb. 3).

Dass der spanisch-niederländische Krieg achtung der fremden Landeshoheit nahmen auf den Niederrhein übergriff, lag einerseits sie dort, wie auch Wesel leidvoll erfahren daran, dass sowohl Spanien wie die auf- musste, monate- oder sogar jahrelange ständischen Niederlande den Niederrhein Besetzungen vor, führten Requirierungen militärisch wie wirtschaftlich gesehen als durch, verlangten Abgaben und legten Fes- wichtiges Hinterland ansahen, besonders tungen an oder verstärkten bereits vorhan- als Aufmarsch- bzw. Rückzugsgebiet. Mit dene Festungen, wie z.B. im Fall von Wesel Hilfe kriegerischer Gewalt und unter Miss- und Emmerich. In diesem Zusammenhang

12 zeigt (vgl. Abb. 5). Die niederrheinischen Landes- herren waren weder mili- tärisch noch politisch oder inanziell gesehen in der Lage, sich gegen diese Ver- letzung ihrer Hoheitsrechte zu wehren, zumal Spanien und die Niederlande um diese Zeit zu den bedeu- tendsten Militärmächten Europas gehörten. In Ein- zelfällen wurden Orte auch vollständig zerstört. Auf diese Weise wurde das ge- samte Niederrheingebiet in die Kriegshandlungen hin- eingezogen, denn sowohl die Spanier wie die Nieder- länder hatten ein Interesse daran, diese Region zu kon- trollieren. Außerdem griffen beide kriegführenden Par- teien in die religiös-konfes- sionelle Situation am Nie- derrhein ein, indem sie die jeweils gegnerische Konfes- sion unterdrückten, Pfarrer ab- bzw. einsetzten und die Bevölkerung teilweise zum Konfessionswechsel zwan- gen. So setzten z.B. die Spanier in Wesel für kurze Zeit die Gegenreformation durch.3 Doch die kriegerischen Aus- abb. 4: festungen am niederrhein im 16./17. Jahrhundert, mit einandersetzungen führten markierung der schenkenschanz. erst nach vielen Jahrzehnten zu einer Entscheidung. Fak- ist auch der Bau der Schenkenschanz zu tisch hatte um die Jahrhundertwende zwar sehen (vgl. Abb. 4). schon eine Teilung der Niederlande statt- Im Verlauf des 80-jährigen Krieges gerie- gefunden, aber die Grenzen verschoben ten viele Orte am Niederrhein für lange sich zunächst immer noch, und ein Ende Zeit unter spanische oder niederländische der Kämpfe war nicht abzusehen. Als ganz Herrschaft, häuig sogar abwechselnd so- wesentlich für den endgültigen Ausgang wohl als auch, wie die Karte der besetzten des Kräftemessens erwies sich nicht nur die und umkämpften Plätze am Nieder rhein militärische Stärke der Kriegsparteien, son-

13 am richtigen Ort einsetzen zu können. Und hier spiel- te der Rhein eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Bekanntermaßen war das Straßennetz zu dieser Zeit äußerst schlecht ausgebaut, obwohl es am Nieder- rhein auf beiden Seiten des Stroms Fernstraßen gab. Aber auch sie waren meist nur festgefahrene ‚Natur- wege‘; einen Unterbau aus Stein gab es noch nicht, was sich besonders bei schlech- tem Wetter äußerst negativ auswirkte. Und zudem wa- ren viele Straßen nicht breit genug, um zwei Wagen aneinander vorbeifahren zu lassen. Umso wichtiger waren die Wasserwege für den Verkehr. Somit stellte der Rhein die wichtigste Verkehrsader am Nieder- rhein dar, was nicht zuletzt an der großen Menge an Zollstätten ablesbar ist (vgl. Abb. 6). Die freie Durchfahrt auf dem Rhein war daher auch im 80-jährigen Krieg von größter Bedeutung. Das galt nicht nur für die auf- ständischen niederländi- schen Provinzen, deren abb. 5: spanisch und staatisch-niederländisch besetzte und um- Kriegskasse ständig aufge- kämpfte Plätze (1585–1672). füllt werden musste, was besonders durch den lukra- tiven Fernhandel möglich war. Wichtig als Verkehrs- dern auch die Kontrolle über die Verkehrs- weg war der Rhein auch für Spanien. Es wege, also die ver kehrstechnische Logis tik. nutzte den Fluss als Transportweg für Trup- Wie es in allen Kriegen der Fall ist, kam es pen und Kriegsmaterial von den oberrhei- darauf an, das eigene Potential – seien es nischen habsburgischen Gebieten, beson- Truppen, Waffen oder Material – zeitgenau ders der spanischen Freigrafschaft Burgund

14 (dem Gebiet um Besan- çon), aber auch von Ober- italien, hier besonders dem ebenfalls spanischen Her- zogtum Mai land, zu den Kriegsschauplätzen in den Niederlanden. Das Niederrheingebiet wur- de so zu einem wichtigen Durchgangsland, und es verwundert daher nicht, dass viele klevische aber auch jülichsche Städte von beiden Kriegsparteien wi- derrechtlich erobert bzw. besetzt und dann befestigt wurden, obwohl die Ver- einigten Herzogtümer, wie bereits erwähnt, an dem 80-jährigen Krieg eigentlich gar nicht beteiligt waren. Ein besonders prägnantes Beispiel für die Auswirkung der Auseinandersetzungen auf das Herzogtum Kleve ist die 1586 errichtete Fes- tung Schenkenschanz di- rekt in der Rheingabelung unterhalb Emmerichs, einer für den Festungsbau äußerst günstigen topographischen Lage (vgl. Abb. 7). Heute ist die ehemals stra- tegische Bedeutung der Schenkenschanz in der Landschaft nicht mehr er- kennbar. Es gibt zwar noch den Ort Schenkenschanz, abb. 6: zollstätten am niederrhein bis 1400. aber das Dorf liegt nicht am Rhein, sondern inmit- ten von Wiesen, ca. 2 km vom heutigen Strombett entfernt, wie aus der Karte ersichtlich ist. mauern geschützte Dorf Schenkenschanz, Nur wenn der Rhein extrem viel Hoch- das seit 1969 zur Stadt Kleve gehört, von wasser führt und die tieliegende Aue über- Wasser umgeben, so wie es das Luftbild schwemmt, was besonders im Frühjahr vor- aus dem Jahr 1995 zeigt (vgl. Abb. 8). Für kommen kann, ist das durch Hochwasser- uns heute ist kaum vorstellbar, dass dieser

15 abb. 7: die rheinteilung bei lobith und schenkenschanz im 16. und 17. Jahrhundert.

Ort einstmals ein äußerst wichtiges und da- zum Nederrijn herstellt, verlor die ehemali- her heiß umkämpftes Bollwerk im 80-jähri- ge Rheinteilung bei Schenkenschanz dann gen Krieg war. endgültig ihre Bedeutung. Die Festungs- Die Ursache für den Verlust der Stromla- mauern waren teilweise bereits vorher vom ge war die zunehmende Versandung aber Rhein weggespült worden, oder sie verie- auch die Veränderungen des Rheinlaufs im len. So gehört die Festung Schenkenschanz 17. und 18. Jahrhundert, die auch durch schon seit dem 18. Jahrhundert der Vergan- wasserbautechnische Maßnahmen (Errich- genheit an. tung von Deichen und Buhnen bzw. Krib- Die Trennung des Rheins in die Mündungs- ben) nicht aufgehalten werden konnten. lüsse Nederrijn und Waal bestand bereits Wie an vielen anderen Stellen am Nie- im Mittelalter, verschob sich jedoch mehr- derrhein – so auch bei Wesel, wo der Ent- fach infolge der ständigen Mäandrierung lastungsarm des Rheins an der Büdericher des Flusses; sie lag also zunächst gar nicht Insel zum neuen Hauptstrom wurde – ver- bei der späteren Schenkenschanz. Von ca. änderte der Rhein häuig seinen Lauf, be- 1400 bis in die dreißiger Jahre des 16. Jahr- vor im 19. Jahrhundert durch umfangreiche hunderts erfolgte die Flusstrennung erst bei Deichbaumaßnahmen derartige Strombett- Lobith; in ihrer Gabelung lag das burgartig verlagerungen eingedämmt wurden. Durch befestigte Zollhaus (Tolhuys). Infolge von den Bau des Pannerdenschen Kanals 1707, Wasserbaumaßnahmen (neben Kribben/ der stromabwärts von Schenkenschanz bei Buhnen waren es auch Anplanzungen) am Millingen die Verbindung von der Waal rechten Rheinufer unterhalb von Emmerich

16 abb. 8: schenkenschanz bei Hochwasser im februar 1995 (Heimatverein schenkenschanz).

– möglicherweise noch begünstigt durch sandten englischen Hilfstruppen befehligte, Hochwasser – schuf sich der Rhein dann ein Festungswerk auf der südlichen Spitze 1538/39 knapp zwei Kilometer südlich von der Insel ’s-Gravenwaard. Da diese nicht Lobith ein neues Bett, das in einem alten zu den Niederlanden, sondern zum Her- Rheinarm, der Vossegatt (auch Vosshael zogtum Kleve gehörte und weder Schenck genannt), verlief und die an dieser Stelle noch die Niederländer von Herzog Wil- westlich verlaufende Strömungsrichtung helm V. die Genehmigung zum Bau der fortsetzte. Die dadurch erzeugte Flussbe- Befestigung eingeholt hatten, war die Akti- gradigung erhöhte die Fließgeschwindig- on widerrechtlich, aber Kleves Einsprüche keit in diesem neuen Arm so stark, dass die fruchteten nicht, und die Schenkenschanz Vossegatt sehr bald den Hauptteil des Was- bildete für über hundert Jahre das wichtig- sers aufnahm und zur neuen Waal wurde. s te militärische Bollwerk am Niederrhein. Die Flussteilung bei Lobith verlor damit an Sie galt als uneinnehmbar, wurde aber Bedeutung; sie iel schließlich ganz fort, als dennoch 1635 von den Spaniern in einem der Ausluss der (inzwischen Oude) Waal Handstreich erobert, 1636 jedoch unter bei Lobith zunehmend verlandete und großen Anstrengungen von den Niederlän- 1605 abgedichtet wurde, um dem Neder- dern rückerobert, wie noch ausgeführt wer- rijn nicht noch mehr Wasser zu entziehen. den wird. Damit erfolgte die Rheintrennung bereits Den um 1540 in Goch geborenen Mar- etwas weiter stromaufwärts, und in der neu tin Schenck von Nideggen5 (vgl. Abb. 9) entstandenen Gabelung wurde die Schen- könnte man als Condottiere bezeichnen. kenschanz gebaut.4 Er gehörte dem niederen Adel an und ent- Wie auf der Karte erkennbar ist, umlos- stammte einer Seitenlinie, ursprünglich sen die Vossegat (= neue Waal) und die einer Bastardlinie, der Schenck von Nideg- Oude Waal die Insel ’s-Gravenwaard, die gen. Da er über keinen nennenswerten aus einer in der Waal liegenden Sandbank Besitz verfügte, schlug er eine militärische entstanden war. Im Südosten bildete diese Karriere ein – in der zu Recht begründe- eine langgezogene Spitze, deren außer- ten Hoffnung, dadurch zu Einluss, gesell- gewöhnliche strategische Bedeutung der schaftlicher Anerkennung und Reichtum zu Obrist Martin Schenck von Nideggen er- gelangen. Er begann seine äußerst erfolg- kannte. Staatisch-niederländische Solda- reiche Laufbahn in niederländischen Söld- ten errichteten hier 1586 binnen weniger nerheeren, wechselte dann die Seiten und Monate unter seiner Leitung und mit poli- kämpfte als von seinen Gegnern gefürchte- tischer Unterstützung des Grafen Leicester, ter Obrist für die Spanier, um 1585 wieder der die 8.000 von Königin Elisabeth ent- zurück in die Dienste der aufständischen

17 Insofern entsprach die Laufbahn des Mar- tin Schenck von Nideggen durchaus dem Geist der Zeit, und zugleich ist sie ein Bei- spiel für die anfänglichen Wechselfälle in der militärischen Auseinandersetzung zwi- schen Spanien und den aufständischen nie- derländischen Provinzen. Persönliche Risiken mussten von den oft selbständig handelnden Heerführern dabei allerdings einkalkuliert werden und waren – wie auch die eigentlichen kriegerischen Aktionen – meist in eigener Verantwortung zu tragen. Seinen Tod fand Martin Schenck 1589 mit ungefähr 50 Jahren – wir kennen sein genaues Geburtsjahr nicht – vor Nim- wegen. Nach dem missglückten Versuch, die zu diesem Zeitpunkt auf spanischer Seite stehende Stadt zu erobern, lüchte- te er auf ein Schiff, das jedoch schon mit Soldaten überladen war und in der Waal sank. Wegen seiner schweren Rüstung war es ihm unmöglich, sich schwimmend ans Ufer zu retten; er versank im Strom. Die Nimwegener bargen seine Leiche aus dem Wasser und sprachen über diese das Todes- abb. 9: martin schenck von nideggen 1582 urteil aus, da sie Schenck selbst nicht mehr (sammlung angerhausen). als Verräter zum Tode verurteilen konnten.7 Anschließend hieben sie der Leiche den Kopf ab und vierteilten sie. Die einzelnen Niederländer zu treten. Zwischendurch en- Teile wurden an den Stadttoren eine Wo- gagierte er sich auch im Kölnischen Krieg che lang aufgespießt bzw. angekettet, um für Gebhard Truchsess von Waldburg, der sie als Abschreckung zur Schau zu stellen, ihn zum zeitweiligen Kommandanten der bevor sie beerdigt wurden. Schencks Rü s- Festung Rheinberg machte und ihm sogar tung blieb angeblich als Spolium erhalten den Titel ‚Feldmarschall‘ verlieh.6 und gelangte im 17. Jahrhundert in den Be- Ein derartiger Frontenwechsel war nicht sitz von Johann Moritz von Nassau-Siegen, außergewöhnlich und galt durchaus nicht der seit 1647 brandenburgischer Statthal- als ehrenrührig. Das Kriegshandwerk war ter in Kleve war und von 1644 bis 1672 ein Geschäft, in dem jeder vor allem sei- gleichzeitig niederländischer Gouverneur ne eigenen Interessen verfolgte und gewis- der von staatischen Truppen besetzten Fes- sermaßen als Kleinunternehmer Truppen tung Wesel. Der kunstliebende Johann Mo- anwarb und durch militärische Erfolge so- ritz verwandte diese Rüstung 1653 für die wie Plünderungen zu unterhalten suchte. Statue des sogenannten Eisernen Mannes, Die Treueplicht gegenüber dem Kriegs- der als Denkmal das Amphitheater in den herrn bestand nur so lange, wie dieser Klever Gartenanlagen zierte, bis er 1794 gut zahlte und weitere Vorteile, vor allem von französischen Revolutionstruppen zer- reiche Beute und deren Erhalt, garantierte. stört wurde.8 (An seiner Stelle steht heute,

18 ebenfalls auf einer Säule, die Plastik von Krieges am unteren Niederrhein abspiel- Stephan Balkenhol). ten, waren äußerst wechselhaft und zogen Martin Schenck zu Nideggen gab der Schen- viele Orte in Mitleidenschaft. Für Wesel kenschanz zwar seinen Namen, aber sein stellten besonders die spanischen Truppen Lebenslauf macht deutlich, dass er an der seit 1583 eine Bedrohung dar. Die Bürger eigentlichen Geschichte der Festung nur ei- legten daher 1587 die unbefestigten Vor- nen geringen Anteil hatte, denn bereits drei städte Lew, Oberndorf, Steinweg und Wi- Jahre nach ihrer Errichtung fand er ja im Au- laken nieder, um den Spaniern dort keine gust 1589 in Nimwegen den Tod. Wir wis- Deckung zu bieten. Erst 1590 befreiten sen noch nicht einmal, wie die Schenken- niederländische Truppen Wesel von der schanz zu seiner Lebzeit ausgesehen hat, unmittelbaren Gefahr einer spanischen denn die ersten bildlichen Darstellungen Eroberung.11 Dennoch war die Stadt, die stammen aus der Zeit, als der in Alkmaar zwischen den Fronten lag, auch weiterhin geborene Adriaen Anthonisz. (1541–1620) äußerst gefährdet, wie sich in den nächsten nach Schencks Tod von den Generalstaa- Jahren zeigen sollte. Bereits im September ten die Verantwortung für den Weiter- und 1595 kam es ganz nahe bei Wesel, süd- Ausbau übertragen bekam. Er galt als der lich der Lippe bei Spellen, zu einem Ge- bedeutendste Festungsbau mei s ter der Nie- fecht zwischen spanischen (gelb markiert) derlande und errichtete in seinem langen und niederländischen (rot markiert) Trup- Leben 29 Festungsanlagen.9 pen, das auf einem zeitgenössischen Stich Obwohl eine große Anzahl von Kupfersti- dargestellt ist (vgl. Abb. 10). Zwar wurde chen und Zeichnungen überliefert ist, die Wesel selbst in diesem Fall nicht direkt be- das Aussehen der Schenkenschanz doku- droht, aber die Kampfhandlungen waren mentieren, ist die Quellenlage über ihre dennoch ein klarer Beweis für eine mögli- Errichtung spärlich. Aber für unser Thema che Gefährdung der Stadt. sind ja auch nicht die fortiikatorischen Diese erfolgte dann im Herbst 1598, als Einzelheiten von Interesse, sondern viel- der spanische Heerführer Mendoza sei- mehr die Geschichte dieser niederländi- ne Truppen, ca. 20.000 Mann, von dem schen Fes tung auf klevischem Gebiet und habsburgisch-spanischen Herzogtum Lim- die Rolle, die sie im 80-jährigen Krieg ge- burg aus an den Niederrhein führte und in spielt hat. Dass die Spanier immer wieder der Folge dort die klevischen Städte Orsoy, versuchten, den aufständischen Niederlän- Rees und Emmerich sowie Doetinchem im dern die Schenkenschanz abzujagen, ver- geldrischen Quartier Zutphen einnahm. wundert nicht bei der Schlüsselstellung, die Bei Raubzügen und Kampfhandlungen diese Festung einnahm. Denn, wie bereits plünderte Mendoza das gesamte Nie- dargestellt, besaß sie wegen ihrer Lage eine derrheingebiet aus. Ein Teil seines Heeres strategisch äußerst große Bedeutung und schlug sein Lager unterhalb von Elten auf – zwar nicht so sehr für die Beherrschung ein klares Indiz für einen geplanten Angriff ihrer unmittelbaren Umgebung, sondern auf die Schenkenschanz, der wegen des vielmehr als Eingangstor in die sieben auf- einbrechenden Winters jedoch verschoben ständischen Provinzen. Sie wurde daher werden musste. Mendoza bezog in West- auch „de sleutel van den hollandschen falen sein Winterquartier, und seine Solda- tuin“ oder „Schlüssel von Gelderland und ten verließen Anfang Dezember Emmerich, Holland“ genannt.10 nachdem niederländische Einheiten ihn Nicht nur die Schenkenschanz war um- dort bedrängt hatten. Stattdessen zogen kämpft. Die militärischen Auseinanderset- klevische Truppen in Emmerich ein.12 zungen, die sich während des 80-jährigen

19 abb. 10: das gefecht bei spellen am 2. september 1595, mit markierung der niederländischen (rot) und spanischen (gelb) truppen (staWesel).

Auch Wesel geriet in diesen Monaten nun sen.14 So blockierte Mendoza bei Emme- unmittelbar in Gefahr. Mendoza erpresste rich den Rhein mit einer Schiffsbrücke, die 1598 von der Stadt eine ungeheuer gro- den Schiffsverkehr der Niederländer un- ße Summe (300.000 Gulden) sowie die möglich machen sollte, aber auch den für Lieferung von 1.000 Malter Roggen, also Wesel wichtigen Rheinhandel behinderte. Brotgetreide. Er hatte gedroht, im Falle der Gleichzeitig sicherte sich Mendoza mit Nichtzahlung Wesel durch seine berüch- dieser Brücke eine Verbindung zum linken tigten Truppen besetzen zu lassen13, so wie Rheinufer. Unterstützt wurde er bei die- es im Folgejahr nochmals in Emmerich sen Unternehmungen von dem anfangs in geschah. Der Besitz dieser Stadt war für niederländischen, nun aber in spanischen Mendoza noch wichtiger als die Besetzung Diensten stehenden Grafen Frederik van von Wesel. Zumindest im Hinblick auf die den Bergh mit seinen 7.000 Mann Fußvolk, angestrebte Eroberung der nahe gelege- zwölf Kompanien Kavallerie und Artillerie. nen Schenkenschanz war die Einnahme Der Statthalter der staatischen Niederlande, von Emmerich für die Spanier fast unaus- Prinz Moritz von Oranien, reagierte darauf weichlich; das sahen schon die Zeitgenos- mit einer Verstärkung seiner eigenen Trup-

20 pen in der Schenkenschanz, und besetzte wieder zurück, besetzten die Stadt erneut, auch Zevenaar, Huissen und Tolhuys.15 allerdings nur bis Mai 1599. Im August 1599 zogen dann kaiserliche Truppen in Ende Februar 1599 zwang Mendoza Em- Emmerich ein, die jedoch keinen Schutz für merich, eine Besatzung von 1.000 Mann die Stadt darstellten, sondern sich zum Teil aufzunehmen: Italiener, Spanier und Fran- übel aufführten, bis eine niederländische zosen. Die klevischen Truppen, die in der Besatzung wieder für Ordnung sorgte. Am Stadt lagen, konnten dagegen nichts aus- 18. Januar 1600 verließen die Niederländer richten und zogen sich per Schiff in die dann Emmerich, und die Stadt wurde dem niederländische Festung Schenkenschanz Herzog von Kleve zurückgegeben.16 zurück. Kurze Zeit später wurden die spa- nischen Besatzer Emmerichs außerhalb der Noch während ihrer Besetzung Emme- Stadt jedoch von niederländischen Truppen richs unternahmen die Spanier im April/ durch die Anwendung einer List besiegt und Mai 1599 einen großen jedoch erfolglo- räumten Emmerich. Doch sie kehrten bald sen Angriff auf die Schenkenschanz. Ein

abb. 11: die Belagerung der schenkenschanz durch spanische truppen im april/mai 1599, kupfer- stich von frans Hogenberg, mit markierung der spanischen (gelb) und niederländischen (rot) truppen (staemmerich).

21 Kupferstich von Frans Hogenberg zeigt die Niederländer über die Niederlagen der von den Spaniern belagerte Festung (vgl. Spanier. Ein Flugblatt aus dem Jahr 1599 Abb. 11). Die Truppenansammlungen der verspottet die Niederlagen Mendozas; beiden Gegner sind an ihren Fahnen zu es bildet einen Spanier ab, der hillos die unterscheiden: das Andreaskreuz (gelb Arme hebt und von zwei martialen Gestal- markiert) steht für die Spanier, die Trikolo- ten lankiert wird: links die personiizierte re (mit den auch heute noch niederländi- Schenkenschanz, rechts Zaltbommel.18 In schen Farben rot-weiß-blau) markiert (rot) einer deutschen Fassung dieses Flugblatts die Truppen des Prinzen Moritz, der eben- ist mit der Unterschrift „Ein Danck und falls dargestellt ist, wie er auf der Brücke in Freudenliedt der Niderlenden, im thon: Ein den Kernbereich der Festung hineinreitet. veste burg ist unser Got“ eine Umdichtung Die Spanier nahmen die Festung unter star- von Luthers berühmtem Kirchenlied abge- ken Beschuss, auch von der Schiffsbrücke druckt:

Ein starcke vest ist Schenkenschanz ein feste Burg ist unser gott Der Staten wehr und waffen: ein gute Wehr und Waffen Berlott veracht sie gar und gantz er hilft uns frei aus aller not, Und gab ihm nix zu schaffen, die uns jetzt hat betroffen. Der grosse Geusen Feindt der alt böse feind hat gentzlich vermeint mit ernst er’s jetzt meint; Mit Macht und viel list groß macht und viel list Die Schantz zur selben frist sein grausam rüstung ist, Zu gewinnen und zu schlichten.19 auf erd ist nichts seinsgleichen.

aus, die von Emmerich näher an die Schen- Auch nach 1600 wurden die Kriegshand- kenschanz herangefahren worden war. Auf lungen am Niederrhein fortgesetzt, und beiden Seiten waren die Verluste sehr groß. beide Seiten versuchten, ihre Position zu Nachdem Prinz Moritz von Oranien Ver- stärken. Selbst während des zwischen stärkung durch 800 englische Soldaten und Spanien und den Generalstaaten ausge- Pioniere erhalten hatte, die die Schenken- handelten zwölfjährigen Waffenstillstands schanz sicherten, brachen die Spanier nach von 1609–1621 ging der Kampf um die acht Tagen die Belagerung ab.17 Schenken- Stellungen am Niederrhein weiter. Der schanz hatte sich wirklich als uneinnehm- 80-jährige Krieg verquickte sich hier mit bar erwiesen, und das obwohl die Spanier dem jülich-klevischen Erbfolgestreit, bei weite Teile des unteren Niederrheins in ih- dem Brandenburg von den Generalstaaten rer Gewalt hatten. und Pfalz-Neuburg von Spanien unterstützt Mendoza zog sich mit seinen Truppen nach wurde. In dessen Verlauf wurde Wesel im Zaltbommel zurück, das er allerdings auch September 1614 von spanischen Truppen nicht erobern konnte. Die zeitgenössische unter Spinola eingenommen und bis 1629 Publizistik spiegelt die Erleichterung der besetzt gehalten.20 In diesem Jahr gelang

22 abb. 12: emmerich mit dem linksrheinischen fort oranien 1647, kupferstich von matthaeus merian (staemmerich). es den Holländern, die Spanier aus We- errichtete Fort Oranien (vgl. Abb. 12), das sel zu vertreiben und sich selbst bis 1672 jedoch bald zunehmend der Strömung und als Besatzungsmacht zu etablieren. Damit dem Hochwasser zum Opfer iel – eine Ent- konnten sie den Rhein nun nicht nur bei wicklung, von der im 17./18. Jahrhundert Schenkenschanz, sondern auch im Bereich auch die Schenkenschanz betroffen wurde. von Wesel kontrollieren. Das wegen seiner Nähe zur Schenken- 1614, als Moritz von Oranien Emmerich schanz strategisch wichtige Emmerich war und die Spanier Wesel besetzten, zwei ab bereits im September 1614 von niederlän- dem Vertrag von Xanten (12. November dischen Truppen unter Moritz von Oranien 1614) anerkannt brandenburgische Städte, besetzt worden und blieb bis zur Eroberung bestand der zwölfjährige Waffenstillstand, durch die Franzosen im Jahr 1672 eine der 1609 zwischen Spanien und den Ge- niederländische Garnison. Die Stadt wur- neralstaaten geschlossen worden war und de von den Generalstaaten in jahrelangen der auch eingehalten wurde. Dennoch mühseligen Arbeiten zur Festung nach der setzten beide Seiten während dieser Zeit sogenannten älteren niederländischen Ma- ihre Bemühungen fort, am Niederrhein nier ausgebaut.21 Auf der rechten Rheinsei- ihre Position weiter zu stärken, um sich te umfasste die neue Stadtbefestigung acht für die Wiederaufnahme des Kampfes im weit ins Vorgelände hineinragende Bastio- Jahr 1621 eine gute Ausgangsposition zu nen mit sechs dazwischenliegenden Halb- schaffen. Auch die Schenkenschanz wurde monden (Lünetten). Einen zusätzlichen weiter ausgebaut. Dass es am Niederrhein Schutz bot das auf der linken Rheinseite nach dem Ende des zwölfjährigen Waffen-

23 abb. 13: schlacht zwischen graf Heinrich van den Bergh und den niederländern bei kalkar 1626 (staWesel). stillstands im Jahr 1621 mehrfach zu Ge- zeigt das kriegerische Wechselspiel nicht fechten zwischen den gegnerischen Partei- nur, wie instabil die militärische Lage um en kam, verwundert nicht. Auch für Wesel die Jahrhundertwende am Niederrhein war, waren das schwere Zeiten, nicht zuletzt im sondern auch, wie stark die einheimische Hinblick auf den Handel. Durch militäri- Bevölkerung unter den spanisch-niederlän- sche Angriffe wurde die Stadt jedoch kaum dischen Kämpfen zu leiden hatte, einer Aus- beeinträchtigt. So war Wesel bei dem „an- einandersetzung die sie eigentlich gar nicht sehnlichen treffen“ zwischen dem auf spa- betraf, in die der Niederrhein aber trotzdem nischer Seite kämpfenden Grafen Heinrich hineingezogen wurde. Ein – wenn zweifel- van den Bergh und niederländischen Trup- los auch nicht der einzige – Grund dafür pen in der Nähe von Kalkar 1626 trotz der liegt in der Nähe der strategisch so wichti- Nähe des Kriegsschauplatzes durch den gen und daher hart umkämpften Schenken- Rhein geschützt (vgl. Abb. 13). schanz. Angriffe der Spanier auf die Festung An den jahrzehntelangen Kämpfen waren konnten jedoch von der dortigen niederlän- übrigens nicht nur spanische und nieder- dischen Besatzung immer abgewehrt wer- ländische Soldaten beteiligt, sondern eben- den, wenn auch unter Verlusten. Erst 1635 falls Söldner aus ganz unterschiedlichen gelang den Spaniern die Eroberung. Teilen des Heiligen Römischen Reiches und anderen europäischen Ländern, so Franzo- Zuvor hatten sie immer wieder versucht, sen, Italiener, Engländer und Kroaten, vor Einzelheiten über die Festung zu erfahren, allem auf der Seite der Spanier. Insgesamt um möglichst erfolgreiche Angriffsstrategi-

24 en entwickeln zu können. Sie bedienten chen lang zur Abschreckung auf den Wäl- sich dabei auch des Emmericher Pfarrers len der Schenkenschanz zur Schau gestellt an der Aldegundiskirche, Jan Otten. Im und erst anschließend bestattet.22 Jahr 1630 wurde dieser vom Emmericher Die Schenkenschanz stellte zu dieser Zeit Magistrat zum Gouverneur von Spanisch nicht nur eine militärische Bastion dar, son- Geldern, Graf Heinrich van den Bergh ge- dern besaß bereits viele zivile Einrichtun- sandt, um die Freilassung von Emmericher gen, und ein Zeitgenosse bezeichnete sie Bürgern zu erwirken, die von den Spaniern als „halbe Stadt“.23 Bilder bestätigen das gefangen genommen worden waren. Der (vgl. Abb. 14). Die Schenkenschanz wirkt Graf van den Bergh soll bei dieser Gele- hier trotz ihrer imposanten und sehr ho- genheit Otten überredet haben, ihm aus hen Festungsmauern durchaus friedlich. Im Emmerich Informationen über die Festung Vordergrund auf dem Rhein sind Kähne mit Schenkenschanz zu besorgen. Otten ging Proviant und Soldaten. Über den Mauern darauf ein und schickte seine Erkenntnisse der sich wuchtig aus dem Rhein erheben- per Brief an den Gouverneur. Doch dieser den Festung sieht man ganz links die alte hatte zu dieser Zeit bereits seinen Front- Garnisonkirche mit einem Dachreiter, da- wechsel zu den Niederländern beschlossen neben die sich majestätisch darstellende und, um sich bei diesen Liebkind zu ma- 1634 erbaute neue evangelische Kirche mit chen, spielte er Ottens Brief in die Hände dem hohen Turm, rechts davon das Türm- der Generalstaaten. Daraufhin verhafteten chen des Rheintors und die Windmühle.24 die Niederländer, die zu dieser Zeit ja Em- merich besetzt hielten, Pfarrer Otten. Sie Die auf diesem Stich dargestellte Szene zeigt klagten ihn wegen Hochverrats an, verur- die noch völlig intakte Schenkenschanz im teilten ihn im Oktober 1630 und enthaup- Jahr 1635, unmittelbar vor oder in der An- teten ihn öffentlich auf dem Emmericher fangsphase ihrer Belagerung durch staati- Geistmarkt. Während sein Körper auf dem sche Truppen, nachdem spanische Truppen Friedhof der Aldegundiskirche beigesetzt sie kurz zuvor erobert hatten. Was nicht zu werden durfte, wurde sein Kopf fünf Wo- erwarten gewesen war: Die als uneinnehm-

abb. 14: schenkenschanz 1635/36, unbekannter zeichner, veröffentlicht von Ioan Blaeu 1647 (staemmerich).

25 bar geltende Festung war 1635 in die Hand Damit war „de sleutel van den holland- der Spanier gefallen und zwar durch einen schen tuin“ in der Hand der Spanier – mit geglückten nächtlichen Überrumpelungs- unabsehbaren Folgen für den Fortgang des versuch. Graf Wilhelm von Nassau, der das Krieges. Es war unausweichlich, dass die staatische Heer am Niederrhein komman- Niederländer alles daran setzen mussten, dierte, hatte am 23. Juli 1635 seine Truppen um dieses wichtige Bollwerk so schnell wie auf höheren Befehl hin abgezogen, um sie möglich zurückzugewinnen. Noch am Tag in Gennep mit den Streitkräften des Prinzen des Falls der Schenkenschanz befahl der so- von Oranien zu vereinigen. Den Spaniern fort benachrichtigte Prinz von Oranien den blieb das nicht verborgen, und sie nutzten Aufbruch eines niederländischen Heeres ihre Chance. Bereits drei Tage später brach von 3.600 Musketieren und 2.000 Reitern ein spanisches Heer in die Düffel und zur nach Nimwegen und in die Betuwe. Die Schenkenschanz auf. Im Schutz der Dun- Spanier, unter dem Kommando des Kardi- kelheit zogen sie vor die Festung, und es nal-Infanten Ferdinand von Habsburg und gelang ihnen, die Wälle zu ersteigen und in unterstützt von kroatischen Söldnern, zogen die Festung einzudringen. Den überrasch- unterdessen eine Streitmacht in dem Gebiet ten niederländischen Verteidigern gelang zwischen Kleve und Erkelenz zusammen. es nicht, sich der Übermacht zu erwehren, Beide Seiten bereiteten sich auf ausgedehn- und sie wurden anschließend allesamt nie- te und langwierige Kämpfe vor und errichte- dergemacht. Nur die Frauen und Kinder ten in dem jeweils von ihnen kontrollierten wurden von den Spaniern nicht getötet. Ei- Gebiet rund um die Schenkenschanz neue nige wenige, wie der Prediger und einige Wälle und Schanzen, befes tigten Häuser, Beamte, konnten sich auf kleinen Schiffen hoben Laufgräben und Wassergräben aus, retten.25 brachten Kanonen in Stellung. Als Unter- stützung für die Nieder- länder trafen französische Truppen ein.26 Unter großen Verlusten begann ein monatelanger Stellungskrieg mit einem steten Hin und Her27, in dessen Folge sich die Landschaft um die Schen- kenschanz durch die von beiden Seiten vorge- nommenen militärischen Baumaßnahmen und Ver- schanzungen völlig verän- derte. Es war von beiden Seiten eine ungeheuer große Truppenstärke zu- sammengezogen worden. Die Verproviantierung dieser riesigen Anzahl von abb. 15: kardinal-Infant ferdinand von Habsburg und Prinz friedrich Soldaten wurde immer Heinrich von oranien würfeln 1635/36 um die schenkenschanz, schwieriger, und die um- kupferstich von crispijn de Passe d. Ä. (sammlung angerhausen). liegenden Städte wurden

26 daher gezwungen, Brot zu liefern. Indem terstützt, und rechts von ihm Kardinal Ri- die Niederländer der Mühle in der Schen- chelieu. Dass Friedrich Heinrich inanziell kenschanz einen Flügel abschossen und gut ausgestattet war, wird auch an den bei- zudem die Mühlen an der Niers zerstörten, den dicken Geldbeuteln zu seinen Füßen mussten die Spanier Mehl und Brot z. T. aus deutlich. Unter dem Tisch liegen die eigent- großer Entfernung, z. B. aus Moers, herbei- lichen Leidtragenden: klevische, jülichsche schaffen. und niederkölnische Bauern. Der Kampf um die Schlüsselstellung der Insgesamt dauerte die Belagerung neun Schenkenschanz hatte nach kurzer Zeit eine Monate. Die Niederländer arbeiteten sich Dimension erreicht, deren Bedeutung weit immer näher an die Festung heran und über den eigentlichen niederländisch-spa- konnten dabei die Spanier aus den meisten nischen Krieg hinausging und auch die In- der von diesen angelegten Verschanzungen teressen anderer Potentaten betraf. Plakativ rund um die Schenkenschanz vertreiben, illus triert wird das in einem Flugblatt, das wie am rechten Bildrand eines Kupferstichs den Kampf um die Schenkenschanz alle- an ihrer aufgestellten Flagge verdeutlicht gorisch als ein Glücksspiel darstellt (vgl. wird (vgl. Abb. 16). Die Spanier hatten Abb. 15).28 In einem Zelt, aus dem heraus den Turmhelm der erst zwei Jahre zuvor man das Haus Byland (= Haus Halt) sieht, errichteten großen Kirche niedergelegt, da würfeln der Kardinal-Infant Fer dinand von sie befürchteten, die Niederländer würden Habsburg (gelb markiert) und Prinz Friedrich mit glühenden Kugeln auf ihn zielen und Heinrich von Oranien, Statthalter seit 1625 dadurch die gesamte Kirche abbrennen las- (rot markiert), um die Schenkenschanz, die als Plan vor ihnen auf dem Spieltisch liegt. Beobachtet werden sie dabei von den Anhän- gern und Unterstüt- zern Ferdinands und damit Spaniens: von links aus gesehen der Erzbischof von Mainz, der Papst mit einem Olivenzweig in der Hand, der Erzbischof von Köln und rechts von Ferdinand: König Philipp IV. von Spani- en und Kaiser Ferdi- nand II. Hinter Prinz Friedrich Heinrich von Oranien stehen nur zwei Unterstüt- zer: der französische König Ludwig XIII., abb. 16: Belagerung der schenkenschanz durch staatische truppen der den Oranier mit 1635/36, kupferstich aus a. montanus, ’t leven en Bedryf der prinsen van einer Geldbörse un- oranje, 1664 (sammlung angerhausen).

27 sen, die sie als Magazin benutzten und in der sie vier Rossmühlen zur Ver- sorgung der Soldaten mit Mehl aufgestellt hatten.29 Die Windmühle auf dem Festungswall hingegen zeigt zu diesem Zeitpunkt noch vier Flügel, von denen zumindest einer dann der Beschießung durch staatische Truppen zum Opfer iel. In der Endphase hatten die Niederländer die ei- gentliche Festung völlig eingekreist, wie der groß- formatige Kupferstich des Johan Jacob Schort zeigt (vgl. Abb. 17), der die Si- tuation im April 1636 dar- stellt, und der ungemein abb. 17: endphase der Belagerung der schenkenschanz durch staatische viele Informationen ver- Truppen 1636 und Proile der Befestigung, Kupferstich von Johannes Jacob mittelt. (Die hier gezeigte schort, Ingenieur im niederländischen Heer, gedruckt von Ioan Blaeu 1647. Version von Schorts Dar- stellung stammt aus dem um 1647 veröffentlichen Städtebuch Joan Blaeus). Auf dem Stich wird ei- nerseits deutlich, wie die gesamte Umgebung der noch in der Hand der Spa- nier beindlichen Schen- kenschanz eine einzige Militärlandschaft ist (vgl. Abb. 18), geprägt durch Heerlager, Schanzen, Re- douten und Bastionen (rot markiert), sowie Laufgrä- ben, durch Schiffe auf dem Strom aber auch durch die Schiffsbrü cken (blau mar- kiert), die der niederlän- dische Oberkommandie- rende Graf Wilhelm von Nassau aus Emmerich und abb. 18: niederländische schanzen und Bastionen sowie schiffsbrücken Pannerden herangebracht bei der Belagerung der schenkenschanz durch staatische truppen 1636.

28 abb. 19: die einkreisung der von den spaniern besetzten schenkenschanz durch die niederländer 1636, verdeutlicht durch deren fahnen. hatte, um jederzeit den Rhein bzw. die Waal kiert). Darüber hinaus sind Batterien von überqueren zu können. Kanonen auszumachen – allerdings auch Anhand der Fahnen wird ersichtlich, wie in der von den Spaniern besetzten Festung. der militärische Stand ist. Der Versuch, Größere Kampfhandlungen sind hingegen alle auf diesem Blatt eingezeichneten Fah- nicht zu beobachten, vielmehr sieht das nen aufzuinden und zu markieren (vgl. Geschehen trotz der großen Ansammlung Abb. 19) macht deutlich, dass die Lage der von Waffen recht friedlich aus. Überall Spanier zu diesem Zeitpunkt aussichtslos laufen Soldaten mehr oder weniger ziellos war: Die staatischen Truppen hatten die herum, allerdings mit der Muskete über der Schenkenschanz völlig eingekreist und das Schulter (vgl. Abb. 20). Einige angeln (blau gesamte umliegende Terrain in ihre Kon- markiert), einer pinkelt (gelb markiert); man trolle gebracht. An mehreren Stellen sind sieht Bratspieße (braun markiert), Wind- umfangreiche und wohl geordnete staati- mühlen (grün markiert), und auch einen sche Lager dargestellt und auch ein Reser- Galgen (rot markiert). vegebiet für 3.000 Mann (mit Pfeilen mar-

29 abb. 20: ‚ziviles‘ leben der Belagerer der schenkenschanz 1636.

Insgesamt gesehen vermittelt Schorts Plan Freude aber auch Überraschung – reiche den Eindruck, dass die Niederländer das Vorräte vor. Ihr Ziel war erreicht. Der „sleu- Gebiet und damit auch die eingekesselte tel van den hollandschen tuin“ war wieder Schenkenschanz voll unter Kontrolle haben in ihrer Hand. und sich ein weiterer Kampf erübrigt. Und Ein weiteres Flugblatt zeigt das Ende des in der Tat sahen die Spanier ein, dass ihre Würfelspiels, das zu ihren Gunsten ausge- Lage aussichtslos war und baten schließlich gangen war (vgl. Abb. 21). Prinz Friedrich um Verhandlungen, die zunächst jedoch zu Heinrich hat gegen den Kardinal-Infanten keinem Erfolg führten. Nach einem erneu- gewonnen, von dem sich der Erzbischof ten Angriff der staatischen Truppen willig- von Köln, der Papst, der Kaiser und der Kö- ten die Spanier dann Ende April 1636 doch nig von Spanien bereits abgewendet haben. in die Übergabe der Festung ein. Nachdem Nur der in spanischen Diensten stehende sie freien Abzug erhielten, zogen die Nie- Graf Johann von Nassau (mit dem Stab in derländer wieder in die Schenkenschanz der Hand) ist noch bei ihm. Hinter Prinz ein und fanden dort – sicherlich zu ihrer Friedrich Heinrich steht nach wie vor Kar-

30 abb. 21: Würfeln um die schenkenschanz 1635/36: kardinal-Infant ferdinand von Habsburg hat ver- loren, kupferstich von crispijn de Passe d. Ä. (sammlung angerhausen). dinal Richelieu. Während unter dem Tisch nik, die durch die oranische Heeresreform ein Mönch und eine Nonne stellvertretend eingeführt worden war; andererseits trug für die Geistlichkeit von Jülich, Kleve, Berg aber auch ihre wirtschaftliche Prosperität und den Kölnischen Landen ihr Schicksal zu den militärischen Erfolgen bei. Faktisch beklagen und einen abgegessenen Teller hatten sie ihre Loslösung von Spanien be- vor sich halten, tanzen im Hintergrund die reits 1636 erreicht, als sie um die Wieder- klevischen Bauern vor Freude; zu Füßen erlangung der Schenkenschanz kämpften. von Friedrich Heinrich steht ein dickbau- Endgültig und völkerrechtlich anerkannt chiger „Finanzentopf“. Und oben rechts wurde ihre Unabhängigkeit aber erst im sieht man die Schenkenschanz. Januar 1648 durch den Vertrag, den sie Die erfolgreiche Rückeroberung der Schen- in Münster mit dem Königreich Spanien kenschanz im Jahr 1636 durch die staa- schlossen und der den 80-jährigen Krieg tisch-niederländischen Truppen beendete beendete – wenige Monate vor dem West- zwar nicht den 80-jährigen Krieg, aber sie fälischen Frieden, der mit den Verträgen war bereits ein klares Zeichen für dessen von Münster und Osnabrück das Ende des Ausgang. Denn die aufständischen Provin- 30-jährigen Krieges brachte. zen wurden im Verlaufe des Krieges immer Mit der Unabhängigkeit der Generalstaa- stärker. Das war einerseits die Folge ihrer ten von Spanien verlor die Schenken- modernen Kriegsführung und Waffentech- schanz an Bedeutung. Die Befestigung

31 wurde vernachlässigt, und 1672 konnten gebaut, der Wasser aus der Waal direkt in die Truppen Ludwigs XIV. sie erobern. Er- den Nederrijn leitet. Damit lag die strate- leichtert wurde ihnen das dadurch, dass sie gisch so wichtige Rheinteilung nicht mehr den Nederrijn wegen der zunehmenden bei der Schenkenschanz, und ihr Standort Versandung hatten durchwaten können. hatte endgültig die Funktion des „sleutel Auch wasserbautechnische Maßnahmen van den hollandschen tuin“ verloren, die konnten die Wasserzufuhr in den Nederrijn sie im 80-jährigen niederländisch-spa- nicht verbessern. Als 1703 der sog. But- nischen Krieg besessen hatte. Trotzdem terdeich zwischen Tolhuys und Schenken- verzichtete die Republik der Niederlande schanz brach, loss das Wasser zunehmend nicht auf das kleine Gebiet ihrer ehema- nördlich von Schenkenschanz in die Waal ligen Festung. Es blieb gewissermaßen als (vgl. Abb. 7). Die Festungsanlagen wurden Relikt des niederländisch-spanischen Krie- weitgehend durch den Fluss zerstört, und ges eine niederländische Exklave innerhalb Sandablagerungen südlich von Schenken- des preußischen Herzogtums Kleve. Erst schanz bewirkten eine Anlandung der Fes- durch die gemäß den Bestimmungen des tung. Wie die Oude Waal verlandete auch Wiener Kongresses vollzogenen Grenzver- der Nederrijn südlich und nördlich von Lo- änderungen (vgl. Abb. 22) zwischen dem bith zusehends. Um die Städte im weiteren Königreich Preußen und dem Königreich Verlauf des Nederrijns nicht völlig von der der Niederlande wurde Schenkenschanz Wasserzufuhr abzuschneiden, wurde zu 1816 preußisches – und ab 1871 dann Beginn des 18. Jahrhunderts nordwestlich deutsches – Staatsgebiet. von Millingen der Pannerdensche Kanal

abb. 22: grenzverän- derungen bei elten und Zyflich 1816: Schenken- schanz wird preußisches staatsgebiet.

32 Anmerkungen: 20 Vgl. Prieur (wie Anm. 11), S. 203 ff. 21 Vgl. Dederich (wie Anm. 12), S. 435 ff. 1 Überarbeitete und leicht erweiterte Fassung des Vor- 22 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), trags, der am 17. September 2014 vor der Historischen S. 47 f.; Dederich (wie Anm. 12), S. 444 ff. Vereinigung Wesel gehalten wurde. Der Vortrags- 23 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 39. charakter wurde bewusst beibehalten. 24 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 83 f. 2 Die Geschichtskarten dieses Beitrags stammen aus 25 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 50. Irmgard Hantsche, Atlas zur Geschichte des Nieder- 26 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), rheins, Bd. 1, 5. Aulage Bottrop/Essen 2004 und Bd. S. 50–56. 2, Bottrop 2008 sowie aus Irmgard Hantsche, Geldern- 27 Vgl. ebenda. Atlas. Karten und Texte zur Geschichte eines Territori- 28 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), ums, Geldern 2003. S. 80 f. 3 Vgl. Walter Stempel, Die Reformation in der Stadt 29 Vgl. Faltblatt ‚Evangelische Kirche Schenkenschanz‘, Wesel, in: … unnder beider gestalt …. Die Reformation o.J. in der Stadt Wesel, Köln/Bonn 1990, S. 61. 4 Vgl. Klaus Flink, Grevenward. Insula in lumine nata – eine Inselgeschichte. Zur Vorgeschichte der Schen- kenschanz, in: Schenkenschanz, „de sleutel van den hollandschen tuin“, hg. vom Städtischen Museum Haus Koekkoek, Kleve, Redaktion Guido de Werd, Kleve 1986, S. 7–20; Bernd Schminnes, in: ebenda, S. 110 ff. 5 Vgl. Heinrich Ferber, Geschichte der Familie Schenk von Nydeggen, insbesondere des Kriegsobristen Martin Schenk von Nydeggen, Köln und Neuß 1860, Redigiert und mit einem Register versehen von Stefan Franke- witz (= Geldrisches Archiv 14), Geldern 2013; Bernd Schminnes, Martin Schenk von Nideggen. Aufstieg und Niedergang eines Kriegsobristen, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 21–27; Der Niederrhein: Zeichnun- gen, Druckgraphik und Bücher aus der Sammlung Robert Angerhausen, eine Auswahl, Kleve 1993, S. 70. Vgl. auch die eher romanhafte Darstellung von Karl Kossert, Martin Schenk von Nideggen oder die Fehltritte der Tapferkeit, Duisburg 1993. 6 Vgl. Ferber (wie Anm. 5), S. 145 ff. 7 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 34. 8 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 92. 9 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 39 ff. 10 Vgl. den Untertitel der Publikation Schenkenschanz (wie Anm. 4); Ferber (wie Anm. 5), S. 164. 11 Vgl. Jutta Prieur, Wesels große Zeit. Das Jahrhundert in den Vereinigten Herzogtümern, in: Geschichte der Stadt Wesel, hg. von Jutta Prieur, Bd. 1, Düsseldorf 1991, S. 166–212, hier S. 187. 12 Vgl. Andreas Dederich, Annalen der Stadt Emmerich, Düsseldorf 1971 (= Nachdruck der Erstausgabe von 1867), S. 414 ff.; de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 42. 13 Vgl. Prieur (wie Anm. 11), S. 196. 14 Vgl. Everhard Wassenberg, Embrica. Die 1667 er- schienene Stadtgeschichte Emmerichs in der Überset- zung von Rudolf Reis, Teil 2 (= Emmericher Forschun- gen, Bd. 6), Emmerich 1984, S. 355. 15 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 42. 16 Vgl. Dederich (wie Anm. 12), S. 416 ff. 17 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 42. 18 Vgl. de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 44. 19 de Werd, in: Schenkenschanz (wie Anm. 4), S. 44.

33 Peter Bruns

1629 – Wesel wird von den Spaniern befreit 1893 – versenktes spanisches Kriegsschiff entdeckt

Der Fund eines großen Schiffswracks un- Die lokale Presse wird sicherlich Beiträ- bekannter Herkunft erregt in der Regel das ge zum überraschenden Fund publiziert Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Dies haben. Die Ausgaben des in Frage kom- wird auch bei dem am sogenannten Büde- menden Zeitraums haben sich aber nicht richer Kanal bei Wesel am 8. 6. 1893 ent- erhalten.3 Anzunehmen ist auch, dass im deckten Schiffswrack nicht anders gewesen Niederrheinischen Museum für Orts- und sein.1 Trotzdem ist heute über diesen histo- Heimatkunde Wesel Informationen auf- risch interessanten Fund nicht mehr als ein bewahrt wurden. Es wird im Februar und Foto mit der Unterschrift, es handele sich März 1945 bei den Bombardements We- um ein spanisches Kriegsschiff, bekannt.2 sels völlig zerstört. Die wenigen erhaltenen Unterlagen enthalten keine Hinweise auf den Schiffsfund von 1893.4

Einzige erhaltene Fotograie des Schiffsfundes am Büdericher Kanal bei Wesel.

35 Dass jetzt, mehr als 120 Jahre nach der schützen. Der sogenannte Büdericher Ka- Aufindung des Schiffswracks, eine Rekon- nal wird quer durch das Rheinvorland der struktion der Ereignisse möglich wurde, ist Stadt Büderich, dem »Büdericher Grind- dem zufälligen Aufinden von Unterlagen Ort«, gegraben. Nach anfänglichem Erfolg im Museum für Vor- und Frühgeschich- weiten die Eisgänge der Jahre 1795 und te Berlin zu verdanken, das zur gezielten 1799 den Kanal jedoch so weit auf, dass er Suche nach Hinweisen in den Akten der zur Hauptstromrinne wird und das ehema- Rheinstrom-Baukommission im Landesar- lige Rheinbett und die Mündung der Lip- chiv Nordrhein-Westfalen angeregt hatte. pe zusehends verlanden. Die im 19. Jahr- hundert hieraus resultierenden zahlreichen Die heute rechtsrheinisch liegende Büderi- wasserbaulichen Maßnahmen bleiben cher Insel gehört bis 1784 zum linksrhei- letztlich erfolglos. Bei Niedrigwasser sind nischen Vorland der Stadt Büderich, dem die Lippemündung, der Schutzhafen und »Büdericher Grind-Ort«. Der Rhein ver- die städtische Werft für beladene Schiffe läuft östlich in einer scharfen Schleife di- unzugänglich. rekt vor den vorgezogenen Festungswerken Der Versuch, beide Rheinarme schiffbar der Weseler Zitadelle vorbei und gefährdet zu halten, wird daher 1875 aufgegeben diese immer stärker. Nach dem Eisgang von und der Altrhein nur noch notdürftig durch 1784 beschließt man, die Festungswerke Abbaggerungen offen gehalten. 1890 be- durch den Bau eines Entlastungskanals zu schließt man eine grundsätzliche Neurege-

Karte zur Regulierung des Büdericher Kanals bei Wesel 1893.

36 lung der Verhältnisse: 840.000 Mark sollen nach wenigen Tagen wird am 8.6.1893 das investiert und 955.000 Kubikmeter Boden Schiffswrack entdeckt. bewegt werden. Der Gymnasialprofessor Karl Mummenthey Das Konzept sieht vor, den Altrhein ober- (1841–1916) wird sicherlich einer der Ers- halb der Mündung der Lippe durch einen ten gewesen sein, der zur Einschätzung des Damm zu kupieren. Der an seiner engsten Schiffsfundes zu Rate gezogen wird. Stelle nur 220 m breite Büdericher Kanal Vor seiner Versetzung an das Gymnasium soll begradigt werden und eine durchge- Wesel im Jahr 1888 lehrt Mummenthey in hende Breite von 300 m erhalten. Die An- Altena. Hier gründet er 1875 den Verein lage eines 50–68 m breiten Flutbanketts für Orts- und Heimatkunde der Süderlan- zu Lasten der Büdericher Insel verringert de. Bereits vier Jahre später erfolgt der Bau die Gefahren bei Hochwasser und Eisgang eines Museums in Altena. Auch in Wesel weiter. Die Schiffsbrücke erhält die erfor- wird Karl Mummenthey innerhalb kurzer derliche Verlängerung und einen neuen Zeit zu einer der führenden Persönlich- Standort 200 m weiter stromabwärts.5 keiten des Weseler Kulturlebens. Ein Jahr Die kostspieligen und aufwendigen Bau- nach seiner Versetzung initiiert er 1889 die arbeiten beginnen im Juni 1893. Bereits Gründung des Niederrheinischen Vereins

Karl Mummenthey (1841–1916). Rudolf Virchow (1821–1902).

37 für Orts- und Heimatkunde nach dem Vor- bild des Altenaer Vereins für Orts- und Hei- matkunde der Süderlande. Am 19.10.1890 wird in der sogenannten Französischen Kirche, der Kapelle des Heiliggeist-Stiftes in der Goldstraße, das noch sehr beschei- dene Niederrheinische Museum für Orts- und Heimatkunde Wesel eröffnet, dessen Verwalter Mummenthey wird. Seit 1891 führt der Niederrheinische Verein jährlich die Niederrheinischen Festspiele in Wesel durch.6 Am 11. 6. 1893, drei Tage nach der Ent- deckung des Schiffswracks, wendet sich Mummenthey an den bekannten Berliner Arzt und Politiker Rudolf Virchow in Berlin, mit der Bitte um eine wissenschaftliche Un- tersuchung der Fundstelle.7

Rudolf Ludwig Karl Virchow (1821–1902) ist Pathologe an der Berliner Charité und Politiker der Deutschen Fortschrittspartei. Außerdem betätigt er sich auf den Gebieten der Anthropologie, Ethnologie und Archäo- logie.8 1869 ist er Mitbegründer der Berli- ner Gesellschaft für Anthropologie, Ethno- logie und Urgeschichte, ein Jahr später der Albert Voss (1837–1906). deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Virchow ist auch an der Gründung mehrerer Berliner direktor der Sammlung vaterländischer Museen beteiligt, unter anderem des Mär- und anderer vorgeschichtlicher Altertümer kischen Provinzialmuseums (heute Märki- des Königlichen Museums für Völkerkunde sches Museum) und des Völkerkundemu- Berlin.10 seums (heute Ethnologisches Museum).9 Von Voss erhält Mummenthey am 24. 6. Virchow übergibt Mummentheys Schrei- 1893 die Aufforderung, den Schiffsfund ben an den Prähistoriker Albert Voss. genauer zu beschreiben und Fotograien anfertigen zu lassen.11 Mummenthey be- Albert Voss (1837–1906) war von 1856 bis geht die Fundstelle daraufhin zusammen 1859 Student der Medizin bei Virchow. mit dem Kapitän-Leutnant Lau und dem Ab 1868 beginnt er mit diesem erste ar- Schiffskapitän a. D., Moritz Mallinckrodt.12 chäologische Studien und Ausgrabungen Breits am 28. 6. 1893 sendet Mummenthey in Pommern und wird Mitbegründer und eine Fundbeschreibung an Voss: Die Län- Schriftführer der Berliner Gesellschaft ge des Wracks auf Höhe des ehemals für Anthropologie, Ethnologie und Urge- vorhandenen Decks beträgt ungefähr 18 schichte. Ab 1871 widmet er sich ganz der Meter, die Breite 7 Meter. Die Höhe vom Archäologie und tritt 1874 in den Muse- Deck bis zum Kiel schätzen Mummenthey, umsdienst ein. Ab 1886 ist er Abteilungs- Mallinckrodt und Lau auf 3 Meter. Der

38 Bug liegt auf Kiel, während das Heck 45° Voss schätzt den Schiffsfund zwar als lokal Schlagseite gegenüber Backbord aufweist. bedeutend ein, den wissenschaftlichen Ge- Der Vordersteven verfügt über eine deutlich winn durch dessen Hebung, Restaurierung erkennbare Sponung13 und ist aus seiner und Aufbewahrung hält Voss aber für ge- ursprünglichen Lage heraus nach Steuer- ring. Ausschlaggebender für den negativen bord verdreht. Im Backbordbug ist noch Bescheid ist aber das vermutete Alter des eine Ankerkluse14 vorhanden. Das Schiff Schiffes von nur dreihundert Jahren: „… so hat am Heck über einen hohen Aufbau fällt damit für die vorgeschichtliche Abtei- verfügt. Spuren des Mastbaums können lung das Interesse an dem Fund fort.“ Voss Mummenthey, Mallinckrodt und Lau nicht empiehlt trotzdem eine möglichst fach- entdecken. Als Baumaterial wurde haupt- kundige Dokumentation des Schiffswracks. sächlich Eichenholz verwendet. Eine dünne Zur Aufbringung der erforderlichen Geld- Wand im Inneren des hinteren Schiffsteils mittel empiehlt er Mummenthey, sich an ist aus Tannenholz gefertigt. Die Außenhaut Historische Vereine, Privatpersonen oder ist mit den Spanten durch hölzerne Bolzen die Provinzverwaltung zu wenden.17 und eiserne Nägel verbunden. Ob Karl Mummenthey der Empfehlung Die Größe und Form von Steven, Ruder und folgt, ist nicht bekannt. Einen letzten Nie- Spanten und die Art der Holzverbindun- derschlag inden Mummentheys Aktivitä- gen veranlassen Mummenthey, Mallinck- ten bei der Berliner Gesellschaft für Anth- rodt und Lau das Schiff als Binnenschiff zu ropologie, Ethnologie und Urgeschichte. bezeichnen, das nie zur See gefahren ist. Rudolf Virchow berichtet in der von ihm Das Alter des Wracks wird aufgrund der geleiteten Sitzung vom 15. 7. 1893 über Bauart auf mindestens dreihundert Jahre den Weseler Fund.18 Obwohl er zwei Fo- geschätzt. Genaueres könnte jedoch nur tograien vorlegt, bezeichnet Virchow den eine geologische Untersuchung der Fund- Fund überraschenderweise als Einbaum.19 schichten erbringen. Eine Ursache, die das Eine mögliche Ursache für diese Verwechs- Sinken des Schiffes erklären würde, konnte lung könnte der zeitgleich aufgefundene nicht gefunden werden. Einbaum in der Lippe bei Hünxe sein, der Seinem Brief fügt Mummenthey ein aktuel- 1893 in das Niederrheinische Museum für les Foto des Schiffsfundes bei. Dieser werde Orts- und Heimatkunde Wesel gelangt.20 bis zum Ende der Woche auf allen Seiten Der etwa 4,7 Meter lange Einbaum geht bis auf 0,50 Meter über dem Wasserspiegel spätestens in den Wirren des Ersten Welt- freigelegt sein. Mit einer Ausgrabung könn- krieges verloren und gerät durch die irr- te dann begonnen werden.15 tümliche Gleichsetzung mit dem 1917 in Am 2. 7. 1893 verleiht Mummenthey sei- Krudenburg aufgefundenen Einbaum völlig nem Begehren Nachdruck: Er informiert in Vergessenheit.21 Dass Mummenthey sich über die völlige Freilegung des Schiffsfun- wegen des Einbaums an Virchow wendet, des, das jetzt von Wasser umspült wird. geht aus den Akten im Vor- und Frühge- Der angestiegene Rheinpegel würde in den schichtlichen Museum Berlin allerdings nächsten Tagen wieder auf seinen außerge- nicht hervor. Leider sind die beiden von wöhnlich niedrigen Stand zurückkehren. Virchow vorgelegten Fotograien im Zwei- Mit einer Ausgrabung könne dann begon- ten Weltkrieg verloren gegangen und kön- nen werden.16 nen nicht mehr zur Erhellung dieser Frage Das wenige Tage später eintreffende Ant- beitragen.22 wortschreiben des Museums für Völker- Es ist zu vermuten, dass Mummenthey in kunde Berlin muss für Mummenthey er- engem Kontakt zur Königlichen Wasser- nüchternd gewesen sein: Der Prähistoriker bauinspektion Wesel stand.23 Diese führt

39 die Baumaßnahmen an der Büdericher In- nister der öffentlichen Arbeiten und den sel durch und bemüht sich ebenfalls um die Kultusminister in Berlin über den Schiffs- Hebung und Erhaltung des Schiffes. fund zu unterrichten und die Übernahme Am 9. 6. 1893, einen Tag nach der Aufin- der Kosten für die weiteren Arbeiten am dung, berichtet der Weseler Wasserbauin- Wrack zu erbitten.28 spektor Beyer dem Oberpräsidenten der Offenbar gehen die Ausgrabungsarbeiten Rheinprovinz in Koblenz, Bertold Nasse, am Schiffswrack aber auch ohne eine Be- der zugleich auch Präsident der Rhein- willigung der Kosten weiter. Am 10. August strom-Bauverwaltung ist, von der Freile- berichtet Beyer in seinem zweiten Gra- gung des Vorderteils eines großen Segel- bungsbericht, dass die mit Brandspuren schiffes am rechten Kanalufer. Das Schiff versehenen Überreste des Oberdecks und liegt 30 Meter vom Ufer entfernt 7 Meter der Kajüte entfernt wurden und die Ausgra- unterhalb des Terrains und hat die Form ei- bung des Schiffsinneren seit dem 7. August ner holländischen Kuff. Unklar sei, wie das durch einen Taucher mit Hilfe des vor Ort Schiff an die Fundstelle gelangen konnte, vorhandenen Tauchapparates erfolgt. Sein die sich weitab des Stromverlaufs bein- Schreiben enthält auch eine Liste der ge- det.24 machten Funde: Der Oberpräsident Nasse gibt Beyer die „1) Kriegsgegenstände: der vordere 1 m Anweisung, die Grabungen mit größter lange Teil eines Geschützrohres von Sorgfalt durchzuführen und Zeichnungen dem das Hinterstück und die Lafette anzufertigen.25 Ende Juni erhält Beyer dann noch nicht gefunden, circa 50 Kano- die Aufforderung, einen Grabungsbericht nenkugeln verschiedener Größe darun- mit Zeichnungen und einen Kostenvoran- ter auch Brandkugeln, ein Ladstock für schlag für eventuell erforderliche Fotogra- die Kanone, zwei Rittersporne von vor- ien einzureichen.26 Beyer lässt das Schiffs- züglicher und sehr zierlicher Schmie- wrack durch den Dampfbagger vollständig dearbeit; ein Schwert mit geschmiede- freilegen, bis die Arbeiten ab dem 25. Juni tem Handgriff; eine Zange zum Gießen aufgrund des ansteigenden Wasserspie- von Bleikugeln sowie eine große Zahl gels eingestellt werden müssen. Bis zum 5. solcher Kugeln. Juli sinkt der Wasserstand dann wieder so 2) Küchengeräte: zwei Kohlenschaufeln, weit, dass die Arbeiten fortgesetzt werden Steinkohlen, eine sehr schöne Feuer- können. Jetzt wird das Innere des Schiffes zange, eine Bratpfanne, zwei kleine mit Hilfe kleiner Handbagger ausgeräumt. Messer, ein Beil, der Zudeckel eines Die hierbei gemachten Funde – Kano- Kruges, zahlreiche Scherben von Töp- nenkugeln und Kochgeräte – lassen Bey- fen, eine Grabschaufel, eine Sichel. er vermuten, dass es sich bei dem Wrack 3) Schiffsgegenstände: Vier hölzerne Kol- um ein Kriegsschiff der Niederländer oder ben zum Aufziehen von Tauwerk, der ein militärisches Wachtschiff der Spanier Ring um einen Mastbaum, Kettenstü- vom Anfang des 17. Jahrhunderts handelt. cke, vier Anker.“29 Zeichnungen und Fotograien konnten auf- grund des Wasserstandes nicht angefertigt Dank der von Beyer in Auftrag gegebenen werden. Für die weiteren erforderlichen Ar- Einmessung lässt sich der Fundort am Bü- beiten veranschlagt Beyer 250–300 Mark. dericher Kanal genau bestimmen.30 Er be- Die Kosten für die Hebung beziffert er auf indet sich im Rhein etwa 100 Meter strom- 500 Mark.27 abwärts der neuen Rheinbrücke in einer Der Fundbericht des Wasserbau-Inspektors Entfernung von 35 Metern vom rechten Beyer veranlasst Präsident Nasse, den Mi- Rheinufer. Dank dieser Karte wird auch of-

40 Der Fundort des Schiffswracks nördlich der heutigen Brücke im Rhein.

fensichtlich, dass das Foto in den bisherigen Lewtor vor der Mathena-Kirche. Im Vorder- Publikationen spiegelverkehrt abgedruckt grund ist am Rheinufer der Weseler Hafen- wurde.31 Der Fehler ist im obigen Abdruck kran abgebildet, vor dem Schiffe ankern. bereits behoben. Das große Gebäude im Die Fundstelle des Schiffswracks beindet Hintergrund beindet sich jetzt an seiner sich in der rechten Bildhälfte im Rhein vor perspektivisch richtigen Stelle. Da der Bug der Abbruchkante der späteren Büdericher des Schiffes laut Beyer stromabwärts nach Insel. Norden zeigte, kann das linke Ende des Die durch den Taucher gehobenen Funde Wracks auf dem Foto sicher als Bug ange- bestärken Beyer in der Vermutung, dass sprochen werden.32 Am rechts beindlichen es sich bei dem Schiff um das Wrack des Heck sind die Reste der erwähnten Kajüte am 19. 8. 1629 gesunkenen spanischen zu erkennen. Wachtschiffes handelt.34 Die 1647 in der Topographia Westphaliae Im 80-jährigen Krieg (1568–1648) kämpfen veröffentlichte Stadtansicht von Wenzel die sieben niederländischen Generalstaa- Hollar gibt einen guten Eindruck von der ten um ihre Unabhängigkeit von Spanien.35 historischen Topographie an der Unter- Obwohl sich die Vereinigten Herzogtümer gangsstelle des Schiffes.33 Jülich-Kleve-Berg neutral verhalten, wird Der Bildausschnitt zeigt im Hintergrund der Niederrhein durch seine militärstra- die Befestigung der Stadt Wesel mit dem tegisch bedeutende Rheinlage zwischen

41 Der Fundort in einer Stadtansicht Wesels von Wenzel Hollar von 1641. dem spanisch verbliebenen Oberquartier Im Mai 1629 nehmen die Niederländischen Geldern im Süden und der niederländi- Generalstaaten die Kampfhandlungen schen Provinz Gelderland im Westen und mit der Belagerung von ’s-Hertogenbosch Norden ab dem Ende des 16. Jahrhunderts durch Prinz Heinrich von Oranien-Nassau zu einem Kriegsschauplatz dieser Ausein- wieder auf. Als der Stadt der Entsatz nicht andersetzung.36 gelingt, ziehen von Wesel aus spanisch- 1609 kommt es zu einem 12-jährigen Waf- kaiserliche Truppen in die Veluwe mit dem fenstillstand, der von beiden Parteien unter Ziel, den holländischen Belagerern in den Vermeidung direkter Konfrontationen zum Rücken zu fallen. Mit der Eroberung von Ausbau ihrer Positionen am Niederrhein Amersfoort am 14. August rückt dieses Ziel genutzt wird. Am 5. September 1614 er- in greifbare Nähe. Die Einnahme Wesels gibt sich die Stadt Wesel nach zweitägiger durch die Niederländer am 19. 8. 1629 Belagerung den Spaniern unter dem Kom- wendet das Blatt überraschend zugunsten mando von Ambrosio Spinola. Emmerich der Generalstaaten. und Rees werden von den Niederländern Die handstreichartige Einnahme wurde besetzt. durch den Weseler Peter Mölder ermög-

42 licht, der die Niederländer über eine durch umfangreiche Bauarbeiten bestehende Schwachstelle im Befestigungsabschnitt zwischen dem Brüner Tor und dem Däm- mer Tor informiert.37 Am 18. August 1629 ziehen daraufhin 1600 Soldaten zu Fuß und acht Kompanien Reiterei unter der Führung des Gouverneurs von Emmerich, Baron Otto von Gent, von Schenkenschanz über Rees nach Wesel, wo sie ohne große Gegenwehr in die Mathena-Vorstadt ein- dringen. An der Hauptwache am Großen Eroberung Wesels am 19. 8. 1629. Der Aus- Markt wird der Gouverneur Wesels, Fran- schnitt eines Flugblatts von 1629 zeigt die an cisco de Lozano, gefangen genommen. Mit der Schwachstelle zwischen Brüner Tor und der Stadt ergeben sich auch die Besatzun- Dämmer Tor eindringenden Niederländischen gen der beiden Schanzen am Rhein und der Truppen. Lippe. Der Kommandant des am Rhein vor Anker liegenden spanischen Kriegsschiffes sieht keine andere Wahl, als sein Schiff zu versenken und zu liehen.38

Peter Mölder führt die Niederländischen Truppen zur Schwachstelle in der Stadtbefestigung zwischen dem Brüner Tor und dem Dämmer Tor.

43 Die Eroberung Wesels, das als Hauptwaf- fendepot Ausgangspunkt vieler militäri- scher Aktionen war, ist der entscheidende Schlag gegen die militärische Präsenz der Spanier am Niederrhein. Noch im selben Jahr bringen die Niederländer das gesamte rechtsrheinische Territorium des Herzog- tums Kleve unter ihre Kontrolle und halten es bis 1672.

Baron Otto von Gent (1578–1640) wird nach der Eroberung Wesels neuer Gouverneur der Flucht der spanischen Truppen. Ausschnitt des Stadt. Flugblatts mit großer Schanze (x), zerstörter Schiffsbrücke (z) und gesunkenem spanischen Kriegsschiff (y).

In der Annahme, die Überreste eines histo- ten, anbei zurückfolgenden Fotograie vom risch belegten Schiffsunterganges vor sich Standpunkt der Denkmalplege eine nen- zu haben, bittet Beyer um die Erlaubnis, nenswerte Bedeutung nicht beizumessen die Grabungen fortzuführen, und beantragt ist, weshalb die Bewilligung von Mitteln erneut die Übernahme der Kosten. Auch zur Hebung desselben aus hiesigen Fonds dieser Bericht gelangt an den Minister der nicht erfolgen kann“.41 Nasse weist Beyer öffentlichen Arbeiten und den Kultusminis- daraufhin an, die Funde vorerst im Baubüro ter in Berlin. Nasse erbittet die Kostenüber- aufzubewahren und das Schiffswrack um- nahme für die Hebung des historischen gehend zu beseitigen.42 Wracks.39 Wohin die Ausgrabungsfunde nach dem Erst jetzt reagiert das Ministerium für öffent- Abschluss der Stromregulierung im Jahr liche Arbeiten und teilt mit, dass es über 1896 gelangen, war bisher nicht zu ermit- keine Fonds verfügt, aus denen die Hebung teln. Möglicherweise werden sie, wie der des Schiffswracks inanziert werden könn- ebenfalls 1893 ausgebaggerte Mammut- te. Das Schreiben wird an das Ministerium zahn, nach Koblenz verschickt und gehen der geistlichen, Unterrichts- und Medizi- dort verloren.43 Die Übernahme der Fun- nal-Angelegenheiten weitergeleitet.40 Von de durch das Niederrheinische Museum hier erhält Nasse am 12. 9. 1893 die Mittei- für Orts- und Heimatkunde Wesel ist wohl lung, „dass dem Funde nach der vorgeleg- auszuschließen, da die erhaltene summa-

44 Ausschnitt aus Kölner Tageblatt vom 20. 8. 1893. rische Inventarliste von 1896 keine Funde Anmerkungen: oder Positionen aufweist, die dem Schiffs- 1 Vgl. zum Funddatum: Staatliches Museum Berlin, His- fund zugeordnet werden können.44 torische Erwerbungsakte des Museums für Vor- und Nachdem von mehreren Seiten erfolglos Frühgeschichte (MVF) Berlin, Aktenvorgang SMB-PK/ MVF, IXd, IA 9, Bd. 3, E 863/93. Schreiben Karl Mum- versucht worden war, die Fachwelt für den menthey vom 11. 6. 1893; Landesarchiv NRW, Bestand Schiffsfund zu interessieren, erscheint die BR 1133 Nr. 322, Akte zur Stromregulierung bei We- Mitnahme der Fundobjekte als Andenken sel (Büdericher Kanal) Mai 1892 bis Dezember 1894, Schreiben Wasserbauinspektor Beyer vom 9. 6. 1893. durch Mitarbeiter oder die Entsorgung als 2 Vgl. Robert Jasmund: Die Arbeiten der Rheinstrom- Metallschrott am wahrscheinlichsten. Bauverwaltung 1851–1900. Denkschrift anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Rheinstrombauverwal- tung und Bericht über die Verwendung der seit 1880 zur Regulierung des Rheinstroms bewilligten außeror- dentlichen Geldmittel, Berlin 1901, S. 206, Abb. 201; Eduard Beyerhaus: Der Rhein von Straßburg bis zur holländischen Grenze in technischer und wirtschaftli- cher Beziehung, Koblenz 1902, S. 68, Abb. 104; Wer- ner Arand: Bodendenkmal oder Industriestandort. Hat die Vergangenheit der Büdericher Insel für die Zukunft noch eine Chance? Abb. S. 88, in: Jahrbuch Kreis Wesel 1986, Wesel 1985, S. 86–94; die Magistratsregistratur der Stadt Wesel (StAW A1, Cap. 276, Nr. 3) enthält kei- nen Hinweis auf den Schiffsfund. 3 Diese Feststellung beruht auf der Überprüfung folgen- der Archive: Stadtarchiv Wesel, Kreisarchiv Wesel, Landesarchiv NRW, Mikroilmarchiv des Instituts für Zeitungsforschung der deutschsprachigen Presse e.V. Dortmund, Mikroilmarchiv und Standortkatalog der deutschsprachigen Presse der Staats- und Universitäts- bibliothek Bremen. 4 Vgl. Stadtarchiv Wesel B 13. 5 Vgl. Robert Jasmund: wie Anm. 2, S. 200–206; Eduard Beyerhaus: wie Anm. 2, S. 63–65. 6 Vgl. Wolfgang Cilleßen (Hrsg.): „Heimatliebe und Vaterlandstreue“: Niederrheinische Museen vom Kai- serreich bis zum Nationalsozialismus, Wesel 2000, S. 363–369. 7 Staatliches Museum Berlin, Historische Erwerbungs- akte des Museums für Vor- und Frühgeschichte (MVF) Berlin, Aktenvorgang SMB-PK/MVF, IXd, IA 9, Bd. 3, E 863/93. Schreiben vom 24. 6. 1893. 8 In der Frage der Knochenfunde aus dem Neandertal bei Düsseldorf vertrat Virchow ab 1872 die Auffassung, dass es sich um krankhaft veränderte Knochen eines modernen Menschen handelt. Sein Einluss behinderte den Fortgang der Neandertaler-Forschung bis zu seinem

45 Tod 1902.; Ralf W. Schmitz: Die Entwicklungsgeschich- 21 Vgl. Landschaftsverband Rheinland, Amt für Boden- te des Menschen im Weltbild vergangener Jahrhunder- denkmalplege im Rheinland, Ortsarchiv Nr. NI1893– te, S. 115, in: Rheinisches Landesmuseum Bonn, Gab- 0002. riele Uelsberg: Roots // Wurzeln der Menschheit, Bonn 22 Auskunft Horst Wieder, Archivar am Museum für Vor- 2006, S. 111–116. und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin – 9 Vgl. Christian Andree: Rudolf Virchow. Leben und Preußischer Kulturbesitz vom 4. 11. 2014. Ethos eines großen Arztes, München 2002, S. 109 ff. 23 Einen Hinweis hierauf gibt die einzige erhaltene Foto- 10 Tobias Gärtner: Begründer einer international verglei- graie des Schiffsfundes, die der Wasserbauinspektor chenden Forschung – Adolf Bastian und Albert Voß Beyer am 19. 7. 1893 seinem Schreiben beifügt. Es (1874–1906), S. 80 f., in: Wilfried Menghin (Hrsg.), handelt sich hierbei vermutlich um einen Abzug der Das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte. Fest- von Mummenthey in Auftrag gegebenen Fotograie. schrift zum 175jährigen Bestehen (= Acta Praehistorica Vgl. Landesarchiv NRW, Bestand BR 1133 Nr. 322, et Archaeologica. Band 36/37), Berlin 2004/2005, S. Akte zur Stromregulierung bei Wesel (Büdericher Ka- 80–103. nal) Mai 1892 bis Dezember 1894, Schreiben vom 11 Staatliches Museum Berlin: wie Anm. 7, Schreiben vom 19. 7. 1893. 24. 6. 1893. 24 Ebd., Schreiben vom 9.6.1893. 12 Moritz von Mallinckrodt (1845, gestorben nach 1918) 25 Ebd., Schreiben vom 12.6.1893. ist zweitgeborener Sohn des Weseler Kattundruckers 26 Ebd., Schreiben vom 30.6.1893. Ludwig von Mallinckrodt. Moritz bricht 1862 das Gym- 27 Ebd., Schreiben vom 19.7.1893. nasium ab und heuert in Rotterdam als Leichtmatrose 28 Ebd., Schreiben vom 22.7.1893. an. 1871 erhält er das Diplom als Erster Steuermann 29 Ebd., Schreiben vom 10.8.1893. für große Fahrt und wird Kapitän des 1800 Tonnen 30 Ebd., Karte aus Schreiben vom 16.8.1893. Dampfer Pollux, mit dem er elf Reisen mit Auswan- 31 Vgl. Robert Jasmund: wie Anm. 2. derern nach New York unternimmt. 1875 heiratet er 32 Landesarchiv NRW, wie Anm. 23, Schreiben vom Albertine Benninghoff. 1887 gibt Moritz Mallinckrodt 9. 6. 1893. seinen Seemannberuf auf und bezieht mit seiner Frau 33 Stadtarchiv Wesel, in: Jutta Prieur (Hrsg.): Geschichte und seinen beiden Söhnen Adalbert (geb. 1876) und der Stadt Wesel, Bd. 1, S. 206. Emil (geb. 1878) eine Wohnung in der Rheinvorstadt 34 Landesarchiv NRW: wie Anm. 23, Schreiben vom von Wesel. Er erhält eine Anstellung als Inspektor der 14. 8. 1893. Niederrheinischen Güter Assekuranz Gesellschaft in 35 Vgl. zum Folgenden: Jutta Prieur: Wesels große Zeit – Wesel und bringt es hier bis zum Generalinspektor. Das Jahrhundert in den Vereinigten Herzogtümern, in: 1891 kauft er das Haus 201 in Obrighoven. Vgl. Kurt Jutta Prieur (Hrsg.): wie Anm. 33, S. 166–212. von Mallinckrodt, Handschriftlicher Lebenslauf des 36 Vgl. Irmgard Hantsche: Atlas zur Geschichte des Nie- Seekapitäns Moritz von Mallinckrodt vom 15.9.1918. derrheins, Essen 2004. Unveröffentlichte Abschrift. 37 Vgl. Herbert Kipp: Wesel unter Niederländischer Besat- 13 Ein Falz auf beiden Seiten des Vorderstevens in dem die zung (1629–1672), in: Jutta Prieur (Hrsg.): wie Anm. Planken befestigt werden, so dass am Übergang vom 33, S. 213–250; Volkmar Braun: Geschichtliches We- Steven zum Kiel keine Stufe entsteht. sel, Band 1, Stiche zu Ereignissen aus dem 16., 17. und 14 Eine verstärkte Öffnung in der Bordwand, durch die die 18. Jahrhundert, Köln 1976. Ankerkette geführt wird und die den Anker während 38 https://www.wesel.de/de/stichtag/19.-august-1629 der Fahrt des Schiffes hält. (26. 03. 2015) 15 Staatliches Museum Berlin: wie Anm. 7, Schreiben vom 39 Landesarchiv NRW, wie Anm. 23, Schreiben vom 28. 6. 1893. 14. 8. 1893. 16 Ebd., Schreiben vom 2.7.1893. 40 Ebd., Schreiben vom 26.8.1893. 17 Ebd., Schreiben vom 6.7.1893. 41 Ebd., Schreiben vom 12.9.1893. 18 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und 42 Ebd., Schreiben vom 18.9.1893. Urgeschichte (Hrsg.): Zeitschrift für Ethnologie. 25. Bd., 43 Ebd., Schreiben vom 3.9.1893. Berlin 1893, S. 332 f. 44 Stadtarchiv Wesel B 13, Nr. 8, Handschriftliches Inven- 19 Die fehlerhafte Ansprache als Einbaum wird 1987 von tar von 1896. Hirte übernommen und gelangt so 2008 auch auf die Liste der Stammbootfunde in NRW von Hermanns. C. Hirte: Zur Archäologie monoxyler Wasserfahrzeuge im nördlichen Mitteleuropa, Kiel 1987, S. 182, Nr. 285; Marcus Heinrich Hermanns: Zum vor- und frühge- schichtlichen Wasserverkehr im Gebiet von Nordrhein- Westfalen, S. 87, Nr. 20, in: Bonner Jahrbücher, Bd. 208, Bonn 2008, S. 73–89. 20 Berichte über die Tätigkeiten der Altertums- und Ge- schichtsvereine der Rheinprovinz, 21. Wesel. Nieder- rheinischer Verein für Orts- und Heimatkunde, in: Bon- ner Jahrbücher, Band 100, Bonn 1896, S. 223.

46 Günter Warthuysen

Münzprägung und Geldumlauf am Niederrhein Zur geldgeschichtlichen Entwicklung in Wesel und Umgebung

Der Schwerpunkt der Abhandlung liegt in Hier drängt sich die Frage auf, wie über der Regierungsphase der Klever Grafen und Jahrhunderte bis weit in die Neuzeit hin- Herzöge vom 13. bis zum beginnenden 17. ein die alten Münzsysteme ohne die vor- Jahrhundert. Ein kurzer Blick über diesen genann ten Einlüsse und Gestaltungsmög- Zeitrahmen hinaus auf das Münzwesen der lichkeiten funktionieren konnten. Die Antike einerseits, verbunden mit verglei- einfache Erklä rung liefert der Vergleich mit chenden Hinweisen auf Errungenschaften unserem heuti gen Papiergeld. Während und Probleme moderner Geldwirtschaft dessen Nominal wert durch staatliche Ga- an dererseits, öffnet die Sicht auf 2000 Jahre rantien gesichert ist, verkörperte die Münze Geldgeschichte. selbst mit ihrem Ge wicht und Edelmetall- Vorläuiger Höhepunkt war die Einfüh­ gehalt (Schrot und Korn) den Tauschwert rung des Euro als Barzahlungsmittel im (Realwertprinzip). Das alte Münzsystem Ja nuar 2002. Die Währungsunion von blieb damit unbeeinlusst von den kompli- zu nächst zwölf Ländern brachte eine zierten Mechanismen moder ner Volks- und grenz übergreifende Vereinheitlichung der Geldwirtschaft. Wäh rungssysteme in bisher nicht bekann- Besonders augenfällig wird der enge Zu- ter Grö ßenordnung. Mark und Pfennig, sammenhang von Metall- und Münzwert in Schilling und Groschen, Gulden und Lira, Fällen der sog. Gewichtsgeldwirtschaft. So Franc und Peseta verloren schlagartig ihre waren bei den Slawen und Wikingern über jahrhunder tealte Bedeutung im Interesse lange Zeit Silberbarren und andere Formen des größeren Ganzen. Die bei einer so um- des Silbers die normalen Zahlungsmittel. wälzenden Ver änderung zu erwartenden Im 13. und 14. Jahrhundert wurden häuig Gegenmeinungen und Anfeindungen blie- Zahlungen auf Basis der Silbermark (feste ben nicht aus. Gefährlich wurde es, als in Gewichtseinheit) vereinbart; wahlweise der Finanzkrise 2008 durch die nicht mehr konnte in Silber oder/und Münzen gezahlt zu übersehenden Schwierig keiten der Be- werden, wobei nur das Gewicht der Mün- stand der Euro-Währung in Frage gestellt zen zählte, nicht deren Nennwert.1 und klar wurde, dass gravie rende Anstren- Das auf Metallbasis fußende Münzsys tem gungen und Opfer mit sozial politischen hatte bei allen offensichtlichen Vorteilen Auswirkungen notwendig gewor den waren. selbstverständlich auch seine Probleme Diese Entwicklung hatte deutlich ge macht, wie etwa die Inlationsgefahr infolge- sin in welchem Ausmaß die zahlreichen Fak- kender Silberpreise oder die Ausprägung toren mit Währungseinlüssen wie u. a. minderwertiger, vom vorgeschriebenen Staatsverschuldung, Sozialprodukt, Außen- Edel metallanteil abweichender Münzen. handel, Leitzinsniveau, Geldmengensteue- Doch davon später. rung und nicht zuletzt die weitgehend speku lationsbedingte Bankenkrise die Kelten, Römer, Merowinger Geld wertstabilität beeinlussen und - gefährEin Rückblick auf die Anfänge der rheini- den kön nen. schen Geldgeschichte führt zu dem wenig

47 Keltische Münzen „Regenbogenschüsselchen“ (1. Jh. v. Chr.) aus dem Hortfund von Echt (Limburg).

erforschten Münzwesen der Kelten im 1. Solidus), Sil ber (u. a. Denarius), Messing, Jahrhundert v. Chr. (Triquetrummünzen). Kupfer und Bronze belegt überzeugend das Besonders bekannt sind die eigenartig kon- hohe Ni veau römischer Geldwirtschaft. kav gewölbten sog. „Regenbogenschüs- Der Rhein als Grenze bildete eine deut- selchen“ aus Gold, Silber, Kupfer oder liche Zäsur. Somit gehörte auch der links- Legierungen. Aus Einzelfunden im Gebiet rheinische Bereich Büderich, heute Wese- des Rhein-Maas-Deltas stammen mehr als ler Stadtteil, zum römischen Einlussgebiet. 1000 keltische Münzen. Für den unteren Während die Römer den Archäologen in Niederrhein von besonderer Bedeutung und um Xanten (insbes. Colonia Ulpia Tra- ist der Hortfund mit 48 Münzen aus dem iana) reichlich Grabungsmöglichkeiten mit Bettenkamper Meer bei Moers. Im rechts- guten Erfolgschancen hinterlassen haben,3 rheinischen Bereich nördlich der Lippe sind die Fundergebnisse am rechten Nie- konnten bisher keine Münzen keltischer derrhein logischerweise bescheiden. Herkunft nachgewiesen werden. Auch die Einer der größten Funde römischer Gold- archäologische Erschließung eisenzeitli- münzen nördlich der Alpen stammt vom cher Gräberfelder brachte insoweit keine un teren Niederrhein aus der Büdericher Erkennt nisse.2 Umge bung. Der Schatz mit 208 Gold- Mit den Siegen Julius Caesars in den Gal- münzen, im Wesentlichen Solide aus den lienfeldzügen (58–51 v. Chr.) begann die Jahren 367–413, wurde 1754 auf der Men- linksrheinische Herrschaft der Römer, die zelner Heide unweit der alten Römerstraße über den langen Zeitraum von 500 Jah- nach Xanten entdeckt.4 ren (rd. 50 v. Chr. bis 450 n. Chr.) Bestand Nach archäologischen Erkenntnissen ist hatte. Die Ausweitung des bereits seit lan- zwar von römischen Einlüssen auf rechts­ ger Zeit gut funktionierenden römischen rheinische Ansiedlungen im Raum Wesel Münzwesens auf die neu eroberten Gebie- auszugehen5; es fehlt jedoch der Nach- te war selbstverständlich. Die große Anzahl weis, dass die römische Geldwirtschaft der gefunde nen Münzen in Gold (Aureus, auf den rechten Niederrhein ausstrahlen

48 konnte. Auch der 1880 in der Nähe des (481–511) änderte sich das Geldwesen. Bahnhofes Hamminkeln-Mehrhoog gefun- Das in der Übergangsphase noch kursie- dene Münzhort aus dem 3. Jahrhundert mit rende rö mische Geld verschwand nach 36 römischen Münzen bringt dazu keinen und nach aus dem Verkehr. Die Grundzüge Aufschluss, weil seine Herkunft und die der bewährten römischen Geldwirtschaft Umstände der Niederlegung nicht bekannt blieben jedoch noch lange wirksam. Der sind.6 Münzfuß des fränkischen Münzsystems Das Reichsgeld des römischen Kaiserrei- war römi schen Vorbildern angepasst. Bis ches wurde bis ins 3. Jahrhundert hinein Mitte des 7. Jahrhunderts wurde der Gold- in Rom geprägt. Unter Kaiser Domitian Solidus nach konstantinischem Gewichts- (81–96 n.Chr.) wurde Köln, korrekter: Co- fuß mit 4,548 g geprägt. Münzvorbilder lonia Clau dia Agrippina, Hauptstadt der waren nicht selten spätrömischer oder by- römischen Provinz Niedergermanien, die zantinischer Herkunft. bis Nijmegen reichte. In der Stadt Köln, die Markantes Merkmal des Münzwesens un- für Jahrhun derte die Metropole des rheini- ter den Merowingern im 7. Jahrhundert schen Münz wesens werden sollte, geht die war die Vielzahl der kleinen privaten Präge- Prägetätig keit auf das Jahr 257 zurück, als stätten. Zeitweise waren an 800 Orten ins- dort eine römische Kriegsmünzstätte ein- gesamt ca. 2000 sog. Monetare tätig, die gerichtet wur de, um die Geldversorgung die Münzen mit ihrem Namenszug versa- der Truppen si cherzustellen. Auch Trier hen und für deren Wert zu bürgen hatten. wurde römische Münzstätte.7 Im Rheinland sind merowingische Mone- tare u. a. in den Städten Boppard, Bonn, Köln, Jü lich, Zülpich und Trier nachgewie- sen.8 Wie zur Zeit der Römer, so war auch in der Pha se der Merowingerherrschaft der untere rechte Niederrhein – im Gegen- satz zum linksrheinischen Bereich – von der monetä ren Entwicklung nicht oder al- lenfalls peripher betroffen. Das bestätigen auch die archäolo gischen Grabungen in dem fränkischen Bislicher Gräberfeld.

Römer, Gratianus. Miliarense, um 370, Mzst. Trier.

Beim Betrachten alter römischer Münzen überzeugt die hohe künstlerische Qualität der Prägungen. Das gilt auch für die Mün- zen, die weit vor Beginn unserer Zeitrech- nung entstanden sind. Mitte des 5. Jahrhunderts war das Ende der römischen Herrschaft am Rhein gekom- Merowinger,Triens, ca. 620–640, Gold (12 mm). men. Mit Einbeziehung der vormals römi- Typisch für die Monetarprägung ist der gut les- schen Rheinlande in das Reich der Mero­ bare Name des haftenden Münzmeisters ELA- winger unter dem Frankenkönig Chlodwig FIUS auf der Rückseite.

49 Grundlegende Reformen der Karolinger Münzwirrwarr und Vertrauenskrise Die von den Karolingern, insbesondere von Mit zunehmender Anzahl der auf eigene Karl dem Großen (768–814), durchgesetz- Münzrechte drängenden weltlichen und ten Münzrechtsreformen waren so bedeu- kirchlichen Stände wuchsen die Schwierig- tend, dass sie für rd. 500 Jahre die Entwick- keiten, den von den Karolingern für lung der europäischen Geldwirtschaft den De nar festgesetzten und bewährten beein lusst haben. Die Goldmünzprägung einheitli chen Münzfuß beizubehalten. Um wurde abgeschafft. Leitwährung wurde 1100 wird deutlich, dass eine neue Epoche nunmehr der reichseinheitliche Silberdenar der Geld wirtschaft mit wesentlichen Ver- mit dem Kreuz, der Umschrift CAROLVS änderungen begonnen hatte. Die Zahl der REX und dem Carolusmonogramm auf der Münzstätten war von 160–170 im 10. und Rückseite. Grundlage des Münzsystems 11. Jahrhundert auf etwa 400 im 12. und war die Silberbasis: 1 Pfund = 240 Denare 13. Jahrhundert angestiegen.11 (Pfenni ge) = 20 Schillinge. Dabei war der Neben den nach wie vor bedeutenden Prä- Schilling lediglich Recheneinheit, keine geherren (u. a. Köln und Trier), deren Mün- Münze.9 zen allgemein anerkannt waren, bestan- Geprägt wurden die Denare in königli- den nunmehr zahlreiche Kleingebiete, in chen Münzämtern; das Münzregal war de nen unterschiedliche Pfennigsorten mit ein streng gehandhabtes königliches bzw. re gional begrenztem Umlaufbereich (sog. kai serliches Recht. Nur wenige Privile- Peri ode des Regionalpfennigs) den überre- gierte er hielten im 11. Jahrhundert eigene gionalen Geldverkehr behinderten. Bei Münzrech te, so auch die Erzbischöfe von Zahlungsvorgängen in fremden Münzbe- Köln seit 1039. Vom Ende des 8. Jahrhun- reichen war es häuig erforderlich gewor- derts bis zum 11. Jahrhundert war der De- den, das eigene Geld gegen die am Zielort nar eine weit verbreitete und hochwertige gülti gen Münzen umzutauschen. Dass das Silbermün ze, die wohl auch in dem noch in der Regel mit Verlusten verbunden war, spärlichen Handel am unteren Niederrhein liegt auf der Hand. Hinzu kamen mannig- ihren Platz hatte. fache ande re Probleme, die man über Jahr- Einen konkreten Hinweis gibt ein Denar hunderte bei dem einheitlich und verbind- aus der Zeit Karls des Großen, der bei Gra- lich gehandhab ten Denar-Münzfuß nicht bungsarbeiten in den Jahren 1956/57 im gekannt hatte. Chor der Weseler Willibrordikirche ge- Die Gründe für diese Entwicklung waren funden wurde und auf die Errichtung der vielfältig. Sicher war die Ausweitung des In- ersten Vorgänger-Holzkirche im 8. Jahr- landhandels mit einem erhöhten Münzbe- hundert schließen lässt.10 darf eine der Ursachen. Das eigentlich Ent scheidende war jedoch die unterschied- liche Wertigkeit der Münzen bei gleichem Nenn wert. Der Glaube an den Wert der Münze war Vertrauenssache. Insoweit be- stand eine enge Beziehung zur Vertrauens- würdigkeit des jeweiligen Münzherrn, der in der Regel bestrebt war, neben der kosten- deckenden Münzproduktion einen mehr oder weniger bescheidenen Gewinn12 zu erzielen. Kaiser Karl d. Gr., Denar, etwa 795/814, wurde Die Entwicklung zu dem sehr differen- reichsweit in 40 Münzstätten geprägt (21 mm). zierten Währungssystem mit einer kaum

50 überschaubaren Münzvielfalt und den ge- und Herzöge von Geldern in Nijmegen schilderten Problemen hat dazu geführt, und Emmerich13 und die königliche Münz- dass sich an vielen Orten, so auch in Wesel, stätte in Duisburg, die ihre Tätigkeit nach sog. Unterwährungen (Pagamente) entwi- Verpfändung der Stadt an Kleve Ende des ckelt haben, um dem allgemeinen Vertrau- 13. Jahrhunderts einstellte. ensschwund entgegenzuwirken. Darauf ist Lange Zeit bevor die Klever Grafen ihre später noch näher einzugehen. Münztätigkeit aufnahmen, hatte das Erzbis- tum Köln bereits unter Anno II. (1056–1076) Münzherren am unteren Niederrhein und Hermann III. von Hochstaden-Nord- Beginnend in den 30er Jahren des 13. Jahr- heim (1089–1099) in den Städten Rees und hunderts ließen auch die Grafen und Xanten Denare prägen lassen. Beide Städte Herzö ge von Kleve in Kalkar, Kleve, We- er hielten im Juli 1228 von Erzbischof Hein- sel, Büde rich, Orsoy und Huissen Münzen rich von Müllenark die Stadtrechte und prägen. blieben bis zu ihrem Übergang an Kleve im Hinzu kamen die Münzstätten der Herren 14./15.Jahrhundert in Kölner Besitz.14 Im von Anholt, ’s-Heerenberg, Dinslaken und Be reich des unteren Niederrheins arbeite- Alpen, der Grafen von Moers, der Grafen ten zeitweise bis zu 15 Münzstätten, teils

Münzwerkstatt nach dem Ständebuch von Chr. Weigel, 1698.

51 über viele Jahrzehnte, teils aber auch nur die Stadtrechte. Im Zusammenhang mit der über wesentlich kürzere Zeiträume. Stadtrechtsverleihung oder kurz danach wurden in Wesel die ersten Münzen ge- Auf diesem difizilen Markt hatte auf Dauer schlagen.15 Die Annahme, dass hier bereits nur Erfolg, wer die Balance zwischen Her- Mitte des 12. Jahrhunderts Münzen geprägt stellung werthaltiger, überregional aner- wurden, ist nicht eindeutig zu belegen.16 kannter Münzen einerseits und Wirtschaft- Ein königliches Privileg, in Wesel Münzen lichkeit der Münzproduktion andererseits prägen zu dürfen, ist nicht nachweisbar. Da si chern konnte. Das haben die Grafen und Wesel schon in vorstädtischer Zeit Reichs- Herzöge von Kleve trotz mancher Schwie- gut war, ging man offenbar in Anlehnung rigkeiten und Rückschläge über einen Zeit- an andere vergleichbare Fälle davon aus, raum von mehr als drei Jahrhunderten be- dass solchen Orten auch ohne ausdrückli- wiesen. che Ermächtigung das Münzrecht anhafte. Unabhängig davon bestätigte im Jahr 1298 Die Münzstätte Wesel König Albrecht dem Grafen Dietrich, dass Junggraf Dietrich († 1245), ältester Sohn des in allen bis dahin vorhandenen Münzstät- regierenden Grafen Dietrich VI. von Kleve ten der Grafschaft Kleve auch künftig Mün- (1202–1260), verlieh im Jahr 1241 Wesel zen geprägt werden durften.17

52 Die Herzöge von Kleve-Mark Johann I., Johann II., Johann III. Unter Johann I. und Johann II. war Wesel die bevorzugte Münzstätte im Herzogtum. (Teilansicht des Gemäldes „Die Herzöge von Kleve-Mark“, um 1650. Museum Kurhaus Kleve).

Die heutigen Straßenbezeichnungen in ten Vorbildern anzupassen. Das erforderli- Wesel geben keinen Hinweis, wo sich die che Vertrauen in das neue Zahlungsmittel Münzwerkstätten befunden haben. Aus wurde durch bereits eingeführte und zu- mit telalterlichen Urkunden lassen sich verlässige Münzvorbilder gefördert. So ist jedoch zwei Gebäude ermitteln, in de- zu erklären, dass die Vorderseite des äl- nen Münz meister gewohnt und Münzen testen noch erhaltenen Weseler Pfennigs geprägt ha ben. Bis 1350 befand sich die mit Brustbild, Schwert und Schild einem Münzwerkstatt des Godwinus Monetari- Pfennig des Gra fen Gerhard III. von Gel- us an der Fünfringenstraße in Nähe der dern nachempfunden wurde. Die auch bei heutigen Kurzen Straße.18 Nach 1450 ist späteren Prä gungen festzustellende Anleh- die Weseler Münze an der Ostseite der nung an Münz bilder des niederländischen Steinstraße zwischen der früheren Großen Raumes ist auf das hohe Ansehen dieser Roßstege und der Kleinen Köppeltorstraße Münzen und ihren beachtlichen Anteil am belegt. Aus einer Urkunde von 1494 ergibt Geldumlauf im Rheinland und in Westfa- sich, dass dort der Münzmeister Johannes len zurückzuführen. Antwerpia (von Antorp) gewohnt hat. Das Nach dem frühen Tod des Junggrafen Diet- Gebäude führte im 16. und 17. Jahrhundert rich übertrug Dietrich VI. um 1255 die ihm die Bezeichnung „Alte Münze“.19 wieder zugefallenen Besitzungen mit We- Wer im Mittelalter neue Münzen heraus- sel seinem dritten Sohn Dietrich mit dem gab, tat gut daran, das Münzbild bekann- Beinamen Luf. Von Dietrich Luf (1255–

53 1277), der wie sein Vorgänger das Münz- Landesburg Dravewinkel auch für denkbar, recht ausgeübt hat, sind mehrere Weseler dass es sich bei den Darstellungen auf der Pfennigprägungen bekannt. o. g. Münze um diese in Vergessenheit ge- ratene Weseler Burg handelt.21 Die ersten dieser Pfennige mit einem Ad- ler auf der Rückseite haben nach Aussehen Brabantiner und Köpfchen aus Wesel und Gewicht (0,6 g) große Ähnlichkeit mit Nach dem Tod Dietrich Lufs iel sein rechts- den Pfennigprägungen des Grafen Otto II. rheinischer Besitz wieder an die Kle ver von Geldern. Hauptlinie zurück. Der über lange Zeit sehr angesehene und Willibrordikirche auf Weseler Münze? weit verbreitete Kölner Pfennig hatte ge gen Von stadtgeschichtlichem Interesse sind Ende des 13. Jahrhunderts seine Be deutung die späteren Pfennige Dietrich Lufs, die weitgehend verloren. Brabanter Sterlinge, auf der Rückseite ein stilisiertes Kirchen- sog. Brabantiner, und holländische Köpf- gebäude abbilden. Die Vorderseite der chen waren im niederrheinischen Geld- Münze (11 mm) zeigt einen weltlichen verkehr nicht mehr zu übersehen, so dass Herrn, auf ei nem verzierten Stuhl sitzend, sich Graf Dietrich VIII. (1275–1305) ent- mit Drahthau be, Schwert und Zweig. Die schloss, in Wesel und Kalkar Sterlinge nach besonders inter essierende Rückseite be- Brabanter Vorbild zu prägen. schreibt Alfred Noss wie folgt: „Kirchen- Der Weseler Sterling (0,84 g, 19 mm) zeigt gebäude, über einem Ge wölbe aus fünf auf der Vorderseite einen aufrecht stehen- Bögen, die auf nur vier Säulen ruhen, wäh- den Löwen nach dem Vorbild der ersten rend die äußeren Stützen feh len, ein großer Sterlinge Johanns von Brabant und auf der Mittelturm mit Zwischendach und Kugel- Rückseite das für diese Münze typische kreuz auf der oberen Dachspitze, welches Zwillingsfadenkreuz mit dem Hinweis auf die Umschrift teilt. Rechts ein schlanker die Münzstätten Wesel bzw. Kalkar in der Turm mit spitzem Dach und einer Kugel auf Umschrift.22 diesem, links eine Fahne mit Ku gelkreuz Die Prägungen Dietrichs VIII. hatten nur ei- auf der Spitze der Stange. Zwi schen Perl- nen bescheidenen Umfang. kreisen: WESELENSTAT“.20 Das Gleiche gilt für die kurze Regie- rungszeit des Grafen Otto (1305–1311), Auf der Vorderseite deutet das Schwert auf der in Wesel, Kleve und Huissen münzen die Gerichtshoheit Dietrich Lufs hin. Die ließ. Aus Wesel sind für diesen Zeitraum Rückseite der kleinen Münze hat den ver- nur Pfennigprägungen im Gewicht von dienten Weseler Geschichtsforscher Adolf 0,41 g (Köpfchen) und 0,20 g (Drittel-Pfen- Langhans zu einer phantasievollen, jedoch nig) be kannt. Gemeinsam ist den beiden durchaus vertretbaren Deutung veranlasst: Aus Urkunden der Jahre 1261 und 1272 schließt er auf ein be sonderes Interesse Dietrichs an der Willibrordikirche, deren Er weiterung und Umbau ihm of fenbar ein besonderes Anliegen war. Im Ergebnis sieht Lang hans in dem Kirchengebäude auf der Rückseite des Pfennigs die älteste Darstellung der Weseler Willibrodikirche. Peter Bruns hält es nach archäologischen Kleve, Graf Johann (1347–1368, Groschen, Forschungen zum Standort der klevischen Mzst. Wesel, (26 mm).

54 Prägun gen ein Kopf auf der Vorderseite und Die Auswertung von insgesamt 21 mittel- Kreuze mit deutlichem Hinweis auf den alterlichen Münzfunden, überwiegend aus Prägeort WESELE bzw. WESE auf der Rück- dem westfälisch-niedersächsischen Raum, seite.23 mit weit über 10.000 Münzen ergab einen Anteil von 300 Stücken aus Dinslaken und Aus der langen Regierungszeit Dietrichs IX. Wesel, während nur sehr wenige Prägun- (1311–1347) sind nur wenige Prägungen gen der Grafschaft Kleve gefunden wur- aus Kleve und Kalkar bekannt. den.27 Leider lässt die Erhaltung der aus diesem Graf Johann (1347–1368) hat mit be- Zeitraum stammenden Weseler Münzen achtlicher Bedeutung für die niederrheini- zu wünschen übrig, so dass die Umschrif- sche Geldwirtschaft in Wesel und insbeson- ten teilweise nur schwer zu entschlüsseln dere in Büderich prägen lassen, worauf in sind. Ein um 1393 in Wesel geschlagener den Ausführungen zu dieser Münzstätte Pfennig zeigt auf der Vorderseite die für die näher eingegangen wird. Prägun gen dieser Periode typische dreitür- mige Tor burg mit der Umschrift MONETA Wesel zur Zeit Dietrichs von der Mark .WESALIENSIS und auf der Rückseite den Die Erbfolge nach dem Tod des Grafen märkischen Schachbalken mit der Um- Johann brachte 1368 für Wesel und seine schrift DERICVS+DE+MARKA. Münzstätte wesentliche Veränderungen. Das klevische Erbe ging an den Grafen En- gelbert III. von der Mark und seine Brüder Adolf und Dietrich, die sich einvernehm- lich über die Aufteilung der klevisch-mär- kischen Besitzungen verständigten. Graf Engelbert behielt die Grafschaft Mark und bekam die rechtsrheinischen Gebiete von Kleve. Der linksrheinische Teil der Graf- schaft Kleve ging an Adolf. Für den jünge- ren Bruder Dietrich wurde eine Abindung durch Graf Engelbert vorgesehen. Dement- Graf Dietrich von der Mark (1372–1404), Pfen- sprechend übertrug Engelbert 1371/72 die nig, um 1393, Mzst. Wesel. zunächst auf ihn übergegangene Herrschaft Dinslaken einschließlich Wesel auf seinen Bruder Dietrich von der Mark.24 Bereits vor dem ofiziellen Übergang die ser Nach der Abdankung Dietrichs von der Gebiete von Engelbert auf Dietrich hatten Mark ging die Herrschaft Dinslaken mit beide gemeinsam am 24. März 1369 der We sel 1404 an dessen Neffen, den Grafen Stadt Wesel ihre alten Rechte bestätigt.25 Adolf II. von Kleve, dem er bereits 1397 Dietrich von der Mark ließ Pfennige auf in der entscheidenden Schlacht bei Kle- märkischen Schlag prägen, und zwar in verham mit seinen Aufgeboten aus Wesel den Münzstätten Dinslaken und Wesel. und Dins laken zu einem spektakulären Von den erfassten 29 Haupttypen dieser Sieg verhol fen hatte. Dietrich von der Mark Münzen können mindestens vier aus der starb 1406 und fand seine letzte Ruhestätte Prägeperi ode 1376 bis etwa 1393 eindeu- in der We seler Dominikanerkirche an der tig der Münzstätte Wesel zugeordnet wer- Brüderstra ße, heute Pfarrkirche St. Mariä den.26 Himmelfahrt.

55 Die Weseler Münze zur Zeit der Herzöge Geldwert und Münzproduktion hatten sich Johann I. und Johann II. inzwischen gründlich geändert. Seit 1386 Als Wesel zur Herrschaft Dietrichs von der war der Weißpfennig oder Albus (= 24 Mark gehörte, hatte sich unter Graf Adolf I. Pfennige) die Vertragsmünze des Rheini- (1368–1394) Kleve zur führenden Münz- schen Münzvereins. stätte am unteren Niederrhein entwickelt. Geldbedarf und Schulden waren insbe- Daran änderte sich auch nichts, als Wesel sondere durch die erheblichen Kosten der 1404 wieder in die Grafschaft Kleve einge- Soester Fehde (1444–1449) zu einer be- gliedert worden war. Bis zum Ende der Re- drohlichen Belastung geworden. gierungszeit des Grafen Adolf II., ab 1417 Herzog Adolf I., wurden in Wesel keine Unter Johann I. wurde Wesel zur vorran gig Mün zen mehr geprägt. Eine Wende brachte tätigen Münzstätte. Geprägt wurden haupt- erst der Regierungsantritt des Herzogs Jo- sächlich Weißpfennige. 1449 befragte der hann I. (1448–1481). Herzog die Stadt Wesel nach ihren Wün- schen zur Ausprägung von Kleinmünzen. Dann erteilte er die Weisung, auch Viertel- Weißpfennige, Möhrchen (Heller), Muter und Gröschlein im Gewicht von lediglich 0,25 g herzustellen. Außer den genannten Münzen wurden unter Johann I. auch Braß- pfennige, Blanken und gemäß herzoglicher Anordnung vom 31. Januar 1481 Gulden mit dem Standbild des Herzogs und dem geviertelten Schild von Kleve-Mark ge- prägt. Eine gestal terisch besonders gut ge- lungene Münze ist der in Wesel geprägte Halbe Guldengro schen mit dem behelm- ten Wappen von Kleve und Mark und der Gottesmutter mit Kind als Himmelskönigin. Als Johann II. (1481–1521) die Nachfolge antrat, konnte er in Wesel auf eine einge- spielte Münzstätte mit erfahrenem Personal zurückgreifen. Im März 1482 verplichtete der Herzog er- Kleve, Herzog Johann I., (1448–1481), Blan- neut Herbert von Antorp als Münzmeister. ken, Mzst. Wesel, (26 mm). Der Schlagschatz wurde je Mark Münzprä- gung auf einen Braßpfennig erhöht und da- mit verdoppelt. Johann II., der das prunkvolle Leben am Burgunderhof gründlich kennen gelernt und genossen hatte, iel es offensichtlich schwer, sich mit den wesentlich beschei- deneren Ver hältnissen am Niederrhein ab- zuinden. Der durch Förderung religiöser Einrichtungen erworbene Beiname „der Kleve, Herzog Johann I., Goldgulden, Fromme“ darf nicht darüber hinwegtäu- Mzst. Wesel, (23 mm). schen, dass der Herzog durch ungeschick-

56 Kleve, Herzog Johann I. Braßpfennig, 1479, Mzst. Wesel, (32 mm).

tes Regierungshandeln und seine kostentreibende Lebens- führung das Land in eine mi- serable Finanzlage gebracht hat. Die beeindruckende Anzahl von 63 außerehelichen Kindern bescherte ihm den Der Herzog tat das wohl schweren Her- Ruf eines leichtfertigen Lebemannes („Kin- zens, da durch den Beitritt seine Rechte als dermaker“) und belastete die strapazierte Münz herr eingeschränkt wurden, so insbe- Landeskasse zusätzlich. sondere die Entscheidung über Münzsorten und die Festlegung des Münzfußes, der die So wurden auch die herzoglichen Münz- Anzahl der Münzen aus einer bestimmten stätten in sein chronisch Not leidendes Menge Edelmetall festlegt. Fi nanzsystem eingebunden. Der Weseler 1516 war das vorläuige Ende der Weseler Münzmeister hatte jedenfalls unter ihm Münzstätte gekommen. Ihre Schließung traf kei nen leichten Stand. Aus einem Doku- den ab 1491 als Nachfolger seines Vaters ment vom 13. Juli 1486 ist be- kannt, dass Herbert von Antorp dem Herzog Vorschüsse auf den Schlagschatz zu zahlen hatte.

Zur Zeit Johanns II. wurden in Wesel, Kleve und ab 1503 auch in Emmerich ver schiedenen Ty- pen hergestellt. In Wesel waren es insbesondere Goldgulden mit dem Stadthinweis WESALIE in der Umschrift, Braßpfennige zu 1/16 rhein. Gulden, halbe und doppelte Feuereiser und Stüber. Kleve, Herzog Johann I., Halber Guldengroschen Eine auch nur annähernd vollstän- (Marienmünze), Mzst. Wesel, (33 mm). dige Darstellung der Prägetätigkeit würde den Rahmen dieser Abhandlung amtierenden Münzmeister Johann von An- sprengen.28 torp hart; er wurde arbeitslos und geriet mit seiner Familie in Not. Trotz seiner schwie- Nachdem das Experimentie ren mit den un- rigen Lage und Unterstützung seiner Forde- terschiedlichen Münzsorten gezeigt hatte, rungen durch die Stadt Wesel gelang es dass auf Dauer ein solides, vertrauenswür- nicht, die ihm vom Herzog geschulde ten diges Münzsystem im Alleingang nicht zu Gelder zu erhalten. erreichen war, schloss sich Kleve 1511 dem Kurrheinischen Münzverein an.

57 Kleve, Herzog Johann II. (1481–1521), Doppelter Feuereiser, Mzst. Wesel, (33 mm).

Voraus setzungen. Die kleine klevische Stadt war Ort eines schon 1270 bezeugten Jahr- marktes, der einen Monat dau- erte und so bedeutend war, Unter Herzog Johann III. (1521–1539) dass nach ihm die Fälligkeiten von Natural- kam nochmals für kurze Zeit Leben in die und Geldleistungen datiert wurden. Weseler Münzwerkstatt. 1535 wurde Jo- Auch der um die Mitte des 13. Jahrhunderts hann Engel als Münzmeister angestellt und errichtete, 1290 ausdrücklich königlich be- vom Herzog beauftragt, im Betrag von 500 stätigte Büdericher Rheinzoll brachte Geld Goldgulden Möhrchen (Heller) herzustel- in die Stadt.30 len.29 Die Herzöge Wilhelm V. und Johann Wil- Markt und Zoll wurden durch eine Münz- helm (1539–1609) haben die Münzstätte stätte in idealer Weise ergänzt. Hier konn- Wesel nicht erneut in Betrieb genommen. ten an Ort und Stelle fremde Münzen Ein letzter Höhepunkt in der Jahrhunderte einge schmolzen und umgeprägt werden, langen Münzgeschichte des Hauses Kle- sofern das zur Entlastung des unübersicht- ve war die ab 1568 einsetzende Talerprä- lich ge wordenen regionalen Geldumlaufs gung, die insbesondere für die Münzstätte oder auch aus inanziellen Erwägungen Kleve neuen Aufschwung brachte. Kleve und Emmerich konnten ihre Tätigkeit auch nach 1609 in brandenburgisch-preußischer Zeit noch fortsetzen.

Die Münzstätte Büderich Es bleibt eine kaum zu klärende Frage, weshalb die unmittelbar am Rhein gegen- über Wesel gelegene Stadt Büderich bis zur Regierungszeit des Grafen Johann (1347– 1368) im niederrheinischen Münzwesen keine Rolle gespielt, dann aber als Präge- stätte der ersten Goldmünzen und wenig später auch von Turnosen und Groschen eine her ausgehobene Position eingenom- men hat. Büderich war zwischen 1260 und 1275 Der weit verbreitete Floren der Stadt Florenz mit durch Graf Dietrich VII. zur Stadt erhoben Lilie und Stadtpatron Johannes d.T. war Vorbild worden und erfüllte in besonderer Wei- für die erste Goldmünze der Grafschaft Kleve, se die für eine Münzstätte erforderlichen Münzstätte Büderich.

58 nützlich erschien. Wesentlich war auch, dass hier landeseigene Münzen leicht in Umlauf gebracht werden konnten.31 Die in Büderich geprägten Gold- münzen sind eine genaue Nach- ahmung des seit 1252 in Florenz geprägten Floren, eine 3,53 g schwere Münze mit hohem An- sehen und schneller Verbreitung, auch im Rheinland. Wie sein Vorbild, so zeigt auch Kleve, Graf Johann (1347–1368) Groschen, der Büdericher Gulden auf der Mzst. Büderich, (26 mm). einen Seite die stilisierte Lilie und auf der anderen Johannes d. T., den Schutzheiligen der Stadt Flo- renz. Die Umschrift BVEDERENSIS weist deutlich Büderich als Prä geort aus. Es ist davon auszuge hen, dass die Büdericher Gulden um 1350 etwa zur selben Zeit wie die der Erzbi- schöfe von Köln und Mainz in den Zahlungsver kehr gebracht worden sind.32 Der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fortschreitende Kleve, Graf Johann, Turnose, Mzst Büderich, (25 mm). Wertverlust des Pfennigs führte, von Frankreich ausgehend, zur Verbreitung schwererer Silber münzen. Der Rückseite den Turnosen und zeigen auf der zuerst 1266 von König Ludwig IX. in Tours Vorderseite in einem zugespitzten Schild ge prägte Gros Tournois war so an gesehen, die Lilienhaspel der Grafschaft Kleve. Gro- dass er bald weiträumi ge Verbreitung und schen wurden zu dieser Zeit außer in Bü- Nachahmung fand.33 Dieser Münztyp mit derich auch in Wesel und Kalkar geprägt. dem einprägsamen Kastell von Tours und Aus dem Jahr 1367 ist die Berufung von einem Kreuz in zwei Schriftkreisen wur de zwei Münzmeistern in Büderich belegt. seit den 60er Jahren auch in Büderich ge- prägt. Dass die Münze in mindestens fünf Alfred Noss sieht in der Bestallungsurkun- verschiedenen Stempelvarianten herge- de für Jakob Scholt und Heinrich Dystel das stellt wurde, lässt auf einen beachtlichen erste urkundliche Zeugnis über das klevi- Umfang der Prägung schließen. In der sche Münzwesen. Umschrift ist die Münzstätte mit BVODRI- Wo im alten Büderich die Münzstätte ein- CENSIS, BODRICEN oder BVDERIDVS an- gerichtet war, ist nicht überliefert. Vieles gegeben. Noch vielfältiger war die Prägung spricht dafür, dass sich schon aus Sicher- von Gro schen (= 12 Pfennige = 1 Schilling) heitsgründen die Prägestätte in Räumen der und Gro schenteilwerten. Diese Münzen grälichen Burg befunden hat. Die Goldstra­ gleichen mit dem befußten Kreuz auf der ße in Nähe des alten Burgstandortes in der

59 1813 auf Befehl Napoleons dem Erdboden Es ist erwähnenswert, dass Büderich gut gleichgemachten Stadt stützt diese Annah- 400 Jahre nach Prägung der ersten Gold- me. Der Bau der Burg wird mit guten Grün- münze erneut mit dem Thema „Gold und den auf die Zeit um 1250 angesetzt.34 Münze“ konfrontiert wurde. In den Jahren 1768–1773 suchten im Uferbereich des Warum die klevischen Landesherren nur Rheins vor Büderich bis zu 150 Goldwä- zur Zeit des Grafen Johann in Büderich ge- scher ihr Glück. Das gewonnene Gold war münzt haben, lässt sich lediglich vermuten. zum Leidwesen der Schatzsucher nicht frei Da in Wesel noch bis ins 16. Jahrhundert hi- verkäulich, sondern musste auf Grund kö­ nein Münzen geprägt worden sind, spricht niglicher Anordnung nach Berlin verkauft einiges dafür, dass Kostengründe gegen die werden, wo Friedrich der Große aus dem Unterhaltung zwei unmittelbar benachbar- niederrheinischen Rheingold preußische ter Münzstätten gesprochen haben. Goldmünzen prägen ließ.35

Münzprägung der Grafen und Herzöge von Kleve Münzstätten Grafen / Herzöge Zeitraum Wesel Büderich Kleve Kalkar sonstige1 Dietrich VI. – 1202-1305 Pf/Ste Pf/Ste Pf/Ste Pf/Ste Dietrich VIII. 2) Otto – 1305-1394 Pf/Gr G/Tu/Gr Pf/Gr Pf/Gr Pf/Ste Adolf I. 3) Wpf Tu Adolf II –4 1394-1521 G/He/Br G/Gr/He G/Gr/He Johann II Mu/WPf Br/Stü Wpf/Br Stü/Fe/Bl Mu Mu/Pf/Stü

Johann III. – 1521-1609 He G/Stü/He G/He/Stü Johann-Wilhelm Ta Ta

1) Emmerich, Huissen, Orsoy bzw. Münzen, die nicht eindeutig zugeordnet werden können. 2) Die Pfennigprägungen in diesem Zeitraum entfallen auf den Junggrafen Dietrich „primogenitus“ (1241-1245) und Dietrich Luf (1255-1277), die als Herren von Wesel das Münzrecht in Anspruch genommen haben. 3) Tätigkeit der Münzstätte in Wesel in der Regierungszeit des Grafen Otto (1305-1311) und Johann (1347-1368). In den Jahren 1376-1393 wurden in Wesel unter Dietrich von der Mark Pfennige der Herrschaft Dinslaken geprägt. 4) Seit 1417 Herzog Adolf I.

Zeichenerklärung Pf = Pfennig/Denar Br = Braßpfennig Fe = Feuereiser Ste = Sterling/Brabantiner Wpf = Weißpfennig/Albus Bl = Blanken G = Gulden/Floren He = Heller/Möhrchen Ta = Taler Tu = Turnose Mu = Muter Gr = Groschen Stü = Stüber

Erfasst sind der besseren Übersicht wegen nur die wichtigsten Münzsorten. G.W.

60 Stabilitätsprobleme, Münzaufsicht, Weseler Mark (Recheneinheit) bestätigt die örtliche Unterwährungen herausgehobene Stabilität des Guldens. Da der Metallwert der Münze ihren Wert Nach Auswertung der Weseler Stadtrech- be stimmte, blieb der Münzwährung der nungen durch Friedrich Gorissen hat sich Ver gangenheit im Vergleich zur heuti- der Gegenwert des Guldens nach Mark/ gen „Pa piergeldwährung“ ein wichtiges Schilling/Pfennig innerhalb eines Zeitrau- Stabilitätsri siko erspart. Die Gefahren wa- mes von 70 Jahren wie folgt entwickelt: ren anders gelagert. Eines der Probleme be- 1380 = 1/1/0; 1400 = 1/4/3; 1420 = 1/7/0; stand darin, dass sich die Metallpreise un- 1450 = 3/6/0.36 terschiedlich entwickelten, wodurch sich Neben der unterschiedlich verlaufenen die Wertrelation von Gold- und Silbermün- Entwicklung der Gold- und Silberpreise zen veränderte, und zwar mit inlationärer war es vor allem die Vielzahl fremder Mün- Tendenz für die Silbermünzen. Notwendi- zen, die die Sicherheit und Transparenz des ge Korrekturen wa ren über die Anpassung Geldmarktes beeinträchtigten. Die richtige des Münzfußes möglich. Bezugsgröße war Feststellung der Wertrelation war schwie- dabei in der Re gel die Kölnische Mark als rig, da dem Geld sein Metallfeingehalt Gewichtseinheit von 233,85 g Feinsilber. nicht an zusehen ist und die unterwertige Bei Einführung des Talers als Großsilber- Ausprä gung von Münzen keine Seltenheit münze hatten sich Gold- und Silberpreis so war. Des halb war es nötig geworden, dass weit angenähert, dass Goldgulden und Ta- die Münz herren und auch Städte wie Wesel ler gleichwertig waren. Ein langfristiger Ver- von Zeit zu Zeit die in der Region umlau- gleich der Metallwertentwicklung beider fenden Münzsorten bekannt machten und Münzarten mag verdeutlichen, in welchem ihren Wert festlegten. Es lag im ureigenen Ausmaß sich Gold- und Silberpreis vonein- Interes se der Städte, den zur Verwirrung ander entfernt haben. neigenden örtlichen Geldumlauf zu stabi- lisieren. So deklarierte z. B. die Stadt Wesel Ausgangspunkt ist dabei der Gulden mit in ihrer Münzordnung vom 28. April 1434 einem Feingoldgehalt von durchschnittlich den Wert von insgesamt 39 Münzsorten, 3,3 g und der Taler mit einem Silberfein- überwiegend auswärtiger Herkunft, mit der gehalt von durchschnittlich 26 g. Auf der Verplichtung für die Bürger, nur nach den Basis der heutigen Metallpreise (Februar festgelegten Werten zu kaufen und zu ver- 2015) von rd. 35.500,– Euro/kg Gold und kaufen.37 rd. 450,– Euro/kg Silber ergeben sich für die Das Münzedikt des Herzogs Johann III. beiden Münzarten folgende Metallwerte: von Kleve vom 21. Januar 1537 erfasst in Goldgulden 117,– Euro, Taler rd. 11,70 ei ner wertvergleichenden Übersicht die be- Euro. Das Ausgangsverhältnis (Gleichwer- achtliche Anzahl von 38 Goldmünzen und tigkeit von Goldgulden und Silbertaler) hat 61 Silbermünzen.38 sich damit von 1 : 1 auf 1 : 10 verändert. Das Ergebnis lässt sich wegen des sehr lan- Die Aufsicht über den Münzbetrieb vor gen Vergleichszeitraumes nicht ohne wei- Ort oblag den Wardeinen. Der Wardein teres auf kürzere Zeitspannen übertragen. trug neben dem Münzmeister die Verant- Es zeigt jedoch in der Tendenz das Prob- wortung für die Ausprägung der Münzen lem der auseinander driftenden Gold- und nach vorge schriebenem Schrot und Korn. Silber preise für das Münzwesen. Er hatte die Münzstempel vor Missbrauch Auch eine vergleichende Darstellung mit zu schützen und die Münzproben für die Zahlen des 14./15. Jahrhunderts zur Wert- Münzprüfung (Probation) sicherzustellen.39 entwicklung des rheinischen Guldens zur Auf dem ersten Probationstag nach dem

61 Beitritt zum Münzvertrag im Jahre 1511 lässt, aber auch auf die bestehenden Unsi- mussten Münzmeister und Wardein aus cherheiten im Münz system.40 We sel eine kräftige Rüge hinnehmen, weil der Albus statt des vorgeschriebenen Fremde Münzen im niederrheinischen großen Wappenschildes das Hüftbild des Geldumlauf Evangelisten Johannes über kleinem Wap- Am unteren Niederrhein hatte der Anteil pen zeigt. fremder Münzen neben denen der Grafen und Herzöge von Kleve beacht- liche Bedeu tung. Das ergibt sich einerseits aus schriftli chen Quellen, wie beispielsweise den er wähnten Münzordnun- gen von 1434 und 1537. Von den dort aufgeführten 138 Mün zen entfällt ein erheblicher Anteil auf fremde, insbesonde- re auf Prägungen aus Flandern und Brabant. Auch aus meh- reren Münzfun den ergibt sich Flandern, Ludwig II. von Male (1346–1384), Cavalier d’or o.J., eindrucksvoll der hohe An- (29 mm). Die Münze stammt aus dem Xantener Fund von teil niederländischer Münzen 1947 und steht beispielhaft für den großen Anteil der Münzen am Geldumlauf. Das bestä- aus Flandern und Brabant am niederheinischen Geldumlauf. tigt in besonderer Weise auch der1947 bei einer Kellererwei- Durch gutes Zusammenwirken aller für terung in Xanten entdeckte Münzschatz aus die Münzherstellung und den Geldumlauf der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Von den Verantwortlichen wurde auch in schlech- insgesamt erfassten 33 Münzen aus Gold ten Zeiten sichergestellt, dass der Ruf eines (6) und Silber (27) entfallen lediglich drei Ortes als Handelsplatz mit kontrolliertem Kurkölner Turno sen und ein Groschen der Münzwesen über die Stadtgrenzen hinaus Grafschaft Kleve auf das Rheinland, wäh- bekannt wurde. rend 25 Stücke aus den Niederlanden mit Schwerpunkt Flandern (15) stammen. Das durch Umsicht und Kontrolle erwor- bene Vertrauen führte seit Ende des 13. bis Der 1928 bei Feldarbeiten in Bedburg-Hau, weit ins 14. Jahrhundert zur Bildung sog. Krs. Kleve, gefundene Münzschatz aus den lokaler Unterwährungen (Pagamente). In 70er Jahren des 14. Jahrhunderts mit 236 Vertrags klauseln und Urkunden bezog erfassten Münzen enthält 50 Stücke aus man sich zur Wertsicherung von Forderun- Prägestätten der Grafschaft Kleve und Kur- gen z. B. auf das an einem bestimmten Ort kölns; wesentlich mehr, nämlich 156 Mün- „gängige“ bzw. „umlaufende“ Geld oder zen, entfallen auf Flandern. konkreter ge fasste örtliche bzw. regiona- Auch die nach 1613 bzw.1648 vergrabe- le Recheneinhei ten. Für den Niederrhein nen Münzschätze von Kinzweiler (Lkr. Aa- wurde die ver gleichsweise hohe Zahl von chen) und Kaldenkirchen bestätigen die über 50 solcher Unterwährungen (u. a. her ausragende Präsenz niederländischer Duisburg, Wesel, Kle ve, Rees, Emmerich, Mün zen im westdeutschen Geldumlauf. In Goch, Xanten) nach gewiesen, was auf eine dem Fund Kinzweiler (382 Stück) befanden solide arbeitende Münzaufsicht schließen sich lediglich zwei Münzen aus Kleve und

62 Kur köln bei einem Anteil von knapp 100 nieder ländischen Münzen. Der Schatz von Kaldenkirchen (373 Stück) birgt mit etwa 150 Münzen ebenfalls einen hohen Anteil niederländischer Prägun gen. Allerdings ist der Anteil der Stücke aus Flandern (17) wesentlich niedriger als bei den vorgenannten Funden.41 Der über Jahrhunderte erstaunlich hohe Anteil niederländischer Münzen, insbeson- dere landrischer und brabantischer Her­ kunft, am Geldumlauf des Niederrheins ist vorrangig auf die intensiven Handelsbezie- hungen zurückzuführen. In Flandern war Brügge als Handelszentrum der Hanse für den Niederrhein, insbesondere für Köln, von herausragender Bedeutung. Nachdem 1529 die rheinischen Kauleute das Kontor von Brügge nach Antwerpen verlegt hatten, veränderte sich der Waren- handel zum Vorteil Brabants, was sich auch auf die dortige Münzproduktion auswirkte. Weitere Gründe für den hohen Anteil nie- derländischen Geldes am Niederrhein ist der bereits erwähnte gute Ruf dieser Münzen und die Tatsache, dass die eigene Kleve, Herzog Wilhelm V. (1539–1592), Taler Münzpro duktion der Klever Landesherren 1570, Mzst. Kleve, Vs. Hüftbild des Herzogs mit Streitkolben; Rs. Fünffeldriges Wappen Jülich, den Geld bedarf nicht decken konnte. Kleve, Berg, Mark, Ravensberg (40 mm). Von der Kleinmünze zum Taler Vor der Einführung des Talers als silberne Großmünze hatte die Vielzahl der Klein- münzen nur ein geringes Gewicht, das un- ter 4 g, teilweise weit unter 3 g lag. Nur Talers. Auf Grund der ab 1450 sprunghaft wenige Münztypen wie z.B. der Feuereiser ansteigenden Silberproduktion in Tirol, ins- lagen etwas höher. Die schwerste klevische besondere durch den Bergbau in Schwaz, Silbermünze, um 1479 in der Münzstätte war es Erzherzog Sigismund möglich, im Wesel geprägt, war mit 11,55 g Rauge- Rahmen seiner Münzreform 1486 die ers- wicht der bereits erwähnte Halbe Gulden- te, dem Goldgulden im Wert gleiche Sil- groschen (Marienmünze) im Wert eines bermünze, den Guldiner (31,7–32 g, Fein- halben Goldguldens.42 Ursache für die Be- silbergehalt 925/1000), in großen Mengen schränkung der Münzproduktion auf Klein- zu produzieren. Den Namen hat der Taler münzen während des gesamtem Mittelal- von dem „Joachimsthaler“; die Grafen von ters war der Silbermangel. Erst die rapide Schlick ließen nach Erschließung der rei- ansteigende Silberproduktion und die da- chen Silbervorkommen im Joachimsthal/ mit verbundene Änderung der Wertrelation Böhmen nach 1519 Taler in sehr großen Gold/Silber ermöglichte den Siegeszug des Mengen prägen.

63 Bis zur Verbreitung der Talerproduktion te Brustbild des Herzogs und rückseitig das im Rheinland vergingen noch einige Jahr- Wappen der vereinigten Herzogtümer und zehnte. Den ersten Taler im Herzogtum Grafschaften Jü lich, Kleve, Berg, Mark und Kleve ließ Wilhelm V. auf der Grundlage Ravensberg. sei ner neuen Münzordnung 1568 in der Lange vor den ersten Talern aus Kleve wur- Münz stätte Kleve prägen. Erkennungsmerk- den bereits zu Beginn der Regierungs zeit mal der in Kleve geprägten Taler ist der Wilhelms ab etwa 1540 in Mülheim in ge- Schwan in der rückseitigen Randumschrift. ringerem Umfang Taler geprägt. In den fol genden Jahren bis 1588 und da- Bereits um 1513, nach der Eheschließung nach unter Herzog Johann Wilhelm wurde des Klever Jungherzogs Johann von Kleve die Talerprä gung fortgesetzt. mit der Erbtochter Maria von Jülich-Berg, Auch für seine Territorialbereiche Jülich veranlasste Johann in seiner Eigenschaft als und Berg wurden unter Wilhelm V. in neuer Landesherr der Herzogtümer Jülich erheb lichem Umfang Taler geprägt, und und Berg die Herstellung eines dem Taler zwar in Mülheim/Rhein und Rodenkir- gleichwertigen Guldengroschens mit der chen. Alle Münzen zeigen das geharnisch- Darstellung der Hubertus-Legende.

Jülich, Kleve, Berg, Herzog Wilhelm V., Taler Jülich-Berg, Herzog Johann, Guldengroschen 1579, Mzst. Rodenkirchen (40 mm). um 1513.

64 Die Taler der angrenzenden Territorien wur- In den Jahren 1534 bis 1583 verausgab- den wie zuvor die Kleinmünzen schnell ten die Hansestädte Kampen, Deventer vom niederrheinischen Geldmarkt als will- und Zwolle als Städtegemeinschaft ihre kommene Handelsmünzen aufgenommen. Münzen. Gemeinsame Münzstätte war De- Vorrangig wird das für die Münzen des venter. Die ersten drei Talertypen mit St. Le- Erzbistums Köln gelten, jedoch auch für buinus, St. Nikolaus, St. Michael auf den die Taler der grenznahen niederländischen Vorderseiten wurden um 1538 geprägt. Für Handelsstädte Deventer, Kampen, Zwolle, den Geldkreislauf wesentlich bedeutender Nijmegen sowie die Taler von Neuss und waren die sog. Karolustaler mit dem Brust- Aachen. bild des Kaisers Karl V. auf der Vorderseite Im Erzbistum Köln wurden unter Erzbi- und den drei Stadtwappen auf der Rücksei- schof Adolph Graf von Schauenburg 1547 te. Abgesehen von zwei Vorläufertypen (vor die ersten Taler herausgebracht. 1554) waren es insbesondere die in großer Die gelungene Ausführung der Münze mit Anzahl geprägten Taler mit der Jahreszahl dem hl. Petrus auf der Vorderseite und dem 1555, die für den überregionalen Geldver- erzbischölichen Wappen auf der Rückseite kehr bedeutend waren. Dieser Taler wurde wurde in ähnlicher Gestaltung von seinen ohne Änderung der Jahreszahl bis 1563 he- Nachfolgern bis etwa 1570 beibehalten. rausgegeben. Später, insbesondere in den Prä geort war Deutz.43 90er Jahren des 16. Jahrhunderts, prägte Die Münzen aus der Zeit Salentins von jede der drei Städte eigene Taler.44 Isenburg (1567–1577) gehören zu den Der erste Taler der alten Reichsstadt Nijme­ schönsten Talerprägungen des 16. Jahrhun- gen (Stephanustaler) gelangte bereits 1538 derts. in den Handel. Da in unmittelbarer Nach- barschaft die Münzstätte Kleve erst über 30 Jahre später die ersten Taler prägte, kann man sich leicht die Bedeutung des Stephanustalers für das dama- lige Wirt schaftsleben im Her- zogtum Kleve vorstel len.45 Die Stadt Neuss gehört eben- falls zu den Städten, die bereits recht früh Taler geprägt haben. Der erste Taler erschien in be- scheidener Aulage 1539. Eine einigermaßen bedarfsdecken- Erzbistum Köln, Taler 1557, Anton Graf von Schauenburg de Talerprägung begann je- (1556–1558), Vs: Hl. Petrus mit Schlüssel und Buch. doch erst nach 1550 mit dem Rs: Behelmtes Wappen (39 mm). geharnischten St. Quirinus auf der Vorderseite und dem rückseitigen Dop- Bereits in den Jahren 1512/1516 gab die peladler. Ab 1568 änderte sich das Münz- Stadt Köln, Handelsmetropole des Nieder- bild mehrfach. Das von Kaiser Friedrich III. rheins, als Großsilbermünzen Guldengro- der Stadt 1474 verliehene Münzrecht ging schen in Talerqualität heraus. Es folgten 1586 wieder verloren, nachdem die Stadt 1531/1547 die ersten Taler, bevor ab 1567 in den Wirren des Kölnischen Krieges nach in größerem Umfang die sehr verbreiteten gescheiterter Verteidigung wieder zum Köl- Wappentaler geprägt wurden. ner Erzbistum gehörte.46

65 Kampen-Deventer-Zwolle. Die drei niederländischen Hansestädte verausgabten von 1538–1563 in Gemeinschaftsprägung den sog. Karolustaler (40–42 mm).

Die Taler der freien Reichsstadt Aachen ver- mit ihren Attributen Schwert und Schlüs- mitteln durch ihre Gestaltung den selbst- sel dar gestellt. Die Gestaltung der Taler bewussten Anspruch als Kaiserstadt. Kaiser änderte sich im Laufe der folgenden Jahr- Karl d. Gr. thront mit Zepter und Reichsap- zehnte mehrfach. Bischof Johann von fel über dem Adlerschild in Frontalansicht. Hoya (1566–1574) ließ ab 1569 weitere Die weniger repräsentativ gestaltete Rück- Talertypen prä gen, die den hl. Paulus mit seite zeigt den gekrönten Doppeladler. Be- Schwert als Patron des Bistums zeigen. Aus merkenswert ist die Tatsache, dass die ers- den Typen angaben in der Fachliteratur und ten Aachener Taler erst recht spät geprägt vor allem aus der Seltenheit der Stücke im wor den sind, nämlich 1568 als auch in Kle- Münzhan del lässt sich schließen, dass die ve mit der Talerprägung begonnen wurde. erwähnten Taler nicht in sehr hoher Stück- Ab 1570 steigerten sich die produzierten zahl geprägt worden sind.48 Stückzahlen erheblich. Auch das Aussehen In dem gut erhaltenen Gebäude der der Münzen wurde geändert.47 Münzstätte in ’s­Heerenberg nahe der Das unmittelbar an das Herzogtum Kleve Lan desgrenze bei Emmerich kann man angrenzende Fürstbistum Münster veraus- heute noch die Zeit der mittelalterlichen gabte bereits recht früh 1535 zur Zeit des Münzher stellung nachempinden. Die Her- Bischofs Franz von Waldeck (1532–1553) ren und späteren Grafen van den Bergh er- den ersten Taler. Auf der Vorderseite sind hielten schon 1341 vom Kölner Erzbischof die beiden Heiligen Petrus und Paulus das Münzrecht. Die frühesten Taler wurden

66 Stadt Neuss, Taler 1557. Vs: Hl. Quirinus; Rs: Stadt Aachen, Taler 1571. Vs: Karl d. Gr. mit Gekrönter Doppeladler (40 mm). Zepter und Reichsapfel; Rs: Gekrönter Doppel- adler (40 mm). unter Oswald II. geprägt. Die Massenpro- kölnischen Mark (233,85 g) waren 9 Taler duktion von Talermünzen begann jedoch mit einem Feinsil beranteil von 26 g (Rauge- erst in den 70er Jah ren des 16. Jahrhun- wicht 29,2 g) zu prägen. Ferner wurde an- derts. geordnet, dass die Münzrückseiten einheit- Wie auf den Probationstagen gelegentlich lich den doppelköpi gen Reichsadler sowie offenkundig wurde, war der solide Taler Namen und Titel des Kaisers zeigen sollen. nach vorgeschriebenen Schrot und Korn kei ne zuverlässige Selbstverständlichkeit. Preise und Löhne Zu groß war für manche Münzherren oder Die Darstellung der Preisentwicklungen für Münzmeister die Versuchung, am Feinsil- Güter und Dienstleistungen über längere beranteil zu sparen und dadurch minder- Zeiträume des Mittelalters und der frühen wertige Münzen herzustellen. Die Münz- Neuzeit ist aus verschiedenen Gründen ordnungen von 1551 und 1559 hatten schwierig. Einige interessante Vergleichs- zwar Verbes serungen und mehr Sicherheit darstellungen, die verständlicherweise in Teilberei chen gebracht. Der entschei- regio nal und zeitlich relativ eng begrenzt dende Durch bruch gelang jedoch erst mit sind, mögen Einblicke in die Kaufkraft zu der Münzordnung des Kaisers Maximilian unter schiedlichen Zeiten geben: Zur Zeit 1 von 1566, die bis ins 18. Jahrhundert hin- Karls des Großen um 800 kosteten 4 /2 ein richtungswei send blieb. Der Taler wur- Zentner Korn 2, ein Ochse 24, eine Kuh 36, de zur verbindlichen Leitmünze. Aus einer ein Pferd 144 Denare (Pfennige).49

67 Mark* Schilling Pfennig

13 Hechte 5 8 1 Salm 5 8 4 Salme 14 12 1 Salm 3 9 200 Brassen 6 3 46 Stock- 4 7 7 ische 763 Heringe 3 2 8

*) Weseler Mark (Recheneinheit) = 12 Solidi (Schillinge) = 144 Denare (Pfennige).

Mit dem Tod des letzten Herzogs Johann Wilhelm, der 1609 ohne direkte Erben starb, begann der Jahrzehnte andauern- de Erbfol gestreit um die Vereinigten Her- zogtümer. Bereits 1609/14 hatten sich die Hauptkontra henten Brandenburg und Pfalz-Neuburg auf eine faktische Teilung in der Weise verständigt, dass die vorran- gige Regierungsgewalt für Kleve, Mark und Ravensberg auf Brandenburg und für Jülich Reichsmünzordnung des Kaisers Karl V. v. 1551. und Berg auf Pfalz-Neu burg überging. Das bleibende Konliktpoten tial bestand darin, dass beide Seiten ihre An sprüche auf das Gesamterbe aufrecht erhiel ten. Die Mün- zen der folgenden Jahre brin gen das ein- Horst Schroeder hat im Rahmen eines Bei- drucksvoll zum Ausdruck, und zwar in der trages über die Huldigung des Klever Gra- Übergangsphase bis 1624 durch die ge- fen Adolf II. einige der entstandenen Kosten meinsame Ausgabe einheitlich gestal teter zusammengestellt. Danach wurden 1404 Münzen, logischerweise mit allen Wap- für die Feierlichkeiten aus der Stadt kasse pen der Vereinigten Herzogtümer. Bemer- die oben genannten Zahlungen geleistet:50 kenswert ist allerdings, dass auch noch in Abschließend mögen noch einige Löhne der Folgezeit bis weit über die endgültige und Preise des Jahres 1475 den Geldwert Festlegung der Länderteilung im Klever veran schaulichen: Damals verdienten in Ver gleich von 1666 hinaus sowohl Bran- Wesel ein Maurermeister 4, ein Stadtbau- denburg als auch Pfalz-Neuburg auf ihren meister 5, ein Zimmermannsgeselle 3 und Münzen stolz alle Wappen der einst verei- ein Hand langer 2 Albus je Arbeitstag. Ein nigten Terri torien Kleve, Mark, Jülich, Berg Pferd koste te 528, ein Ochse 180, ein fettes und Ravens berg zeigen. Schwein 36, ein Paar Schuhe 4, ein Pfund Zu cker 6–10, ein Pfund Reis 1 und ein Münzen erzählen gelegentlich Geschichte Pfund Mandeln 2 Albus.51 auf ihre eigene Art und Weise.

68 Jülich, Kleve, Berg. Herzog Johann Wilhelm (1592–1609), 11/2-fache Talerklippe, 1609, (44 mm).

Anmerkungen:

1 Bernd Kluge: Münze und Geld im Mittelalter, Frankfurt Christoph Reichmann: Lippeham, in: Fragen und a. M. 2004, S. 8, 9, 30. Einstiegsliteratur zum Thema Funde zur Vor- und Frühgeschichte im Weseler Raum. u. a.: Wilhelmine Hagen: Münzprägung und Geld um- (SQGW 13), Wesel 1991, S. 43–62. lauf im Rheinland. Führer des Rheinischen Landes- 7 Dazu und zur weiteren Entwicklung in Köln und Trier museums Bonn Nr. 17, Düsseldorf 1968. Die Schrift Wilhelmine Hagen: wie Anm. 2, S. 27 ff. Hanno Weiler: bietet eine übersichtliche Kurzinformation. Karl Bernd Die Kölner Münzprägungen, Köln 1982, S. 8 ff. Heppe: Münzprägung und Geldumlauf in den Graf- 8 Wilhelmine Hagen: wie Anm. 1, S. 35. Bernd Kluge: schaften und Herzogtümern Jülich, Kleve und Berg, wie Anm. 1, S. 6 f. in: Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer 9 Ebd. S. 42. Jülich . Kleve . Berg (Ausstellungsbegleitbuch), Kleve 10 Meinhard Pohl: Wesel im hohen Mittelalter, in: Ge- 1984, S. 119 ff. schichte der Stadt Wesel, wie Anm. 5, S. 82 f. 2 Leo Verhart: Den Kelten auf der Spur. Neue archäolo- 11 Bernd Kluge: wie Anm. 1, S. 8. gische Entdeckungen zwischen Nordsee und Rhein, 12 Dem Münzherrn nach Abzug der Herstellungskosten Mainz 2008, S. 127 ff. Christoph Reichmann: Zur verbleibender Ertrag, insbesondere der sog. Schlag- Be siedlungsgeschichte des Lippemündungsgebietes schatz (= Differenz zwischen Metallwert und Nenn- während der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und wert der Münze). ältesten römischen Kaiserzeit, Wesel 1979. Günter 13 Bis zur Verpfändung an Kleve im Jahre 1355 wurden in Krause: Zur Bronze- und Eisenzeit im Lippe mün- Emmerich Münzen der Grafen und Herzöge von dungsgebiet, in: Fragen und Funde zur Vor- und Früh- Geldern geprägt, seit Beginn des 16. Jh. klevische und geschichte im Weseler Raum. Studien und Quellen nach 1609 brandenburgische Münzen. zur Geschichte von Wesel 13 (SQGW), Wesel 1991, 14 Hanno Weiler: wie Anm. 7, S. 23,25. Jakob Düffel: S. 21–42. Bilder aus der Vergangenheit der Stadt und Festung 3 Vgl. Volker Zedelius: Geld in Xanten, Köln o. J. (1978). Rees, 1972 (1939), S. 22 f. Volker Zedelius: Münz- 4 Maria-Regina Kaiser-Reiß u. Niklot Klüßendorf: Der prägung in Xanten, in: Studien zur Geschichte der spätantike Goldmünzschatz von Menzelen aus dem Stadt Xanten 1228–1978, Köln 1978. S. 47–56. Man- Jahr 1754, in: Studien zu Fundmünzen der Antike, Bd. fred van Rey: Kurkölnische Münz- und Geldgeschichte 2, Berlin 1984, S. 1–51. im Überblick, in: Kurköln. Land unter dem Krummstab 5 Ursula Maier-Weber: Wesel in römischer Zeit, in: Ge- (Ausstellungsbegleitbuch), Kevelaer 1985, S. 281–306. schichte der Stadt Wesel, Bd. 1, Düsseldorf 1991, S. 15 Alfred Noss: Die Münzen der Grafen und Herzöge von 71, hrg. v. Jutta Prieur. Kleve, München 1931, S. 29 f. Ähnlich auch Erich Lie - 6 Clive Bridger: Römisches vom rechtsrheinischen Teil im segang: Niederrheinisches Städtewesen vornehmlich Kreis Wesel, in: Jahrbuch Kreis Wesel 2012, Duisburg im Mittelalter – Untersuchungen zur Verfassungs- 2011, S. 213. Zur frühen Besiedlung des Raumes geschichte der clevischen Städte, Breslau 1897, Wesel-Bislich (Lippemündung, Lippeham, Gräberfeld S. 585/86. Bislich, fränkische bzw. merowingische Einlüsse)

69 16 Die Annahme geht zurück auf eine Urkunde Ottos von 35 Dazu Günter Warthuysen: Rheingold aus Büderich. Cappenberg um 1160, in der „sol Wiselensis“ erwähnt Goldwäscher am Niederrhein, in: Jahrbuch des sind. Gisela Vollmer: Die Stadtentstehung am unteren Kreises Wesel 2005, Duisburg 2004, S. 22–29. Niederrhein. Eine Untersuchung zum Privileg der 36 Friedrich Gorissen: Regesten zur politischen Geschich- Reeser Kauleute von 1142 (Rhein. Archiv 41), Bonn te des Niederrheins. Stadtrechnungen von Wesel 1952, S. 52, mit Hinweisen auf die in dieser Frage (1349–1450) 5 Bde., Bonn 1963/68. unterschiedlichen Meinungen. Den ersten 4 Bänden sind jeweils Übersichten zur 17 Erich Liesegang: wie Anm. 15, S. 44/45. Alfred Noss: Entwicklung des Stadthaushalts und zur Relation: wie Anm. 15, S. 29. Weseler Mark / rhein. Gulden vorangestellt. 18 Martin Wilhelm Roelen: Studien zur Topographie und 37 Stadtarchiv Wesel (StAW) A 1/192,1, fol.1. Die Münz- Bevölkerung Wesels im Spätmittelalter. (SQGW 12), ord nung ist veröffentlicht in: Martin Wilhelm Roelen Wesel 1989, Teil 1, S. 59 (Lageplan), 140, 163. / Erich Wolsing: Weseler Edikte 1324–1600, Bd. 1 19 Martin Wilhelm Roelen: wie Anm. 18, Teil II, S.439. (1324–1558), Wesel 2005, S. 159–162. (hrg. v.d. 20 Alfred Noss: wie Anm. 15, S. 33. Historischen Vereinigung Wesel). 21 Adolf Langhans: Darstellungen der Stadt Wesel und der 38 StAW A 1/192,1, fol. 10,11. Dazu auch die Münzakte Willibrordikirche auf den ältesten Weseler Münzen, 1434–1690 im StAW (A 1/192, 1) mit weiteren in: Heimatkalender des Kreises Rees 1951, Rheinberg Wert vergleichen umlaufender Münzen, Münzverru- 1950, S. 68–70. Peter Bruns: Dravewinkel – Wesels fungen, Schriftverkehr zwischen Herzog und Stadt, vergessene Burg, in: Jahrbuch des Kreises Wesel Münzedikt v. 25. April 1583 u. a. Zu den zahlreichen 2014, Duisburg 2013, S. 202–207. Leider stehen Weseler Münzprüfungen s. auch Friedrich Gorissen: keine befriedigend reproduzierbare Abbildungen zur Stadtrechnungen, wie Anm. 36, Bd. 5, S. 193 f. Verfügung. (Übersicht). 22 Zu der herausgehobenen Bedeutung der Brabantiner in 39 Das mehrfach erwähnte Standardwerk von A. Noss der rheinischen Geldwirtschaft s. Niklot Klüßendorf: enthält auf S. 205 eine Aulistung der Münzmeister Studien zu Wirtschaft und Währung am Niederrhein und Wardeine in den Städten Kleve, Wesel, Emmerich, vom Ausgang der Periode des regionalen Pfennigs bis Büderich und Kalkar. zum Münzvertrag von 1357 (Rheinisches Archiv 93), 40 Zu den Unterwährungen umfassend Niklot Klüßendorf: Bonn 1974, S. 99, 107 u. die Karten 4 u. 5. wie Anm. 22, insb. S. 138 ff., 201 ff., Karten 10 u. 11. 23 Alfred Noss: wie Anm. 15, S. 44, 45. Vgl. auch Edith Ennen: Grundzüge des nieder rhei- 24 Zu der Zeit vor und nach dem Erbfall von 1368 aus- nischen Städtewesens im Spätmittelalter (1350–1550), führlich Ralf Althoff: Die mittelalterlichen Münzen in: Soziale und wirtschaftliche Bindungen im Mittel- der Herrschaft Dinslaken (Dinslakener Beiträge 23), alter am Niederrhein (Klever Archiv 3), Kleve 1981, Duisburg 1996, S. 12–63. S. 55 ff., hier S. 72. 25 Klaus Flink: Klevische Städteprivilegien 1241–1609 41 Peter Ilisch und Claudia Klages: Flandrische Beziehun- (Klever Archiv 8), Kleve 1989, S. 67. gen zum Geldumlauf am Niederrhein und in West- 26 Ralf Althoff: wie Anm. 24, S. 141–165. falen, in: Von Flandern zum Niederrhein. Wirtschaft 27 Ebd., S. 173–216. Zur geringen Verbreitung niederrhei- und Kultur überwinden Grenzen, Duisburg 2000, S. nischer Münzen im Geldumlauf Westfalens auch Peter 121 ff., insbes. S. 124. Ilisch: Münzschatzfunde in Westfalen, Museums- 42 Die Münze ist bei A. Noss: wie Anm. 15, unter Nr. 151 schrift, Münster 1991. als „Halber Gulden Kurant“ erfasst. Noss sieht in der 28 Dazu und auch im übrigen zur Münzgeschichte z. Zt. Münze wegen des hohen Gewichts von 11,55 g eine der Klever Herzöge Johann I. und Johann II. umfassend Vorläuferin des Guldengroschens. Alfred Noss, wie Anm.15, S. 102–187. 43 Manfred van Rey: wie Anm. 14, insbes. S. 292 ff. 29 Alfred Noss: wie Anm. 15, S. 191. 44 J. F. Drooglever: De Driesteden Muntslag, 1986. 30 Dazu Günter Warthuysen: Der Büdericher Rheinzoll im 45 Stadt Nijmegen (Hg): De Stedelijke Munt van Nijmegen Streit zwischen der Stadt Wesel und den Grafen von 1457–1704, Nijmegen 1980. Kleve, in: Jahrbuch des Kreises Wesel 2003, Duisburg 46 Hanno Weiler: wie Anm. 7, S. 90 ff. 2002, S. 89–98. 47 Karl Gerd Krumbach: Aachener Münzen der Neuzeit 31 Zum Verhältnis Münze, Zoll und Markt s. Niklot Klü- von Beginn der Talerprägung bis zum Ende der Reichs- ßen dorf: wie Anm. 22, S. 109–211. freiheit, Aachen 1989. 32 Alfred Noss: wie Anm. 15, S. 49. 48 Peter Ilisch: Die mittelalterliche Münzprägung der Bi- 33 Bei einem Gewicht von 4,22 g und einem Silberfein- schöfe von Münster, Münster 1994. gehalt von 950/1000 wurden aus einer Gewichts- 49 Wilhelmine Hagen: wie Anm. 1, S. 42. Mark (1 Kölner Mark = 233,855 g) 58 Turnose geprägt. 50 Horst Schroeder: Die Stadt und ihr neuer Landesherr Die Büdericher Turnosen schwanken im Gewicht und (1404), in: Mitteilungen der Historischen Vereinigung liegen etwas niedriger. Wesel Nr. 96, Wesel 2000, S. 26–43. 34 Margret Wensky: Zur Geschichte von Alt-Büderich, in: 51 Martin Wilhelm Roelen im Katalogteil der Ausstellungs- Büderich – Beiträge zur Stadtgeschichte (SQGW 9), schrift „zu Allen theilen Inß mittel gelegen“. Wesel Wesel, 1987, S. 13, 14. Bernd Kluge: Burg und Münze und die Hanse an Rhein, Ijssel & Lippe, Wesel 1991, – Burgen als Münzstätten im hohen Mittelalter, in: Die S. 302 f. Burg (Ausstellungsbegleitband), Dresden 2010, S. 86–93, hrg. v. G. U. Grossmann und H. Ottomeyer.

70 Utta Angelika Landau

Sophie Caroline Lisette Richter geb. Krupp (14. 3. 1777–24. 12. 1864) und Johann Zaremba

Man leidet nur halb, wenn gefühlvolle Seelen an unserem Leiden Antheil nehmen. Sie waren eine der vorzüglichsten, die sich hier in Wesel für mein Schicksal interessierten. Ich gehe fern von hier, aber mein dankbares Herz bleibt an einem Orte, wo mir bei vielen Leiden das Glück wurde, eine so theilnehmende Freundinn zu inden. Wenn Sie dann und wann einige Augenblicke dem Andenken Ihrer Freunde widmen, so übergehen Sie auch den nicht, in dessen Herzen die Erinnerung nur mit seinem Tode ausgelöscht wird. Wesel den 10 ten November Zaremba aus Westpreußen 1811

Das Porträt der aus Methler stammenden stellten Kragen, was ihm etwas Reserviertes Pfarrerstochter und Weseler Bürgerin, das verleiht. Die Zuordnung der Dargestellten als Fotograie eines Bildnisses in einem Ah- überrascht. Während Caroline die Position nenalbum vorliegt, zeigt eine im Empire-Stil auf der linken Seite innehat, die eigentlich gekleidete Frau in dunklem, kurzärmeligen für den Ehemann vorgesehen ist, wendet sich Gewand mit weißem, hoch stehendem plis- Johann Richter im Halbproil Caroline von sierten Chemisettekragen. Das Gesicht ist rechts zu. Ob die Rochade gewollt ist, ob länglich und schmal mit übergroßen, hellen darin eine weibliche Dominanz zu erkennen Augen und einer markanten geraden Nase. ist, kann nicht beantwortet werden. Auch ist Die knabenhafte, für die Zeit untypische die Urheberschaft des zwischen 1800 und Kurzhaarfrisur, deren wenige helle Fransen 1817 in Wesel tätigen Malers und Lehrers in die hohe Stirn fallen, kann auf eine Krank- Emanuel Gérard Roger de Vavincourt nicht heit (Typhus?) der Abgebildeten hinweisen, von vornherein auszuschließen. Die kurzen wie in der Familiengeschichte mündlich Puffärmel wie auch das Gewand Carolines weitergegeben wurde. Der Blick erscheint zeigen ein Blümchenmuster, in dem man prüfend, streng, wobei vielleicht doch die eine winzige bourbonische Lilie zu erken- Andeutung eines Lächelns erkennbar ist. Ein- nen glaubt. Die Darstellung Johann Richters zige Zutat ist der im Halbproil vom Kragen wirkt dagegen eher, als sei es eine in Pastell fast verdeckte Ohrschmuck. Die Aufnahme ausgeführte Werkstattarbeit. Johann Friedrich Richters, von dem wohl aus Caroline hat ihren Mann um ein Jahr über- der gleichen Zeit oder auch erst später an- lebt; beide sind auf dem Friedhof in Gahlen gefertigten Porträt, zeigt ihn mit einem eher beigesetzt und haben wohl die allerletzten herzförmigen Gesicht, den Hals zeitgemäß Lebensjahre bei ihrem Sohn Hermann Rich- mit weißem Plastron versehen im hochge- ter, Pfarrer in Gahlen, verbracht.

71 Sophie Caroline Lisette Krupp Johann Friedrich Richter

Als das Aufgebot zur Eheschließung am mann Johann Friedrich Richter (geb. 31. 21. Dezember 1806 an ihren Vater, den Dezember 1769 in Isselburg – gest. 08. März „älteren Prediger Krupp zu Meth(e)ler“ 1863 in Gahlen) bereits 29 Jahre alt, ihr Ehe- gesandt wurde, lebte Caroline bereits in mann stand kurz vor seinem 37. Geburtstag der Festungsstadt Wesel.1 Geboren wurde am letzten Tag des Jahres 1806.3 sie am 14. März 1777 in Methler als Toch- Caroline Krupp hat die längste Zeit ihres ter des Pfarrers Johann Balthasar Albrecht Lebens in Wesel verbracht, wo sie mit ihrem Krupp (1734–1812) und seiner Ehefrau Anna Ehemann, einem Kaufmann und Weinhänd- Margaretha Wilhelmina Carolina Davidis ler, am Viehtor (Nordseite) im Haus Nr.780 (1743–1795), Tochter des Richters Davidis (ab 1815 umbenannt in Nr. 371) lebte; die zu Camen. Caroline war das siebte Kind des Geschäftsräume befanden sich am Korn- Paares unter insgesamt acht Kindern. Davon markt (Nordseite) im Haus Nr. 108. Die überlebten außer ihr noch zwei Schwestern Einwohnerverzeichnisse von Wesel für die und zwei Brüder, von denen der Bruder Jahre 1806, 1812, 1815 und 1840 belegen Wilhelm, geb. 1761, Pfarrer in Unna wurde den Wohnsitz der Familie mit den jeweilig (1785–1811), und der Jüngere, Friedrich, dazu zählenden Angehörigen. geb. 1765, ab 1796 Adjunkt seines Vaters Der Haushalt umfasste 1812 außer Friedrich und danach dessen Nachfolger (1812–1837) und Caroline Richter fünf Kinder und zwei in Methler war.2 weitere Erwachsene. Der 1803 geborene Die Pfarrerstochter Caroline Krupp war im Friedrich Wilhelm stammte aus der ersten Jahr der Eheschließung am 28. Dezember Ehe des Witwers mit Anna Catharina Eck 1806 in Unna mit dem verwitweten Kauf- aus dem Amt Solingen. 1807 wird der Sohn

72 Wilhelm geboren, 1809 der Sohn Hermann wohlhabende Weseler Geschäftsleute. und 1811 der Sohn Karl sowie ein Jahr spä- Die Jahre nach der französischen Revolution ter nach dem Verzeichnis von 1812 eine und den Durchzug französischer Emigranten Tochter Caroline, die den Vornamen der beschreibt Gustav Freytag anschaulich in Mutter trägt. Ein weiteres Familienmitglied seinen „Bildern aus der deutschen Vergan- ist der 1785 geborene Simon-Karl Richter, genheit“. Sein preußischer Patriotismus wird der wohl die Aufgaben eines Lehrlings oder darin deutlich: „Aber das Jahr 1806 kam, Gehilfen im Geschäft seines Verwandten hat- und ein Schmerz folgte auf den anderen. te, und die ebenfalls 1785 geborene Magd Zuerst wurde der diesrheinische Antheil Johanna Boll. Über einen Diener verfügte des Herzogtums Cleve (...) an Napoleon der Haushalt nicht; jedenfalls wird in dem abgetreten, er fasste diesseits des Rheins von der französischen Verwaltung der Stadt festen Fuß und kam zugleich in den Besitz Wesel erstellten Einwohnerregister keine der Festung Wesel“.4 Diese beklemmende weitere Angabe gemacht. Beim Vergleich Stimmung mag auch das Ehepaar Richter der Namen in den zwei Registern werden wie seine Zeitgenossen bewegt haben. Die die französischen Namen ab 1815 wieder Auswirkungen der französischen Besatzung, deutsch geschrieben. Die Abschriften weisen die damit verbundenen Einschränkungen dabei Ungenauigkeiten auf: Jeanne Bolt, ser- an persönlicher Freiheit, die Abgabenver- vante, wird wieder zu Johanna Boll, Magd. plichtungen und Umstellungen in Sprache, Auch bei dem Namen Krupp verschreibt sich Verwaltung, Zahlungsmitteln sowie die der Kopist im Jahre 1815. Laut Taufregister Einquartierungen haben sicher eine große der Lutherischen Kirchengemeinde wurden Belastung für die Bevölkerung nicht nur 1818 und 1821 noch die Söhne Rudolf und Wesels bedeutet. Auch das Leben der Rich- Gustav geboren. ters war von den Ereignissen betroffen. Wie Bevor die Eheleute zu ihrem Sohn Hermann, sich die Lebensumstände für Caroline und seit 1842 Pfarrer in Gahlen, zogen, wohnten ihre Familie unter französischer Besatzung sie laut Einwohnerverzeichnis für 1846 mit dargestellt haben, kann man nur mutmaßen. dem Sohn Wilhelm in Lackhausen, Haus Im April 1809 war ihr Sohn Hermann zur Nr. 15. Die Nachbargemeinde war in der Welt gekommen, wie damals üblich, wohl Zeit beliebter Zweit- und Alterswohnsitz für als Hausgeburt. Sicher stand ihr die Magd

73 Johanna Boll zur Seite, um bei der Erstver- Caroline, verabredeten, um gemeinsam ihr sorgung des Kleinen und gelegentlicher wohltätiges Werk zu planen. Das Unter- Abwesenheit der Mutter zu helfen. nehmen mag Frauen dazu gebracht haben, Die Zeit der Besetzung Wesels wird be- sich zu organisieren, um sinnvoll Hilfe zu sonders durch ein Ereignis im Jahre 1809 leisten. Vielleicht wuchsen einige über sich markiert, an das Geschichtsdarstellungen hinaus, indem sie außerhalb des Hauses Wesels bis heute erinnern: Die Hinrichtung nützlich sein konnten und gemeinschaftlich der elf Schillschen Ofiziere. Die Ereignisse ein Werk umsetzten, das sich nicht auf den um das Scheitern des preußischen Majors eigenen Haushalt und die eigene Familie Ferdinand von Schill im Kampf um Stralsund, beschränkte. Diese Frauen nahmen sich dessen Tod und die Gefangennahme seiner jedenfalls die Freiheit des ehrenamtlichen Ofiziere sowie deren Arretierung ab Mitte Planens und Handelns. August in der Zitadelle von Wesel hatte Nach einer Familienüberlieferung gibt es in der Stadt eine Welle von Empathie und eine Verbindung zwischen der photographi- Hilfsbereitschaft ausgelöst. Vorstellungen schen Aufnahme des gemalten Porträts von vom Wandel hatten sich in vielen Facetten Caroline Krupp, verehelichte Richter, und durchgesetzt, wie auch ein innerer Wider- dem Eintrag aus Wesel vom 10. November stand in der Stadt wegen des französischen 1811 mit der Unterschrift: „Zaremba aus Vorgehens gegen die preußischen Ofiziere. Westpreußen“. Beide Zeugnisse befanden Der Anteil der Frauen in Wesel, die sich sich unter Familiendokumenten und sol- aus innerer Überzeugung bereit fanden, len nun miteinander in Beziehung gesetzt tätige Hilfe zu leisten, sowohl bis zum Tag werden. der Hinrichtung der elf Verurteilten am 16. Am 10. November 1811, kurz bevor er September 1809 als auch gegenüber dem die Festung Wesel verlässt, schreibt Johann Zwölften, Johann Zaremba, dem einzigen Zaremba einige Zeilen für Caroline Rich- vom Todesurteil Verschonten, bis zum Tag ter, in denen das Engagement der Weseler des Besuchs Napoleons in Wesel am 1. No- Frauen und besonders das der Adressatin vember 1811, kann als patriotischer Beitrag gewürdigt werden. Der Eintrag enthält 10 verstanden werden.5 Zeilen, eine weitere Zeile gibt Ort und Zeit Das Ehrenamt zur Versorgung Verwundeter, sowie den Namenszug des Schreibers an. Kranker, Hilloser und Opfer der kriege - Er unterschreibt mit der Ortsangabe „aus rischen Ereignisse durch Frauen wird von Westpreußen“, wobei sein aus dem Polni- Gustav Freytag ausführlich hervorgehoben. schen stammender Name den politischen Im Beitrag von Veit Veltzke hat das soziale Verhältnissen der damaligen Zeit nicht zu Engagement von Weseler Frauen besonde- widersprechen scheint. Zaremba schreibt ren Stellenwert.6 Die in meiner mütterlichen am Tag vor dem Verlassen der Festung Wesel: Familie tradierte ,oral history‘ sprach von „Ich gehe fern von hier“, nach dem erlösen- dem Einsatz der Caroline Krupp als Plegerin den „Vous êtes libre!“ Napoleons.7 des unglücklichen zwölften Ofiziers immer Das Blatt umfasst vier Sätze, aus denen Lob, mit einer gewissen Anerkennung. Dass sie Dank und Verehrung sprechen. Zaremba auch seine ,Retterin‘ gewesen sei, mag der schreibt zunächst im Rückblick auf die subjektiven Übertreibung und individuellen Anteilnahme an seinem Schicksal, wofür er Ausschmückung der Aktion geschuldet sein. seine Dankbarkeit ausdrückt, denn nur das Ihr Einsatz war sicherlich auch durch die Mitgefühl habe ihm geholfen, seine Leiden christliche Erziehung in einer lutherischen zu ertragen. Er beansprucht die Gedanken Pfarrersfamilie motiviert. Ich stelle mir vor, an die Fürsorge und Hilfsbereitschaft ge- wie sich Weseler Frauen, darunter auch genüber seiner mitfühlenden „Freundinn“

74 nicht allein für sich, sondern bezieht auch Die Widmung ist aus den Händen Caroli- seine unglücklicheren Leidensgenossen mit nes an ihren Sohn Hermann Richter und ein. Den Dank für die Anteilnahme auch an dessen Ehefrau Emma Richter, geb. anderer „gefühlvolle(r) Seelen“ womit er Oberste-Frielinghaus gelangt. Emma Rich- seine Zeilen einleitet, verbindet er mit der ter (1815–1869) war die Schwiegertochter abschließenden Bitte, außer den toten Freun- Carolines und Tochter von Albertine Clara den auch ihn nicht zu vergessen. Zaremba Helene Davidis (1790–1868). Albertine benutzt eine starke Wendung zum Schluss, Davidis, verehelichte Oberste-Frielinghaus indem er versichert, der Betreuerin und und Johanna Friederike Henriette Davidis wohl auch Zuhörerin seiner Seelenbeichte (1801–1876) waren Schwestern unter 11 bis zum Lebensende zu gedenken. Für dies weiteren Geschwistern. Sie stammten aus Versprechen verwendet er die dritte Person, der Pfarrersfamilie des Ernst Heinrich Davi- vielleicht um durch die indirekte Form ge- dis (1749–1828). Der Vater, ebenfalls Pfar- genüber der „Freundinn“ dem Geständnis rerssohn, war gebürtig aus Wengern, hatte in die Direktheit zu nehmen. Halle studiert und war als Garnisonspfarrer Im Beitrag: „Der Schillsche Ofizier Johann nach Breda in die Niederlande gegangen, Zaremba, oder von der Last, der Zwölfte zu wo er mit Maria Katharina Litthoven (Litt- sein“, kommt der Autor Veit Veltzke zu dem hauer), einer Holländerin, 1784 die Ehe Urteil, dass Zaremba nach seinem Weggang einging und 1798 mit der Familie zurück aus Wesel vergessen werden wollte. Liest an seinen Geburtsort gekommen war. Eine man jedoch nun dessen Zeilen für Caroline der Töchter hat als unverheiratete, allein Richter, ist Zarembas Vorstellung von Er- stehende Autorin mit hauswirtschaftlichen innerung und Andenken, sowohl an seine und schriftstellerischen Talenten beispielhaft elf Kameraden wie auch an ihn selbst, das Mut bewiesen, ihr Schicksal zu meistern. Motiv, das ihn zum Schreiben drängt. Sie ist die besonders in Westfalen bekannte

75 Kochbuchautorin Henriette Davidis, nach mit Bezug auf den Niederrhein, insbeson- deren Rezepten sicher auch im Gahlener dere Wesel, Gahlen, Hünxe, Schermbeck Pfarrhaus von ihrer Nichte Emma die Speisen und Emmerich stellen nach Ansicht von zubereitet wurden.8 Im Pfarrhaus der Fami- Experten eine Bereicherung nicht nur für die lien Richter in Gahlen wurde die Dankes- Geschichte der Stadt Wesel im 19. Jahrhun- bezeugung Zarembas an Caroline verwahrt dert dar, vermitteln sie doch neue Einblicke und über Generationen weiter gereicht, bis vornehmlich in gesellschaftliche Strukturen sie in einer Kopie in meine Hände gelangte. dieser Zeit.9 Zarembas Widmung ist eine von fast 300 Hermann Richter hatte die Pfarrerstelle in Einträgen in zwei Poesiealben der Caroline Gahlen von 1842 bis 1883 inne, ihm folgte Richter von 1794 bis 1835 und beindet sich bis 1913 sein Sohn Friedrich Wilhelm Her- heute ebenso wie ein sogenanntes “Stamm- mann Richter. Die Familiengräber beinden buch” ihres Sohnes Hermann mit etwa 60 sich auf dem Gahlener Friedhof; in der Eintragungen von 1826 bis 1831 im Besitz Pfarrkirche erinnern zwei Gedenktafeln an meiner Großcousine Almuth Höhn, geb. Vater und Sohn. Kraemer. Rund 150 dieser Eintragungen

76 Anmerkungen:

1 Kirchenregister (Trauungen) der Lutherischen Kirchen- gemeinde Wesel, S. 57. 2 Wilhelm Berdrow: Die Familie Krupp in Essen von 1587–1887, Genealogische Tafeln, entworfen und zu- sammengestellt von Fritz Gerhard Kraft, o.J. (Tafeln III, VI, VI1, VI2), Historisches Archiv Krupp, Villa Hügel l, 45133 Essen. 3 Dazu die Widmung von Karl Hengstenberg (1770–1834), Pfarrer in Wetter(Ruhr), zur Trauung von Friedrich Richter und Caroline Krupp: „Zum Tage ihrer heiligsten Verbindung, wobei kein Datum und keine Jahres- zahl nötig seyn wird.“ Walter und Eckehard Methler: Heimatgeschichte in Poesiealben des 19. bis 21. Jahrhunderts, HDM Verlag, Wetter (Ruhr), 2011, S.6. 4 Gustav Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 4, Aus neuer Zeit (1700–1848), S. Hirzel, Leipzig, 1893, S. 382. 5 Veit Veltzke: Der Schillsche Ofizier Johann Zaremba, oder von der Last, der Zwölfte zu sein, in: Wesel und der untere Niederrhein – Beiträge zur rheinischen Geschichte, Historische Vereinigung Wesel e.V., Wesel 2009, S. 91–104. 6 Veltzke (wie vor), S. 94, Franz Fiedler: Die Verurthei- lung und Hinrichtung der elf Preußischen Ofiziere vom Schill‘schen Corps durch die Franzosen bei Wesel den 16. September 1809, Zur Erinnerung an Schill und seine Gefährten bei der Enthüllung des auf ihren Grä- bern errichteten Denkmals am 31. März 1835, Wesel 1835, S. 62 f. 7 Veltzke (wie Anm. 5), S. 100. 8 Hinweise auf die Familie Davidis verdanke ich Walter Methler, Henriette-Davidis-Museum, Liboriusstr. 7, 58388 Wetter-Wengern (Ruhr), in A. H. Blesken: Ge- schichte der evangelischen Kirchengemeinde Wengern, Bundes-Verlag Witten, 1959, S. 228, 229, Anm. 19. 9 Frau Höhn hatte die Alben dem Weseler Stadtarchiv vorübergehend zur Auswertung überlassen. Sie wurden dort fotograisch erfasst und in mehrseitigen Tabellen vom Stadtarchivar Dr. Martin Roelen ausgewertet und ergänzt. Über die Ergebnisse, die berechtigten Interessenten zur Verfügung stehen, hat die örtliche Presse am 23. Okt. 2014 ausführlich berichtet.

77 Martin Wilhelm Roelen

Georg Friedrich Veenliet, ein Weseler Forty-Eighter

Über die Deutsche Revolution in Wesel stellt wurde, ist bislang nicht ausgewertet gibt es nur einen kleinen Aufsatz unseres worden; er enthält persön liche Unterlagen kürzlich verstorbenen Vorstandsmitgliedes der Familie Veenliet und eine Vielzahl von Walter Stempel, der die frappante Quellen- Briefen, die größtenteils nach Absendern armut des Weseler Stadtarchivs zur Revolu- sortiert sind. Es gibt allerdings keine Brie- tion beklagt, zugleich jedoch im Resümee fe von Veenliets bekannten Freunden oder der Hoffnung Ausdruck gibt, dass sich viel- eigene politische Äußerungen. Mit diesem leicht noch etwas inden würde.1 Auch zum Nachlass lassen sich die äußeren Lebens- Vormärz indet sich in Wesel so gut wie umstände des bislang unbekannten Wese- nichts, was Stempel zwar nicht dezidiert an- ler Forty-Eighters Georg Friedrich Veenliet spricht, worunter seine Darstellung jedoch gut ergründen. spürbar leidet, weil er nur kleine Mosaik- steinchen gefunden hatte, die er zueinan- Familie und Werdegang der zu bringen versuchte. So befasst er sich Georg Friedrich Veenliet5 wurde am 2. mangels Masse weniger mit Ereignissen in April 1813 in Wesel geboren und neun Wesel, sondern mit in Wesel handelnden Tage später in der Willibrordikirche getauft. Personen, nämlich Ludwig Bischoff,2 Fried- Seine Eltern, Johann Friedrich Veenliet rich von Beust, Friedrich Anneke und sei- und Helena Margaretha Wens, stammten ner Frau Mathilde Franziska sowie Anton aus Wesel bzw. Dinslaken und hatten am Jacob Bloem, der allerdings nicht in Wesel 30. April 1809 in Wesel geheiratet.6 Tauf- aktiv war. Erwähnt werden immerhin Karl paten von Georg Friedrich waren Dietrich Grün und August von Willich.3 Friedrich Kraemer, Schwager der Mutter, der Wese- Veenliet wird nicht erwähnt, obwohl ihm ler Metzger Wilhelm Heiss, Schwager des während seiner Recherchen der Name un- Vaters, der 1809 auch schon als Trauzeu- terkam, ich ihm damals jedoch nicht wei- ge der Eltern fungierte, sowie seine Stief- terhelfen konnte. Erhard Kiehnbaum, der großmutter Susanna Margaretha Veenliet. 2004 Briefe von Mathilde Franziska Anne- Er hatte noch vier weitere, zwischen 1810 ke herausgab, fand in ihnen des Öfteren und 1817 geborene Geschwister – einen die Eheleute Veenliet.4 Um wen genau es Bruder und drei Schwestern –, die allesamt sich handelte, kam erst 2013 ans Licht, als als Kleinkinder verstarben.7 sich beim Stadtarchiv Wesel Loren Whit- Ihren Lebensunterhalt verdienten die Veen- ney meldete, der mit einer Nachfahrin liets mit der Herstellung und dem Verkauf Veenliets verheiratet war und nach den von Sayettestrümpfen. Das sind feine lange Vorfahren seiner Kinder fragte. Whitney Wollstrümpfe, die aus weichem feinsten verfügt noch über zahlreiche schriftliche Sayegarn hergestellt wurden. Die Firma, eine Hinterlassenschaften Veenliets, die er bei Sayettespinnerei und -weberei, wurde 1790 der Auswanderung mit sich führte. Dieser von dem aus Zutphen stammenden Rutger Nachlass, der mir freund licher Weise von (Rutt) Wilhelm Veenliet, Georg Friedrichs Loren Whitney digital zur Verfügung ge- Großvater (1746/47–7. Mai 1817), gegrün-

79 det. Er hatte als Soldat im in Wesel statio- Friedrich besuchte die evangelische Volks- nierten preußischen Infanterie-Regiment 45 schule und anschließend das Gymnasi- gedient und war nach Ablauf der Dienstzeit um. Nach dem Einjährigen bewarb er sich in Wesel geblieben. 8 1830 an der Bergschule in Essen, wo er seit Die Familie wohnte bis mindestens 1811 1831/32 das Bergbaufach erlernte. Im Jahr im Hause der Veenliets am Fischmarkt und darauf musste er die Schule verlassen, weil zog in diesem oder dem darauffolgenden er sich verletzt hatte und keine schwere kör- Jahr in das Haus Korbmacherstraße 518 perliche Arbeit mehr verrichten konnte. 11 (später 385) um.9 Stattdessen besuchte er nun ab dem Herbst 1827 erwarb Friedrich Veenliet Senior das 1832 das Gymnasium in Dortmund und Haus Brückstraße 281, in bester Lage und begann dort im Frühjahr 1833 das Abitur, mit Hintergebäuden, die sowohl als Werk- welches er aber krankheitsbedingt erst im stätte dienten wie auch vermietet wurden. September desselben Jahres mit dem Ziel, Im Haus wohnten auch der am 11. August Mathematik und Naturwissenschaften zu 1841 im Amt verstorbene Bürgermeister studieren, abschließen konnte.12 Zu diesem Matthias Daniel Christian Adolphi sowie Zeitpunkt leistete er schon seinen Einjährig- vier weitere Mieter.10

Das Haus der Familie Veenliet (viertes von rechts) in der Brückstraße um 1880.

80 freiwilligen Militärdienst im 17. Infanterie- nächtlichen Lärmens mit wechselseitigen Regiment in Wesel ab.13 Er immatrikulierte Beleidigungen zwei Tage Karzer sowie sich am 9. November 1835 an der Philoso- ungebührlichen Benehmens auf einem phischen Fakultät der Universität Bonn für Tanzboden einen Verweis erhielt. „Einer Mathematik und Naturwissenschaften. Er Teilnahme an verbotener Verbindung unter hörte neben den naturwissenschaftlichen Studirenden ist“ Veenliet „nicht verdächtig Professoren Nöggerath, Argelander, von geworden“. In seiner Exmatrikulationsakte, Münchow, Goldfuss, Plücker, Bischof und in der zwei Versionen seines Abgangszeug- Treviranus auch Vorlesungen bei Friedrich nisses vom 23. März 1838 (!) vorhanden van Calker und Immanuel Hermann Fichte sind, heißt es nur in der einen weiter: „als (Philosophie), Johann Wilhelm Loebell daß bei einer noch anhängigen Untersu- (mittelalterliche und neueste Geschichte), chung wegen einer, gegen einen anderen Karl Dietrich Hüllmann (Alte Geschichte), Studirenden angeblich ausgesprochenen August Wilhelm Schlegel (Geschichte der Verrufs Erklärung Indicien von der mög- neueren deutschen Literatur), Franz Ritter lichen Existenz verbotener Verbindungen und Heinrich Düntzer (Altphilologie) so- sich ergeben haben und er dabei impliciert wie Carl Friedrich Nasse (Anthropologie) seyn soll.“14 Anschließend arbeitete er als und wurde am 2. September 1839 exma- Probekandidat an der höheren Bürgerschu- trikuliert. le in Aachen sowie 1840/41 an der Bür- gerschule Rheydt und erhielt anschließend Auf der letzten Seite des Abgangszeug- keine feste Anstellung.15 Er fasste deshalb nisses ist „Hinsichtlich seines Verhaltens“ im Mai 1841 den Entschluss, es nicht wei- vermerkt, dass er wegen eines vollzoge- ter als Lehrer zu versuchen, sondern fort- nen Duells eine dreiwöchige Karzerstrafe, an im Geschäft seines Vaters zu arbeiten,

Bonn von Beuel aus gesehen.

81 der ihm am 29. September 1848 sein Erbe nehmen, dass diese entweder konisziert übertrug.16 oder aber vorsorglich vernichtet wurden. Am 29. Juli 1841, keine drei Monate nach Veenliet gehörte zu den zahlreichen We- dem Tod der Mutter, heiratete Friedrich selern, die 1845 die Petition an den Rheini- Veenliet in Dinslaken seine Cousine - Ca schen Provinziallandtag um Emanzipierung roline Anna Aletta Kremer (geb. Dinslaken der Juden unterschrieb. 24 Er saß 1847/48 25. Februar 1814), Tochter seines Patenon- als einer von 30 Weseler Gemeindeverord- kels Diedrich Kremer und der Schwester neten im Gemeinderat und war demnach seiner Mutter, Aletta Wenz.17 in seiner Heimatstadt wohlbekannt.25 Das Paar hatte insgesamt acht Kinder, von Im März 1848 ielen Veenliet und eine denen fünf in Wesel geboren und getauft weitere Person aus Wesel der Militärbehör- wurden: de auf. Sie hatten der Kommandantur in Friedrich August Ludwig, geb. 29. Januar Wesel einen gedruckten und mit „Rhein- 1842 (Taufe 25. Februar, Paten: Fabrikant länder!“ betitelten Aufruf zugestellt, den sie Johann Friedrich Veenlieth/Wesel, Refe- angeblich per Couvert aus Brüssel erhalten rendar Carl Friedrich Theodor Heyermann/ hatten. Im Flugblatt wurden die preußi- Barmen18, Elementarlehrer August Kremer/ schen Rheinländer aufgefordert, den Kö- Odenkirchen,19 Anna Aletta Kremer geb. nig zu stürzen und eine niederrheinische Wens/Dinslaken, Louise Underberg geb. Republik zu gründen. In einem Schreiben von Ossenbruch/Wesel) des Kommandierenden Generals des VII. Diedrich Wilhelm Richard, geb. 2. August Armeekorps in Münster an den preußi- 1843 (Taufe 27. August, Paten: Kaufmann schen Kriegsminister über diesen Vorgang Diedrich Kremer, Maler Wilhelm Tetsch, wird Veenliet äußerst negativ als „Klein- Helene Steinberg geb. Kremer,20 Witwe händler“ und „verkommener Philologe“ Wilhelmine Krabbe geb. Straetmann) beschrieben, der womöglich schon früher Wilhelmine Auguste, 12. April 1845 (Tau- ins Visier der Obrigkeit geriet.26 Vielleicht fe 12. Mai, Paten: Premierleutnant August fand man Belastendes über ihn auch in von Willich, Frau Referendarin Wilhelmine den beschlagnahmten Briefen von Fried- Heyermann) rich Anneke oder Friedrich Beust.27 Bei der Johanna Gertrud Sophie Caroline, geb. 31. anderen Person handelte es sich um den Oktober 1846 (Taufe 8. Dezember, Paten: Maler Wilhelm Tetsch, einen Freund und Postsekretär Johannes Boom, Sattler Carl mutmaßlichen Gesinnungsgenossen der Craemer,21 Gertrude Kremer geb. Nünning- Familie, der bereits 1843 bei der Taufe des hoff,22 Sophie Kremer geb. Hegerhoff23) Sohnes Diedrich Wilhelm Richard als Tauf- Julie Anna, geb. 15. April 1848 (Taufe: 28. pate fungierte. Tetsch (1804–1848), ältes- Mai, Paten: Schiffer Adolph Balck, Leutnant ter Sohn des Weseler Malers Franz Tetsch Friedrich von Beust, Julie Pröbsting, Anna (1780–1816), war ledig und arbeitete von Lipka) 1835 bis zu seinem plötzlichen Tode auch als Zeichenlehrer am Weseler Gymnasi- Politische Aktivitäten und Freundeskreis um.28 Über die politischen und sozialen Aktivitä- ten Veenliets ist so gut wie nichts bekannt. Mangels Informationen von Veenliet Schriftliche Zeugnisse, etwa Briefe von selbst lässt sich seine politische Position Freunden wie August von Willich, Friedrich am ehesten anhand seines Freundeskreises von Beust oder Mathilde Franziska Anneke beschreiben, zu denen drei bekannte preu- fehlen, was angesichts der späteren Verfol- ßische Ofiziere, Friedrich Anneke, Fried- gung auch nicht verwundert. Es ist anzu- rich von Beust und August von Willich, ge-

82 Mitgliedsurkunde der „Vereinigung“ für Veenliet 1844.

83 hörten, die als Hegelianer kommunistisch auslösenden Auseinandersetzung gemein- gesinnt waren, sich schon seit Längerem sam mit Anneke und weiteren Bekannten kannten und während der Revolution von im Speiselokal des Reservebataillons in 1848/49 eine aktive Rolle im Badischen Minden zu Mittag saß.32 Im Zuge dieses und Pfälzischen Aufstand auf Seiten der Verfahrens wurden wohl auch Briefe bei Aufständischen einnahmen. Unter welchen Anneke konisziert, die 1848 im Verfahren Umständen sie sich kennengelernt haben, gegen Beust verwendet wurden.33 ist bislang nicht zu ermitteln; befreundet Anneke ging nach Köln und heiratete am 3. waren sie gewiss seit den frühen 1840er Juli 1847 in Neuwied Mathilde Franziska Jahren. Die drei Ofiziere haben zumindest Giesler, geschiedene von Tabouillot (Hid- teilweise in den 1840er Jahren in Wesel ge- dinghausen 3. April 1817–25. November dient; Anneke und Veenliet besuchten bei - 1884 Milwaukee). Diese ging nach der de das Gymnasium Dortmund, wenn auch Trennung von ihrem ersten Ehemann 1838 in unterschiedlichen Klassen und könnten nach Wesel, wo sie auch den dortigen sich in der gemeinsamen Zeit (1832–1833) „Debattier- und Leseclub“ frequentierte,34 begegnet sein. Die preußische Militärfüh- und im Jahr darauf nach Münster, wo sie rung wusste spätestens seit der Beschlag- als Schriftstellerin arbeitete. Ihren späteren nahme von Unterlagen Friedrich von Beusts Ehemann Friedrich Anneke lernte sie in über diese Beziehungen und stufte ihn als Münster kennen.35 In Köln gründete sie ein „Gesinnungsgenossen“ der drei ein.29 „kommunistisch-ästhetisches Klübbchen“ Friedrich Anneke (Dortmund 3. Januar und, nach der Verhaftung ihres Mannes, die 1818–6. Dezember 1872 Chicago) trat Neue Kölnische Zeitung, für die sowohl ihr 1834 in die preußische Armee ein, wo er Mann wie auch Friedrich Beust arbeiteten, in der 7. Artillerie-Brigade die übliche Of- sowie die „Frauen-Zeitung“. In den USA iziersausbildung durchlief. Nach Stationen war sie als Journalistin und Schriftstellerin in Köln und Münster war er von 1841 bis tätig, engagierte sich als Frauenrechtlerin, 1844 nach Wesel abkommandiert. Hier gründete nach einem fünfjährigen Aufent- gehörte er auch dem örtlichen „Debattier- halt in Europa 1865 in Milwaukee eine und Leseclub“ an.30 1844 wurde er nach Mädchenschule, die sie selbst leitete, und Minden versetzt, wo gegen ihn ein ehren- war 1869 Mitbegründerin der Wisconsin gerichtliches Verfahren sowie eine Untersu- Woman Suffrage Association.36 chung wegen Gründung eines Lesevereins In Köln war Anneke 1848 Mitgründer des und Umgangs mit Kommunisten in Gang Kölner Arbeitervereins und dessen Erster gesetzt wurde. Im Herbst 1845 diente er Sekretär. Am 3. Juli 1848 wurde er wegen wieder in Münster, wo er wegen des noch seiner Forderung nach einer demokrati- laufenden Verfahrens vom Dienst suspen- schen Republik verhaftet, wegen Hochver- diert wurde. Das Verfahren vor dem Ehren- rat angeklagt und freigesprochen. Er nahm gericht endete am 19. August 1846 mit der am 10. Mai 1849 am Sturm auf das Sieg- Entlassung Annekes aus dem Dienst – we- burger Zeughaus teil, kämpfte in der Pfalz gen seiner kommunistischen Gesinnung.31 und in Baden, konnte gemeinsam mit sei- Das Verfahren hatte Konsequenzen für ner ihn begleitenden Frau aus der Festung zahlreiche Ofiziere der 7. Artillerie-Briga- Rastatt entkommen und wanderte Ende de, die für Anneke votiert hatten und des- 1849 in die USA aus. Die Familie lebte in halb quasi strafversetzt wurden. Einer von Milwaukee und zeitweilig in New Jersey. Er ihnen war August von Willich. Zeuge An- arbeitete als Journalist, kämpfte im Sezes- nekes im Ehrengerichtsprozess war Fried- sionskrieg als Ofizier für die Nordstaaten rich von Beust, der bei der das Verfahren und lebte nach der Trennung von seiner

84 Frau (1865) als Redakteur und Arbeiter- der Garnison gegen die Düsseldorfer Bür- sekretär in Chicago.37 gerwehr verhindert hatte, loh er im No- Seit wann es Kontakte zu den Veenliets vember 1848 über Brüssel nach Paris, um gab, lässt sich nicht ermitteln. Während sich der Verhaftung wegen Hochverrats zu ihrer Zeit in Wesel waren diese noch nicht entziehen. 1849 ging er nach Baden, um verheiratet und Friedrich hielt sich auswärts an führender Stelle am Badischen Aufstand auf. Da sich Willich, Beust und Anneke teilzunehmen. Nach der Niederschlagung schon 1844 näher kannten – was ange- konnte er sich in die Schweiz retten. In sichts des gemeinsamen Garnisonsstand- Zürich wirkte er fortan als Reformpädago- ortes nicht verwundern sollte –, dürfte die ge. Auf sein Adelsprädikat verzichtete er Bekanntschaft über erstere gelaufen sein.38 ebenso wie August (von) Willich.41 Vielleicht gehörte Veenliet aber auch dem Seit 1847 war Beust mit der Xantener Ofi- von Anneke frequentierten Weseler „De- zierstochter Anna Lipka verlobt. Diese war battier- und Leseclub“ an. die Enkelin des aus Wesel stammenden Aus den Briefen von Mathilde Franziska Hammer Rektors Gerhard Bernhard Ver- Anneke geht hervor, dass bei ihr weniger haar und Cousine von .42 Friedrich Veenliet, sondern vielmehr sei- Wie schon erwähnt, reiste Beust mit Veen- ne Frau Caroline im Vordergrund stand. liets Frau und zwei Kommunistinnen aus Von dieser besonderen Beziehung zeugt Xanten 1847 nach Köln zu den Annekes. das Porträt Mathildes, das ihre Mutter für Eigentlich wollte man nach Frankfurt wei- Caroline mitbrachte, als sie im Juli 1847 in terreisen, um dort Friedrich Veenliet ab- Wesel weilte und bei Veenliets Aufnahme zuholen. Man verpasste sich, da Veenliet fand.39 nicht Bescheid wusste und daher bis Wesel Sie ist es, die 1847 mit zwei Kommunis- fuhr und von dort nach Köln zurückkehr- tinnen aus Xanten und Friedrich von Beust te, um seinerseits seine Familie zu holen.43 Annekes in Köln aufsucht. Und ihr loben- Beust und Lipka waren am 28. Mai 1848 des Wort über die schriftstellerische Tä- Taufpaten von Veenliets Tochter Julie Anna. tigkeit ist Mathilda Anneke wichtig.40 Das August (von) Willich (Braunsberg 19. Ok- spricht für eine eigenständige, aktive Hal- tober 1810–22. Januar 1878 St. Marys, tung Carolines. Ohio) diente als Artillerie-Ofizier in Wesel. Friedrich (von) Beust (Amorbach 9. Au- Er gehörte zu den Ofizieren, die im Febru- gust 1817–6. Dezember 1899 Zürich) kam ar 1847 nach dem Prozess gegen den Ar- 1834 mit der Versetzung seines Vaters als tillerie-Ofizier Friedrich Anneke aus Wesel Major im 17. Infanterie-Regiment nach versetzt wurden. Als Konsequenz quittierte Wesel. Er trat als Ofiziersanwärter in die- er noch im selben Jahr den Dienst und ver- ses Regiment ein und wurde 1845 als Leut- zichtete fortan auf seinen Adelstitel.44 Der nant nach Minden versetzt. Die Missstände “Gemütskommunist“ Willich begann eine in der preußischen Armee, sein sozialer Ausbildung zum Zimmermann, kämpfte Einsatz sowie Untersuchungen gegen ihn, sowohl im Badischen Aufstand 1848 wie die unter anderem auch eine Beschlag- auch im Pfälzischen Aufstand 1849, in dem nahme von Papieren und Briefen nach Friedrich Engels sein Adjutant war, und loh sich zogen, veranlassten ihn, Anfang 1848 anschließend nach London. Dort trat er seinen Abschied zu nehmen. Er ging nach dem Bund der Kommunisten um Marx und Köln, übernahm die Redaktion der von Engels bei, zerstritt sich aber schon bald Franziska gegründeten „Neuen Kölnischen mit beiden. 1853 wanderte er in die USA Zeitung“ und wurde Kommandant der Köl- aus, lebte in Ohio, wo er unter anderem ner Landwehr. Nachdem diese den Auszug als Redakteur arbeitete und kämpfte im

85 Bürgerkrieg, in dem er zum Brigadegeneral jestätsbeleidigung beschuldigt, d.h. er setz- aufstieg.45 te sich vermutlich für die Einrichtung einer Freundschaftliche Beziehungen zu Veen- Republik ein.48 liet gab es schon früh, wie die am 12. Wohin sich Veenliet in Sicherheit gebracht Mai 1845 übernommene Patenschaft über hat, dürfte der Sicherheitspolizei erfah- Veenliets Tochter Wilhelmine Auguste rungsgemäß klar gewesen sein. Sollte er zeigt. zuletzt in Wesel gewesen sein, so hatte er

Steckbrief von Friedrich Veenliet.

Auswanderung nach Amerika sich gen Westen in die Niederlande ab- Wir wissen nun, mit wem Friedrich Veenliet gesetzt. Über die von Napoleon gebaute verkehrte und was diese Leute, die letztlich Chaussee nach Geldern und Venlo war alle auswanderten, gemacht haben. Was man binnen eines Tages an der Maas. Am Veenliet selbst genau vorzuwerfen war, ist Grenzübergang, in Niederdorf, lebte zu- bislang nicht bekannt. Seit dem 26. Janu- dem eine Schwester Carolines, Helene ar 1849 wurde er steckbrielich gesucht; er Steinberg, nebst Familie.49 war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in We- Nach eigenen Angaben verließ Veenliet sel, wobei nicht klar ist, ob er schon länge- noch 1848 seine Heimatstadt und ging re Zeit abwesend war oder ob er sich einer zuerst nach Lüttich.50 Seine Firma wurde drohenden Verhaftung durch Flucht entzo- am 30. Januar 1849 per Schreiben an den gen hatte. Ermittelt wurde gegen ihn wegen Oberbürgermeister Franz Luck für ihn von Hochverrats.46 Bei einer entsprechenden seiner Frau abgemeldet.51 Es war natürlich Verurteilung drohte die Todesstrafe. Unter absehbar, dass Veenliet nicht mehr zu- Hochverrat verstand man in Preußen die rückkehren und seine Familie ihm folgen Gefährdung des Königs bzw. seiner Regie- würde. Am 21. April 1849 meldete seine rung, die Veränderung der Staatsverfassung Frau sich, ihre Kinder sowie ihren Schwie- sowie die Beeinträchtigung des Staatsge- gervater aus Wesel ab. Letzterer war sehr bietes.47 Im niederländischen Justizminis- hinfällig und debil und wurde, wie in der terium wusste man im Juni 1849 Näheres Erbübertragung 1848 vertraglich verein- zum Hochverrat. Veenliet wurde der Ma- bart, vom Sohn geplegt.52

86 „Herrn Oberbürgermeister Luck, Hoch- ich künftig wohnen werde, ist noch nicht wohlgeboren hierselbst. bestimmt. Ich bitte mir gefälligst ein Attest Er. Wohlgeboren zeige ich hiermit an, daßdarüber zu ertheilen, daß ich Er Wohlge- ich mit allen den Meinigen (insbesondere bohren diese Anzeige gemacht habe. auch mit meinem Schwiegervater Fried- Wesel, den 21. April 1849 rich Veenliet) Wesel verlassen und meinen ergebenst Caroline Veenliet geb. Kremer.“53 hiesigen Wohnsitz aufgegeben habe. Wo

Abmeldung der Familie in Wesel 1849.

87 Das Schreiben ging über den Weseler matscheine“ abgelegt. Caroline Veenliet Rechtsanwalt und Notar Georg Carp an ging samt Kindern und Schwiegervater in den Weseler Oberbürgermeister. Carp hat- die Niederlande, wo ihr Mann wartete. te den Brief versehentlich geöffnet, dieses Seit dem 1. Mai 1849 war die nun vereinte mit Datum vom 23. April auf der Rückseite Familie in der zur Gemeinde Maasbree ge- vermerkt und hinzufügt: Das gewünschte hörenden Ortschaft Blerick (heute Venlo) Attest bitte ich mir gefälligst zu schicken, gemeldet.55 In Niederdorf, nur wenige Kilo- worauf ich solches weiter besorgen werde. meter entfernt, wohnte Carolines Schwes- Da Frau Veenliet nicht gegen die Gesetze ter Helene Steinberg. Friedrich bemühte gesündigt hat, so dürfte ihrem Gesuche m. sich um einen dauerhaften Aufenthalt in E. nichts entgegenstehen.54 Die Unterstrei- Blerick, mit dem Hinweis auf den dem chungen stammen wohl von Luck, der auf Tode nahen Vater, die kranke Ehefrau, fünf der Vorderseite des Briefes mit Datum 21.(!) kleine Kinder und seine niederländischen April 1849 die Anzeige bestätigt und ver- Abstammung sowie dem Versprechen, sich merkt, dass kein neuer Wohnsitz genannt politisch zu enthalten und keinen Kontakt wurde. Ihm war jedoch klar, worum es zu verdächtigen Personen aus Preußen bei dieser Anzeige ging, denn der Vorgang oder anderswo zu plegen. wurde unter „Auswanderungen und Hei-

Brief von Carolines Schwester Johanna Catharina Craemer vom 28. Juni 1849 an ihre Schwester in Blerick mit der Falschmeldung, dass Friedrich von Beust (bei Waghäusel) gefangen genommen wurde.

88 Das Herzogtum Limburg wollte ihn jedoch Wohnhaus verpachten. Letzteres vermiete- aus diplomatischen Gründen loswerden te er an den Buchbinder Wilhelm Juny und und drängte auf seinen persönlichen Ab- verkaufte es im April 1850 für 3.500 Taler zug – die Familie durfte bleiben – ins Lan- an den linken Nachbarn, den Drucker und desinnere, was Veenliet aus verständlichen Verleger August Bagel. Craemer hatte aller- Gründen nicht wollte. Sein im Juni 1849 dings ab 1850 nicht alle Gelder überwie- beim Justizministerium eingereichtes Ge- sen und dafür allerlei Gründe angeführt. such wurde abschlägig beschieden, da man Nachdem Veenliet sich bis 1853 mehrfach diplomatische Verwicklungen befürchtete, mit Auslüchten und Versprechungen ab- wenn man ihn so nah an der Grenze be- speisen lassen musste, beauftragte er am ließe.56 Ob Preußen diplomatischen Druck 16. Mai 1853 den schon erwähnten We- ausübte, ist nicht bekannt, aber, da es un- seler Rechtsanwalt und Notar Georg Carp, terrichtet war, anzunehmen. Nach dem Tod die noch ausstehenden gut 958 Taler ein- des am 3. August 1849 verstorbenen Vaters zutreiben, ohne den Schwager inanziell zu konnte Veenliet handeln.57 Er emigrierte ruinieren samt Familie via Rotterdam in die Vereinig- ten Staaten und traf im Dezember 1849 in Pionier in Michigan Detroit ein. Vorher, am 23. August, reiste Von Detroit aus erkundete Veenliet die Caroline ein letztes Mal nach Wesel und Gegend zusammen mit dem ebenfalls aus Dinslaken, um Vermögensangelegenheiten Deutschland gelohenen Carl Post. In der zu regulieren.58 Wildnis des Bezirks Saginaw, am Ufer des In Blerick lebte die Familie von ihrem in Cheboygan Creek, fanden sie einen ge- Wesel beindlichen Vermögen. Die nie- eigneten und angenehmen Platz, an dem derländischen Behörden waren darüber sie siedeln wollten. Der Städter Veenliet, informiert, denn das war eine der Vor- der es gewohnt war und es sich auch leis- aussetzungen für einen dauerhaften Auf- ten konnte, mit Kutsche, Dampfschiff und enthalt.59 Verwaltet wurde es anfangs von Eisen bahn zu reisen, zog umgehend mit der Carolines Vater Diderich Kremer, der sich gesamten Familie in den Urwald, um das um eine Verpachtung des Hauses samt Hin- Land urbar zu machen und auf dem frucht- terhäusern bemühte.60 Der Schwager Carl baren Boden Ackerbau zu betreiben. Die Craemer ließ das Inventar des Hauses über kleine Siedlung, in der sich viele deutsch- verschiedene Auktionatoren verkaufen und stämmige Siedler niederließen, erhielt den trieb alte Schulden ein.61 Namen Blumield, benannt nach dem am Kurz vor der Abreise, als Caroline ein letztes 9. November 1848 in Wien erschossenen Mal in ihre alte Heimat fuhr, wollte sie die demokratischen Politiker Robert Blum. Das Verwaltung der verbliebenen Vermögens- Leben in den Anfangsjahren war hart und reste regulieren. Die entsprechende Voll- entbehrungsreich. Man lebte in der Nach- macht sollte eigentlich auf einen Johann barschaft friedlicher Indianer in primiti- in Dinslaken ausgestellt werden. Da die- ven Blockhütten und rodete das Land. Im ser nicht greifbar war, bevollmächtigte sie Gegensatz zu Carl Post, der nach einigen ihren Schwager, den Sattler Carl Crae mer Jahren die Wildnis verließ, hielt Veenliet in Wesel.62 Dieser hatte 1849 bereits den durch. Hier wurden mit William, Alma Garten außerhalb der Stadt gekauft63 und und Ernest M. drei weitere Kinder geboren. sich um die noch ausstehenden Einnahmen Der im Frühjahr 1850 geborene William aus den öffentlichen Verkäufen gekümmert. war das erste weiße in Blumield geborene Er sollte das, was an mobilem Besitz noch Kind. Die beiden ältesten Söhne kämpften nicht veräußert war, verkaufen und das auf Seiten der Nordstaaten im Bürgerkrieg,

89 in dem der ältere 1864 iel. Sichtbarstes de zu einem der beiden Schulinspektoren Zeichen für einen Neuanfang war die Än- gewählt. Er übernahm in der Folgezeit die derung des Rufnamens. Statt Friedrich hieß verschiedensten Wahlämter in der Gemein- er nun, anglisiert, George F. de, beim Kreis und beim Staat. Er war in 1852 setzten sich die Grundbesitzer in Blumield nicht nur als Schulinspektor, son - Blumield für die Umwandlung der - Sied dern 1856, 1858 und 1870 auch je ein Jahr lung in eine eigene Gemeinde ein. als Verwaltungsbeamter und 1854, 1865 Dem Antrag wurde am 9. Februar 1853 und 1869 als Friedensrichter tätig.64 Er war stattgegeben. Bei der anschließenden Wahl erster Postmeister der 1866 eingerichteten saß Veenliet im Wahlausschuss und wur- Poststelle und versah diesen Dienst auch

Veenliets Besitz – vier gekennzeichnete Parzellen – in Blum- ield 1877 (Ausschnitt aus dem Parzellie- rungsplan, Maßstab ca. 1:43000).

90 noch im Ruhestand.65 Wie in Wesel auch, ihn in dem eigentlich demokratisch domi- wo er seit 1844 Mitglied der „Vereinigung“ nierten Bezirk Saginaw für die Republika- war,66 engagierte er sich auch in Amerika ner in das Parlament von Michigan. privat, indem er Mitglied bei den Freimau- 1860 war er Delegierter bei dem Nominie- rern wurde. rungsparteitag der Republikaner in Chica- Während des Bürgerkriegs war Veenliet go, auf dem Abraham Lincoln zum Präsi- zwei Jahre Bezirksgrundbuchbeamter (re- dentschaftskandidaten bestimmt wurde. gister of deeds) und wurde 1878 zum Be- Es gab in Blumield einen zweiten Wese- zirkskämmerer gewählt; dieses Amt übte er laner, der im Frühjahr 1849 auswanderte sechs Jahre, also drei Wahlperioden lang, und im Laufe des Jahres 1850 von New aus. Jersey nach Saginaw County kam und sich Vom Gouverneur wurde er 1860 für zwei in Blumield niederließ: Bernhard Heinrich Jahre zum Einwanderungsbeauftragten mit Haack (Haak). Dieser wurde am 6. August Sitz in Detroit berufen. 1878 wählte man 1819 in Wesel als Sohn eines Stellmachers

Die Eheleute Caroline und George F. Veenliet.

91 geboren und ergriff ebenfalls diesen Beruf. Farmers, eines Bauern, dem eines Lehrers, 1853 wurde er zum ersten Verwaltungsbe- Fabrikanten oder Kaufmanns vor, engagier- amten gewählt und nahm in der Folgezeit te sich aber weiterhin gesellschaftlich und wie Veenliet auch zahlreiche Wahlämter politisch und brachte es zu einem gewissen wahr.67 Wohlstand. Die Abgeschiedenheit seines Wohnsitzes, den er im Mai 1853 noch „Cheboygaene“ und nicht etwa Blumield nannte, lässt sei- Anmerkungen: ne Einleitung samt Begründung für einen 1 Walter Stempel, Das Jahr ‚1848‘ in Wesel, in: Schwarz- nicht zu ausführlichen Bericht an seinen Rot-Gold. Die Deutsche Revolution 1848/49 und der untere Niederrhein, hrsg. von Jörg Becker und Karl- Notar erahnen: „Da heute Posttag ist und Heinz Tekath, Goch 1998, S. 70–77, hier S. 70 und 77. ich den Brief noch heute ca. 8 Meilen weit 2 Zu Bischoff vgl. auch Irmgard Hantsche, Ein facetten- auf die Post-Ofice bringen lassen muß, so reicher Gymnasialdirektor: Ludwig Bischoff in Wesel 68 1823–1849, in: Historische Vereinigung Wesel e.V. will ich mich bemühen …“ (Hrsg.), Wesel und der untere Niederrhein. Beiträge zur George F. Veenliet setzte sich 1885 zur Rheinischen Geschichte, Wesel 2009, S. 105–134. Ruhe und verkaufte den größten Teil seiner 3 Stempel (wie Anm. 1), S. 72–75. 4 Erhard Kiehnbaum, „Bleib gesund, mein liebster Sohn etwa 170 Hektar großen Farm und behielt Fritz …“. Mathilde Franziska Annekes Brief an Friedrich nur eine kleine Fläche rund um sein Wohn- Hammacher 1846–1849 (Berliner Verein zur Förderung haus am Cheboyganing Creek, in dem die der MEGA-Edition e.V. Wissenschaftliche Mitteilungen 69 H. 4), Berlin 2004, bes. S. 65 Anm. 135. Familie weiterhin lebte. 5 Der Familienname wird auch Veenvliet geschrieben, Er starb dort am 29. März 1896 und wurde bisweilen mit einem -h- am Wortende. am 2. April beerdigt.70 Seine Frau überleb- 6 Die zivile Ehe wurde am Tag zuvor geschlossen; vgl. Landesarchiv NRW Abt: Rheinland, Zivilstandsregister te in um fünf Jahre und starb am 20. April Wesel, Heiraten 1809 Nr. 14. 1901.71 7 Vgl. dazu die Kirchenbücher von Willibrord bzw. der Es ist nicht bekannt, ob er in den Vereinig- Evangelischen Gemeinde Wesel (ab 1818) im Evangeli- schen Kirchenarchiv Wesel. ten Staaten noch Kontakte zu seinen alten 8 Stadtarchiv Wesel A1/79,2, fol. 88v, fol. 131v (Her- politischen Freunden hatte, von denen ja kunft, vermutlich Grafschaft Zutphen; laut G. F. Veenliet stammte die Familie aus Veen bei Utrecht), die Annekes und Willich in Amerika tätig A1/200,1, fol. 101v; Angela Giebmeyer, Gewerbe und waren. Am ehesten sind noch Beziehun- Militär in der Garnisons- und Festungsstadt Wesel im gen zu Friedrich (Chas) Heyermann, einem 18. Jahrhundert, in: Dietrich Ebeling (Hrsg.), Aufbruch in eine neue Zeit. Gewerbe, Staat und Unternehmer Patenonkel des ältesten Sohnes Friedrich in den Rheinlanden des 18. Jahrhunderts (Der Riss im (Fred. A.) zu vermuten, der sich 1853- un Himmel, 8), Köln 2000, S. 220–260, hier S. 247 f.; Her- weit von Detroit in Wayne niederließ und mann Kleinholz, Das Militärkirchenbuch des preußi- schen Infanterie-Regiments Kurfürst von Hessen-Kassel zu dem er noch 1852 in brielichem Kon- Nr. 45. Heiraten und Dimissionen 1743–1806 (Mittei- takt stand, sowie zur Familie seiner Frau und lungen aus dem Schloßarchiv Diersfordt und vom Nie- Freunden in Wesel wie Julchen Pröbsting. 72 derrhein, Beiheft XI), Wesel 1999, S. 20. 9 Vgl. die Geburtsurkunden der beiden ersten Kinder Möglicherweise zog Veenliet mit der Aus- (Fischmarkt) und Heinz Unsenos, Die Aufnahmeliste wanderung einen Schlussstrich unter seine der Bevölkerung in der Stadt Wesel und deren Bezirk deutsche Vergangenheit, um in der neuen im Jahre 1812, unter Mitarbeit von Dirk Unsenos, Josef Köllmann, Horst Schroeder und Viktor Fendel (Mittei- Heimat völlig neu und unbelastet zu be- lungen aus dem Schloßarchiv Diersfordt und vom Nie- ginnen. Er unterschied sich von all seinen derrhein, Beiheft 24), Wesel 2007, 3099. Freunden durch den radikalen Schnitt, den 10 Stadtarchiv Wesel A1/62,31, fol. 128v. Einwohnerauf- nahme in Wesel 1840, 1843, 1846, 1849, 1852, 1855, er im Gegensatz zu ihnen mit dem Wechsel 1858, 1861, 1864 inklusive der heutigen Ortsteile Feld- von der Alten in die Neue Welt vollzog. Er mark, Fusternberg und Schepersfeld und für die Jahre ging als Städter nicht wieder in eine Stadt, 1840 bis 1848 auch Obrighoven und Lackhausen, hrsg. vom Stadtarchiv Wesel (Repertorien der Stadt Wesel 10) sondern ganz bewusst zu einem Neuan- [DVD], Wesel 2013, 1840, S. 100 f. Vgl. auch Erhard fang in die Wildnis. Er zog das Leben eines Kiehnbaum, „Wäre ich auch zufällig ein Millionär

92 geworden, meine Gesinnungen und Überzeugungen 27 Kiehnbaum (wie Anm. 10), S. 109 f.; Kühn (wie würden dadurch nicht gelitten haben …“. Friedrich Anm. 26), S. 175. Annekes Briefe an Friedrich Hammacher 1846–1859 28 Adolf Kleine, Geschichte des Weseler Gymnasiums (Nachrichten aus dem Engels-Haus, H. 11), Neustadt/ von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Wesel 1882, Aisch 1998, S. 108. Anhang, S. 39; Werner Arand, Schätze im Verborgenen. 11 Nachlass Veenliet, Akte 02, Dok. 3–5 und 7–8. Städtisches Museum Wesel. Auswahl aus den Bestän- 12 Nachlass Veenliet, Akte 02, Dok. 2 (Entlassungszeug- den (Bestandskataloge des Städtischen Museums Wesel nis Nr. II [= bedingte Tüchtigkeit]; Stadtarchiv Dort- 1), Wesel 1994, S. 101. mund 7, 206, Nr. 890. Freundliche Mitteilung von Ute 29 Kühn (wie Anm. 26), S. 175. Pradler, Stadtarchiv Dortmund. 30 Stempel (wie Anm. 1), S. 74. 13 Nachlass Veenliet, Akte 02, Dok. 10 (Urlaubspass vom 31 Kiehnbaum (wie Anm. 10), S. VIII–XVII (Biographie); IR 17 nach Dortmund). Fritz Anneke, Ein ehrengerichtlicher Prozeß, Leip- 14 Nachlass Veenliet, Akte 02, Dok. 13; Universitätsar- zig 1846 (http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/ chiv Bonn, Exmatrikulationsakte F. Veenliet. 2038410/1/LOG_0000/). Im Sommer 1846 hielt sich 15 Don C. Henderson, The Red Book for the thirtieth legis- Anneke auch in Wesel auf, wo er sistiert wurde; vgl. lature of the state of Michigan, Lansing 1879, S. 571; Paulgerhard Lohmann, Die Großfamilie Lohmann. Portrait and biographical record of Saginaw and Bay Briefe – Stammbaum – Wappen, Norderstedt 2011, S. Counties, Michigan, containing biographical sketches 22 f. of prominent and representative citizens, together with 32 Anneke (wie Anm. 31), S. 12 f. August von Willich, Im biographies of all the governors of the state, and of the preußischen Heere! Ein Disciplinarverfahren gegen presidents of the United States, Chicago 1892, S. 998. den Premier-Leutnant von Willich, Kompanie-Kom- Für Aachen gibt es keinen Nachweis (frdl. Mitteilung mandeur in der Königl. Preuß. 7. Artillerie-Brigade, als Angelika Pauels/Stadtarchiv Aachen). Josef Graf, Fest- Folge des durch den Prozess „Anneke“ in dieser Briga- schrift aus Anlass des hundertjährigen Bestehens der de herbeigeführten Vorgänge, Mannheim 1848 [books. Höheren Knabenschule in Rheydt. Städtische Oberre- google]), S. 18 f. alschule und Gymnasium Rheydt (Rhld.) 1827/1927, 33 Kiehnbaum (wie Anm. 10), S. 108. Rheydt 1927, S. 20 (Freundliche Mitteilung Marion 34 Stempel (wie Anm. 1), S. 74 f.; Monica Klaus, Johanna Ewald/Stadtarchiv Mönchengladbach). Nachlass Veen- Kinkel. Romantik und Revolution, Köln/Weimar/Wien liet, Akte 02, Dok. 16, Akte 04, Dok. 10–12, 14 (Absa- 2008, S. 162. ge 20. Nov. 1840), 15, 19, 23. 35 Kiehnbaum (wie Anm. 4), S. 9 ff. 16 Nachlass Veenliet, Binder 3, Dok. 40 und Akte 01, 36 Susanne Kill: Mathilde Franziska Anneke. Die Vernunft Dok. 12. gebietet uns frei zu sein, in: Die 48-er. Lebensbilder aus 17 Vgl. http://www.familysearch.org (Zugriff 10.03.2015). der deutschen Revolution 1848/49, hrsg. von Sabine 18 Geboren am 16. Juni 1809 in Radevormwald als Sohn Freitag, München 1998, S. 214–244; Klaus Schmidt, von Friedrich Heyermann und Dorothea Fridrica Litthau- Mathilde Franziska und Fritz Anneke – Aus der Pionier- er, gab 1852 seine Stelle als Auscultator am Landgericht zeit von Demokratie und Frauenbewegung, Köln 1999. Elberfeld auf und wanderte nach Amerika aus und ließ Kiehnbaum (wie Anm. 4), S. 9–31. sich in Wayne/Michigan nieder. (https://familysearch. 37 Ingo Fiedler: Annecke, Carl Friedrich Theodor in: Bio- org; http://us-census.mooseroots.com/l/671680110/ graphien bedeutender Dortmunder Band 3, im Auftr. Chas-Heyerman) (Zugriff 16.03.2015); Amtsblatt der des Historischen Vereins für Dortmund und die Graf- Regierung zu Düsseldorf 1852, S. 414. schaft Mark herausgegeben von Hans Bohrmann, Essen 19 Bruder Carolines. 2001, S. 11–13. 20 Schwester Carolines. 38 Erhard Kiehnbaum, Hermann Korff – Gerant der „Neue 21 Verheiratet mit Carolines Schwester Johanna Katharina. Rheinische Zeitung“. Bruch-Stücke seines Lebens, 22 Verheiratet mit Carolines Bruder Friedrich Heinrich. in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. NF 2005, S. 23 Verheiratet mit Carolines Bruder Ludwig (Elementar- 223–249 (http://www.ekiehnbaum.de/Hermann%20 schullehrer in Elberfeld und – ab 1836 – Duisburg). Korff.pdf). 24 Dieter Kastner (Bearb.), Der Rheinische Provinzialland- 39 Kiehnbaum (wie Anm. 10), S. 78. tag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 40 Kiehnbaum (wie Anm. 4), S. 62 f. und 64 (ausführlicher 1825–1845. Eine Dokumentation, 2 Teile (Rheinpro- und präziser: ders. (wie Anm. 10), S. 74 f.) vinz. Dokumente und Darstellungen zur Geschichte 41 Ludwig Julius Fränkel, Friedrich (von) Beust, in: Allge- der Rheinischen Provinzialverwaltung 2), Köln/Bonn meine Deutsche Biographie, Bd. 47, Leipzig 1903, S. 1989, hier Tl. 2, S. 896 (Friedr. Veenlieth jr.); die Wese- 754–758. ler Petition wurde von 395 (!) Einwohnern unterschrie- 42 Martin Wilhelm Roelen, Weseler Matrikel 1697 bis ben. 1819 nebst einem Aufsatz zum Kontubernium (Studi- 25 Stadtarchiv Wesel B1/1. en und Quellen zur Geschichte von Wesel 34), Wesel 26 Walter Kühn, Der junge Hermann Becker. Ein Quel- 2012, Nr. 1012. lenbeitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in 43 Wie Anm. 40. Rheinpreußen. Erster Band (Veröffentlichungen des 44 Von Willich (wie Anm. 32). West fälisch-Niederrheinischen Instituts für Zeitge- 45 Rolf Dlubek, August Willich, in: Akteure eines Um- schichtsforschung zu Dortmund, 2), Dortmund 1934, bruchs. Männer und Frauen der Revolution von S. 175. Vgl. auch Kiehnbaum (wie Anm. 4), S. 62 Anm. 1848/49, hrsg. von Helmut Bleiber, Walter Schmidt 135. und Susanne Schötz, Berlin 2003, S. 923–1003; John

93 R. Shook (Hrsg.), Dictionary of Early American Philo- 67 Stadtarchiv Wesel A1/209,13, fol. 142r; http:// sophers, New York 2012, S. 1155 f. Friedrich Engels, www.mifamilyhistory.org/saginaw/countyhistory1881/ Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: Karl blumield734.aspx (Zugriff 8. April 2015). Haack starb Marx/Friedrich Engels, Marx Engels Werke, Bd. 21, im Jahre 1890 (http://www.indagrave.com/cgi-bin/ Berlin 1975, S. 206–224, hier S. 220. Kiehnbaum (wie fg.cgi?page=gr&GRid=83171596). Anm. 4), S. 19 Anm. 44. 68 Wie Anm. 57. 46 Amtsblatt der Regierung Düsseldorf 1849, S. 72 f. 69 James Cooke Mills, History of Saginaw County Michi- 47 Allgemeines Preußisches Landrecht § 61 II 20. gan, Historical, Commercial, Biographical, profusely 48 Nationaal Archief Den Haag, Ministerie van Justitie illustrated with portraits of early pioneers, rare pictu- 5499, No. 332, [fol. 6v]; freundlicher Hinweis von Lo- res and scenes of olden times, and portraits of repre- ren Whitney. sentative citizens of today, vol. II, Saginaw 1918, S. 49 Die Schwester war Taufpatin des zweiten Kindes Ri- 328–330; Portrait and biographical record (wie Anm. chard; ihr Mann Friedrich Wilhelm Steinberg war Senf- 15), S. 998; Henderson (wie Anm. 15), S. 571. Vgl. fabrikant in Niederdorf (http://gedbas.genealogy.net/ den Parzellierungsplan Blumield Township von 1916 person/show/1018094427 [Zugriff 17.04.2015]); im (http://www.historicmapworks.com/Map/US/22082/ Nachlass Veenliet beinden sich einige Briefe Stein- Blumfield+Township/Saginaw+County+1916/Michi- bergs an die Familie Veenliet. gan/ Zugriff 05.04.2015), der Alma Veenleet als Besit- 50 Portrait and geographical Record (wie Anm. 21), S. 998. zerin ausweist. Die Bezeichnung des Bachlaufes hatte Vgl. Nachlass Veenliet, Akte 01, Dok. 18 (V. reiste im sich von Cheboygan zu Cheboyganing Creek gewan- Mai 1849 in “familie zaken“ von Blerick nach Lüttich). delt. 51 Stadtarchiv Wesel A1/62,126, fol. 96r: Ich beehre mich 70 Sterbeanzeige der örtlichen Presse (freundliche Mittei- Ihnen hierdurch anzuzeigen, daß ich mit dem 1. Febru- lung von Loren Whitney). ar d. J. das seither von mir hier betriebene Fabrik- und 71 http://www.indagrave.com/cgi-bin/ Handels-Geschäft gänzlich niederlegen werde und bit- fg.cgi?page=gr&GRid=66784954 (Zugriff 6.5.2013). te Sie ergebenst meinen Namen an gedachtem Tage in 72 Nachlass Veenliet, Akte 04, Dok 27 (Friedrich Heyer- der Gewerbesteuerrolle gefälligst zu löschen. mann) und Dok. 29 (Erwähnung von Julchen Pröbsting, p[ro] p[ersona]. Fried. Veenliet Caroline Veenliet née Patentante Julie Annas). Kremer. 52 Nationaal Archief Den Haag, Ministerie van Justitie 5499, No. 332 [fol. 4r und 5r]. Nachlass Veenliet, Akte 02, Dok. 18. 53 Stadtarchiv Wesel A1/209,13, fol. 149r. 54 Ebd., fol. 150r. 55 Nationaal Archief Den Haag, Ministerie van Justitie 5499, No. 332 [fol. 5r]. 56 Ebd. 57 Nachlass Veenliet, Akte 04, Dok 29 (Schreiben an No- tar Carp in Wesel 1853). 58 Ebd.; Henderson (wie Anm. 15), S. 571. 59 Nationaal Archief Den Haag, Ministerie van Justitie 5499, No. 332 [fol. 6v]. 60 Nachlass Veenliet, Very thick binder 02 Group, Dok. 1 bis 5. 61 Ebd., Akte 04, Dok. 20 und ebd. Dok 06 und 21. 62 Wie Anm. 57. 63 Nachlass Veenliet, Akte 04, Dok. 27. Da er nicht die gesamte Kaufsumme aufbringen konnte, wurde für die Restsumme von 200 Talern eine Zinszahlung verein- bart. 64 http://www.mifamilyhistory.org/saginaw/countyhisto- ry1881/blumield734.aspx (Zugriff 8. April 2015). 65 Walter Romig, Michigan Place Names. The History of the Founding and the Naming of More Than Five Thousand Past and Present Michigan Communities, Detroit 1973, S. 68. 66 Nachlass Veenliet, Legal Size Binder, Dok. 54. Zur „Vereinigung“ vgl. Frieder Boss/Christoph Nitrowski, Das Weseler Vereinsleben 1800–1945, in: Jutta Prieur (Hrsg.), Geschichte der Stadt Wesel, 2 Bde., Düsseldorf 1991, Bd. 2, S. 366–386, hier S. 371; Werner Köh- ler, Gesellschaft „Vereinigung“. Ein Besuchspatent ist heimgekehrt, in: Mitteilungen der Historischen Vereini- gung Wesel e.V. 140 (April 2012), S. 4–8.

94 Werner Köhler

Saatkrähen gegen den Hunger Wesel im Ersten Weltkrieg

„Bekanntgabe des Befehls Sr. Majestät des Die Grundrechte wurden eingeschränkt, Kaisers und Königs zur Mobilmachung der wobei Eingriffe in die Pressefreiheit sowie Armee.“ So heißt es unter dem 1. 8. 1914 die Postfreiheit dem Kommandierenden in der Zeittafel des Verwaltungsberichts der General in Münster vorbehalten waren. Stadt Wesel für die Jahre 1913/1924. Am 31. Juli hatte Kaiser Wilhelm II. unter Wesel zu Beginn des Krieges Gegenzeichnung durch den Reichskanzler In der Garnison- und Beamtenstadt hatte Theobald von Bethmann Hollweg für das insbesondere wegen der Festungsbestim- Deutsche Reich den Kriegszustand ausgeru- mungen eine Industrialisierung nicht statt- fen. Am 1. August wurde Russland und am inden können, wirtschaftliche Schwerpunk- 3. August auch Frankreich der Krieg erklärt. te waren Handel und Handwerk. Die Stadt Am 2. August erfolgte die Mobilmachung, war weitgehend durch das Militär geprägt. die ersten Weseler Soldaten verließen ihre Stationiert waren ganz oder mit Abteilun- Kasernen noch am selben Tag und zogen an gen das Infanterie-Regiment „Vogel von die Westfront ab. Am 10. Mai hatte Wesel Falckenstein“ (7. Westfälisches) Nr. 56 an noch unbeschwert den hundertjährigen Ge- der Esplanade/Kreuzstraße (Hauptgebäude), denktag der Räumung durch die Franzosen das Infanterie-Regiment „Herzog Ferdinand und des Wiedereinzugs preußischer Trup- von Braunschweig“ (8. Westfälisches) Nr. 57 pen gefeiert. Am 12. Juli fand die Schillfeier in der Heubergkaserne (Hauptgebäude), statt und am 27. Juli begrüßte die Stadt ihren das 1. Westfälische Feldartillerie-Regiment neuen Ehrenbürger, den Oberpräsidenten Nr. 7 in der Reitzensteinkaserne, das Cleve- der Rheinprovinz, Staatsminister Dr. Georg sche Feldartillerie-Regiment Nr. 43 an der Freiherr von Rheinbaben, und seine Gattin Fluthgrafstraße sowie das 2. Westfälische anlässlich ihrer Teilnahme an der Festfeier Feld-Artillerie-Regiment Nr. 22, welches mit des Bürger-Schützenvereins. dem Truppenübungsplatz Friedrichsfeld zur Doch ab sofort war es mit der Normalität Kommandantur gehörte. Neben der Fes- vorbei. Die Festung Wesel unterstand dem tungskommandantur gab es noch rund ein VII. Armeekorps in Münster. Nach dem Dutzend weitere Militärbehörden, darunter Gesetz über den Belagerungszustand vom das Artilleriedepot, das Festungsgefängnis, 4. Juni 1851 übernahm der Festungskom- die Fortiikation, das Garnison-Lazarett und mandant Generalmajor Knoch die vollzie- das Proviantamt, um nur einige zu nennen. hende Gewalt in der Stadt; die Verwaltung Im Verlauf des Krieges stieg die Zahl der wurde Organ des Militärbefehlshabers. Bis Militärbehörden auf 32 und die der Trup- Kriegsende folgten ihm Generalmajor Lang, penteile auf 29. Von den gut 26.000 Einwoh- Oberst Schimmelpfennig, Generalmajor nern waren etwa 6.000 Militärpersonen.1 Klip fel, Generalmajor Neven du Mont und zuletzt Oberst Ruppricht. Die Militärbe- Erste Maßnahmen hörden waren den weiterhin tätigen zivilen Etwa sechs laufende Meter Aktenbestand im Dienststellen gegenüber weisungsbefugt. Weseler Stadtarchiv2 sowie der eingangs ge-

95 nannte Verwaltungsbericht der Stadt Wesel Die Militärverwaltung schloss die Eisen- für die Jahre 1913/1926 mit dem Anhang bahnunterführung in der Nähe des Bahn- A „Wesel im Kriege“ von Pfarrer Over und hofsgebäudes und hat die Straßenbe- die Jahresberichte des Königlichen Gymna- leuchtung weitgehend abschalten lassen. siums nebst Realschule zu Wesel3 geben ei- Letzteres wurde damit begründet, dass ei- nen umfassenden Überblick über die Kriegs- gene Scheinwerfer behindert würden, aber und Nachkriegsjahre. auch feindlichen Fliegern die Orientierung Ab dem 2. August wurden alle Schulen ge- erleichtert werde. Nach den Regelungen des schlossen und durch Quartier suchende Rayon-Gesetzes sollten auf Anordnung der Soldaten und Landwehrleute genutzt; schon Kommandantur zur Bereinigung des Schuss- recht bald erfolgte aber die Umwandlung felds alle baulichen Anlagen innerhalb der in Militärlazarette, in denen überwiegend Rayons – dazu zählten neben der Zitadelle Kriegsgefangene behandelt wurden. Im vor allem die Bereiche des Rhein- und des Glacis wurden die ersten Bäume geschla- Lippeufers – beseitigt und die Bäume in den gen und die Grünanlagen durch die Verle- Glacisanlagen gefällt werden. In Abspra- gung eines Anschlussgleises quer über den che mit dem Kommandanten reiste Bürger- Kaiserplatz teilweise zerstört, um die Mobil- meister Ludwig Poppelbaum unverzüglich machung und die Verteidigung Wesels zu zum Generalkommando nach Münster, wo gewährleisten. man nach Rücksprache mit dem Kriegsmi-

96 nisterium entschied, dass es der örtlichen Kommandantur obliege, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Daraufhin wurden die ursprünglichen Anordnungen zum Teil zurückgezogen, zum Teil für den Fall eines Angriffs auf Wesel ausgesetzt; so konnte ein Abriss der Wohngebäude im Hafengebiet sowie an der Venloer und der Werftstrasse verhindert und auch die Glacisanlagen weit- gehend geschont werden. Durch den Abzug der mobilen Truppen machte sich auch in Wesel ein Mangel an Sicherheitsorganen bemerkbar. Das Militär empfahl als Aus- gleich die Aufstellung und Organisation von „Bürgerwehren“ durch die örtlichen Zivilbe- hörden. In erster Linie sollten hierzu die Mit- glieder von Krieger- und Schützenvereinen herangezogen werden. Waffen und Muni- tion waren den Infanterieeinheiten leihwei- se zu überlassen. Die Weseler Verwaltung stellte acht Hilfspolizisten ein und konnte auf sechs militärische Polizeikräfte zurück- greifen. Bei größerem Bedarf wollte man Mitglieder des Bürger-Schützen-Bataillons Bürgermeister Ludwig Poppelbaum. einsetzen, „da die Schützen militärisch or- ganisiert sind und auch Gewehre haben“.4 Vorrangig ging es aber um die Sicherstel- lung der Versorgung für den Fall einer Bela- zung der Stadtverordneten-Versammlung gerung. Nach Feststellungen der Verwaltung am 4. 8. bekannt, wobei die Beschaffungen waren bei Kriegsbeginn im Festungsgebiet mit Rücksicht auf das militärische Interesse frisches Fleisch, Kartoffeln und Gemüse in an der Geheimhaltung dieser Maßnahmen ausreichendem Maße vorhanden, sodass dem Feinde nicht bekannt werden durften vom Ankauf solcher Waren abgesehen wer- und im nichtöffentlichen Teil behandelt den konnte. Jedoch beschaffte die Stadt wurden. In dieser Sitzung beschloss die Ver- 3.200 Ztr. Getreide, 15.200 Ztr. Mehl, 45 sammlung auch, „den städtischen Beamten Ztr. Käse, 215 Ztr. Speck, 1.000 Ztr. Hülsen- und Angestellten, welche zur Fahne einbe- früchte, Nudeln und Kaffee im Gesamtwert rufen sind, das Diensteinkommen während von 346.075 Mark sowie für 7.852 Mark der Dauer des Krieges in vollem Umfange Petroleum und 300 Ztr. Kohlen. Für die weiter zu gewähren“.5 Mit zunehmender Lagerung der Lebensmittel mietet die Stadt Dauer des Krieges mussten sich die Ofizie- von dem Kaufmann Heinrich Schanzmann re jedoch ab Januar 1915 die Hälfte ihres an der Rossmühlenstraße 3 zwei Lagerräu- Kriegseinkommens anrechnen lassen. me an; die Verwaltung der Lebensmittel ob- Der Bürgermeister hatte die Sitzung u. a. mit lag dem neu gegründeten Nahrungsmittel- folgenden Worten eröffnet, die wohl den ausschuss. meisten Einwohnern aus dem Herzen spra- Die vorgenannten Maßnahmen gab Pop- chen: „Meine Herren! In ernster Zeit treten pelbaum in einer außerordentlichen Sit- wir zu einer Sitzung zusammen. (…) Wie

97 ein Aufatmen ging es durch die Nation, als Arbeitsbeschaffung für die Kriegerfrauen. der Befehl zur Mobilmachung der Armee Hier war die im Januar 1914 vom Vaterlän- bekannt wurde. Und da brach ein Sturm der dischen Frauenverein begründete Frauen- Begeisterung los, Jung und Alt, Hoch und rechtsschutzstelle gefordert. Es gelang ihr Niedrig, Arm und Reich jubelten auf in Lie- auch recht schnell, vom Bekleidungsamt be zum Vaterland. Es ist eine erhebende Er- in Münster Aufträge für die Herstellung von scheinung, daß nun aller politischer Hader Unterwäsche und einfacher Bekleidung für vergessen ist, daß alle konfessionellen Strei- die Truppe zu erhalten. Auch richtete die tigkeiten schweigen, daß alles in Eintracht Frauenrechtsschutzstelle gleich zu Beginn zu Kaiser und Reich steht, ein einig Volk von des Krieges eine Kriegskrippe und zwei Brüdern. Schwere Zeiten stehen uns bevor, Kriegskinderhorte ein. In der Krippe wurden das wissen wir, Zeiten, wie sie Deutschland regelmäßig etwa 20 Kinder im Alter bis zu kaum je erlebt hat. (…) Heiße Wünsche be- zwei Jahren versorgt, die Horte waren den gleiten Heer und Flotte in den Kampf, heiße Kleinkinderschulen angegliedert und be- Wünsche vor Allem für die Söhne unserer treuten 50 bis 60 Kinder über zwei Jahre. Stadt und unserer Garnison. Möge der all- Anfang 1916 schloss sich die Frauenrechts- mächtige Gott unserer gerechten Sache den schutzstelle mit zehn weiteren Wohlfahrts- Sieg schenken.“6 vereinen zum „Nationalen Frauendienst“ Bereits am 8. August 1914 setzte der Bürger- zusammen. Im Einzelnen handelte es sich meister Höchstpreise für Mehl, Hülsenfrüch- um die Agnes-Stiftung, den Elisabeth-Verein, te, Margarine, Bratwurst und Brot fest. Die den vaterländischen, den evangelischen, Polizeibeamten waren angewiesen, auf die den katholischen sowie den israelitischen strenge Durchführung dieser Regelungen Frauen-Verein, den katholischen Fürsorge- zu achten und auch die Bürgerschaft sollte Verein, den katholischen Mädchenschutz- Zuwiderhandlungen zur Anzeige bringen. Verein, die Heimarbeit-Vermittlungsstelle Mit Schreiben vom 19. August 1914 erklär- und die Frauen-Berufsberatungsstelle. te sich die Walzenmühle Johann Kampen, Wie bereits eingangs gesagt, konnte das welche unmittelbar nach Kriegsbeginn be- Mili tär u.a. die Postfreiheit einschränken. reits das o. g. Getreide und die überwiegen- Laut Schreiben des VII. Armeekorps vom de Menge des Mehls geliefert hatte, bereit, 11. November 1914 hatte der Bürgermeis- während der Kriegszeit und bei einer etwa- ter drei bis sechs Herren zu benennen, die igen Einschließung ihr gesamtes Mehl und das Amt eines Vertrauensmannes in einer Getreide der Stadt zum Tagespreis zur Ver- Kommission zur Überwachung verdächtiger fügung zu stellen. Der Bürgermeister nahm Briefe bei der Postbehörde unter dem Vor- das Angebot gern an. sitz eines Ofiziers übernehmen sollten. ürF In einer weiteren Sitzung der Stadtverordne- den „Dienst im Interesse des Vaterlandes“ ten-Versammlung am 21. August berichtete an einem Vor- oder Nachmittag gab es ein der Bürgermeister über die Organisation der Tagegeld in Höhe von sechs Mark. Es fanden hiesigen „Liebestätigkeit“ während des Krie- sich jedoch nur vier Interessenten, davon ges. So sorgte zunächst der Anfang August drei Rentner. Ab dem 1. Dezember 1914 1914 gegründete Ortsausschuss vom Roten durften Briefe in Wesel nur noch offen ein- Kreuz unter dem Vorsitz des Gymnasialdi- geliefert werden, sie mussten in deutscher rektors Prof. Dr. Marcks für die Unterbrin- oder holländischer Sprache verfasst sein. gung und Verplegung der Verwundeten. Verboten waren Mitteilungen über Rüstung, Das Hauptaugenmerk richtete sich auf die Truppen- oder Schiffsbewegungen und an- ausreichende Fürsorge für die Angehöri- dere militärische Maßnahmen. Einschreibe- gen der Krieger. Weiteres Thema war die briefe wurden nach Prüfung durch die Über-

98 Siegelmarken Weseler Behörden. wachungskommission in Gegenwart des Personalprobleme bei Stadtverwaltung Abliefernden verschlossen. Pakete durften und Militär keine brielichen Mitteilungen enthalten; sie Bereits Ende August 1914 ersuchte der In- wurden stichprobenweise geöffnet und bei nenminister auf Bitten des Kriegsministers Zuwiderhandlungen als spionageverdächtig die nachgeordneten Behörden, eigentlich beschlagnahmt. Ausnahmen gab es nur für nicht mehr dienstplichtige Unterofiziere Sendungen der Militär-, Reichs- und sonsti- und Ofiziere üfr den Kriegsdienst freizustel- gen Behörden, die mit einem Dienstsiegel len. Diese sollten vorrangig zur Ausbildung verschlossen waren. von Rekruten für neu aufzustellende For- Auch der Fernsprechverkehr war einge- mationen eingesetzt werden. An ihrer Stelle schränkt. Selbst der Bürgermeister musste am empfahl man den abgebenden Behörden 29. Mai 1916 beantragen, den Anschluss in z. B., auf pensionierte Beamte zurückzu- seiner Dienstwohnung am Herzogenring 16 greifen. Eine gewisse Schlitzohrigkeit Pop- für Ferngespräche zuzulassen. Dass der An- pelbaums, mit 28 Jahren von 1903 bis 1931 schluss im Interesse des Dienstes erfolgt sei, der Bürgermeister mit der längsten Amtszeit, gehe daraus hervor, dass die Stadt die Zah- zeigt dessen Aktenvermerk über mehrere lung der Anschlusskosten und der Gebühren städtische Bedienstete, die grundsätzlich übernommen habe, war seine Begründung. zum Wiedereintritt in das Heer bereit wa-

99 ren. Er prüfte sorgfältig, lieferte aber sogleich ren zur Fahne einberufen worden. Das hatte auch die Begründung, warum eine erneute zur Folge, dass mehrere Gewerbetreibende militärische Verwendung eher nicht in Frage ihre Betriebe einstellen oder einschränken kam. Ein früherer Regimentsschreiber sowie mussten, was aber auch zu Entlassungen ein Trompeter hielten sich zur Ausbildung führte. Nach ersten Erfolgen der Truppen in von Rekruten nicht für geeignet, ein anderer Belgien gewann man volles Vertrauen zur war als Betriebsleiter der städtischen Werft Heeresleitung und die Hoffnung auf einen unabkömmlich. Als frühere Ofiziere nannte endgültigen Sieg. der Bürgermeister den Schlachthofdirektor Ein Ansturm auf die Städtische Sparkasse Stier und sich selbst. Als Leiter des städti- und die Lebensmittelgeschäfte hatte nicht schen Schlachthofs und der Kriegsschläch- stattgefunden. Nur unmittelbar nach Kriegs- terei sei Stier nur dann abkömmlich, wenn beginn war es zu größeren Rückzahlungen ein geeigneter Ersatz gefunden werden kön- und Einkäufen gekommen. Zu den Spar- ne. Sich selbst bezeichnete er „mit Rück- einlagen kann man lesen, dass diese im sicht auf die wichtigen Dienstgeschäfte, die Zeitraum August bis November 1914 mit durch den starken Garnisonort und durch 1.680.342 Mark gegenüber 898.861 Mark die Festung hervorgerufen wurden“, natür- im Vorjahreszeitraum sogar deutlich gestie- lich ebenfalls als unabkömmlich. gen waren. Es wurde jedoch festgestellt, dass Zugleich ging es aber auch um die Zurück- ein Teil der Bevölkerung Hartgeld, insbeson- stellung städtischer Beamter und Angestell- dere Goldmünzen, lieber nahm als Papier- ter von einer möglichen Einberufung zum geld. Vom Wegfall der Exporte ins Ausland Landsturm. Zehn Kandidaten meldete Pop- waren die Steingutfabrik Alfred Johnson – pelbaum dem Königlichen Bezirkskomman- später Keramag – und der Klavierfabrikant do als unabkömmlich. Darunter Trichinen- Gerhard Adam betroffen. Beide Betriebe beschauer, Maschinisten des Wasserwerks, sind bei Ausbruch des Krieges fast vollstän- Beschäftigte beim Gaswerk sowie bei der dig eingestellt worden. Da die nicht einbe- Rheinwerft und der Kläranlage. Geschickt rufenen Arbeiter dieser Fabriken anderweitig vermerkte er, dass auch die Militärverwal- Arbeit gefunden hatten und sich die Besitzer tung ein erhebliches Interesse an der Auf- in guten Vermögensverhältnissen befanden, rechterhaltung der genannten städtischen ist die Unterbindung der Ausfuhr als weni- Betriebe habe. Aber auch in zahlreichen ger drückend empfunden worden. Dagegen Einzelfällen versuchte Poppelbaum durch hatte sich die Unterbindung der Einfuhr, Eingaben bis hin zum stellvertretenden namentlich bei Petroleum, unangenehm Generalkommando des VII. Armeekorps fühlbar gemacht. Zum Ausgleich hatte die in Münster, Einberufungen zu verhindern. Stadt die bei Kriegsbeginn gekauften Vorräte Durch die „Entblößung von geschulten Kräf- teilweise an die Bürgerschaft abgegeben. ten“ seien weitere Abgänge zur Aufrecht- In der Landwirtschaft wurde über hohe erhaltung eines einigermaßen geordneten Preise für Futtermittel geklagt, weil diese im Dienstbetriebes nicht zu verkraften. Und zu Vergleich zu Friedenszeiten deutlich gestie- tun gab es genug. gen waren, so z.B. für Hafer von 15 Mark auf 26 Mark und für Heu von 5 Mark auf 9 Mark Die Lage nach Kriegsausbruch für jeweils 100 kg. Von den in Wesel gehal- Einen anschaulichen Überblick über „die tenen Pferden mussten rund 20 Prozent an Einwirkung des Krieges auf das Wirtschafts- das Militär abgestellt werden – laut einer leben innerhalb der Stadt Wesel“ vermittelt Aufstellung über die Abgabe von Hafer vom ein Bericht vom 1. Dezember 1914 an den 8. Januar 1916 sind 83 Halter mit 189 Pfer- Landrat. Etwa 2.000 bis 2.200 Personen wa- den verzeichnet. Bei der Herbstbestellung

100 der Felder gab es keine Probleme, Rindvieh- Insbesondere mit Rücksicht auf den starken und Schweinebestände waren unverändert, Fremdenverkehr sollten die Ausschankzei- die Verhältnisse des Gemüseanbaus wurden ten nach dem Willen des Rates an Sonn- und sogar als günstig bezeichnet. Auch die Situ- Feiertagen auf 23 Uhr verlängert werden, in ation des Handels sowie der Handwerksbe- anderen Städten sei die Polizeistunde bereits triebe bewertete der Bericht im Allgemeinen bis 24 bzw. 1 Uhr ausgedehnt worden. Der als günstig bis recht gut. Diese Bereiche pro- Bürgermeister gab zu bedenken, dass die itierten von Aufträgen der Militärverwaltung Militärverwaltung genug Mittel und Wege oder, wie Bäcker, Metzger und Friseure von habe, mögliche Alkoholprobleme der Trup- hohen Truppenansammlungen sowie einem pe zu lösen, keinesfalls sollte diese auf dem starken Fremdenzuluss; so seien „im Monat Rücken der patriotischen und opferfreudi- August vielfach täglich über 50.000 Fremde gen Zivilbevölkerung geschehen. hier gewesen“.7 Bei einem Teil der Fremden hat es sich um Flüchtlinge aus Belgien ge- Liebesgaben handelt. Dadurch hatten viele Geschäfte, War die Versorgung in der Heimat zunächst namentlich die der Lebensmittelbranche, noch gesichert, sah es für „die tapferen Krie- die Wirte, Tabak- und Zigarrenhändler, die ger im Felde“ schlecht aus; laut einem Spen- Wollwaren- und Wäschegeschäfte sowie denaufruf vom September 1914 fehlten vor diejenigen, welche Militärutensilien führten, allem Zigarren, Zigaretten und Tabak sowie lotten Absatz und guten Verdienst erzielt. wollenes Unterzeug. Die Weseler Bevöl- Das Bauhandwerk war ebenfalls stark be- kerung spendete großzügig. Die Reaktion schäftigt, wobei neben Baumaßnahmen an der Front zeigt folgender Auszug eines des Militärs Aufträge der Stadt zur Entwäs- Dankschreibens des Infanterie- Regiments serung sowie für neue Straßenbefestigungen Nr. 57 vom 29. September 1914, abge- beitrugen. Da die Kapazitäten der Weseler schickt in Condé sur Suippe: „Gerade zu Kasernen nicht ausreichten, wurden im ge- einer Zeit, in der das Regiment seit 15 Ta- samten Stadtgebiet 48 Säle und sonstige ge- gen ununterbrochen im mehr oder weniger eignete, große Räume als Massenquartiere heftigen Granat- und Schrapnelfeuer der eingerichtet und fast alle auch bis Ende des feindlichen schweren Artillerie und im sieg- Krieges beibehalten. reichen Kampfe gegen überlegene französi- Aber die große Truppenpräsenz sowie der sche Infanterie steht, erweckt die Verteilung Fremdenzuluss führten auch zu Auswüch- der Liebesgaben der lieben alten Garni- sen. Bereits am 7. August 1914 moniert der sonstadt bei unseren wackeren, durch die Bürgermeister gegenüber dem Vorsitzenden starken Verluste der letzten Tage schwer ge- des Weseler Wirtevereins, dass in mehreren prüften Leute ein besonders freudiges und Wirtschaften von zum Heeresdienst einbe- dankbares Empinden, zumal da gleichzei- rufenen Mannschaften überhöhte Preise tig mit diesen Liebesgaben aus der Heimat gefordert wurden. Drei Wirtschaften hatte neue lebensfrohe Kameraden eintrafen, die Kommandantur bereits wegen Über- um die schmerzlichen Lücken unseres Re- vorteilung von Einberufenen geschlossen. giments wieder zu schließen.“8 Ähnliche Auch Poppelbaum kündigte ein strenges Dankschreiben erhielt der Bürgermeister Vorgehen an. Andererseits litten die Weseler auch von anderen Einheiten und einzelnen Gastronomen unter rigiden Regelungen der Soldaten. Dutzende Ansichtskarten, teilwei- Polizeistunde. Diese war von der Komman- se mit Skizzen der Stellungen, zeugen von dantur auf 21 Uhr festgesetzt worden, wohl einer engen Verbundenheit mit der Heimat. auch, um die Soldaten vom übermäßigen Geradezu grotesk endeten Bemühungen Genuss alkoholischer Getränke abzuhalten. des Bürgermeisters, auch bei den Weseler

101 Wirten für den Ankauf von Liebesgaben zu re 900 Pakete erhielten Verwundete in den sammeln. Seinem Vorschlag, in den Gast- Weseler Lazaretten und Krankenhäusern. stätten Sammelbüchsen aufzustellen, hatte Der Gesamtwert betrug 16.000 Mark, wo- der Weseler Wirteverein mit Schreiben vom von die Weseler Regimenter 5.800 Mark in 10. Oktober 1914 zugestimmt und eine Lis- bar erhalten hatten, um erneut bedarfsge- te mit 51 Mitgliedern beigefügt, die sich be- recht in hiesigen Geschäften einzukaufen. teiligen wollten. Am 27. Oktober teilte Pop- Eine ähnliche Aktion gab es auch im Jahr pelbaum dem Verein dann mit, dass er seine 1917. Absicht wegen der mit der Anschaffung der Büchsen verbundenen hohen Kosten aufge- Nagelung – Held Siegfried – und Spenden geben habe. Ihren Höhepunkt erlebte die Opferbereit- Der Winter 1914/15 setzte den im Felde ste- schaft der Weseler Bevölkerung im Jahr henden Truppen wohl mehr zu, als vorher- 1915. Um weitere notwendige Mittel für gesehen. Es herrschte großer Mangel an De- das Rote Kreuz und sonstige Kriegsfürsorge- cken und warmer Kleidung. Abhilfe sollte zwecke zu beschaffen, beschloss die Stadt- die „unter wärmster Billigung Ihrer Majestät verordneten-Versammlung am 3. 8. 1915, der Kaiserin“ in ganz Deutschland im Januar den 12. September 1915 zusammen mit der 1915 vom „Kriegsausschuß für warme Un- jährlichen Schillfeier als allgemeinen Opfer- terkleidung“ durchgeführte Wollwoche tag zu begehen. Am Berliner Tor sollte ein schaffen. Der Einsatz der Wohlfahrtsvereine, Adler gegen Entgelt mit eisernen, silbernen der Bezirksvorsteher und der Armenpleger oder goldenen Nägeln genagelt werden. führte mit der Sammlung von drei Waggons Bereits am 10. August trafen sich Vertreter an Kleidungsstücken und Decken zu einem der Stadt, der Vereine und der Schulen im unerwartet guten Ergebnis. Im Interesse der „Festausschuß für den Weseler Opfertag“ Allgemeinheit durften sich Haushalte, in de- und besprachen das weitere Vorgehen. Aus nen ansteckende Krankheiten herrschten, an Kostengründen entschied man, an Stelle dem „Liebeswerk“ nicht beteiligen. Beson- eines Adlers die Nagelung eines Siegfried ders hervorgehoben wurde der Einsatz des in Brustbildform vorzunehmen. Nach dem Schneidermeisters Dorando, Obermeister Entwurf des Architekten Wilhelm Zaiser aus der Schneider-Zwangsinnung. Düsseldorf ließ die Stadt ein Siegfried-Bild Auch in den Folgejahren wurden diese herstellen, welches in der örtlichen Pres- Aktivitäten insbesondere zum Ankauf von se wie folgt beschrieben wurde: „Das Bild Weihnachtsgaben fortgesetzt. Im Dezember – ein von breiten Eichenrahmen umgebe- 1915 bewilligte der Rat 8.000 Mark für die nes Relief aus Holz in farbiger Bemalung Angehörigen der vier Weseler Regimenter; – stellt Siegfried dar, wie er das Schwert die Beschaffung sollte in Weseler Geschäf- dem Drachen in’s Herz bohrt. Das Haupt ten und der Versand durch die jeweiligen des Helden trägt einen ülgelbeschwingten Einheiten erfolgen. Aber auch durch andere Goldhelm. Seine Gestalt ist mit einem gol- Aktionen sollte geholfen werden. So forder- denen Schuppenpanzer bekleidet, welcher te die Verwaltung die Bürgerschaft über die zum Teil von einem blauen Gewand be- Tagespresse auf, Ferngläser zu militärischen deckt ist, dem Sinnbild der ewigen Treue. Zwecken zu spenden. 18 Stück konnten im Der Schwertgurt zeigt die deutschen Far- September 1914 an Weseler Truppenteile ben. Zum Schutz gegen den anspringenden verteilt werden. Drachen hält die Linke einen mächtigen Auch 1916 wurden in der Vorweihnachts- Schild, geschmückt mit dem Adler, dem zeit wieder 875 Liebesgaben-Pakete an aus Symbol von Mut und Kühnheit. Der Schild Wesel stammende Krieger versandt, weite- wird von einem Bande in den Farben des

102 Rheinlandes gehalten, welches sich um den Hals des Helden schlingt. Der Drache hat vier Köpfe, durch die Deutschlands Feinde dargestellt werden. Ein Pantherkopf deutet auf das blut- und rachegierige Frankreich, der Kopf einer Bulldogge auf England, der eines schwarzen Pudels auf Serbien und Montenegro, ein Bärenkopf endlich mit weit heraushängender Zunge als Zeichen begin- nender Ermattung auf Rußland. Auf dem das Bild umgebenden Rahmen beinden sich neben dem Stadtwappen und der Zahl 1915 mehrere Inschriften, die sich auf Bedeutung und Zweck des Bildes beziehen. Das Bild einschließlich des Rahmens ist 3,20 Me- ter hoch und 1,30 Meter breit. Es stellt ein Werk von hohem künstlerischen Wert dar, welches für alle Zukunft zur Erinnerung an den Weltkrieg festgehalten wird.“9 Sechs Unterausschüsse kümmerten sich um Planung und Durchführung des Opfertages. „Beim Beginn des gewaltigen Krieges, den unser Volk nun schon länger als ein Jahr zu führen gezwungen ist, bekundet sich die er- hebende Begeisterung, welche alle Schich- ten der Bevölkerung beseelt, vor Allem auch in der bereitwilligen Darbringung von Spenden für die verschiedenen Zwecke der Kriegsfürsorge.“10 So beginnt das Flugblatt, mit dem die Weseler Bevölkerung zur Teil- nahme an dem Ereignis, der Sammlung von Liebesgaben, dem Verkauf von Gedenk- münzen, Postkarten und Fähnchen sowie der Nagelung des Holzreliefs „Held Sieg- fried in Eisen“ eingeladen, vor allem aber um die Spende größerer Geldbeträge gebe- ten wurde. Angesprochen waren insbeson- Vorbestellung goldene Nägel für 50 Mark. dere die wohlhabenderen Mitbürger sowie Ein besonderer Anreiz war als „Dokument die, denen die Kriegszeit nicht unerhebliche von hohem geschichtlichen Wert“ das ge- Gewinne gebracht hatte. Gedenkmünzen plante „Kriegsbuch“, in das sich jeder Stifter aus Kriegsmetall und Silber kamen zum eines Nagels eintragen konnte. Preis von einer bzw. fünf Mark zum Ver- Eine Weseler Zeitung berichtete im Vor- kauf, die goldenen zum Preis von 100 Mark feld wie folgt: „Opfertag – Zahltag! Möge mussten besonders bestellt werden. Für die es Wesels Ruhmestag werden! Möge man Nagelung gab es schwarze, silberne und später sagen können: Als Wesels Männer bronzene Nägel zum Preis von 50 Pfenni- draußen die Heimatstadt, Haus und Herd gen, einer und drei Mark sowie ebenfalls auf schirmten, da wetteiferten daheim hochge-

103 mut Weseler Männer und Frauen, Jünglinge tätigkeit, da waren die Herzen offen und die und Jungfrauen, ja auch die Hoffnung der – Börsen!“11 Zukunft, Wesels Kinder, in der Kriegsliebes-

Der Opfertag erbrachte schließlich folgendes Ergebnis: durch besondere Spenden kamen ein 28.049,00 M durch den Verkauf von Denkmünzen, Postkarten, Fähnchen und anderen Artikeln wurden erzielt 16.026,59 M die Nagelung des „Held Siegfried in Eisen“ erbrachte 17.904,49 M zusammen 61.980,08 M

Nach Abzug der Kosten wurden die verbleibenden 32.963,86 M wie folgt verteilt: Zweigverein vom Roten Kreuz 12.000,00 M Vaterländischer Frauenverein 6.000,00 M Weseler Verband für Armenplege und Wohltätigkeit 6.000,00 M hiesige Reserve-Lazarette 1.500,00 M Nationaler Frauendienst für Kinderhorte und Krippe 1.200,00 M Kriegsfürsorgefonds der Stadt Wesel 6.263,86 M

Das Verzeichnis der gespendeten Liebesga- halle des Rathauses, sein weiteres Schicksal ben in Form von Tabakwaren, Schreibuten- ist nicht bekannt. silien, Toiletten-Gegenständen, Wollwaren Nicht nur bei diesem denkwürdigen Ereignis und Kleidungsstücken, Esswaren sowie ver- zeigte die Weseler Bevölkerung sowie die schiedenen sonstigen Artikeln umfasst gut Stadt Wesel eine große Spendenbereitschaft. eine DIN A 4 Seite. Allein für das erste Kriegsjahr hat Over ei- Das oben genannte „Kriegsbuch“ beindet nen Betrag von 166.102,58 Mark ermittelt. sich im Stadtarchiv,12 der Siegfried fand zu- Weitere Spenden zeigt die nachstehende nächst einen würdigen Platz in der Treppen- Aulistung:

Spenden der Bevölkerung 02.1916 Kaisergeburtstagsspende 4.729,67 M 03.1916 Frauendanksammlung 15.000,00 M 07.1916 Volksspende für die deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen 12.254,34 M 07.1917 U-Bootspende 15.062,97 M 10.1917 Hindenburg-Spende 15.892,29 M 06.1918 Ludendorff-Spende für Kriegsbeschädigte 60.000,00 M 10.1918 Kolonialkrieger-Spende 14.496,82 M

Zuwendungen der Stadt Wesel 03.1916 Kostenbeihilfe für fahrbare Kriegsbüchereien 200,00 M 04.1916 Deutscher Hilfsausschuss für das Rote Kreuz in Bulgarien 500,00 M 08.1916 Österreichisch/Ungarisches Rotes Kreuz 500,00 M 01.1917 Türkischer Roter Halbmond 500,00 M 07.1917 Noten für die Garnisonskapelle (Promenadenkonzerte) 200,00 M

104 Kriegswohlfahrtsausgaben – Verband für Armenplege und Wohltätigkeit Bereits am 21. August 1914 bewilligte die Stadtverordneten-Versammlung bedürftigen Familien der zur Fahne Einberufenen neben der Unterstützung durch das Deutsche Reich Beihilfen in Höhe von 15 Mark für die Ehefrau, 21 Mark für zwei sowie 27 Mark für drei und mehr Personen. Hiervon waren an- fangs etwa 450 Familien betroffen. Bis zum Kriegsende im November 1918 beliefen sich diese Leistungen zu Lasten der Kriegskosten- kasse auf insgesamt 1.554.464,90 Mark. Daneben gab es weitere Hilfen für in Not geratene Weseler Familien. Dieser Auf- gabe widmete sich im Benehmen mit der Armen-Verwaltung der Verband für Armen- plege und Wohltätigkeit unter dem Vorsitz des Beigeordneten E. Kühler; alle örtlichen Wohltätigkeitsvereine waren dem Verband angeschlossen. 289 Familien, insbesondere Kriegerfrauen mit einem Monatseinkommen von unter 200 Mark, waren im Januar 1916 auf zusätzliche Unterstützung angewiesen, im November 1918 waren es noch 217. Bis Ende 1918 stellte die Stadt hierfür insgesamt 108.845 Mark zur Verfügung. Die Zahlun- gen wurden erst im März 1920 eingestellt.

Versorgungslage Hatte der Bürgermeister die Versorgungsla- Am 15. Oktober 1915 beschloss die Stadt- ge in dem oben angeführten Bericht an den verordneten-Versammlung die Einrichtung Landrat vom Dezember 1914 noch als gesi- einer Preisprüfungsstelle unter Vorsitz des chert angesehen, erging schon Anfang 1915 Bürgermeisters. Von dieser vorgegebene ein Aufruf an die Hausfrauen zu möglichster Preisverzeichnisse waren in den Verkaufs- Sparsamkeit im Haushalt und Ende Januar räumen des Kleinhandels mit Lebensmitteln gab es erste Einschränkungen beim Bezug auszuhängen. Ab Mitte 1916 unterlag der von Brotgetreide. Mit zahlreichen Flugblät- gesamte Lebensmittelhandel einer Geneh- tern und Broschüren versuchte man auf die migungsplicht, nachdem Bäcker und Metz- Ernährungsgewohnheiten einzuwirken. Bei- ger bereits kontrolliert wurden. Für fast alle spielhaft seinen genannt: „Die Ernährung im Bereiche der Grundversorgung erfolgten die Kriege“, „Kriegskochbuch“, „Die Entwertung Lieferungen über die Zentral-Einkaufsgesell- unserer Nahrungsmittel durch Eiweißver- schaft m.b.H. in Berlin an die Stadt. Diese geudung in der Küche“, „Die Kriegsküche“, überwies ihre Zuteilungen an Arbeiter-Ver- „Kriegskost“, „So sollt ihr leben in der Kriegs- einigungen, Konsumvereine und kleine- zeit“ oder auch „Deutsche Hausfrauen! Hel- re Ladengeschäfte, soweit sie den Verkauf fet durchhalten durch gutes Haushalten!“ nicht selbst, z. B. in der Kriegsmarkthalle an

105 der Pergamentstraße, organisierte. Ein freier Weißbrot, Zwieback und Kuchen bereitet Handel fand praktisch nicht mehr statt, da- werden; die Herstellung von Brötchen und für blühte der Schleich- und Schwarzhan- Gebäck war nicht mehr erlaubt. Diese Rege- del während des gesamten Krieges. Hierzu lungen galten auch für die Gastronomie so- heißt es in einem Bericht der Polizeiverwal- wie für Privathaushalte. Kriegsbrot bestand tung an den Bürgermeister über die Verhält- aus Roggenmehl mit 15 Prozent Anteilen nisse auf den Wochenmärkten vom 19. Juli an Kartoffelmehl oder -locken. Ab dem 15. 1918: „Von den hiesigen Kleinhändlern gibt März 1915 führte die Stadt zur Regelung es keinen, der noch nicht wegen der Über- des Verkehrs mit Brot und Mehl Brotkarten schreitung der Höchstpreise zur Anzeige ein. Diese bestanden aus unterschiedlichen gebracht ist.“13 Auch von den Hotels und Abschnitten, wobei ein Pfund Brot 350 Gaststätten wurde berichtet, dass diese nur Gramm Mehl entsprach. Je nach Anzahl der durch Schleich- und Schwarzhandel überle- Berechtigten in den einzelnen Haushalten ben konnten. gab es Karten in acht verschiedenen Farben. Im April 1917 erhielt jeder Haushalt zwei Durch die Ausgabe der Brotkarten versuch- Lebensmittelkarten, auf denen von der Aus- te man zu erreichen, dass kein Mangel an gabestelle Name, Vorname, Beruf und Woh- Brot eintrat und eine Teuerung vermieden nung des Haushaltsvorstandes sowie die werden sollte. Die Verwaltung teilte Wesel Zahl der zum Haushalt gehörigen Personen in 48 Bezirke auf. Die Bezirksvorsteher hat- einzutragen waren. Die Lebensmittelkarte I ten zunächst die in ihrem Bezirk vorhande- (grün) diente zur Vorlage bei zugelassenen nen Haushalte und die dazu gehörenden Kleinhändlern und die Lebensmittelkarte II Personen zu ermitteln und alle vier, später (rot) für Bezüge unmittelbar von der Stadt- acht Wochen neue Brotkarten auszugeben. verwaltung. Nach einer ersten Übersicht gab es in Wesel 20.457 bezugsberechtigte Zivilpersonen, Versorgung mit Getreide, Brot und Mehl diese hatten Anspruch auf täglich je 250 g 1 27 Aktenbände umfassen allein die Vor- Brot, also 3 /2 Pfund die Woche; dazu ka- gänge zur Versorgung der Bevölkerung mit men 1.401 Karten für Wirte. Getreide, Brot und Mehl. Die von der Stadt An Sommerwirtschaften und Auslugszielen bei Kriegsbeginn beschafften Vorräte waren war die Ausgabe von Brot jedoch unzuläs- bereits Ende Oktober 1914 verkauft worden. sig. Die Besucher wurden ersucht, Brot oder Im Januar 1915 versuchte die Stadt ohne Er- sonstige Backwaren zum Kaffee selbst mit- folg bei rund einem Dutzend Mühlenbetrie- zubringen, wie solches in früheren Zeiten ben im Rheinland und in Westfalen Brotge- allgemein üblich gewesen sei. treide einzukaufen; auch die Bestände der Daneben gab es im Stadtgebiet 114 Selbst- Zentral-Einkaufsgesellschaft waren geräumt. versorger, die ihren Bedarf an Brot und Mehl In einer Sitzung der Stadtverordneten-Ver- aus eigener Ernte deckten; monatlich stan- sammlung vom 5. Februar gab der Bürger- den ihnen 18 Pfund Getreide zu, die dar- meister bekannt, dass ab dem 1. 2. die Vorräte über hinausgehenden Mengen unterlagen an Brotgetreide zugunsten der Kriegsgetrei- der Beschlagnahme und mussten abgeliefert degesellschaft und von Mehl zugunsten der werden. Schwerarbeiter erhielten auf An- Kommunalverbände beschlagnahmt wor- trag eine Zusatzkarte über ein Pfund Brot den waren. Die Verbrauchsregelungen für wöchentlich, in Wesel zählten zunächst Mehl wurden einem besonderen Ausschuss nur 60 Personen zu den Begünstigten. Ende übertragen. Durch Verordnung des Kreisaus- 1916 wurde es noch komplizierter. Als schusses vom 8. Februar durften als Back- wöchentliche Zulage für sogen. Minder- waren nur noch Schwarzbrot, Kriegsbrot, schwerarbeiter gab es ein Pfund, für Schwer-

106 arbeiter zwei Pfund und für Schwerstarbeiter Schwerarbeiter, von denen alleine 2.257 – drei Pfund Brot. Ferner hatten Jugendliche meist Frauen – im Artilleriedepot beschäftigt im Alter von 12 bis 17 Jahren Anspruch auf waren, und weitere 908 Beschäftigte bei eine Zulage von einem Pfund und schwan- Bahn und Post, dazu kamen 122 Minder- gere Frauen in der zweiten Hälfte der schwerarbeiter. Behörden und Unternehmer Schwangerschaft erhielten eine Zulage von verhielten sich offenbar immer großzügiger zwei Pfund Brot. Aber auch für das Gefäng- bei der Ausstellung der erforderlichen Ar- nis und die Versorgung der beiden Kranken- beitsbescheinigungen. So kamen beispiels- häuser war die Stadt zuständig. weise ein Weseler Gerichtsvollzieher und Im April 1917 verringerte sich die Wochen- ein Schuldiener des Gymnasiums in den ration vorübergehend auf drei Pfund, auch Genuss der Zulagen für Schwerarbeiter. die Zulagen, mit Ausnahme der für hoffen- Weil die Mehlversorgung nicht mehr ge- de Frauen, wurden um jeweils 250 Gramm währleistet werden konnte, empfahl die gekürzt. Dagegen stieg die Zahl der zula- Rohstoff-Studien- und Verwertungs-Gesell- geberechtigten Personen stetig. Ende 1917 schaft m.b.H. in Berlin im Frühjahr 1917, waren es 355 Schwerstarbeiter und 3.421 zunächst das Mehl durch die Verwendung

107 von Lindenknospen zu strecken. Backversu- stellte diese dann Mehlausgabelisten sowie che unter Zusatz von 10 Teilen Zusatzmehl, Nachweisungen der den Bäckereien zuge- bestehend aus getrockneten und gemahle- teilten Mehlmengen zur Vorlage beim Kreis. nen Blattknospen, stießen wegen der zähen Ferner gab es Kundenlisten der Mehl- und Struktur des Teiges, der grünlichen Farbe so- Brotverkaufsstellen und ein Verzeichnis der wie dem Blattgeruch und -geschmack aber Selbstversorger. Für die Landwirtschaft wur- auf wenig Gegenliebe. Schließlich muss- den Verzeichnisse der Bauern über Getrei- te die Brotstreckung ab dem 1. November deanbau als Grundlage für die Ausgabe von 1917 mit Frischkartoffeln erfolgen, wobei Saatkarten erstellt und jährliche Ernteschät- die Wochenration auf vier Pfund erhöht zungen vorgenommen. Regelmäßige Mel- wurde. Auf 90 Gewichtsteile Mehl hatten dungen der Bevölkerungsbewegung an den die Bäcker 10 Teile Kartoffeln zu verwen- Kreis dienten der Kontrolle der berechtigten den, welche diese von der Reichskartoffel- Einwohner. Ab dem 15. August 1917 gab es stelle über den Kreis und die Stadt zugewie- dann in Wesel nur noch 31 Bäckereien, 13 sen bekamen. In einer vom Bürgermeister waren stillgelegt und die restlichen mit an- für den 8. November einberufenen Sitzung deren Betrieben zusammengelegt worden, mit Vertretern der verschiedenen Arbeiter- weil sie weniger als zehn Zentner Mehl in verbände kam man zu dem Ergebnis, dass der Woche verbackten. Diese Maßnahme dieses Brot als minderwertig und wenig be- war mit sämtlichen Bäcker-Innungen des kömmlich beurteilt wurde. Der Vorschlag, Regierungsbezirks abgestimmt, um Kohlen lieber die Brotmenge zu kürzen, dafür aber einzusparen. die Kartoffeln der Bevölkerung anzubieten, Trotz aller Überwachungsmaßnahmen kam kam bereits ab dem 10. November zur An- es aber offenbar zu weit verbreiteten Un- wendung. regelmäßigkeiten, teils auch durch Unkennt- Alles das musste erfasst und überwacht wer- nis der Bestimmungen. Brotkarten wurden den und so entwickelte sich eine ausufernde gestohlen, es kam zu Fälschungen und zur Bürokratie mit einem umfangreichen Mel- Erschleichung von Marken, aber auch von dewesen. Es gab Mehlverteilerstellen für Brot. So legten Kinder in mehreren Bäcke- den Regierungsbezirk sowie für die Kreise. reien bereits entwertete Brotkartenabschnit- Händler und Handelsmühlen sowie Bäcker te vor. Aus einem Lager bei der Gasanstalt und Konditoren hatten ab dem 1. Februar war Anfang 1917 ein Sack mit alten Brotkar- 1915 Veränderungen im Bestand der Mehl- ten gestohlen worden; drei Arbeiter und drei vorräte durch Verkauf bzw. Verbrauch für Schüler kamen zur Anzeige. Bereits im Ok- jeweils zehn Tage bei der Stadt Wesel an- tober 1915 gab es polizeiliche Ermittlungen zuzeigen. Die Bezugsmengen waren auf gegen den Rentner Johannes van Dornick der Basis der Abgänge in der Zeit vom 1. von der Kreuzstraße, weil er sich vier Brot- bis 15. Januar 1915 festgelegt worden. So karten für bei ihm wohnende Soldaten hatte hatte man mögliche Manipulationen aus- ausstellen lassen, obwohl diese ihr Brot aus geschlossen. 54 Händler und Handelsmüh- der Menage, der Truppenverplegung, er- len sowie 53 Bäcker und Konditoren legten hielten. ihre Anzeigen mit einer Mehlverbrauchsliste Das Verfahren wurde eingestellt, weil der und einer Mehlanforderung der Stadt vor. Vorsteher der Brotkarten-Ausgabestelle dem Die von den Brotkarten abgetrennten Ab- van Dornick eine gegenteilige Auskunft er- schnitte mussten in einer „Nachweisung der teilt hatte. Im Dezember 1916 beantragte abgelieferten Brotkartenabschnitte“ aufge- eine Weseler Hausfrau die Ausgabe neuer klebt und für neue Zuteilungen bei der Stadt Brotkarten für sieben Personen, weil sie die eingereicht werden. Für die Zuteilung er- alten Karten nach einem Streit mit ihrem

108 nem anderen Ergebnis. Wer gibt schon ohne Not einen Fehler zu? Also bezweifelte We- sel, wenn auch ohne Erfolg, das Ergebnis der Volkszählung; der Landrat kürzte die Mehl- zuweisungen an die Stadt. Als Konsequenz richtete die Verwaltung im Mai 1917 ein be- sonderes Kartenamt mit zusätzlichem Perso- nal ein, für welches im Hause Großer Markt Nr. 10 für 120 Mark monatlich neue Räume angemietet wurden. Am 16. Mai fand dann eine neue Personenbestandsaufnahme unter Verwendung von Hauslisten statt. Auf der Grundlage dieser Listen erstellte das Karten- amt sodann Stammkarten, die wiederum den Vorstehern der Brotkartenausgabestel- len übergeben wurden. Von diesen wurden sie bei der nächsten Ausgabe der Brotkar- ten an die Bezugsberechtigten ausgehän- digt und dienten so als neuer Nachweis für Lebensmittelbezüge. Also erneut ein riesi- ger Verwaltungsaufwand, genau geregelt in einer umfangreichen Dienstanweisung. Aber auch der Weseler Bürgermeister trau- te den eigenen Bediensteten und der Poli- zei nicht so ganz. Für eine Bestandsauf- nahme landwirtschaftlicher Erzeugnisse bei Landwirten, Tierhaltern, Bäckereien und Konditoreien im Februar 1917 bat er die Kommandantur um Abstellung einiger Feld- gendarmen mit der Begründung: „Es wäre sehr erwünscht, wenn mit dieser Nachprü- Mann in den Ofen geworfen und verbrannt fung ortsfremde Personen betraut werden habe. Da es ihr bereits zuvor mit einer ähn- könnten, da solchen Beauftragten, welche lichen Begründung gelungen war, neue mit Inhabern von Vorräten bekannt sind, Brotkarten zu erhalten, beauftragte der Bür- eine gewisse Befangenheit nicht abzuspre- germeister die Polizeiverwaltung mit ent- chen ist und nicht zu erwarten sein dürfte, sprechenden Ermittlungen. Aber auch bei daß die Nachprüfung mit der erforderlichen der Ausgabe der Karten ging offensichtlich Sorgfalt ausgeführt wird.“14 nicht alles mit rechten Dingen zu. Anfang Auch unter den Bäckern gab es schwarze 1917 beanstandete der Landrat, dass etwa Schafe. So hatte ein Betrieb im März 1918 2.500 Brotkarten mehr ausgegeben als laut nachweislich Brot ohne Entwertung der Volkszählung vom 1. 12. 1916 Zivilper- Brotkarten ausgegeben. Angeblich hatte sonen in der Stadt festgestellt worden waren. er Mehl aus den Niederlanden eingeführt, Vermutlich hatten sich zahlreiche Haushalte konnte dies jedoch nicht belegen. Der Land- mehr Brotkarten verschafft, als ihnen zustan- rat schloss die Bäckerei für zwei Wochen. den. Eine Überprüfung durch die Bezirks- Bei einem anderen Bäcker beschlagnahmte vorsteher führte erwartungsgemäß zu kei- ein Revisionsbeamter des Regierungspräsi-

109 denten 480 Pfund Roggen ungeklärter Her- glementiert. So betrug der Preis im Klein- kunft; dieser Betrieb musste zwei Monate handel für bessere Sorten am 30. Oktober schließen. Gegen mehr als ein Dutzend 1914 4,50 Mark für den Zentner. Größere Bäckereien sowie gegen deren Kunden Probleme traten bei der Beschaffung der liefen polizeiliche Ermittlungen, weil die- Wintervorräte auf. Grundsätzlich mussten se Brotkartenabschnitte vorzeitig eingelöst die Kommunalverbände die Kartoffelversor- hatten. gung unter Beteiligung der Reichskartoffel- Selbst die Stadt Wesel hatte Ärger mit dem stelle sicherstellen. 1.200 Zentner hatte die Landrat. Durch Gendarmen ließ dieser am Stadt auf etwa 12 Hektar urbar gemachten 12. März 1918 im städtischen Lager beim Grundstücken, u. a. am Fusternberger Fort, Gaswerk 217 Zentner Mehl beschlagnah- unter Einsatz von 40 Kriegsgefangenen aus men, welches die Stadt als Sonderzuteilung dem Lager Friedrichsfeld selber geerntet, ohne Anrechnung auf die Brotkarten zu 1.200 Zentner kaufte sie bei der Arbeiter- Ostern an die Bevölkerung verteilen woll- kolonie Lühlerheim und weitere 600 Zent- te. Nach Auffassung des Bürgermeisters war ner bei Bauern in der Umgebung. Von den dies zulässig, weil die Stadt diesen Vorrat in im Herbst 1915 im Osten beschafften 8.000 der Zeit von November 1917 bis Februar Zentnern waren fast 1.200 Zentner durch 1918 durch geringere Ausgabemengen er- Krankheiten oder durch Frost geschädigt wirtschaftet hatte. Der Regierungspräsident und konnten nur noch als Futtermittel ver- jedoch erklärte die Wegnahme des Mehls wendet werden. Die Stadt verkaufte die Kar- für rechtens, billigte der Stadt jedoch die toffeln zum Preis von 4,00 Mark/Zentner, für Zahlung einer Entschädigung zu. Für eine Familien, welche die städtische Kriegsunter- Entscheidung über deren Höhe – Stadtver- stützung erhielten, betrug der Verkaufspreis waltung und Landrat konnten sich insbe- nur 3,00 Mark/Zentner; dabei entstand ein sondere über Zinsforderungen nicht einigen Verlust in Höhe von 7.000 Mark. Verkaufs- – erklärte er sich dann für unzuständig und stellen waren am Wasserturm sowie in der verwies auf den ordentlichen Rechtsweg, Turnhalle Pergamentstraße. Die Versorgung empfahl jedoch eine gütliche Einigung. bis Mitte 1916 war gesichert. Mitte Juli 1916 Eine besondere Regelung gab es übrigens lieferte der Kreis Rees rund 5.000 Zentner für die Angehörigen der Jüdischen Gemein- Frühkartoffeln zum Preis von 11,00 Mark/ de. Diese erhielten für die acht Passah-Tage Zentner, die zum großen Teil unreif oder be- – vergleichbar dem christlichen Osterfest –, reits auf dem Transport verfault waren. Gut auch Pessach oder Pascha genannt, von einer 1.700 Zentner konnten als Speisekartoffeln zentralen Verteilerstelle sogen. Mazzos oder und etwa 1.900 Zentner nur noch als Vieh- Matzen, ungesäuerte Brotladen aus Wasser futter verkauft werden, der Rest wurde mit und Mehl, bzw. dafür bestimmtes Mehl. Die Torf vermischt und als Dünger verwendet. dadurch eingesparten Brotmarken muss- Der Verlust der Stadt Wesel belief sich auf te der Vorstand der Synagogen-Gemeinde 43.400 Mark. Im Oktober verschärfte sich unter Beifügung einer Namensliste zurück- Lage, nur rund 5.240 Zentner konnte die geben. So erfahren wir, dass die Weseler Stadt bei den Bauern der Umgebung auf- Jüdische Gemeinde im April 1916 aus 53 kaufen, im November waren es noch 3.574 Haushalten mit 192 Personen bestand. und im Dezember gerade einmal 700 Zent- ner. Laut Anweisung des Landrats erfolgten Versorgung mit Kartoffeln die Aufkäufe meistens unter Einsatz von Der Handel mit Kartoffeln wurde auf An- Polizeibeamten, wobei die Erzeuger das weisung des Kommandierenden Generals Recht hatten, bis zum 15. April 1917 je Tag 1 zunächst ebenfalls durch Höchstpreise re- 1 /2 Pfund Kartoffeln pro Kopf der Familie

110 und des Gesindes zurückzubehalten. Ab kaufen. Es fehlten rund 17.000 Zentner, um Anfang Oktober durften bis auf Weiteres die Weseler Bevölkerung mit dem Mindes- pro Woche und Kopf nur noch sieben Pfund ten zu versorgen. Dies führte dazu, dass An- Kartoffeln an die Verbraucher ausgegeben fang 1917 ein Teil der von der Bürgerschaft werden. Am 1. Dezember 1916 wurde im eingekellerten Kartoffeln gegen angemes- Reichsgesetzblatt die Beschlagnahme aller sene Bezahlung beschlagnahmt wurde, um Kohlrüben (Wruken, Bodenkohlrabi, Steck- sie der allgemeinen Versorgung zuzufüh- rüben) zu Gunsten der Kommunalverbände ren. Insgesamt 2.185 Zentner wurden von bekanntgegeben, nur den Eigenbedarf durf- Februar bis April eingezogen und umver- ten die Besitzer für sich behalten. Über die teilt, mit 8–9.000 Zentnern hatte die Stadt Verwendung der Rüben als Kartoffelstreck- ursprünglich gerechnet. Dieser Winter sollte mittel verteilte der Nationale Frauendienst in als „Steckrübenwinter“ in die Geschichte Wesel 3.000 Flugblätter mit Kochrezepten. eingehen. Ab Anfang Dezember gab es nur noch fünf Erst im Juni 1917 verbesserte sich die Ver- Pfund Kartoffeln und zusätzlich vier Pfund sorgungslage wieder. Zwar verzögerte eine Steckrüben, auch die Tagesmengen der Er- dreimonatige Trockenperiode die Ernte der zeuger wurden gekürzt. Aber selbst diese hiesigen Frühkartoffeln, aber der Kreis wies geringen Mengen konnte die Stadt nicht der Stadt 5.000 Zentner holländische Kar- beschaffen. Von Gemeinden außerhalb des toffeln zu. Aus Lieferverträgen mit hiesigen Kreises Rees gelang es, von Januar bis April Landwirten erwartete sie den Ertrag von rund 1917 nur 2.360 Zentner Kartoffeln aufzu- 96 Morgen, das waren 7.680 Zentner, dazu

111 kamen etwa 500 Zentner aus eigenem An- Zentral-Einkaufsgesellschaft in Berlin kaufte bau, auch gab es ca. 1.000 Selbstversorger. sie für 50.000 Mark Dosenkonserven. Doch Der Wochenkopfsatz der versorgungsbe- bereits im Juli 1915 mussten erste Fleisch- rechtigten Bevölkerung, das waren in Wesel und Fettvorräte an die Bevölkerung verkauft 20.837 Personen, wurde für die Herbstkar- werden. Durch Verordnung des Bundesrats toffelernte zunächst auf sieben Pfund fest- vom 28. Oktober 1915 durften an Diens- gesetzt. Während in der Periode 1916/1917 tagen und Freitagen Fleisch, Fleischwaren nur die Möglichkeit der wöchentlichen Be- und Speisen, die ganz oder teilweise aus züge bei der Stadt Wesel bestand, konnten Fleisch bestanden, nicht gewerbsmäßig an die Verbraucher jetzt gegen Bezugsscheine Verbraucher abgegeben werden. In Schank- Kartoffeln selber einkellern. Hiervon hat- und Speisewirtschaften war die Abgabe von ten etwa 16.000 Bewohner Gebrauch ge- Fleisch, Wild, Gelügel, Fisch und sonstigen macht und sich so bis Ende Juli 1918 ver- Speisen, die mit Fett oder Speck gebraten, sorgt. Neben den versorgungsberechtigten gebacken oder geschmort waren, untersagt, Einwohnern musste die Stadt aber auch sonnabends auch die Ausgabe von Schwei- durchschnittlich noch 920 Militärpersonen, neleisch. Gestattet blieb zunächst die Ver- die nicht an der Truppenverplegung teilnah- wendung von Aufschnitt auf Brot. Zuwi- men, sowie 700 Urlauber versorgen. derhandlungen waren mit Geldstrafe bis Am 1. Dezember 1917 hatte die Stadt Wesel zu 1.500 Mark oder mit Gefängnis bis zu 11.700 Zentner Kartoffeln in den frostsi- drei Monaten bedroht. Der Mangel an Fett cheren Kasematten des ehemaligen Forts machte zum 3. Juni 1916 die Einführung ei- Fustern berg und anderen angemieteten Kel- ner Seifenkarte erforderlich. lerräumen eingelagert. Der auf dem abgebildeten Belegstück ver- wendete Dienststempel der Stadt Wesel Versorgung mit Fleisch und Fett „SICILIUM CIVITÄTIS VESALIA“ Auch für die Versorgung mit Fleisch und bedarf noch besonderer Untersuchungen. Fett, die ebenfalls 27 Aktenbände des Stadt- „SIGILLUM CIVITATIS VESALIA“ archivs umfasst, richtete die Stadt Anfang wäre korrekt. 1915 einen besonderen Ausschuss ein. Der Mangel an Futtermitteln veranlasste die Landwirte schon kurz nach Kriegsbeginn zu einem Abbau der Schweinebestände, was zunächst zu einem Überangebot an Schwei- neleisch bei sinkenden Preisen f ührte. Dem absehbaren Mangel sollte durch die Produk- tion von Dauerware, u. a. durch Pökeln und Räuchern sowie die Produktion von Dosen- konserven, vorgebeugt werden. Den städ- tischen Beamten wurde eine Bevorratung mit dem Hinweis auf mögliche Gehaltsvor- schüsse empfohlen. 14 Antragsteller mach- ten hiervon Gebrauch; die Einzelbeträge lagen zwischen 50 und 140 Mark. Auch die Stadt selbst beschaffte Anfang März weitere 150 Zentner Speck sowie 100 Zentner Schinken im Gesamtwert von 45.250 Mark im freien Handel; bei der

112 Bereits im November 1915 waren die ge- und 225 Gramm. Im Sommer 1918 wurde werblichen Bestände an planzlichen und die Versorgungslage so dramatisch, dass es tierischen Ölen und Fett gegen eine Ent- mehrfach leischlose Wochen gab. Ersatz- schädigung von 2,30 M/kg beschlagnahmt weise konnten mit den Fleischkarten 125 worden, wodurch der Weseler Seifenfabrik Gramm Mehl je Person bezogen werden, Daniel Luyken & Sohn einen Schaden von für Kinder unter sechs Jahren hatte man die rund 100.000 Mark entstand. Bezugsmengen bereits im Oktober 1916 Ab Anfang Juli 1916 war auch die Einfüh- halbiert. rung von Fleischkarten mit einer Gültigkeits- Auch beim Fleisch bestand die Möglich- dauer von jeweils vier Wochen nicht mehr keit der Selbstversorgung. So waren im zu vermeiden. Die Wochenration betrug zu- August 1916 rund 200 Haushalte mit über nächst bis zu 400 Gramm pro Person, wo- 1.100 Personen zu Hausschlachtungen von bei höchstens 250 Gramm frisches Fleisch, Schweinen berechtigt; die Tiere mussten einschließlich Knochen, und 150 Gramm mindestens drei Monate lang neben gele- Fleischwaren abgegeben werden durften. gentlichen Futterzuweisungen überwiegend Am Tag nach Pingsten sollten in Absprache durch Küchenabfälle gemästet werden. mit der Fleischer-Innung auch Kundenlisten Auch war die beabsichtigte Schlachtung be- eingeführt werden, um eine gleichmäßige reits drei Monate vorher anzumelden. Bei Versorgung durch die angeschlossenen 26 einer Erhebung des Bestandes im August Metzger zu gewährleisten. In diesem Zu- 1918 meldete die Stadt dem Landrat 482 sammenhang veröffentlichte der neu ge- Haushalte mit 660 zur Hausschlachtung be- gründeten Hausfrauenbund für Wesel und stimmte Schweine. In mehreren Kasernen Umgebung einen bemerkenswerten Aufruf. wurden zusammen 56, im Marien-Hospital Darin hieß es u. a.: „Für den nächsten Sams- 29, im städtischen Krankenhaus 15 und tag, den Tag vor Pingsten, war es nicht mehr in der katholischen Kleinkinderschule am möglich, die Kundenlisten einzuführen und Brüner-Tor zwei Schweine gemästet. so ergeht hiermit an alle anständig denken- Nicht verwunderlich, dass heimliche den, vor allem an die Frauen der wohlhaben- Schlachtungen an der Tagesordnung wa- den Kreise die dringende Mahnung: „Ver- ren, auch die Auslobung von Belohnungen zichtet zu Pingsten auf Euer Fleisch-Anrecht in Geld an Polizeibeamte vermochte hieran zu Gunsten der ärmeren Bevölkerung, Ihr, wenig zu ändern. die Ihr in feinen Gemüsen, in Eierspeisen, Die kritische Lage des Fleischmarktes er- Conserven und Puddings viel leichter Ersatz forderte auch die verstärkte Schlachtung indet, als jene. Ihnen wird der seltne Festtag von Schafen und Pferden, Wild sollte in- ein doppelter Festtag sein, wenn Ihr Besser- tensiver bejagt werden – Wilddieberei war gestellten alle für das eine Mal zurücktretet an der Tagesordnung – und im April 1916 und die Ärmeren schneller und reichlicher empfahl der Minister für Landwirtschaft, bedacht werden können. Vom Tage nach Domänen und Forsten den Verzehr von Pingsten an regiert die Kundenliste – wie sie „durchaus wohlschmeckenden jungen Saat- gehandhabt wird, davon morgen.“15 krähen“, auch Stare sollten zum Abschuss Wegen der schwankenden Viehablieferun- freigegeben werden. Im Oktober gründete gen konnten die Höchstmengen, die am sich ein Ziegenzuchtverein, dem etwa 100 Freitag jeder Woche vom Bürgermeisteramt Ziegenhalter angehörten. Ein Verein der durch die Zeitungen bekannt gemacht wur- Kaninchenzüchter bestand in Wesel bereits, den, jedoch meistens nicht geliefert werden; jedoch versuchte man auch die Jugend zu so lag z. B. die Bezugsmenge von Septem- gewinnen, so durch einen Vortrag über „Die ber 1916 bis März 1917 nur zwischen 75 Förderung der Kaninchenzucht und eine

113 Bezugskarten wurden von der städtischen Armenverwaltung im Stadthaus verkauft. Ab dem 1. Juli 1916 gab die Stadt Butter- und Fettkarten aus. Die Wochenfettration betrug zunächst 90 Gramm je Person, wurde aber im Dezember 1917 auf 70 und dann auf 62,5 Gramm gesenkt. Auch die Versorgung mit Milch war nach einem Bericht von Mai 1916 noch ausreichend gesichert, es wur- den aber überhöhte Preise beklagt. Betrug der Preis Mitte 1915 noch 20 bis 22 Pfen- nig/Liter stieg er Anfang 1916 auf 35 Pfen- nig/Liter und mehr. Der Regierungspräsident empfahl den Gemeinden, sich Milch bei den Molkereien zu sichern und nötigenfalls unter dem Selbstkostenpreis an die ärmere Bevölkerung und kinderreiche Familien ab- zugeben. Als Sparmaßnahme wurde Ende 1915 die tägliche Ausgabe von Milch an die Schülerinnen des Städtischen Lyzeums und der Marienschule eingestellt sowie im Ok- tober 1916 auch den Gaststätten und Hotels die Bereitstellung von Milch und Zucker un- tersagt. Ab dem 1. November 1916 gab die Stadt an Kinder in den ersten beiden Lebens- ordnungsgemäße Fellbehandlung“, zu dem jahren täglich einen Liter Milch auf Bezugs- alle Schulen eingeladen wurden. karten ab, falls diese laut Bescheinigung des bisherigen Milchlieferanten von anderer Versorgung mit Butter, Milch und Eiern Seite nicht mehr erhältlich war. Ab 1. April Ende 1915 gab es erste Überlegungen, auch 1918 mussten alle Weseler Erzeuger die den Butterverbrauch durch eine Reichsbut- Milch an die bei der Fa. Albert Wöhrmann terkarte zu regeln. In diesem Zusammen- am Kaiserring 12/14 eingerichtete städtische hang berichtete die Stadt dem Landrat am Molkerei abliefern, dies galt auch für Liefe- 4. Januar 1916, dass die Butterversorgung rungen, die der Kreiskommunalverband aus in Wesel durch die Molkerei Obrighoven- den umliegenden Gemeinden organisierte. Lackhausen und größere Landwirte der Die direkte Abgabe von Milch an Verbrau- Umgebung weitgehend gesichert sei; von cher war verboten, Zuwiderhandlungen einer Butternot könne nicht gesprochen konnten mit Gefängnisstrafe bis zu einem werden. Gleichwohl bestellte die Stadt bei Jahr und mit Geldstrafe bis zu 10.000 Mark der Zentral-Einkaufsgesellschaft in Berlin die geahndet werden. Wöhrmann belieferte 20 Lieferung von wöchentlich drei Zentnern städtische Verkaufsstellen, bei denen sich Auslandsbutter. Zusätzlich kaufte sie dort die Verbraucher unter Vorlage bereits 1917 auch 1.425 kg Schmalz; Bezugskarten über eingeführter Milchkarten in Kundenlisten ein Pfund je Haushalt konnten gegen Vor- eintragen konnten. Auch die Versorgung mit lage der Brotkarten im Stadthaus erworben Butter und Margarine erfolgte ausschließlich werden. Ab Ende März erhielten nur noch über die Fa. Wöhrmann; die Wochenkopf- „minderbemittelte Personen“ Schmalz, die menge betrug nur noch 40 Gramm Speise-

114 fett. Mitte 1918 wurden den Milchlieferan- Vorgaben fest, eine Bezirkseierstelle in Düs- ten die Selbstversorgung mit Butter untersagt seldorf regelte die Ablieferungsplichten des und die Buttermaschinen versiegelt; einen Kreises, bei dem eine Eierveranlagungskom- viertel Liter Milch für jeden Haushaltsan- mission gebildet wurde. Auch Wesel bekam gehörigen und vier Liter für jedes Kalb un- eine derartige Kommission und richtete ter sechs Wochen durften sie behalten, der städtische Eiersammelstellen bei der Butter- Rest musste an die städtische Molkerei ab- waage an der Goldstraße und der Kriegs- geliefert werden. Dort konnte dann gegen markthalle ein, sie bestellte den Schankwirt Vorlage der Selbstversorger-Fettkarte die und Kleinhändler August Michiels von der zuständige Buttermenge bezogen werden. Niederstraße sowie den Händler Johann Dies führte dazu, dass sehr viel bereits ent- Spickermann von der Kreuzstraße als amt- rahmte und mit Wasser gepanschte Milch licher Aufkäufer. Je abgeliefertem Ei erwar- abgeliefert wurde. Auch unvermutete Pro- ben die Gelügelhalter das Recht zum Kauf beentnahmen durch die Polizei – es wurden von 50 Gramm Hühnerfutter. Wasserzusätze von bis zu einem Drittel fest- Als Legehühner galten 80 Prozent des bei gestellt – und anschließende Strafverfahren der Viehzählung am 1. Dezember 1916 schreckten die Landwirte kaum ab. Bauern, festgestellten Hühnerbestandes, wobei eine die im Verhältnis zur Anzahl der Kühe nur jährliche Legeleistung von 30 Eiern je Hen- sehr wenig Milch ablieferten, drohte der ne unterstellt wurde. Der Landrat ging da- Bürgermeister mit der Einziehung der Kühe von aus, dass die überwiegende Anzahl der zu Schlachtzwecken. Für entsprechende Hühnerhalter durch Angabe einer zu gerin- Kontrollen stellte die Kommandantur er- gen Anzahl von Hühnern ihre Ablieferungs- neut Feldgendarmen zur Verfügung, die den plichten herabgedrückt hatten. Durch Ver- Betriebsinhabern nicht bekannt waren. öffentlichungen in den Weseler Zeitungen Ab Oktober 1916 gab es auch Eier nur noch wurden den Hühnerhaltern verschärfte Kon- auf Grund von Eierkarten, die auf Antrag trollen und strafrechtliche Konsequenzen gegen Vorlage der Brotkarten ausgegeben angedroht, auch konnten bei Zuwiderhand- wurden; die Bezugsmenge betrug zwei Eier lungen Zuckerrationen entzogen werden. in drei Wochen. Eine Abgabe von Eiern Es sollte aber nicht bei Strafandrohungen durch Gelügelhalter unmittelbar an Ver- bleiben, der Landrat erwartete, diese „rück- braucher war untersagt. Bereits seit Anfang sichtslos in Anwendung zu bringen“. August durften in Gaststätten, Hotels, Frem- Es wurden Schulen als Untersammelstellen denheimen und dgl. keine Eier mehr zum bestimmt. Ausgewählte Kinder gingen mit Frühstück und im Übrigen Eierspeisen an der Bescheinigung eines Lehrers von Hof zu Einheimische nur noch gegen Eierkarte ver- Hof und sammelten die Eier ein; die Bezah- abreicht werden. Im April 1917 wurde die lung mit einem Stückpreis von 25 Pfennig Bezugsmenge auf ein Ei für zwei Wochen erfolgte bei der nächsten Sammlung, einen gesenkt. Wegen des ausufernden Schleich- Pfennig je Ei erhielt die Schule. Ende Okto- und Schwarzhandels – in der letzten April- ber 1917 zahlten die Aufkäufer 30 Pfennig woche hatten die Weseler Landwirte nur je Stück, der Verkaufspreis an die Verbrau- 50 Eier abgeliefert – dienten ab April 1917 cher betrug 33 Pfennig. Eier-Sammellisten zur Kontrolle der ablie- In der Zeit vom 15. März 1917 bis zum 14. ferungsplichtigen Gelügelhalter, die regel- März 1918 hatten die Weseler Gelügelhal- mäßig von Polizeibeamten kontrolliert wer- ter 147.690 und für das Folgejahr 125.220 den mussten. Auch hierbei kam es zu einer Eier abzuliefern. Die Quoten wurden bei ausufernden Bürokratie. Der Präsident des weitem nicht erreicht. Vorrangig waren üb- Kriegsernährungsamtes legte umfangreiche rigens das städtische Krankenhaus mit 125

115 und das Marien-Hospital mit 180 Patienten nenvölkern gab; davon hielt der Rechnungs- (Stand August 1917) zu versorgen; hier be- rat Stegemann von der Gartenstraße Nr. 25 trug der zugestandene Verbrauch zwei Eier alleine 40 Völker. Die Imker konnten je Volk je Woche. 15 Pfund Bienenzucker beziehen, mussten Im März 1918 waren für den Stadtbezirk dafür aber fünf Pfund Honig je Bienenvolk Wesel 3.127 Eierselbstversorger registriert. an die Staatliche Honigvermittlungsstelle abliefern. Der Honig durfte jedoch nur an Sonstige Versorgungslage bei Nähr- und Lazarette, Krankenanstalten und Privatkran- Lebensmitteln ke abgegeben werden. Schon Mitte 1915 beklagt die Handelskam- Nachdem die Stadt bereits am 2. August mer Wesel in einem Schreiben an den Re- 1914 die Lieferung von 1.200 Zentnern gierungspräsidenten die Versorgungslage bei Grundnahrungsmitteln, wie Erbsen, Boh- Verbrauchszucker. Offenbar hatten Speku- nen, Reis, Nudeln, Salz und Kaffee, ohne lanten große Teile der Produktion bei den Ausschreibung – dies führte zu heftigen Zuckerfabriken aufgekauft, was zu erhebli- Protesten der Mitbewerber – bei einem orts- chen Preissteigerungen führte. Der Landrat ansässigen Großhändler in Auftrag gegeben legte daraufhin im Mai 1916 den Höchst- hatte, erfolgten derartige Lieferungen ab An- preis für gemahlenen Zucker auf 32 Pfg./ fang 1915 nur noch über die bereits genann- Pfund fest. Ab dem 10. Oktober 1916 wurde te Zentral-Einkaufsgesellschaft in Berlin. auch der Bezug von Zucker reglementiert, Bei dieser bestellte die Stadt bis Ende März die Verwendung von Zucker bei der Herstel- u. a. fast 7.000 Zentner Reis, 4.000 Zentner lung von Limonaden und dgl. war verboten. Graupen, 1.000 Zentner Bohnen und 620 Unter Vorlage der Lebensmittelkarten muss- Zentner Nudeln. Nur teilweise kam es je- ten sich die Haushalte bei den in Betracht doch auch zu Lieferungen; bereits ab Mitte kommenden Geschäften in Kundenlisten März waren weder Graupen noch Bohnen, eintragen lassen. Preise und Abgabemengen Reis nur noch in schlechter Qualität und ab wurden jeweils durch die Stadt festgelegt, Mai auch keine Nudeln mehr lieferbar. Je- der Verkauf war nur auf Grund von Zucker- doch gab es im Mai 1915 erheblichen Ärger karten zulässig. Im Juli 1916 erhielt Wesel mit der Zentral-Einkaufsgesellschaft. Diese für Haushalte, welche die zum Einmachen hatte festgestellt, dass der größte Teil der von Früchten, Marmeladen usw. erforderli- Lieferungen von den Weseler Großhänd- chen Gefäße besaßen, eine zusätzliche Zu- lern an Kunden außerhalb Wesels, u.a. nach teilung von 2.900 kg Einmachzucker, den Hamburg, Essen, Würzburg, Duisburg und Verkauf organisierte der Hausfrauenbund. andere Orte, verkauft worden war. Tatsäch- Von Januar bis September 1917 bestimmte lich hätten die Lieferungen an die Stadt über die Reichszuckerstelle den Monatsbedarf den örtlichen Handel nur zur Versorgung des mit 800 Gramm je Kopf der Bevölkerung, unmittelbaren Bezirks genutzt werden dür- das entsprach einer monatlichen Zuweisung fen und das zu Preisen, welche die Selbst- von 15.900 kg an die Stadt. Auch im Som- kosten nicht wesentlich übersteigen durften. mer 1917 konnte erneut Einmachzucker Dem Großhandel wurde eine Gewinnspan- über das Landeszuckeramt bezogen werden. ne von 10 Prozent und dem Einzelhandel Mitte 1918 wurden die monatliche Bezugs- eine solche von 20 Prozent zugestanden. menge auf 700 Gramm gesenkt und als Ver- Angeblich waren der Stadt diese Grundsätze kaufspreis 42 Pfg./Pfund bestimmt. nicht bekannt gewesen, sie war auch keine In diesem Zusammenhang erfahren wir entsprechende Verplichtung eingegangen. auch, dass es im März 1918 in Wesel zwan- Am 20. Juli beschloss der Lebensmittelaus- zig Bienenzüchter mit insgesamt 206 Bie- schuss dann strenge Regeln für den Fall der

116 Vermittlung weiterer Ankäufe bei der Ber- einer Kriegsküche zu prüfen. Hierzu grün- liner Gesellschaft. Bei Zuwiderhandlungen dete man einen Ausschuss, dem unter dem war eine Geldbuße von 500 Mark zuguns- Vorsitz des Bürgermeisters der Stadtbaurat ten von Kriegsfürsorgezwecken fällig. Für Kochs sowie die Stadtverordneten Angenent zehn Weseler Händler bestellte die Stadt und Tenhaeff angehörten, sachkundige Da- am 29. Juni insgesamt 550 Zentner Graupen men und Herren sollten zugezogen werden. beim Landrat. Davon wurden bis Ende 1915 In der gleichen Sitzung wurden zunächst nur 250 Zentner zugewiesen, die restlichen 1.600 Mark für die Aufstellung von Dörr- 300 Zentner erhielt die Stadt im Januar 1916 apparaten in den Kellerräumen der evan- und verkaufte diese unmittelbar an die Be- gelischen Volksschule an der Böhlstrasse völkerung zum Selbstkostenpreis. Gegen bewilligt – weitere 10.000 Mark folgten am Ende des Jahres wurde die Versorgungslage 30. April 1917 – mit denen Gemüse für den immer dramatischer, so bedeutete eine Not- Winterbedarf getrocknet werden sollte. Am zuteilung von 100 Zentnern Graupen gerade 29. September 1916 stellte der Rat dann einmal 200 Gramm je Einwohner für einen 5.000 Mark für die Einrichtung der Küche in Zeitraum von vier bis sechs Wochen. Auch den vorgenannten Räumen zur Verfügung. Marmelade, Rübenkraut und Honig, ebenso Konkrete Einzelheiten wurden in einer Sit- wie Nudeln und Fisch beschaffte die Stadt zung vom 13. Dezember erörtert, u. a. zum unmittelbaren Verkauf an die Bewoh- waren für die Ausgabe der Berechtigungs- ner. Um den Schwierigkeiten der Lebens- karten sowie die Zubereitung und Ausgabe mittelbeschaffung zu entgehen, ließen sich der Mahlzeiten rund 50 Freiwillige erfor- Weseler Bürger sogar in die Krankenhäuser derlich. Der Preis pro Portion von etwa ei- aufnehmen. Dies gipfelte in einem schriftli- nem Liter wurde auf 40 Pfennige festgelegt, chen Appell des Bürgermeisters an die We- für auf Karten zu beziehende Lebensmittel seler Ärzte vom 20. November 1916, keine mussten die Teilnehmer anteilig verzichten. Kranken in die Krankenhäuser einzuweisen, Nachdem der Ausschuss u. a. den Betrieb bei denen eine ambulante Behandlung ge- der Kriegsküche in Duisburg besichtigt hat- nügte. Ein wesentlicher Grund für die man- te, sollte der Betrieb in Wesel eigentlich im gelnden Zuteilungen war der Umstand, dass Januar 1917 aufgenommen werden. Zu- der Kreis Rees mit der Stadt Wesel zu den nächst jedoch gab es Einwände der Nah- landwirtschaftlichen und nicht, wie z. B. das rungsmittel-Industrie-Berufsgenossenschaft; benachbarte Dinslaken, zu den industriellen „wegen Verwendung von Arbeitsmaschinen, Kreisen gehörte. Bei dieser Einteilung ging die durch elementare Kraft bewegt werden,“ man davon aus, dass die Bevölkerung in den unterlag die Küche der Versicherungsplicht. ländlichen Bezirken „infolge des Vorhan- Am 5. Februar 1917 war es dann schließ- denseins von Kartoffeln, Brot und Mehl, Fett, lich soweit. Nach zögerlichem Beginn stieg Milch und Obst, Eiern usw. in der Lebens- die Tagesmenge auf eine Höchstleistung mittelversorgung gegenüber den Städten von 1.300 Liter, was zu einer Reduzierung einen Vorsprung hat und besser gestellt ist“. der einzelnen Portionen führte. So kamen Erst kurz vor Ende des Krieges wurde auch im April 37.449 und im Mai 33.482 Porti- Wesel als Industriegemeinde anerkannt und onen zur Ausgabe. Nachdem bis Mitte Juli erhielt so höhere Zuweisungen. 134.000 Portionen ausgegeben worden wa- ren, stellte die Stadt den Betrieb der Küche Kriegsküche und Suppenanstalt im Hinblick auf die sich verbessernde Ver- Wegen der katastrophalen Versorgungssitu- sorgungslage zunächst ein. Er wurde erst am ation beschloss die Stadtverordneten-Ver- 6. März 1918 zu den gleichen Bedingungen sammlung am 26. Juli 1916, die Einrichtung wieder aufgenommen und am 6. August

117 1918 erneut eingestellt. Insbesondere wegen Ab dem 1. Dezember 1917 wurde die Sup- der besseren Kartoffelversorgung gegenüber penanstalt wieder eröffnet, mangels Nach- dem Vorjahr waren nur noch 91.409 Portio- frage jedoch ab 22. Dezember erneut ge- nen zur Ausgabe gelangt. Auch nach Ende schlossen. Von Anfang März 1918 bis zur des Krieges betrieb man die Küche erneut ab Schließung Ende Juni nahmen nur noch dem 5. März 1919. zwischen 370 und 670 Kinder – in Spitzen- Bereits Ende Oktober 1915 hatte die Stadt zeiten waren es früher 900 – an der Schul- beschlossen, unter Federführung des Unter- speisung teil. stützungsvereins „Suppenanstalt“ tägliche kostenlose Mahlzeiten für arme Schulkin- Sonstige Versorgung der der Volksschulen sowie Kinder in den Weil es zunehmend Probleme mit der Ver- Horten und Krippen zu kochen. Vorsitzen- sorgung von Kohlen und Koks gab, beschloss der war der Kommerzienrat Alfred Rigaud, die Stadtverordneten-Versammlung am 30. verantwortlich für die Abwickelung der An- April 1917 die Gründung einer Ortskoh- streichermeister Wilhelm Lüthgen von der lenstelle. Sie sollte unter Einbeziehung der Kettlerstraße Nr. 21. Die Stadt inanzierte Kohlenhandlungen den Heizbedarf zentral die Ausstattung und beschaffte die nötigen sicherstellen und als Käuferin der Brenn- Lebensmittel, die Suppenanstalt wurde Mit- materialien gegenüber dem Großhandel und te November eröffnet und von rund 800 den Zechen auftreten. Die Zuteilungen an Kindern besucht. Der tägliche Bedarf lag die Bevölkerung nahmen die örtlichen Koh- bei 100 Mark, die Ausgabe der Mahlzeiten lenhandlungen aufgrund von Haushaltslis- erfolgte bis Juni 1916 u. a. in der Turn halle ten und Kohlenkarten vor. Ein Zentner stand am Wasserturm. Im Oktober 1916 wur- jeder Familie von April bis August im Monat de der Betrieb erneut aufgenommen. Über zu, vom 1. September 1917 bis zum 1. April die Schließung Ende Juni 1917 berichtete 1918 waren es 30 Zentner je Haushalt. Die die örtliche Presse auszugsweise wie folgt: Ortskohlenstelle hatte ihren Sitz am Kaiser- „Nachdem Herr Stadtverordneter Pfeiffer ring Nr. 8, verwendete eigene Briefbögen mit die Kinder gebeten aufzustehen, legte er den einem besonderen Stadtwappen und erhielt Kindern klar, aus welchen Gründen die Sup- die Erlaubnis, das Stadtsiegel mit dem Zusatz penanstalt geschlossen würde. (...) Auch er- „Ortskohlenstelle“ zu führen; erst Anfang des mahnte er die Kinder durch leißiges Beten Jahres 1922 stellte sie ihre Tätigkeit ein. Für zu Gott, einen baldigen Sieg und Frieden zu den Transport und die Verteilung stellte die erlehen und immer möchten sie sich der Kommandantur mehrfach Pferdegespanne empfangenen Wohltaten dankbar erweisen und Personal zur Verfügung. und solches könnten sie am besten durch Zur Deckung des dringlichen Bedarfs der Gehorsam und anständiges Betragen in der bedürftigen Bevölkerung richtete Wesel am Schule und auf der Straße. Dann gedachte 12. Juni 1917 im Hause Baustraße Nr. 80 er noch unseres lieben Kaisers und unserer auch eine Altkleiderstelle ein, Leiter war der braven, tapferen Feldgrauen und alle stimm- o. g. Schneidermeister W. Dorando. Die- ten ein in den Ruf: Unser Kaiser Wilhelm, er se Stelle nahm getragene Oberbekleidung, lebe hoch!“.16 Zuletzt hatten nur noch 240 Schuhe und Wäsche als Spenden oder ge- Kinder an der Speisung teilgenommen. Der gen Entgelt an, erhielt aber gelegentlich Vorsitzende begründete dies mit einer be- auch Zuweisungen von der Reichsbeklei- sonders reichlichen Kartoffelverteilung, aus- dungsstelle. Eine Abgabe an Verbraucher reichendem Angebot von Gemüse im freien durfte nur erfolgen, wenn diese im Besitz Verkehr und dem außerordentlich hohen eines Bezugsscheins der städtischen Beklei- Verdienst im Munitionsdepot. dungsstelle waren.

118 Briefkopf der Ortskohlenstelle.

Im Januar 1918 erging ein Tischtuchverbot für die Gastronomie, bei Zuwiderhandlun- gen kam es zu Beschlagnahmen zu Gunsten der Reichsbekleidungsstelle. Mit Wirkung vom 28. Juli 1918 wurden auch Sonnen- vorhänge, Gardinen, Stores, Rollos und gleichen Zwecken dienende Behänge zu Gunsten der vorgenannten Stelle beschlag- nahmt soweit sie sich nicht in Privathaus- halten befanden. Sie sollten vorrangig zu Säuglings- und Leibwäsche verarbeitet wer- den, ausgenommen waren daher u. a. auch Tüllgardinen. Für die minderbemittelte Bevölkerung hatte der Nationale Frauendienst bereits im No- vember 1916 im Remyschen Haus, neben der Buchhandlung Kühler, eine Schuhlick- Siegel der Weseler Bekleidungsstelle. stube eingerichtet. Die Zahl der Schuh-

119 macher war Ende 1917 durch Betriebsauf- Planzliche Rohstoffe gaben und Einziehungen zum Militär von Im Frühjahr 1916 rief der Minister des In- 55 vor dem Krieg auf zehn zurückgegan- neren die Bevölkerung dazu auf, Weißdorn- gen. Leder für Reparaturen war knapp, die hecken nicht zu beschneiden, um dadurch Reichsstelle für Schuhversorgung mit der einen hohen Ertrag an Mehlbeeren zu erzie- Ersatzsohlengesellschaft waren für die Ver- len. Diese sollten als Kaffeeersatzmittel ge- sorgung zuständig. In den Sommermonaten sammelt und durch eine eigens gegründete liefen die Kinder meist barfuß. Kriegsgesellschaft für Kaffeeersatz GmbH Der Mangel in allen Bereichen führte Anfang mit Sitz in Berlin vertrieben werden. Man 1918 sogar zur Einführung einer Nähfaden- rechnete mit einem Aufkommen von rund karte und Haushaltslisten für den Bezug von 10.000 t Früchten; in dieser Größenord- Baumwollnähfäden und Leinenzwirn. nung sollten bisher als Kaffeeersatz verar- 35 Einzelhändler und 140 Handwerksbe- beite Mengen an Gerste und Brotgetreide triebe, wie Schneider, Dekorateure sowie eingespart werden. Es wurden Kreis- und Näherinnen, die bevorzugt versorgt werden Ortssammelstellen eingerichtet, deren Leiter mussten, hatte die Verwaltung ermittelt. erhielten jeweils zwei Mark für das Einsam-

120 meln und den Transport von je 100 kg gesam- die vielen Ofizierskasinos, erlaubt. Im Mai melter Weißdornfrüchte in luftgetrocknetem 1918 kam es sogar zur Beschlagnahme von Zustand. Die Ortssammelstelle musste den Gummibereifungen für Kraftfahrzeuge jeder Sammlern 20 Pfg./kg aus der Amtskasse zah- Art. len, die erforderlichen Mittel konnten bei Eine neu geschaffene Metall-Mobilma- der o.a. Gesellschaft angefordert werden. chungsstelle des Preußischen Kriegsminis- Auch Holunderbeeren sollten gesammelt terium war unter Beteiligung einer ebenfalls und an eine zentrale Stelle geliefert werden, neu gegründeten Kriegsmetall Aktienge- für den Doppelzentner zahlte die Diskonto- sellschaft seit Mitte 1915 zunächst für die gesellschaft in Berlin sechs Mark. Sammlung und später auch die Beschlag- Zu beiden Früchten sind Ergebnisse für We- nahme von Gebrauchsgegenständen aus sel nicht überliefert. Wohl meldet die Volks- Kupfer, Messing, Nickel und Zinn gegen schule an der Pergamentstraße im Dezember Wertersatz zuständig. Dazu zählten nicht 1916 die Sammlung von 1.907 Pfund Plau- nur Kannen, Töpfe, Pfannen und sonsti- men- und 758 Pfund Kirschkernen sowie ges Geschirr, sondern neben Dächern aus sieben Zentner Rosskastanien. Auch hatten Kupfer oder Zinn auch Orgelpfeifen sowie die Schulen Brennnesseln für die Spinnerei die Glocken in Stadt-, Schloss- und Kirch- Braunschweig in Bocholt gesammelt. türmen, selbst Bronzedenkmäler und Grab- mäler sollten der Heeresverwaltung frei- Sonstige Rohstoffe willig zur Verfügung gestellt werden. Man Nicht nur die Versorgung der Bevölkerung rechnete mit einem Aufkommen von zwei wurde zunehmend schwieriger, auch die Millionen Tonnen Kupfer. Zum Ersatz der Wirtschaft, vor allem die Rüstungsindustrie Gebrauchsgegenstände sollten emaillier- litt unter zunehmendem Rohstoffmangel. te Geschirre sowie Waren aus Gusseisen Zunächst wurde Altmaterial – meist unter beschafft werden. Ausgenommen von der Einsatz der Schulen – gesammelt. Es begann Beschlagnahme waren Gegenstände von im März 1915 mit der Sammlung von Fahr- kunsthistorischem Wert. Ein Gutachten des rad-Gummireifen und Schläuchen sowie Bergischen-Landesmuseums vom 15. Juli von Gummischuhen. 15 Zentner und 44 1917 rettete mehrere Weseler Glocken vor Pfund konnten im Juli an die Gummisam- dem Schmelzofen. Darin heißt es wie folgt: melstelle Neuenhagen abgeliefert werden. „Willibrordi-Kirche: Das Geläut besteht aus Hierfür überwies die Kautschuk-Abrech- vier Glocken von 1832. Die Ausstattung der nungsstelle, Berlin, der Stadt Wesel 270,20 vier Glocken, die eine gleichmäßige ist, ist Mark. Weitere 3.003,20 Mark erhielt Wesel künstlerisch wertvoll. Die Klangwirkung der im August 1917. Der Fahrradverkehr muss- Glocken ist eine reine, voll und weich. Insbe- te ab Mitte 1916 eingeschränkt werden und sondere wegen dieses musikalischen Kunst- Ausnahmen bedurften einer von der Militär- wertes sind die Glocken (...) zurückzustellen behörde abgestempelten Radfahrkarte. Eine und kommen nicht zur Ablieferung. Ferner solche erhielten u. a. 13 Polizeibeamte so- sind in der Kirche zwei Uhrglocken des wie 35 städtische Bedienstete beim Bauamt, sechzehnten Jahrhunderts. Der geschichtli- dem Gaswerk, der Werft und im sonstigen che und der Kunst-Wert dieser beiden Glo- Außendienst. cken ist ein außerordentlicher; (…) sie sind Ab Juni 1917 unterlag auch Billardbande daher freizugeben und kommen nicht zur aus Kautschuk der Beschlagnahme. Trotz Ablieferung. Mathena-Kirche: Die große der Beschlagnahme blieb die Benutzung Glocke von 1703 ist infolge ihrer reichen der Bande in Billarden zum Zwecke des und hervorragenden Ausstattung von außer- Spielens, wohl nicht zuletzt im Hinblick auf ordentlichem Kunstwert. Dasselbe gilt von

121 den beiden kleinen Uhrglocken von 1606. kunstgeschichtlicher Wert durch anerkann- Daher sind diese drei Glocken (…) freizu- te Sachverständige bescheinigt wurde. Die geben und nicht abzuliefern. Kleine Kirche: Abrechnung der Stadt Wesel mit der Kriegs- Zwei kleine Glocken von 1728 mit reicher metall Aktiengesellschaft zog sich übrigens Ausstattung und großer Inschrift. Daher ist bis Anfang 1921 hin. Nach einer Schluss- der geschichtliche und der Kunst-Wert die- abrechnung vom November 1920 hatte ser beiden Glocken erheblich; (…) sie sind die Stadt Wesel 11.800 kg verschiedener zurückzustellen und nicht abzu liefern.“17 Metalle gesammelt und abgeliefert. In einer mehrseitigen Verfügung vom 14. Bereits mit Bekanntmachung vom 2. August Juni 1917 wies der Bürgermeister darauf 1914 hatte die Kommandantur sämtliche in hin, dass alle Besitzer (natürliche und ju- der Stadt vorhandenen Baustoffe, Zement, ristische Personen, einschließlich öffentlich Ziegelsteine, Holz und Draht sowie Hand- recht licher Körperschaften und Verbände) werkszeug für Zwecke der Fortiikation mit von den Beschlagnahmen betroffen waren. Beschlag belegt. Da im Falle von Verstößen Gefängnisstra- Umso erstaunlicher ist der Bau einer neu- fen von bis zu einem Jahr oder Geldstra- en Straßenbrücke über den Rhein. Seit fen bis zu 10.000 Mark angedroht waren, 1912 geplant und 1914 mit der Errichtung hatte man die in Betracht kommenden der Brückenpfeiler begonnen, konnte die Gebrauchs güter detailliert aufgelistet. Ne- Rheinbabenbrücke am 26. Juli 1917 dem ben den bereits oben genannten Gegen- Verkehr übergeben werden. ständen waren beispielhaft aufgeführt: au- ßer Betrieb beindliche Wasserpumpen, Goldschlägerhaut Blitzableiter, Barrierestangen nebst Pfosten Doch was hatte es mit der Beschlagnah- vor Schaufenstern, Gardinen- und Treppen- me von Goldschlägerhaut auf sich? Bei der läuferstangen – Ösen für derartige Stangen Herstellung von Blattgold verwenden die waren ausgenommen, damit diese zur Be- Goldschläger auch heute noch die innere, festigung von Ersatzstangen benutzt werden sehr dünne, elastische und reißfeste Haut konnten –, Briefkastenschilder, Treppenge- der Blinddärme von Rindern; daher die Be- länder, Türgriffe, Gegenstände der Schau- zeichnung Goldschlägerhaut. Sie wird zwi- fensterdekoration. Annahmestelle war das schen die einzelnen Lagen Blattgold gelegt, städtische Gaswerk, wo die Ablieferer einen damit diese nicht aneinander kleben. Sie war Anerkenntnisschein erhielten, aus dem u.a. aber seit Ende des 19. Jahrhunderts auch ein das Gewicht der abgelieferten Gegenstände begehrter Rohstoff zur Fertigung von Luftschif- sowie der Übernahmepreis hervorgingen. fen. Da gummierter Stoff brüchig war, wur- Am 1. Oktober 1916 gab es eine Anwei- den die Gaszellen aus Goldschlägerhäuten sung an die Kommunalverbände betreffend hergestellt, von denen bis zu sieben Schich- die Beschlagnahme, Bestandserhebung und ten auf einen Träger aufgebracht werden Enteignung von Bierglasdeckeln und Bier- mussten. Für ein Luftschiff, wie es im Ersten krugdeckeln aus Zinn. Diese waren zum Weltkrieg zum Einsatz kam, benötigte man Zwecke der Ablieferung von den Gläsern die Blinddärme von rund 700.000 Rindern.18 und Krügen zu entfernen und das Gesamt- Mit der Herstellung der Gaszellen befasste gewicht der Metall-Mobilmachungsstelle sich seit 1908 die Ballonhüllen GmbH in bis zum 15. November 1916 zu melden. Berlin. Durch Erlass des Innenministers vom Das Eigentum ging auf den Militäriskus 14. August 1914 waren alle in den Schlacht- über, als Vergütung erhielten die Abliefe- höfen angefallenen Goldschlägerhäute an rer 8,– Mark/kg. Auch hier gab es Ausnah- das vorgenannte Unternehmen abzuliefern, men, wenn ein kunstgewerblicher oder diese zahlte 15 Pf. je Stück. Verantwortlich

122 in Wesel war der Fleischermeister Friedrich rung aufgerufen, Goldgeld gegen Banknoten Jamin von der Köppeltorstr. Nr. 5. umzutauschen, öffentliche Kassen mussten Zu Beginn des Krieges verfügte Deutschland ihre Bestände sowie eingehende Zahlungen übrigens über elf Luftschiffe. Am 6. Oktober in Papiergeld umtauschen. Ausländische 1914 war es der britischen Luftwaffe gelun- Goldaufkäufer waren als „lästige Ausländer“ gen, den Militär-Zeppelin LZ 9 in Düsseldorf sofort auszuweisen, die Namen eingesesse- am Boden zu zerstören. Mit Schäden durch ner Verkäufer zum abschreckenden Beispiel Luftangriffe hatte man zu Beginn des Krieges in der Presse bekannt zu machen. Am 1. eigentlich nicht gerechnet. Flug zeuge und Dezember 1914 vermerkte die Stadtverwal- Luftschiffe dienten zunächst nur der Auf- tung, dass eine in den letzten Tagen veran- klärung. Anfang August 1915 berichtete die staltete Sammlung von Goldmünzen den örtlichen Presse über französische Luftan- Betrag von über 18.000 Mark erbracht hat- griffe am Oberrhein, auf das Saargebiet und te. 1915 sammelten allein die Schülerinnen auf deutsche Truppen in Belgien sowie über des Weseler Lyzeums 56.200 Mark in Gold- deutsche Angriffe auf die englische Ostküs- geld, auch die Schüler des Weseler Gym- te und London durch Marine-Luftschiffe. In Zweibrücken kamen 15 bis 20 Bomben zum Abwurf, die nur Sachschäden verursachten, in St. Ingbert gab es acht Tote. Im Septem- ber kam es bei Luftangriffen auf Essen zu erheblichen Sachschäden. Diese Ereignisse beunruhigten auch die Weseler Verantwort- lichen. Im Oktober prüfte daher die Ver- waltung im Benehmen mit anderen Städten und dem Deutschen Städtetag die Möglich- keit einer Versicherung gegen Sachschäden durch Luftangriffe an städtischem Eigentum sowie dem seiner Einwohner. Es gab auch Versicherungsangebote, aber die Stadtver- ordneten entschieden in einer geheimen Sitzung am 17. November 1916, keine der- artige Versicherung abzuschließen. Der Rat ging davon aus, dass mögliche Schäden auf- grund des Gesetzes über die Feststellungen von Kriegsschäden vom 3. Juli 1916 durch das Reich erstattet würden. Diese Rechtsauf- fassung war zwar strittig, musste aber nicht geklärt werden. Wesel blieb von Luftangrif- fen verschont; nur einmal und zwar am 9. Juli 1917 gab es Fliegeralarm.

Münzwesen – Notgeld Bereits durch Gesetz vom 4. August 1914 gab die Reichsbank an Stelle von Goldmün- zen nur noch Reichskassenscheine bzw. Banknoten aus. Zur Stärkung des Goldbe- standes der Reichsbank wurde die Bevölke-

123 nasiums waren beteiligt. Daneben gab es ben werden konnte. Nach dem Motto „Gold Überlegungen, eine amtliche Stelle zum An- gab ich für Eisen“ erhielten die Einlieferer kauf von Goldschmuck einzurichten. Dieser wahlweise einen Ring, einen Armreif oder Idee vermochte jedoch der Regierungsprä- eine eiserne Medaille, die auch als Anhän- sident Düsseldorf laut Verfügung vom 10. ger oder Brosche getragen werden konnte.20 November 1914 nicht näher zu treten, „da Im April kamen rund 3.000 Mark zur Aus- das Deutsche Reich über so reiche Mittel zahlung; für den 28. März 1917 lud der verfügt, daß die Hergabe von Schmuckstü- Arbeitsausschuss der Goldankaufsstelle cken wie 1813 nicht erforderlich erscheint. aus Anlass des einjährigen Bestehens und Eine solche Anregung würde eher zu einer der zweitausendsten Einlieferung zu einer Beunruhigung der Bevölkerung führen und schlichten Feier ein. Mangels weiterer Ein- dem Ausland ein ganz falsches Bild von der lieferungen kam es im August 1918 zur wirtschaftlichen Lage des Landes geben.“19 Schließung. Noch glaubte man also an einen schnel- Sehr schnell gab es auch einen Mangel an len Sieg. Doch recht bald änderte sich die kleinen Münzen, weil diese eingezogen wirtschaftliche Lage und am 31. März 1916 und als Rohstoff eingeschmolzen wurden. richtete die Stadt im Rathaus eine Goldan- Einzelne Städte gaben schon Ende 1914 kaufsstelle ein, bei welcher Goldschmuck, eigenes Kriegsnotgeld aus, um diesen Man- der nach der Taxe eines Sachverständigen gel zu beheben. Die Weseler Stadtverord- vergütet wurde, zum Einschmelzen abgege- neten-Versammlung beschloss am 30. April

124 1917 je 100.000 Stück 50 Pfg.- und 25 Pfg.- Exem plar von Plakatveröffentlichungen Scheine als Notgeld ausgeben zu lassen. erbat er für ein künftiges „Niederrhein- Die öffentlichen Kassen, Privatbanken und Museum“. Auch der französische General- Geschäftsleute hatten sich bereit erklärt, anzeiger für das Gefangenenlager sowie An- das Notgeld in Zahlung zu nehmen. Auch sichtskarten standen auf seiner Wunschliste. mit den Nachbargemeinden hatte man ent- Hierzu passte auch das Ersuchen der Stadt sprechende Abkommen geschlossen. Zwar Wesel an das stellvertretende Generalkom- konnte man in den örtlichen Zeitungen le- mando in Münster vom 19. Oktober 1915, sen, dass nach einer Gerichtsentscheidung ihr als einer der ältesten Garnisonsstädte der niemand zur Annahme der Scheine ver- Monarchie ein Paar erbeutete Geschütze zu plichtet war, aber die Stadt Wesel sagte die überlassen. Diese sollten vor dem Berliner Einlösung des in Umlauf gebrachten Notgel- Tor als Zeugnis der Tapferkeit der siegrei- des bis zum 31. Januar 1919 zu und emp- chen Truppen aufgestellt werden. In der Ant- fahl, von dem Notgeld so viel wie möglich wort aus Münster hieß es, dass bisher nur Gebrauch zu machen. Die erste Aulage die größten Städte im Korpsbereich, nämlich kam am 16. Juni 1917 zur Ausgabe, am 27. Düsseldorf, Dortmund, Münster und Essen Juni 1918 setzte die Stadt weitere 50.000 je zwei Geschütze erhalten hatten, Wesel Scheine zu 50 Pfg. und 100.000 Scheine zu werde für weitere Zuweisungen vorgemerkt. 25 Pfg. in Umlauf. Welche Beträge tatsäch- Mitte 1917 kam die Nachricht, dass mit lich von der Stadtkasse schließlich erstattet weiteren Geschützen nicht zu rechnen sei, worden sind, ist nicht belegt. Ein großer Teil da das gesamte Beutegut für Heereszwecke dürfte in den Alben von Sammlern gelandet gebraucht werde. sein; gut erhaltene Exemplare des Kriegsnot- geldes von 1917/18 werden heute für zehn Hölichkeitswörter und Verdeutschung – Euro und mehr gehandelt. Sommerzeit Im Lauf des Krieges wurde das tägliche Museum Leben zunehmend vom Militär bestimmt. Trotz des Kriegszustands dachte man aber Dies hatte nicht zuletzt auch Auswirkungen auch schon an die Zeit danach. In einer auf den Schriftverkehr. Hölichkeitswörter, Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung wie „ beehrt sich ergebenst“ und „gehor- vom 15. Oktober 1915 berichtete der Bür- samst“ passten nicht zum militärischen All- germeister über Anregungen des Dr. Rudolf tag und waren nach einer Verfügung des Weynand. Dieser war von 1912 bis 1918 als Kriegsministeriums vom Januar 1917 nicht Oberlehrer u.a. für das Fach Geschichte am mehr anzuwenden. Eine Anregung von städtischen Gymnasium tätig und betreute militärischer Seite, diese Regelungen auch ehrenamtlich das „Städtische-Niederrheini- auf den Schriftverkehr zwischen Militär- sche-Museum für Orts- und Heimatkunde und Zivilbehörden auszudehnen, verband zu Wesel“.21 Zuvor hatte er bereits seit 1906 der Oberpräsident der Rheinprovinz mit der im Nebenamt das Historische Museum der Empfehlung, derartige Hölichkeitswörter in Stadt Düsseldorf geleitet; 1916 wurde ihm seinem Geschäftsbereich und bei allen un- der Charakter eines Gymnasialprofessors terstellten Behörden künftig nicht mehr zu verliehen. Es sollten Erinnerungsstücke an verwenden. In den Köpfen seiner Beamten den Krieg gesammelt werden, damit die- waren die Neuerungen wohl noch nicht an- se der Nachwelt erhalten blieben. Mobil- gekommen, so endete die Verfügung an die machung, die Geschichte der Regimenter Regierungspräsidenten vom 18. Mai 1917 und das Friedrichsfelder Gefangenenlager mit den Worten: „Euerer Hochwohlgebo- waren Weynands lokale Themen, je ein ren gebe ich hiervon ergebenst Kenntnis

125 mit dem Anheimstellen, ein gleiches Verfah- ren auch dortseits einzuführen und es den nachgeordneten Behörden zu empfehlen.“22 Noch lange hat es gedauert, bis sich die An- regungen letztlich durchgesetzt hatten. Ein ähnliches Schicksal erlitten die Bemü- hungen um die „Verdeutschung“ fremdlän- discher Ausdrücke, welche auf Schildern, Plakaten und Aufschriften an Gebäuden und Einfriedungen aller Art von Straßen und Plätzen aus sichtbar waren. Getreu dem Kaiserwort, „wonach das Französisch parlie- ren aufhören soll“ verfügte der Regierungs- präsident im Juni 1918, diese, so weit wie möglich, durch deutsche Bezeichnungen zu ersetzen. Beispielhaft nannte er: „Restaurant, Restauration, Diner, Souper, en gros, Detail, Atelier, Magazin Modes, Reparatur, Dekora- teur, Salon, Referenzen, Buffet, Garderobe, Institut, Artikel, Import, Export, Materiali- en“. Auch die Weseler Polizei schwärmte gewöhnungsbedürftig. Mit Rundschreiben aus und legte dem Bürgermeister umfang- vom 18. Juli 1918 fragte der Bürgermeister reiche Listen mit rund 120 Objekten vor, an unter Hinweis auf das verwendete Fremd- denen Fremdwörter ermittelt worden waren. wort bei allen Betroffenen an, „ob sie zur So warteten Friseure, Hotels, Cafes , Condi- alsbaldigen oder gelegentlichen Umände- toreien und Photographen ebenso auf neue rung dieser Bezeichnung geneigt sein wür- Bezeichnungen wie Likör, Delikatessen, den“ und schlug gleichzeitig in Abstimmung Galanteriewaren und Antiquitätenhändler. mit dem Allgemeinen Deutschen Sprachver- Auch der Dentist mit seinem Laboratorium, ein eine neue Bezeichnung vor. Wie nach- das Auktionsbüro, die Autogarage, das Logis, stehende Auszüge aus Antwortschreiben das Kontor sowie Toilettenartikel, Bandagen zeigen, hielt sich die Bereitschaft der Adres- und Objektive standen auf den Listen. Ja saten in Grenzen. „Zu dem Vorschlag Haar- selbst die Militär-Effekten und die Am Kal- künstler möchte ich Einspruch erheben. Es denberg 1 ansässige Forti ikation fanden kei- gibt viele Collegen, die unseren Beruf nur ne Gnade. Für die Umbenennung Letzterer in Barbieren und Haarschneiden ausüben, sah Poppelbaum jedoch die Zuständigkeit da kann man doch nicht von Haarkünstler der Kommandantur als gegeben an. sprechen.“23 „Den von Ihnen vorgeschlage- Natürlich fehlte es auch nicht an Empfeh- nen Namen ,Zahnkünstler’ möchte ich nicht lungen, wie diese Begriffe ersetzt werden empfehlen. Als ,Künstler’ ist man von dem konnten. Waren-Umsatz-Steuer Gesetz befreit, als Sind Gasthof statt Hotel, Wirtschaft statt Res- Zahntechniker nicht, also gäbe es Streitig- taurant und Feinkost statt Delikatessen noch keiten mit der Steuerbehörde.“24 „Ich bin nachvollziehbar, wird es teilweise sehr skur- gerne bereit, die Inschrift an meinem Hau- ril oder muss man sagen drollig. Haarkünst- se umändern zu lassen, sobald ich einen ler statt Friseur, Zuckerbäckerei an Stelle Handwerker für eine derartige Arbeit be- von Conditorei, Zahnkünstler für den Den- kommen kann.“25 Laut einem Vermerk des tisten und den Zahntechniker waren schon Bürgermeisters wurde erst im Oktober 1919

126 von der weiteren Verfolgung der Angelegen- bis zum entscheidenden (im Entwurf hatte es heit Abstand genommen. noch „sicheren“ geheißen – Anm. des Verf.) Ähnlich verhielt es sich mit der vom 1. Mai Siege unserer gerechten Sache auszuharren. bis 30. September 1916 erstmals eingeführ- Im Auftrage: Bürgermeister Poppelbaum.“27 ten Sommerzeit, die auch in den beiden Fol- Anlass der Protestkundgebung war die Re- gejahren galt. Dadurch sollten Rohstoffe für aktion des amerikanischen Präsidenten auf die Beleuchtung eingespart werden; 1919 die vom Deutschen Reichstag am 19. Juli wurde sie wieder eingestellt. 1917 verabschiedete Friedensresolution28; die Vereinigten Staaten von Amerika hatten Kaisertelegramm dem Deutschen Reich bereits am 6. April Ein wohl einzigartiges Dokument im Wese- 1917 den Krieg erklärt. ler Stadtarchiv dürfte folgendes Telegramm des Kaisers vom 17. September 1917 sein. Kriegsende „von der kraftvollen unterstützungskund- Am 11. November 1918 unterzeichnete der gebung der bürgerschaft wesels gegenüber Staatssekretär Matthias Erzberger für das der versuchten einmischung unserer feinde Deutsche Reich in Compiègne/Frankreich in die eigensten angelegenheiten der deut- den Waffenstillstand mit den Westmächten schen völker habe ich mit freuden kenntnis Frankreich und Großbritannien; der Erste genommen und danke ich herzlich für das Weltkrieg war zu Ende. erneute treuegelöbnis. mit gottes hülfe wird 622 Weseler Soldaten waren im Kampf ge- auch diese feuerprobe deutscher einigkeit fallen oder ihren Verletzungen erlegen. Die siegreich bestanden werden und dem vater- Stadt gedachte ihrer dadurch, dass sie ihre lande zu segen gereichen. wilhelm i r (I.R., Namen und die wichtigsten Lebensdaten Imperator Rex, Kaiser und König – Anm. des 1921 handschriftlich in einem prachtvoll ge- Verf.).“26 Es war die Antwort auf ein Tele- stalteten Krieger-Ehrenbuch, genannt: „Das gramm der Stadt Wesel vom 16. September eiserne Buch der Stadt Wesel“, in alpha- 1917. „Eure Majestät bitte ich allerunter- betischer Reihenfolge verzeichnete.29 Hinzu tänigst, folgende in einer soeben stattge- kommen die ungezählten Opfer der Zivilbe- habten Versammlung gefaßte Entschließung völkerung, die an den Kriegsfolgen gestor- übermitteln zu dürfen: Wesels Bürgerschaft, ben, häuig verhungert sind. vertreten durch eine stattliche Versammlung jeden Standes und Glaubens, erhebt ge- gen den plumpen Versuch des Präsidenten Wilson, sich in Deutschlands innere Ange- legenheiten einzumischen, einmütig schar- fen Widerspruch. In der Ueberzeugung, dass das gesamte deutsche Volk zu einem kräf tigen Ausdruck seiner tiefsten Entrüs- tung über die dreisten Anmassungen dieses heuchlerischen Vertreters der Großgeld- mächte des Dollarlandes sich zusammen- inden wird, bekennt Wesels ü Brgerschaft aufs neue, dass sie jede Spaltung zwischen Regierung und Volk, zwischen dem Kaiser und allen wackeren Deutschen als ein va- terländisches Unglück ansieht und ihrerseits entschlossen ist, in unerschütterlicher Treue

127 1 ROELEN, Martin Wilhelm: Die Garnisonstadt Wesel von ihrem Anfang bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, in: Berkel, Alexander: Schanzen-Warten-Sterben, Wesel 2014, S. 311–330. 2 Stadtarchiv Wesel B 10, 1–264. Anmerkung: In diesem Beitrag wird zur besseren Lesbarkeit wegen des Um- fangs des Aktenbestands nur in besonderen Fällen, insbesondere bei Zitaten, auf die genaue Fundstelle hingewiesen. Das zugehörige Findbuch B 10 ist nach einzelnen Themenfeldern ausführlich gegliedert. Siehe auch SICKEN, Bernhard: Die Festungs- und Garnison- stadt Wesel im Ersten Weltkrieg: Kriegsauswirkungen und Versorgungsprobleme, in: Stadt und Krieg. 25. Arbeitstagung in Böblingen 1986, hrsg. von Bernhard Kirchgässner und Günter Scholz (Stadt in der Ge- schichte, Veröffentlichungen des Süddeutschen Arbeits- kreises für Stadtgeschichtsforschung, 15), Sigmaringen 1989, S. 125–222, JUNK, Heinz-Karl, Wesel im 19. Jahrhundert (1814–1918), in: Prieur, Jutta: Geschichte der Stadt Wesel (GSW) 1, Wesel 1991, S. 353–358, REININGHAUS,Wilfried: Fluß, Eisenbahnen und Fes- tung: Wesels Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in GSW 2, Wesel 1991, S. 349–345. 3 Wie vor, S 1, 209. 4 Wie vor, B 10, 253, S. 2. 5 Wie vor, B 10, 230, S. 1. 6 Wie vor, B 10, 1, S. 23, 24. 7 Wie vor, B 10, 247, S. 33–36. 8 Wie vor, B 10, 11, S. 30. 9 Wie vor, B 10, 218, S. 15. 10 Wie vor, B 10, 219, S. 12. 11 Wie vor, B 19, 219, S. 15. 12 Wie vor, B 13, 24. 13 Wie vor, B 10, 184, S. 90. 14 Wie vor, B 10, 77, S. 44. 15 Wie vor, B 10, 96, S. 138. 16 Wie vor, B 10, 165, S. 33. 17 Wie vor, B 10, 40, S. 6. 18 Siehe: de.wikipedia.org/wiki/Goldschlägerhaut 19 Wie Anm. 2, B 10, 52, S. 15. Der Hinweis auf das Jahr 1813 bezieht sich auf die Befreiungskriege gegen Na- poleon. 20 Die abgebildete Brosche beindet sich im Besitz von Frau Marianne Schulte-Mattler, Wesel, und stammt aus dem Nachlass ihrer Großmutter, Maria Filtmann, geb. Gesthuysen. 21 Siehe auch CILLEßEN, Wolfgang (Hrsg.): „Heimatliebe und Vaterlandstreue“, Niederrheinische Museen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, Wesel 2000. 22 Wie Anm. 2, B 10, 246, S. 40. 23 Wie vor, B 10, 246, S. 134. 24 Wie vor, B 10, 246, S. 168. 25 Wie vor, B 10, 246, S. 119. 26 Wie vor, B 10, 246, S. 64. 27 Wie vor, B 10, 246, S. 62, 63. 28 Siehe: de.wikipedia.org/wiki/Friedensresolution. 29 Wie Anm. 2, B 13, 35.

128 Helmut Langhoff

Wilhelm Carl Ridder – Ein Soldat aus Wesel im Ersten Weltkrieg

Der 2. August 1914 war ein Sonntag, strah- chung forderte. Nachmittags um fünf Uhr lend schön und sehr warm. Ein Sommertag hatte Kaiser Wilhelm II. den Befehl zur wie geschaffen, um sich nach einer arbeits- allgemeinen Mobilmachung des eigenen reichen Woche im Freien auszuruhen, um Heeres unterzeichnet – das Deutsche Reich vielleicht einen kleinen Auslug zu machen befand sich im Krieg. Die Mobilmachungs- und den Abend in einer Gartenwirtschaft order ging an die Generalkommandos in zu beschließen. Heute jedoch war alles an- den Provinzen, von dort aus an die unter- ders als sonst. stehenden Einheiten in den Garnisonen, Am Tag zuvor war mittags um zwölf Uhr auch die zivilen Behörden und Stadtver- das deutsche Ultimatum abgelaufen, das waltungen wurden aus dem Haupttelegra- die Einstellung der russischen Mobilma- phenamt in Berlin verständigt.

Mobilmachungsbefehl. Telegramm des Generalkommandos VII in Münster an den Kommandeur des Feldartillerie-Regiments Nr. 43 in Wesel, 1. August 1914.

129 Der 2. August war der erste Mobilma- Die ersten Kriegstage zeigten das Bild einer chungstag. Auf den Straßen Wesels herrsch- vor Menschen überquellenden Stadt, eines te ein lebhaftes Treiben, das sich von der sprudelnden, chaotischen Heerlagers. Im gewohnten Sonntagsruhe abhob. Männer August 1914 war Wesel die Anlaufstelle für machten sich daran, ihrem Gestellungsbe- insgesamt etwa 300.000 Personen. Die ein- fehl nachzukommen, letzte Besorgungen berufenen Reservisten und Landwehrleute wurden erledigt, Abschied wurde genom- stellten sich täglich bei ihren Einheiten. men. Noch am späten Abend rückten die Hinzu kamen Tausende von Freiwilligen, ersten Truppen ab, die II. Abteilung des die noch keine Einberufung erhalten hat- Feldartillerie-Regiments 43 (folgend FAR ten, aber unbedingt sofort mit ins Feld zie- 43 genannt). Ihr Ausmarsch von der Klever- hen wollten. Die Kasernen konnten die zu- Tor-Kaserne zum Bahnhof wurde praktisch strömenden Männer nicht fassen, obwohl von der ganzen Stadt begleitet.1 Es gab Ju- auch auf den Kasernenhöfen kampiert und bel, Winken und Abschiedstränen, Blumen gekocht wurde. Die Stadt stellte zusätzlich und Liebesgaben regneten auf die Soldaten 48 öffentliche Säle oder große Räume zur herab. Diese Szenen wiederholten sich in Verfügung, dazu auch die Schulen. Deut- den nächsten Tagen, bis alle aktiven Einhei- sche Flüchtlinge aus Belgien trafen mit ten auf volle Kriegsstärke gebracht, ausge- der Boxteler Bahn über die Niederlande rüstet und abgerückt waren.2 in Wesel ein,3 und zahlreiche Bauern aus

Das Wachgebäude der Klever-Tor-Kaserne mit dem alten Fries aus dem Jahre 1700. Es beindet sich seit 1975 an der Außenwand des Rathauses am Klever-Tor-Platz.

130 der Umgegend lieferten ihre Pferde auf Briefe, dazu über Tausend Fotos und Bilder. den Kasernenhöfen der Regimenter ab; die Auch fanden sich in Familienbesitz etliche Tiere waren bereits im Frieden von der Re- Notiz- und Tagebücher, die Soldaten wäh- montierungskommission erfasst worden.4 rend des Ersten Weltkriegs angelegt haben, Der Kriegsausbruch brachte sofort zahlrei- daneben eine Fülle amtlicher Dokumente: che Veränderungen und Beschränkungen Militärpässe, Soldbücher, Benachrichtigun- in den gewohnten Lebensrhythmus, die gen der Angehörigen, Führungszeugnisse, von der Zivilbevölkerung mit großer, aus Entlassungsscheine etc. Zu den Eingängen heutiger Sicht fast befremdlich anmutender zählen auch Orden und Ehrenzeichen so- Opferbereitschaft hingenommen wurden. wie besondere Stücke, die es so nur einmal Dazu zählte in den ersten Kriegswochen gibt. Diese Quellen enthalten viel Alltägli- auch die Unterbringung von Einberufenen ches, spiegeln aber auch die massiven Ver- in Bürgerquartieren, die großzügig und änderungen, die der Krieg für die Familien durchweg unentgeltlich zur Verfügung ge- mit sich brachte. Gesichter aus einer ver- stellt wurden.5 gangenen Zeit tauchen auf und Geschich- Von der Mobilmachung waren zahlrei- ten werden erkennbar: darunter kuriose, che Männer aus Wesel und ihre Familien dramatische und, wie es nicht anders sein ganz persönlich betroffen, einer von ihnen kann, auch sehr traurige. hieß Wilhelm Carl Ridder. Was wir von Die Geschichte von Wilhelm Carl Ridder ihm wissen, verdanken wir einem Projekt kann nicht lückenlos rekonstruiert werden, zum Ersten Weltkrieg, das vom Preußen- aber die nachgelassenen Objekte verleihen Museum NRW in Wesel im Frühjahr 2013 ihr Konturen – ein Mann und seine Fami- gestartet wurde. >In letzter Minute: Unse- lie treten aus der Anonymität des feldgrau- re Familie im Krieg<. Nie zuvor wurde so en Heeres im Ersten Weltkrieg heraus. Der viel geschrieben und fotograiert. Während von seinem Enkel eingegebene Bestand des ganzen Krieges beförderte die deutsche ist nicht eben groß: 20 Feldpostkarten, 13 Feldpost ungefähr 28,7 Milliarden Sendun- Briefe, der Militärpass, etliche Fotos – und gen in beide Richtungen: Postkarten, Brie- eine Todesanzeige. Einschränkend kommt fe, Päckchen und Pakete.6 So begegnet uns hinzu, dass nur ein Brief Ridders an seine der Erste Weltkrieg heute bisweilen noch Ehefrau darunter ist und keine an ihn ge- als „abgelegter“ Teil der Familiengeschich- richtete Post von seinen Angehörigen vor- te: ein Foto des Urgroßvaters (manchmal liegt.8 Dennoch lässt das Schriftgut wichtige auch noch des Großvaters) in Uniform, Menschen und Stationen in diesem Leben Feldpostkarten und -briefe, ein Eisernes aufscheinen und ermöglicht Rückschlüsse Kreuz mit der Jahreszahl 1914, auch Briefe darauf, was ein Mann dachte und empfand der Angehörigen aus der Heimat. Hier setz- über diesen Krieg, in den er ziehen muss- te das Projekt „In letzter Minute“ ein, das te, über seine persönliche Rolle darin, und einschlägige private Nachlässe aus unse- was er dabei erlebte und erlitt. rer Nachbarschaft in Wesel und am Nie- derrhein sichern, erfassen und erschließen Das Leben im Frieden will.7 Wilhelm Carl Ridder wurde am 22. Septem- Mittlerweile gab es erfreulich zahlreiche ber 1876 in Wesel geboren. Sein Vater Carl Antworten darauf. Momentan sind etwa Hermann war Inhaber eines bekannten, 80 private Eingänge zu verzeichnen, viele bereits 1827 gegründeten Fuhrgeschäftes; davon recht umfangreich. Das Gros be- seine Mutter Christine Charlotte war eine steht aus Schriftgut und Bildmaterial: über geborene Bauer, deren Familie aus Stuttgart zweitausend Feldpostkarten und fast 300 stammte und in Wesel ansässig geworden

131 Haus der Familie Ridder mit dem Firmensitz in Wesel um 1910. Das repräsentative Wohnhaus in der Augustastraße, Ecke Bismarckstraße entstand 1894. Dahinter der Geschäftshof mit Stallungen. Das Gebäude wurde durch die Luftangriffe 1945 vollständig zerstört. war. In der Familie und von Freunden wur- Die preußische Armee, und nach ihrem de er Willy genannt, und so wollen wir es Vorbild auch die übrigen Kontingente und durchweg auch hier halten Armeen des Deutschen Reichsheeres seit Mit knapp 19 Jahren trat Willy Ridder ins 1871, rekrutierten aus dem Kreis der Ein- Militär ein, und zwar in der privilegierten jährig Freiwilligen ihre späteren Reserve- Stellung als „Einjährig Freiwilliger“, der ofiziere.11 Die zu erfüllenden Bedingun- seinen zwei- bzw. dreijährigen Wehrdienst gen stellten eine rigide soziale Auswahl auf ein Jahr verkürzen konnte. Die Voraus- dar, indem sie bestimmten Schichten der setzung dafür war zunächst der Erwerb der Gesellschaft den Zutritt zum Korps der „Mittleren Reife“ oder eines anderen ent- potenziellen Reserveofiziere verwehrten. sprechenden Bildungsabschlusses. Und zu- Waren die städtische und ländliche Arbei- dem musste sich der Vater oder Vormund terschaft sowie das Handwerk, der Handel bereit erklären, für Bekleidung, Ausrüstung und das gewerbetreibende Kleinbürgertum und Lebensunterhalt des Einjährig Freiwil- normalerweise schon kaum in der Lage, ligen aufzukommen.9 Die Kosten dafür un- ihren Söhnen eine höhere Schulbildung zu terschieden sich nach Standort, Waffengat- gewährleisten, so bildete erst recht die i- tung und Exklusivität des Regiments. Unter nanzielle Bedingung eine faktisch unüber- 1.500–2.000 Reichsmark war allerdings windbare Hürde. nichts zu machen, was um 1900 etwa dem Im Dienst unterschieden sich die Einjährig doppelten Jahreslohn eines Bergmanns ent- Freiwilligen von den anderen eingezoge- sprach.10 nen Soldaten nur durch eine Kordel an der

132 Schulterklappe ihrer Uniform, genossen aber gewisse Vorrechte: Sie speisten mit den Ofizieren im Kasino des Regiments, hatten Zugang zu deren Festivitäten und waren ihnen gesellschaftlich gleichgestellt. Sie durften die Waffengattung wählen, bei der sie dienen wollten, und konnten auch Wünsche bezüglich des Regiments äu- ßern.12 Willy Ridder gehörte einer angesehenen und alteingesessenen Weseler Familie an, die über entsprechende Mittel verfügte und darüber hinaus zu jenen bürgerlichen Häu- sern zählte, „in denen die Liebe zu König und Vaterland, ein warmes Herz für den Soldatenstand und christliche Gesittung geplegt und anerzogen werden“.13 Er trat am 1. Oktober 1895 in das 1. West- fälische Feldartillerie-Regiment Nr. 7 ein14 (FAR 7), das seit alters her zu den „Haus- regimentern“ seiner Vaterstadt gehörte. Wesel zählte am Vorabend des Ersten Welt- krieges zu den größten Garnisonen des Kö- nigreiches Preußen und damit auch zu den Generalmajor Heuer, 1911–1914 Kommandant größten im Deutschen Reich. der Festung Wesel. In Paradeuniform vor dem Am Standort befanden sich die Komman- Schloss der Klevischen Herzöge in der Ritterstraße, dantur der Festung, verantwortlich auch wo seit dem 19. Jh. auch die Kommandantur für den Truppenübungsplatz Friedrichs- untergebracht war. feld, sowie die Kommandos der 79. Infan- terie- und der 14. Feldartillerie-Brigade. An Truppen lagen hier der Stab mit dem I. und II. Bataillon des Infanterieregiments Nr. 56 (IR 56), III. Bataillon in Kleve, dessen Kriegsgeschichte in einem kürzlich erschie- War die Garnison bereits kommunalpoli- nenen Buch von Alexander Berkel erzählt tisch und gesellschaftlich der bestimmen- wird, das auch auf bisher unveröffentlichte de Faktor in der Stadt, so ist auch ihre da- Foto- und Feldpostnachlässe zurückgreift. malige wirtschaftliche Bedeutung nicht zu Auch befanden sich hier das Infanterieregi- unterschätzen. Die Nachfrage an Gütern, ment Nr. 57 (IR 57) und das FAR 43, beide Dienstleistungen und Lebensmitteln be- komplett, der Stab und die erste Abteilung lebte das hiesige Handwerk und Kleinge- des FAR 7, sowie zahlreiche militärische werbe, den Einzelhandel, das Braugewerbe Dienststellen, die weitere Ofiziere, Un- und die heimische Gastronomie. Auch der terofiziere, Mannschaften und zivile Mili- einschlägige Bedarf des großen Truppen- tärbeamte beschäftigten. Von den 26.247 übungsplatzes in Friedrichsfeld, wo im ste- Menschen, die 1914 in der alten Stadt auf ten Wechsel Einheiten des VII. Armeekorps engstem Raum lebten, waren mehr als Quartier bezogen, wird vorwiegend in 4.000 Militärangehörige.15 Wesel gedeckt worden sein.

133 Willy Ridder absolvierte seine einjährige Damit hatte er grundlegende vorgeschrie- Dienstzeit ohne besondere Auffälligkeiten. bene Qualiikationen und Bedingungen Am 1. April 1896 wurde er zum Gefrei- fristgerecht erfüllt, um Reserveofizier wer- ten befördert, drei Monate später bereits den zu können. Was noch fehlte, war das zum Unterofizier und am 30. September Bestehen der Ofiziersprüfung, danach die 1896 als Geschützführer der 2. fahrenden Beförderung zum Vizewachtmeister, die Batterie entlassen, bzw., wie es in seinem Einwilligung des Regimentskommandeurs Militärpass steht, „zur Reserve beurlaubt“. und schließlich: die geheime Wahl (Koop- Bereits im kommenden Jahr war er wieder tation) durch alle übrigen Ofiziere des zu- drei Monate Soldat und absolvierte vom ständigen Landwehrbezirks.17 1. Juni bis zum 20. September zwei Wehr- Irgendetwas jedoch wird bei Willy Ridders übungen unmittelbar nacheinander.16 Avancement zum Leutnant der Reserve dazwischen gekommen sein. Bereits zum Vizewachtmeister ist er zunächst nicht be- fördert worden. Gründe dafür sind nicht bekannt; vielleicht brachte der junge Mann doch nicht genügend Begeisterung oder Energie auf, vielleicht hatte er auch einfach nur Pech, weil ihm ein kleines militärisches Malheur passiert war. Natürlich hätte der Rang „Leutnant d. R.“ seinerzeit auf der Visitenkarte eine Menge her gemacht, aber wir dürfen annehmen, dass Willy Ridder unter dessen Fehlen nicht besonders gelitten hat. Sein sozialer Status wurde dadurch nicht sonderlich be- einträchtigt. Als Sohn eines bekannten und wohlhabenden Bürgers hatte er in der noch recht überschaubaren Gesellschaft Wesels

Batteriechef und Trompeter vom Westfälischen Feldartillerie-Regiment Nr. 7. Auffahren einer Batterie, Uniformen und Ausrüstung um 1890, kol. Zeichnung. Die Artilleristen trugen keinen „Pickel“ Wilhelm und Mietze Ridder, geb. Dinnendahl auf der Haube, sondern eine Kugel. Kragen und zur Zeit ihrer Vermählung, Atelierfotos, Ärmelaufschläge zeigen die Waffenfarbe schwarz. Wesel um 1902.

134 seinen festen Platz. Zumal ihm das zivile Leben in den kommenden Jahren ein rei- ches Betätigungsfeld und erfreuliche Pers- pektiven bot. Nach dem Tod des Vaters übernahm er das Fuhrgeschäft und baute es weiter aus. Am 16. August 1902 heiratete er Maria (Mietze) Dinnendahl (1879–1920) aus einer eben- falls in Wesel alteingesessenen Familie. Die Hochzeit wurde im großen bürgerlichen Festrahmen begangen. Über die Speisen- und Spielfolge der Mu- sikdarbietungen sowie über die zu Gehör gebrachten Festlieder geben noch erhaltene aufwändige Druckwerke Auskunft. Am 10. April 1904 kam Sohn Kurt zur Welt, und auf den Stammhalter folgte drei Jahre später das Töchterchen Anne-Liese.18 Natürlich nahm das junge Ehepaar am gesellschaft- lichen Leben Anteil. Das Korps der Wese- ler Bürgerschützen mit seinen zahlreichen Zusammenkünften und Festivitäten spielte Karte mit Speisen- und Liederfolge. dabei eine besondere Rolle, Mietze Ridder Zum Hochzeitsfest von Willy Ridder 19 war 1905 Schützenkönigin. Darüber er- und Maria Dinnendahl.

Cranz, 1905–1907 Kommandant der Festung Wesel (vor- dere Reihe, 3.v.r.), und der preußische Finanzminister Ge- org von Rheinbaben, seit 1910 Oberpräsi- dent der Rheinpro- vinz (vordere Reihe, 5. v. r.). Der spätere Namenspatron der Weseler Rheinbrü- cke unterhielt schon als Regierungspräsi- dent in Düsseldorf beste Kontakte zu den Bürgerschützen von Wesel. Willy Rid- der in der vorderen Festfeier der Bürgerschützen Wesel 1906. Aufnahme im Garten des alten Reihe stehend, ganz Schützenhauses mit zivilen und militärischen Ehrengästen, darunter Oberst links.

135 gaben sich wiederum erwünschte Kontakte lebte gern in seiner Heimatstadt, ein ar- zum angesehensten Kreis der damaligen beitsreiches, erfülltes Leben. Wohin der Gesellschaft: den aktiven Ofizieren und 30jährige damals auch blicken mochte, ihren Damen. überall tat sich eine vielversprechende Zu- Nach der Schleifung der Stadtbefestigung kunft auf: im Hinblick auf die Entwicklung hatte Wesel zu Beginn des 20. Jahrhunderts seiner Firma, auf sein junges Familienglück ein neues Gesicht angenommen, am allge- und auch auf die allgemeine politische, meinen wirtschaftlichen Aufschwung teil- wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung genommen und den Anschluss an die Mo- im noch recht jungen Deutschen Reich. derne gefunden. Dessen ungeachtet war Wesel aber im Wesentlichen geblieben, Was sein „Militärverhältnis“ anbelangte, was es auch bereits zuvor gewesen war: war er 1903 aus der Ersatzreserve in die eine charakteristische Festungs- und Garni- Landwehr I. Aufgebot übergetreten.20 Auch sonstadt. Nach wie vor bestimmte das Mili- in dieser Kategorie waren Wehrübungen tär nicht nur wichtige kommunalpolitische noch Plicht. Willy Ridder absolvierte eine Prozesse, sondern auch das öffentliche Le- weitere vom 3. bis zum 16. Oktober 1905, ben und das alltägliche Erscheinungsbild allerdings nicht bei seinem Weseler Regi- der Stadt. ment, sondern beim 2. Ober-Elsässischen Die Zeitgenossen, jedenfalls die weitaus Feldartillerie-Regiment Nr. 51, das in Straß- meisten, hatten nichts oder nur wenig da- burg in Garnison stand.21 Am Ende dieses gegen einzuwenden. Auch Willy Ridder Jahres wurde er dann durch Verfügung des

Die Klever-Tor-Kaserne in Wesel um 1910. Ende des 19. Jh. erbaut und seit 1902 Heimstätte des neu aufgestellten Feldartillerie-Regiments Nr. 43.

136 Generalkommandos in Münster zum Vize- dem Regiment am 27. Januar 1902 endgül- wachtmeister befördert22 – unabdingbare tig seinen Namen: „Clevesches Feldartille- Voraussetzung dafür, noch „Leutnant der rie-Regiment Nr. 43“.28 Die Provinzialbe- Landwehr“ (Lt.d.L.) zu werden. zeichnung wies darauf hin, dass das neue Das zivile Leben stand jedoch ganz im Vor- Regiment vorwiegend am Niederrhein re- dergrund, ansehnlich umgeben durch den krutierte. Es fand seine Heimat in der neu- neuen militärischen Rang. Für den Inhaber en Klever-Tor-Kaserne in Wesel und rückte der „Firma B. Ridder, Spedition, Roll- und von hier aus in den Krieg.29 Lastfuhrwerke, Kohlen, Koks und Briketts, Das FAR 43 bildete mit dem FAR 7 die 14. Augustastraße 2“23 hatte es mit der zivilen, Feldartillerie-Brigade, die beiden Weseler friedlichen Existenz am 2. August 1914 für Infanterie-Regimenter 56 und 57 die 79. immer ein Ende – ebenso wie für Millionen Infanterie-Brigade. Gemeinsam mit zwei andere. weiteren Infanterie-Brigaden30 sowie einer Kavallerie-Brigade31 waren sie in der 14. Der Krieg Division zusammengefasst, die ihr Frie- Willy Ridder wird sich aufgrund seines dens-Hauptquartier in Düsseldorf hatte.32 Dienstgrades relativ früh nach der Mobil- Mit Ausbruch des Krieges in „14. Infante- machung bei seinem Regiment in Wesel rie-Division“ umbenannt, wurde diese nur haben stellen müssen. Das genaue Datum an der Westfront eingesetzt und blieb trotz ist nicht bekannt, aber wegen seines rela- verschiedener Änderungen wesentlich in tiv fortgeschrittenen Alters war der 38jäh- ihrer Grundformation bestehen, so dass die rige zunächst nicht für eine Frontverwen- Weseler Regimenter praktisch den ganzen dung vorgesehen. Nachdem das FAR 7 auf Krieg Seite an Seite kämpften.33 Kriegsstärke gebracht war, rückte es am 9. Nach dem Scheitern des großen Westan- August aus.24 Ridder tat zunächst Dienst in griffs an der Marne und dem anschließen- der so genannten „Ersatzabteilung“ des Re- den Rückzug verfolgte die Oberste Hee- giments, die in Wesel zurückblieb und für resleitung (OHL) grundsätzlich noch die die Ausbildung der eingezogenen Rekruten Absicht, an der linken Flanke der feindli- zuständig war. Am 15. September wurde er chen Streitkräfte vorbei zu stoßen und wie- hier zum „Ofizier-Stellvertreter“ ernannt,25 der in den „Bewegungskrieg“ überzugehen. eine Art militärisches „Zwitterwesen“ zwi- Aber auch die französischen und britischen schen Unterofizier und Ofizier.26 Truppen dehnten ihre Front immer wei- Seine Angehörigen werden das mit Erleich- ter nach Nordwesten aus, vereitelten alle terung aufgenommen haben. Er war Soldat Durchbruchsversuche der Deutschen und und blieb doch in ihrer Nähe, konnte viele versuchten selbst den Durchbruch, eben- Abende auch zu Hause verbringen. Doch so erfolglos.34 Die 14. Division wurde An- die großen Verluste gleich zu Beginn des fang Oktober aus den Stellungen an der Krieges beendeten auch diesen „Heimat- Aisne herausgezogen und an den rechten dienst“ sehr schnell. Bereits am 28. Sep- Heereslügel in den französischen Teil der tember traf Willy Ridder an der Front ein,27 alten Grafschaft Flandern verlegt, in den nunmehr versetzt in das FAR 43. Ein „jun- Raum südwestlich von Lille, zwischen den ges“ Regiment, das im Zusammenhang mit beiden Orten Neuve Chapelle und La Bas- der Heeresvermehrung und Neuorganisa- sée.35 Hier blieben die Soldaten aus Wesel tion der Feldartillerie am 1.Oktober 1899 über ein Jahr, besonders das Städtchen La neu aufgestellt worden war, und zwar aus Bassée, etwa 3 Kilometer hinter der Front, dem Personal-, Waffen- und Pferdebestand und seine Umgebung setzten sich tief in des „alten“ FAR 7. Kaiser Wilhelm II. gab der Erinnerung der Beteiligten fest.

137 Ortskern von La Bassée 1915/16. Bildmotiv einer Feldpostkarte, abgesandt von Willy Ridder am 24. April 1916. In unmittelbarer Nähe der kleinen Gemeinde im Arrondissement Lille fand 1915 die mehrmonatige, so genannte „Loretto-Schlacht“ statt. Im Keller des Hauses rechts war der Verbandsplatz des IR 57, wo den Verwundeten eine erste ärztliche Hilfe geleistet werden konnte.

Die erste Verwendung Willy Ridders war 1915 bei der leichten Munitionskolonne der I. In diesem Jahr bemühten sich die Alliier- Abteilung seines Regiments, wie aus dem ten immer wieder, den Durchbruch durch Absendervermerk seiner Feldpostkarte her- die deutsche Front zu erzwingen, auch um vorgeht.36 den russischen Verbündeten zu entlasten, Bei La Bassée standen den Deutschen eng- der sich einer erfolgreichen deutschen Of- lische und indische Truppen gegenüber, be- fensive ausgesetzt sah. In der Champagne reits von Oktober bis Weihnachten fanden (Franzosen) und im Nordwesten zwischen sehr schwere Kämpfe statt.37 Die Soldaten Ypern und Lille (Briten) kam es zu großen erlebten zum ersten Mal den „Stellungs- Schlachten mit entsetzlichen Verlusten. krieg“ – zu welchem Inferno sich dieser Trotz ihrer zahlenmäßigen und materiellen in den nächsten Jahren entwickeln wür- Überlegenheit vermochten es die französi- de, ahnte noch niemand. Ende 1914 war schen und britischen Streitkräfte nicht, ihre die Westfront endgültig zum Stehen ge- Ziele zu erreichen.38 Bei Ypern erfolgte der kommen und erstreckte sich nun von der erste Einsatz von Chlorgas an der Westfront Schweizer Grenze bis an die Küste des Är- am 22. April 1915 durch deutsche gegen melkanals. britische Truppen.39

138 Willy Ridder schickt Mitte März seiner Schwester Anna eine Feldpostkarte;40 in- zwischen ist er zum Ofizier (Leutnant der Landwehr) befördert worden und fungiert als Verplegungsofi- zier im Stab der II. Ab- teilung seines Regi- ments.41 Auch wenn an der Front relative „Ruhe“ herrscht, be- schießt die Artillerie regelmäßig Stellun- gen des Feindes oder antwortet auf dessen Geschützfeuer. Ge- gen Ende des Mo- nats ist Ridder vor- übergehend zur 6. Batterie abgeordnet und nimmt mit de- ren Haubitzen42 selb- ständig den Feind un- ter Beschuss, er hat 24 Stunden Dienst und dann 24 Stunden „frei“.43 Im Frühjahr fanden bei Neuve Chapelle (März) und La Bas- sée (Mai/Juni) wie- der äußerst schwere Kämpfe statt, die den Truppen alles abver- langten. Eine Feld- postkarte Ridders, in aller Eile an seine Schwester Anna ge- Karte des westlichen Kriegsschauplatzes 1914–1916, mit dem Frontverlauf schrieben, vermerkt, und seinen unwesentlichen Veränderungen von Ende 1914 bis Ende 1916. dass „der Feind sei- ne schwere Artillerie ständig“ vermehre und dass die täglichen relativ gering gegenüber den „enormen“ Kämpfe immer heftiger würden. Die „be- der Engländer.44 dauerlichen“ eigenen Verluste seien jedoch

139 den Feldpostkarten tra- gen dieses Datum. Sei- ner Schwester schildert er die Ruhestellung am Rand von Lille als „sehr malerisch, … von Wald, Wiesen und Äckern ein- gesäumt, etwas sumpig mitunter, doch fruchtbar und üppig“.45 Auch die Nichte Lotte Conrad er- hält einen Kartengruß; einige erklärende Zeilen des Absenders zum Bild- motiv weisen auf eine der schlimmen Folgeer- scheinungen des Kriegs hin, die den Soldaten natürlich nicht verborgen blieb: die schwierigen Le- bensumstände besonders der Frauen und Mädchen im besetzten Nordfrank- reich: „Das Bild zeigt Mädchen der Zeche von Lens, die die Kohlenwa- gen über Tage schieben, jetzt im Kriege liegen die Zechen fast alle still u. die Leute haben keinen Verdienst u. leben zum Teil von dem, was ihnen die Soldaten abgeben“.46 Da die arbeitsfähigen Männer nahezu alle im französischen Heer dien- ten, wurden die jungen Die Kirche von La Bassée Ende 1914. Im Sommer 1915 war von der Frauen sowie Mädchen Kirche nur noch ein Trümmerhaufen übrig. und Jungen über 15 Jahre von den deutschen Be- satzern zum Arbeitsdienst verplichtet und hatten zum Teil auch schwere Ende Juli ist die Verteidigungsschlacht körperliche Arbeit zu verrichten.47 langsam verebbt. Am 19. hat der Leutnant Dem Schwager Heinrich schließlich zeigt der Landwehr Ridder offenbar etwas Zeit sich der Frontsoldat verhalten zuversicht- zum Schreiben; gleich drei der vorliegen- lich und glaubt, dass die deutschen Ab-

140 Arbeitskräfte einer Zeche in Lens. Bildmotiv einer Feldpostkarte, abgesandt von Willy Ridder am 19. Juli 1915.

wehrerfolge im Westen und die siegreiche war unmittelbar zuvor eingeführt worden, Offensive im Osten den Krieg bis Weih- als sich abzeichnete, dass dieser Krieg län- nachten beendet haben werden.48 ger dauern würde.51 Daraus wurde nichts, jedoch scheint das Und kaum wieder in Frankreich, erhält er zweite Halbjahr 1915 für den 39jährigen nochmals einen längeren Sonderurlaub, Willy Ridder unter einem glücklicheren um seine Ehefrau geschäftlich zu entlasten, Stern gestanden zu haben. Im Sommer da der angestellte Geschäftsführer erkrankt kann er zum ersten Mal in Heimaturlaub ist.52 Als er dann wieder in die „Zwangsja- nach Wesel fahren und seine Familie wie- cke des Dienstes“ zurückkehren muss, tobt dersehen, wie aus dem Text einer weiteren bereits die so genannte „Herbstschlacht“ Feldpostkarte hervorgeht.49 Hier ist auch bei La Bassée. Doch Ridder wird zunächst zum ersten Mal der jüngste Bruder Ernst vom Frontdienst befreit. Als Verplegungs- (1894–1938) erwähnt, der als Kriegsfrei- ofizier ist er auch für die Kantinen seiner williger nun ebenfalls im FAR 43 dient.50 Abteilung verantwortlich und kann für eini- Der Heimaturlaub für Frontsoldaten, nach ge Tage in der belgischen Etappe Besorgun- Möglichkeit mindestens einmal pro Jahr, gen und Einkäufe erledigen.53

141 Willy Ridder (2. v. r.) mit Kameraden im Ruhequartier, Foto April 1915.

Der Rest des Jahres und der Beginn des fol- 1916 genden vergehen relativ ruhig, allerdings Im März schreibt Willy Ridder, dass er „seit verursachen der feindliche Artilleriebe- einiger Zeit die Hände voll Arbeit“ hat. Ihm schuss und verstärkte Luftangriffe auch im ist die Vertretung des erkrankten Abteilungs- unmittelbaren Hinterland der Front immer Adjutanten „aufgehalst“ worden, natürlich wieder Verluste. Das FAR 43 unternimmt zusätzlich zu seinen sonstigen Aufgaben. seinerseits verschiedene Male „Zerstö- Auch schreibt er von unmittelbar bevorste- rungsschießen“ auf die englischen Stellun- henden großen Veränderungen. Er wisse gen.54 Die gegnerischen Angriffe, der steti- jedoch nicht, welcher Art diese seien und ge Wechsel von Kampfbereitschaft in der dürfe ohnehin darüber nichts berichten.55 Feuerstellung, oft mit mehreren Tagen ohne richtigen Schlaf, mit dem weniger gefährli- Zunächst handelte es sich um erfreuliche chen, aber umso öderen Kommissbetrieb in Veränderungen: Ende März wurde die ge- der „Ruhestellung“ – all das ist für die Män- samte 14. Division aus der Front genom- ner zur Routine geworden, die Hoffnungen men und erhielt die erste wirkliche Ruhe- auf einen baldigen Frieden schwinden im- pause in diesem Krieg. In und bei Tournai mer mehr. in Belgien wurden Waffen und Ausrüs-

142 Feuerstellung – angelegt von der 3. Batterie des FAR 43 am Kanalhafen von La Bassée, Herbst 1915.

tung instand gesetzt, die Pferde geplegt, Westgruppe in seinen alten Stellungen im die Batterien mit neuen Soldaten ergänzt, Forges-Wald.58 und konnten die Männer hier des Nachts Während der Sommermonate hatte die endlich einmal wieder ungestört durch- Gefechtstätigkeit auf beiden Seiten etwas schlafen. Tagsüber standen Exerzieren, Ge- nachgelassen. Die Deutschen hatten ihre schützreinigen, Richt- und Fahrübungen Angriffe eingestellt, und im Herbst gingen sowie Reitstunden auf dem Dienstplan56 die Franzosen zur Offensive über, nahmen – der Dienstbetrieb ging schnell wieder in das Fort Douaumont wieder ein, erzielten einen friedensmäßigen „Kasernenhofdrill“ auf dem Ostufer der Maas einen Gelände- über. gewinn, machten zahlreiche Gefangene Anfang Juni 1916 wurde Ridders Division und erbeuteten eine Menge Geschütze. Für dann in den damaligen Brennpunkt der einen Moment sah es am 15./16. Dezem- Westfront geworfen, der verbunden ist mit ber danach aus, dass die deutsche Front dem Namen einer Stadt und Festung, der durchbrochen würde. Nur mit größter An- zum Symbol wurde für das namenlose strengung und unter Aufbietung aller Reser- Grauen der Materialschlachten, für unge- ven konnte dies verhindert werden.59 heure und sinnlose Verluste: Verdun. Das Das FAR 43 hatte daran einen besonderen FAR 43 wurde bis Oktober bei der „Maas- Anteil und erlebte in der Hölle vor Verdun gruppe West“ eingesetzt, dann bei der wohl die schwersten Tage des ganzen Krie- Ostgruppe im schwer umkämpften Chau- ges. Die Artilleristen arbeiteten mit ange- me-Wald57 und schließlich wieder bei der legten Gasmasken stundenlang an den Ge-

143 Getarnte Batteriestellung des FAR 43 vor Verdun. Im Chaume-Wald nahe des völlig zerstörten Dorfes Ornes, Dezember 1916.

schützen, waren vorübergehend von den Übrigen lassen nur eingestreute, verhaltene eigenen Streitkräften abgeschnitten und Anmerkungen Rückschlüsse auf die ange- hatten sich im Nahkampf gegen französi- spannte Situation an der Verdun-Front zu: sche Infanterie zu wehren, die bereits in die tägliche Verluste, Mangel an Pferden, we- Feuerstellungen eingebrochen war. Erst zu niger Leute in den Batterien und Kolonnen, Weihnachten wurde das Regiment in ein selbst „in Ruhe“ nur Unterkunft in feucht- rückwärtiges Ruhequartier verlegt.60 kalten Holzhütten. Die eigenen Erfolgsaus- Die vorliegende Feldpost gibt über die Er- sichten schätzt Ridder nun weitaus ungüns- lebnisse Wilhelm Ridders vor Verdun nur tiger ein und setzt diesbezüglich mehr auf sehr wenig Aufschluss. Offenbar hat er in die militärisch-politische Entwicklung im den etwas ruhigeren Sommermonaten wie- Osten. Er freut sich zwar über das „Liebes- der einen Heimaturlaub antreten können, gabenpäckchen“ der Schwester und dankt da eine Karte von ihm aus Wesel an sei- herzlich für die Leckerbissen, ihn bedrückt ne Schwester Anna vom 31. August 1916 die Gabe aber auch, weil „in der Heimat“ datiert ist.61 Ein längerer Feldpostbrief mittlerweile „alles so knapp“ geworden ist, ebenfalls an Anna im November erwähnt „während wir hier draußen in ungerechter lediglich, dass die „große Kampftätigkeit“ Weise reichlich mit Lebensmitteln versorgt vor Verdun „etwas nachgelassen“ hat.62 Im werden.“63

144 1917 des Geschäftsführers für angemessen hält, Bis zum Frühjahr verblieb das Regiment in ob nicht eine Zulage oder einmalige Tanti- den Stellungen vor Verdun. Wilhelm Ridder eme angebracht wäre.65 hat diese schlimme Zeit gut überstanden Die privaten Sorgen musste er dann wieder und weiß seiner Schwester im Februar 1917 mit an die Front nehmen, noch bedrücken- Erfreuliches zu berichten. Er ist zum Batte- der durch das Bewusstsein, nicht helfen rieführer-Lehrgang vom 3. April bis zum 12. und raten zu können. Die 14. Division und Mai an der Schießschule im brandenburgi- mit ihr sein Regiment nahm inzwischen an schen Jüterbog kommandiert: „Selbst gehe den Stellungskämpfen entlang des „Chemin ich nun für 10 Wochen nach Deutschland des Dames“ (Damenweg) teil – ein Höhen- und verlasse nicht ungern einmal für länge- zug in Nordfrankreich zwischen den Städ- re Zeit den Frontdienst. Ein „ehrenvolle(s) ten Laon, Soissons und Reims. Der schöne Kommando“, auf das Ridder stolz ist, das Name stammt aus der Zeit Ludwigs XV., als ihm aber auch eine Auszeit vom Krieg bie- die Prinzessinnen und Hofdamen dort auf tet, ein relativ friedensmäßiges Dasein und einem extra für sie angelegten Weg prome- ein Wiedersehen mit der Familie. Denn nieren konnten. Im Ersten Weltkrieg war ihm ist vor dem Lehrgang noch ein Hei- der Höhenzug über Jahre stark umkämpft, maturlaub in Wesel bewilligt worden, wo besonders 1917 spielte sich hier eine der er auch seine Schwester und deren Fami- blutigsten „Materialschlachten“ des gan- lie wiederzusehen hofft. Schließlich gibt es zen Krieges ab.66 Die sachliche Bezeich- auch noch gute Nachrichten vom Bruder nung lässt nicht das Leid und die Opfer Ernst, der zum Ofiziersanwärter einge- erahnen, denen die Menschen in solchen reicht ist: „Familie Ridder scheint beim Re- „Materialschlachten“ ausgesetzt waren. giment eine bessere Nummer bekommen Die Millionenheere beider Seiten standen zu haben. Heute mache ich vor der Hand sich mit modernen Waffen gegenüber, die meinen letzten Frontdienst u. hoffe, am 21. einen Wirkungsgrad erreicht hatten, der fahren zu können.“ 64 Truppenbewegung und -führung frühe- Vom Lehrgang in Jüterbog schreibt Wil- rer Art unmöglich machte. Man versuch- helm Ridder an seine Frau Mietze in We- te nun, den Gegner durch Ermattung und sel – der einzige Brief an die Ehefrau, den Verschleißung niederzuringen. Aber auch das vorliegende Konvolut enthält. Über den der Einsatz von immer mehr Geschützen, Dienst unterrichtet er seine Frau nur kurz von Gas, gepanzerten Kampfwagen (Tanks) und allgemein, wohl wissend, dass sie sich und Flugzeugen vermochte die erstarrten dafür nicht so brennend interessiert. Von Frontlinien nicht wieder in Bewegung zu möglichen Freizeit-Exkursionen Ridders bringen. ins nicht so weit entfernte Berlin und von Immer noch träumten die Generale vom Besuchen dort ist die Rede. Vor allem aber „Bewegungskrieg“ des 19. Jahrhunderts, von privaten Sorgen. Mietze Ridder scheint immer wieder setzten sie auf den „Durch- nicht mehr ganz gesund zu sein; eine chro- bruch“ – wie besessene Spieler im Kasino, nische Erkrankung hat sie auch davon ab- die mit jeweils doppeltem Einsatz den vor- gehalten, mit ihrem Mann einige Tage in herigen Verlust ausgleichen und das Glück Berlin zu verbringen. Ridder bittet sie drin- endlich erzwingen wollen.67 Im April 1917 gend, einen Spezialisten aufzusuchen, und begann am Chemin des Dames eine neue will zusehen, „nochmals für einige Zeit in französische Offensive, die schnell im Ab- Urlaub zu kommen“. Auch eine geschäft- wehrfeuer der Deutschen zusammenbrach. liche Frage wird angesprochen. Er möchte Die riesigen Verluste führten zu großen von seiner Frau wissen, ob sie das Gehalt Meutereien im französischen Heer und zur

145 Abberufung des Oberbefehlshabers, Gene- lebte. Auf einer Frontbreite von 10 km wur- ral Nivelle. Die deutschen Soldaten ahnten den 1830 Geschütze eingesetzt, darunter nicht, wie schlimm es gegenüber stand, ih- 986 schwere.74 nen ging es selber kaum besser.68 Das FAR 43 leidet wie die anderen deut- Willy Ridder ist im Mai wieder „zu Hau- schen Einheiten schwer unter dem unaus- se“, d. h. beim Regiment; nach der Rück- gesetzten Beschuss. Die Batterien erwidern kehr vom Lehrgang wird er zur 6. Batterie das feindliche Feuer, doch die Munition kommandiert.69 Im heißen August 1917 ist geht aus. Granaten, Verplegung, Sanitäts- den Soldaten noch einmal ein Atemholen, material – nichts kann mehr in die Stellun- ein Aufschub beschieden. Das Regiment gen gebracht werden, da alle Nachschub- ist in der fruchtbaren Umgebung des Städt- wege unter ständigem Feuer liegen. Auch chens Vervins untergebracht, die Dörfer die Nachrichtenverbindungen sind zerstört. verstecken sich unter dem Blätterdach der Nach einer nochmaligen Verstärkung des Bäume, das Obst reift und das Korn wird Trommelfeuers beginnt am 23. Oktober der geschnitten. Gewohnt an die seelenlosen französische Infanterieangriff, unterstützt Mondlandschaften der Zerstörung, sehen von Panzerwagen. Die 14. Division muss die Männer nun wieder Kühe, grüne Wie- sich nach drei Tagen zurückziehen, da die sen und Weiden; frische Milch, Butter und Front der Nachbardivision durchbrochen Käse sind lang entbehrte Genüsse.70 Für ist und sie sich der Gefahr ausgesetzt sieht, den Leutnant Ridder und seine Kameraden abgeschnitten zu werden. Auch das FAR 43 von der 6. Batterie wird die Pause noch et- kann sich im Hexenkessel des Pinon-Wal- was verlängert: Gemeinsam mit der 4. Bat- des nicht halten, am 27. Oktober wird es terie werden sie weit nach hinten auf den endgültig aus der Frontlinie herausgezogen, Übungsplatz Mouzon bei Sedan verlegt, seine Verluste betragen: zwei Ofiziere tot, wo sie als Übungstruppe für Generalstabs- sechs verwundet (davon zwei in Gefangen- kurse dienen und wo „die faulste Zeit im schaft), 59 Unterofiziere und Mannschaf- Kriege verlebt wurde.“71 ten tot, 131 verwundet, gefangen oder ver- Am 18. September treffen sie wieder beim misst, 18 Geschütze verloren, 110 Pferde Regiment ein, das nun Stellungen in der tot oder verwundet.75 Sehr wahrscheinlich Frontlinie Soissons-Laon bezieht.72 Neue ist auch Ridders Bruder Ernst bei diesen französische Angriffe werden erwartet, für Kämpfen in Gefangenschaft geraten, seine Ridder als Batterieofizier heißt das: stän- 3. Batterie wurde völlig vernichtet76; Ernst diger Dienst in der Feuerstellung, erhöhte Ridder hat den Krieg jedoch überlebt. Verantwortung und erhöhte persönliche Wilhelm Ridders 6. Batterie hat besonders Gefahr. Die eigenen Stellungen erscheinen in den Tagen des feindlichen Trommelfeu- ihm ungünstig, er befürchtet, vom Feind ers „fürchterlich zu leiden.“77 Er selber auch im Rücken gefasst zu werden.73 Tat- bleibt unversehrt, jedenfalls rein äußerlich. sächlich war der vorspringende Frontwin- Wie es heißt, kehrte das Regiment „nicht kel in der so genannten „Laffaux-Ecke“ an nur stark gelichtet, sondern auch seelisch den Flanken gefährdet und konnte mögli- außerordentlich niedergedrückt“78 aus die- cherweise vollständig umfasst werden. sen Kämpfen zurück. Hinter solchen Be- Die Befürchtungen traten ein. Am Nach- schreibungen, die bewusst möglichst sach- mittag des 16. Oktober begann die franzö- lich oder auch beschönigend formuliert sische Artillerie mit der Feuervorbereitung wurden, verbargen sich massive psychische des Großangriffs, die 5 Tage ununterbro- Traumata bei den betroffenen Soldaten. chen andauerte. Die Stärke des feindlichen Im nächsten Feldpostbrief, den Willy Ridder Artillerie-Einsatzes übertraf alles bisher Er- kurz vor Weihnachten nach Hause schreibt,

146 steht nichts von alledem. Die Truppe liegt ich vorläuig nicht an Urlaub denken, und nun wieder in einer eher ruhigen Frontstel- sollte es zum Bewegungskrieg kommen, lung, und der Leutnant verschweigt seiner dann wird es bis zum Kriegsende wohl Schwester die kürzlich durchlebten Schre- überhaupt keinen mehr geben.“80 Dieses cken. Die Schilderung des Dienstbetriebes Thema scheint auch im nächsten Schrei- trägt eher karikierende Züge, so als wolle ben, an seine Schwester Anna Anfang März, sich der Absender ein wenig lustig machen deutlich auf: Der angestrebte „Bewegungs- über das Militär, nach dem Motto: alles krieg“ nach der großen „Durchbruchs- halb so schlimm, liebe Schwester! Aller- schlacht“ – und dann das Ende des Krieges. dings habe der Krieg die Soldaten zu „trä- Zunächst steht jedoch die Ausbildung und gen, faulen und abgestumpften Menschen Vorbereitung der Truppe im Vordergrund, gemacht“, und er selber sei zu einem rech- so intensiv wie noch nie in diesem Krieg. ten „Kommisskopf“ geworden. Dann folgen Die Ofiziere haben nur einen Abend in noch Beschwerden über tumbe, aber von der Woche wirklich frei, die übrigen sind sich selbst sehr eingenommene Vorgesetzte, belegt mit Vorträgen und dem Studium der die höhere Befehle falsch auslegen und mit Dienstvorschriften.81 ihren unsinnigen Anordnungen den Leuten Inzwischen hatten die Planungen der OHL auf die Nerven gehen. Ansonsten weisen konkretere Gestalt angenommen. Zu Be- die Äußerungen Ridders bereits auf die Er- ginn des Jahres 1918 standen die Mittel- eignisse des kommenden Jahres hin. Man mächte mit dem Rücken zur Wand, aber beinde sich in der Ausbildung, der Winter der Krieg war militärisch noch nicht verlo- müsse genutzt werden, damit die Truppe im ren. Nachdem das Deutsche Reich wieder Frühjahr bereit sei für den letzten großen den unbeschränkten U-Boot-Krieg erklärt Schlag, „da sich das Ende des Krieges nur hatte, waren die USA im Februar 1917 auf durch Offensive erreichen lasse.“79 Seiten der Entente in den Krieg eingetreten. Frontofiziere wie Wilhelm Ridder nahmen Dies hatte bisher noch keine gravierenden auf, was ihnen die eigene Anschauung ver- Auswirkungen gehabt, aber bald würde mittelte, was nach der allgemeinen Kriegs- sich das militärische und wirtschaftliche entwicklung nahe lag und was aus höhe- Potenzial Amerikas spürbar machen. Im ren Stäben an konkreten Informationen Sommer 1918 rechnete man mit ca. einer durchsickerte. Was in der Luft lag, waren Million Soldaten der US-Army in Frank- Überlegungen, die auf den Plan für die reich, bestens versorgt und ausgerüstet „Große Schlacht in Frankreich“ hinauslie- mit modernen Waffen. Die 3. OHL, deren fen: Mit Hilfe der im Osten frei geworde- Entscheidungen maßgeblich vom General nen Truppen eine große deutsche Offensive Ludendorff bestimmt wurden,82 lehnte eine im Westen, die den Krieg in letzter Minute Verständigung mit den Kriegsgegnern ab siegreich beenden sollte. und setzte immer noch auf „Siegfrieden“. Um diesen zu erzwingen, wollte man die 1918 für Deutschland günstige Entwicklung in Zu Anfang des Jahres konnte Willy Ridder Osteuropa konsequent ausnutzen. Die rus- noch einmal einen Heimaturlaub in Wesel sische Armee hatte nach der Februar-Revo- verbringen. Er berichtet seiner Schwester lution 1917 zunehmend an Kampfkraft ver- Paula in einem Feldpostbrief Ende Januar loren, seit der Oktober-Revolution Lenins davon. Das Heimkommen sei ja schön, schied sie aus den Reihen der deutschen aber der Abschied werde bei jedem neuen Gegner aus. Das Deutsche Reich hatte im Male schwerer. Dieser Urlaub werde wohl Februar 1918 einen Separatfrieden mit der sein letzter gewesen sein, „denn nun kann unabhängig gewordenen Ukraine abge-

147 Kartenskizze, Westfront in der zweiten Kriegshälfte. Die größten Frontverände- rungen ergaben sich 1917 durch den vorbereiteten Rückzug der Deutschen in eine besser zu verteidigende Stellung („Siegfriedlinie“) sowie 1918 durch die anfangs erfolgreiche große deutsche Offensive, deren Abwehr und danach durch das stetige Vordringen der Westalliierten im Herbst.

148 schlossen und einen Monat später in Brest- Die restlichen Wochen vergehen mit dem Litowsk einen Diktatfrieden gegenüber Warten auf den Angriff. Kurz zuvor schickt der neuen Sowjetregierung durchgesetzt. Ridder noch schnell eine Feldpostkarte Etwa eine Million deutsche Soldaten im an die Schwester Anna. Er vermutet, dass Osten waren frei geworden. Mit ihnen war es demnächst nicht viel Gelegenheit zum das deutsche Heer im Westen nach Jahren Schreiben gebe und gedenkt daher vorzei- wieder zahlenmäßig stärker als die anglo- tig ihres Geburtstages am 12. April.87 Dann französischen Streitkräfte. Mit einer letzten ist es soweit. großen Kraftanstrengung wollte man diese Die große Westoffensive durchbrach die niederringen, bevor die amerikanischen englische Front und stieß 60 Kilometer tief Truppen in voller Stärke erschienen waren. in das Hinterland vor. Erstmals seit Septem- Die OHL plante eine gewaltige Offensive ber 1914 waren deutsche Truppen im Wes- im Raum Cambrai-St. Quentin, um zu- ten wieder auf dem Vormarsch, die Lage der nächst die englischen und französischen Entente wurde kritisch. Doch Anfang April Truppen voneinander zu trennen. Der An- war die Offensive erlahmt. Durch den Vor- griff begann am 21. März 1918 auf einer stoß der Deutschen war eine tiefe Ausbuch- Frontbreite von 70 km.83 tung der Front mit gefährdeten Flanken Das FAR 43 war im November 1917 auf entstanden. Es kam nicht mehr genügend dem Schießplatz Maubert-Fontaine umbe- Nachschub nach vorn, der Widerstand ver- waffnet und neu organisiert worden. Dann festigte sich und die französische Führung folgte bis Mitte Januar ein Einsatz im St. Mi- warf immer mehr Truppen an den kritischen hiel-Bogen, einem seinerzeit ruhigen Front- Frontabschnitt, um die schwer bedrängten abschnitt in Lothringen. Danach stand eine Engländer zu entlasten und eine Trennung letzte Ausbildungszeit hinter der Front an, der beiden Heere zu verhindern. Die Front bei Mars-la-Tour vor Metz, in einer Region, der Entente hielt schließlich, und in den fol- wo zahlreiche Denkmäler von siegreichen genden Monaten gerieten die Deutschen in Schlachten der preußischen Truppen im die Defensive. Es fanden noch mehrere An- August 1870 kündeten.84 griffe der deutschen Armeen an verschiede- Auch Willy Ridder berichtet mehrfach nen Punkten statt, die alle nach anfängli- davon, zuletzt in einem Brief an seine chen Erfolgen schnell zum Erliegen kamen. Schwester Anna Anfang März, doch da ist Der letzte, am 15. Juli bei Reims, endete in er als stellvertretender Batterieführer be- einem Desaster.88 reits wieder im Einsatz und hat „einige sehr Ab dem 18. Juli 1918 waren die Truppen schwere Kampftage durchgemacht“.85 Sei- der Entente permanent im Angriff, wobei ne 6. Batterie und einige weitere sind an auch immer mehr US-Soldaten zum Ein- andere Frontdivisionen „ausgeliehen“ wor- satz kamen. Die Deutschen verteidigten den. Ridder teilt mit, dass die „Wanderbat- sich verbissen, doch die Moral der immer terien“ bald wieder zum Regiment zurück- schlechter versorgten Truppen ging zurück, kehren würden. Er selbst werde noch früher und der gegnerischen Überzahl an Solda- dort eintreffen, um am 8. März die Führung ten, an Geschützen, Tanks und Flugzeugen der 8. Batterie zu übernehmen.86 Diese sei war immer weniger entgegen zu setzen.89 als Infanterie-Begleitbatterie eingeteilt, die Von Willy Ridder liegen vier Feldpostbrie- den Angriff in unmittelbarer Nähe der In- fe aus diesen Monaten vor. Darin geht er fanterie unterstützen soll. Er und seine Leu- ausführlicher und konkreter auf militäri- te kamen zum IR 57; sehr wahrscheinlich sche Belange und Erlebnisse ein als in allen werden sie dort etliche gute Bekannte aus anderen zuvor. Geschrieben in kurzen Wesel wiedergetroffen haben. Ruhepausen zwischen den unaufhörlich

149 einander folgenden Angriffs- und Abwehr- sorisch gewesen, von Verplegung gar nicht schlachten. Seine Einheit war der zweiten zu reden. Dass seine Batterie mit wenigen Angriffswelle zugeteilt, doch als sie am 4. Verlusten davonkam, sei „reine Glücksache April eingesetzt wurde, gab es bereits kein gewesen“. Vorwärtskommen mehr. „Todesmutig rann- Noch könne die Front gehalten werden, ten unsere Truppen an, kamen auch 2 und über deren Verlauf er sich jedoch nicht 3 km vor, aber an ein Durchbrechen der ganz im Klaren sei. Er schließt mit einem starken franz. Armee war nicht zu denken, Lichtblick: „Gestern Abend kam plötzlich zumal wir zu wenig Artillerie-Vorbereitung der Ablösungsbefehl u. nun geht es zurück getroffen hatten. Es war ein kolossales Blut- in die Etappe... . Mürbe wird der Gegner bad, und auch noch heute steht die Front doch endlich werden, und dann hoffentlich an dieser Stelle auf demselben Fleck.“90 recht schnell nach Hause, wohin unser und Nachschub an Munition und Ersatz sei illu- mein ganzes Sehnen geht.“91

Der letzte Urlaub daheim, Sommer 1918 im großen, alten Garten an der Korthauerstege, wo sich die Familie seit Generationen regelmäßig einfand. Willy Ridder im Liegestuhl, links neben ihm seine Ehefrau Maria, genannt „Mietze“, davor die beiden Kinder Kurt und Anne-Liese (links). Das kleine Mädchen vorne rechts ist die Nichte Elsbeth Dahmen, ihre Mutter Else sitzt rechts neben dem Bruder. Sitzend ganz links Ridders Mutter Christine, daneben seine Schwiegermutter Dinnendahl. Stehend von links: Willy Ridders Schwestern Louise Emilie (Emmy) und Frieda sowie sein Schwager Jean Dahmen, die Dame ganz rechts konnte bisher noch nicht identiiziert werden.

150 Im Mai kann Ridder ein wenig ausspannen, „der schlaue englische Fuchs“ nach einer und das Ruhequartier in einem netten Dörf- Niederlage auf dem Festland retten, „was chen hat was von einer „Sommerfrische zu retten ist.“ England erscheint ihm als der auf dem Lande“, wie er seiner Schwester kalt berechnende Hauptgegner, der letzt- Anna brielich mitteilt. Dem neuen Einsatz lich auch seine(n) Verbündeten preisgeben sieht er mit Bangen entgegen und erinnert würde. Diese Einschätzung ist deutlich sich mit Grausen an die „schlimmen“ und dem deutschen Propagandabild vom „Per- „schweren“ Tage im April. Der Brief endet iden Albion“ geschuldet.96 mit vorsichtigem Optimismus und herzli- Aus der Rückschau mutet es befremdlich chen privaten Worten. Willy wünscht der an, dass ein deutscher Frontofizier im Juli Schwester für ihre bevorstehende Nieder- 1918 die sich abzeichnende militärische kunft alles Gute, ihr und dem Schwager ei- Niederlage offenbar nicht erkennt und nen „strammen Stammhalter“.92 den Sieg im Westen immer noch für mög- An Paula schreibt er nur wenige Tage spä- lich hält. Wir können nicht beurteilen, ob ter, dass die Ruhezeit bereits zu Pingsten er von seinen Äußerungen wirklich noch beendet worden sei und sich das Regiment vollständig überzeugt war, oder ob er sich wieder auf dem Marsch an die Front be- eher verplichtet fühlte, den Angehörigen inde. Den Frieden zu erreichen, werde so daheim Mut zu machen. bald nicht möglich sein, aber im Septem- Der zweite Teil des Briefes spricht jedenfalls ber sei dieses Ziel wohl schon recht nahe eine andere Sprache. Hier geht es um die gerückt.93 Wie auch aus anderen Stellen er- vorherigen Kämpfe, und die militärische sichtlich, täuschte sich der Landwehr-Leut- Situation der Deutschen ist wesentlich re- nant gewaltig über die große militärische alistischer dargestellt. Mit recht schwachen und politische Lage. Er stand damit gewiss Kräften habe man sich nördlich und süd- nicht allein. In seinen mitunter realitätsfer- lich der Aisne starken französischen Angrif- nen Ansichten schlagen sich Pressezensur fen erwehren müssen. Seine Batterie habe und stark geilterte Nachrichtenpolitik der dabei am weitesten vorn gestanden. Eigene deutschen Regierung ebenso nieder wie Infanterie sei nicht mehr dagewesen, und die Kriegspropaganda. den ganzen Tag über (28. Juni) habe man Der letzte vorliegende Feldpostbrief vom sich den Gegner allein vom Leibe halten 10. Juli 191894 ist auch deshalb bemerkens- müssen, der von rechts auf 600, von links wert, da Ridder hier die mögliche weltpo- auf 1000 Meter herangekommen sei. Im litische Lage nach einem deutschen Sieg Moment sei es wieder ruhig an der Front, in Frankreich erörtert. Offenbar war seine aber ein neuer „Schlag“ stehe bevor. Willy Schwester Paula an derartigen Fragen inte- Ridder hofft, noch heute weiter zurückge- ressiert. Ihr persönlicher Werdegang war zogen zu werden, zur Auffrischung und in für die damalige Zeit ohnehin recht außer- Vorbereitung des großen „Hauptschlages“. gewöhnlich und wäre durchaus auch einen Vor August/September sei mit Urlaub nicht eigenen Beitrag wert.95 Paula muss jeden- zu rechnen, dann aber werde man sich falls in einem vorherigen Schreiben die An- wohl daheim sehen.97 sicht vertreten haben, dass England und die Als Batterieführer98 war er zwar weniger USA den Krieg auch nach einem vollstän- abkömmlich als zuvor, aber tatsächlich digen deutschen Sieg an der Westfront fort- konnte er noch ein letztes Mal nach Hause setzen würden. Ridder schließt das nicht fahren. Die Kämpfe beiderseits der Aisne völlig aus, glaubt aber, dass Deutschland hatten das FAR 43 weiter dezimiert und dann in einer wesentlich besseren Position vollständig erschöpft. Bei tropischer Hitze, stünde als momentan. Im Übrigen würde mangelnder Ernährung und medizinischer

151 Versorgung waren Grippe und Ruhr aus- vor. Der sachlich kurze Bericht in der Re- gebrochen, Männer und Pferde hatten die gimentsgeschichte wird ergänzt durch eine Grenzen der Strapazierfähigkeit überschrit- Todesanzeige, die der Regimentskomman- ten.99 deur im Namen des gesamten Ofizierkorps Das zuständige Armeeoberkommando zog aufgegeben hat. Gewählte und ehrende aus der Front heraus, was von der 14. Wendungen wie „hochbewährter Batterie- Division noch übrig war. Bis dahin hat- führer und treuer Kamerad“, „an der Spitze te diese sowohl nach deutschen als auch seiner Begleitbatterie“, „hat oft den Weg in nach alliierten Bewertungen als überdurch- die feindliche Stellung geebnet“ etc. ent- schnittlich kampfkräftig und belastbar ge- sprechen der zeitüblichen Formulierung golten.100 Nun sollte sie noch einmal aus- und sagen wenig Individuelles über Willy ruhen und aufgefrischt werden, während Ridder aus. Dass er „von seinen Leuten einer dreiwöchigen Pause bei Rethel in der hoch verehrt“ wurde und im „Kameraden- Champag ne. Danach sollte die Division an kreise sehr beliebt“ war, sind ebensolche diesem Frontabschnitt verbleiben und zur gängigen Phrasen, die man einem Gefal- Reserve der 1. Armee gehören.101 lenen plichtschuldig nachzurufen hatte, Willy Ridder mag gehofft haben, seinen 42. selbst wenn man wusste, dass eher das Geburtstag (22. September) noch im Ruhe- quartier begehen zu können, doch schon bald gab es wieder Alarm, das FAR 43 rück- te mit seiner Division in die Frontlinie ein und nahm vom 13. September bis zum 9. Oktober an der so genannten „Champag- ne-Schlacht“ teil.102 Ein Durchbruch der französischen Streitkräfte wurde mit letz- ter Kraft verhindert, aber Anfang Oktober erfolgte die Rückverlegung der Front. Die Artillerie deckte den Rückzug und nahm den scharf nachdrängenden Gegner unter Feuer. Am 5. Oktober hatte sie dabei un- ter schweren Luftangriffen zu leiden. „Sehr rege war die feindliche Fliegertätigkeit; zahlreiche Geschwader ließen ihren Bom- bensegen auf die Feuerstellungen und das Hintergelände fallen. Lt.d.L. Ridder iel mit 4 Mann seiner 8. Batterie, außerdem wur- den drei Mann, unter ihnen Lt. Schmidt, verwundet.“103 Willy Ridder wurde von Bombensplittern am Kopf und am linken Arm getroffen. Er starb mittags gegen ein Uhr, etwa drei Kilometer südöstlich des Or- tes La Neuville.104

Epilog Außer diesen nüchternen Einträgen lie- gen uns keine weiteren Nachrichten über Todesanzeige des FAR 43 für Willy Ridder, Ridders Tod und dessen Begleitumstände Oktober 1918.

152 Leutnant der Landwehr Wilhelm Carl Ridder im Sommer 1918.

Gegenteil der Fall war. Bei Willy Ridder jedoch ist man zu der Annahme geneigt, dass diese Wendungen zutreffend sind und durchaus den Gefühlen der Nachrufenden entsprechen. Wenn man sich intensiver mit dem vorliegenden Schriftgut befasst, tritt ei- nem ein verantwortungsbewusster, freund- licher, seinen Angehörigen gegenüber auch sehr liebevoller Mensch entgegen. Er war wohl jemand, der so schnell niemanden übersah, der sich kümmerte und der seine Aufgaben gewissenhaft erledigte – wenn es irgend anging, mit einem Schuss Humor.

Von den Worten abgesehen: Was noch für seine Persönlichkeit spricht, sind wesent- lich auch die Fakten. Sein „vorgeschrittenes

Deutscher Soldatenfriedhof Noyers-Pont-Maugis, eingeweiht 1966, ca.6 km südlich von Sedan. Bereits 1922 wurden hier von den französischen Militärbehörden ca. 14.000 deutsche Soldaten beigesetzt, die während des Krieges in der Nähe ihrer letzten Stellung provisorisch bestattet worden waren. Auch die sterblichen Überreste Wilhelm Ridders wurden auf diesen Friedhof umgebettet. Sie beinden sich dort gemeinsam mit den Gebeinen zwei anderer Kameraden in einem Grab, das mit einem Steinkreuz bezeichnet ist.

153 Alter“, sein fortgesetzter Frontdienst und etwa die Mannschaften. Eher handelte es nicht zuletzt seine Auszeichnungen heben sich bei ihm wie bei den anderen Ofizie- ihn vom Durchschnitt der etwa gleichalt- ren um eine Art „Selbstzensur“. Als Ofi- rigen Reserve- und Landwehrofiziere ab. zier, so stark wirkte der immer noch gül- Die meisten dienten in der Etappe, bei tige „Comment“ nach, hatte man sich mit rückwärtigen Einheiten, als Stadt- oder Äußerungen über das eigene Kriegserlebnis Bahnhofskommandanten oder gleich in zurückzuhalten, erst recht mit kritischen der Heimat. Wie der Weltkriegsliteratur zu Kommentaren zur politischen und militä- entnehmen ist, haben viele sich dabei ein rischen Führung. Hinzu kam sicher noch recht warmes Plätzchen weitab der Front ein persönliches Bedürfnis, die Ängste und zu verschaffen gewusst. Auch Willy Ridder Sorgen seiner Lieben daheim durch eine hätte es sich wohl mit einiger Bemühung so möglichst konkrete Beschreibung des Krie- einrichten können, aber offensichtlich hat ges nicht noch zu verstärken. Insgesamt er es nicht versucht. jedoch entspricht auch Willy Ridder einem Umgekehrt gab es auch etliche seines Alters längst konstatierten Befund, wonach Milli- und Dienstgrades, die freiwillig zur Front onen Soldaten aller Heere nicht wirklich in drängten, aber dort nicht mehr genügten. der Lage waren (oder sind), sich gegenüber ihren Angehörigen oder anderen Zivilisten Von vielen seiner jungen Soldaten hätte offen und ungehemmt realistisch über ihre Willy Ridder bereits der Vater sein können. Kriegserlebnisse mitzuteilen.106 Die unge- Um ihnen den Dienst nicht ungebührlich heuer entsetzlichen, traumatischen Erfah- zu erschweren oder um sie vor unnötigen rungen des „Frontalltags“ unterschieden Gefahren zu schützen, hat er schon mal sich jedenfalls bei Ridder und seiner Ge- auch einen Krach mit Vorgesetzten riskiert. neration derart radikal von sonstigem Be- Der Stabsofizier etwa, mit dem er sich bei kannten, Erlebten und Erwarteten, dass es einer Inspektion anlegte,105 hätte sich dies ihnen förmlich den Mund verschloss. Die von einem jüngeren Leutnant oder Haupt- Einzigen, die in etwa wussten und verstan- mann kaum gefallen lassen. Sein Wort als den, was man empfand und dachte, waren älterer Landwehrofizier mit jahrelanger die eigenen Kameraden – und die Männer Fronterfahrung dürfte auch im Kreis der Of- im feindlichen Graben gegenüber. iziere ein entsprechendes Gewicht gehabt Wie bei aller Zurückhaltung deutlich wird, haben. Man möchte durchaus annehmen, hatte auch Willy Ridder recht bald genug dass er geachtet und beliebt war und dass vom Krieg, hoffte und wünschte, bald wieder seine Leute ihm vertrauten und sich auf ihn nach Hause zu kommen. Aber diese Hoff- verließen. nungen waren immer verbunden mit der Wie hat er über den Krieg gedacht und festen Überzeugung, dass Deutschland sich über seine eigene Funktion dabei? Antwor- in der Verteidigung beinde, und mit der ten auf diese Fragen lassen sich nur indirekt zuversichtlichen Erwartung eines siegrei- und annähernd herleiten. Wie bei vielen chen Kriegsendes. Auch ganz zum Schluss, Kriegsteilnehmern, lässt sich auch zu sei- als die Dinge unübersehbar schlecht lau- ner Feldpost feststellen, dass das Grauen fen, taucht der Gedanke an eine Niederla- des Krieges und sein Entsetzen nicht näher ge in seiner Post nicht auf. Das hat weniger beschrieben, höchstens vorsichtig ange- mit einer persönlichen Realitätsferne zu tun deutet werden. In diesem Zusammenhang als eher mit der stark eingeschränkten Öf- spielt die Zensur der Feldpost wohl nur fentlichkeit und der Informationspolitik der eine untergeordnete Rolle, da Ridder als deutschen Regierung und Heeresleitung. Ofizier davon nicht so betroffen war wie Kritik an der eigenen Führung kommt, wie

154 gesagt, nicht auf. Wenn Willy Ridder sich In einem Brief, den er seinem Sohn Kurt zu überhaupt einmal kritisch äußert, dann dessen 11. Geburtstag schreibt, gibt er die- richtet sich dies gegen uneinsichtige Vorge- sem verschiedene Ratschläge und Wünsche setzte in seinem Umfeld.107 Aber natürlich mit auf den weiteren Lebensweg: „An das hindert ihn das nicht daran, seinen Dienst vergangene Jahr wirst du dein Leben lang zu tun und seine Plicht zu erfüllen. eine Erinnerung behalten, von dem einmü- Das Schlüsselwort für sein Verhalten und tigen Kampf der deutschen Männer, gegen Denken ist „Plichtbewusstsein“. Dieses einen Feind von allen Seiten. Werde auch wird ganz unpathetisch geäußert, auch Du ein stolzer deutscher Junge, nicht vor- nicht ohne Stolz auf das eigene Regiment witzig und überhabend, aber frei jedem ins und dessen militärische Leistung. Werte wie Auge schauend. Deine jetzige Plicht, die „Nation“, „Vaterland“, „Kaiser und Reich“ Schule, erfülle mit Liebe, gehe unverzagt an waren für die große Mehrheit seiner Zeitge- Deine Arbeit heran, denn wenn Du dir vor- nossen so selbstverständlich gültig, dass sie nimmst, ich will (im Original unterstrichen), es durchaus als persönliche Verplichtung so lässt es sich leicht erreichen. ...“108 ansahen, dafür Leiden und Entbehrungen Wir dürfen annehmen, dass der Vater dem auf sich zu nehmen, Verstümmelung und Sohn hier Maximen empiehlt, die er sel- Tod zu riskieren. ber für gültig und erstrebenswert erachtet.

Die Kinder Kurt und Anne-Liese nach dem Tod des Vaters, Aufnahme 1918/19.

155 Die deutsch-nationale Grundierung klingt chen. Auch die Mutter starb sehr früh, be- uns heute suspekt in den Ohren, indessen reits im Jahre 1920,113 als die Kinder noch war Willy Ridder auch hierin ganz ein Kind minderjährig waren. Die Tochter Anne-Lie- seiner Zeit und seiner gesellschaftlichen se wuchs in Wesel bei der Großmutter auf. Schicht. Das deutsche Bürgertum hatte Später zog sie zu ihrer Tante nach Essen, wo sich nach den preußischen und schließlich sie die Folkwang-Schule besuchte und dort preußisch-deutschen Siegen in den so ge- auch ihren künftigen Ehemann kennenlern- nannten Einigungskriegen von 1864, 1866 te. Anne-Liese starb ebenfalls sehr früh mit und 1870/71 mit dem preußischen Obrig- 34 Jahren. Sohn Kurt absolvierte eine kauf- keitsstaat ausgesöhnt und sich zunehmend männische Lehre bei der Spedition Espey mit dessen Normen und Wertvorstellungen in Essen und wohnte in dieser Zeit auch bei identiiziert. Nachdem die herausragenden Conrads. Danach übernahm er das Famili- militärischen Erfolge die Reichsgründung engeschäft in Wesel, das er jahrzehntelang von 1871 ermöglicht hatten, blieb fortan führte. im öffentlichen Bewusstsein der nationa- Willy Ridder war einer von 626 Weseler le Gedanke untrennbar mit dem Prestige Bürgern, die im Ersten Weltkrieg gefallen des Militärs verbunden,109 fanden militäri- sind.114 Ausschließlich Männer, die in Wesel sche Werte, Normen und Verhaltensweisen geboren waren oder die bzw. deren Eltern zunehmend Eingang auch in die Zivilge- hier ihren Wohnsitz hatten. Die Verluste an sellschaft. Ihren Höhepunkt erreichte die auswärtigen Soldaten, die bei Ausbruch des „soziale Militarisierung“110 während der Krieges in der Garnison ihrer Wehrplicht Regierungszeit des letzten Deutschen Kai- nachkamen oder später zu den vier „Wese- sers und Königs von Preußen, Wilhelms II. ler“ Regimentern eingezogen wurden, be- (1888–1918). Der Monarch brachte in sei- trugen selbstredend ein Vielfaches. Allein ner Person wesentliche Züge des Zeitgeis- das FAR 43 beklagte 456 Gefallene,115 die tes zum Ausdruck: Großmachtgefühl und Verluste der beiden Infanterie-Regimenter Nationalstolz, die sich im Deutschen Reich waren noch wesentlich größer.116 wesentlich auch auf die Armee und Marine Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges hörte gründeten.111 auch die alte Garnison Wesel auf zu be- Kinder und Jugendliche waren von diesen stehen, wodurch die Stadt wirtschaftlich Prozessen natürlich nicht ausgenommen. zunächst schwer betroffen war. Die Zuwei- Die Erziehung der Jungen in Elternhaus und sung Tausender Flüchtlinge aus ehemaligen Schule war mit militärisch-soldatischen und nun abgetretenen deutschen Gebieten Ideal vorstellungen durchsetzt, verknüpft stellte eine weitere beträchtliche Belastung mit geschlechtsspeziischen Rollenklischees, der Kommune dar.117 die Soldatentum und Bewährung im mili- Die Wirren der Nachkriegszeit, die Revo- tärischen Konlikt als wertvollste männliche lution, der Kapp-Putsch, die unmittelbar Eigenschaften verstanden. Entsprechend danach ausbrechenden Kämpfe gegen die wurden Mädchen dazu angehalten, den Rote Ruhr-Armee, die Besetzung des Ruhr- uniformierten Krieger zu bewundern und gebietes durch französische und (in Wesel) ihm gehorsamen Respekt entgegenzubrin- belgische Truppen sowie die Inlation taten gen.112 ein Übriges, Wesel an den Rand des wirt- Man liegt wohl nicht völlig daneben, wenn schaftlichen Zusammenbruchs zu bringen. man annimmt, dass diese Erziehungsmuster Zwischen 1919 und Ende 1923 wurden in auch im Hause Ridder mehr oder weniger der Stadt ca. 4.000 Arbeitslose gezählt.118 zur Geltung kamen. Die Familie war aber Auch später konnte die Zahl nicht wesent- mit dem Tod des Vaters auseinander gebro- lich verringert werden; Wesel hatte unter

156 den Folgen des Ersten Weltkrieges mehr zu Bevölkerung. Kapellen intonierten die be- leiden als viele andere Städte. kannten Märsche, Veteranen marschierten Gleichwohl war die Erinnerung an die auf, die alten Fahnen wurden entrollt, zivi- alten Zeiten verblieben. Auch in der Re- le und hochrangige militärische Ehrengäste publik bekannten sich die Stadt und die begrüßt, Gottesdienste wurden abgehalten, weitaus meisten Bürger stolz zu „ihren“ der Gefallenen gedacht und natürlich wur- Regimentern der kaiserlichen Armee und den zahlreiche Reden gehalten. würdigten deren Einsatz im Krieg. In den Es wäre sehr interessant zu wissen, was zwanziger Jahren wurden zu Ehren der We- Willy Ridder und die anderen Toten bei seler Regimenter verschiedene Gedenktage einer derartigen Gedenkfeier zu sagen ge- abgehalten, unter großer Beteiligung der habt hätten.

Regimentsappell des Feldartillerie-Regiments Nr.43 1928 in Wesel. Vorbeimarsch der ehemaligen 43er an der Klever-Tor-Kaserne vor dem letzten Regimentskommandeur im Frieden, Generalleutnant von Campe, und dem letzten Kriegskommandeur, Oberstleutnant Seggel (ganz links).

157 Anmerkungen: 14 Militärpass Wilhelm Carl Ridder, Nationale des Buchin- habers, S.1, Privatbesitz. 1 Das Königlich Preußische Clevesche Feldartillerie-Re- 15 Martin Wilhelm Roelen: wie Anm. 2, S. 322. giment Nr. 43 1899–1919, hrsg. von der Ofizierver- 16 Militärpass Wilhelm Carl Ridder, Nationale des Buchin- einigung des Regiments (Erinnerungsblätter deutscher habers, S. 2, Zusätze zu den Personalnotizen, S. 8–11. Regimenter, Bd. 35), Oldenburg 1932, S. 21. 17 Deutsche Militärgeschichte: wie Anm. 11, S. 104. 2 Martin Wilhelm Roelen: Die Garnisonstadt Wesel von 18 geb. 10. 7. 1907, verehelichte Freihold, ihrem Anfang bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, in: gest. 31. 12. 1941. Alexander Berkel: Schanzen Warten Sterben. Kriegs- 19 An der Seite des Schützenkönigs Wilhelm Lisner. www. alltag eines rheinisch-westfälischen Regiments 1914– bsv-wesel.de/php geschichte/index koenigspaare. Da- 1918 (Studien und Quellen zur Geschichte von Wesel tum der Abfrage 4. 5. 2015. Bd. 36), Wesel 2014, S. 311–330, hier S. 326. 20 Militärpass Wilhelm Carl Ridder, Nationale des Buchin- 3 Ebd., S. 325. habers, S. 7. Die Dienstplicht dauerte im Frieden vom 4 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 20f. vollendeten 20. bis zum vollendeten 39. Lebensjahr: 5 Wilhelm Over: Wesel im Kriege, in: Verwaltungsbericht 2 Jahre aktiver Wehrdienst (Kavallerie und Marine 3 der Stadt Wesel 1913/26, Wesel 1928, Anhang S.1–98, Jahre), danach 5 Jahre in der „Reserve“, anschließend hier S. 4. weitere 5 Jahre bei der Landwehr I. Aufgebots und die 6 Christine Brocks/Benjamin Ziemann: „Vom Soldaten- übrige Zeit in der Landwehr II. Aufgebots. Deutsche Mi- leben hatte ich genug“. Der Erste Weltkrieg in der Feld- litärgeschichte: wie Anm. 11, S. 50. post der Soldaten, in: Die letzten Tage der Menschheit. 21 Militärpass Wilhelm Carl Ridder, Zusätze zu den Perso- Bilder des Ersten Weltkrieges, hrsg. von Reinhard Ro- nalnotizen, S. 12f. ther (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung), Deut- 22 Bescheinigung FAR 7, einliegend in Militärpass Wil- sches Historisches Museum, Berlin 1994, S. 109–120, helm Carl Ridder. hier S. 109. 23 Adressbuch Stadt Wesel 1913. 7 Der Betrieb des Preußen-Museums in Wesel ist seit An- 24 Carl Henke: Das 1. Westfälische Feldartillerie-Regiment fang 2015 vom Landschaftsverband Rheinland über- Nr. 7 1816–1919, Berlin 1928, S. 45. nommen worden. Nach einer vorübergehenden Schlie- 25 Bescheinigung FAR 7, einliegend in Militärpass Wil- ßung wegen Bausanierungs- und Renovierungsmaß- helm Carl Ridder. nahmen wird das Museum 2016 wieder eröffnen. Es 26 Rangierend vor dem Feldwebel und hinter dem Leut- ist angedacht, das Projekt „Unsere Familie im Krieg“ nant. Seit 1887 bestehender Dienstgrad für den Mobil- danach im Rahmen einer kleineren Ausstellung auch machungsfall, der ermöglichte, dass ältere Unterofizie- der Öffentlichkeit vorzustellen, der Zeitraum in 2016 re Ofiziersdienste leisten konnten. In Preußen stellte oder 2017 steht noch nicht fest. das traditionelle Standesbewusstsein des Ofizierkorps 8 Die meisten vorliegenden Karten und Briefe sind an ein wesentliches Hindernis dar, befähigte Unterofizie- seine Schwester Anna Conrad (1881–1969) adressiert, re direkt in die Ofizierlaufbahn aufsteigen zu lassen. deren Ehemann Heinrich Conrad eine Holzhandlung Deutsche Militärgeschichte: wie Anm. 11, S. 95. in Essen-Bredeney betrieb. Auch der Schwager speziell 27 Feldpostkarte, W. Ridder an Heinrich Conrad, Stempel erscheint als Empfänger von einem Brief und neun Kar- 3. 10. 1914, Privatbesitz. ten. An die Schwester Dr. Paula Ridder (1884–1977), 28 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 11. damals in Frankfurt a. Main lebend, sind drei Briefe und 29 Die Kaserne vor dem Klever Tor war nach Schleifung eine Karte gerichtet, zwei weitere an seine Nichte Lotte der Stadtbefestigung in den 1890er Jahren erbaut wor- Conrad und ein Brief an seinen Sohn Kurt. den und ursprünglich mit dem FAR 7 belegt. Dieses 9 Kurt von Rabenau: Die deutsche Land- und Seemacht zog 1902 in die neu erbaute Reitzenstein-Kaserne und und die Berufsplichten des Ofiziers. Ein Handbuch überließ die Klever-Tor-Kaserne dem FAR 43. Martin für Ofiziere, Reserveofiziere und Kriegsschüler, Berlin Wilhelm Roelen: wie Anm. 2, S. 319. 1912, S. 248. 30 27. Infanterie-Brigade in Köln: IR 16 und IR 53, 28. 10 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Infanterie-Brigade in Düsseldorf: Füs.R. 39 und IR 159. Bd. 1. Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, Rangliste der Königlich Preußischen Armee und des Tabelle S. 304. XIII. (Königlich Württembergischen) Armeekorps, hrsg. 11 Deutsche Militärgeschichte 1648–1939, hrsg. vom vom Kriegsministerium, Berlin 1913, S. 75f. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 3: Von der 31 14. Kavallerie-Brigade: Husaren-Reg.11 in Krefeld und Entlassung Bismarcks bis zum Ende des Ersten Weltkrie- Ulanen-Reg. 5 in Düsseldorf, ebd. S.76. ges, TB Lizenzausgabe, München 1983, S. 104. 32 Ebd. S. 76. 12 Kurt von Rabenau: wie Anm. 9, S. 248f. Brockhaus 33 Alexander Berkel: Schanzen Warten Sterben. Kriegsall- Konversations-Lexikon. Vierzehnte vollständig neube- tag eines rheinisch-westfälischen Regiments 1914– arbeitete Aulage, Bd. 5 (Deutsches Volk – England), 1918 (Studien und Quellen zur Geschichte von Wesel Leipzig-Berlin-Wien 1901, S. 719. Bd. 36), S. 37. Die „Division“ war der kleinste unter 13 Kabinetts-Order, Wilhelm II., 29. 3. 1890, zitiert den militärischen „Großverbänden“ mit allen Waffen- nach: Wolfgang Petter: Armee und Flotte in Staat und gattungen. Die vollständige Kriegsstärke einer Division Gesellschaft, in: Das deutsche Kaiserreich. Bilanz einer betrug ca. 17.000 Soldaten. Epoche, hrsg. von Dieter Langewiesche, Freiburg 1984, S. 117–126, hier S. 120f.

158 34 Karl-Volker Neugebauer (Hrsg. im Auftrag des Militär- 58 Über die gesamte Zeit der Kämpfe vor Verdun siehe: geschichtlichen Forschungsamtes): Grundkurs Deut- Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 226– sche Militärgeschichte, Bd. 2. Das Zeitalter der Welt- 274. Darüber auch, mit Bezug auf das IR 56, Alexander kriege 1914–1945, Völker in Waffen, München 2009, Berkel: wie Anm. 33, S. 155–190. S. 44. 59 Karl-Volker Neugebauer: wie Anm. 34, S. 44–46. 35 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 106f. 60 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 252–266. 36 Feldpostkarte, wie Anm. 27. Möglicherweise führte Die Verluste des FAR 43 betrugen allein im Dezem- Ridder auch das Kommando bei der Munitionskolonne. ber 1916 14 Tote und 42 Verwundete, dazu kamen 37 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 112–144. 39 Pferde, Geschütz ging nicht verloren, ebd. S. 267. Vgl. Alexander Berkel: wie Anm. 33, S. 57–79. An der von General v. Falkenhayn geplanten „Abnut- 38 Karl-Volker Neugebauer: wie Anm. 34, S. 44 u. S. 48–53. zungsschlacht“ der Franzosen waren schließlich etwa 39 Auch der Artillerieofizier Willy Ridder verschoss später 50 deutsche und 75 französische Divisionen beteiligt. häuig Gasgranaten, deren Einsatz er eher nebenbei Die unvorstellbaren Gesamtverluste betrugen auf deut- und selbstverständlich erwähnt: „...bis zum 24. [April scher Seite 337.000 Mann, auf französischer 367.000. 1918] vorm. 4.45 wo wir mit einem großen Geschieße Karl-Volker Neugebauer: wie Anm. 34, S. 44–46. Hol- einsetzten, über 1000 Schuß Gas setzte ich heraus und ger Aflerbach: Falkenhayn. Politisches Denken und dann ging das Brisanzschießen weiter,...“. Feldpost- Handeln im Kaiserreich, München 1996, S. 360–457. brief, W. Ridder an Paula Ridder, Stempel 7. 5. 1918. 61 Postkarte, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel Wesel 40 Feldpostkarte, W. Ridder an Frau Heinrich Conrad, 31. 8. 1916. Stempel 12. 3. 1915. Eintrag oben: Abs. Leutnant Rid- 62 Feldpostbrief, W. Ridder an Anna und Heinrich Conrad, der, Stab II. Abteilung Feldartl. Reg. 43. Stempel 12. 11. 1916. 41 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, Ofizierstel- 63 Ebd. lenbesetzungen Mai 1915, S. 420. 64 Feldpostbrief, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel 42 Mehrzweckgeschütze der Artillerie, die Ziele im direk- 20. 2. 1917. ten Beschuss (Flachfeuer) und im indirekten (Steilfeuer) 65 Brief, W. Ridder an Mietze Ridder, Jüterbog 28. 4. 1917. bekämpfen können. 66 Alexander Berkel: wie Anm. 33, S. 197–201. Corelli 43 Feldpostkarte, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel Barnett: Anatomie eines Krieges, München-Esslingen 22. 3. (1915). Der Absender hat diese Karte mit dem 1963, S. 240–244. Datum 22. 3. 1914 versehen, aber aus dem Inhalt und 67 Ebd., S. 120f. dem Kontext der übrigen Korrespondenz geht eindeutig 68 Alexander Berkel: wie Anm. 33, S. 201f. Die Meute- hervor, dass es sich um das Jahr 1915 handelt. reien erfassten einen großen Teil des französischen Hee- 44 Feldpostkarte, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel res hinter der Front, sie konnten erst im Juli 1917 been- 17. 6. 1915. Zu den Frühjahrschlachten bei Neuve det werden. Dazu trugen die Maßnahmen des neuen Chapelle und La Bassée siehe Feldartillerie-Regiment französischen Oberbefehlshabers, Marschall Philippe Nr. 43: wie Anm. 1, S. 154–191 und Alexander Berkel: Pétain, wesentlich bei. Er bewirkte eine Verbesserung wie Anm. 33, S. 94–132. der Lebensbedingungen, eine vernünftige Urlaubsrege- 45 Feldpostkarte, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel lung und vermittelte den Soldaten seine Absicht, keine 19. 7. 1915. derartigen Offensiven mehr zu unternehmen. Corelli 46 Feldpostkarte, W. Ridder an Lotte Conrad, Stempel Barnett: wie Anm. 66, S. 255–280. 19. 7. 1915. 69 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, Ofizierstel- 47 Alexander Berkel, wie Anm. 33, S. 206. lenbesetzungen August 1917, S. 425. 48 Feldpostkarte, W. Ridder an Heinrich Conrad, Stempel 70 Ebd., S. 296. 19. 7. 1915. 71 Ebd., S. 296f. 49 Feldpostkarte, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel 72 Ebd., S. 297. 16. 9. 1915. 73 Feldpostbrief, Willy Ridder an Heinrich Conrad, Stempel 50 An der Front im März 1915 eingetroffen und in die 29. 9. 1917. 3. Batterie eingestellt. Feldartillerie-Regiment Nr. 43: 74 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 314. wie Anm. 1, S. 152f. 75 Ebd., S. 300–315, Verluste S. 314. 51 Ebd., S. 197. 76 Ebd., S. 305f. u. 309. 52 Feldpostkarte, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel 77 Ebd., S. 301. 16. 9. 1915, und Feldpostkarte, W. Ridder an Heinrich 78 Ebd. S. 314. Conrad, Stempel 7. 10. 1915. 79 Feldpostbrief, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel 53 Ebd. 16. 12. 1917. 54 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 213–217. 80 Feldpostbrief, W. Ridder an Paula Ridder, Stempel 55 Feldpostbrief, W. Ridder an Anna und Heinrich Conrad, 28. 1. 1918. Stempel 22. 3. 1916. 81 Feldpostbrief, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel 56 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 222–225. 7. 3. 1918. 57 Der Waldrücken, ca. 15 km nordöstlich von Verdun in 82 Im August 1916 übernahm Generalfeldmarschall von der Nähe des Forts Vaux wurde von den Deutschen Hindenburg die Oberste Heeresleitung, als sein „Erster bei ihrem ersten Angriff Ende Februar 1916 eingenom- Generalquartiermeister“ gewann General Ludendorff men und blieb auch nach dem eigentlichen Ende der zunehmend bestimmenden Einluss auf die militäri- Schlacht um Verdun weiterhin schwer umkämpft. schen, innenpolitischen und wirtschaftlichen Maßnah- men. Karl-Volker Neugebauer: wie Anm. 34, S. 60. Corelli Barnett: wie Anm. 66, S. 321–326. 159 83 Karl-Volker Neugebauer: wie Anm. 34, S. 58. 104 Sterbeurkunde Nr. 33, Standesamt Wesel, 16. 1. 1919. 84 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 316–330. 105 „Es ist glücklich der 16. geworden, kaum da ich schon 85 Feldpostbrief, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel über diesen Herrn schimpfte, schon war er in Person 7. 3. 1918. da. In meiner Laune fuhr ich ihn barsch an, und er war 86 Ebd. weich wie Butter, stellte sogar der Battr. ein Lob aus,..“. 87 Feldpostkarte, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel Feldpostbrief, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel 21. 3. 1918. 16. 12. 1917. 88 Karl-Volker Neugebauer: wie Anm. 34, S. 58–61. 106 Jean-Jaques Becker/Gerd Krumeich: Der Große Krieg. 89 Ausführlich über die gescheiterte große Offensive in Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914– Frankreich und das nachfolgende Vordringen der En- 1918, Essen 2010, S. 165–173. Corelli Barnett, wie tente: Corelli Barnett: wie Anm. 66, S. 321–424. Anm. 66, S. 248f. 90 Feldpostbrief, W. Ridder an Paula Ridder, Stempel 107 Feldpostbrief, W.Ridder an Anna Conrad, Stempel 7. 5. 1918. 16. 12. 1917. 91 Ebd. 108 Feldpostbrief, W. Ridder an Kurt Ridder (1904–1976), 92 Feldpostbrief, W. Ridder an Anna Conrad, Stempel Stempel 5. 4. 1915. 18. 5. 1918. 109 Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschich- 93 Feldpostbrief, W. Ridder an Paula Ridder, Stempel te, Bd. 3: Von der „deutschen Doppelrevolution“ bis 23. 5. 1918. zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, Mün- 94 Feldpostbrief, W. Ridder an Paula Ridder, Stempel chen 1995, S. 881f. Christopher Clark: Preußen. Auf- 10. 7. 1918. stieg und Niedergang 1600–1947, TB-Lizenzausgabe 95 Die 1884 geborene Paula Ridder war als Frau ihrer Zeit für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn voraus; ihr selbstbestimmtes, anspruchsvolles und viel- 2007, S. 684. seitiges Berufsleben würde eher in unsere Gegenwart 110 Hans-Ulrich Wehler: wie Anm. 109, S. 882–885. Tho- passen. Früh berufstätig als Erzieherin und Lehrerin, mas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. erwarb sie noch mit 27 Jahren das Reifezeugnis und 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. begann mit Anfang dreißig ein Studium der Staatswis- 201. senschaften, das sie 1920 mit der Promotion abschloss. 111 Volker Ullrich: wie Anm. 96, S. 143ff., 197f. Hans- Bezeichnenderweise hatte sie auf die übliche Aussteuer Ulrich Wehler: wie Anm. 109, S. 1131. verzichtet, um stattdessen ihre weitere Ausbildung zu 112 Thomas Nipperdey: wie Anm. 110, S.57. inanzieren. Frau Dr. Ridder, auch sportlich sehr aktiv 113 Auf eine chronische Erkrankung seiner Ehefrau geht beim Rudern und Skifahren, arbeitete dann bei ver- Willy Ridder bereits in seinem Feldpostbrief an sie ein, schiedenen Banken und trat 1925 in die Firma ihres vgl. Anm. 65. verstorbenen Schwagers Heinrich Conrad in Essen ein, 114 Ehrenbuch der Stadt Wesel 1921, siehe auch Wilhelm wo sie erst 1952 ihre Tätigkeit als Prokuristin wegen Over: wie Anm. 5, S. 15f. starker Schwerhörigkeit beenden musste. Einen be- 115 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 471, na- trächtlichen Rest ihres langen Lebens widmete sie dann mentliche Aulistung der Gefallenen, Verstorbenen und noch ihren vielseitigen Interessen und besonders auch Verwundeten siehe „Ehrenliste“, S. 433–470. den Kindern ihres Neffen Klaus. Sie verstarb 1977 in 116 Das IR 56 hatte mit 4.606 Gefallenen fast zehnmal Essen und wurde im Familiengrab in Wesel beigesetzt. so hohe Verluste. Alexander Berkel: wie Anm. 33, S. 96 „Treuloses (niederträchtiges) England“. Seit Beginn des 297. Das IR 57 verzeichnete annähernd 5.000 Tote, 20. Jh. wurde im Deutschen Reich zunehmend Groß- Hermann Castendyk: Das Kgl. Preuß. Infanterie-Regi- britannien als wichtigster politischer Kontrahent wahr- ment „Herzog Ferdinand von Braunschweig“ (8.West- genommen. In der deutschen ideologischen Krieg- fälisches) Nr. 57, (Erinnerungsblätter deutscher Regi- führung rückte dann seit 1915 Großbritannien immer menter Bd. 364), Oldenburg 1936, Vorwort S. 9 und stärker in die Rolle des Hauptfeindes. Heinrich August Anhang „Unseren gefallenen Helden 1914–1918“. Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Welt- 117 Wilhelm Over: wie Anm. 5, S. 15. kriege 1914–1945, München 2011, S. 27–29. Volker 118 Jürgen Höpken: Die Stadt Wesel von der November- Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Unter- revolution 1918 bis zum Ende des Zweiten Weltkrie- gang des deutschen Kaiserreiches 1871–1918, Frank- ges 1945, in: Jutta Prieur (Hrsg.): Geschichte der Stadt furt a. Main 1997, S. 377. Wesel, Bd. 1, Düsseldorf 1991, S. 370–427, hier: 97 Feldpostbrief, W. Ridder an Paula Ridder, Stempel S. 382. 10. 7. 1918. 98 Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, Ofizierstel- lenbesetzungen Ende März und 10. Juli 1918, S. 427f. 99 Ebd. S. 390. 100 Siehe auch die Bewertung deutscher Divisionen durch den Generalstab der US-Army 1917/18, www.agw14- 18.de/formatio_div.html, Datum der Abfrage 4. 5. 2015. 101 Diese letzte „Ruhezeit“ dauerte vom 25. 8. bis zum 12. 9. 1918. Feldartillerie-Regiment Nr. 43: wie Anm. 1, S. 389f. 102 Ebd. S. 391–399. 103 Ebd. S. 398.

160 Volker Kocks

Die Außensportplätze in Wesel und deren Vereine bis 1945 Ein Beitrag zur Sportgeschichte von Wesel

Die Sportplatzsituation in Wesel treiben wollten, insbesondere Schlag- und bis zum Ersten Weltkrieg Faustball sowie Fußball, waren ständig auf Wesels Erscheinungsbild war für gut 200 der Suche nach passenden Örtlichkeiten Jahre bis zum Ersten Weltkrieg sehr stark und gerieten dadurch letztlich mit dem Mi- von seiner Rolle als Festungs- und Garni- litär in Konlikt, das die wenigen geeigne- sonsstadt geprägt. Dies hatte zur Folge, ten Freilächen wie einzelne Bastionen, die dass der Bereich innerhalb der Festungs- Esplanade, den Exerzierplatz am Heuberg mauern, bei einer starken Durchmischung sowie die Schillwiese vorrangig für sich von Wohnungen und Gewerbebetrieben selbst, und zwar fürs Exerzieren der rund sowie Militärunterkünften, äußerst dicht 4000 in Wesel liegenden Soldaten bean- bebaut war. spruchte.1 Der Bereich außerhalb der Festungsmauern In den Jahren 1909 bis 1911 eskalierte die war lediglich durch vier Stadttore sehr um- Situation. Der Festungskommandant verbot ständlich erreichbar und zusätzlich durch allen Zivilisten und sämtlichen Schülern das Rayon-Regulativ stark in seiner Nut- die Nutzung der genannten Grünlächen zung eingeschränkt. zu sportlichen Zwecken.2 Zu Beginn der 1890er Jahre kam es zu ei- Beschwerden seitens der Stadt und des ner ersten Teilentfestigung und Stadterwei- Gymnasiums über das Verhalten des We- terung seit dem Ausbau Wesels zur preußi- seler Festungskommandanten beim VII. schen Landesfestung. Im Mittelpunkt dieser Armeekorps in Münster hatten zunächst Maßnahmen stand die Erschließung neuer keinen sichtbaren Erfolg. Der Chef des Ge- Wohn- und Geschäftsgebiete. Die dabei neralstabes, Oberst Ernst von Hoeppner, neu erschlossenen Flächen waren weitge- bestätigte sogar grundsätzlich das Verbot hend als Bauland vorgesehen, über deren der Weseler Kommandantur, bot aber als Verkauf die Stadt sich dringend benötigte Ausgleich die Nutzung des Heubergex- Einnahmen versprach. erzierplatzes sowie der Esplanade an, so- In dieser Zeit entstanden zur Aufwertung weit die militärischen Belange dies zulie- des Stadtbildes vor dem Bahnhof und hin- ßen;3 für die Stadt und das Gymnasium ter der Willibrordi-Stadtkirche zwei kleine- keine akzeptable Lösung. So standen sich re Parks, deren Nutzung zu Sportzwecken die Kommandantur auf der einen und auf aufgrund ihrer geringen Größe und sons- der anderen Seite alle städtischen Schulen tigen Anlagen mit Brunnen und Wasser- einschließlich des staatlichen Gymnasi- spielen sowie Blumenbeeten nicht möglich ums und sämtliche Weseler Sportvereine war. unversöhnlich gegenüber.4 Erst ab April Die Freiluftsportler Wesels befanden sich in 1911 lenkte das Militär unter dem neuen einem Dilemma. Festungskommandanten ein und die Situa- Zwar gab es einige Turnhallen in der Stadt, tion entspannte sich wieder. Den Schulen von denen aber nur die Turnabteilungen und dem Weseler Turnverein (WTV) wurde proitierten. Diejenigen, die Rasensport be- zwar nur unter Aulagen die Mitbenutzung

161 des Heubergplatzes und dem Ballspielver- Die Sportplätze im Ersten Weltkrieg, der ein (Fußballverein) Viktoria Wesel (BSV) Weimarer Republik und im Dritten Reich die teil- und zeitweise Nutzung der Schill- Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging wiese gestattet, doch zeigte sich der neue der Sportbetrieb in Wesel wie in allen deut- Kommandant wesentlich verständnisvoller. schen Städten deutlich zurück und wurde Den starken Beschränkungen der Weseler schon bald gänzlich eingestellt. Bereits im Festungszeit und der späten Entfestigung ersten Kriegsjahr fanden im Bereich des der Stadt ist es zuzuschreiben, dass weder Fußballs keine der üblichen Meisterschafts- die Weseler Schulen, einschließlich des spiele statt. Die Sportstättenfrage ruhte da- staatlichen Gymnasiums, noch die Wese- durch ebenfalls. ler Vereine bis zum Ersten Weltkrieg über Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und einen eigenen, ausgebauten Sportplatz für der Entfestigung Wesels auf Grund des Ver- die Leichtathletik und die sogenannten Be- sailler Vertrages verlor Wesel zwar seine wegungs- und Kampfspiele verfügten, mit ihm vertraute Garnison, gewann dafür aber denen in erster Linie Schlagball, Faustball die Verfügungsgewalt über einen großen und Fußball gemeint waren. Teil der ehemaligen militärischen Grund- stücke und Liegenschaften zurück.

Das stark zerstörte Lippeschlösschen nach den heftigen Kämpfen zwischen der Reichswehr und bewaffneten Arbeitertruppen, der sogenannten „Roten Armee“, im März 1920.

162 Die auch nach Kriegsende noch anhalten- Bevölkerung könnte die Reichswehrtrup- de schwierige Versorgungslage sowie die pen dazu bewegen, Wesel zu verlassen. politischen Unruhen, die in Wesel und im In den ofiziellen Darstellungen der Stadt Ruhrgebiet bürgerkriegsähnliche Züge an- Wesel inden die Ereignisse keine ange- nahmen, ließen für die Entwicklung des messene Resonanz, obwohl über 1500 Sports keine große Hoffnung aufkommen. Menschen bei den schweren Kämpfen im Im März 1920 entwickelte sich aus dem Ruhrgebiet und vor Wesel sowie dem an- von den Gewerkschaften, der Deutschen schließenden Terror ums Leben gekommen Demokratischen Partei (DDP) und der Un- sind.5 abhängigen Sozialdemokratischen Partei Es waren wirklich nicht die besten Bedin- Deutschlands (USPD) ausgerufenen Gene- gungen für einen Aufschwung des Sports zu ralstreik, der gegen den Putschversuch von Beginn der 1920er Jahre. Dennoch förder- Kapp gerichtet war, im nahen Ruhrgebiet ten alle politischen Vertreter und Gruppie- der gewaltigste Arbeiteraufstand in der rungen im ganzen Reich jegliche sportliche deutschen Geschichte. Betätigung. Dabei ging vor allem darum, Die meisten Arbeiter waren als ehemalige mit Hilfe des Sportes die Volksgesundheit Frontsoldaten im Umgang mit ihren Waffen zu stärken bzw. wieder herzustellen. Die vertraut und entschlossen, sie zur Durchset- hatte durch die schlechte Ernährungslage zung ihrer Forderungen nach mehr sozia- während der letzten Kriegsjahre und die ler Gerechtigkeit einzusetzen. Sie erzielten anschließende Wirtschaftskrise merklich anfangs bemerkenswerte Erfolge gegen die gelitten. Die Weseler Sportvereine nutzten Reichswehr. Die Arbeiter beschossen Wesel die allgemeine positive Grundeinstellung u. a. mit vier Geschützen. Sie hofften, die gegenüber allen sportlichen Aktivitäten, um die Sportstättenfrage voranzutreiben.

Der Heubergsportplatz 1927. Im Hintergrund sind die Tennisplätze des Weseler Tennisvereins zu sehen, der sich zwischen 1922 und 1924 dem Weseler Turnverein angeschlossen hatte.

163 Der Heubergplatz um 1930 mit Blickrichtung auf die Heubergkaserne und die Mathena Kirche.

Der Weseler Turnverein von 1860 (WTV) Zum neuen Sportplatz gehörten ein großer Der WTV konzentrierte zu Beginn der Rasenplatz, eine 360 m lange Aschenrund- 1920er Jahre seine Bemühungen auf die bahn, Sprunggruben, moderne Toiletten, Schaffung eines eigenen großzügigen Umkleide-, Wasch- und Versammlungsräu- Sportplatzes auf dem ehemaligen Exer- me. Der WTV gewann enorm an Attrakti- zierplatz am Heuberg. Im Juli 1922 stellte vität. Die Mitgliederzahlen, die vorher bei der Weseler Architekt Richard Schüren im durchschnittlich 140 gelegen hatten, stie- Auftrag des Vereins die erforderlichen An- gen bis 1927 auf knapp 700.8 Dazu trug träge bei der Stadt und legte auch gleich insbesondere bei, dass der Verein jetzt in eine Planung vor.6 Die Stadt genehmigte der Lage war, neue stark im Trend liegende die Pläne und überließ dem Verein den Sportarten wie Leichtathletik und die so be- Platz für zehn Jahre bei jährlicher Pacht liebten Rasenspiele anzubieten. Viele Ein- von 1000 Reichsmark.7 Während der zwei- zel- und Mannschaftssiege zeugen von der jährigen Bauzeit hatte auch die Weseler Leistungsfähigkeit der Mitglieder. Tennisgesellschaft drei Tennisplätze an der 1929 wurde eine Fußballabteilung gebil- Nordseite des Platzes angelegt und sich det, die besonders bei den Jugendlichen dem Turnverein angeschlossen. Eingeweiht beliebt war. Bereits 1930 zählte sie 80 Mit- wurde der Heubergsportplatz, nahe zum glieder mit fünf Mannschaften, wovon zwei Stadtzentrum gelegen, am 18. Mai 1924. Jugendmannschaften waren.

164 Lageplan des Heubergsportplatzes von 1924/1928.

1933 wechselte der Vorsitz im Verein. Her- zender, legte sein Amt nieder, das von Otto mann Berkenkamp, von 1918–1933 Vorsit- Lisner übernommen wurde.9

165 Der Weseler Sportverein (WSV) von 1910 Darüber hinaus bemühte man sich sehr um Größter sportlicher Konkurrent zum WTV ein gutes Verhältnis zum Militär vor Ort so- im Bereich Außen- und Rasensport war zu wie zum VII. Armeekommando in Münster. jener Zeit der WSV.10 Der trat bereits 1911, Ausdruck dieser Bemühungen waren die ohne über einen eigenen Platz zu verfü- im Februar 1914 in Wesel beginnenden gen, dem Westdeutschen Spielverband und Spiele um die Fußballmeisterschaft im VII. dem Deutschen Fußballbund bei. Seine Armeekorps mit ausdrücklicher Billigung Mitgliederzahl stieg 1911 auf rund 100 ge- des Kommandierenden Generals des VII. genüber 36 aus dem Gründungsjahr 1910. Armeekorps, General Karl von Einem, der Gesellschaftliche Anerkennung versuchte besonders von Kaiser Wilhelm II. hoch ge- der Verein in den folgenden Jahren unter schätzt wurde. Im zweiten Kriegsjahr, im anderem auch dadurch zu gewinnen, dass Mai 1915 wurde nur noch eine Stadtmann- 1912 Graf Friedrich von Stolberg-Werni- schaft aufgestellt, die dann lediglich noch gerode zu Diersfordt das Protektorat über Freundschaftsspiele gegen Bocholt und den Verein übernahm und 1913 der hiesige Goch zugunsten des Roten Kreuzes absol- Landrat Leopold Graf von Spee11, Wesels vierte. Im August 1915 stellte der WSV den Bürgermeister Ludwig Poppelbaum und Sportbetrieb auf Grund der kriegerischen Generalmajor Viktor Bausch zu Ehrenmit- Ereignisse vollständig ein.13 gliedern ernannt wurden.12

Geselliges Zusammensein in der Laube des Weseler Sportvereins um 1919.

166 Die Erste Mannschaft des Weseler Spielvereins um 1920.

Die Zweite Mannschaft des Weseler Spielvereins in den 1920er Jahren.

167 Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg Verein und dem Finanzamt konnte endlich standen zunächst Aktivitäten zur Bewälti- die drängende Platzfrage zum Abschluss gung des Kriegstraumas beziehungsweise gebracht werden. Der WSV erhielt dadurch zur Stärkung des Gemeinschaftsgeistes im ein eigenes Sportgelände Am Alten Wolf. Vordergrund, wie die am 22. Dezember Zur Finanzierung des Platzausbaus wur- 1918 veranstaltete Familienweihnachtsfeier de eine Vereinsanleihe aufgenommen und oder das Winterfest vom 8. Februar 1919, erstmals eine eigene Damensportabteilung verbunden mit einer Wiedersehensfeier im gegründet. Darüber hinaus war bereits im Hotel Germania.14 Auch wurde versucht, März 1919 der Sportverein Borussia im den noch in Gefangenschaft beindlichen WSV aufgegangen. Verhandlungen mit Kameraden zu helfen. Die Einnahmen von dem WTV über eine Fusionierung beider 500 Mark aus einem Wohltätigkeitsspiel Vereine wurden demgegenüber im März des WSV gegen ehemalige Mitglieder der 1920 ohne Ergebnis abgebrochen. Schutztruppe Deutsch-Süd-West-Afrika vom Als ein hoffnungsvolles Zeichen einer Nor- Mai 1919 überwies der Verein an die Stadt malisierung wurde in Wesel das erste inter- zur Unterstützung der Kriegsgefangenen. nationale Fußballspiel nach dem Krieg vom 1919 war aber auch das Jahr, in dem wieder 17. August 1919 empfunden. Dabei spiel- verstärkt der Blick auf die sportlichen Akti- te die 1. Mannschaft des WSV gegen die vitäten gelenkt wurde. Mit dem am 4. Juli niederländische Voetbal Vereniging ’s-Hee- 1919 geschlossenen Vertrag zwischen dem renberg.15

Lageplan der Sportplatzes Am Alten Wolf von 1928.

168 Aufstellung zur Siegerehrung nach dem Staffellauf „Rund um Wesel“ 1922 auf der Freitreppe des historischen Rathauses am Großen Markt.

Nach etwas über einjähriger Bauzeit konn- räumen eingeweiht hatte, wollte der WSV te endlich am 11. und 12. September 1920 nicht nachstehen und erweiterte zunächst der neue Sportplatz Am Alten Wolf einge- 1926 seinen Sportplatz Am Alten Wolf um weiht werden und zum Jahresende war die ein Jugendheim16, dem 1928 noch Umklei- Zahl der Vereinsmitglieder auf 722 ange- de- und Baderäume folgten.17 wachsen. Der Sportplatz Am Alten Wolf iel beson- Bemerkenswert ist die Leistungsfähigkeit ders durch seine unverkennbaren hölzer- des Vereins in der Leichtathletik. So gewann nen Torbauten im Eingangsbereich auf, die der WSV von 1920 bis 1923 gleich viermal durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit de- hintereinander den Staffellauf „Rund um nen zum Eingang des Bürgerschützenparks Wesel“, ein Wettstreit, der sich in Wesel aufwiesen. großer Beliebtheit und Popularität erfreute. Mit der Planung des Schillviertels Anfang 1924 wurden alle Spiele des WSV auf dem der 1930er Jahre schienen die Tage des ehemaligen Kasernenhof des Artillerieregi- Sportplatzes allerdings gezählt zu sein. Die mentes Nr. 43 ausgetragen, da der eigene Stadt hatte 1934 eine Straße mitten durch Platz Am Alten Wolf instandgesetzt werden den Sportplatz geplant und im Spätherbst musste. Nachdem der WTV 1924 seinen 1934 wurde dem WSV die Kündigung des Platz am Heuberg mit modernen Toiletten, Platzes zugestellt, der danach zum 1. Janu- Umkleide-, Wasch- und Versammlungs- ar 1935 geräumt werden sollte. Dem Ersten

169 Laufwettbewerb 1920 auf dem Sportplatz Am Alten Wolf.

Weitsprung 1920 auf dem Sportplatz Am Alten Wolf.

170 Vorsitzenden Jean West gelang es jedoch, durch Hochwasser, die jährlichen Schill- nach einer Unterredung mit dem Reichs- feiern und Rennveranstaltungen. Darüber sportführer, eine Verfügung zu erwirken, hinaus mussten sich die Sporttreibenden, wodurch der WSV seinen Sportplatz be- Jugendliche ebenso wie die Männer, in halten konnte.18 Doch die Freude darüber einer an der Schillwiese gelegenen Wirt- währte nur wenige Jahre, denn mit der Ein- schaft umkleiden. Das Militär beanspruche berufung vieler Aktiver zum Bau des West- die Wiese nach dem Ersten Weltkrieg für walls ab 1938 ließ der Spielbetrieb immer militärische Schulungen nicht mehr, da es mehr nach und wurde schließlich völlig in Wesel auf Grund des Versailler Vertrages eingestellt.19 keine Garnison mehr geben durfte.21 Bei den Bombenangriffen auf Wesel im Als neuen Platz wünschte sich der Verein Februar 1945 wurden mit der Stadt auch Ende 1930 ein Gelände Am Alten Wolf, sämtliche Rasensportplätze ein Opfer der wo bereits dem WSV und dem Sportver- Bomben. ein Olympia ein Außengelände gehörten. Der Athletik-, Sport- und Turnverein Olym- Der Ballspielverein Viktoria (BSV) von 1910 pia Wesel, gegründet 1898,22 nutzte nach Der BSV spielte seit seiner Gründung im den vorhandenen Unterlagen 1929 nur ein Jahre 1910 auf einem Teil der Schillwiese, Außengelände mit einem Umkleideraum. den der BSV von der Stadt gepachtet hat- te.20 Pläne oder Foto- dokumente vom Spiel- betrieb aus dieser Zeit liegen im Stadtarchiv nicht vor. Über die Platzverhältnisse sind in den Akten keine An- gaben zu inden. Bei der Schillwiese handelte es sich um eine Wiese in den Lip- peauen, weitgehend der Natur überlassen. Beplanzungen wie Hecken und Bäume werden nicht erwähnt, ebenso auch keine weiteren Vereinsbau- ten oder Einzäunun- gen. Bei der Suche Lageplan des Außenplatzes von Olympia Wesel an der Ecke Flamer Weg nach einem neuen / Luisenstraße 1929. Spielort hat der Verein 1930 angeführt, dass der alte Platz aus verschiedenen Gründen Hinweise auf einen ausgebauten Platz mit nicht weiter für einen geregelten Spielbe- Spielfeld, Kampfbahn, sanitären Einrich- trieb geeignet sei. Ausdrücklich genannt tungen etc. fehlen.23 wurden damals die Beeinträchtigungen

171 Planungsunterlagen von 1931 zum Sport- platz von Viktoria. Die zu verfüllenden Festungsgräben sind hierauf farbig markiert.

Da die Stadt das vom BSV gewünschte Ge- erte, dem Verein inanziell auf Grund der lände bereits in den nächsten Jahren als eigenen angespannten Haushaltslage nicht Bauland veräußern wollte, wurde der An- helfen zu können. Sie bot dem BSV immer- trag abgelehnt.24 hin zur Unterstützung an, den städtischen Daraufhin wandte sich der BSV im Januar Müll in den Festungsgraben an der Espla- 1931 an den Reichsiskus zwecks Über- nade zu kippen. Der Verein musste dafür lassung eines Geländes auf der Esplanade, auf die Sauberkeit achten und den Müll also zwischen der Zitadelle und der Stadt. einebnen.27 Dieses Gelände war noch mit alten Fes- Der BSV hat daraufhin den Weseler Archi- tungsgräben durchzogen und musste für die tekten Richard Schüren, der bereits 1922 Anlage eines Fußballfeldes erst einmal ver- für den WTV am Heubergsportplatz erfolg- füllt und planiert werden. Der Verein wollte reich tätig war, mit der Planung beauftragt.28 diese Arbeiten mit den eigenen Mitgliedern ausführen, um so den vielen „Erwerbslosen Deutsche Jugendkraft (DJK) Blau-Weiß und Krisenempfängern“ im Verein die Mög- Wesel lichkeit zu geben, wenigstens „für eine Zeit Ebenfalls 1931 hatte die DJK Wesel, ein Arbeit und Brot [zu] inden.“ 25 Die Arbei- katholischer Sportverein, der von Kaplan ten waren recht umfangreich. Nach ersten Johannes Giese von Mariä Himmelfahrt be- Berechnungen mussten dafür rund 16.000 treut wurde, einen Sportplatz auf der Esp- m³ Erdreich verfüllt und noch einmal rund lanade, unmittelbar neben dem Sportplatz 10.000 m³ Erdreich ohne den Einsatz von BSV, angelegt.29 Maschinen abgetragen werden.26 Dessen Planung erfolgte durch den altein- Bis April 1931 hatte der Fiskus den Antrag gesessenen Architekten Bernhard Hauren- des Vereins genehmigt und endgültig ein herm, Sandstraße 33.30 Auch dieser Sport- Gelände zugewiesen. Die Stadt bedau- platz verfügte über ein großes Spielfeld,

172 Plan des Sportplatzes der Deutschen Jugendkraft von 1931. Das ehema- lige Zeughaus rechts oben ist die Jugendburg. Hinweis zur Orientie- rung: Der Plan ist nicht eingenordet.

Die Sportanlagen im Jahr 1931 von Viktoria und Blau-Weiß Wesel nach einem Ausschnitt von Plänen des BS Viktoria.

173 Der Sportplatz der Deutschen Jugendkraft im Jahr 1932 von der Esplanade, mit Blickrichtung auf den Rhein, her gesehen. Im Hintergrund die Jugendburg.

Die Erste Mannschaft der DJK Blau-Weiß Wesel 1931/32. eine Laufbahn, Sprunggruben, sanitäre Ein- Spielvereinen.31 Eröffnet wurde der Sport- richtungen, Tribünen und einen Zaun oder platz am Sonntag, den 16. Mai 1932, mit eine Mauer, wie bei den anderen größeren einem Festumzug durch die Stadt.32

174 Bereits im Juli 1933 kam es zum ersten Mal zu einer Polizeiaktion gegen die ka- tholischen Jugendvereine Wesels.33 Die Jugendburg auf der Esplanade, die dem katholischen Jungmännerverein gehörte und gleich neben dem Sportplatz der Deut- schen Jugendkraft lag, wurde geschlossen, alle Gegenstände beschlagnahmt und mit Hilfe der Hitlerjugend zur Polizei aufs Rat- haus geschafft. Sämtliche katholische Ju- gendverbände durften nicht mehr als sol- che erkennbar öffentlich auftreten. Den Angehörigen dieser Organisationen wurde jede sportliche oder volkssportliche Betä- tigung verboten. Nach Protesten aus dem Vatikan ordnete Berlin die Rücknahme der Beschränkungen an, um den Abschluss des Reichskonkordates vom 20. Juli 1933, das einen Bestandsschutz für die katholischen Verbände vorsah, nicht zu gefährden. Aber daran hielten sich die Nationalsozialisten nur für kurze Zeit. In Wesel kam das Ende Der Eingang zum BS Viktoria nach einem Ent- für die Jugendkraft endgültig 1934. Am wurf von Richard Schüren von 1931 aus dem Sonntag, den 11. März 1934, fand in Essen Haupttor der Weseler Zitadelle her gesehen. eine große Hitlerjugendkundgebung in An- wesenheit des Reichsjugendführers Baldur von Schirach statt. An diesem Tag sollen Mitglieder der Deutschen Jugendkraft auf Damit befanden sich zu Beginn der 1930er ihrem Weseler Sportplatz die sogenannte Jahre in unmittelbarer Nähe des Stadtzent- Sturmfahne, d.h. das Christusbanner, ge- rums allein vier voll ausgebaute, moderne hisst haben. In den Augen der Nationalso- Sportstätten für Rasenspiele und Leichtath- zialisten eine nicht hinnehmbare politische letik. Dazu kamen die Schillwiese sowie Provokation. Zwar stellte sich hinterher der Außenplatz von Olympia Am Alten heraus, dass die Sturmfahne nicht auf dem Wolf und der Außenplatz der Gymnastik- Sportplatz, sondern auf der Jugendburg und schule Wesel in der Reitzensteinkaserne. dort von einem Mitglied des Jungmänner- Mit der Machtübernahme der National- vereins anlässlich eines Kommunion-Sonn- sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei tages gehisst worden war, aber das spielte ( NSDAP), d. h. mit der Ernennung Hitlers keine Rolle mehr. zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, Die Verwaltung unter Bürgermeister Otto wurde es für zwei Weseler Sportvereine Borgers sah im Hissen der Fahne eine öf- brenzlig. Betroffen waren der BSV, der über- fentliche politische Meinungsäußerung, wiegend aus Arbeitern bestand, die den die gemäß Artikel 31 des Reichskonkordats Linksparteien nahestanden, und der Sport- den katholischen Vereinen aber nicht mehr verein Blau-Weis Wesel, der zur Deutschen erlaubt war. Jugendkraft, der Dachorganisation der ka- Bürgermeister Borgers hatte ab Mai 1933 tholischen Sportvereine, gehörte. de facto die Amtsgeschäfte für den zwangs-

175 weise beurlaubten Bürgermeister Emil drücklich wurde die Deutschen Jugendkraft Nohl übernommen, bevor er im Oktober genannt.34 Auch außerhalb von Wesel ge- 1933 durch die NSDAP zum Bürgermeis- riet die Deutschen Jugendkraft immer mehr ter von Wesel bestimmt wurde. Borgers ins Visier der neuen Machthaber. Anfang untersagte am 12. März 1934 erneut und Juli 1934 wurde der Reichsführer der Deut- endgültig jegliche öffentliche Betätigung schen Jugendkraft, Adalbert Probst, verhaf- für die katholischen Jugendverbände, aus- tet und kurz darauf „auf der Flucht erschos-

Die vier Außensportplätze der Weseler Vereine 1931: Nr. 1: Heubergsportplatz des WTV. Nr. 2: Platzanlage des WSV Am Alten Wolf. Nr. 3: Sportplatz des BSV auf der Esplanade. Nr. 4: Sportplatz der DJK Blau-Weiß Wesel auf der Esplanade.

176 sen“. Der Tatzeitpunkt steht in auffälliger Im Februar 1936 forderte die Stadt bei zeitlicher Nähe zum sogenannten „Röhm- der Polizei Auskünfte über verschiedene Putsch“ Ende Juni 1934, bei dessen Gele- Vereinsmitglieder an, insbesondere zur genheit Hitler sich nicht nur seiner Gegner Vereinszugehörigkeit und politischen Aus- aus den Reihen der Sturmabteilung (SA) richtung. Nach den Angaben der Polizei entledigte, sondern auch weitere dem Re- sympathisierte der größte Teil der Mitglie- gime unbequeme Personen ermorden ließ. der des BSV vor der Machtübernahme mit 1935 wurde die Deutsche Jugendkraft, die den marxistischen Parteien. Auch Richard sich bis dahin hartnäckig der Gleichschal- Schüren gehörte zu den „Verdächtigen“, tung zu entziehen versucht hatte, reichs- doch bei ihm wurde vermerkt, dass er nur weit verboten und aufgelöst.35 bis 1931 Mitglied im Verein gewesen war.38 Spätestens ab Juli 1933 gab es ebenfalls Festzustellen bleibt, dass durch die „Bau- Spannungen zwischen der Stadt und dem zaun-Affäre“ der einzige Weseler Sportver- BSV. Der Ton verschärfte sich deutlich. An- ein, dessen Mitglieder zum größten Teil aus lass dafür war die von Seiten der Stadt ge- dem Arbeitermilieu stammten, zwischen forderte ultimative Entfernung des Bauzau- 1933 und 1935 ausgeschaltet wurde. Ganz nes, die in ihrer geäußerten Art und Weise im Sinne der NSDAP, die sofort nach der so gar nicht zu dem sonst ausgeglichenen Machtergreifung damit begonnen hatte, im Ton zwischen der Stadt und den Weseler Sportbereich mit ihren alten Erzfeinden aus Sportvereinen passte.36 Die Forderung zur dem „Linken Lager“ abzurechnen. 1936 Beseitigung der Einfriedung des Spielge- stand der Sport im Zeichen der Olympi- ländes gefährdete ernsthaft den weiteren schen Spiele von Berlin, die Hitler und Spielbetrieb und damit die Existenz des Goeb bels zur Demonstration der Überle- BSV. Der Verein reagierte heftig, beschwer- genheit der arischen Rasse und damit auch te sich sowohl beim Westdeutschen Spiel- ihrer Ideologie nutzen wollten. Die deut- verband als auch beim Landrat und drohte schen Athleten und Athletinnen konnten mit Schadensersatzforderungen und Klage erwartungsgemäß im Medaillenspiegel klar vor Gericht. den ersten Platz vor den USA belegen. Aber Aus den Akten geht nicht hervor, dass Bor- mit vier Goldmedaillen wurde ausgerech- gers die ganze Angelegenheit im Sinne der net der farbige Amerikaner Jesse Owens er- Partei forciert hätte, dennoch war er stets folgreichster Sportler der Spiele. Das pass- über den Stand der Dinge informiert. Die te so gar nicht in die nationalsozalistische Stadt ließ die Umzäunung des Sportplatzes Rassen ideologie und hat Hitler schwer Mitte August 1934 durch einen Unterneh- verärgert. Die Sportbegeisterung der Deut- mer abbrechen. Die Kosten dafür stellte sie schen hat dadurch keinen Schaden genom- dem Verein in Rechnung. Der Vereinsvor- men und schon bald kam es in Wesel zum sitzende Bernhard Fink wehrte sich weiter Neubau zweier Außensportplätze. gegen die Stadt, wollte die Rechnung nicht Bereits 1936 baute und inanzierte die Stadt akzeptieren und bestand weiter auf Scha- den ersten Sportplatz.39 Die Vereinssport- densersatz, insbesondere für den Materi- plätze waren bis dahin fast ausschließlich alwert des abgebrochenen Zaunes. Dieser mit dem Geld und dem Arbeitseinsatz der war inzwischen sinnigerweise der Führer- Vereinsmitglieder ausgebaut worden. Der schule als Brennholz zur Verfügung gestellt neue sogenannte Zitadellensportplatz lag worden, wie aus einem Bericht des Bau- im Winkel zwischen Oberndorfer Straße, amtes vom Januar 1935 für Borgers hervor- heute B8, und der Auffahrt zur Rheinba- geht.37 Ende 1935 wurden die restlichen benbrücke, heute B58, also dort, wo heute Vereinsgebäude abgebrochen. die Sportanlagen des BSV liegen.

177 Ausschnitt aus einem Lageplan des seit 1936 neu angelegten Zitadellensportplatzes.

Die Planungsunterlagen sahen neben ei- sernenhof des Infanterie Regiments Nr. 43, nem Rasenspielfeld auch eine internatio- absolvierten. Zur Einweihung des Platzes nale 400 m Aschenbahn und die üblichen 193741 hatte der Studienrat Dr. Karl Wester- Sprung- und Wurfbereiche vor. Im Unter- mann ein Gedicht geschrieben.42 schied zu den übrigen Sportplätzen war Während Westermann noch die friedli- auf dieser Anlage noch ein dazugehöriger che Nutzung beschwört, hatten die neuen Vielzweckplatz geplant, der auch als Reit- Machthaber aber durchaus schon weniger platz nutzbar sein sollte. Darüber hinaus friedliche Absichten im Blick. Der National- war zwischen Kleingärten und Hauptspiel- sozialismus sah in dem Fach „Leibeserzie- feld eine Schießanlage vorgesehen. Die hung“ ein unverzichtbares Mittel um „eine Bauarbeiten zogen sich aber in die Länge tatenfrohe und kampfbereite Jugend zu er- und waren wegen Mangel an Arbeitskräf- ziehen, die zu jedem Dienst für den natio- ten auch 1939 noch nicht abgeschlossen.40 nalsozialistischen Staat und den Führer wil- Der zweite und letzte Sportplatz war der lig ist. Das letzte Ziel aller Leibeserziehung seit den 1920er Jahren heiß ersehnte Platz sind willensstarke Männer und gesunde für das hiesige Gymnasium, dessen Schüler Mütter. Die Jugend soll jederzeit bereit bis dahin ihre Laufübungen meist auf dem sein, auch unter Einsatz ihres Lebens, das Mittelstreifen des Herzogenrings oder auf Reich gegen seine Feinde zu vertei digen.“43 dem kleinen Sportplatz im ehemaligen Ka- Ein solches Bildungsideal war natürlich auf

178 Nr. 1: Sportplatz des Gymnasiums von 1937. Nr. 2: Schulgebäude des Gymnasiums, erbaut 1912, heute Amtsgericht Nr. 3: Sportplatz auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne des Artillerie regimentes Nr. 43. Ausschnitt aus einem Luftbild von 1943. die geheimen Aufrüstungs- und Kriegsvor- bereitungen der neuen Machthaber ausge- richtet. Zwei Jahre später, mit dem Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, zeigte sich das gesamte Aus- maß einer solchen menschenverachtenden (Sport-) Politik.

179 Anmerkungen: 33 Gilhaus, Fritz: Die katholische Jugend Wesels vor 50 Jahren. Ein Augenzeuge erinnert sich. In Prieur, 1 Nach dem Verwaltungsbericht der Stadt Wesel von Jutta: Wesel 1933–1945 (Weseler Museumsschrif- 1909, S. 11, lebten in der Stadt rund 20.000 Zivilein- ten 5), Köln 1983, S. 71. wohner und zusätzlich circa 4000 Soldaten. 34 Ebd., S. 77. 2 Stadtarchiv Wesel (STAW) S1/131 fol. 50. 35 Siehe hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Adalbert_ 3 STAW S1/131 fol. 52. Probst vom 15. 04. 2015 11.00 Uhr sowie http:// 4 STAW S1/208, Jahresberichte des Weseler Gymnasi- www.djk.de/1_wir_ueber_uns/frame_wir_ueber_uns. ums, hier 1908–1909, S. 8. htm (Homepage Deutsche Jugendkraft) vom 15. 04. 5 Günter Gleising und Anke Pfromm: Kapp-Putsch und 2015, 11.11 Uhr. Und http://thema.erzbistum-koeln. Märzrevolution 1920 (II). Ereignisse und steinerne de/koelner-maertyrer/Adalbert_Probst.html# Zeugen. Gräber und Denkmäler zwischen Rhein und vom 15. 04. 2015, 11.05 Uhr. Wesel erzählen Geschichte. Ruhr Echo Verlag, Kiel 36 STAW B11/826 fol. 24 ff. 2014, S. 8. 37 STAW B11/826 fol. 54–55. 6 STAW, B11/1860 fol. 1 ff. 38 STAW B11/826 fol. 62. 7 Rüdiger Gollnik: Turnvater Jahn verplichtet. Ein Bei- 39 Verwaltungsbericht der Stadt Wesel 1937, S. 27. trag zur Geschichte des Weseler Turnvereins von 1860 40 Verwaltungsbericht der Stadt Wesel 1939, S. 11. anläßlich seines 125-jährigen Bestehens, Wesel 1985, 41 Horst Schroeder: 650 Jahre Konrad Duden Gymnasi- S. 30. um, Wesel 1992, S. 224. 8 Ebd., S. 26 und 34. 42 STAW S1/269 fol 3. Flaggenspruch unseres Sport- und 9 Ebd., S. 42. Spielplatzes von Studienrat Dr. Karl Westermann. 10 Die genauen Gründungsdaten und Umstände des 43 Zitiert nach Flessau. Schule der Diktatur. S. 54. Mün- Vereins sind allerdings etwas unklar. Erst 1960 setzte chen 1977 in: Horst Schroeder: 650 Jahre Konrad darüber eine Auseinandersetzung im Verein ein. Duden Gymnasium, Wesel 1992, S. 230. Schriftliche Unterlagen in Form von Protokollen und Niederschriften existierten nach 1945 offensichtlich nicht mehr. Man war in dieser Frage sehr stark auf das Erinnerungsvermögen der älteren Mitglieder angewie- sen, wobei man offensichtlich nicht immer zu über- einstimmenden Ergebnissen kam. Man einigte sich schließlich auf das Gründungsjahr 1910 und darauf, dass der Verein aus dem seit 1908 bestehenden Fuß- ballclub Hohenzollern sowie aus einer Fußballabtei- lung des WTV hervorgegangen sei. 11 Leopold Graf von Spee war von 1895 bis 1919 Land- rat des ehemaligen Kreises Rees, in: Horst Romeyk: Die leitenden staatlichen und kommunalen Verwal- tungsbeamten der Rheinprovinz 1816–1945 (= Publi- kationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichte; 69). Düsseldorf 1994, S. 302. 12 STAW N 85/3 Nr. 1 S. 8. 13 STAW N 85/3 Nr. 1 S. 8 Rückseite. 14 STAW N 85/3 Nr. 1 S. 8 Rückseite. 15 STAW N 85/3 Nr. 1 S. 9. 16 STAW N 85/3 Nr.1 S. 10. 17 STAW B 11/55 fol. 2–6. 18 STAW N 85/3 Nr. 1 S. 19. 19 STAW N 85/3 Nr. 1 S. 19 Rückseite. 20 STAW B 11/826 fol. 1. 21 STAW B 11/826 fol. 1. 22 STAW, Adressbuch 1931, S. 28. 23 STAW B 11/2271 fol 2–3. 24 STAW B 11/826 fol. 1 Rückseite. 25 STAW B 11/826 fol. 2. 26 STAW B11/826 fol. 6. 27 STAW B11/826 fol. 4 Rückseite. 28 STAW B11/826 fol. 11 ff. 29 STAW B11/825 fol. 1. 30 Im Adressbuch von 1931 wirbt Haurenherm mit dem Zusatz „ältestes Geschäft am Platze“. 31 STAW B11/825 fol. 5. 32 STAW B11/825 fol. 7–9.

180 Josef Vogt

Die Friedenskirche „Zu den Heiligen Engeln“ Das Reduit des ehemaligen Forts Fusternberg als Fundament für die Kirche

Wenn man sich aus nördlicher Richtung Es wurde ca. ab 1857 als vorgeschobenes, der Stadt Wesel nähert, sieht man ein Ge- eigenständiges Fort zum Schutz der Eisen- bäude von beeindruckender Architektur. Es bahnlinie Wesel–Münster und des Bahn- ist die katholische Kirche „Zu den Heiligen hofs angelegt. 1 Engeln“ im Stadtteil Fusternberg. Diese Es bedeckte eine Fläche von ca. 5 /2 ha Kirche steht auf dem Reduit (die Festungs- und war in Form eines Dreiecks mit zwei begriffe werden am Ende erläutert) des ehe- Schultercaponnieren und in der Spitze maligen Forts Fusternberg. des Hauptgrabens mit einem halbrunden Blockhaus sowie in der Kehle mit einem Reduit errichtet worden.

Friedenskirche „Zu den Heiligen Engeln“.

181 Plan des Forts Fusternberg.

Luftaufnahme Fort Fusternberg ca. 1922.

1. Reduit noch mit Erddeckung 2. Grabencaponniere, (freigelegt) 3. Graben Lage des ehemaligen Forts Fusternberg im heutigen Kataster.

182 Reduit (noch als Notkirche).

Reduit – Seitenansicht (noch als Notkirche).

Das Fort wurde gegen Ende der siebziger eine Ummantelung in Form eines Erdwal- Jahre des 19. Jahrhunderts noch einmal les sowie einen schmalen Graben entlang umgebaut und verstärkt. Das Reduit erhielt des halbkreisförmigen Teils des Reduits. Im auf der Feldseite (heute Eingangsseite zur Fort wurden auch noch diverse Hohltraver- Krypta) einen zusätzlichen Mauerring und sen angelegt.

183 Nach der Aulassung der Festung kaufte die Gegners) Holzbalken eingeschoben wer- Stadt das Fort für 69.000,– Mark und über- den um somit eine mögliche Verteidigung nahm das Gelände im April 1908.1 Mit dem zu erreichen. Die einzelnen Geschosse Abbruch des Forts wurde 1915 begonnen, waren durch Wendeltreppen miteinan- der endgültige Abbruch jedoch erfolgte ab 1922 durch Erwerbslose. Die Gräben wur- den verfüllt und das Gelände eingeebnet, parzelliert und als Bauland verkauft. Von diesem Fort sind noch das Reduit und die linke Schultercaponniere erhalten ge- blieben. Die rechte Schultercaponniere ist ebenfalls noch vorhanden, aber überbaut und nicht mehr zugängig. Der Eingang ins Fort lag auf der Westsei- te. Es führten zwei Brücken über den Fes- tungsgraben, eine in das Reduit, in Höhe des Mittelgeschosses, und eine in den In- nenhof des Forts. Beide Brücken waren mit Zugbrücken versehen. Im Reduit kann man heute noch die Rollen über die die Ketten der Zugbrücke liefen, sehen. Vor dem Gra- ben stand ein gesichertes Wachthäuschen. Das Reduit ist dreigeschossig, seine Wän- de, Bögen und Pfeiler sind aus Ziegelstei- nen gemauert, ebenfalls die Grabenca- Reduit (Grundriss Mittelgeschoss). ponnieren, die jedoch nur zweigeschossig waren. Das tiefste Geschoss des Reduits, im Bereich der Grabensohle gelegen, war nur zur Verteidigung mit Gewehren ausge- baut, deshalb beinden sich in den Außen- mauern nur Gewehrscharten. Vom mittle- ren Geschoss aus konnte schon über das Glacis hinweg mit leichten Geschützen geschossen werden. In den Außenwänden beinden sich kleine Geschützscharten und links und rechts davon Gewehrscharten. Oberhalb der Scharten sind die Öffnungen der Rauchabzüge sichtbar. Im obersten Geschoss, die heutige Krypta, standen die schwereren Geschütze mit ei- ner großen Schussweite. In die ehemaligen Geschützscharten sind zum Ausbau der Krypta Fenster eingebaut worden. Wenn man durch die Geschosse des Re- duits geht, sieht man an verschiedenen Pfeilern senkrechte Mauerschlitze. In diese Schlitze konnten bei Gefahr (Einbruch des Grabencaponniere (Grundriss Mittelgeschoss).

184 Querschnitt durch die Grabencaponniere.

der verbunden. Vom Mittelgeschoss führte Der Graben um das Fort hatte eine Breite eine Treppe im hinteren Bereich ins Ober- von 15 m und war als trockener Graben geschoss und im vorderen Bereich (in der angelegt worden. Seine Wände (Escarpen- Spitze) eine Treppe ins Untergeschoss. Für mauern) waren aus Ziegelsteinen gemauert. die Soldaten gab es keine abgeschlossenen Stuben, sie hatten im Reduit verteilt ihre Der zweite Weltkrieg brachte neben der Schlafstätten. Zerstörung der Stadt Wesel auch die Zer- Im Mittelgeschoss waren die Küche sowie störung der Weseler Gotteshäuser mit sich.2 Toiletten untergebracht. Nach dem Krieg suchten die kirchlichen Das Reduit ist noch begehbar und kann be- Gemeinden Räumlichkeiten, in denen sie sichtigt werden. Gottesdienste abhalten konnten. Die Ge- Die zweigeschossigen Schultercaponnie- meinde Mariä Himmelfahrt fand in dem ren waren so zum Hauptgraben angelegt Reduit des ehemaligen Forts Fusternberg worden, dass der Graben in beiden Längs- im Obergeschoss einen geeigneten Raum, richtungen bestrichen werden konnte. In um hier eine Notkirche einzurichten. Die ihrer Längsachse waren die Caponnieren Zweckentfremdung des Reduits war je- höhenversetzt. Der im Graben beindliche doch keine Lösung von Dauer, zumal der zweigeschossige Teil war um ein Geschoss Raum mit der Zeit zu klein wurde. So war tiefer gelegt. Das untere Geschoss war zur der Wunsch verständlich, einen eigenen Gewehrverteidigung eingerichtet worden Kirchenneubau zu erhalten. Die Kirchen- und vom oberen Geschoss aus konnte wie- gemeinde erwarb das Grundstück des derum über das Glacis hinweg geschossen ehemaligen Forts von der Stadt Wesel und werden. Oberhalb der Caponnieren verlief konnte mit den Planungen für eine neue die Brustwehr. Das oberirdische, heute als Kirche beginnen.3 Garage genutzte Gebäude, gehört zum hö- Auf Empfehlung des Generalkonvikariats her liegenden rückwärtigen Teil der linken des Bistums Münster sollte der Kölner Ar- Caponniere. chitekt Hans Schilling eine Hochkirche im

185 Bereich des Forts planen. Bevor der Auf- vorspringende ehemalige Magazin des Re- trag an einen Architekten vergeben wer- duits (siehe Grundriss Mittelgeschoss) wur- den konnte, wurde ein Architektenwettbe- de zusammen mit dem Kirchenschiff auf- werb ausgeschrieben. Mehrere Architekten gemauert. In diesem vorgebauten Teil, der reichten ihre Entwürfe – diverse burgartige u.a. verschiedene Räume enthält, beinden aber auch konventionelle – ein. Der Ent- sich die Glocken in einer Glockenkammer wurf des Architekten Hans Schilling sah unter dem Dach.

Reduit (Grundriss Mittelgeschoss) mit ein- kopiertem Kirchengrundriss. Die Untersicht der Decke über der Kirche. einen Neubau auf dem Reduit des ehema- ligen Forts vor, indem er die Grundrissform des Reduits übernahm. Bei einer Überplanung des Reduits be- stand seitens der Denkmalplege und des Das Dach der Kirche, eine Stahlbetonkon- Landeskonservators die Aulage, dass die struktion mit Unterzügen, erstreckt sich frei ursprüngliche Form des Reduits nicht ver- gespannt über den gesamten Kirchenraum, ändert werden durfte. der hallenartig das gesamte Reduit über- Nach dem Entwurf des Architekten sind die deckt. Außenwände des aufstehenden Kirchen- Die Kirche wurde in den Jahren 1956 bis schiffs bündig mit den Außenwänden des 1958 errichtet und am 2. Februar 1958 Reduits errichtet worden. Jedoch wurde wurde sie als Friedenskirche „Zu den Heili- das umlaufende Gesims des Reduits (leider gen Engeln“ konsekriert.4 – aus heutiger Sicht –) abgeschlagen. Einen An die Weihe wurde in den Jahren 1983 Glockenturm sucht man vergebens. Das und 2008 erinnert.5

186 Anmerkungen:

1 Bericht über die Verwaltung und den Stand der Ge- meinde-Angelegenheiten der Stadtgemeinde Wesel für das Etat-Jahr 1908, Wesel 1909, Seite 52. 2 Vgl. dazu: Katholische Kirchengemeinde „Zu den Heili- gen Engeln“, Wesel-Fusternberg (Hrsg.): HOFFNUNG – DIE LETZTE WEISHEIT DER NARBEN, Rückbesin- nung auf das Geschehen in der Stadt Wesel im Feb- ruar 1945 – Gedanken zur Entstehung der Friedens- kirche „Zu den Heiligen Engeln“, Wesel-Fusternberg. 3 Vgl. dazu Warthuysen, Günter: Vor 70 Jahren Unter- gang und Neubeginn, in Mitteilungen der Historischen Vereinigung Wesel e.V. 151, Wesel 2014, S. 3–7. 4 Gerhard Metzmacher, J. Clausen, Hans Schilling: DIE FRIEDENSKIRCHE ZU DEN HEILIGEN ENGELN WE- SEL. Erbaut in den Jahren 1952–1958. Ein Beitrag zum Feste der feierl. Konsekration Sonntag Septuagesima, 2. Februar 1958, durch Se. Excellenz den Hochwür- digsten Herrn Weihbischof Heinrich Baaken. [Wesel 1958]. Vgl. dazu: Silke Noltenhans, Friedenskirche Zu den Heiligen Engeln in Wesel, Magisterarbeit Ruhr- Uni Bochum 1998. 5 Vgl. dazu: Kath. Kirchengemeinde „Zu den Heiligen Engeln“, Pfr. Norbert Köster (Hrsg.): AUF ZUKUNFT Die Kirche nach ihrer Fertigstellung. HIN, Festschrift zum 25. Jahrestag der Konsekration der Pfarrkirche „Zu den Heiligen Engeln“ in Wesel am 2. Februar 1983. Kath. Pfarrgemeinde St. Antonius Wesel, Pfr. Robert Mertens (Hrsg.): Die Friedenskirche „Zu den Hl. Engeln“ – Aus einem Kriegsbollwerk wur- de ein Friedenshaus. Ein Zeichen lebendiger Hoffnung auf Zukunft hin. Ausstellung zum 50. Weihetag der Kirche, Wesel 2008.

Festungsbegriffe: Caponniere: Schusssicherer Hohlbau im Graben einer Fes- tung. Er dient zur niederen Grabenbestreichung mit Flach- feuer und ist deshalb winkelrecht zur Grabenachse ange- legt. Fort: Selbstständiges Befestigungswerk, entweder isoliert stehend oder Teil eines Festungsgürtels. Glacis: Als freies Schussfeld angelegte, feindwärts lach ge- neigte Aufschüttung vor dem äußeren Grabenrand und dem gedeckten Weg. Hohltraverse: Wall mit Schutzraum im Innern einer Befesti- gungsanlage zum Schutz gegen seitlichen Beschuss, recht- winklig zur Brustwehr angelegte Deckung zwischen den Geschützständen. Reduit: Als Stützpunkt und Zuluchtsort dienendes inneres Werk einer Festungsanlage.

187 Albrecht Holthuis

Zwischen Anpassung und Widerstand – Kirchenkampf in Wesel Ein Beitrag zur Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel im Dritten Reich

Mit dem Begriff „Kirchenkampf“ bezeich- Protokolle ausgewertet und darüber einen net man heutzutage vor allem die Konlikte kleinen Aufsatz geschrieben.2 Hierin hatte zweier Lager innerhalb der Evangelischen Stempel schon eine Auswahl wesentlicher Kirche Deutschlands im Dritten Reich, die Aussagen zitiert und kommentiert, dabei sich im Zuge der Auseinandersetzung mit aber größtenteils nicht die Namen der han- dem Nationalsozialismus und seinem To- delnden Personen öffentlich gemacht. talitätsanspruch gebildet hatten. Auf der Im Folgenden möchte ich neben den von einen Seite stand die den Nationalsozia- Walter Stempel Genannten noch weitere listen nahestehende „Glaubensbewegung Beispiele aus den Protokollaufzeichnun- Deutscher Christen“ (nachfolgend auch gen hinzuziehen, um zusätzliche Aspekte die „Deutschen Christen“), auf der anderen Seite bildete sich die „Bekennende Kirche“. Auch in Wesel spielte dieser Konlikt in den 30er Jahren eine wichtige Rolle, bevor sich dann der „Kirchenkampf“ verlagerte. Und zwar hin zu einem generellen Konlikt zwi- schen den Ansprüchen des nationalsozia- listischen Staates und seiner Ideologie und den grundsätzlichen christlichen Wertvor- stellungen und Glaubenshaltungen evan- gelischer Prägung. Mit der Arbeit versuche ich, die Entwick- lung des damaligen Kirchenkampfes in We- sel nachzuzeichnen. Eine Beschäftigung mit diesem Thema setzt voraus, dass wegen der schwierigen Quellenlage – zum großen Teil bedingt durch die massiven Kriegs- zerstörungen in Wesel – nur behutsam Aussagen getroffen werden können. Eine hervorragende Quelle ist allerdings das Pro- tokollbuch des Presbyteriums der Kirchen- gemeinde, in dem lückenlos alle Sitzungen – auch die der Gemeindevertretungen – mit Tagesordnung und Besprechungsprotokoll aus dieser Zeit in akkurater Sütterlin-Schrift erhalten sind.1 Walter Stempel, Pfarrer i.R. und früherer Superintendent des Kirchen- kreises Wesel, hatte zuvor schon einmal, 50 Jahre nach der Machtergreifung Hitlers, die Protokollbücher der Ev. Kirchengemeinde Wesel.

189 dieses Themas in Augenschein zu neh- Situation am Vorabend der men. Dieses wird zu weiteren Schlussfol- Machtergreifung Hitlers gerungen hinsichtlich der verschiedenen Vermietung des Gemeindehauses an die Haltungen und Positionen der Mitglieder NSDAP/Duldung politischer Fahnen des Presbyteriums der Kirchengemeinde Wie zu erwarten, werden in einem Pres- führen. Außerdem hinterfrage ich die von byterium, das aus ca. 30 Personen besteht, Stempel vorgenommene Bewertung der bei den regelmäßigen Verhandlungen, die Haltung des Presbyteriums als „mittlere Li- im Durchschnitt einmal im Monat stattin- nie“ im Kirchenkampf, denn bei genauerer den, hauptsächlich kircheninterne Fragen Betrachtung wird sich später ergeben, wie besprochen: die Organisation von Got- sehr sich die Positionen je nach Zeitpunkt tesdiensten, Amtshandlungen und ande- im Einzelnen unterschieden haben und zu ren Gemeindeveranstaltungen, wichtige welchem Zeitpunkt sie jeweils geäußert Personalentscheidungen, die Behandlung wurden. inanzieller Fragen, die Beschäftigung mit Als weitere Quelle aus dieser Zeit wird den eigenen Immobilien und Liegenschaf- zusätzlich ein Bericht von 1937 über eine ten, Pfarr- und Kirchenwahlen, Konirman- Pfarr- und Presbyterkonferenz am 13. Sep- denunterricht und Arbeit mit Kindern, Kir- tember 1937 in Wesel hinzugenommen, chenmusik, Aus- und Übertritte etc. Aber der die neue schwierige Situation der Kir- zwischen den Zeilen und manchmal auch che in Wesel und im Kirchenkreis Wesel explizit ist nicht nur der „Geist“ der Zeit angesichts der Umwälzungen besonders spürbar, sondern auch die Haltung des verdeutlicht. Presbyteriums zum Zeitgeist insbesondere

Das Evangelische Gemeindehaus in Wesel in den 30er Jahren.

190 dann, wenn es um kirchenpolitisch brisan- sonders aufgeladen war? Hatte es nicht te Themen geht oder wenn von „außen“ in Wesel schon das ein oder andere Mal Anfragen an die Kirchengemeinde, z.B. Zwischenfälle bei Veranstaltungen von wegen Vermietung ihrer Räumlichkeiten, links- oder rechtsextremen Parteien und gestellt werden. ihren Kampfverbänden gegeben, so dass sogar die Polizei gerufen werden musste? Das Evangelische Gemeindehaus in Wesel Trotz aller Bedenken befürwortet das Pres- in den 30er Jahren byterium wiederum das Anliegen der Na- In diesem Zusammenhang ist beispielswei- tionalsozialistischen Arbeiterpartei. Man se die Tagesordnung vom 25.11.1930 zu einigt sich auf die Aulage, dass der Mieter nennen.3 Hier befasst sich das Presbyteri- schriftlich versichern müsse, für Schäden um zum wiederholten Mal mit der Frage bei etwaigen „Tumulten“ selbst aufzukom- nach der Vermietung des Evangelischen men. Salomonisch heißt es im Wortlaut des Gemeindehauses an politische Parteien. Beschlusses: „Sollte es jedoch einmal zu Denn in der Vergangenheit gab es dort be- Ereignissen kommen, die mit der Würde reits Parteiveranstaltungen der NSDAP mit des Gemeindehauses nicht zu vereinbaren hohem Publikumszuspruch. So hielt ein sind, so würde die Frage eines Verbotes für (ehemaliger?) Pfarrer Münchmeyer dort auf alle politische Versammlungen im Gemein- Einladung der NSDAP im Februar 1930 ei- dehaus ernstlich zu erwägen sein“.6 nen Vortrag. Dieser war bekannt für seine So kommt es in Wesel dazu, dass das Pres- antisemitischen Ausfälle. Über 700 Perso- byterium der erst kurz zuvor gegründeten nen sollen bei dieser propagandistischen Ortsgruppe der NSDAP das Gemeindehaus Veranstaltung dabei gewesen sein.4 Damals wiederum als Veranstaltungsort für eine gab es schon im Vorfeld auf der Sitzung Wahlversammlung zur Verfügung stellt. am 6. 2. 19305 hitzige Debatten im Pres- Wenn sich letztendlich in dieser Frage die byterium über das Für und Wider solcher Befürworter der Vermietung durchsetzten, Vermietungen. Ebenso wurden Bedenken, ist dieses möglicherweise ein Indiz dafür, z. B. von der „israelitischen Gemeinde“, im dass diese junge Partei auch bereits bei Presbyterium zur Sprache gebracht. Doch Einzelnen im Presbyterium zu diesem Zeit- mit geringen Aulagen wird die Veranstal- punkt Sympathie und Zustimmung genießt. tung genehmigt. Schon im Februar hatte Wie die politischen Spannungen immer sich gezeigt, wie attraktiv der große Saal mehr auch ins Gemeindeleben getragen des Evangelischen Gemeindehauses für werden, zeigt eine kleine Randnotiz im Zu- solche Zwecke offenbar war und wie weit sammenhang mit der zweiten Wahl Hin- das Presbyterium bereit war, auf solche An- denburgs zum Reichspräsidenten. Der erste liegen einzugehen. Und das gegenüber der Wahlgang am 13. März 1932, bei dem Paul Weseler Ortsgruppe der Nationalsozialisti- Hindenburg als Kandidat der demokratisch schen Arbeiterpartei, die sich erst wenige konservativen Kräfte neben Adolf Hitler als Jahre zuvor in Wesel gegründet hatte. Kandidat der NSDAP und Ernst Thälmann In der November-Sitzung entwickelt sich als Kandidat der Kommunistischen Partei nun offenbar eine lebhafte Diskussion: sowie zwei weitere Kandidaten antraten, Sollte man weiterhin grundsätzlich ver- führt wenige Tage später bei der Sitzung mieten oder sollte man nicht? Musste man der größeren Gemeindevertretung zu einer nicht, wie schon häuig geschehen in die- Diskussion. sen Monaten, mit Tumulten rechnen, da Pfarrer Johannes Bölitz, der angesehene die politische Stimmung gerade zwischen und kurz vor seinem Ruhestand stehende Kommunisten und Nationalsozialisten be- Pfarrer an der Willibrordi-Kirche Wesels,

191 hatte kurz vor der Wahl gemeinsam mit am Ende so aus, dass die Deutschen Chris- Vertretern der katholischen und der jüdi- ten von ca. 2800 Stimmen bereits 1049 schen Gemeinde einen Aufruf zur Wahl Stimmen erhalten und in etwa gleich stark Hindenburgs unterzeichnet. Am 17. 3. mit der Evangelischen Vereinigung sind. 1932 wird er deswegen vom Gemeinde- glied Albert Schuster kritisiert, da sich doch Sternstunden für die Deutschen Christen Pfarrer jeglicher politischer Äußerung ent- im Weseler Presbyterium halten sollten.7 Bölitz weist die Vorwürfe Mit der Machtergreifung Hitlers vollzieht aus verschiedenen anonymen Zuschriften, sich – parallel zu der Gesamtentwicklung die er erhalten habe, entschieden zurück. im Deutschen Reich9 eine mit den Mona- Er verteidigt seine Entscheidung, da er sich ten immer deutlicher sich abzeichnende dazu verplichtet gefühlt habe. Parteinahme für die nationalsozialistische Auch im Zusammenhang von Beerdigun- Kirchenpolitik im Weseler Presbyterium. gen kommt es zu einem Beschluss, der Ein erster Hinweis in dieser Richtung ist be- deutlich macht, dass die Kirchengemeinde reits die nächste Sitzung nach der Macht- sich mit der politischen Wirklichkeit kon- ergreifung am 7. 3. 1933. Dort kann sich frontiert sieht. der Kreisleiter der „Glaubensbewegung Das Aufstellen und Präsentieren von Fah- Deutscher Christen“ mit seinem Antrag auf nen – auch politischer Fahnen – bei der Bei- einen besonderen Gottesdienst durchset- setzung wird diskutiert. Am Ende will man zen. Dieser soll „für die gnädige Bewah- hier die bisherige Praxis der Duldung von rung vor dem Bolschewismus danken und Fahnen nicht grundsätzlich in Frage stellen. Gottes Segen für die Arbeit der Regierung“ Somit wird auch das Präsentieren einer Ha- erbitten.10 Auch ein Gedenkgottesdienst kenkreuzfahne bei einer kirchlichen Beer- zum Jahrestag der Machtübernahme wird digung geduldet. Nur die kommunistische in einer außerordentlichen Sitzung am 27. Fahne wird ausdrücklich verboten.8 Januar 1934 befürwortet.11 Im Juli 1933 kommt es zu einer außeror- Kirchenwahlen vom 13.11.1932 dentlichen Neuwahl des Presbyteriums, Am 13. November 1932 kam es zu Kir- die „von der Regierung, die die Gunst der chenwahlen. Zuvor haben sich vier „Listen“ gebildet, die sich zur Wahl stellen. Ihre Na- men sind: Evangelische Vereinigung, Posi- tive Union Obrighoven-Lackhausen, Glau- bensbewegung Deutsche Christen. Letztere Gruppierung wird die nächsten beiden Jah- re im Presbyterium besonders bestimmen. Sie wird sich bald als verlängerter Arm der NSDAP in der Kirchengemeinde präsentie- ren, wie in ganz Deutschland, wohingegen die Vertreter der anderen Listen sich ent- weder abwartend verhalten, sich anpassen oder später im Einzelfall Widerstand leisten werden. Am Vorabend der Machtergreifung ist die Situation in Wesel bereits günstig für die Deutschen Christen. Sie erreichen knapp die meisten Stimmen aller vier Lis- Belaggung der Willibrordi-Stadtkirche mit Ha- ten. Das genaue Ergebnis der Wahl sieht kenkreuzfahnen in den 30er Jahren.

192 Stunde nutzen wollte, kurzfristig angeord- der Willibrordi-Kirche gewählt. Er wird in net worden“12 war. Als einziger Wahlvor- den nächsten Jahren zu einem der wichtigs- schlag wird eine Einheitsliste der Glau- ten Förderer der Deutschen Christen in der bensbewegung Deutscher Christen von 25 Evangelischen Kirchengemeinde werden.15 Bewerbern vorgelegt. Da nur dieser einzige Im Januar 1934 werden verschiedenen mit Wahlvorschlag existiert, sind damit alle 25 der NSDAP verbundenen Kampfverbänden Bewerber zu Presbytern gewählt.13 Stem- wie der SA und der SS besondere Plätze in pel kommentiert die Liste folgendermaßen: der Willibrordi-Kirche zu einem geordne- „Die Weseler Einheitsliste war – wie ein ten Besuch des Gottesdienstes zugestan- Namensvergleich zeigte – zwischen den den.16 früheren kirchlichen Gruppierungen ab- Die Eingliederung der kirchlichen Jugend gestimmt. Sie stellte aber den Einluß der in die Hitlerjugend (HJ) und in den Bund Deutschen Christen sicher. Auf sie war die Deutscher Mädel (BDM), die Reichsjugend- Initiative übergegangen.“14 pfarrer Zahn fordert, wird vom Presbyterium Am 19. September 1933 wird Pfarrer Hel- in der Sitzung am 15.2.1934 befürwortet mut Bertrams aus Mehr als Nachfolger von und vollzogen. Die katholischen Jugendver- Pfarrer Johannes Bölitz in die Pfarrstelle an bände werden dagegen vom Bürgermeister Bongers am 14. März verboten.17 Am 8. April 1934 wird für den ausschei- denden Pfarrer Friedrich Hunger Pfarrer Eli- as Brauer als neuer Pfarrer eingeführt. Beim Gottesdienst ist eine Fahnenabordnung der NSDAP anwesend, auch HJ und BDM neh- men an der Einführungsfeier im Evangeli- schen Gemeindehaus teil.18 Als in der Sitzung vom 26. April ein Antrag zweier Gemeindeglieder verhandelt wird, die vor den Irrlehren der Deutschen Chris- ten warnen, sieht das Presbyterium keine Veranlassung zu handeln. In einem Referat stellt Pfarrer Wilhelm Over auch im Auftrag von Pfarrer Emil Tappenbeck die Ereignisse aus seiner Sicht dar und lässt durchblicken, dass es deutliche kirchenpolitische Mei- nungsunterschiede gebe. Man wolle aber gemeinsam all die wichtigen Dinge in Pre- digt, Seelsorge, Unterricht und Gemeinde- plege lösen.19

Kaum zehn Tage später hält Landrat Dr. Gottfried Krummacher, Vorsitzender der Glaubensbewegung Deutscher Christen im Rheinland, einen Vortrag im überfüllten Ev. Gemeindehaus. Kernpunkt seiner Ausfüh- Kirchliche Trauung von Pfarrer Emil Tappenbeck rungen ist die These: „Die Nationalsozialis- mit Margret Over im Juni 34 in der Willibrordi- ten hätten die wahren Werte des Christen- Kirche. tums wieder zur Geltung gebracht.“20

193 In diesen Frühlingsmonaten entwickelt sich irgendetwas, das zu unserer Seele spricht, innerhalb des Presbyteriums ein regelrech- das innerste Religiöse vom Juden anzu- ter Kirchenkampf mit dramatischen Konse- nehmen. Hierher gehört auch, daß unsere quenzen für einzelne Mitglieder. Kirche keine Menschen judenblütiger Art mehr in ihren Reihen aufnehmen darf. Wir Kirchenkampf im Weseler Presbyterium […] haben immer wieder betont: judenblü- Wenn auch in den eineinhalb Jahren seit tige Menschen gehören nicht in die deut- der Machtergreifung Hitlers die Kräfte im sche Volkskirche, weder auf die Kanzel, Presbyterium, die der Glaubensbewegung noch unter die Kanzel. Und wo sie auf den Deutscher Christen nahestehen, sich über- Kanzeln stehen, haben sie so schnell wie wiegend in allen strittigen Fragen durchge- möglich zu verschwinden.“23 setzt haben, so kristallisiert sich doch bald Während also Tappenbeck mit seinem Vor- auch innerhalb des Presbyteriums in Ge- trag, der sehr wohl an der jüdischen Tradi- stalt der Pfarrer Tappenbeck und Wilhelm tion der Bibel orientiert ist, sich damit als Over eine deutliche Opposition heraus.21 Sympathisant der Bekennenden Kirche zu Die Streitigkeiten entzünden sich offenbar erkennen gibt, sind Pfarrer Helmut Bertrams an den kirchenpolitisch unterschiedlichen (1933–1948 Pfarrer in Wesel) und Pfarrer Meinungen innerhalb des Pfarrkollegiums. Elias Brauer (1934–1935) inzwischen klar Aber auch theologische Unterschiede, aus- mit den Zielen der Glaubensbewegung gelöst durch die Kampagne der Deutschen Deutscher Christen verbunden. Von Bert- Christen, das „jüdische Erbe“ der Bibel rams ist bekannt, dass er Mitglied der Deut- abzustoßen, treten offen zu Tage. Pfarrer schen Christen wurde, von Brauer ist es zu Tappenbeck hält am 29. 11. 1933 in sei- vermuten.24 Sie werden vom Presbyterium ner Eigenschaft als Vorsitzender trotz Pro- am 26. 4. 1934 beauftragt, im Namen der test der Anwesenden auf der Versammlung Glaubensbewegung Deutscher Christen der Gemeindevertreter an seinem Plan fest, einen Vortrag zu halten. Er trägt den Titel: „Jüdisches, allzujüdisches in der Bibel?!“22 28 von 57 anwesenden Personen verlassen darauf die Sitzung. Auch wenn nicht be- kannt ist, welche Ausführungen Emil Tap- penbeck zu diesem Thema an jenem Abend gemacht hat, so ist doch offensichtlich, dass sich sein Referat auf die gerade zuvor stattgefundene Sportpalastkundgebung der Deutschen Christen in Berlin bezog. Bei dieser Veranstaltung vertrat der Haupt- redner, der Berliner Gauobmann der Deut- schen Christen Reinhold Krause, solch ra- dikale Thesen, dass in der Folge davon sich bald ein Niedergang der Deutschen Chris- ten einstellen sollte. „Unsere Religion ist die Ehre der Nation im Sinne eines kämp- fenden, heldischen Christentums. […] Wenn wir Nationalsozialisten uns schä- men, eine Krawatte vom Juden zu kaufen, Pfarrer Helmut Bertrams im Kreis einiger- Konir dann müßten wir uns erst recht schämen, manden Anfang der 40er Jahre.

194 „volksmissionarische Kurse“ im Evangeli- Einen Monat später – im Juni 1934 – fordert schen Gemeindehaus abzuhalten.25 Pfarrer der Vorsitzende Pfarrer Bertrams und mit Tappenbecks Vorschlag, diese Arbeit in der ihm das Presbyterium die Absetzung seines Verantwortung des Presbyteriums zu belas- Kollegen Tappenbeck.26 Im Hintergrund sen, wird abgelehnt. Auch Pfarrer Wilhelm steht der Vorwurf, Tappenbeck halte sich Over ordnet sich eher den Zielen der Op- nicht an die Beschlüsse des Presbyteriums position aus der Bekennenden Kirche zu. und gebe z.B. Nachrichten an eine kirchli- Die unterschiedlichen Meinungen bleiben che Zeitschrift („Sonntagsblatt“) weiter, die nicht im kleinen Kreis des Kollegiums und den Kirchenstreit schüre und offensichtlich des Presbyteriums, sondern werden auch die Positionen der Bekennenden Kirche auf der Kanzel thematisiert. Dieses führt vertritt. Man habe deshalb den Kontakt zu dazu, dass ein Presbyter, der auch gleich- dieser Zeitung abgebrochen, woran sich zeitig der Kreisleiter der Glaubensbewe- Tappenbeck aber offensichtlich nicht halte. gung Deutscher Christen ist, im Gefolge Außerdem wird Tappenbeck vorgeworfen, des so genannten Maulkorberlasses des dass er nicht die vom Superintendenten Reichsbischofs Müller den Antrag stellt, ausgesprochene Warnung vor der freien dass auch die Weseler Pfarrer sich jeglicher Synode in Barmen von der Kanzel verlesen öffentlicher kirchenpolitischer Äußerungen habe. enthalten mögen. Diesem Antrag folgt das Der Streit schwelt einige Monate weiter Presbyterium einstimmig. und führt zu hohen Emotionen. Es gebe mit Pfarrer Tappenbeck schon lange erhebliche Probleme und er habe das Presbyterium „beleidigt“, heißt es. Der so Gescholtene sieht sich aufgrund seines Ehrgefühls und seines Gewissens nicht in der Lage, sich vollständig den harten Bedingungen des Presbyteriums zu fügen. So ist Tappenbeck einige Wochen beurlaubt, während das ge- rade – auch für ihn – neu gebaute Pfarrhaus in Obrighoven fertiggestellt wird. Das Presbyterium kommt schließlich beim Konsistorium mit seinem Antrag nicht durch und versucht dann später, Tappen- beck wenigstens eine Gehorsamserklärung unterschreiben zu lassen. In ihr soll sich Tappenbeck unter Punkt 1 u. a. verplich- ten: „Ich erkläre, daß ich mich ordnungs- mäßigen Beschlüssen des Presbyteriums fügen werde.“27 Letztendlich kehrt im November 1934 ein vorläuiger Frieden wieder ein, indem Pfarrer Tappenbeck zusammen mit Pfarrer Over erklärt, „mit den anderen Kollegen in allen unser Gemeindeleben betreffenden Dingen auf der Grundlage der Rheinisch- Pfarrer Emil Tappenbeck mit Konirmanden in Westfälischen Kirchenordnung zusammen den 30er Jahren. arbeiten und alles tun (zu) wollen, daß der

195 kirchenpolitische Gegensatz nicht zu ei- Ein wichtiger Konliktpunkt wird dabei nem persönlichen werde“28 die Nutzung des Evangelischen Gemein- dehauses, das für die nationalsozialistisch Der Streit um die Nutzung des Evangeli- geprägten Behördenvertreter in Kommunen schen Gemeindehauses (Bürgermeister der NSDAP in Wesel) und Mit dem neuen Jahr 1935 treten die Gegen- Regierung ein Stein des Anstoßes zu sein sätze zwischen Deutschen Christen und scheint. Das Presbyterium erhält Anfang Sympathisanten der Bekennenden Kirche 1935 die Auskunft, dass religiöse Veran- wieder mehr in den Hintergrund, als klar staltungen dort nun verboten seien, da das ist, dass die NSDAP bald eine konfrontative Haus ja auch für profane Veranstaltungen Vorgehensweise im Blick auf die Evangeli- genutzt werde.29 Diese Restriktion führt in sche Kirche bevorzugen wird. Statt Iniltra- der Folge zu zahlreichen Debatten über die tion kommt es immer häuiger zu kirchen- konkrete Nutzung des Gemeindehauses, feindlichen Angriffen. Die mit der NSDAP das ja Eigentum der Kirchengemeinde ist. durch Parteizugehörigkeit oder Sympathie Mal werden in der Folge wieder kirchli- verbundenen Presbyter werden zum Teil che Veranstaltungen zugelassen und dafür abgezogen oder gehen freiwillig. Am Ende weltliche eingeschränkt, mal werden Kom- treten aus ihren Reihen mindestens sechs promisse mit Stadt und Partei gesucht, die Presbyter innerhalb weniger Monate zu- am Ende doch kein Übereinkommen brin- rück. gen.

Feier des Männergesangvereins im Ev. Gemeindehaus Wesel in den 30er oder 40er Jahren.

196 Auch im Presbyterium selbst ist die Nut- Deutschen Evangelischen Kirche“ (von der zung des Gemeindehaues umstritten. Bekennenden Kirche) soll – so will es das Auf der einen Seite stehen die Moralisten, Presbyterium auf Anregung des Vorsitzen- die von der Entweihung der Sonntagsheili- den Pfarrer Over nach einer Sitzung vom gung sprechen und jegliche „Bunten Aben- 20. 7. 1936 – verteilt werden.30 Hier wird de“ und Lustbarkeiten verbieten möchten. dazu aufgerufen, die fundamentalen Auf- Auf der anderen Seite stehen diejenigen, gaben der Kirche wie Glaube an Christus, die auch den Gemeindemitgliedern über Wertschätzung von Predigt und Wort Got- religiöse Veranstaltungen hinaus ein Haus tes, Sonntagsheiligung, Evangelische Erzie- für Feste anbieten möchten. hung, Religionsunterricht, Evangelische Ju- Mit einer Lösung, die den Interessen aller gendarbeit vor Kritik in Schutz zu nehmen entspricht und auch Stadt und Partei nicht und stattdessen zu fördern. Auch wird we- allzu sehr provoziert, tut sich das Presbyte- nige Wochen später der Austritt des Kreis- rium schwer. Am Ende wird der Zankapfel leiters der NSDAP und seiner Frau bekannt- Gemeindehaus in seiner Nutzung für das gemacht. Der Höhepunkt ist schließlich ein Gemeindeleben und das öffentliche Leben Schreiben, das das Presbyterium im Januar eine geringere Bedeutung haben. 1937 an alle Gemeindeglieder schicken lässt, um sich gegen die anti-kirchliche Distanzierung und Konfrontation: Propaganda, die mittlerweile herrscht, zur Die Kirchengemeinde verteidigt sich Wehr zu setzen. In diesem Schreiben heißt gegen antichristliche Propaganda es, nachdem viele der Kirche gegenüber (ab 1936) positive Äußerungen Hitlers zitiert wurden: Im Jahr 1936 sieht sich das Presbyterium „Umso weniger verstehen wir die gegen- erstmals in der Lage, deutlich gegen die christliche Propaganda, wie sie in Kundge- von führenden Nationalsozialisten unter- bungen auch führender Amtsträger in Wort stützte Austrittsbewegung zu protestieren. und Schrift immer unverhüllter hervortritt Damit ebbt die in den ersten Jahren noch und die Kirchen und ihr Bekenntnis in spürbare Begeisterung für die „nationale verletzender Weise herabsetzt. Es ist nicht Erhebung“ nun endgültig im Presbyteri- tragbar, wenn unverhohlen zum Austritt um ab. „Das Wort an die Gemeinden der aus der Kirche aufgefordert wird.“31

Mitarbeiter der Ev. Kirchengemeinde bei einer Versamm- lung im Gemeinde- haus im Jahr 1935.

197 Im Hintergrund steht offenbar eine verän- menhalt gefährdet werden. Deshalb fordert derte Haltung der NSDAP zur Evangeli- das Presbyterium die Gemeindeglieder auf, schen Kirche insgesamt. Nun scheint das sich der Kirchenkritik zu widersetzen und Presbyterium fast gemeinsam gegen anti- an dem „ewigen Evangelium und seiner christliche Vorhaben anzusteuern. Wahrheit im Wandel und Wechsel der Zeit Nach zunehmender Distanzierung und unerschütterlich“ festzuhalten!37 Das Pres- schließlich auch kirchenfeindlicher Propa- byterium begründet seine Haltung mit zahl- ganda der Nationalsozialisten beschließt reichen biblischen Verweisen.38 Im Hinter- das Presbyterium am 4. Januar 1937, eine grund dieser Gemeindemitteilung steht die Mitteilung an alle Gemeindeglieder zu ver- immer stärker werdende Austrittsbewegung fassen und zu versenden. Diese „ist die Ant- ab 1936, die die NSDAP selbst initiiert hat- wort des Presbyteriums auf die mittlerweile te. Letztendlich war das Gemeindeschrei- ergangene Aufforderung der NSDAP zum ben ein verzweifelter Versuch, der sich an Kirchenaustritt.“32 In dem Schreiben an die die Gemeindeglieder richtete, um sie zum Gemeindeglieder fordert das Presbyterium, Bleiben in der Kirche zu bewegen. Doch im Namen der Evangelischen Kirche Wesel, die Austrittsbewegung konnte dadurch in die Gemeindeglieder „zur Abwehr jeder Wesel vorerst nicht verringert werden.39 christentumsfeindlichen Agitation und zur Das Klima zwischen Partei/Staat und Evan- Treue gegen die Kirche unserer Väter“33 auf. gelischer Kirche bleibt in Wesel auch in Das Presbyterium ist bestürzt und zugleich der nächsten Zeit sehr frostig. Pfarrer Tap- verwundert über die plötzliche Abkehr der penbeck gibt als Vorsitzender des Presby- Regierung von der Kirche. Habe diese doch teriums am 5. 4. 1937 einen „tiefernsten „stets in unverbrüchlicher Treue zum Vater- Bericht über die gegenwärtige kirchliche land und seinem Haupte gestanden.“34 Das Lage“ und weist hin auf das, worum es in Presbyterium der Evangelischen Kirchen- dem Ringen der Geister geht. Seinen ein- gemeinde Wesel befürchtet weitere Sankti- gehenden Ausführungen liegt die Frage onen der kirchlichen Freiheit und beginnt zugrunde: Willst du eine Kirche ohne Bi- deswegen zunächst mit einem Bekenntnis bel, ohne Sakramente, ohne Gebet, ohne zur Regierungspolitik. Es wird an die Annä- Gemeinschaft, ohne Christus, oder willst herungsversuche Hitlers und der National- du eine Kirche mit Christus? „Daß dieser sozialisten kurz nach der Machtergreifung Kampf geführt werde, anders als die An- Hitlers 1933 erinnert. Am 31. März 1933 griffe auf das Christentum, mit heiligem habe doch der „Führer“ selbst erklärt: „Die Ernst und in brüderlicher Liebe, das wolle nationale Regierung sieht in den beiden der Herr uns schenken.“40 Im September christlichen Konfessionen wichtigste Fakto- 1937 wird im Presbyterium bekannt, dass ren der Erhaltung des Volkstums.“35 Außer- Pfarrer Tappenbeck Kollektenzwecke, die dem habe Hitler auch an anderer Stelle, im vom Konsistorium angeordnet werden, in August 1934, das Eintreten für die Rechte seinem Gottesdienst nicht beachtet und der Kirchen betont. Insofern sei die der- stattdessen Kollekten für die Bekennende zeitige „gegenchristliche Propaganda (…) Kirche einsammeln lässt. Es wird bekannt, führender Amtsträger in Wort und Schrift“36 dass auch schon einmal aus diesem Grunde völlig unverständlich. die Gestapo eine Kollekte beschlagnahmt Das Presbyterium befürchtet zudem, dass hat. Tappenbeck rechtfertigt sein Verhalten die Jugend in einen Gewissenskonlikt zwi- als Gewissensentscheidung. Das Presbyte- schen dem christlichen Glauben und der rium beschließt, sich in dieser Streitfrage an nationalsozialistischen Weltanschauung den Superintendenten zu wenden, um ein gerate. Dadurch könne der Familienzusam- Gutachten darüber zu erwirken.41

198 Klare Worte gegen die Angriffe von außen Superintendent Müller legt dann in seinem – Die Botschaft der Pfarrer- und Presbyter- Referat das Augenmerk auf die Gegen- konferenz in Wesel vom 13.9.1937 wartsaufgabe der Gemeinden allgemein, Dieses erstmalig nun ausgewertete Doku- und zwar im Hinblick auf die „Angriffe ge- ment stammt vom damaligen Superinten- gen das Christentum, denen eine Gemein- denten Heinrich Müller aus Diersfordt bzw. de in Einigkeit des Geistes entgegen treten Wesel und seinem Stellvertreter, Syno- müsse.“ Der gegenwärtigen Austrittsbewe- dalassessor Pfarrer Joerdens aus Dingden. gung müssten sich alle Gemeinden ent- Das Protokoll gibt eine Verhandlung von gegenstellen, und zwar in „Einmütigkeit“. 19 Pfarrern und Hilfsgeistlichen sowie 38 Müller verweist auf das Beispiel in Däne- Ältesten wieder. Das Thema ist die „Zurüs- mark, wo die deutsche Glaubensbewegung tung für den Tag der Diakonie“ sowie „Un- – gemeint ist ein Ableger der Deutschen sere Gegenwartsaufgabe in Gemeinden Christen in Dänemark – durch heftige Ge- und Synode“.42 genwehr gescheitert sei. Man dürfe „sich Unverblümt nennt Müller die Situation die Bibel nicht beschmutzen“ lassen und als geprägt von „heftigen Angriffen gegen man solle wieder Kirchenvisitationen mit Kirche und Christentum“. Man müsse sich Gottesdienst, Vortrag und Jugendunterwei- daher eng zusammenschließen, zumal es sung durchführen. seit viereinhalb Jahren keine Pfarrer- und Die Anwesenden schlagen dann noch wei- Presbyterkonferenzen mehr gegeben habe. tere Maßnahmen vor, „damit Gemeinden Der äußere Anlass für diese Konferenz sei und Kreissynoden wieder in Ordnung kom- der „Tag der Diakonie“ gewesen. men“. Müller meint, man solle „die Sache nicht von oben nach unten, sondern von Pfarrer Hell als Gastreferent von der Inneren unten nach oben“ anpacken. Mission aus Mönchengladbach berichtet Die Konferenz macht deutlich, wie sehr die daraufhin von den Folgen für die Diakonie, Anwesenden – darunter auch ehemalige nachdem der „totale Staat kam mit seinem Pfarrer der Deutschen Christen wie Bert- Anspruch auf alle Gebiete“. Seitdem sei rams, der offenbar im Jahr 1935 aus der die Arbeit beengt, die Kirche nur noch ge- Glaubensbewegung ausgetreten ist – sich duldet. Auch gebe es nun z. B. Sammelbe- nun darüber einig sind, dass sie sich weh- schränkungen bei Haussammlungen, was ren müssen gegen die Einlüsse des Staates, die Erträge erheblich reduziere. Habe die um die Angriffe gegen die Kirche abzuweh- Innere Mission früher ein Monopol gehabt, ren. so sei sie nun nur noch geduldet. Schwie- rigkeiten gebe es auch bei der Kinderple- Der Niedergang des Religionsunterrichts ge – auch dort wolle der Staat eine Politik in Wesel in den 40er Jahren der „Entkonfessionalisierung“ durchsetzen. Dieter Boy hat als Augenzeuge in seinem Die Kirche habe die „Jugend verloren“, nun Buch u. a. auch den Religionsunterricht an drohe auch „der Verlust des Kleinkindes“. einer Weseler Grundschule (Böhlschule) in Auch sei der Dienst an „Schwachen und den 40er Jahren geschildert.43 Dieser Au- Kranken in Misskredit geraten“. Gemeinde genzeugenbericht macht deutlich, wie sehr und die Arbeit der Inneren Mission gehör- inzwischen die evangelischen Christen in ten aber zusammen und deshalb müssten der Stadt, die sich noch öffentlich zu Glau- sich beide Seiten stärker vernetzen. ben und Kirche bekannten, mit Repressa- Die Anwesenden vereinbaren daraufhin, lien zu rechnen hatten. Er schildert u. a., sich diesem Anliegen am „Tag der Diako- dass der Religionsunterricht grundsätzlich nie“ zu widmen. in der letzten Stunde erteilt wurde, so dass

199 die zahlreichen „Gottgläubigen“ (wie sich Kirchenkampfes sich klar der Bekennenden die Anhänger der Nationalsozialisten selbst Kirche zugewandt hatte, war die Zeit in sahen) „mit schadenfrohem Gesicht, uns seiner nächsten Pfarrstelle in Bergneustadt eine ‚lange Nase‘ machend, heimwärts“44 von vielfältigen Konlikten mit den NS- zogen. Im 4. Schuljahr habe er sogar ei- Behörden geprägt. Er hat seine Meinung nen Religionslehrer bekommen, der sich immer frei geäußert und sich nicht von schnell als Feind der Kirche erwies und ihr den Anweisungen der Nationalsozialisten prophezeite, dass man nach dem „Endsieg“ einschränken lassen. Das führte unter an- aus ihren kirchlichen Gebäuden „Licht- derem dazu, dass er auch diese Pfarrstelle spielhäuser und Theater“45 bauen würde. aufgeben musste und ihm Redeverbot er- Er beschimpfte alle Schüler, die sich noch teilt wurde. Auch innerhalb der Kirchenge- auf den Weg zum sonntäglichen Kinder- meinde in Bergneustadt war seine radikale gottesdienst machten. Die Zeugnisnote für Haltung umstritten. das Fach Religion wurde lt. Boy im Übrigen auf einem getrennten Formular bescheinigt – ein weiterer Hinweis auf den wackeligen Sonderstatus dieses Faches, wie es in dieser Zeit staatlicherseits gesehen wurde. Auf dem Hintergrund dieses einzelnen Berichts ist auch verständlich, dass das Presbyterium am 28. 6. 1943 einen außer- gewöhnlichen Beschluss in Sachen Religi- onsunterricht in Wesel trifft. Er lautet: „Da ein ordnungsgemäßer Religionsunterricht nicht mehr vollauf gewährleistet ist, be- schließt (das) Presbyterium … einstimmig die Einführung eines Vorbereitungsunter- richts (Vorkatechumenat) für die gesamte schulplichtige Jugend der Evangelischen Pfarrer Heinrich Schmitz Anfang der 30er Jahre. Gemeinde Wesel.“46

Offener Widerstand durch Pfarrer 1943 kommt Pfarrer Schmitz schließlich Heinrich Schmitz nach Wesel. Mit Pfarrer Heinrich Schmitz, der am 8. Auf seiner ersten Sitzung im Presbyterium September 1943 erstmals eine Sitzung des fordert er, „das Geläute bei nicht kirchli- Presbyteriums besuchte, kam ein Pfarrer chen Beerdigungen ausgetretener Perso- in die Kirchengemeinde Wesel, der eine nen (…) abzulehnen.“47 Hiermit zeigte sich besonders radikal ablehnende Haltung ge- schon direkt die Konliktbereitschaft von genüber dem NS-Staat einnehmen sollte. Schmitz. Denn er will vermeiden, dass die Er war nach Wesel geschickt worden, um ausgetretenen und ehemaligen Gemein- dort eine freie Pfarrstelle an der Lauerhaas- deglieder, die größtenteils Anhänger des Kirche in Obrighoven zu übernehmen. Nationalsozialismus waren, im Falle ihres Schmitz war schon in den Jahren zuvor Todes nicht noch besonders durch das Glo- vielfach in Konlikte mit den Nationalsozi- ckengeläut gewürdigt werden. Schon weni- alisten verwickelt gewesen. ge Monate später am 20. Juni 1944 indet Nachdem er bereits als Pfarrer in Alpen sich eine lapidare Mitteilung: „Am 16. Juni (1925–1934) in der Zeit des beginnenden ist Herr Pfarrer Schmitz durch die Geheime

200 Staatspolizei verhaftet und dem Gefängnis den Größen dieser Welt den Herrn der Kir- in Emmerich zugeführt worden.“48 Erstaun- che verleugnet.“52 Man habe dadurch die lich ist, dass keine weitere Begründung der eigenen Aufgaben als „Wächter der Ge- Verhaftung im Protokoll genannt wird und meinde“53 vernachlässigt und sich durch auch nicht ein Wort des Protestes erfolgt. den „Einbruch des Geistes dieser Welt“54 Zu vermuten ist laut Walter Stempel, dass täuschen lassen: „wo der ‘Eifer des Herrn Schmitz „wegen aller möglicher Äuße- Haus‘ in uns hätte brennen müssen.“55 Das rungen, z. B. Ausführungen in Begräbnis- Presbyterium habe „in der Stunde kirchli- reden“ inhaftiert worden ist. Nach einigen cher Entscheidung“ bei seinen Urteilen und Zwischenstationen wird er schließlich im Anordnungen falsch gehandelt „und man- Dezember 1944 in das Konzentrationsla- che ungewarnt den Weg des Irrtums gehen ger Dachau bei München verlegt. Er wird lassen.“56 in den sogenannten „Pfarrerblock“ einge- Insbesondere ist hier sicher an die ersten wiesen. Schmitz erhielt die Häftlingsnum- Jahre nach der Machtergreifung Hitlers ge- mer 135009.49 dacht worden, wo man sich viel zu sehr In den letzten Kriegswochen werden die den „Irrlehren“ der Glaubensbewegung Gefangenen Dachaus zu langen Fußmär- Deutscher Christen geöffnet hatte. schen in Richtung der Alpen und einer an- Doch das Presbyterium habe durch „Gottes geblichen „Alpenfestung“ gezwungen, da Geist“ seine Schuld erkannt und hoffe, dass die Alliierten vorrückten. Mit viel Glück die Güte und Barmherzigkeit Gottes für alle wird Pfarrer Heinrich Schmitz bei einer ris- Menschen auch weiterhin gelte. Es wendet kanten Rettungsaktion mit rund 50 anderen sich dabei an alle Gemeindeglieder, an die- Mitgefangenen befreit.50 jenigen, die trotz Anfeindungen der Kirche treu geblieben sind, sowie an diejenigen, Das Schuldbekenntnis des Presbyteriums die unentschieden waren und an diejeni- am 2. Juli 1945 gen, die sich dem „Irrweg“ angeschlossen („Weseler Schuldbekenntnis“) haben. Es fordert alle gleichermaßen auf, Wenige Wochen nach Kriegsende am 8. sich wieder Gott anzuvertrauen und ihm Mai 1945 trifft sich das Presbyterium am Glauben zu schenken und ihm zu dienen. 2. Juli 1945 zu einer Sitzung, auf der eine Diese Schulderkenntnis des Presbyteriums Erklärung verabschiedet wird, die man als wurde öffentlich bei den Gottesdiensten „Weseler Schuldbekenntnis“ bezeichnen der Kirchengemeinde am 8. Juli 1945, könnte. Sie enthält eine Bewertung zu dem also zwei Monate nach Kriegsende, vor- Verhalten des Presbyteriums und der Ge- getragen. Walter Stempel würdigt in seiner meindeglieder der Evangelischen Kirche Analyse dieses Schuldbekenntnis äußerst Wesel in der Zeit des Nationalsozialismus positiv, da es das Versagen der Kirchenge- von 1933 bis 1945. Das Presbyterium zeigt meinde klar ausspreche.57 darin Reue gegenüber seiner Verblendung Es ist tatsächlich ein erster und auch muti- in der Zeit der nationalsozialistischen Ge- ger Schritt zur Überwindung der national- waltherrschaft und ist bereit, sich durch sozialistischen Weltanschauung und ihrer dieses Schuldbekenntnis dem „Bußruf Got- Folgen. Dennoch bleiben die Formulierun- tes … zu beugen.“51 Es bekennt sich dazu, gen sehr allgemein und blenden das Leid in vielerlei Situationen falsch, unüberlegt der unter der Nazi-Herrschaft Verfolgten und nicht nach dem Glauben Gottes ge- vollkommen aus. Viel zu früh wird hier zu handelt zu haben, und erklärt: „Wir haben einer Versöhnung aufgerufen, ohne dass geschwiegen, wo lauter Widerspruch un- die Schuld ausreichend aufgearbeitet wird. sere Plicht gewesen wäre; wir haben vor Für die gesamte Evangelische Kirche in

201 Zerstörtes Gemeindehaus der Ev. Kirchengemeinde 1945.

Deutschland wurde erst Monate später das dieser Zeit wie beispielsweise solche im „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ am 18. und Zusammenhang der Judenverfolgung und 19. Oktober 1945 verfasst. des Holocausts, die Tötung Behinderter Dieses bezieht sich dann auch noch auf die (Euthanasieprogramm), Hitlers Kriegspläne Kriegsschuld Deutschlands, die im „Wese- und seine Machtpolitik. ler Schuldbekenntnis“ gar nicht angespro- Bei der Reichskristallnacht am 9. 11. 1938 chen wird. Dort heißt es dann: „Durch uns wurden in Wesel sämtliche jüdische „Ge- ist unendliches Leid über viele Völker und schäfte zertrümmert, das jüdische Schul- Länder gebracht worden.“ haus zerstört, die Synagoge in Brand ge- setzt, wertvolles Kunst- und Kulturgut NS-Verbrechen und der Holocaust – vernichtet und jüdische Bürger aufs grau- was nicht in den Protokollen erwähnt wird samste behandelt.“58 Außerdem wurden Neben den in den Protokollen erwähnten in Wesel bis 1941 alle verbliebenen Juden kirchenpolitisch motivierten Streitigkeiten (87 Personen) in verschiedene Konzentra- zwischen den Anhängern der Bekennenden tionslager „evakuiert“.59 Dieses ist nur ein Kirchen und denen der Deutschen Christen Beispiel einer Reihe nicht erwähnter Ver- ist zu vermerken, dass viele Konlikte, die brechen der Nationalsozialisten in den durch den Nationalsozialismus ausgelöst Presbyteriumsprotokollen der Evangeli- wurden, überhaupt nicht angesprochen schen Kirchengemeinde in Wesel.60 Mögli- werden. Dazu gehören auch sämtliche cherweise ist von diesen Ereignissen in den staatlich angeordnete Gewaltverbrechen Protokollen nichts wiederzuinden, da sich

202 das Presbyterium hauptsächlich mit inner- Nichts desto trotz bedaure er durch die kirchlichen Angelegenheiten beschäftigen Mitgliedschaft in der Glaubensbewegung wollte. Stempel begründet diesen Befund Deutscher Christen von 1933 bis 1935 ei- auch mit der Angst um die eigene Exis- nen „Irrweg gegangen zu sein“, „weil so tenz und der Gefährlichkeit der Äußerung ungewollt von mir Gemeindeglieder mög- von Kritik an dem nationalsozialistischen licherweise gewisslich verwirrt“ worden Staat.61 seien“ und „weil es beispielhaft wirkte“. Und dieses bedauere er besonders deshalb Nachtrag – Die Rechtfertigung der „weil ich selbst der Auffassung bin, dass ich kirchenpolitischen Haltung von Pfarrer nach meiner ganzen Grundhaltung mich Helmut Bertrams im Jahr 1946 eigentlich nicht in das Lager Deutscher Pfarrer Helmut Bertrams, der als einziger Christen (zuordnete), sondern in das Lager Pfarrer fast die komplette Zeit im Dritten der schriftgläubigen Gemeinde unter dem Reich als Pfarrer in der Evangelischen Kir- Wort gehörte.“ chengemeinde Wesel tätig war und noch Somit verharmlost Bertram seinen Irrtum. einige Jahre darüber hinaus (1933–1948), Ein Versagen mit großer Tragweite wirft er hat im Juni 1946 eine eigene Erklärung zu sich jedenfalls nicht vor. Bertrams äußert seiner kirchenpolitischen Haltung im Drit- sich auch nicht zu den Vorgängen, die zu ten Reich dem Presbyterium zu Protokoll großen Spannungen im Presbyterium führ- gegeben.62 Sie soll an dieser Stelle nun ten wie zum Beispiel der Plan, seinen Kol- auch in unsere Betrachtung mit einbezogen legen Tappenbeck aus dem Amt zu entfer- werden. In dieser Erklärung bezieht er sich nen. Es fehlt in seinen Ausführungen noch im Nachhinein aus seiner subjektiver Sicht jegliche kritische Auseinandersetzung mit auf die Ereignisse des Kirchenkampfes in den Verbrechen des Nationalsozialismus, Wesel, in der er eine zentrale Rolle spielte, der ja auch zeitweilig in der Glaubensbe- da er sich zumindest zeitweise mit den Zie- wegung Deutscher Christen sein Sammel- len der Deutschen Christen identiizierte becken für eigene Ziele zur Gleichschal- und diese Gruppierung förderte. tung der Evangelischen Kirche und zur Er selbst betont in seinen einleitenden Durchsetzung judenfeindlicher Aktionen Bemerkungen, dass er zwar sein einzel- in der Kirche sah. Insofern bleibt diese Er- nes Schuldbekenntnis als berechtigte For- klärung zur kirchenpolitischen Haltung derung ansehe, weil er „in dieser Sache nur ein halbherziger Versuch, sich rein zu verlochten“ war. Andererseits habe er -ge waschen, und steht deutlich hinter dem meint – durch sein Verhalten ab 1935 und zurück, was evangelische Christen im Stutt- seine Unterschrift unter das Bekenntnis garter Schuldbekenntnis aussprachen. vom Juli 1945 gemeinsam mit allen ande- ren –, schon seine eigentliche kritische Hal- Fazit: Widerstand oder Anpassung? tung zu den „Irrlehren“ deutlich gemacht Wie soll man nun das Verhalten des Presby- zu haben. teriums der Evangelischen Kirchengemein- So behauptet er: „Als Gottes Wort in mei- de in Wesel im Dritten Reich nach dieser ner Gegenwart angegriffen wurde, habe ich chronologischen Betrachtung bewerten? ohne Menschenfurcht (...) die Wahrheit des Überwog eher die Einstellung zur Anpas- Wortes bezeugt.“ Auch habe er „die Ab- sung oder schlossen sich die Kirchenvertre- lehnung des Alten Testamentes – öffentlich ter eher dem Widerstand an? eine Ketzerei genannt und (sich) nur mit Zunächst einmal ist deutlich geworden, diesen Aussagen jahrelange Feindschaft dass man das Verhalten des Presbyteriums zugezogen.“ und seiner Mitglieder in zeitliche Abschnit-

203 te unterteilen muss, denn in den ersten sung mit allen Konsequenzen wehrte und Monaten nach der Machtergreifung Hitlers sich nicht von dem nationalsozialistischen zeichnete sich nicht nur eine deutliche An- Regime einschüchtern ließ. passung ab, sondern auch eine unkritische Anzumerken ist aber auch, dass sich das Begeisterung. Die Glaubensbewegung Presbyterium, wenn es Widerspruch leiste- Deutscher Christen wurde von dem Pres- te, nur gegen kirchenpolitische Beschlüsse byterium begrüßt und fand allzu schnell und Entscheidungen gewehrt hat. Es wird Zustimmung. in keiner Weise eine Reaktion des Presby- Doch schon bald begann, ab dem Jahre teriums auf den wachsenden Antisemitis- 1934, im Presbyterium eine Art Kirchen- mus, den sich abzeichnenden Holocaust kampf aufgrund verschiedener kirchenpo- oder auf Kriegsverbrechen in den Protokol- litischer Interessen zwischen den Sympa- len verzeichnet, obwohl hiervon sicherlich thisanten der Bekennenden Kirche und den einzelne Presbyteriumsmitglieder Ahnun- Anhängern der Glaubensbewegung Deut- gen, wenn nicht Kenntnisse gehabt haben scher Christen in Wesel. Es vollzog sich müssen. eine Spaltung zwischen den Pfarrern, die Laut Walter Stempel bleibt das Presbyte- zu einem regelrechten Machtkampf führte. rium auf einer „mittleren Linie“. Es habe In diesen Monaten äußerte sich zum Teil sich einerseits den staatlich gesteuerten deutlicher Widerspruch von einer mutigen Kirchenbehörden in Berlin und Düsseldorf Opposition, der sich aber zu diesem Zeit- unterworfen, doch andererseits auch hin punkt noch nicht zu einem offenen Wider- und wieder Interessen der Bekennenden stand, wie bei Pfarrer Heinrich Schmitz, Kirche nachgegeben.63 entwickeln sollte. Meiner Meinung nach kann man ein solches Die „inneren“ Konlikte traten ab 1935 Urteil nur auf eine bestimmte Phase, aber immer mehr zurück, nachdem viele über- nicht pauschal auf die gesamte Zeitspanne zeugte Nationalsozialisten das Presbyteri- des Dritten Reiches unter Hitler treffen. Vie- um verlassen hatten. Die kirchenfeindliche le Mitglieder des Presbyteriums haben sich Propaganda der Nationalsozialisten führte unterschiedlich im Verlaufe der Jahre verhal- zu einer Austrittbewegung, die auch die ten und ihre Haltung möglicherweise auch Evangelische Kirchengemeinde Wesel stark verändert, entweder in Richtung Anpassung beeinlusste. Diese Entwicklung veranlass- oder Widerstand. Die Reaktionen innerhalb te das Presbyterium dazu, die „inneren“ der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel Konlikte ruhen zu lassen und sich auf ein auf die Gewaltpolitik des Dritten Reiches gemeinsames Ziel gegen die Austrittsbewe- ist im Grunde typisch für die Haltung von gung zu konzentrieren. Gemeinden im Gebiet des Rheinlands ins- Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ge- gesamt. Klaus Schmidt betont in seiner pro- rieten die Konlikte der vergangenen Jahre funden Analyse, dass „die verfasste Kirche“ zwischen Deutschen Christen und Beken- weder auf die Verschleppung der politischen nender Kirche sowie zwischen Evangeli- Gegner der NSDAP in Konzentrationslager scher Kirche und staatlichen Organen noch reagiert habe noch „auf antijüdische Aus- weiter in den Hintergrund, da nun der ge- schreitungen“. Nur „einzelne schwimmen meinsame „Kampf für das Vaterland“ im gegen den Strom“.64 Nach der Reichspog- Mittelpunkt stand. romnacht habe es einzelne „Hilfsmaßnah- Der Höhepunkt eines offenen Widerstands men für verfolgte Juden“ gegeben, aber lässt sich sicherlich in dem Handeln des „staatlich verordnete Zwangssterilisierung“ Pfarrer Heinrich Schmitz wiederinden. Er sei ebenso wie „Hitlers Krieg“ kaum kritisiert war der Einzige, der sich gegen eine Anpas- worden.65

204 Übrig bleibt am Ende dennoch der Ein- paragraph, der für die Staatsbeamten galt, nun auch in der Kirche eingeführt werden sollte. Insbesondere die druck, dass es im Presbyterium der Evange- angeordneten Kirchenwahlen im Juli 33 sollten den lischen Kirchengemeinde Wesel durchaus Einluss der Deutschen Christen überall sichern, was Menschen gab, die durch ihre christli- dann auch geschah und schließlich auf sogenannten „braunen Synoden“ in wichtigen Landeskirchen durch- che Prägung und Haltung von Anfang an gesetzt werden konnte. Gleichzeitig aber formierte sich die Bösartigkeit des Nationalsozialismus Widerstand in der „Bekennenden Kirche“. Viele Pfarrer durchschaut hatten. Es fehlte ihnen häuig verweigerten den Kirchenplänen und der dahinter ste- henden „deutschen“ Theologie ihre Gefolgschaft. Sie der Mut und die Konsequenz eines christ- formieren sich in eigenen Versammlungen und formu- lichen Widerstandskämpfers wie es bei- lieren schließlich wichtige Erklärungen wie die Barmer spielsweise Dietrich Bonhoeffer oder Paul Theologische Erklärung (Mai 34), um ihren Glauben deutlich zu machen. Der Kirchenkampf über die Frage, Schneider gewesen sind. Am weitesten wer führt die Kirche: Jesus Christus oder der „Reichs- ging jedenfalls Heinrich Schmitz, der in führer in Person des Reichsbischofs“? war entbrannt. dieser Phase nur sehr kurz in der Gemein- 10 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 180–181. 11 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 261. de wirkte. Auf jeden Fall war diese Zeit eine 12 Stempel: wie Anm. 2, S. 62. große Zerreißprobe für die Mitglieder des 13 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 210–212. Presbyteriums. 14 Stempel: wie Anm. 2, S. 62. 15 Nach Bölitz, Johannes: Die evangelischen Pfarrer We- So sachlich viele Formulierungen in den sels, Wesel 1978, S. 58–59 seien folgende wichtige Da- Protokollen auch erscheinen, so leiden- ten zu den Pfarrern der Kirchengemeinde in dieser Zeit schaftlich und kontrovers ist doch trotz gro- genannt: Wilhelm Over (* 14. März 1871,† 15. Februar 1962, Amtszeit in Wesel 1912–1937), Emil Tappen- ßer Bedrängnis von außen diskutiert und beck (* 7. November 1900, † 6. Juli 1975, Amtszeit in gestritten worden. Wesel 1927–1939), Elias Karl August Brauer (* 18. No- Damit bleibt diese Zeit eine Lehrstunde vember 1893, † 5. November 1936, Amtszeit in Wesel 1934–1935), Helmut Bertrams (* 12. Juni 1901, † 8. Juni für nachfolgende Generationen, in de- 1960, Amtszeit in Wesel 1933–1948), Ernst Heinz Hof nen die Kirchengemeinde sich heute nicht (* 3. Mai 1910, † 17. Februar 1945 bei einem Bom- benangriff auf Wesel; Amtszeit in Wesel 1938–1945), mehr den Herausforderungen eines „tota- Karl Schomburg (* 10. Mai 1888, † 25. März. 1949; len Staats“ und einer „Gewaltdiktatur“ in Amtszeit in Wesel 1940–1949). Deutschland stellen muss, sondern den 16 Protokoll 1: wie Anm. 1 S. 256. 17 Prieur: wie Anm. 4, S. 95. Folgen einer zunehmenden Säkularisierung 18 Prieur: wie Anm. 4, S. 96 nach Nationalzeitung vom und eines mächtig voranschreitenden Tra- 10. 4. 34. ditionsbruches in der Gesellschaft. 19 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 248–249. 20 Prieur: wie Anm. 4, S. 97. 21 Zu erwähnen ist auch, dass beide familiär miteinander Anmerkungen: verbunden sind, seitdem Tappenbeck die Tochter Overs im Juni 1933 geheiratet hat. 1 Kirchenarchiv Wesel, Evangelische Gemeinde Wesel, A 22 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 248–249. 1,3: Verhandlungsniederschriften des Presbyteriums 23 Wikipedia: „Deutsche Christen“. 1929–1935 (= Protokoll 1) und A 1,4: desgl. 1935– 24 Bertrams bestätigt seine Mitgliedschaft und seinen Aus- 1946 (= Protokoll 2). tritt aus der Glaubensgemeinschaft Deutscher Christen 2 Walter Stempel, Die evangelische Kirchengemeinde 1935 in seiner Erklärung zu seiner kirchenpolitischen Wesel im „Dritten Reich“ in: Jutta Prieur, Wesel Haltung im Presbyterium im Juni 1946. 1933–45, Köln 1983, S. 60–68 (= Stempel). 25 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 299. 3 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 57. 26 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 306. 4 Jutta Prieur, Wesel 1933–45, Köln 1983 S. 15 (= Prieur). 27 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 322 (Protokoll vom 24.9.34). 5 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 13. 28 Stempel: wie Anm. 2, S. 64; Protokoll 1: wie Anm. 1, 6 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 57, auch in Stempel: wie S. 349. Anm. 2, S. 60. 29 Protokoll 1: wie Anm. 1, S.367–369. 7 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 124. 30 Protokoll 2: wie Anm. 1, S. 42. 8 Protokoll 1: wie Anm. 1, S. 143. 31 Stempel: wie Anm. 2, S. 65. 9 Die Nationalsozialisten versuchten anfangs über die 32 Stempel: wie Anm. 2, S. 64. Deutschen Christen auch die evangelische Kirche in 33 Stempel: wie Anm. 2, S. 65 (Originale Mitteilung des den NS-Staat zu integrieren bzw. gleichzuschalten, wo- Presbyteriums an die Evangelischen Gemeindeglieder). bei z.B. das Führerprinzip der Partei und des Staates sei- 34 Stempel: wie Anm. 2, S. 65 (Originale Mitteilung des ne Entsprechung im „Reichsbischof“ fand und der Arier- Presbyteriums an die Evangelischen Gemeindeglieder).

205 35 Hier zitiert das Presbyterium aus der Regierungserklä- rung Hitlers vom 31. März 1933. 36 Stempel: wie Anm. 2, S. 65 (Originale Mitteilung des Presbyteriums an die Evangelischen Gemeindeglieder). 37 Stempel: wie Anm. 2, S. 65 (Originale Mitteilung des Presbyteriums an die Evangelischen Gemeindeglieder). 38 U.a. Johannes 14,6 und Offenbarung Johannes 3,11. 39 Stempel: wie Anm. 2, S. 66. Im März 1942 waren seit 1936 laut einer Protokollnotiz des Presbyteriums 1715 (13,2% der gesamten Mitglieder) Personen aus der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel ausgetreten. 40 Prot. 2: wie Anm. 1, S. 105, Stempel: wie Anm. 2, S. 66. 41 Protokoll 2: wie Anm. 1, S. 134–135. 42 Freundlicherweise hat Uwe Theiss vom Kirchenarchiv der Kirchengemeinde Wesel von diesem Dokument eine Abschrift erstellt. 43 Dieter Boy, Eine unruhige Kindheit. Erlebnisse eines Jungen Jahrgang 1934 im Krieg und 3. Reich, Aachen 2002 (= Boy). 44 Boy: wie Anm. 43, S. 14. 45 Boy: wie Anm. 43, S. 14. 46 Protokoll 2: wie Anm. 1, S. 309. 47 Stempel: wie Anm. 2, S. 68. 48 Stempel: wie Anm. 2, S. 66. 49 Wikipedia: Heinrich Schmitz (Pfarrer). 50 Wikipedia: Heinrich Schmitz (Pfarrer). 51 Prot. 2: wie Anm. 1, S. 340, Stempel: wie Anm. 2, S. 67. 52 Wie Anmerkung 51. 53 Wie Anmerkung 51. 54 Protokoll 2: wie Anm. 1, S. 340, Stempel: wie Anm. 2, S. 67. Gemeint ist hier sicherlich die nationalsozialisti- sche Weltanschauung. 55 Prot. 2: wie Anm. 1, S. 341, Stempel: wie Anm. 2, S. 67. 56 Wie Anmerkung 55. 57 Stempel: wie Anm. 2, S. 68. 58 Prieur, Jutta: Auf den Spuren der Juden in Wesel, Selbst- verlag des Stadtarchivs Wesel 1988, S. 140. 59 Prieur, Jutta: wie Anm. 58, S. 145. 60 Einzige Ausnahme ist die Erwähnung des Judenpogroms in der Rechtfertigung Bertrams zu seiner kirchenpoliti- schen Haltung in Presbyteriumssitzung am 19. 6. 46. 61 Stempel: wie Anm. 2, S. 68. 62 Protokoll 2: wie Anm. 1, S. 381–384, Sitzung vom 19. 6. 46. Hierzu liegt – eine fast wortgleiche Fassung – in der Korrespondenz von Bertrams mit dem damali- gen Generalsuperintendenten Ernst Stoltenhoff vom 15. Juli 1946 vor (6 HA 001 Stoltenhoff, 731 im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf). 63 Stempel: wie Anm. 2, S. 68. 64 Klaus Schmidt: Glaube, Macht und Freiheitskämpfe. 500 J. Protestanten im Rheinland, Köln 2007, S. 177. 65 Klaus Schmidt: wie Anm. 64, S. 178.

206 Claus-Dieter Richter-Kraneis

Familie Günther Ein Mensch ist dann erst tot, wenn auch die Erinnerung an ihn gestorben ist Talmud

Für mehr als sechzig Jahre spielte in Wesel Wesel wechselten sie zum Gymnasium We- und in der jüdischen Gemeinde von Wesel sel, wo zumindest die beiden jüngsten die die Familie Günther, eine angesehene Fa- Realklassen absolvierten. Die Brüder ver- milie mit zehn Kindern, eine bedeutende ließen das Gymnasium spätestens nach der Rolle. Bernhard Günther siedelte sich 1868 zehnten Klasse. von Rhens am Mittelrhein kommend mit sei- Bernhard betrieb erfolgreich die Weseler ner Frau Sibille am Entenmarkt in Wesel an, Metzgerei. Von 1888 bis 1894 war er Vor- während sein Bruder Isaak mit seiner Ehe- sitzender des Vorstandes der israelitischen frau Henriette nach Kleve zog. Beide Brü- Gemeinde Wesel. Danach war er Vorstands- der waren Metzger von Beruf und besaßen mitglied. Wie viele andere fromme Wese- in beiden Städten jeweils eine Metzgerei. ler Juden auch spendete er für das 1885 in Bernhard und seine Nachkommen sind bei- Dinslaken gegründete Jüdische Waisenhaus spielhaft für eine normale jüdische Familie, der Rheinprovinz. Sein Sohn Benno, eines die Teil der städtischen Gesellschaft war und von zehn Kindern und ebenfalls Metzger, ar- die sich durch den Nationalsozialismus als beitete zuerst mit seinem Vater im elterlichen Familie verlor. Einem Teil gelang die Flucht, Geschäft. Von 1900 bis 1901 war er mit sei- ein anderer wurde in Todeslagern ermordet. nem Bruder Adolf Inhaber einer Fleischkon- Die, die sich retten konnten, verloren jedoch serven- und Wurstfabrik am Mühlenberg luchtbedingt den Kontakt zueinander. Die- 6–8 und danach bis zu seinem frühen Tod se auseinandergebrochene Familie fand sich 1912 der Alleininhaber. erst im 21. Jahrhundert wieder. Von Russland Adolf (22. 02. 1869–10. 02. 1927) war mit aus gelang es einer Nachfahrin Bernhard Bianka Goldschmidt aus Memel (04. 10. Günthers, über familienkundliche Forschung 1873–30. 01. 1931) verheiratet; er lebte in in Wesel wieder Kontakt zu Familienmitglie- Berlin, wo seine beiden Töchter Betty und dern aufzunehmen, die voneinander nichts Hertha geboren wurden, und kehrte 1900 wussten.1 für knapp zwei Jahre nach Wesel zurück, um zusammen mit seinem Bruder Benno das Familie Günther, Aufstieg und Zerfall elterliche Geschäft zu führen. 1902 zog er Bernhard Günther (20. 04. 1841–22. 05. 1919) nach Bochum und später wieder nach Ber- war Inhaber einer Fleischerei und einer lin-Weißensee, wo er eine Metzgerei führte Fleischkonserven- und Wurstfabrik. Mit seiner und 1927 starb. Ehefrau Sibille geb. Salomon (13. 09. 1844– Benno Günther (27. 11. 1873–23. 10. 1912) 20. 05. 1900) hatte er zehn Kinder. Fünf wohnte mit seiner Familie, Ehefrau Pauli- starben im Kindesalter, die anderen fünf – na geb. Klein aus Korschenbroich (19. 09. allesamt Söhne –, Adolf, Benno, Siegmund, 1873–14. 05. 1942) und den überlebenden Albert und Lambert, hatten wiederum acht Kindern Max, Sibylla und Ernst am Willi- nachweisbare Kinder. Alle Söhne erhielten brordiplatz 7 neben der jüdischen Schule, eine ordentliche schulische Ausbildung. um die sich sein Vater Bernhard verdient ge- Nach dem Besuch der jüdischen Volksschule macht hatte.

207 Bernhard Günther Sibille Günther

Siegmund (23. 12. 1876–12. 01. 1941) war 1. August 1903 meldete er sich mit unbe- unverheiratet und lebte bis 1919 in Wesel. stimmtem Ziel – auf Reisen – ab.3 Er wan- Dann zog er nach Düsseldorf, wo er starb derte 1908 via Rotterdam in die Vereinigten und beerdigt ist. Von Beruf war er Kunst- Staaten von Amerika aus, wo er als Maler, maler.2 Graiker und Illustrator in New York lebte. Albert (08. 06. 1880) betrieb in Berlin ein Er war mit einer deutschen Auswanderin Damenkonfektionsgeschäft. Er war mit verheiratet und hatte zwei Kinder, Robert Emmy Hammer verheiratet; das Paar hatte und Margret (Marjorie).4 keine Kinder. Sie verließen Deutschland in der NS-Zeit und gingen nach Paris. Von dort Nach dem Tod von Benno Günther 1912 soll ihnen 1942 die Flucht in die Schweiz übernahm sein Vater Bernhard wieder- gelungen sein. um die Metzgerei am Entenmarkt 27; die Der jüngste Sohn Lambert (13. 09. 1883– Wurstfabrik wurde verkauft. Im Jahre 1921 1961) ging am 4. Juli 1900 nach Düssel- verkaufte die Witwe Paulina Günther – dorf. Dort arbeitete er zunächst als Hand- Bernhard Günther war 1919 gestorben lungsgehilfe, dann als Kunstmaler. Am – die Metzgerei an den Metzgermeister

208 Gustav Hellermann. Sie wohnte weiter mit 1950 in Alma-Ata, seine Frau Ilse war dort ihren Kindern am Willibrordiplatz 7 und schon 1943 verstorben. Tochter Ruth hei- wird letztmals 1931 im Adressbuch der ratete und bekam zwei Töchter, Elena und Stadt Wesel erwähnt. Galina. Sohn Max (22. 07. 1901–02. 07. 1950) Die Mutter Paulina und ihre Tochter Sibylla machte 1920 sein Abitur am Weseler Gym- (07. 11. 1904–15. 05. 1942) wohnten bis nasium, dem heutigen Konrad-Duden- zur Auswanderung von Sohn Max auch in Gym nasium, und studierte Medizin in Köln und zogen danach nach Düsseldorf, Göt tingen, Freiburg und Zürich. Sein Staats- von wo sie am 26. Oktober 1941 nach Lodz examen legte er 1926 in Freiburg ab und deportiert und im Mai 1942 in Chelmno er- bekam eine Stelle an der Universitätsklinik mordet wurden. Sie hatten noch Kontakt zu in Köln. Er war Professor und Oberarzt, als Max, der sich vergeblich um ihre Ausreise er 1933, weil er Jude war, entlassen wurde. in die Sowjetunion bemühte. Ab Mai 1933 ließ er sich als Privatdozent und Facharzt für Nervenkrankheiten eben- Sohn Ernst (04. 10. 1911–10. 07. 1976) be- falls in Köln nieder. Er emigrierte 1936 mit suchte auch das Weseler Gymnasium, wur- seiner Frau Ilse, ebenfalls Ärztin, und sei- de Kaufmann, wohnte ab 1929 in Duisburg- ner Tochter Ruth nach Riga und vierzehn Hamborn und zog 1935 nach Dresden. Tage später in die Sowjetunion. Er starb Dort lernte er seine spätere Frau Stefi Fanni

Max Günther mit Frau Ilse und Tochter Ruth in Max Günther Köln.

209 Philippsohn kennen. Mit ihr und ihren Den Beginn der Hitlerzeit erlebten nur zwei Schwestern wanderte er 1936 nach noch drei der Kinder und die sieben En- Südafrika aus und heiratete Stefi noch im kel von Bernhard und Sibille Günther. Sie selben Jahr. Das Paar bekam zwei Töchter, selbst sowie ihre übrigen Kinder waren be- Sonja Maureen und Pamela. Ernst Günther reits verstorben. Sohn Albert konnte sich betrieb ein Konfektionsgeschäft und war vor dem Holocaust in die Schweiz retten, später in der Bekleidungsindustrie tätig. Er Sohn Siegmund verstarb 1941 in Düssel- starb 1976 in Kapstadt. dorf und vom Verbleib des ausgewanderten Sohnes Lambert wusste die Familie nichts. Die zwei Töchter und Schwiegersöhne von Sohn Adolf sowie die Frau von Benno und deren Tochter Sibylla wurden in den Todes- lagern ermordet. Den beiden Söhnen von Benno Günther gelang rechtzeitig die Emi- gration, Max ging mit seiner Familie über Riga in die Sowjetunion, sein Bruder Ernst nach Südafrika. Die Mitglieder der Familie Günther waren verstorben, vertrieben, galten als verschol- len und waren ermordet worden. Es gab

Ernst und Stefi Günther

Tochter Sonja mit dem Verfasser am Grab in Kapstadt.

210 keinen Kontakt zwischen Ernst und Max bzw. die Behörden während der Sowjet zeit Günther; die Familie war durch Kontinen- nicht dazu ermutigten, nach seinen Ver- te getrennt und auseinander gebrochen. wandten im Ausland zu suchen. Elena und Im Jahre 2006 begann die Spurensuche in ihr Ehemann Vladimir sind sehr interessiert Wesel und 2007 in Russland und führte im an Geschichte und befassen sich mit den November desselben Jahres zur ersten Kon- Auswirkungen auf Schicksale von Men- taktaufnahme. schen durch globale Ereignisse bzw. Ent- scheidungen. Nach dem Zerfall der Sowjet- Spurensuche union konnten sie endlich die Suche nach Vollkommen unabhängig voneinander Resten ihrer Familie beginnen, unter ande- kam es in Wesel und in Russland zu einer rem mit einem Foto, das in Johannesburg Suche nach Spuren der Familie Günther. gemacht worden war. Vom Stadtarchiv in Meine Recherchen zur Familie Günther Wesel erhielt Elena im Oktober 2007 den begannen mit einer Bemerkung unserer entscheidenden Hinweis. Sie erfuhr nun, Bürgermeisterin Ulrike Westkamp über die dass es neben der ihr bekannten Schwes- Weseler Opfer der Shoa in Lodz im Januar ter Sibylla auch einen Bruder Ernst gab, der 2006. Der Zufall wollte es, dass ich für Sep- wie ihr Großvater Max Günther auch das tember 2006 eine Reise nach Lodz geplant Weseler Gymnasium besucht hatte. hatte, um mich dort über die Geschichte Damit war das Geheimnis eines Bildes mit des Ghettos und des Todeslagers Chelm- dem Vermerk auf der Rückseite „Ernst und no zu informieren. Wer waren die Wese- Stefi – Johannesburg, d. 14 November 36“ ler Opfer? In der einschlägigen Literatur geklärt, mit Ernst konnte niemand anders gab es nur einen Namen: Sibylla Günther. als der jüngere Bruder von Max Günther Das war der Beginn der Spurensuche nach gemeint sein. Familie Günther. Bei meinem nächsten Be- Die Suche nach den Verwandten in Süd- such im darauffolgenden Jahr in Lodz fand afrika begann. Elena Ivashchenko wand- ich im Archiv die Transportlisten, auf denen te sich an Saul Issroff aus London, einem Sibylla Günther und ihre Mutter Paulina namhaften Experten für jüdische Genea- vermerkt waren, und übergab diese Doku- logie. Der schrieb an Madeleine Fane in mente dem Stadtarchiv Wesel. Südafrika, die viele der deutsch-stämmigen Im Oktober 2007 fragte Elena Ivashchenko, Juden Südafrikas kennt, da ihr Vater selbst eine in Russland lebende Enkelin von Max 1936 von Deutschland nach Südafrika aus- Günther, im Stadtarchiv Wesel nach Doku- wanderte. Bei einer Charity-Veranstaltung menten ihres Großvaters Max Günther und saß sie neben Carol Haymann und erzählte weiterer Verwandten nach. ihr nebenbei von Saul Issroff und der Suche Ein mehr als starker Beweggrund für Elena von Elena Ivashchenko nach Ernst Günther. war ein Gefühl von Bedauern. Bedauern Carol Haymann wiederum ist mit Sonja darüber, dass ihre Mutter Ruth nur verein- Abelson, der Tochter von Ernst Günther ver- zelte Bruchstücke der Familiengeschichte wandt. Der Kontakt zu Elena Ivashchenko weitergegeben und nicht gesucht hatte. kam dann über Madeleine Fane und Saul Diese wusste nur ein wenig über ihre Tante Issroff zustande. Zur gleichen Zeit erschien Martha und ihren Onkel Rudolf mütterli- als weitere Suchmöglichkeit ein Artikel im cherseits und über ihre Großmutter Paulina „The Jewish Report“ in Johannesburg mit sowie Sibylla, die Schwester ihres Vaters. dem Bild von „Ernst und Stefi“ und der Su- Eine unterschwellige Angst vor Repressali- che von Elena Ivashchenko nach ihnen. Für en hielt Elenas Mutter von der Suche ab. die Spurensuche war dieser Artikel letztlich Der Grund dafür war, dass es verboten war nicht entscheidend, da der Weg über Saul

211 Issroff erfolgreich war, doch war er emotio- nal von großer Bedeutung, da es von genau dem Foto handelte, das diese Suche nach der verlorenen Verwandtschaft auslöste.

Der Kontakt zu einem Teil der Familie war somit nach über siebzig Jahren wieder her- gestellt und Elena und ihr Ehemann be- schlossen im Jahr 2008 die Stätten ihrer Familie zu besuchen. Die Reise im Sep- tember führte sie nach Rhens, Köln, Düs- seldorf, Wesel und Hannover. Kurz vor Be- ginn ihrer Reise hörten sie noch von dem Stolperstein-Projekt des Künstlers Gunter Demnig, der die Steine für ihren Großvater Max, ihre Großmutter Ilse und ihre Mutter Ruth in Köln gelegt hatte. Man hatte alle drei nach dem Krieg für tot erklärt. Elena und ihr Ehemann besuchten im Septem- ber 2008 Wesel und dort die Gräber ihres Urgroßvaters Benno und ihrer Ururgroßel- tern Bernhard und Sibille Günther auf dem Jüdischen Friedhof am Ostglacis. Danach wurden ihnen im Stadtarchiv von Dr. Mar- tin Roelen einige Dokumente und Fotos der Das Foto, mit dem alles begann. Familie gezeigt. Die Fotos stammten aus dem Nachlass des jüdischen Lehrers Simon Spier, der mit Bernhard und Sibille Günther befreundet war und während des Dritten Reiches – im fortgeschrittenen Alter – mit ein deutliches Zeichen der Ermutigung für seinen Kindern nach Palästina auswander- mich, mein Lebenswerk fortzusetzen. Seit te. Von dort gelangten die Bilder über Spiers vielen Jahren suche ich nach einem Ort in Nachfahren nach Wesel zurück. dieser ‚zerbrochenen‘ Welt. Einem Ort der Einigkeit und des friedlichen Zusammenle- Sonja Maureen Abelson, die Tochter von bens für alle Mitmenschen, um ihn mit ih- Ernst Günther, besuchte im August 2009 nen zu teilen.“ Ebenso sprach sie mit Eva ebenso Wesel und die Gräber ihres Groß- Schlümer, deren Vater 1921 die Metzge- vaters Benno und ihrer Urgroßeltern Bern- rei von Paulina Günther gekauft hatte. Auf hard und Sibille Günther. Ihre Emotionen dem Weg zum Stadtarchiv kam sie an der beschrieb sie mir so: „Es traf mich wie ein ehemaligen Wurstfabrik ihres Großvaters Blitz. Ich war tief bewegt und gerührt, ich Benno vorbei, die im Zweiten Weltkrieg hatte endlich meine Familie und meine nicht zerstört worden war. Im Stadtarchiv Wurzeln gefunden und das Gefühl des Al- bekam sie Hinweise auf die Schulzeit ihres leinseins war nicht mehr vorhanden. Dass Vaters Ernst. Danach log sie zu Elena nach ich meine Wurzeln ohne mein Zutun wie- Togliatti/Russland, um in persönlichen Ge- der gefunden hatte, erschien mir wie ein sprächen die Wiederindung der Familie zu Wunder. Gleichzeitig war es aber auch feiern.

212 Die Angehörigen der vor über 70 Jahren getrennten Familie Günther plegen heute einen regen Kontakt. So besuchten Elena und ihr Mann die USA, um sich mit den Töchtern von Ernst Günther zu treffen. Ebenso trafen sie sich mit Nachfah- ren von Abraham Günther, eines Bruders von Bernhard Günther.

Was es für die Familie be- deutet, dass man sich wie- dergefunden hat, umschrieb die Tochter von Ernst Gün- ther, Sonja Abelson, unter der Überschrift „Uniting fa- mily – lost and found“ mit folgenden Worten:

„Es war die Sehnsucht der Familie nah zu sein, glaub- ten wir sie doch inmitten der namenlosen Gräber der Massenvernichtung, die das wunderbare Ereignis der Vereinigung unserer Fami- lie nach über siebzig Jahren auslöste.“

Willibrordiplatz 7: Auf dem Balkon Benno und Paulina Günther, geb. Klein, mit einem Kind.

213 Anmerkungen:

1 Der Aufsatz basiert auf vier zumeist unveröffentlichte Schriften, die sich im Stadtarchiv Wesel beinden: Sonja Abelson: Uniting Family. Lost and Found. 1936– 2011, [Johannesburg/RSA] 2011; dies.: Familie Gün- ther. Materialsammlung, 2 Bde., Ms. Johannesburg 2011; Елена и Владимир Иващенко: Гюнтер – Хорстманн. История семьи, [Togliatti] 2012; Claus-Dieter Richter- Kraneis: Familie Günther. Eine jüdische Familie aus Wesel, Ms. Wesel 2012. 2 Freundliche Mitteilung von Norbert Perkuhn, Stadtar- chiv Düsseldorf. 3 Freundliche Mitteilung von Norbert Perkuhn, Stadtar- chiv Düsseldorf. 4 http://libertyellisfoundation.org/passenger-result, vgl. auch http://www.jewishgen.org/databases (Zugriff 03. 03. 2015), zum Zeitpunkt der Überfahrt war er ledig. Adresse New York 1917: http://www.artic.edu/ sites/default/files/libraries/pubs/1917/AIC1917Pos- ters_comb.pdf (Zugriff 03. 03. 2015). http://us-census. mooseroots.com/1/231158285/Margreth-Guenther (Zugriff 03. 03. 2015). Sacha Llewellyn (ed.), The Great War As Recorded through the Fine and Popular Arts, Morley College and Liss Fine Art, Exhibition Ca- talogue, August 2014, [London 1914].

214 Winfried Evertz

Wie die Stadt Wesel zu ihrem Namen kam Neue Erkenntnisse zur Deutung des Ortsnamens

Seit etwa 350 Jahren versucht man, die „Wiesenniederung oder Wiesengut.“5 Der Bedeutung des Ortsnamens Wesel zu erfor- Realschuldirektor Paul Bernds übernahm schen und kam dabei zu höchst unterschied- 1988 im Wesentlichen die bis dahin vor- lichen Ergebnissen. herrschende Theorie, dass der Name „Her- Die älteste Erklärung von 1668 stammt vom renhof in der Wiese“ bedeute.6 Bernds nahm Weseler Prediger und klevischen Historiker leider nicht die Gelegenheit wahr, neben Hermann van Ewich, latinisiert „Herman- den angezeigten Deutungsversuchen von nus Ewichius“, der den Namensursprung Heimatforschern auch die Ergebnisse be- damit begründet, dass Wesel die Stadt am kannter Namenforscher der Nachkriegszeit Wieselwald sei, weil sie am Rande des wie Adolf Bach (1954) oder Heinrich Ditt- noch heute sogenannten „Weseler Waldes“ maier (1963) sowie die zusammenfassenden gelegen sei.1 Der Jurist Peter Theodor Anton Darstellung von Henning Kaufmann (1973) Gantesweiler spekulierte 1795, Wesel habe heranzuziehen. Wesel wird hier als „an der ursprünglich Lippemund geheißen und auf sumpigen Flußwiese“ gedeutet.7 einer von ihm nicht erklärten Weise später Der Theologe Rainer Neu kam 2003 zu den Namen Wesel bekommen, was natür- dem Schluss, dass mit Wesel der „Geweihte, lich der abenteuerlichen Beschreibung des Heilige Ort“ gemeint sei.8 Er gibt der ersten Hermann Ewichius gleicht. Offen bleibt bei Silbe des Namens „We“ die Deutung wie ihm jedoch, was der Name Wesel bedeutet.2 bei „Weih-“ nachten und der Silbe „Sel“ Bemerkenswert ist der verloren gegangene die Deutung Stelle/Ort. Eine fundierte Be- Beitrag eines unbekannten sprachkundigen gründung ist außer einer sprachlichen, die Heimatforschers aus dem Jahre 1879, der er selbst aufstellt, nicht vorhanden. feststellte, dass der Ort Wesel schon vor der Zwei Jahre später schließlich vertrat der Phi- Einwanderung der Germanen seinen Namen lologe Paul Derks die Ansicht, der Name We- hatte. Dieser leite sich aus dem keltischen sel sei von den Wieseln abzuleiten, die auf Namen für Wasser „uissen“ und „ele“ für dem Gebiet des historischen Stadtkerns We- Winkel bzw. Bogen ab, was zusammen sels in prähistorischer Zeit übermäßig häuig heute „Wasserbogen“ oder „Wasserwinkel“ vorgekommen sein sollen.9 Gerade diese bedeutet. „Man wird nicht fehl gehen, wenn Erklärung von Derks, die eine ungeheure man annimmt, dass Kelten und Germanen Fleißarbeit vorausgesetzt hat, überzeugt je- in dem Winkel zwischen Rhein und Lippe doch wenig, weil sie dem Namensursprung ihre Hütten hatten.“3 Karl Westermann, aus einer rein philologischen Sicht das größ- Lehrer am Weseler Gymnasium, kam 1927 te Gewicht beimisst und aus dieser Sicht zu zu dem Schluss, dass Wesel „der Herren- einem Ergebnis kommt, dass allerdings die hof in der Wiese“ bedeute und eindeutig Erkenntnisse über die Lebensgewohnheiten germanischen Ursprungs sei.4 Sein Kollege des Wiesels unberücksichtigt lässt. Adolf Langhans präsentierte in seinem 1958 Neueste Studienergebnisse der Diplomkar- posthum erschienenen „Geschichtsbild“ ein tografen Stephan Hormes und Silke Preust ähnliches Ergebnis und deutete Wesel als von der Universität Lübeck hingegen bele-

215 gen, dass die meisten Ortsnamen in erster die angeblich älteste Nennung den Laut- Linie von geograischen Beobachtungen der stand nicht des 8. Jahrhunderts, sondern naturräumlichen Gegebenheiten geprägt vielmehr des 13. Jahrhunderts spiegelt, wo wurden, die für die Lage des Siedlungsortes das in offener Tonsilbe stehende -i- (vgl. markant waren, wie das Fließverhalten der dazu die Belege der Werdener Urbare) Flüsse, Gelände- oder sonstige Vegetations - 10 bereits zu -e- gesenkt und gedehnt wur- besonderheiten in vorhistorischer Zeit. de (vgl. Derks, S. 10 und S. 17). Diese Dehnung und Senkung setzt ein altes Drei bekannte Namenforscher haben auf kurzes -i- voraus. Damit aber ist eine Anfrage übereinstimmend eine Ableitung Verbindung mit dem von Neu vorgeschla- des Ortsnamen Wesel vom Wiesel abge- 11 genen altsächsischen ‚wîh‘ ‚heilig‘ nicht lehnt. möglich, denn dieses hat ein altes langes Wolfgang Haubrichs begründet seine Ab- -i-, das später im Neuhochdeutschen lehnung wie folgt: zu -ei- diphtongiert wird (wie im Wort „Den Ortsnamen zu nhd. ‚Wiesel‘, alt- Weihnachten). Ebenso problematisch ist hochdeutsch ‚wisula, wisala‘, mittelnie- die etymologische Herleitung des zweiten derländisch ‚wesel(e), wisel‘ (übrigens Namenelementes aus altsächsisch ‚seli‘. fem.) [zu deuten] ist lautlich (Sufix) kaum Dessen -e- geht auf ein älteres -a- zurück, möglich, sachlich aber ganz ausgeschlos- das durch Einluß des folgenden -i- zu sen. Bei einem mit dem Tiernamen zu- -e- „umgelautet“ wurde. Eine weitere sammengesetzten Ortsnamen (Toponym) ‚Hebung‘ des Vokals zu -i- erscheint recht würde man eine Zusammensetzung mit unwahrscheinlich, zumal das durchaus in einem Grundwort etwa im Sinne von Ortsnamen vorkommende Wort in den ‚Wiesel-Ort‘ erwarten; der Tiername kann Namen in der Form -sele, -seli erscheint. nicht für sich genommen ein Toponym Dies alles veranlaßte Derks, eine an- bilden. Diese Deutung wird offenbar von dere Deutung des Ortsnamens Wesel P. DERKS, Uuisilli-Lippeham-Matena, vorzuschlagen. Er geht nicht von einer Beiträge zur frühen Geschichte und zur Zusammensetzung des Ortsnamens aus Namenkunde der Stadt Wesel, in: M. W. zwei Wörtern (oder Wortstämmen) aus, ROELEN (Hg.). ‚ecclesia Wesele‘, Beiträge sondern von einer Ableitung mittels eines zur Ortsnamenforschung und Kirchenge- Sufixes. In der Basis des Namens sieht er schichte, Wesel 2005, vertreten“.12 Kirsten Casemir hält das methodische Vor- gehen Derks‘ für schlüssig, den gesicherten ältesten Sprachstand, die Nennungen des Ortsnamen in den Werdener Urbaren zu untersuchen: „Zwei angeblich ältere Nennungen von Wesel aus dem 719/39 (‚Wesele‘) sowie von 1065 (‚Wisele‘) entstammen nicht dieser Zeit, sondern sind im ersteren Falle einer Handschrift von um 1200 entnom- men. Im zweiten Fall liegt eine verunech- tete oder gar gefälschte Urkunde späterer Das Große Siegel der Stadt Wesel von 1431 Zeit vor. Es ist Derks zuzustimmen, daß mit dem Wiesel (mustela) als „redendem“ Wappentier.

216 mnd. ‚wesele‘ ‚Wiesel‘, für das (auch aus etwa Oxford als ‚Ochsenfurt‘ oder Hirsch - althochdeutschem ‚wisela, wisila‘) eine berg). Suffixale Ableitungen – dieser altniederdeutsche Vorgängerform *wisila Namenbildungstyp ist als deutlich älter ‚Wiesel‘ erschlossen wird. einzuschätzen – von Tierbezeichnungen sind offenbar sehr selten. Ein möglicher Diese Basis *wisila wird nun durch ein Einwand, daß in den Zusammenstellun- Kollektivsuffix -ja (oder feminin -jo) gen von Jürgen Udolph und Reinhold abgeleitet, das im Falle Wesels das Vor- Möller eine Reihe von Tierbezeichnun- handensein mehrerer Wiesel anzeigt gen erscheinen, die mittels des Sufixes und von Derks für das Vorhandensein -ithi- abgeleitet sind, ist dadurch zu ent- -ll- in den älteren Belegen verantwort- kräften, daß die jeweiligen Etymologien lich gemacht wird. Zur Erstellung des keineswegs unumstritten sind, sie also Weseler Siegelbildes sei zwar vermutlich keineswegs Tierbezeichnungen enthalten der Gleichklang des Ortsnamens mit der müssen. Tierbezeichnung sowie der Umstand, Schließlich ist anzuführen, daß die in daß dadurch ein ‚redendes‘ Bild mög- den Ortsnamen enthaltenen Tiere häuig lich werde, ausschlaggebend gewesen. ‚größer‘ sind (Ochse, Hirsch, Wolf usw.), Allerdings sei nicht ausgeschlossen, daß mit dem Menschen insofern in einem Wesel oder seine engste Umgebung auch engen Zusammenhang stehen, als sie im 13. Jahrhundert noch immer wie zur entweder von diesem genutzt werden, Zeit seiner Benennung durch eine auffäl- ihm gefährlich werden konnten oder lige Menge der gefürchteten und zugleich aber sinnbildlich für eine besonders geschätzten Räuber ausgezeichnet war‘ düstere, abgelegene Stelle stehen, wie (Derks S. 46). Werner Flechsig in mehreren Beiträgen Obgleich diese Deutung sprachlich zu den Wörtern ‚Bär, Fuchs und Wolf‘ in durchaus möglich ist, auch wenn die Ety- ostfälischen Namen nachweisen konnte. mologie des Wortes ‚Wiesel‘ und dessen Sicherlich kommen auch ‚kleine‘ Tiere Ansatz ebenfalls nicht so umstritten sind, wie Vögel oder sogar vereinzelt die Amei- wie es scheinen mag, sind verschiedene se (zum Beispiel in dem Namen einer Bedenken zu äußern, die sowohl sachli- heute nicht mehr existierenden Siedlung cher wie auch namenkundlicher Art sind. ‚Emethla‘ im Kreis Osterode in Niedersa- Bei den Wieseln sowie den verwandten chen, der als ‚Ameisenwald‘ zu deuten ist) Mardern handelt es sich um recht scheue, in Ortsnamen vor. Allerdings überwiegen, nachtaktive Tiere. Sie sind nicht gerade wie die Zusammenstellungen in Adolf groß und benötigen ein relativ großes Ter- Bachs ‚Deutscher Namenkunde‘ zeigen, ritorium …, so daß eine ‚auffällige Menge‘ der im übrigen auch keinen ‚Wiesel‘ als als recht unwahrscheinlich erscheint. Ortsnamen anführt, auffälligere Tiere. Anders als bei anderen Tieren in Ortsna- Jedes der eben angeführten Argumente men ließ sich bislang kein einziger ande- macht für sich genommen eine Deutung rer Ortsname ermitteln, der das ‚Wiesel‘ Wesels als ‚Stelle, wo mehrere Wiesel in seinem Namen enthält. Wesel wäre vorkommen‘ nicht per se unmöglich. also in dieser Hinsicht singulär. Alle zusammengenommen jedoch lassen Eine Betrachtung derjenigen Ortsnamen, diese Interpretation als äußerst fraglich, die Bezeichnungen für Tiere aufweisen, wenn nicht gar kaum möglich erscheinen. ergibt weiterhin, daß diese in der Regel mit Grundwörtern gebildet sind (man vgl.

217 Was aber bedeutet der Name Wesel nun? Wissel, Wiesel’ o.ä. um einen ‚verloren‘ Es sollen zwei Deutungsmöglichkeiten gegangenen Namen für einen bei Wesel vorgeschlagen werden. beindlichen Abschnitt der Lippe, des Erstens könnte Wesel mit dem Namen der Rheins oder eines später anders benann- Weser (alt ‚Wisura‘), der Weichsel und ten Baches handeln, von denen es in der zahlreicher anderer Flußnamen in Europa Umgebung von Wesel nicht wenige gibt. verbunden werden. Diese Flußnamen Solche Flußabschnittsnamen sind durch - sind sehr alt und als vorgermanisch zu aus nicht selten. bezeichnen. Als Bedeutung ist in etwa Das bekannteste Beispiel dafür dürfte der einfach ‚die Fließende‘, ein typisches Ortsname Osnabrück sein. Osnabrück Benennungsmotiv für älteste Flußnamen, liegt an der Hase. Der Ortsname jedoch anzugeben. Von einem solchen Flußna- enthält einen sonst nicht überlieferten men wäre dann mittels des auch von Namen der Hase in diesem Bereich, Derks angenommenen -ja-Sufixes der nämlich der *Osna. Ortsname selbst abgeleitet. Wesel wür- de also die Siedlung an dem Gewässer Zweitens kann doch das von einigen *Wisila o.ä. bedeuten. Allerdings ist aus Forschern bereits angeführte ‚Wiesen‘- der direkten Umgebung Wesels heute ein Wort in Wesel angesetzt werden. Das Gewässername ‚Wisel, Wissel, Wiesel’13 mittelniederdeutsche Wort ‚wese‘ geht auf ,Wiese‘ oder dergleichen nicht bekannt älteres *wis-ôn zurück (vgl. ahd. ‚wisa‘), oder in historischen Quellen überliefert. zeigt also altes kurzes -i-, das in mittel- Allerdings könnte es sich bei ‚Wisel, niederdeutscher Zeit zu -e- gesenkt und

Rekonstruktion des Rhein- und Lippeverlaufs von Hans Scheller.

218 gedehnt wurde. Anders als die heutige zu belasten. Vielmehr ist Derks zu folgen, Bedeutung einer Wiese als ‚grasbewach- und eine Ableitung des kollektivierenden sene Fläche, Rasen‘ ist in älteren Zeiten -ja-Sufixes anzunehmen. auch eine andere Komponente enthal- Wesel würde demnach die Stelle bedeu- ten. Ähnlich wie ‚Anger‘ oder ‚Aue‘ sind ten, an der es eine Reihe von Wiesen- mit Wiesen auch (nicht selten feuchte) oder Anger(-bereichen) gibt. Stellen am Wasser gemeint, die häuig Eine Entscheidung, ob das ‚Wiesen‘-Wort niedrig gelegen sind. Die Topographie oder aber ein (deutlich älterer) Fluß - Wesels, umgeben von Gewässern auf abschnittsname bei Wesel vorliegt, ist einem trockeneren Flugsandhügel, an sprachlich kaum möglich. den Rändern durch häuige Hochwasser Und auch sachlich berühren sich beide des Rheins und der Lippe gefährdet, die Deutungsmöglichkeiten, da sie letztlich ihrerseits Auenlandschaften bildeten, beide auf ‚Feuchtigkeit‘ rekurrieren, was lässt eine solche Deutung zu. Anders angesichts der prägnanten Lage Wesels als von den bisherigen Befürwortern des auch einleuchtet.“14 ‚Wiesen‘-Wortes liegt hier jedoch keine Zusammensetzung mit einem Grundwort Zum gleichen Ergebnis kommt auch Wolf- vor (weder -seli noch -lâ), sondern eine gang Haubrichs, der im Gegensatz zu Paul sufixale Ableitung. Das im Namen We- Derks einer Lösung zuneigt, sels enthaltene -l- ist als ein solches Sufix zu interpretieren und in einer Reihe von „die den Vorzug hat, den Namen in eine Ortsnamen nachzuweisen. Sufixe haben große Gruppe europäischer Toponyme keine Bedeutung im engeren Sinne. Al- einordnen zu können. Diese Lösung lerdings ist bei einer Reihe von Wörtern, schlägt auch einer der besten Kenner der die mit einem -l-Sufix abgeleitet sind, zu niederfränkischen Toponymie, nämlich sichern, daß dieses eine verkleinernde Heinrich TIEFENBACH vor, in: Manfred Funktion haben kann. Bei Ortsnamen ist NIEMEYER (Hg.), Deutsches Ortsna- das gelegentlich ebenfalls festzustellen menbuch, Berlin 2012, S. 685 f.: ‚Der oder wenigstens möglich (z.B. Rocklum, tatsächliche Erstbeleg des Ortsnamens‘ Kr. Wolfenbüttel). Häuiger jedoch scheint – er meint ‚Uuisilli‘ – ‚zeigt eine Bildung das -l-Sufix lediglich das Vorhandensein als -ja-Stamm, wohl zur Bezeichnung von des im Vorderglied Genannten anzuzei- Zugehörigkeit. Das -ll- wird bereits am gen. So kann bei Wesel kaum unterschie- Ende des 11. Jahrhunderts vereinfacht.‘ den werden, ob eine ‚kleine Wiese‘ oder Das heißt also, dass als Ausgangsform gar das ganz allgemein eine ‚Wiese‘ gemeint nicht einfaches *Wis-ila angesetzt werden wäre. Bleibt das von Derks problemati- kann (das dennoch zweifellos dahinter sierte doppelte -ll- der ältesten Belege. steht), sondern eine Ableitung davon, Zwar ist nicht auszuschließen, daß das nämlich *Wis-il-ja. -ll- eine Schreibeigentümlichkeit ist, bzw. Basis der Ableitung könnte ein vorein- einfach die Kürze des vorausgehenden zelsprachlicher Gewässername sein, der Vokals anzeigen soll. Die Indizien für als -l- Ableitung zu einer außerordentlich eine solche Interpretation anhand der stark in Europa verbreiteten Namensippe Untersuchung der Namensformen der gehört. Voreinzelsprachlich bedeutet, dass jeweiligen Schreiber der Urbare in den der Name zurückgeht, wie so viele Ge- Texten, in denen die Belege für Wesel ent- wässernamen, in die indogermanisch/in- halten sind, sind jedoch zu gering, um sie doeuropäische Zeit, bevor die einzelnen

219 220 Vogelschau von Wesel aus dem Städtebuch von Georg Braun und Franz Hogenberg (1588).

221 Sprachgruppen wie Keltisch, Germanisch, Das letzte Beispiel enthält ebenfalls eine Italisch usw. entstanden. Der Name wäre l-Ableitung zur idg. Wurzel *wis-, ist also eine l-Ableitung zur Wurzel idg. *wis- eine direkte Parallele zu Wesel < *Wis-il- ‘ließen‘. Nur wenige Parallelbeispiele ja. Die Ableitung auf -ja würde ich wie H. aus europäischen Flussnamen nenne ich: TIEFENBACH in der Tat als Bezeichnung der Zugehörigkeit deuten wollen, so dass 1. Weser < ahd. Wis-ara (als r-Ableitung) als Bedeutung zu erschließen wäre ‘Stelle, 2. frz. Vesdre (Belgien) dt. auch Weser a. Ort, die der zum Gewässer Wisila gehört‘. 915 Wesere, a. 1153 Wisera Worauf aber bezieht sich der Gewässer- 3. Werra < a. 915 Viser-aha, aber in ein- name Wisila, der die Grundlage bildet? facher Form a. 775 bei Salzungen Hier muss man in Rechnung stellen, dass UUisera es für viele große und kleine Flüsse partiell 4. Wiese (vom Feldberg zum Oberrhein) und regional bzw. lokal Abschnittsnamen, a. 1276 Wisa z.B. für Flussarme gab. Das könnte auch 5. Weeze Kreis Kleve, 11./12. Jh. de Wise, bei Wesel der Fall sein. a.1269 de Wese, wahrscheinlich auch Dieser etymologische Ansatz scheint aus *Wisa mir der wahrscheinlichste, der Ansatz 6. frz. Vesonze (links zur Rhone) < mit althochdeutsch wisa ‘Wiese‘ aus for- *Wis-antia malen Gründen und mangels Parallelen 7. Wiesaz (Württemberg), a. 1484 eher unwahrscheinlich, obwohl lautlich Wysentz-bach < *Wis-antia möglich.“15 8. Weesp (NL) a. 1131 or. Wes-epa, a. 1156 Wis-epe, a. 1169 or. in W[i] ✴ spe (mit dem Grundwort -apa) 9. Wieslauf (BW, rechts zur Rems), Der Name Wesel stammt neueren Ergebnis- a. 1027 or. Wisil-affa, mit einem ver- sen zufolge also wohl nicht vom Mardertier deutlichenden Zweitglied, das ‘Bach‘ Wiesel ab, sondern ist nach Meinung der bedeutet. Ortsnamenforscher Wolfgang Haubrichs und Kirstin Casemir als „der bewohnte Ort/ die Stelle an oder in der „Wi“/ „Wis“/“Wisa“ zu deuten. „Wi“/ „Wis“/“Wisa“ könnte auf einen sehr alten Flussabschnittsnamen zu- rückzuführen sein. Wesel heißt also schlicht „die Siedlung am bzw. im Gewässer“, je nachdem, ob sich die Siedlung am Fluss oder auf einer Flussinsel befand.

222 Anmerkungen: von Wesel 28), Wesel 2005, S. 9–73. Derks kommt zu dem Ergebnis, das anders als bei allen anderen Städten 1 Vgl. Hermannus Ewichius, Vesalia, sive civitatis Vesalien- im Rheinland deren Stadtwappen nicht den wahren Ur- sis descriptio. Wesel – oder die Beschreibung der Stadt sprung des Namens preisgeben, dies bei Wesel sehr wohl Wesel. Mit deutscher Übersetzung von Hermann Loewe der Fall ist, nämlich der Name vom Wiesel herrührt und und einem biographischem Anhang: Hermann Ewich deswegen ins Wappen aufgenommen wurde. Er macht (Arbeitshefte der historischen Vereinigung Wesel 2), We- eine nicht abgesicherte Herkunftsgeschichte über das sel 1979, S. 7 und 75: „Das Dorf trug damals den Namen massenhafte Vorkommen der Wiesel im Raum Wesel der Lupia, obwohl dieser in den chronographischen Tafeln damaligen Zeit zu einer festen Tatsache und gibt anderen des Ptolemäus erst zur Zeit des Kaisers Marcus Antonius Erkenntnissen und Feststellungen nur wenig bis kein sich beindet. Er ist damals schon sehr alt gewesen, so Gewicht. Darüber hinaus stellt er fest, dass der Name benannt nach dem in nächster Nähe vorbei ließenden Uuisilli aus dem Werdener Urbar der niederfränkische Fluss und der Ort bewahrte eben jenen Namen, bis Name für den heute gebräuchlichen Namen Wiesel ist. er verändert in folgenden Zeiten den Namen Vesalia 10 Vgl. Stephan Hormes/Silke Preust, Atlas der wahren annahm.“ Diesem Namen führt er den nahegelegenen Namen. Etymologische Karte Deutschland, Österreich, Wieselwald, heute Weseler Wald, zurück, der unserem Schweiz, Hamburg 2009. Ort zum Namen Wesel verholfen haben soll, weil aus 11 Stellungnahme von Frieda Steurs, Dekanin für Sprachen seinem Holz die Häuser des Ortes gebaut worden seien. und Kommunikation der königlichen Universität zu Vgl. auch den Hinweis S. 81 auf Ewichs sehr freie Dar - Leuwen, vom 19. 09. 2012: „Het es een herkomstnaam stellung der Frühgeschichte Wesels. Wesel ging natürlich en betekent letterlijk dus ‚afkomstig uit Wezel‘, maar nicht aus Lupia oder Lippeheim/ham hervor. darmee ben je nog niet veel wijzer. De etymologie van 2 Vgl. Peter Theodor Anton Gantesweiler, Chronik der Stadt het woord is wetenschappelijk nog betwist, maar ik neig Wesel, Wesel 1881 (Nachdruck 1972), S. 1–9. het meest naar een Indo-Europese wortel *ueis- met als 3 Anon., „Wesel. Mutmaßliches über die Entstehung des betekenis ’vloeien, gif‘. Deze wortel vinden we nog terug Ortnamens Wesel, in: Heimatspiegel. Wochenbeilage in het Middelnederlandse woord wese ‘weiland‘. In het der Heimatzeitung General-Anzeiger für Wesel und Nie- Oudhoogduits is hiermee verwant wisa dat hetzelfde derrhein mit Dinslakener Anzeiger. Blätter zur Plege der betekent. In het Oudengels kennen we wase ‘slijk, Heimatkunde und Heimatplege, Nr. 8 vom 19. Oktober moeras’en in het Oudnoors veisa ‘slijk, plas stilstaand 1934, [S. 1]. Der Autor bemerkte auch: „Über die Entste- water‘. De l duit op een verkleinsufix en dat voert tot hung der Stadt herrscht großes Dunkel; im allgemeinen de hypothese dat wezel oorspronkelijk ‚weilandje of ist bei den Schriftstellern das Bestreben vorhanden, dem klein moeras betekende. De plaatsnaam is dan weer te Ort Wesel einen römischen Ursprung zu geben. Der omschrijven met ‘plaats van weilanden of van moeras- Name wird auch von den Wieseln stammend erklärt, sen‘. Volgens mij heeft de naam niets met de diernaam weil es diese Tiere angeblich viele in der Gegend um te maken; die gaat op een andere grondvorm terug.“ Wesel gegeben haben soll. Diese Ableitung scheint sehr 12 Stellungnahme von Wolfgang Haubrichs, Universität des zweifelhaft, denn das Vorhandensein dieser Tiere ist nir - Saarlandes, Saarbrücken, vom 13. 09. 2012. gends belegt und weiter plegte man bei der Benennung 13 Mit Kirstin Casemir abgesprochener Nachtrag: Vissel der Orte nicht so zu verfahren. Der Name wird nämlich (Bislich). entweder von der Beschaffenheit der Gegend genommen 14 Stellungnahme von Kirstin Casemir, Fachbereich Orts- oder von dem Erbauer des Ortes geprägt.“ Der Artikel namen zwischen Rhein und Elbe, Akademie der Wis- schließt mit dem Aufruf, dass sich Bürger der Stadt an senschaften zu Göttingen, Münster, vom 12. 10. 2012. das Verkehrsamt wenden mögen, wenn sie mehr oder 15 Vgl. Anm. 12. anderes über die Namensentstehung der Stadt wissen. 4 Vgl. Karl Westermann, Geschichte der Stadt Wesel, Wesel 1927, S. 6–10. Es handelt sich um national geprägte Ausführungen mit starkem Bezug auf den ger- manischen Sprachursprung und die Reichsgeschichte. 5 Vgl. Adolf Langhans, Wesel ein Geschichtsbild, Wesel 1958, S. 8. 6 Vgl. Paul Bernds, Wesel. Lebendige Stadtgeschichte. Ein Buch für junge Leser, Bd. 1, Kleve 1988, S. 48. 7 Vgl. Henning Kaufmann, Die Namen der rheinischen Städte, München 1973, S. 66 f.; dort auch die Angaben zu Bach und Dittmaier. 8 Rainer Neu, ‚Kraftort‘ Wesel. Zur Frühgeschichte und Namensdeutung der Stadt, in: Salhof, Festung, Freie Stadt. Beiträge zur Geschichte der Stadt Wesel und des Niederrheins, hrsg. von der Historischen Vereinigung Wesel e.V., Wesel 2003, S. 53–57. 9 Vgl. Paul Derks, Uuisilli-Lippeham-Matena. Beiträge zur frühen Geschichte der Stadt Wesel, in: ecclesia Wesele. Beiträge zur Ortsnamenforschung und Kir- chengeschichte (Studien und Quellen zur Geschichte

223 Autoren

BRUNS, Peter, Wesel EVERTZ, Winfried, Wesel HANTSCHE, Prof. Dr. Irmgard, Essen HOLTHUIS, Albrecht, Wesel KOCKS, Volker, Wesel KÖHLER, Werner, Wesel LANDAU, Utta Angelika, München LANGHOFF, Helmut, Wesel RICHTER-KRANEIS, Claus-Dieter, Wesel ROELEN, Dr. Martin Wilhelm, Wesel VOGT, Josef, Wesel WARTHUYSEN, Günter, Wesel

224 Bildnachweis

Umschlagseiten: Sammlung Köhler (Scan und digitale Bildbearbeitung: Volker Kocks), S. 8: Ekkehart Malz. S. 10, 11: Irmgard Hantsche, Geldern-Atlas, Geldern 2003 – S. 12, 14, 15, 32: Irmgard Hantsche, Atlas zur Geschichte des Niederrheins, 5. Aul., Bottrop/Essen 2004 – S. 13, 16: Irmgard Hantsche, Atlas zur Geschichte des Niederrheins, Bd. 2, Bottrop 2008 – S.17: Heimatverein Schenkenschanz – S. 18, 26, 27, 31: Museum Kurhaus Kleve, Sammlung Robert Angerhausen, Kleve, Photographie von Annegret Gossens – S. 20, 24: Stadtarchiv Wesel – S. 21, 23, 25: Stadtarchiv Emmerich – S. 28, 29, 30: Irmgard Hantsche. S. 35: Robert Jasmund, Die Arbeiten der Rheinstrom-Bauverwaltung, 1851-1900, S. 206 – S. 36: Landesarchiv NRW, BR 1133 Nr. 322, 16. 8. 1893. – S. 37 (links): Museen Burg Altena, Q10. – S. 37 (rechts): https://de.wikipedia.org/wiki/ Rudolf_Virchow (24. 6. 2015). – S. 38: Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Fotosamm- lung, Nr. 354 – S. 41: Landesarchiv NRW, BR 1133 Nr. 322, 16.8.1893, www.tim-online.nrw.de; 9. 11. 2014. – S. 42, 44: Stadtarchiv Wesel, K2 / 2150, Inv. Nr. 141, K2 / 2070 und O1a, 7-5-0. – S. 43: Rijksmuseum Amsterdam, Nr. RP-P- OB-81.234. – S. 45: Staatliches Museum Berlin, PK/MVF IXd, IA 9, Bd. 3, E 1047/93. S. 48: Stichting Matrijs, Utrecht – S. 49 (rechts): F.R. Künker, Osnabrück – S. 53: Museum Kurhaus Kleve, Ewald Mataré- Sammlung, Hauptverzeichnis-Nr. 35, Foto Annegret Gossens, Kleve – S. 55: R. Althoff: Münzen der Herrschaft Dinsla- ken, Duisburg 1996 – S. 57 (unten): W. Schulten: Deutsche Münzen aus der Zeit Karls V., Frankfurt a.M. 1974 – S. 62: U. Felzmann, Düsseldorf – S. 64 (rechts): Westf. Auktionsges., Soest – S. 66: Jan Elsen, Brüssel – S. 49 (links), 50, 51, 54, 56, 57 (oben), 58, 59, 63, 64 (links), 65, 67–69: Archiv Günter Warthuysen. S. 72: privat – S. 73: Evangelisches Kirchenarchiv Wesel, Foto Hermann Kleinholz – S. 75: privat, Foto Volker Kocks – S. 76: Volker Kocks. S. 80, 87: Stadtarchiv Wesel (O1a,2.5.2.10.01; A1/209,3, fol. 148r) – S. 81: Nachlass Veenliet, Very thick binder, group 5, Dok. 25 – S. 83: Nachlass Veenliet, Legal size binder, Dok. 54 – S. 86: Amtsblatt der Regierung Düsseldorf 1849, S. 72 f. – S. 88: Nachlass Veenliet, Documents-Unorganized 2, mit falscher Jahresangabe 1848! – S. 90: Getty Images 120017846 (Historic Maps Works LLC) – S. 91: History of Saginaw County (wie Anm. 69), S. 328. S. 96, 99, 107, 124, 126: Sammlung Köhler, Fotos Volker Kocks – S. 97, 103, 105, 109, 111, 112, 114, 119, 120: Stadt- archiv Wesel, Fotos Volker Kocks – S. 123: privat, Foto Werner Köhler. S. 129, 130, 140, 143,144, 157: Feldartillerie-Regiment Nr. 43 1899-1919, Oldenburg 1932 – S. 132, 134 (rechts), 135, 138, 141, 142, 150, 152, 153, 155: privat – S. 133: Preußen-Museum NRW Wesel – S. 134 (links): Georg Ortenburg, Ingo Prömper: Preußisch-Deutsche Uniformen von 1640-1918 – S. 136: Stadtarchiv Wesel – S. 139: Holger Aflerbach: Falkenhayn – S. 148: Der Große Herder, Freiburg 1935 – Alle Fotos (außer Abb. S. 136): Jürgen Berner, Wesel. S. 162-164.174 (oben): Stadtarchiv Wesel, Bildarchiv – S. 165-173, 174 (unten), 175, 178: Stadtarchiv Wesel (B11/1860 fol. 43; N85/3; B11/55 fol. 4; B11/1860 fol. 43; B 11/2271 fol. 3, B11/826 fol. 6, 13, 17; B11/3469 fol. 6) – S. 176,179: Volker Kocks, Stadtarchiv Wesel. S.181-187: Repros, Fotos und Zeichnungen Josef Vogt. S. 189: Protokollbücher der Ev. Kirchengemeinde Wesel, Foto A. Holthuis – S. 190, 192, 196, 197, 202: Kirchenarchiv der Ev. Kirchengemeinde Wesel – S. 193, 194, 195, 200: privat. S. 208, 215: Stadtarchiv Wesel O1/8-13-1 – S. 209: Elena Ivashchenko – S. 210,212: Sonja Abelson. S. 216: Umzeichnung des Siegels aus der Beilage zu: Peter Theodor Anton Gantesweiler, Chronik der Stadt Wesel, Wesel 1881 (Nachdruck 1972) – S. 218: Christine Hoppe, Die großen Flussverlagerungen des Niederrheins in den letzten 2000 Jahren und ihre Auswirkungen auf Lage und Entwicklung der Siedlungen (Forschungen zur deutschen Landeskunde Bd. 189), Bad Godesberg 1970, Abb. 15 – S. 220, 221: Stadtarchiv Wesel K 2/2135.

Historische Vereinigung Wesel e.V. Geschäftsführung: Werner Köhler 46483 Wesel, Stralsunder Str. 12 Tel.: 0281/300 95 15 www-historische-vereinigung-wesel.de ISBN: 978-3-929605-38-9