Schriftenreihe | Bibliothek am Guisanplatz 65 Beiträge zumVerhältnis Militär zwischen undSchule Pulverdampf undKreidestaub Lukas Boser, Bühler, Patrick Michèle Hofmann, in derSchweiz im 19.und20.Jahrhundert Philippe Müller (Hg.)

 Herausgeber Bibliothek am Guisanplatz (BiG), Philippe Müller Redaktion Lukas Boser, Patrick Bühler, Michèle Hofmann, Philippe Müller Premedia Zentrum elektronische Medien, ZEM (80.112) Copyright Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz (alle Rechte vorbehalten), 2016 Vertrieb BBL, Verkauf Bundespublikationen, CH-3003 Bern www.bundespublikationen.admin.ch, Art.-Nr. 500.165.d ISBN 978-3-906969-77-0 ISSN 2296-4630

12.16 500 860391459 

Pulverdampf und Kreidestaub

Beiträge zum Verhältnis zwischen Militär und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert

Lukas Boser, Patrick Bühler, Michèle Hofmann, Philippe Müller (Hg.)



Geleitwort Es wäre wohl etwas vermessen, die Bibliothek am Guisanplatz als Schmelztiegel zwischen Militär und Schule zu bezeichnen. Allerdings kann sehr wohl von ei- ner Metamorphose vom Militärischen zur Wissensvermittlung gesprochen wer- den. Immerhin gehörte die Bibliothek als ehemaliges Eidgenössisches Kriegsdepot und späteres Zeughaus zur grossen Militäranlage, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende an der Papiermühlestrasse errichtet wurde. Damals standen diese repräsentativen Gebäude auch für eine Demonstration des Wehrwillens der kleinen Schweiz gegenüber den grossen Staaten in Mitteleuropa. Damals wie heute war und ist Wissen Macht. Der Wis- sensvermittlung und dem Wissenstransfer sollte also eine entscheidende Bedeu- tung beigemessen werden. In diesem Zusammenhang ergibt es Sinn, eine Fachtagung zum Wissenstransfer zwischen Militär und Schule innerhalb der Ar- meebauten Berns und insbesondere an der Bibliothek am Guisanplatz abzuhal- ten, und ich fühle mich geehrt, dass der Austausch zustande kam. Die Tagung selbst war und ist eine Erfolgsgeschichte. Eine mit einer über anderthalbjährigen Vorbereitungszeit und einer beinahe ebenso langen unmit- telbaren Nachwirkung. Eine Erfolgsgeschichte vor allem, weil in einer institutio- nenübergreifenden Partnerschaft eine gemeinsame Plattform errichtet werden konnte. Für mich steht die Fachtagung «Pulverdampf und Kreidestaub» nicht nur für den Austausch unter Bildungswissenschaftler/innen und Militärhistori- ker/innen, sondern präsentierte sich auch als Türöffner zur Bundesverwaltung. Ich wünsche mir, dass sich die Wirkung der Partnerschaft auch in der Zukunft für alle Beteiligten als nachhaltig erweisen wird. Michèle Hofmann, Patrick Bühler, Lukas Boser und ich trafen uns zum ersten Mal im April 2014. Damals schwebte erst eine vage Idee zu einer Tagung über die Wechselbeziehungen zwischen Militär und Schule in der Luft; ein Wissen- stransfer zwischen beiden Institutionen wurde vermutet. Das erste Treffen war symptomatisch, tasteten wir uns doch zuerst ab. Vonseiten der Bildungswissen- schaftler fühlte sich der Besuch in der Bibliothek am Guisanplatz wohl wie eine Erkundungstour in eher unbekanntes Gelände an. Ich meinerseits sass einer interessanten, allerdings bis anhin eher unbekannten Klientel gegenüber. Bereits beim ersten Zusammensitzen – so empfand ich es zumindest – stellte sich aber Erleichterung ein, wurde doch ein gemeinsames Ziel schnell gefunden. Die von beiden Seiten eingebrachten Angebote liessen eine gute Zusammenarbeit erwar- ten. Ich empfand, dass die Bibliothek am Guisanplatz schnell als gleichwertige Partnerin wahrgenommen wurde. Bis zur tatsächlichen Tagung im Oktober 2015 sassen wir mehrmals zusammen, wälzten Ideen, ersannen Konzepte und Struk-

5 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

turen – und verwarfen diese wieder – , Referentinnen und Referenten wurden angefragt, das Rahmenprogramm um den Austausch herum wurde organisiert. Viele Dinge, die mit einem solchen Anlass einhergehen, mussten berücksichtigt werden; Arbeiten, die neben dem Tagesgeschäft liefen. Für mich persönlich war das Ganze eine neue Erfahrung und «Pulverdampf und Kreidestaub» somit die erste Fachtagung, die die Bibliothek am Guisanplatz mitorganisieren durfte. Und es gelang uns, eine illustre Gruppe in der Kaserne Bern zu versammeln. Die Ergebnisse der Tagung erscheinen nun im Rahmen der Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz. Auch dies ist Teil der Dienstleistungen, welche die Bibliothek anbieten möchte. Natürlich ergeben sich mit einer solchen Partner- schaft viele Vorteile und Möglichkeiten. Gerne möchte ich diejenigen für die Bibliothek am Guisanplatz herausstreichen. Die Beteiligung an der Organisation und Austragung einer solchen interdisziplinären Fachtagung hilft, die Vernet- zung mit Universitäten und Fachhochschulen voranzutreiben. Die Mitarbeiten- den aus den wissenschaftlichen Institutionen gehören zu den wichtigsten Ziel- gruppen der Bibliothek am Guisanplatz. Als Mitorganisatorin und Austragungs- ort kann sich die Bibliothek verstärkt auch als Plattform für den wissenschaftlichen und interdisziplinären Austausch positionieren. An Anlässen wie Fachtagungen ergibt sich die Möglichkeit der Werbung bei Wissenschaft und Öffentlichkeit. Speziell auf die bibliotheksinternen Dienstleistungen, wie die Literaturausleihe, die Rechercheunterstützung und Beratung, kann gezielt hingewiesen werden. Aber auch das reichhaltige weitere Angebot, wie die Möglichkeit, Räume für Sitzungen zu mieten, und die Unterstützung von Buchprojekten, gelangt an die Interessentinnen und Interessenten. Für die Partnerinnen und Partner stellt sich die Bibliothek nicht zuletzt als Zugang – als «Türöffner» – zur manchmal intrans- parent und verschlossen erscheinenden Bundesverwaltung zur Verfügung. Mit einem Tagungsband erfährt im Speziellen die Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz nochmals eine Aufwertung als wissenschaftliche Fachpublikati- on. Die Bedeutung der wissenschaftlichen Standards wird hervorgehoben. Neben den vielfältigen anderen Fachpublikationen gewinnt die Schriftenreihe an Kontur und Position. Zudem steigt der Bekanntheitsgrad bei einem noch breiteren Pu- blikum. Ich danke den vielen namhaften Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, die den Tagungsband vielseitig und lesenswert machen. Speziell und von ganzem Herzen gebührt mein Dank Michèle Hofmann, Patrick Bühler und Lukas Boser. Sie kamen auf die Bibliothek am Guisanplatz zu und liessen mich an der Orga- nisation und Austragung der Fachtagung wie auch bei der Realisierung des Ta- gungsbandes teilhaben. Darüber hinaus nahm ich alle drei als sehr aufgeschlos-

6 

sene und interessierte Gesprächspartner wahr. Unsere zahlreichen Treffen waren stets angenehm und aufschlussreich. Nicht unerwähnt bleiben soll auch Micha- el Ruloff, der Michèle Hofmann, Patrick Bühler und Lukas Boser auf die Bibliothek am Guisanplatz aufmerksam machte. Vonseiten der Bibliothek am Guisanplatz erhielt ich das Vertrauen von Jürg Stüssi-Lauterburg, im Interesse der Bibliothek die Tagung mit zu organisieren, Nathalie Froidevaux hat mich dabei dankenswer- terweise unterstützt. Nun bleibt mir, dem Werk viele interessierte Leserinnen und Leser zu wün- schen. Ich bin überzeugt, dass die verschiedenartigen Themen aus den beteiligten Fachbereichen und Sachgebieten neue Erkenntnisse und anregende Denkanstö- sse liefern.

Philippe Müller, lic. phil. Chef Forschungsdienst, Spezialsammlungen Bibliothek am Guisanplatz Herausgeber der Schriftenreihe

7

Inhalt

1 Einleitung Lukas Boser, Patrick Bühler, Michèle Hofmann und Philippe Müller 15 2 Carl von Clausewitz und die moderne Militärgeschichte Wissenstransfer zwischen Ausbildung und Bildung Stig Förster 37 3 Militär im Klassenzimmer Verbindungen zwischen Schule und Armee in der Schweiz um 1800 Michael Ruloff 55 4 Physische Bildung als Nationalerziehung Die Turnbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Rebekka Horlacher 79 5 «Grundsätzlich ist auf diese Weise das ganze männliche Geschlecht von der Jugend bis zum Alter in steter Beziehung zum Kriege» Militär-, Staats- und Geschlechterkonzeptionen bei Friedrich Beust und Emil Rothpletz Rudolf Jaun 103 6 Corps de cadets, bataillons scolaires et petits soldats Un exemple de transfert éducationnel dans l’espace européen Alexandre Fontaine 119

9 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

7 Militärkarrieren von «Bildungs­experten» zwischen 1875 und 1914 Lukas Boser 143 8 «Frauen und Mütter sind gleichsam die zweite Armee unseres Landes» Hauswirtschaft im Dienst der Sicherheitspolitik der Schweiz (1895 – 1945) Claudia Crotti 167 9 Waffen im Kampf gegen Krankheiten Transfer medizinischen Wissens zwischen Militär und Schule um 1900 Michèle Hofmann 193 10 Wissenstransfer zwischen Armee und Schule? Schwache Soldaten und schwache Schüler um 1900 Patrick Bühler 223 11 Reflexion und Kritik des Ersten Weltkriegs in der Zürcher Schulsynode­ und den Schulkapiteln Die Dynamik der Krisenwahrnehmung und der Wandel der individual­ pädagogischen Perspektive Andreas Hoffmann-Ocon 251

12 Die Pädagogisierung des Krieges um 1914 – 1918 Wissenszirkulation am Beispiel deutsch- und italienischsprachiger Intellektueller Norbert Grube und Andrea De Vincenti 283

10 

13 Der Grosse Krieg als Zäsur? Die Erwartungen schweizerischer Offiziere an das Schulwesen nach dem Ersten Weltkrieg Michael Olsansky 319 14 Erosion einer Erzählung Militär und Gesellschaft in der Jugendpublizistik nach 1945 Michael Geiss 339 15 Programmierte Instruktion – gesteuertes Verhalten? Die Auseinandersetzungen um die Ausbildung der Schweizer Armee und die Anthropologie des Soldaten nach 1945 Eneia Dragomir 365 16 Die Pädagogisierung des Kalten Krieges Militärische Interessen an Schulreformen nach Sputnik Daniel Tröhler 391

11

1Einleitung

1. Einleitung

Lukas Boser, Patrick Bühler, Michèle Hofmann und Philippe Müller

1. Einleitung

Auf einer Schweizer Webseite, die sich dem Turn- und Sportunterricht verschrie- ben hat, heisst es über das bekannte Spiel Völkerball: «[ … ] ein beliebtes Spiel, wel- ches aus Tradition und aufgrund der einfachen Organisation oft gespielt wird. Die Spielidee, den Gegner abzuschiessen, wird aus pädagogischer Sicht oft kritisiert. Auch hat keines der grossen Sportspiele eine ähnliche Spielidee. Trotzdem oder gerade deshalb lebt das Spiel von einer sehr grossen Spannung.»1 Beim Völker- ball stehen sich zwei Teams, die sogenannten Völker, auf einem Spielfeld gegen- über und versuchen, sich gegenseitig mit Bällen «abzuschiessen». Wer von einem Ball getroffen wird, muss das Feld verlassen und sich in den «Himmel» begeben. Gewonnen hat dasjenige Volk, dem es gelingt, das andere vollständig in den Him- mel zu schicken – man könnte auch sagen, es auf Erden auszurotten. In einer ver- breiteten Variante des Spiels führt es auch zum Sieg, wenn es gelingt, den König oder die Königin des anderen Teams «abzuschiessen». Das Spiel in allen seinen Varianten ist sehr beliebt, in ihm «regt sich», wie der deutsche «Turnvater» Fried- rich Ludwig Jahn (1778 – 1852) und sein Schüler Ernst Eiselen (1793 – 1846) bereits 1816 festhielten, wie in «jedem echten Turnspiel[,] [ … ] eine Welt», in ihm «lebt ein geselliger[,] freudiger[,] lebensfrischer Wettkampf».2 Doch Völkerball ist nicht nur sehr populär, es ist auch sehr «kriegerisch». Gerade das, was Jahn und Eise- len an diesem Spiel lobten – der Wettkampf, eine Welt, die auch Gewalt, Krieg, Kampf und Vernichtung beinhaltet – , wird heute «aus pädagogischer Sicht» kri- tisiert.3 Zwar wird auf diese Kritik im oben zitierten Eintrag nicht näher eingegan- gen, man kann sich jedoch leicht vorstellen, worauf sich diese beziehen könnte. Sich gegenseitig «abzuschiessen», so scheint es, verträgt sich heute vordergrün-

1 http://www.sportunterricht.ch/lektion/spielen/spielen6.php (abgerufen am 8.7.2016). 2 Jahn/Eiselen 1816, S. 169. 3 Zu dieser Thematik vgl. bspw. Sablonier/Würth 2009.

15 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

dig schlecht mit den Bildungszielen, die Kinder zu «eigenständigen»,4 «mündigen»5 und «verantwortungsvollen»6 Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen.7 Bildung und Krieg respektive die beiden entsprechenden gesellschaftlichen Institutionen – Schule und Militär – stehen, so lässt das Beispiel des Völkerballs vermuten, in einem gewissen (Spannungs-)Verhältnis. Im historischen Rückblick ist die Existenz dieses Verhältnisses zwischen Militär und Schule respektive das «Beziehungsgefüge» dieser beiden Institutionen,8 wie der deutsche Bildungshis- toriker Heinz Stübig es nennt, relativ einfach zu belegen. Wie die im folgenden Abschnitt dargelegten Beispiele – und darüber hinaus alle Beiträge in diesem Sammelband – zeigen, sind die Beziehungen zwischen Militär und Schule viel- fältig. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Geschichtswissenschaft – nicht nur, aber insbesondere im deutschsprachigen Raum – mit diesen kaum je be- schäftigt hat.9

1. Schule und Militär: Mehr als ein blosses Nebeneinander Schule und Militär standen und stehen in vielfältiger Beziehung zueinander. Blickt man zurück in die Schweizer Geschichte, dann fallen beispielsweise Par- allelen in der Entwicklung von Wehrpflicht und Schulpflicht auf, die einer genau- eren Betrachtung wert sind. Sowohl die Wehrpflicht als auch die Schulpflicht wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts zuerst in verschiedenen Kantonen fest- geschrieben und dann in der Bundesverfassung verankert.10 Wie in vielen Län- dern, wurden auch in der Schweiz die Vorgaben zu Militärdienst und Schulbesuch erst allmählich verwirklicht.11 Erst in der Folge der Verfassungsrevision von 1874 wurde sichergestellt, dass sowohl das Schulobligatorium als auch die Militärpflicht tatsächlich umgesetzt wurden. Mit dem Militärgesetz – der sogenannten Militär- organisation – wurde die allgemeine Wehrpflicht «nun unter Bundesaufsicht durchgesetzt und erfasste eine zunehmende Zahl von Männern»: «Bis zum Ers-

4 Vgl. z. B. Erziehungsdepartement Basel-Stadt 2016, S. 18. 5 Vgl. z. B. Erziehungsdirektion Bern 1995, Leitideen 1. 6 Vgl. z. B. Erziehungsdepartement Basel-Stadt 2016, S. 18; Bildungsdirektion Zürich 2010, S. 3. 7 Formulierungen wie diese finden sich in unzähligen Lehrplänen und anderen Texten, die Bildungsziele vorgeben respektive beschreiben. Die hier zitierten Lehrpläne der Kantone Bern, Basel-Stadt und Zürich bilden nur einen winzig kleinen Teil der Quellen ab, die in diesem Zusammenhang zitiert werden könnten. Auch könnte der Katalog an Bildungszielen deutlich erweitert werden, Eigenständigkeit, Mündigkeit und Verantwortungsgefühl sind ebenfalls nur ausgewählte, hier zur Illustration angeführte Beispiele. 8 Stübig 2015, S. 7. 9 Dass die Erforschung des «Beziehungsgefüges» von Schule und Militär auf der Agenda der internationalen scientific community keine grosse Priorität hat, zeigt beispielsweise das Programm der ISCHE-Konferenz in London 2014 (vgl. ISCHE 2014; McCulloch/Brewis 2016). 10 Die Wehrpflicht wurde 1848 in Artikel 18 der Bundesverfassung festgelegt, die Schulpflicht 1874 in Artikel 27. 11 Vgl. Fuhrer 1999; Criblez/Huber 2008.

16 1. Einleitung

ten Weltkrieg stieg der Anteil der wehrpflichtigen Männer, die Militärdienst leis- teten, auf über 60%; vor 1874 lag der Anteil klar unter 40%.»12 Was über die Militärpflicht gesagt werden kann, trifft auch auf die Schulpflicht zu: «Die Wehr- pflicht setzte sich in den meisten europäischen Nationen im Verlauf des 19. Jahr- hunderts zwar durch, [ … ] diese gesetzgeberische Einführung der Wehrpflicht [verdeckte jedoch] häufig die starken Unterschiede in der praktischen Durchsetzung.»13 Nur handelt es sich gewissermassen um «umgekehrte» Ver- hältnisse. Denn während in vielen Ländern «die bürgerlich-liberalen Träger- schichten der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung von der Wehrpflicht befreit wurden» und somit nicht ins Militär eintraten,14 waren es in Bezug auf die Schule gerade die ärmeren Kinder, die oftmals nicht dorthin geschickt wur- den, weil sie zu Hause oder in einer Fabrik arbeiten mussten.15 In seiner Unter- suchung der Erwerbstätigkeit der Schulkinder im Kanton St. Gallen, die er im Auftrag des Polizei- und Militärdepartements durchführte, kam etwa Paul Gross 1910 zum Schluss, dass «beinahe ein Drittel» der Kinder und Jugendlichen ar- beitete.16 Wie in der Forschung einhellig hervorgehoben wird, ging die Durch- setzung der Schulpflicht einher mit neu auftretenden Problemen wie Schulversagen, Drop-out und Absentismus.17 Erst eine gesetzlich verordnete und durchgesetzte Schulpflicht liess nämlich Schulabsenzen, vorzeitigen Schulab- gang sowie wenig begabte und kranke Kinder überhaupt zu «Störfaktor[en] des Volksschulunterrichts» werden.18 So wurden «die ersten Studien zum Thema Schuleschwänzen» auch erst am Ende des 19. Jahrhunderts publiziert.19 Militär- und Schulwesen weisen jedoch nicht nur starke Parallelen auf, weil beide als staatliche Anstalten galten oder die Durchsetzung der Wehr- und Schul- pflicht sich zur selben Zeit vollzog, sondern es existierten auch enge Verbindun- gen zwischen diesen beiden Bereichen der gesellschaftlichen Organisation. Beiderseits wurde festgestellt, dass man voneinander viel gewinnen könne: «Die grössten Namen dieser und aller im Kriege einst berühmten Völker fallen aber immer erst in die Zeiten einer höheren Bildung»,20 schrieb Carl von Clausewitz (1780 – 1831)21 in seinem bekannten Werk Vom Kriege. Und die Schule profitierte

12 Jaun 1997, S. 69. 13 Hartmann 2011, S. 27. 14 Ebd., S. 30. 15 Vgl. z. B. Bauder/Crotti 2009. 16 Gross 1910, S. 5. 17 Vgl. Cohen 1999, S. 242f. 18 Ruchat 1999, S. 274. 19 Dunkake 2007, S. 19. 20 Clausewitz 2002, S. 63. 21 Zu Clausewitz und seinem Hauptwerk Vom Kriege siehe den Beitrag von Förster in diesem Band.

17 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

vom Militär: «Die Schule wird nicht darunter leiden, wenn hie und da ein Lehrer zum Offizier aufsteigt; im Gegenteil wird der Geist eines geschulten Militärs in erfolgreichster Weise auf die Jugend übertragen werden»,22 war 1889 im Aargau- er Schulblatt zu lesen. Manchmal überlagerten sich die beiden Institutionen auch, respektive sie kamen in einer Person oder in einem Institut zusammen.23 Dies war nicht zuletzt deshalb der Fall, weil die beiden Institutionen lange Zeit ein gemeinsames Bildungsziel verband: der Bürger-Soldat (soldat-citoyen).24 Wie in anderen Ländern wurden auch in der Schweiz vom Ende des 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorrangig die beiden Institutionen Schule und Militär für die Bildung der Staatsbürger verantwortlich gemacht.25 Bekannte Beispiele für die enge Verbindung, die in dieser Hinsicht zwischen Schule und Militär bestand, sind der Turnunterricht26 und die pädagogischen Rekrutenprüfungen.27 In Arti- kel 81 hielt die Militärorganisation von 1874 fest, «dass die männliche Jugend vom 10. Altersjahr bis zum Austritt aus der Primarschule [ … ] durch einen angemes- senen Turnunterricht auf den Militärdienst vorbereitet werde».28 Während im Schulturnen für die Rekrutenschule gelernt und geübt wurde, überprüfte die Armee gewissermassen im Gegenzug ab 1875 den «Bildungsstand» der männli- chen Schulabgänger in Lesen, Aufsatz, Rechnen und Vaterlandskunde (Geogra- fie, Geschichte und Verfassung) «durch pädagogische Experten, welche von dem Militärdepartement bezeichnet werden»,29 und zwang Rekruten mit schlechten Prüfungsresultaten zum Nachsitzen: «Wer in mehr als einem Fache die Note 4 hat,30 ist während der Rekrutenzeit zum Besuche der Nachschule (im Schreiben, Lesen und Rechnen) verpflichtet.»31 Am fin de sièclewurden in pädagogischen Zeitschriften sowohl die Schulan- fänger als auch die Schulanfängerinnen gerne als «Schulrekruten» bezeichnet.32 Der Vergleich war tatsächlich mehr als eine blosse Redensart, denn zwischen

22 V.B. 1889, S. 144. 23 Vgl. dazu bspw. den Aufsatz von Heinz Stübig zum Wirken von Franz Karl Schleicher (1756 – 1815) (Stübig 2015, S. 107 – 127); zu dieser Thematik siehe auch den Beitrag von Ruloff in diesem Band. 24 Vgl. Jaun 1999 (insbesondere S. 89 – 114); Rieder 2009. 25 Haltiner 1989, S. 11; vgl. auch Frevert 1997; Lengwiler 1995; Rychner/Däniker 1995; Streit 2006, S. 87 – 98. Zum Thema «nationale Erziehung» siehe den Beitrag von Hoffmann-Ocon in diesem Band. 26 Zum Turnunterricht respektive zur physischen Erziehung siehe den Beitrag von Horlacher in diesem Band. 27 Vgl. z. B. Crotti 2008; Eichenberger [1998]; Giuliani 2001; Späni 1997. 28 Militärorganisation 1874, S. 445. 29 Zu diesem Thema siehe den Beitrag von Boser in diesem Band; Lustenberger 1996. 30 Die Notenskala der ersten pädagogischen Rekrutenprüfungen reichte von 1 bis 4, wobei 1 die Bestnote war und eine «befriedigende» Leistung auszeichnete, während 4 die tiefste Note darstellte und eine «werthlose» Leistung bezeichnete (Regulativ 1875, S. 102f.). 31 Ebd., S. 101, 103. 32 Vgl. z. B. Müller 1900, S. 19, 22f.; o.A. 1906, S. 104. Für weitere Beispiele dieser verbreiteten schulisch-sol- datischen Rhetorik vgl. Bühler 2016; Hofmann 2016, S. 120.

18 1. Einleitung

1897 und 1914 wurden jährlich die «Zählung[en] der schwachsinnigen Kinder im schulpflichtigen Alter mit Einschluss der körperlich gebrechlichen und sittlich verwahrlosten» durchgeführt.33 Ähnlich wie die Rekruten, bei denen neben dem Bildungsstand auch die körperliche und geistige Gesundheit anlässlich der Musterung von Fachmännern geprüft wurde, wurden die neu in die Schule eintretenden Kinder von Ärzten untersucht.34 Nicht nur über die Formen dieser Prüfungen, sondern auch über das daran beteiligte Personal lässt sich aufzeigen, dass das Militär auf das Wissen von Medizinern und Bildungsfachleuten zurück- griff. Die Zirkulation von Wissen zwischen Militär und Schule lässt sich ausser- dem etwa an den Kadettenkorps,35 an der Pfadfinderbewegung oder in Schulbü- chern studieren. In den Schweizer Rechenbüchern wird zum Beispiel seit Anfang des 19. Jahrhunderts mit Kanonen, Bomben, Truppenstärken usw. gerechnet.36 Wissenstransfers zwischen Militär und Schule lassen sich auch ganz buchstäblich an gewissen Personen beobachten.37 Der Zuger Arzt und Militärarzt Josef Hür- limann (1851 – 1911) etwa leitete am Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Anstalten für Kinder und Jugendliche, war Erziehungsrat, engagierte sich für Schulhygiene und publizierte sowohl über die Ergebnisse der Sanitarischen Rekru- ten-Musterung oder über die Schlacht am Morgarten: Mit Berücksichtigung der Landestopographie zur Schlachtzeit als auch über Gesundheitspflege an unsern Volksschulen.38 Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel ist der französische Medi- ziner Paul Godin (1859 – 1935), der über Körpererziehung in Familie und Schule promovierte39 und zu Schule und Hygiene sowohl als Militärarzt als auch als Chefarzt einer militärischen Abteilung eines Spitals 1903 seine Recherches anth- ropométriques sur les croissances des diverses parties du corps bei Jugendlichen pub- lizierte.40 Ab 1912 unterrichtete Godin in Genf am gerade gegründeten Institut Jean-Jacques Rousseau, in dessen Reihe 1913 sein Buch La croissance pendant l’âge scolaire: Applications éducatives erschien.41 Godins Chef, der Direktor des Instituts, Pierre Bovet (1878 – 1965), veröffentlichte übrigens 1935Les examens de recrues dans l’armée suisse 1854 – 1913.42

33 Vgl. o.A. 1897/1900. Zur Geschichte der «Zählung» vgl. Ruchat 2003, S. 63 – 80; Wolfisberg 2002, S. 75 – 83. 34 Siehe dazu die Beiträge von Bühler und von Hofmann in diesem Band. 35 Zu den Kadettenkorps siehe den Beitrag von Fontaine in diesem Band. 36 Vgl. Boser 2013, S. 135f., 163f., 185 – 191, 199 – 202, 246 – 249. 37 Siehe dazu die Beiträge von Jaun und von Olsansky in diesem Band. 38 Vgl. Hürlimann 1880; Hürlimann 1887; Hürlimann 1911. 39 Vgl. Godin 1881. 40 Vgl. Godin 1903. 41 Vgl. Godin 1913. 42 Vgl. Bovet 1935.

19 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Schliesslich gilt es, auch verschiedene Formen des Sich-Ergänzens von Schu- le und Militär in den Blick zu nehmen. Das Militär bot mehr als eine blosse Ausbildung zum Soldaten oder Offizier im Hinblick auf einen allfälligen Kriegseinsatz,43 es wurde auch als Bildungsinstitution für das zivile Leben ver- standen, in dem Disziplin, Kameradschaft, Durchhaltewillen gelernt werden konnten.44 Darüber hinaus war das Militär Ausbildungsort für verschiedene Berufslehren und Arbeitgeber für viele junge Männer auch in Friedenszeiten. Und es darf schliesslich nicht vergessen werden, dass sich das Verhältnis von Schule und Militär nicht auf die männliche Bevölkerung beschränkte. Im Zusam- menhang mit der Erziehung des Bürgers wurde auch die Frage thematisiert, wie die Bürgerin zu erziehen sei. Zwar kam der Bürgersoldat für die Frauen als Bil- dungsziel nicht infrage, allerdings wurde in der Kombination der Rollen der Hausfrau und Mutter durchaus ein weibliches Pendant zum soldat-citoyen gefun- den, dem wehrhaften Soldaten wurde die tüchtige Hausmutter zur Seite gestellt.45

2. Schul- und Militärgeschichte: Neue Themen, neue Herausforderungen In der Schweiz haben sowohl die Militärgeschichte als auch die Schul- und Bil- dungsgeschichte eine lange Tradition. Die historischen Umwälzungen im spä- ten 18. und frühen 19. Jahrhundert waren nicht zuletzt der Ausgangspunkt für eine Geschichtsschreibung, die sich verstärkt auf das Militär konzentrierte. Es waren Dienende des Ancien Régime, die – wie es damals Mode war – die Strate- gien und Taktiken höherrangiger Offiziere und Schlachten analysierten. Zu den Solddienst- und Milizoffizieren, welche die Militärgeschichte der Schweiz ent- scheidend prägten, gehörten Beat Fidel Anton Zurlauben (1720 – 1799), Beat Em- manuel May (1734 – 1802), Victor Emmanuel Thellung (1760 – 1842), Bernhard Emanuel von Rodt (1776 – 1848), Johannes Wieland (1791 – 1832) und Karl von Elgger (1832 – 1901). In derselben Zeit lebten und wirkten für die Pädagogik be- deutende Männer, deren pädagogische Ideen und pädagogisches Handeln über viele Jahrzehnte hinweg den Gegenstand der historischen Bildungsforschung be- stimmen sollten. Die Auseinandersetzung mit «grossen» Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827), Philipp Albert Stapfer (1766 – 1840) oder Phi- lipp Emanuel von Fellenberg (1771 – 1844) dominierte lange Zeit den schweizeri- schen historisch-pädagogischen Kanon.

43 Zur Ausbildung, die auf neuste pädagogische, psychologische Entwicklungen zurückgriff, siehe den Beitrag von Dragomir in diesem Band. 44 Siehe dazu den Beitrag von Geiss in diesem Band. 45 Siehe dazu den Beitrag von Crotti in diesem Band.

20 1. Einleitung

Heute werden sowohl in der Militärgeschichte als auch in der Bildungsge- schichte neue Forschungsfragen gestellt. Kultur- und sozialhistorische Interessen treten mehr und mehr in den Vordergrund.46 Die «grossen» Männer und ihre Taten sind zwar nicht gänzlich aus dem Blickfeld der Forschenden geraten, aber auch sie werden heute vermehrt unter einem kultur- und sozialhistorischen Fokus betrachtet. Moderne Militärgeschichte versteht sich als Teil der Gesellschaftsge- schichte. Das heisst beispielsweise, dass Krieg in seinen politischen und letzten Endes gesellschaftlichen Zusammenhängen zu untersuchen und zu verstehen ist. Moderne Militärgeschichte habe diese Auffassung, so Stig Förster, spätestens seit den 1960er-Jahren übernommen. Die «alte» Militärgeschichte (die es noch gebe) sei heute nicht mehr als ein «Antiquitätensammeln». Ähnlich steht es um die historische Schul- und Bildungsgeschichte, die Bildungsbestrebungen ver- mehrt im Zusammenhang mit ihren jeweiligen kulturellen und politischen Kontexten untersucht.

3. Wissenstransfer Weniger noch, als dass das Verhältnis von Militär und Schule historisch unter- sucht worden ist, wurde dieses theoretisch zu fassen versucht. Um die Diskussi- on auch auf dieser Ebene anzustossen, haben wir uns zunächst auf die Theorie des Wissenstransfers gestützt und die Autorinnen und Autoren gebeten, ihre Bei- träge – explizit oder implizit – vor dem Hintergrund dieser Theorie zu entwi- ckeln. Dabei ging es nicht primär darum, Beispiele für eine forschungspraktische Anwendung der Theorie des Wissenstransfers zu generieren, sondern es war uns wichtig, einen gemeinsam Rahmen zu schaffen und eine offene Diskussion da- rüber zu provozieren, welche theoretischen Ansätze sich dazu eignen, neue his- torische Erkenntnisse zum Verhältnis von Schule und Militär zu gewinnen. «Unter dem Stichwort ‹Wissenstransfer› wird heute meist der Transfer zwi- schen Universitäten und Wirtschaft oder zwischen Experten und Nicht-Experten behandelt.»47 Mit diesen Worten wird in einem aktuellen historischen Nachschla- gewerk die geläufigste Verwendung des Begriffs «Wissenstransfer» beschrieben. Wissenstransfer ist demnach immer zielgerichtet und asymmetrisch. Wissen wird von A (wo ein bestimmtes Wissen vorhanden ist) nach B (wo dieses Wissen fehlt) transferiert, wobei es sich bei A und B um einzelne Personen, Personen- gruppen, Institutionen (z. B. Universitäten) oder gar Orte (z. B. Nationen) handeln kann. Der Eintrag verweist weiter auf den Historiker Mitchell Ash, der drei For-

46 Siehe dazu den Beitrag von Förster in diesem Band. 47 Lipphardt/Ludwig 2011, o. S.

21 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

men von Transfer von Wissen benennt, mit denen stets auch ein Wandel dieses Wissens einhergehe.48 Dabei handelt es sich um einen Transfer von Wissen durch Migration von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, um einen Transfer von Wissen vermittelt durch Gegenstände wie Bücher oder sonstige Medien und um einen Transfer von Wissen durch Instrumente «und das für sie notwendige Anwendungswissen».49 Mit diesen Beschreibungen sei jedoch, so die Verfassers des Eintrags, Veronika Lipphardt und David Ludwig, das Konzept des Wissen- stransfers für die Geschichtswissenschaft nicht abschliessend zu erfassen: «Aus historischer Perspektive geht es freilich um viel mehr: nämlich um Transferpro- zesse unterschiedlichen Ausmasses und unterschiedlicher Art, zwischen ganz verschiedenen Ebenen, Gruppen, Gesellschaftsbereichen, und zwar nicht nur rund um den Globus, sondern auch innerhalb von Nationen, Regionen oder an einem eng umgrenzten Ort. So kann man etwa, um im privaten Alltag anzusetzen, schon die familiäre Erziehung, die Weitergabe von Alltagswissen über Gesell- schaft und Umwelt von einer Generation zur nächsten, als Wissenstransfer be- greifen. Sämtliche Bildungs- und Ausbildungssysteme lassen sich als Institutio- nen des Wissenstransfers verstehen. Wissen wird zwischen verschiedenen Be- rufs- und Expertengruppen transferiert [ … ] wie auch zwischen sozialen Schichten, etwa in Bildungsprogrammen für die unteren sozialen Schichten.»50 Die Ge- schichte des Wissenstransfers zwischen den beiden für die Schweiz zentralen sozialen Systemen Militär und Schule (und die damit einhergehenden Transfor- mationen von Wissen) sind bislang noch wenig erforscht worden.51 Den mögli- chen grossen Ertrag eines solchen Ansatzes hat Martin Lengwilers Studie zu Armee und Psychiatrie vor Augen geführt.52 Im Verlauf der Diskussionen, die zu den in diesem Band versammelten Bei- trägen stattfanden, stellte sich jedoch heraus, dass das Konzept des Wissenstrans- fers (mit wenigen Ausnahmen) nur bedingt hilfreich ist, um das Verhältnis zwischen Schule und Militär zu theoretisieren. Es stellte sich insbesondere die Frage, ob es sich bei Schule und Militär um zwei voneinander unabhängige ge- sellschaftliche Systeme handelt, zwischen denen Wissen transferiert wird/werden kann. Rudolf Jaun wies darauf hin, dass in der Schweiz das Militär in weiten Teilen eine zivile Basis habe (Milizarmee), was auch bedeute, dass in der Schweiz Militär und Zivilleben (d. h. auch das Bildungssystem) grundsätzlich miteinander

48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Zur Wissensgeschichte vgl. programmatisch Sarasin 2011. Für eine Übersicht vgl. Speich Chassé/Gugerli 2012. 52 Vgl. Lengwiler 2000.

22 1. Einleitung

verflochten seien respektive nicht als voneinander getrennte gesellschaftliche Systeme verstanden werden könnten. Wenn dem so ist, dann ergibt das Konzept des Wissenstransfers tatsächlich nur wenig Sinn, und es wäre vermutlich weitaus angebrachter und zielführender, von Wissenszirkulation oder von Wissensfluss – wobei Schule und Militär als Medien dieses Wissensflusses zu verstehen wären – zu sprechen.53 Daniel Tröhler schlägt in seinem Beitrag in diesem Band einen weiteren theo- retischen Ansatz vor, mit dem man das Verhältnis zwischen Militär und Schule nicht nur analysieren, sondern auch die Nichtbeachtung, die dieses Verhältnis bisher insbesondere vonseiten der Erziehungswissenschaft erfahren hat, besser verstehen kann. Seine These besagt, dass die Pädagogik – also jene wissenschaft- liche wie auch praktische Disziplin, die auch die Schule umfasst – im Zusammen- hang mit einer christlichen Liebesethik eine Sprache ausgebildet habe, in der über das – historisch verbürgte – «Beziehungsgefüge zwischen bewaffneter Macht und [ … ] Erziehungs- und Bildungsvorstellungen» nicht gesprochen werden könne.54 Oder, um diesen Sachverhalt in einer diskursanalytischen Terminologie zu for- mulieren: Es scheint, dass im gegenwärtigen pädagogischen Diskurs die Verbin- dung zu Militär und Krieg jenseits der Grenzen des Sagbaren liegt.55 Als Fazit dieser Überlegungen zum Verhältnis zwischen Schule und Militär ist festzustellen, dass dieses sowohl für die Bildungs- als auch für die Militärge- schichte von Bedeutung ist. Die in diesem Band explizit diskutierten oder auch nur implizit angenommenen theoretischen Konzepte sollen es ermöglichen, Bekanntes mit bisher Unbeachtetem in Zusammenhang zu bringen, neue Fragen zu stellen und die Verbindung zwischen Schule und Militär anders zu interpre- tieren und zu verstehen, als dies bislang geschehen ist – sofern es überhaupt geschah.

4. Zu den einzelnen Beiträgen

19. Jahrhundert Der erste Beitrag dieses Bandes, mit dem Titel Carl von Clausewitz und die moder- ne Militärgeschichte, stammt von Stig Förster (Universität Bern). Bereits Clause- witz, so Förster, hatte erkannt, dass Krieg ohne Politik nicht zu denken, ja der

53 So fragt etwa der Beitrag von Grube/De Vincenti in diesem Band nach der Wissenszirkulation unter deutsch- und italienischsprachigen Intellektuellen in der Zeit des Ersten Weltkrieges. 54 Stübig 2015, S. 7. 55 Foucault 1973; Landwehr 2008, S. 70; Wrana 2015, S. 122.

23 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Krieg selbst ein politischer Akt sei.56 Das heisse nun auch, dass Krieg nur in sei- nen politischen und letzten Endes gesellschaftlichen Zusammenhängen zu ver- stehen sei. Michael Ruloff (Université du Luxembourg) untersucht in seinem Beitrag unter dem Titel Militär im Klassenzimmer verschiedene Situationen, in denen sich Armee und Schule um 1800 direkt miteinander konfrontiert sahen, beispielsweise durch ehemalige Soldaten, die als Lehrer arbeiteten, durch Ein- quartierungen von Soldaten in Schulen oder auch durch gemeinsame Ausbil- dung von Lehrern und Offizieren. Rebekka Horlacher (Universität Zürich) nimmt das einleitend bereits erwähnte Thema der physischen Erziehung auf. Sie zeigt in ihrem Beitrag mit dem Titel Physische Bildung als Nationalerziehung, wie sich das Turnen bereits seit dem beginnenden 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Bildung des Bürgers (verstanden als Staatsbürger und Soldat) als Schul- fach entwickelte und welche Bedeutung ihm in diesem Zusammenhang beige- messen wurde. Rudolf Jaun (Universität Zürich) stellt seinen Beitrag unter den Titel Militär, Staats- und Geschlechterkonzeptionen bei Friedrich Beust und Emil Ro- thpletz. Jaun geht von der Prämisse aus, dass die Erwartungen an die enge Zu- sammenarbeit von Schule und Militär in der Schweiz nie so hoch waren wie im 19. Jahrhundert. Dies verortet Jaun vor dem Hintergrund der republikanischen Staats- und Geschichts- sowie Gesellschafts- und Geschlechterphilosophie, die sich in der Schweiz nach 1848 auf nationaler Ebene durchsetzte. Alexandre Fon- taine (Université de Lausanne/ENS-Ulm ) legt einen Beitrag mit dem Titel Corps de cadets, bataillons scolaires et petits soldats: Un exemple de transfert éducati- onnel dans l’espace européen vor, in dem er darstellt, welche Rolle die Erfahrung mit Kadettenkorps in der Schweiz beim Aufbau entsprechender Organisationen in Frankreich spielte.

Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert Lukas Boser (Université de Lausanne/Pädagogische Hochschule der Fachhoch- schule Nordwestschweiz) geht unter dem Titel Militärkarrieren von «Bildungsex- perten» zwischen 1875 und 1914 insbesondere der Frage nach, wie pädagogische Experten ins Militär integriert wurden (beispielsweise durch ihre Aktivitäten im Rahmen der in der Schweiz seit 1875 national durchgeführten pädagogischen Re- krutenprüfungen) respektive was der Integration von pädagogischen Experten ins Militär entgegenstand. Claudia Crotti (Pädagogische Hochschule der Fachhoch- schule Nordwestschweiz) zeigt in ihrem Beitrag mit dem Titel «Frauen und Müt- ter sind gleichsam die zweite Armee unseres Landes», wie die gezielte und verstärkte

56 «Der Krieg ist eine blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» (Clausewitz 2002, S. 44).

24 1. Einleitung

Einbindung der Frauen in die Landesverteidigung im und nach dem Ersten Welt- krieg insbesondere über den Hauswirtschaftsunterricht vorangetrieben wurde. Durch die Verknüpfung von Landesverteidigung und Hauswirtschaft erhielt Letz- tere eine «propagandistisch-ideologische» Aufwertung, die dazu führte, die ge- schlechtsspezifischen Rollenbilder in der Schweiz auf Jahrzehnte hinaus zu verfestigen. Michèle Hofmann (Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz) beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Titel Waffen im Kampf gegen Krankheiten mit Ärzten, die um 1900 sowohl im Militär (bei der Aushebung der Rekruten) als auch in der Schule (bei den Reihenuntersuchungen von Schü- lerinnen und Schülern) junge Männer und Kinder auf ihren Gesundheitszustand hin untersuchten, und geht der Frage nach, inwiefern dabei ein Wissensaustausch zwischen Militär und Schule stattfand. Patrick Bühler (Pädagogische Hochschu- le der Fachhochschule Nordwestschweiz) analysiert in seinem Beitrag mit dem Titel Schwache Schüler und schwache Soldaten um 1900 komplizierte, über Dritte vermittelte Formen des Austausches von Wissen zwischen Militär und Schule, die er am Beispiel des Umgangs mit sogenannt Anormalen (körperlich und/oder geis- tig beeinträchtigten Menschen) aufzeigt.

20. Jahrhundert Andreas Hoffmann-Ocon (Pädagogische Hochschule Zürich) beschäftigt sich un- ter dem Titel Reflexion und Kritik des Ersten Weltkriegs in der Zürcher Schulsynode und den Schulkapiteln mit der Kriegs- und Krisenwahrnehmung von Zürcher Lehr- personen in Stadt und Land, den Debatten über die Folgen des Krieges und der pädagogischen Verarbeitungen dieser Wahrnehmungen und Debatten in Zürichs Schulsynode und den Schulkapiteln. Mit Bezug auf diese pädagogischen Verar- beitungen interessiert sich Hoffmann-Ocon besonders für das Spannungsfeld zwischen (zeitgenössischen) individualpädagogischen Ansätzen und einer (in Kriegszeiten verstärkt erwünschten) «nationalen» respektive die Nation ins Zen- trum ihrer Bemühungen stellenden Pädagogik. Norbert Grube und Andrea De Vincenti (beide Pädagogische Hochschule Zürich) legen eine Untersuchung mit dem Titel Die Pädagogisierung des Krieges um 1914 – 1918 vor, in der sie der Wis- senszirkulation unter deutsch- und italienischsprachigen Intellektuellen in der Zeit des Ersten Weltkrieges nachforschen. Dabei beschäftigen sie sich auch mit der Frage, welche Formen der Sinnstiftung des Krieges – beispielsweise Krieg als gesellschaftliche «Reinigung» oder Krieg als Erzieher – in den von ihnen unter- suchten Quellen zu finden sind. Michael Olsansky (Militärakademie der ETH Zü- rich) präsentiert einen Beitrag mit dem Titel Die Erwartungen schweizerischer Offiziere an das Schulwesen nach dem Ersten Weltkrieg. Olsansky weist darauf hin,

25 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

dass die Erfahrung des Ersten Weltkrieges das Reden schweizerischer Militärs über die Aufgabe der Schule zugunsten des Wehrwesens nicht abrupt durchein- anderwirbelte. Gleichwohl sei nach 1918 neben der reinen Militärsozialisation auch einer sich an geistig-nationalen, gemeinschaftlichen und staatsbürgerlichen Leitgedanken orientierenden Schulbildung vermehrt Bedeutung beigemessen worden. Michael Geiss (Universität Zürich) beschäftigt sich unter dem Titel Ero- sion einer Erzählung: Militär und Gesellschaft in der Jugendpublizistik nach 1945 mit Jugendzeitschriften und den wechselnden Formen der (Selbst-)Darstellung der Armee in diesen Medien nach 1945. Eneia Dragomir (Universität Zürich) befasst sich unter dem Titel Programmierte Instruktion – gesteuertes Verhalten? mit mili- tärischen Ausbildungsverfahren und der spezifischen Anthropologie des Solda- ten nach 1945. Er zeigt auf, wie in der Anthropologie des Soldaten zunehmend das Konzept eines lernenden und Informationen verarbeitenden Subjektes, das sein Verhalten über Feedbackschleifen selbst steuert – aber über diese auch ge- steuert werden kann – , an Gewicht gewann. Den Abschluss des Bandes macht der Beitrag von Daniel Tröhler (Université du Luxembourg) mit dem Titel Die Pä- dagogisierung des Kalten Krieges. Anhand der Beispiele des Sputnik-Schocks und der darauffolgenden Bildungsinitiativen (Defense Education Act; No Child Left Behind) sowie anhand des Beispiels der OECD und deren Bildungsaktivitäten (PISA) zeigt Tröhler auf, dass auch heute «Pulverdampf und Kreidestaub» eng miteinander verbunden sind. Dies habe seinen Grund darin, so die – weiter oben bereits angesprochene – These Tröhlers, dass in der Sprache der Pädagogik, we- gen ihrer Nähe zur religiösen Liebesethik, solche Themen schlich tabu seien.

5. Dank Wir danken dem Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungs- schutz und Sport (VBS) dafür, dass die Tagung in der Kaserne Bern stattfinden konnte. Weiter danken wir der Bibliothek am Guisanplatz für die grosszügige Verpflegung der Tagungsteilnehmenden, für die Mitarbeit bei der Organisation der Tagung sowie für die Publikation des Tagungsbandes. Der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz möchten wir für die finanzi- elle Unterstützung und die Möglichkeit, die Tagung organisieren zu können, dan- ken. Unser Dank gebührt auch allen Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmern, die wesentlich zu einem anregenden Diskussionsklima und interessanten Gesprächen beigetragen haben. Ganz besonders danken wir den Autorinnen und Autoren der Beiträge für ihre Beteiligung an diesem Pro- jekt und ihre Offenheit, sich auf die Diskussionen einzulassen.

26 1. Einleitung

Bibliografie

Quellen Bildungsdirektion des Kantons Zürich: Lehrplan für die Volksschule des Kan- tons Zürich. Zürich: Bildungsdirektion des Kantons Zürich 2010. Bovet, Pierre: Les examens de recrues dans l’armée suisse 1854 – 1913. En- quête internationale sur les examens. Neuchâtel: Delachaux & Niestlé 1935. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. München: Ullstein 2002. Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt: Lehrplan 21. Gesamtausgabe. Basel: Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt 2016. Erziehungsdirektion des Kantons Bern: Lehrplan Volksschule. Primarstufe und Sekundarstufe 1. Bern: Staatlicher Lehrmittelverlag des Kantons Bern 1995. Godin, Paul: Essai sur l’éducation physique dans la famille et au collège. Thèse pour le doctorat en médecine. Paris: Parent 1881. Godin, Paul: Recherches anthropométriques sur la croissance des diverses par- ties du corps. Détermination de l’Adolescent type aux différents âges puber- taires d’après 3600 mensurations sur 100 sujets suivis individuellement de 13 à 18 ans. Paris: Maloine 1903. Godin, Paul: La croissance pendant l’âge scolaire. Applications éducatives. Neuchâtel: Delachaux & Niestlé 1913. Gross, Paul: Die Erwerbstätigkeit der Schulkinder im Kanton St. Gallen nach einer Erhebung vom Dezember 1909. Im Auftrag des Polizei- und Militär- departements. St. Gallen: Honegger 1910. Hürlimann, [Josef]: Über die Ergebnisse der Sanitarischen Rekruten-Muste- rung in der Schweiz während den Jahren 1875 bis 1879. Eine populäre medi- zinische Skizze. Erstes Referat an die Festversammlung der Schweizeri- schen Gemeinnützigen Gesellschaft 1880. [Zürich: Herzog] 1880. Hürlimann, Josef: Über Gesundheitspflege an unsern Volksschulen. Eine po- puläre, hygienische Darstellung der zuger. Schulverhältnisse. Zug: Blunschi 1887. Hürlimann, Josef: Die Schlacht am Morgarten. Mit Berücksichtigung der Lan- destopographie zur Schlachtzeit. Zug: Rey & Kalt 1911. Jahn, Friedrich Ludwig/Eiselen, Ernst: Die Deutsche Turnkunst zur Ein- richtung der Turnplätze. Berlin: o.V. 1816. Militärorganisation der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Vom 13. Winter- monat 1874. In: Schweizerisches Bundesblatt, 26, 50 (1874), S. 421 – 509.

27 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Müller, A[rnold]: Der heutige Stand der Schularztfrage. In: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, 1 (1900), S. 15 – 25. O.A.: Die Zählung der schwachsinnigen Kinder im schulpflichtigen Alter mit Einschluss der körperlich gebrechlichen und sittlich verwahrlosten durchge- führt im März 1897. 2 Bände. Bern: Stämpfli 1897/1900. O.A.: Umfragen. In: Jahresbericht des Bündnerischen Lehrervereins, 24 (1906), S. 99 – 112. Regulativ für die Rekrutenprüfungen und die Nachschulen. (Vom 13. April 1875). In: Bundesblatt, 27, 16 (1875), S. 101 – 103. V.B.: Solothurn. In: Aargauer Schulblatt. Organ für die Lehrerschaft der Kanto- ne Aargau, Baselland & Solothurn, 8, 18 (1889), S. 143f.

Literatur Bauder, Tibor/Crotti, Claudia: Labour, children and education in the first half of the 19th century. Socio-political and pedagogical endeavours in Swit- zerland. In: Mayer, Christine (Hrsg.): Children and youth at risk. Historical and international perspectives. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2009, S. 107 – 120. Boser, Lukas: Modernisierung, Schule und das Mass der Dinge. Dissertation Bern 2013. Bühler, Patrick: The «Sanitary Inspection of all School Recruits» in Switzer- land. Military, School Reforms and Health at the Turn of the 19th century. In: Bildungsgeschichte. International Journal for the Historiography of Edu- cation, 6, 1 (2016), S. 27 – 38. Cohen, Sol: Challenging Orthodoxies. Toward a New Cultural History of Edu- cation. New York u. a.: Peter Lang 1999. Criblez, Lucien/Huber, Christina: Der Bildungsartikel der Bundesverfas- sung von 1874 und die Diskussion über den eidgenössischen «Schulvogt». In: Criblez, Lucien (Hrsg.): Bildungsraum Schweiz. Historische Entwick- lung und aktuelle Herausforderungen. Bern: Haupt 2008, S. 87 – 129. Crotti, Claudia: Pädagogische Rekrutenprüfungen. Bildungspolitische Steue- rungsversuche zwischen 1875 und 1931. In: Criblez, Lucien (Hrsg.): Bil- dungsraum Schweiz. Historische Entwicklungen und aktuelle Herausforde- rungen. Bern: Haupt 2008, S. 131 – 154.

28 1. Einleitung

Dunkake, Imke: Die Entstehung der Schulpflicht, die Geschichte der Absentis- musforschung und Schulschwänzen als abweichendes Verhalten. In: Wag- ner, Michael (Hrsg.): Schulabsentismus. Soziologische Analysen zum Ein- fluss von Familie, Schule und Freundeskreis. Weinheim/München: Juventa 2007, S. 13 – 36. Eichenberger, Lutz: Die Eidgenössische Sportkommission 1874 – 1997. Ein Beitrag zur Sportpolitik des Bundes. Thun: Eidgenössische Sportkommissi- on [1998]. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Frevert, Ute: Das Militär als «Schule der Männlichkeit». Erwartungen, Ange- bote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert. In: dies. (Hrsg.): Militär und Gesell- schaft im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 145 – 175. Fuhrer, Hans-Rudolf: Wehrpflicht in der Schweiz – ein historischer Über- blick. In: Haltiner, Karl/Kühner, Andreas (Hrsg.): Wehrpflicht und Miliz – Ende einer Epoche. Baden-Baden: Nomos 1999, S. 67 – 78. Giuliani, Markus: «Starke Jugend – freies Volk». Bundesstaatliche Köpererzie- hung und gesellschaftliche Funktion von Sport in der Schweiz (1918 – 1947). Bern u. a.: Peter Lang 2001. Haltiner, Karl W.: Landesverteidigung – zweitrangig gewordene Staatsaufga- be? In: Allgemeine schweizerische Militärzeitschrift, 155, 10 (1989), S. 6 – 12. Hartmann, Heinrich: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Göttingen: Wallstein 2011. Hofmann, Michèle: Gesundheitswissen in der Schule. Schulhygiene in der deutschsprachigen Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript (erscheint 2016). ISCHE – International Standing Conference for the History of Education: Edu- cation, War & Peace. Abstracts. [London]: ISCHE 2014. Jaun, Rudolf: Vom Bürger-Militär zum Soldaten-Militär. Die Schweiz im 19. Jahrhundert. In: Frevert, Ute (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 48 – 77. Jaun, Rudolf: Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im mili- tärischen Wandel des Fin de siècle. Zürich: Chronos 1999. Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt am Main: Campus 2008.

29 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Lengwiler, Martin: Soldatische Automatismen und ständisches Offiziersbe- wusstsein. Militär und Männlichkeit in der Schweiz um 1900. In: Jaun, Ru- dolf/Studer, Brigitte (Hrsg.): Weiblich-Männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz. Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken. Zürich: Chronos 1995, S. 171 – 184. Lengwiler, Martin: Zwischen Klinik und Kaserne. Die Geschichte der Militär- psychiatrie in Deutschland und der Schweiz 1870 – 1914. Zürich: Chronos 2000. Lipphardt, Veronika/Ludwig, David: Wissens- und Wissenschaftstransfer. In: Europäische Geschichte Online (EGO) (2011). http://www.ieg-ego.eu/ lipphardtv-ludwigd-2011-de (abgerufen am 6.7.2016). Lustenberger, Werner: Pädagogische Rekrutenprüfungen. Ein Beitrag zur Schweizer Schulgeschichte. Chur: Rüegger 1996. McCulloch, Gary/Brewis, Georgina (Hrsg.): ISCHE 36 (London): Educa- tion, War and Peace. In: Paedagogica Historica, 52, I – II (2016), S. 1 – 218. Rieder, David: Fritz Gertsch. Enfant terrible des schweizerischen Offiziers- korps. Zürich: Orell Füssli 2009. Ruchat, Martine: «Widerspenstige», «Undisziplinierte» und «Zurückgeblie- bene»: Kinder, die von der Schulnorm abweichen (1874 – 1890). In: Criblez, Lucien/Jenzer, Carlo/Hofstetter, Rita/Magnin, Charles (Hrsg.): Eine Schule für die Demokratie. Zur Entwicklung der Volksschule in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Bern u. a.: Peter Lang 1999, S. 265 – 282. Ruchat, Martine: Inventer les arriérés pour créer l’intelligence. L’arriéré sco- laire et la classe spéciale. Histoire d’un concept et d’une innovation psycho- pédagogique 1874 – 1914. Bern u. a.: Peter Lang 2003. Rychner, Marianne/Däniker, Kathrin: Unter «Männern». Geschlechtliche Zuschreibungen in der Schweizer Armee zwischen 1870 und 1914. In: Jaun, Rudolf/Studer, Brigitte (Hrsg.): Weiblich-Männlich. Geschlechterverhältnis- se in der Schweiz. Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken. Zürich: Chronos 1995, S. 159 – 170. Sablonier, Philippe/Würth, Eva-Maria: Mega Buster. Kriegsgebiet Kinder- zimmer. Zürich: edition fink 2009. Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 36 (2011), S. 159 – 172. Späni, Martina: Umstrittene Fächer in der Pädagogik. Zur Geschichte des Re- ligions- und Turnunterrichts. In: Badertscher, Hans/Grunder, Hans-Ulrich (Hrsg.): Geschichte der Erziehung und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Bern: Haupt 1997, S. 17 – 55.

30 1. Einleitung

Speich Chassé, Daniel/Gugerli, David: Wissensgeschichte. Eine Standortbe- stimmung. In: Traverse, 19, 1 (2012), S. 85 – 100. Streit, Pierre: Histoire militaire suisse. Gollion: Infolio 2006. Stübig, Heinz: Mars und Minerva. Militär und Bildung in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Marburg: Tectum Verlag 2015. Wolfisberg, Carlo: Heilpädagogik und Eugenik. Zur Geschichte der Heilpäd- agogik in der deutschsprachigen Schweiz (1800 – 1950). Zürich: Chronos 2002. Wrana, Daniel: Zur Methodik einer Analyse diskursiver Praktiken. In: Schäf- ter, Franka/Daniel, Anna/Hillebrandt, Frank (Hrsg.): Methoden einer Sozio- logie der Praxis. Bielefeld: transcript 2015, S. 121 – 143.

31

19. Jahrhundert

Carl von Clausewitz und die moderne Militärgeschichte2

19. Jahrhundert

Stig Förster

2. Carl von Clausewitz und die moderne Militärgeschichte Wissenstransfer zwischen Ausbildung und Bildung

1. Krieg und Geschichte Die Geschichte der Menschheit ist sicherlich nicht nur die Geschichte der Krie- ge. Aber es lässt sich kaum leugnen, dass Kriege in der Geschichte eine wesent- liche Rolle gespielt haben. Es wäre daher verfehlt, wenn diese Thematik im Unterricht an den Schulen und an den Universitäten ignoriert werden würde. Das gilt sicherlich auch für die militärische Ausbildung, denn die Soldaten und Offiziere müssen auf den Ernstfall vorbereitet sein und wissen, was da auf sie -zu kommt. Dabei genügt es allerdings nicht, nur handlungsorientierte Fähigkeiten zu vermitteln. Vielmehr muss Krieg in seiner ganzen Komplexität verstanden werden. So reicht beim modernen Militär Ausbildung nicht hin, sondern ist Bil- dung vonnöten. Letztere bedarf jedoch einer wissenschaftlichen Grundlage, bei der die moderne Militärgeschichte eine zentrale Rolle zu spielen hat. Im demokratischen Staat sollten Militär und Zivilgesellschaft im gedanklichen Austausch stehen. Schliesslich rekrutieren sich die Streitkräfte, insbesondere im Zeichen der Wehrpflicht, aus der Mitte der Gesellschaft. Doch in der Realität sind die Beziehungen nicht immer einfach. Gegenseitige Vorurteile und Abschot- tungstendenzen erschweren das Verständnis füreinander. Dass das Militär letztlich auf die Anwendung organisierter Gewalt ausgerichtet ist, ruft in weiten Kreisen der Zivilgesellschaft Ablehnung hervor. Das ist sogar durchaus verständ- lich, denn wer wünscht sich schon Krieg herbei? Und die Logik militärischer Abschreckung zur Kriegsverhütung erschliesst sich längst nicht allen Menschen. So haben Soldaten in der Gesellschaft oft einen schweren Stand.

37 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Dem steht allerdings die Tatsache gegenüber, dass Bücher und Filme, die vom Krieg handeln, sich recht grosser Popularität erfreuen. Die Verkaufszahlen von Sachbüchern und Romanen, welche Krieg thematisieren, sind recht hoch. Viel- leicht noch auffälliger sind die grossen Erfolge, welche die Filmindustrie mit mehr oder weniger gelungenen Produkten des Genres Kriegsfilm erzielt. Dabei wird zweifellos ein gewisser Voyeurismus befriedigt. Doch es besteht auch ein genu- ines Interesse, dem Verständnis des Phänomens Krieg, jener Geissel der Mensch- heit, näherzukommen. So habe ich auch in meinen Lehrveranstaltungen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass viele Studierende sich mit dieser Thematik auseinandersetzen wollen und entsprechende Lehrangebote mit viel Engagement wahrnehmen. Wissenschaftliche Militärgeschichte hat somit eine ausgesprochen aufklärerische Funktion. Doch welche Art von Militärgeschichte kann diese Aufgabe erfüllen? Die Analyse von Schlachten und Feldzügen, also die reine Operationsgeschichte, greift hier viel zu kurz, ja kann in die Irre führen. Auch Studien zur Organisation, Funktionsweise und Kultur des Militärs im engeren Sinnen haben nur begrenz- ten Aussagewert. Militärgeschichte ist viel mehr als das. Der preussische General und bis heute immer noch anerkannte Theoretiker des Krieges Carl von Clause- witz hat diesbezüglich interessante Überlegungen angestellt, die für den Umgang mit der Militärgeschichte fundamental sind, ja das Phänomen Krieg in allen seinen Facetten zu begreifen hilft. Die folgenden Ausführungen zu Clausewitz’ Werk sollen dies aufzeigen und damit die Dimensionen der modernen Militär- geschichte andeuten.

2. Krieg und Politik «Der Krieg ist nichts als die Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit ver- änderten Mitteln [ … ]. Durch diesen Grundsatz wird die ganze Kriegsgeschichte verständlich, ohne ihn ist alles voll der grössten Absurdität.»1 Diese Sätze, die Carl von Clausewitz 1827 in einem Brief an Major von Roeder schrieb, sind mehr als nur eine Variation seiner oft zitierten und beinahe so oft missverstandenen Feststellung über das Verhältnis von Politik und Krieg. Sie enthalten vielmehr einen Schlüssel zum Verständnis der zentralen Erkenntnis in Clausewitz’ Werk und liefern überdies die erkenntnistheoretische Grundlage für die moderne Militärgeschichtsschreibung. Clausewitz macht hier nämlich deutlich, dass sich sein Anliegen keineswegs auf die Festschreibung des Primats der Politik gegenüber der Kriegführung beschränkt. Krieg ist für Clausewitz ganz grundsätzlich immer ein politischer Akt, egal, welche Form er annimmt, und

1 Carl von Clausewitz an Major i.G. v. Roeder, 22.12.1827. In: Clausewitz 1952, S. 1119f.

38 19. Jahrhundert

egal, unter wessen Leitung er steht. Und die Geschichte der Kriege kann demnach gar nicht anders als unter Berücksichtigung der jeweiligen historischen, politi- schen Begleitumstände und Voraussetzungen verstanden werden, will man sich nicht einer fehlgeleiteten Abstraktion von der Wirklichkeit schuldig machen, deren Ergebnisse in die Absurdität führen. In seinem unvollendeten Hauptwerk, Vom Kriege, das zwischen 1816 und 1830 entstand, wandte sich Clausewitz mit Entschiedenheit gegen die Auffassungen von Zeitgenossen, die den Krieg in ein starres, geometrisches Regelwerk pressen oder ihm doch zumindest ewige strategische Prinzipien andichten wollten, welche angeblich unabhängig von den historischen Zeitumständen und den politischen Rahmenbedingungen des jeweiligen Krieges existierten.2 Demgegen- über insistierte Clausewitz auf der politischen Bedingtheit des Krieges, und diese neuartige Erkenntnis führte ihn sowohl zu tiefen Einsichten über Wesen und Erscheinung des Krieges als auch zu bedeutsamen Aussagen über das rich- tige praktische Verhältnis von Politik und Kriegführung in zukünftigen Waffen- gängen, die jedoch lange Zeit nicht richtig gewürdigt wurden. Gleich zu Beginn des ersten Buchs unternimmt Clausewitz den Versuch, «das Wesen» des Krieges zu bestimmen, um in der Abstraktion den Kerngehalt der realen Erscheinung erfassen zu können, da, wie er sich ausdrückt, «mit dem Teile auch zugleich immer das Ganze gedacht werden muss».3 Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um eine vollständige Abstraktion, sondern um den Ur- zustand, den Nerv eines jeden Krieges, den Clausewitz aus der realen Erscheinung des Krieges herausfiltert: Feindschaft, Gewaltanwendung, die Bereitschaft zum Töten. Clausewitz kommt demgemäss zu folgender Definition: «Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.»4 Die Gewalt sei das Mittel, das Wehrlosmachen des Gegners das Ziel, dem Feind unseren Willen aufzuzwingen, der Zweck des Krieges. Der «reine» oder «abso- lute Krieg», von dem Clausewitz hier spricht, kennt dabei keine Mässigung, keine Grenzen. In der Wechselwirkung der kämpfenden Parteien strebt er zum Äussersten, zur vollständigen Niederwerfung des Gegners, zur restlosen Vernich- tung, das heisst Kampfunfähigmachung der feindlichen Streitkräfte. Das Gefecht, also die unmittelbare Gewaltanwendung, stellt das einzige Mittel zur Erreichung dieses Ziels dar.5

2 Zu Bülow vgl. Palmer 1986. Zu Jomini vgl. die ausgezeichnete Studie von Shy (1986). Generell vgl. Heuser 2010. 3 Clausewitz 1952, S. 89. 4 Ebd., S. 89f. 5 Ebd., S. 90 – 94.

39 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Hierbei, um das noch einmal in aller Deutlichkeit zu betonen, handelt es sich um Aussagen über das Wesen des Krieges, losgelöst von den Rahmenbedingun- gen, die seinen jeweiligen Charakter in der Wirklichkeit bestimmen. Clausewitz spricht hier also von dem «Ding an sich», dessen Grundprinzipien – Feindschaft, Gewalt, Vernichtung – er als die verbindenden Elemente der Geschichte aller Kriege entnimmt. Der «reine», der «absolute» Krieg bei Clausewitz ist demgemäss als das zu verstehen, was Max Weber später als «Idealtypus» bezeichnete. Eine derartige Abstraktion dient dem Zweck, das rein kriegerische Element bei der Analyse wirklicher Kriege sauber von den äusseren Einflüssen zu trennen, um bei der synthetischen Gesamtbetrachtung deren Wirkungsmächtigkeit genauer einschätzen zu können. Clausewitz befand sich damit ganz auf dem wissen- schaftstheoretischen Erkenntnisstand seiner Zeit, wie er von Immanuel Kant begründet worden war. Clausewitz betrachtet also den «reinen Krieg» als absoluten Akt der Gewalt- anwendung, in dem das Prinzip der Vernichtung von äusseren Einflüssen unge- filtert hervortritt. Das Wesen des Krieges kennt somit keine Mässigung, und ihm eine solche andichten zu wollen, bezeichnet Clausewitz geradezu als Absurdität.6 Die wirklichen Kriege in der Geschichte aber, so stellte Clausewitz immer wieder fest, folgen nicht dem absoluten Vernichtungsprinzip. Stattdessen sind Mässigung und Hemmnis ihnen geradezu konstitutiv. Militärische Gewalt wird in dosierter Form zur Erreichung bestimmter Zwecke angewandt. Wie berechtigt diese Erkenntnis ist, lässt sich heute auch an zwei Beispielen aus der jüngsten Geschichte und Gegenwart zeigen. Selbst im «totalen Krieg» zwischen 1939 und 1945 nahmen etwa die Nationalsozialisten vom Einsatz chemischer Massenver- nichtungswaffen Abstand, und Saddam Hussein hütete sich im Golfkrieg, che- mische und biologische Waffen einzusetzen. Selbst der Extremfall des Vernich- tungskrieges, wie ihn der Zweite Weltkrieg zweifellos darstellte, ist somit nur relativer Natur und unterliegt immer noch einer gewissen, wenn auch nur schwachen Mässigung. Dieses Element der Mässigung aber, so Clausewitz weiter, wird von aussen in den Krieg hineingetragen. Es ist ein Resultat des Einflusses der Politik.7 Der wirkliche Krieg nämlich, so betonte Clausewitz immer wieder, ist kein Ding an sich, sondern ein «Halbding», das zwar eine eigene Grammatik, aber keine eigene Logik besitzt.8 Diese Logik stammt aus der Politik, die den Krieg hervorbringt und seinen Charakter bestimmt. Der Krieg nimmt deshalb niemals seine abstrakte, absolute Urform an, sondern richtet sich nach dem Mass, das der politische Zweck ihm gibt: «So wird also der politische Zweck als das ursprüng-

6 Ebd., S. 91. 7 Ebd., S. 94 – 98. 8 Ebd., S. 888f.

40 19. Jahrhundert

liche Motiv des Krieges das Mass sein, sowohl für das Ziel, welches durch den kriegerischen Akt erreicht werden muss, als für die Anstrengungen, die erforder- lich sind.»9 Deshalb gibt es alle möglichen Arten von Kriegen, «von dem Vernich- tungskriege hinab bis zur blossen bewaffneten Beobachtung», wobei Letzteres etwa für den Kalten Krieg gelten würde.10 Der wirkliche Krieg ist somit ohne den beherrschenden Einfluss der Politik nicht zu denken. Er ist sogar selbst, wie Clausewitz meinte, nichts anderes als ein politischer Akt.11 Bereits aus diesen grundsätzlichen Überlegungen heraus ergibt sich die zentrale Rolle, welche die Untersuchung der politischen Rahmenbedin- gungen bei jeder Interpretation des Krieges in seiner realen Ausformung spielen muss. Doch Clausewitz ging noch einen Schritt weiter, als er betonte, dass der Krieg, dieses «Pulsieren der Gewaltsamkeit»,12 auch in seinem Verlauf von der Politik beeinflusst wird. Dabei ist der politische Zweck «kein despotischer Gesetzgeber»,13 sondern er muss sich der Natur seines Mittels anpassen. Napoleon und Hitler haben allerdings diese Weisheit nicht beherzigt, als sie spätestens mit ihren Angriffen auf Russland die Leistungsfähigkeit des Krieges als Mittel der Politik überforderten.14 Aber der politische Zweck muss doch immer zuerst in Erwägung gezogen werden und durchzieht deshalb den gesamten kriegerischen Akt. Auf dieser Grundlage kam Clausewitz zu seiner berühmten Formel: «So sehen wir also, dass der Krieg nicht bloss ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instru- ment ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln.»15 Daraus ergeben sich erst recht die verschiedenen Ausformungen des Krieges, die jedoch alle, vom Vernichtungskrieg bis hinunter zur bewaffneten Bedrohung, gleichermassen politisch bestimmt sind. Es ist zwar sicherlich richtig, dass er unter Politik primär Aussenpolitik, Mächtepolitik im traditionellen idealistischen Sinne verstand. Doch seine Formulierung, wonach «Politik nur als Repräsentant aller Interessen der ganzen Gesellschaft» gegen andere Staaten zu verstehen sei, schuf eben eine Öffnung für die Analyse dieser Interessen, ihres Einflusses auf die Politik und damit auch auf den Krieg.

9 Ebd., S. 98. 10 Ebd., S. 99. 11 Ebd., S. 107. 12 Ebd., S. 108. 13 Ebd. 14 Hahlweg 1952, S. 43f. 15 Clausewitz 1952, S. 108.

41 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Der Fortgang der Geschichtswissenschaft seit den Zeiten Clausewitz’, insbe- sondere ihre Inkorporation in den grösseren Rahmen der Gesellschaftswissen- schaften, hat nun die Nutzung dieser Möglichkeit zur Notwendigkeit gemacht. Der Ansatz hierzu war bereits bei Clausewitz vorhanden. Er ist das Ergebnis seiner Theorie des Krieges. Denn wenn Krieg erstens niemals ein eigenständiges Ding, sondern immer nur ein politisches Mittel ist, also aus der Politik hervorgeht, und zweitens die Natur der verschiedenartigen Kriege immer der Natur der Verhältnisse entspricht, die sie hervorgebracht haben und prägen, dann ist eine Analyse eben dieser Verhältnisse für das Verständnis der Kriegsgeschichte kon- stitutiv.16 Das heisst im Klartext, um es modern zu formulieren, dass Kriegsge- schichte immer Gesellschaftsgeschichte sein muss. Es ist interessant zu beobachten, dass Clausewitz selbst in seiner eigenen Kriegsgeschichtsschreibung bereits diesen Weg eingeschlagen hat. Wenn auch vieles in der Praxis bei ihm noch unvollkommen blieb, nicht zuletzt, weil die Geschichtswissenschaft seiner Zeit noch nicht weit genug entwickelt war, um wirkliche Hilfestellung zu leisten, so hat er doch versucht, Kriegsgeschichte aus ihrem gesellschaftlichen Hintergrund heraus zu verstehen.

3. Clausewitz’ Methode Clausewitz’ Theorie des Krieges beruht neben seinen persönlichen Erfahrungen aus den Feldzügen gegen die Heere der Französischen Revolution und Napole- ons vor allem auf einem intensiven Studium der Kriegsgeschichte. Im Zuge sei- ner Forschungen hat er mehr als 130 Feldzüge bearbeitet.17 Von den zehn Bänden der Erstausgabe seiner Werke widmen sich allein sieben ausschliesslich der Ana- lyse von Feldzügen aus der Kriegsgeschichte von Gustav Adolf bis Napoleon.18 Die meisten dieser Arbeiten sind in Vergessenheit geraten, doch sie bildeten die empirische Grundlage, auf der Clausewitz seine Theorie entwickelte. Clausewitz bediente sich also vornehmlich der historischen Methode, die, wie der britische Militärhistoriker Hew Strachan treffend bemerkt, seither die ent- scheidende Basis sowohl der Kriegstheorie als auch der theoretischen Militäraus- bildung darstellt.19 Aber Clausewitz’ historische Methode war ganz besonderer Natur und unterschied sich massgeblich von den kriegsgeschichtlichen Arbeiten seiner Zeitgenossen wie auch von der leider heute noch mitunter üblichen Praxis. Clausewitz gab sich keineswegs mit der Beschreibung und Analyse der rein mi- litärischen Vorgänge in der Kriegsgeschichte zufrieden. Für ihn war der Krieg

16 Vgl. ebd., S. 110. 17 Kondylis 1988, S. 64. 18 Vgl. Clausewitz 1832 – 1837. 19 Strachan 1983, S. 6.

42 19. Jahrhundert

mehr als nur das Manövrieren von Truppen und das Ausfechten von Schlachten. All diese Vorgänge konnten nur durch das Einwirken der politischen Rahmen- bedingungen erklärt werden. Jeder andere Zugang erschien ihm sinnlos und verfehlt. Dementsprechend betonte er in seiner Bearbeitung der Feldzüge von 1799: «Wer den Einfluss der allgemeinen und höhern Verhältnisse auf das Han- deln der in der Entwicklung spezieller Akte begriffenen Personen nicht anerkennt, für etwas zufälliges hält, Der hat den Krieg schlechterdings nicht in seinem ei- gentlichen Leben aufgefasst und Dem würden wir durchaus kein Urteil über die Entwicklung der in ihm wirkenden Kräfte einräumen.»20 Mit den «Verhältnissen» war aber nichts anderes gemeint als der Einfluss aussermilitärischer, sprich politischer Bedingungen auf das Handeln des Solda- ten.21 Die Früchte dieser historischen Untersuchungen fanden auch direkten Niederschlag im Werk Vom Kriege. Dies soll anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden, um die Bedeutung von Clausewitz’ Theorie für sein Geschichtsverständ- nis darzulegen. So geht Clausewitz an einer Stelle, an der er die schwindende Bedeutung der Kavallerie in der Neuzeit behandelt, auf deren historische Entwicklung ein und stellt fest, dass die Reiterei im Mittelalter den Vorrang besass, weil sie von den besten Teilen des Volkes gestellt wurde, während die Massen des Fussvolkes militärisch wenig brauchbar waren. Erst nach dem Fall der Lehensverbindlich- keiten und durch das Entstehen des Söldnerwesens erhielt die Infanterie grösse- res Gewicht, das durch die Entwicklung der Feuerwaffen weiter gestärkt wurde.22 Anderswo behauptet Clausewitz, dass «rohe Völker» aufgrund ihres Entwick- lungsstandes zwar in der Masse ein hohes Mass an kriegerischem Geist zeigen, doch wegen ihres niedrigen Bildungsstandes keine genialen und verständigen militärischen Führer hervorbringen.23 Bei gebildeten Völkern sei es meistens umgekehrt.24 Am deutlichsten wird Clausewitz in dieser Hinsicht im achten Buch, als er auf das Verhältnis von Mittel und Zweck zu sprechen kommt: «Halbgebildete Tarta- ren, Republiken der alten Welt, Lehnsherren und Handelsstädte des Mittelalters, Könige des achtzehnten Jahrhunderts, endlich Fürsten und Völker des neunzehn- ten Jahrhunderts: alle führen den Krieg auf ihre Weise, führen ihn anders, mit anderen Mitteln und nach einem anderen Ziel.»25

20 Clausewitz 1837, S. 336. 21 Vgl. Kondylis 1988, S. 76f. 22 Clausewitz 1952, S. 412. 23 Ebd., S. 130. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 860.

43 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Daran schliessen sich seitenweise Betrachtungen über die kriegsgeschichtliche Entwicklung des Abendlandes an, die er aus den sich verändernden soziopoliti- schen Grundlagen heraus zu erklären versucht. Die Abwesenheit des Vernich- tungskrieges im Mittelalter sieht er in der inneren Schwäche des Lehenswesens begründet. Der begrenzte Charakter der Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts entstand seiner Meinung nach aus dem kostspieligen Söldnerwesen, der finan- ziellen Schwäche der absolutistischen Staaten und dem Ausschluss der grossen Masse der Bevölkerung vom Krieg. All dies änderte sich durch die Französische Revolution: «Der Krieg war plötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden, und zwar eines Volkes von 30 Millionen, die sich alle als Staatsbürger betrachteten.»26 Dies war der Grund für die starke Intensität der Revolutionskriege. Heutigen Historikern und Historikerinnen werden viele dieser Aussagen verfehlt erscheinen. Tatsächlich lässt sich wohl kaum behaupten, dass etwa das angeblich rohe Volk der Mongolen keine hervorragenden militärischen Führer hervorgebracht hätte. Man denke nur an Tschingis Khan, Batu und Hülegü, die mithilfe erstaunlich moderner generalstabsmässiger Planung ihre wohl organi- sierten Massenheere zur Eroberung Nordchinas, Zentralasiens, Russlands und Persiens führten.27 Ob der Adel des Mittelalters wirklich der beste Teil des Volkes war, erscheint ebenso zweifelhaft wie die angeblich geringe Rolle des Fussvolkes, wenn man sich zum Beispiel der englischen Siege bei Crécy (1346) und Azincourt (1415) erinnert, als mit Langbogen bewaffnete und zu Fuss kämpfende Truppen aus den niederen Schichten Englands und Wales’ die stolzen französischen Ritter buchstäblich von den Pferden holten.28 In welchem Masse Bürger und Bauern auch unter den Bedingungen des Mittelalters nahezu unbesiegbare Armeen bilden konnten, demonstrierte jedoch niemand besser als die Schweizer, deren disziplinierte schwere Infanterie in der Schlacht bei Laupen (1339) das Ritterheer der Habsburger vernichtend schlug und damit für Jahrhunderte die in ganz Europa bewunderte Leistungsfähigkeit des Schweizer Soldaten etablierte.29 Doch die Korrektheit von Clausewitz’ historischen Feststellungen spielt eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist seine Methode, nämlich Kriegsgeschich- te aus den jeweiligen soziopolitischen Voraussetzungen heraus erklären zu wollen. Clausewitz hat diese Methode wohl am besten bei seiner Analyse der Napoleonischen Kriege angewandt, die ihm natürlich aufgrund seiner persönli- chen Erfahrungen am nächsten standen. Dabei war ihm sogar Napoleon, den er

26 Ebd., S. 868f. 27 Vgl. hierzu etwa Ratchnevsky 1983; Hartog 1989; Förster 2006; sowie allgemeiner Morgan 1986, zu Batu und Hülegü besonders S. 136 – 158. 28 Zu Azincourt vgl. etwa Keegan 1978, S. 78 – 116, besonders S. 92 – 107. 29 Als knappe, aber auch den sozialhistorischen Hintergründen angemessene Analyse vgl. Jones 1987, S. 175 – 178.

44 19. Jahrhundert

an einer Stelle den «Kriegsgott selbst» nannte,30 nicht einfach ein genialer Feld- herr, der im Sinne Jominis ewige Regeln der Strategie, wie die Überlegenheit der Offensive und der Inneren Linie, zur erfolgreichen Anwendung brachte, sondern er war abhängig von den soziopolitischen Voraussetzungen seiner Zeit. So kommt Clausewitz zu folgendem generellem Urteil über die mehr als zwanzigjährigen Kriege im Gefolge der Französischen Revolution: «Es ist wahr, auch der Krieg selbst hat in seinem Wesen und in seinen Formen bedeutende Verände- rungen erlitten, die ihn seiner absoluten Gestalt näher gebracht haben; aber diese Veränderungen sind nicht dadurch entstanden, dass die französische Re- gierung [ihn] gewissermassen emanzipiert, vom Gängelbande der Politik losge- lassen hätte, sondern sie sind aus der veränderten Politik entstanden, welche aus der französischen Revolution sowohl für Frankreich als auch für ganz Europa hervorgegangen sind. Diese Politik hat andere Mittel, andere Kräfte aufgeboten und dadurch eine Energie der Kriegführung möglich gemacht, an welche ausser- dem nicht zu denken gewesen wäre.»31 Diese Passage ist übrigens ein Beispiel für die gelegentlichen Ungereimtheiten bei Clausewitz, als er hier der Verwechslung des napoleonischen Vernichtungs- krieges mit dem Idealtypus des «absoluten Krieges» Vorschub leistet. Für den Gesamtzusammenhang unserer Argumentation ist jedoch wichtiger, dass Clau- sewitz an dieser Stelle die Siege Napoleons und den Charakter der Napoleonischen Kriege aus den gesellschaftlichen Verhältnissen des revolutionären Frankreichs heraus erklärt. In dieser, damals bahnbrechenden Methode liegt der Schlüssel für die moderne Militärgeschichtsschreibung.

4. Militärgeschichtsschreibung heute Die Militärgeschichtswissenschaft hat lange gebraucht, um sich diese Methode zu eigen zu machen. Die kriegsgeschichtliche Abteilung des preussischen Gene- ralstabs etwa weigerte sich, in ihren Darstellungen der deutschen Einigungskrie- ge politische Einflüsse und soziopolitische Rahmenbedingungen zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen wurde nur detaillierte Operationsanalyse betrieben.32 Im Grunde hat erst die angelsächsische «War-and-Society»-Schule, angeführt von Sir Michael Howard, Geoffrey Best und Brian Bond, seit den späten 60er- Jahren dem Clausewitz’schen Ansatz in der Militärgeschichtsschreibung zum Durchbruch verholfen.33 Seither wird Kriegsgeschichte vielerorts systematisch im soziokulturellen und soziopolitischen Umfeld untersucht, wobei auch jene

30 Clausewitz 1952, S. 857. 31 Ebd., S. 896. 32 Vgl. hierzu als typisch o. A. 1874 – 1881. 33 Vgl. etwa Howard [1975], S. 216f.; Best 1982, besonders S. 7 – 10; Bond 1984, besonders S. 11f.

45 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Aspekte, wie Wirtschaftsgeschichte, Alltagsgeschichte, Geschichte der Geschlech- terbeziehungen und die Entwicklung der Technologie, die bei Clausewitz noch zu kurz kamen,34 volle Berücksichtigung finden. Doch die isolierte, rein militärische Betrachtung der Kriegsgeschichte ist keineswegs ausgestorben. Ein typisches Beispiel hierfür ist John Keegans Buch The Price of Admiralty, wo etwa der britische Seesieg bei Trafalgar vornehmlich auf Nelsons überragendes seestrategisches und -taktisches Können zurückgeführt wird, ohne zu erwähnen, dass die französische Flotte aufgrund der Revolution in ihrem Personalbestand quantitativ und vor allem qualitativ so entscheidend ge- schwächt war, dass sie der Royal Navy trotz überlegenem Material taktisch hoff- nungslos unterlegen war.35 Der Neopositivismus der «New School of Battle History», wie sie mancherorts boshaft bezeichnet wird, scheint Methode zu haben, denn er erlebt in den angelsächsischen Ländern eine bedenkliche Renaissance. Derlei Geschichtsschreibung gerät schliesslich in Gefahr, unter das vernich- tende Verdikt von Sir Basil Liddell Hart zu fallen: «To place the position and trace the action of battalions and batteries is only of value to the collector of an- tiques, and still more to the dealer of faked antiques.»36 Demgegenüber kann man anhand eines Beispiels demonstrieren, dass Mili- tärgeschichte mehr leisten muss: Am 3. September 1796 lieferten sich 44 000 Österreicher unter Erzherzog Karl und 30 000 Franzosen unter Marschall Jourdan bei Würzburg eine heftige Schlacht. Die zahlenmässig überlegenen Österreicher drängten die Franzosen zurück. Jourdan befahl daraufhin einen Gegenangriff der Infanterie auf das Zentrum des Feindes. Diese Attacke wurde jedoch von der österreichischen Kavallerie entscheidend zurückgeschlagen, sodass die Franzosen unter schweren Verlusten den Rückzug antreten mussten. Nach der Niederlage von Würzburg waren die Revolutionsarmeen gezwungen, ihren Deutschlandfeld- zug abzubrechen, um sich hinter das linke Rheinufer zurückzuziehen. Wie irreführend wäre es jedoch, das Scheitern des französischen Deutschland- feldzuges von 1796 allein auf die Schlacht bei Würzburg oder gar auf die genialen Feldherrnfähigkeiten des Erzherzogs Karl zurückzuführen. In Wirklichkeit nämlich hatten die Franzosen ihre Offensive im Frühjahr 1796 mit 150 000 Mann begonnen. Dem Vormarsch der geballten Macht dieser Invasionsarmee hätten die Österreicher angesichts ihrer relativen zahlenmässigen Schwäche niemals auf dem Schlachtfeld widerstehen können. Doch im Verlauf des Feldzuges sahen sich die Franzosen gezwungen, zwei Drittel ihrer Truppen zum Schutz der rückwärtigen Linien zu verwenden und dementsprechend die Kraft ihrer An-

34 So treffend Paret 1976, S. 208f. 35 Keegan 1988, S. 9 – 95, besonders S. 20f. 36 Liddell Hart 1958, S. VIII.

46 19. Jahrhundert

griffsarmee zu schwächen. Diese Lage entstand, weil das Direktorium in Paris wegen der innenpolitischen Situation in Frankreich seine Armee in Deutschland nicht mit Nachschub versehen konnte und seine dortigen Befehlshaber stattdes- sen aufforderte, ihr Heer durch Plünderung des besetzten Landes zu ernähren. Die Requirierungsmassnahmen wurden mit äusserster Brutalität durchge- führt, und immer wieder kam es zu Ausschreitungen. Hinzu kamen fortgesetzte Disziplinlosigkeiten der französischen Soldaten, von unautorisierten Plünderun- gen bis hin zu Vergewaltigungen, die ein direktes Ergebnis der inneren Struktu- ren der Revolutionsarmeen waren und deshalb nicht unterbunden werden konnten. Die deutsche Zivilbevölkerung geriet dadurch in eine verzweifelte Lage, was angesichts des vollständigen Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung zu weit verbreiteten Aufständen, Überfällen und schliesslich zu einem regelrechten Guerillakrieg führte. Ein Grossteil der Angriffsarmee musste deshalb im Garni- sons- und Etappendienst eingesetzt werden. Diese Truppen fehlten dann beim weiteren Vordringen, sodass die Österreicher auf dem Schlachtfeld bei Würzburg plötzlich sogar mit numerischer Überlegenheit antreten konnten. Die französi- sche Offensive hatte den Kulminationspunkt des operativen Angriffs, auf dessen Bedeutung Clausewitz wiederholt hinwies, überschritten. Die französische Niederlage kann deshalb nicht ausschliesslich durch die Vorgänge im Verlauf der Schlacht bei Würzburg erklärt werden. Zum Verständ- nis der Zusammenhänge gehört vielmehr eine Untersuchung der innenpoliti- schen Verhältnisse in Frankreich, welche die Hintergründe für die Verweigerung des Nachschubs erklärt, ebenso wie eine militärsoziologische Analyse der Revo- lutionsarmeen. Hinzu käme noch eine wirtschafts-, sozial- und politikhistorische Aufarbeitung der Ursachen und des Verlaufs des Guerillakrieges in Süddeutsch- land. Reine Schlachtenbeschreibung genügt also nicht. Ohne eine Berücksichti- gung der historischen Gesamtzusammenhänge und ohne die Bereitschaft, die politische Bedingtheit des Krieges im weitesten Sinne des Wortes zu akzeptieren, wird die Militärgeschichtsschreibung in diesem Fall, wie auch überall sonst, kaum zu einem tieferen Verständnis ihrer Materie vordringen können.37 Hier aber sind wir beim Kern der Sache angelangt: Seit Clausewitz den eminent politischen Charakter des Krieges entdeckt hat, ist reine, isolierte Militärge- schichtsschreibung zu einem Unding geworden. Will sie heutzutage noch irgend- etwas erreichen, ja, will sie ernst genommen werden und sich nicht nur auf das Antiquitätensammeln beschränken, dann muss sie sich in den grossen Bereich der Gesamtgeschichte einordnen, der Gesellschaftsgeschichte im weitesten Sinne. Nur auf diese Weise, also unter Rückbesinnung auf die wissenschaftliche

37 Vgl. hierzu die brillante Studie von Blanning (1988).

47 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Methode Clausewitz’, kann sie einen nützlichen und interessanten Beitrag zur modernen historischen Forschung leisten. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Militärgeschichte auf ihren ursprünglichen Kernbereich – die Operationsge- schichte – fortan gänzlich verzichten muss. Krieg mag ja keine eigene Logik haben, aber seine Grammatik – die Feldzüge, Gefechte und Schlachten – ist zum Verständnis der Vorgänge letztlich ebenfalls unverzichtbar. So muss die moderne Militärgeschichte auch den Bereich der Operationen in das Gesamtbild integrie- ren. Die Analyse des Krieges ist somit in jeder Hinsicht integrativ.38 Und eben dies gilt dann auch für den Wissenstransfer zwischen Militär, Akademien, Universitäten und Schulen. Ohne den Rückgriff auf den modernen Stand der Militärgeschichte und ihre Methoden wird dieser Transfer höchstens zu einer beschränkten Ausbildung führen und damit scheitern.

Bibliografie

Quellen und Literatur Best, Geoffrey: War and Society in Revolutionary Europe, 1770 – 1870. [Lon- don]: Fontana 1982. Blanning, Timothy Charles William: Die französischen Revolutionsarmeen in Deutschland. Der Feldzug von 1796. In: Melville, Ralph/Scharf, Claus/ Vogt, Martin/Wengenroth, Ulrich (Hrsg.): Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, 2 Bde. Stuttgart: Steiner-Verlag 1988, Bd. 1, S. 489 – 504. Bond, Brian: War and Society in Europe, 1870 – 1970. [London]: Fontana 1984. Clausewitz, Carl von: Hinterlassene Werke über Krieg und Kriegführung, 10 Bde. Berlin: Dümmler 1832 – 1837. Clausewitz, Carl von: Die Feldzüge von 1799 in Italien und in der Schweiz, Zweiter Theil (Hinterlassene Werke über Krieg und Kriegführung, Bd. 6). Berlin: Dümmler 1837. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Hrsg. von Werner Hahlweg. 16. Auflage. Bonn: Dümmler 1952. Förster, Stig: Die Militarisierung der Steppe. Tschingis Khan (ca. 1162 – 1227). In: Förster, Stig/Pöhlmann, Markus/Walter, Dierk (Hrsg.): Kriegsherren der Weltgeschichte. 22 historische Porträts. München: C.H. Beck 2006, S. 110 – 127.

38 Förster 2008.

48 19. Jahrhundert

Förster, Stig: The Battlefield. Towards a Modern History of War. The 2007 Annual Lecture at the German Historical Institute London. London: Ger- man Historical Institute 2008. Hahlweg, Werner: Das Clausewitzbild einst und jetzt. In: Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Hrsg. von Werner Hahlweg. 16. Auflage. Bonn: Dümmler 1952, S. 1 – 70. Hartog, Leo de: Genghis Khan. Conqueror of the World. New York: St. Martin’s Press 1989. Heuser, Beatrice: Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike. Paderborn: Schöningh 2010. Howard, Michael: Total War in the Twentieth Century. Participation and Con- sensus in the Second World War. In: Bond, Brian/Roy, Ian (Hrsg.): War and Society. A Yearbook of Military History. London: Croom Helm [1975], S. 216 – 226. Jones, Archer: The Art of War in the Western World. New York: Oxford Uni- versity Press 1987. Keegan, John: The Face of Battle. A Study of Agincourt, Waterloo, and the Somme. New York: Penguin Books 1978. Keegan, John: The Price of Admiralty. War at Sea from Man of War to Subma- rine. London: Viking 1988. Kondylis, Panajotis: Theorie des Krieges. Clausewitz – Marx – Engels – Lenin. Stuttgart: Klett-Cotta 1988. Liddell Hart, Basil H.: Sherman. Soldier, Realist, American. New York: Greenwood Press 1958. Morgan, David: The Mongols. Oxford: B. Blackwell 1986. O.A.: Der Deutsch-Französische Krieg, 1870 – 71. Hrsg. von der Kriegsge- schichtlichen Abteilung I des Grossen Generalstabs, 5 Bde., 3 Kartenbde., Berlin: Mittler 1874 – 1881. Palmer, Robert R.: Frederick the Great, Guibert, Bülow. From Dynastic to Nati- onal War. In: Paret, Peter (Hrsg.): Makers of Modern Strategy from Machia- velli to the Nuclear Age. Princeton: Princeton University Press 1986, S. 91 – 119.

49 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Paret, Peter: Clausewitz and the State. Oxford: Clarendon Press 1976. Ratchnevsky, Paul: Cinggis-Khan. Sein Leben und Wirken. Wiesbaden: Franz Steiner 1983. Shy, John: Jomini. In: Paret, Peter (Hrsg.): Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age. Princeton: Princeton University Press 1986, S. 143 – 185. Strachan, Hew: European Armies and the Conduct of War. London: George Allen and Unwin 1983.

Prof. em. Dr. Stig Förster, Universität Bern, Historisches Institut, [email protected]

50

3 Militär im 3Klassenzimmer­

19. Jahrhundert

Michael Ruloff

3. Militär im Klassenzimmer Verbindungen zwischen Schule und Armee in der Schweiz um 1800

Am 10. März 1800 eröffnete der Bildungsminister der Helvetischen Republik, Philipp Albert Stapfer, in Wädenswil am Zürichsee eine besondere Schule. In die- sem «Erziehungs-Institut» sollten junge Männer sich entweder militärisch schu- len oder zum Lehrer ausbilden lassen. In einer am 8. April in der Zürcher Zeitung veröffentlichten Anzeige heisst es: «Sein Zweck ist, Zöglingen die nützlichsten Wissenschaften, die Theorie der Handlung und der Kriegskunde (Militärwesens) beyzubringen. Bürger Lutz erbietet sich aber, auch tüchtige Lehrer für Landschu- len zu bilden.»1 Für das ausgehende 18. Jahrhundert kann grundsätzlich nicht von einem or- ganisierten bzw. institutionalisierten Wissensaustausch zwischen Armee und Schule in der Schweiz gesprochen werden. Dessen ungeachtet, existierten einige interessante – und in der heutigen Zeit unvorstellbare – Berührungspunkte zwischen den sozialen Systemen «Armee» und «Schule»: In verschiedenen Klassenzimmern unterrichteten ehemalige Soldaten und Offiziere, die sich nach Einsätzen im Ausland der Unterrichtstätigkeit widmeten. Gleichzeitig wurde der schulische Unterricht – in den ersten Jahren nach der Revolution in der Schweiz 1798 – durch ausländische Truppen im Land beeinträchtigt oder gar verhindert – in einigen Fällen wurden Schulhäuser von Soldaten besetzt. Schliesslich lassen sich in dieser Zeit erste staatliche Bemühungen um die Bildung künftiger Mili- tärangehöriger feststellen. Das Ziel des Artikels ist, diese Berührungspunkte zwischen Armee und Schu- le zu diskutieren und aufzuzeigen, inwiefern die beiden Systeme in Einzelfällen

1 Zürcher Zeitung, 8. April 1800, S. 5 (der Text ist von Stapfer unterschrieben).

55 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

voneinander profitierten und unter welchen Umständen ein Transfer von Wissen stattfand. Im folgenden Kapitel soll ein Bild der Schule und des Militärs um 1800 ver- mittelt und insbesondere das Schweizer Söldnerwesen diskutiert werden. In ei- nem zweiten Schritt findet eine eingehende Auseinandersetzung zu Lehrern mit militärischer Vergangenheit statt. Weiter werden Berührungspunkte zwischen der Schweizer Schule und ausländischen Armeen sowie Bildungsbemühungen für das Schweizer Militär aufgezeigt, bevor abschliessend in Bezug auf die be- sprochenen Verbindungen zwischen Militär und Schule die Bedeutung verein- zelter Wissenstransfers zwischen den beiden sozialen Systemen erörtert wird.

1. Kontext Die Alte Eidgenossenschaft war bis 1798 von den dreizehn Alten Orten mit da- zugehörigen Untertanengebieten, Gemeinen Herrschaften sowie Zugewandten Orten und deren Untertanengebieten geprägt. Die Orte wurden durch ein Ge- flecht von Bündnissen zusammengehalten.2 Am 12. April 1798 löste die Helveti- sche Republik im Zug der von Frankreich mitverantworteten und abgesicherten Helvetischen Revolution die Alte Eidgenossenschaft ab.3 Die Republik bestand bis zum 10. März 1803. Die Jahre um 1800 sind deshalb von Interesse, weil die Schweiz zum ersten Mal politisch als Einheitsstaat agierte. Entscheidungen soll- ten zentral gefällt und staatliche Institutionen – das Militär, die staatliche Schule für das Volk oder eine Universität – aufgebaut werden.

Die Schule In der bildungshistorischen Forschung werden die Schulen (insbesondere die Landschulen) in der Schweiz im ausgehenden 18. Jahrhundert überwiegend ne- gativ beschrieben. Die Lehrer waren ungebildet, die Besoldung war tief, die Schu-

2 Mit den Alten Orten sind Zürich, Bern, Luzern, Basel, Freiburg, Solothurn, Schaffhausen, Stadt und Land Zug sowie die Länder Glarus, Schwyz, Unterwalden (Ob- und Nidwalden) Uri und Appenzell gemeint. Der Sammelbegriff «Zugewandte Orte» bezeichnet diejenigen Städte, Länder oder Herrschaften, die mit den Alten Orten in einer unbefristeten vertraglichen Bindung standen, ohne voll berechtigt zu sein. Zu den Zu- gewandten Orten gehörten im 18. Jahrhundert unter anderem St. Gallen, Biel, Neuenburg, Genf, aber auch das heute französische Mülhausen. Das Bündnisgeflecht unter den Orten war kompliziert. Durch die Bündnisse wurden gegenseitige militärische Hilfe im Kriegsfall sowie Zusammenarbeit in Bezug auf Zölle, Handel und Rechtsprechung geregelt (Würgler 2014; Zimmer 2003, S. 23f.; zu Mülhausen vgl. Windler 2000, S. 223f.). 3 Die revolutionären Bewegungen in der Schweiz brachen nicht nur, jedoch zu einem guten Teil unter «dem Druck des angekündigten Einmarsches der französischen Armee» aus (Holenstein 2014, S. 132). Der Aus- druck «Helvetische Republik» ist die offizielle Bezeichnung für das zentralistische Schweizer Staatswesen in diesen knapp fünf Jahren (Fankhauser 2011). Die Helvetische Revolution begann Ende Januar – Anfang April war sie zu Ende. Bemerkenswert ist, dass die Umwälzungen im Grossen und Ganzen ohne Blutver- giessen verliefen. Gelegentlich kam es zu Demonstrationen, selten zu Zerstörungen (Im Hof 1977, S. 777).

56 19. Jahrhundert

len waren schlecht besucht.4 Verschiedene Schulumfragen aus dieser Zeit bestätigen jedoch, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Schweiz eine institutionalisierte Schule in der Stadt und auf dem Land existierte.5 Die Kin- der besuchten diese Schulen durchaus – und je nach Lehrer wurde nicht nur ge- lesen, sondern auch geschrieben und gerechnet. Fast jedes Dorf verfügte über eine Schule mit mindestens einem Lehrer.6 Dennoch waren zeitgenössische Politiker, insbesondere der Bildungsminister der Helvetischen Republik, Philipp Albert Stapfer, mit der Volksschule unzufrie- den.7 Die zentralistische Helvetische Republik sollte der Volksbildung in verschie- dener Hinsicht denn auch wichtige Impulse geben. Die Bildung wurde zur Staatssache erklärt. Stapfer schuf – inspiriert von Ideen aus Frankreich – einen Plan zum Aufbau eines nationalen Bildungswesens.8 Wesentlich war die Über- zeugung, dass das Schulsystem vollständig unter staatlicher (anstelle der kirch- lichen) Leitung stehen sollte.9 Die Elementarschule sollte allen Kindern offenste- hen und der Aufstieg in diesem Bildungssystem meritokratisch geregelt sein.10 Zudem hatte die Schule die neuen liberalen Vorstellungen zu verbreiten und für die Identifikation mit dem neuen Staat zu sorgen.11 So wurden in den Kantonen föderalistisch wirkende Erziehungsräte eingesetzt, denen die Aufsicht über die Schule übertragen wurde. Weiter sollte für ein Lehrergehalt gesorgt werden, «von dem eine Familie auch ohne Nebentätigkeit existieren konnte»,12 sowie für eine Art Pension für Lehrer im Ruhestand. Geplant war zudem eine zentralisierte Lehrerbildung. Industrieschulen und Gymnasien sollten gegründet werden13 und – als Höhepunkt – eine nationale Universität, «eine Einzige für ganz Helvetien», ein «allumfassendes Institut, worin alle nützlichen Wissenschaften und Künste in [ … ] Vollständigkeit gelehrt» würden.14

4 Vgl. u. a. Böning 1985; Hunziker 1881; Jenzer 1999; Klinke 1907. 5 Die beiden bekanntesten Erhebungen sind die Zürcher Schulumfrage von 1771 (vgl. Tröhler/Schwab 2006) sowie die nationale «Enquête» des helvetischen Bildungsministers Philipp Albert Stapfer aus dem Jahr 1799 (vgl. Brühwiler 2014). Letztere wurde von den Lehrerinnen und Lehrern beantwortet, während die Umfrage aus Zürich vom Pfarrer der jeweiligen Gemeinde ausgefüllt wurde. Aus Baselland, dem Aargau sowie der Ostschweiz liegen für den Zeitraum zwischen 1798 und 1799 weitere noch nicht transkribierte und edierte Schulumfragen in verschiedenen Archiven vor (vgl. Ruloff/Rothen 2014). 6 Schneider 1905, S. 33. Luginbühl betonte allerdings, dass oft auch grössere Orte wie «Eglisau im Kanton Zürich [ … ] für 250 Schulkinder nur eine Schule und einen Lehrer» hatten (Luginbühl 1902, S. 68). 7 Zu Stapfer vgl. Luginbühl 1902; Rohr 2012. 8 Fend 2006, S. 148. Zur «instruction publique» des französischen Politikers und Philosophen Marie Jean Antoine Condorcet vgl. Osterwalder 1992, S. 157f. 9 Späni 1999, S. 301. 10 Osterwalder 2001, S. 8f. 11 Scandola 1993, S. 11. 12 Böning 1985, S. 155. 13 Luginbühl 1902, S. 101f. 14 Hunziker 1881, S. 7.

57 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Die allermeisten bildungspolitischen Projekte wurden – zumindest während der kurzen Zeit der Helvetischen Republik – nicht umgesetzt, die angesprochenen Schulen nicht gebaut. Mehrere Ideen des helvetischen Bildungsministers haben jedoch überlebt: Lehrerbildung, Lehrerlöhne sowie Pensionskassen für Lehrer wurden in den Jahrzehnten nach der Helvetischen Republik regelmässig in der Schweizer Presse diskutiert.15

Das Militär Die Helvetische Republik entstand im März 1798 nach der militärischen Nieder- lage der drei Stände Bern, Freiburg und Solothurn gegen die französischen Trup- pen – der Bund der Alten Eidgenossenschaft hielt keine eigene, fest organisierte Streitmacht.16 Der neue Zentralstaat hingegen sollte ein eigenes, nationales Heer erhalten. Die Anfang April in Kraft getretene Verfassung räumte dieser Angele- genheit jedoch vergleichsweise wenig Platz ein. Die beiden Artikel, die sich ex- plizit mit dem Wehrwesen befassten, lauteten: «91. Es soll in Friedenszeiten ein besoldetes Truppenkorps gehalten werden, welches durch freiwillige Anwerbung und im Fall der Noth auf die durch das Gesetz bestimmte Art formirt werden soll. 92. Es soll in jedem Kanton ein Korps von auserlesenen Milizen oder Natio- nalgarden sein, welche allezeit bereit sind, im Nothfall zu marschiren, entweder um der gesetzlichen Obrigkeit Hülfe zu leisten, oder einen ersten fremden Angriff zurück zu treiben.»17 Weiter wurde in der Verfassung festgelegt, dass das «Vollziehungs-Direktorium» – die Regierung – für die äussere und innere Sicherheit verantwortlich war, über die «Kriegsmacht» verfügte (Art. 76) und die Offiziere «in jedem Grade» ernennen und absetzen durfte (Art. 82).18 Zum Verständnis der Situation sowie der Entwick- lung der Schweizer Armee um 1800 ist eine Betrachtung des Söldnerwesens sowie insbesondere der Beziehungen zu Frankreich notwendig. In der Tat dienten Schweizer noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in fremden Armeen – obschon Philippe Henry davon ausgeht, dass ab dem 18. Jahrhundert ein «Abstieg des Schweizer Söldnertums» einsetzte – und standen so einer Armee in der Schweiz um und vor 1800 nicht zur Verfügung.19

15 Ruloff 2012, S. 59. 16 Hofer führt den schwachen Widerstand in der Schweiz «zu einem guten Teil auf das Fehlen einer verbind- lichen Heeres- und Führungsorganisation und auf das Versagen der Führung» zurück (Hofer 1983, S. 42). Zu den Bemühungen um Aufbau der Landesverteidigung und Reformierung des Wehrwesens im 18. Jahr- hundert vgl. Fankhauser 1995, S. 47f. 17 Strickler 1886, S. 582; vgl. auch Oechsli 1901, S. 592; Pochon/Zesiger 1906, S. 49. 18 Oechsli 1901, S. 590f.; vgl. auch Fankhauser 1995, S. 49. 19 Henry 2015. Bis zur Helvetischen Revolution standen mehrere Hunderttausend Mann im Dienst einer fremden Armee.

58 19. Jahrhundert

Schlagkräftige Schweizer Heere, die noch im ausgehenden 18. Jahrhundert im Ausland standen, fehlten der Alten Eidgenossenschaft 1798 gegen die her- anrückende Armee Frankreichs oder wurden – zur Zeit der Helvetischen Re- publik – direkt in die französische Armee integriert.20 Die Alte Eidgenossen- schaft wurde von Frankreich nicht nur politisch revolutioniert, sondern auch in ein «System von Satellitenrepubliken» eingebunden.21 Die junge Helvetische Republik war aus militärischer – und wirtschaftlicher – Sicht eine Art Protek- torat Frankreichs.22 Nach der im Sommer 1798 mit dem Nachbarland geschlos- senen Defensiv- und Offensivallianz – bis dahin herrschte mit Frankreich of- fiziell der Kriegszustand – wurde die Helvetische Legion geschaffen. Hierbei handelte es sich um eine «stehende Nationaltruppe», bestehend aus fünfzehn Kompanien zu je hundert Mann, freiwillig rekrutiert.23 Die Legion hielt sich nicht lange.24 Stark beeinträchtigend für die Entwicklung eines nationalen Heeres waren die vielerorts verbreitete Abneigung gegen den neuen Staat sowie die kriegerischen Auseinandersetzungen auf Schweizer Terrain zwischen Frankreich auf der einen sowie Österreich und Russland auf der anderen Seite. Auf die französische Forderung nach einem Hilfskorps von 18 000 Mann reagierte die Helvetische Republik, nachdem sich kaum jemand freiwillig ge- meldet hatte, mit Zwangsrekrutierungen und schuf im Februar 1799 einen Generalstab; viele wehrpflichtige Männer flüchteten ins Ausland.25 Nach einer Niederlage Frankreichs gegen Österreich im März brach die Moral der Truppe zusammen.26 Die helvetischen Milizen waren unwillig und kriegsuntauglich und wurden schliesslich aufgelöst.27

20 Dies betrifft die fünf Schweizerregimenter in Sardinien-Piemont. Rund 2800 Mann wurden im Dezember 1798 in die französische Armee überführt (vgl. Fankhauser 1995, S. 56; Stüssi-Lauterburg/Albert 2015, S. 16). 21 Holenstein 2014, S. 122; vgl. auch ebd., S. 132. 22 Rapp 1983a, S. 63. 23 Gos 1933, S. 61f. 24 Eine Ursache dafür war wohl die fehlende Motivation der Angehörigen der Truppe. Diese hatten die für die Legion nötige Kleidung selbst anzuschaffen, Offiziere mussten sich zudem auf eigene Kosten «bewaffnen, ausrüsten und beritten machen» (o.A. 1798, S. 8). Diese Legion wurde – zwischenzeitlich vergrössert – im September 1799 aufgelöst (Fankhauser 1995, S. 59). 25 Auf Dienstverweigerung stand die Todesstrafe (Staehelin 1977, S. 807). Zum Rekrutierungsplan und der Übersicht des gewünschten Aufgebots jedes Kantons vgl. Gos 1933, S. 64; zu den genauen Plänen der hel- vetischen Regierung in Sachen Generalstab vgl. Rapp 1983a, S. 64. Eine politisch und militärisch motivierte Auswanderung aus der Schweiz vollzog sich in verschiedenen Phasen seit dem Einmarsch der Franzosen im März/April 1798 (Foerster 1995, S. 92f.). 26 Fankhauser 1995, S. 56f. Frankreich unterlag in der Schlacht bei Stockach am Bodensee, im heutigen deut- schen Bundesland Baden-Württemberg (vgl. Staehelin 1977, S. 806). 27 Es fehlte an Waffen und weiterer Ausrüstung, Verpflegung und fähigen Offizieren. Viele Soldaten waren schlicht unmotiviert, für Frankreich zu kämpfen, und desertierten (vgl. auch Stüssi-Lauterburg/Albert 2015, S. 16). Fankhauser geht davon aus, dass die Milizarmee im Spätsommer 1799 faktisch abgeschafft wurde (Fankhauser 1995, S. 57). Die Wehrpflicht wurde danach den Gemeinden übertragen, und tatsäch- lich kämpften Schweizer Milizen im zweiten Koalitionskrieg wohl bis im Frühjahr 1801 an der Seite Frank- reichs (Gos 1933, S. 75).

59 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Trotz verschiedenen Bemühungen28 gelang es der Helvetischen Republik nicht, eine nationale und schlagkräftige Armee aufzustellen. Neben den sehr schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen stand Frankreich dem Aufbau des Heeres im Weg. Der «Protektor» bzw. «Aggressor»29 hatte lediglich Interesse an Schweizer Soldaten, jedoch nicht an Streitkräften, die «unter Um- ständen zu einer Bedrohung werden konnten».30 Schon die selbstständige Leitung der «Hilfsbrigaden» blieb den Schweizern von französischer Seite her versagt.31 Nach dem Ende der Helvetischen Republik 1803 hatten die Kantone (wieder) die Kompetenz über ihr jeweiliges Heer – daneben hatte jeder Kanton eine bestimm- te Anzahl Soldaten an das Bundesheer zu liefern.32

2. Von der Armee zur Schule Im Folgenden sollen Berührungspunkte zwischen Armee und Schule aufgezeigt werden. Einleitend wird auf Lehrer eingegangen, die in verschiedenen Armeen gedient hatten, bevor sie in den Schuldienst traten. Johannes Ruterschauser war einer dieser Lehrer. Er unterrichtete an der evangelischen Schule in Güttingen (Thurgau). Am 19. Februar 1799 schrieb er in der vom helvetischen Bildungsmi- nister Philipp Albert Stapfer initiierten nationalen Schulerhebung auf die Frage, wo er vor Antritt des Schullehreramts gewesen sei: «10. Jahr in Französischen Diensten, unter dem Regiment Sonnenberg 5. Jahr Soldat, ein 1/2 Jahr Caporal und 4 1/2 Jahr Wachmeister, wo ich den Anlaass hatte, Schreiben, Rechnen, und die Französische Sprache in etwas zulernen.»33 Der Lehrer war vierzig Jahre alt, hatte Frau und drei Kinder und unterrichtete in der Dorfschule am Bodensee Lesen und Schreiben sowie Rechnen und Singen. Bis zum Ende der Alten Eidgenossenschaft standen mehrere Hunderttausend Mann in fremden Diensten.34 Nach dem Ende der Herrschaft Napoleons bestand

28 Die helvetische Regierung schuf nicht nur eine Legion und einen Generalstab und führte die verhasste Wehrpflicht ein, sie eröffnete auch mehrfach militärische Schulen. 29 Holenstein 2014, S. 132. 30 Fankhauser 1995, S. 60. 31 Frey 1888, S. 8. 32 Pochon/Zesiger betonten, dass bei der Organisation der Armee auf Schweizer Boden im Wesentlichen «die alten Zustände» wiederhergestellt wurden. Die Kantone hatten jeweils eigene Ordonnanzen und Unifor- men (Pochon/Zesiger 1906, S. 50f.). Die Aufgabe war nun die Organisation und Harmonisierung der kan- tonalen Kontingente (Rapp 1983b, S. 90). Napoleon hatte nach wie vor kein Interesse an einem starken Schweizer Militär, nach Abschluss der Defensivallianz vom 27. September 1803 war man weiter an Frank- reich gebunden. Immerhin gibt es aus der Zeit unmittelbar nach der Helvetischen Republik zwei eidgenös- sische militärische Reglemente (Pochon/Zesiger 1906, S. 51). 33 Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1463, fol. 134 – 135v. 34 Unter dem Begriff «fremde Dienste» werden der freiwillige Einsatz als Söldner sowie «die Stellung von Söldnern kraft zwischenstaatlicher Verträge» verstanden, der sogenannten Kapitulationen (Henry 2015). Zu den genauen Beständen im 18. Jahrhundert vgl. Holenstein 2014, S. 32. Im 18. Jahrhundert kämpften Schweizer Söldner für Frankreich, Österreich, Savoyen, Holland, England, Preussen, Venedig und waren in päpstlichen Diensten (vgl. o.A. 1844).

60 19. Jahrhundert

das Söldnerwesen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fort, bevor es 1848 in der Bundesverfassung und 1859 per Gesetz verboten wurde.35 Eine geringe, jedoch nicht zu unterschätzende Anzahl Lehrer hatte im 18. Jahrhundert in fremden Heeren als Söldner gedient, einige wenige auch in einer Schweizer bzw. helveti- schen Truppe.36

Soldaten und Offiziere werden Lehrer Zum Ende des 18. Jahrhunderts unterrichteten in fast jedem Kanton mehrere ehemalige Angehörige verschiedener Heere als Lehrer, wie aus den Angaben der nationalen Lehrerbefragung des helvetischen Bildungsministers Philipp Albert Stapfer im Jahr 1799 hervorgeht.37 Die Anzahl war sehr unterschiedlich: Laut den Angaben der Befragung hatte etwa in Schwyz oder in Uri je ein Lehrer Dienst in fremden Heeren geleistet, in Solothurn zwei und im Baselbiet drei. In Bern, in Freiburg und im damaligen Kanton Léman (heute: Waadt) waren es je vier bis fünf, in Zürich, Thurgau und Schaffhausen waren es sieben und im Berner Ober- land – zur Zeit der Helvetik ein eigener Kanton – zehn Lehrer. Die betroffenen Personen unterrichteten in der Deutschschweiz und der Romandie sowie in ber- gigen und eher flachen Gebieten. Mit Ausnahme eines Lehrers am Gymnasium in Schaffhausen38 waren alle an ländlichen Elementarschulen tätig. Tendenziell hatten Westschweizer und Baselbieter eher in Frankreich gedient, Zürcher und Schaffhauser eher in Holland. Aufgrund von fehlenden oder ungenauen Daten kann der Dienstort nicht für jeden Lehrer bestimmt werden, gewisse Lehrer mach- ten umgekehrt mehrere Angaben zu diesem Punkt.39 Alles in allem machten in der Erhebung rund 63 Lehrer Angaben zu einer militärischen Vergangenheit. Das sind – bei total 2410 vorhandenen Antworten – etwas mehr als 2,6 Prozent. Je nach Kanton waren bis zu 8 Prozent der Lehrer vor dem Schuldienst in frem- den Heeren gewesen. Bei den ehemaligen Söldnern im Klassenzimmer handelt es sich demnach um eine Randerscheinung. Die Daten von Stapfers Schulumfrage bilden allerdings nur einen Teil der Lehrerschaft im Jahre 1799 ab. Auch wenn die Rücklaufquote

35 Holenstein 2014, S. 40. In marginalen Formen tritt das Söldnertum heute noch auf (man denke an die päpstliche Schweizergarde). Zu den demografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkun- gen der fremden Dienste auf die Schweiz im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Henry 2015. 36 Der Lehrer aus Starkenbach (St. Gallen) war ein Jahr lang «bey dem helvetischen Truppenkorps zu Basel als Fändrich der Fürstlich St. Gallischen zu züger». Genauere Angaben sind nicht vorhanden (Bundesar- chiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1449, fol. 128 – 129v). 37 Ausnahmen sind Aargau, Luzern, Tessin, Unterwalden und Wallis: In Bezug auf diese Kantone wurden in der Umfrage von Stapfer keine Angaben zu ehemaligen Söldnern gefunden. 38 Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1456, fol. 67a – 67b. 39 So war etwa der Schulmeister von Lostorf (Solothurn) «in kriegs diensten gewesen in franckreich und bie- month» (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1461, fol. 154 – 155v).

61 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

mit gut 2400 (von schätzungsweise 2900 zu erwartenden) Antworten hoch ist, fehlen etliche Schulen aus verschiedenen Kantonen.40 Es ist davon auszugehen, dass mehr als die durch die Umfrage bekannten Lehrer im ausgehenden 18. Jahrhundert eine militärische Vergangenheit hatten, schon allein deshalb, weil diese wohl nicht bei allen befragten Lehrern erwähnt wurde. Zu Recht wurde wohl befürchtet, dass ihnen eine solche Vergangenheit zum Verhängnis werden könnte, denn obschon die Lehrer von der Wehrpflicht befreit waren, wurden ei- nige dennoch zum Kriegsdienst einberufen.41 Daneben unterrichteten zur selben Zeit weitere ehemalige Söldner in Privat- oder Nebenschulen, die von der Um- frage nicht erfasst wurden.42 Auch zu den Vorgängern der Lehrer finden sich in der Umfrage praktisch keine Informationen.43 Die meisten Lehrer mit militäri- scher Erfahrung hatten als Soldaten gedient, einige wenige waren Offiziere -ge wesen oder hatten eine andere spezielle Stellung innegehabt, mehrere Geistliche hatten vor dem Schulamt als Feldprediger gearbeitet.44

Schulische Bildung in fremden Diensten Bei der Lektüre der Umfragerückmeldungen gewinnt man den Eindruck, dass es sich bei den ehemaligen Soldaten um gebildete Leute gehandelt haben muss – die allermeisten von ihnen lehrten nach eigenen Angaben nicht nur Lesen oder Schreiben, sondern unterrichteten die Kinder auch im Singen, Rechnen oder gar in einer Fremdsprache.45 Aufgrund der in der Umfrage des Jahres 1799 oft eher

40 Freiburg und Wallis sind nur spärlich, Luzern und das Tessin fast gar nicht vertreten. 41 So der Lehrer aus Diessenhofen (Schaffhausen), der sich erst freute, dass «das Gesetz alle Schullehrer vom Militär frey sprach», und dann «unverhofft [ … ] mit der gesamten jungen Manschaft eingeschrieben wor- den» war. Auch sein Kollege aus Sargans (St. Gallen) wurde von «unangenehmen Kriegszurüstungen» und dem «Fortgang der Revolution [ … ] zum Dienst des Vaterlandes» berufen, worauf sein achtzehn Jahre alter Sohn im Winter 1798 die Schule übernahm (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1456, fol. 179 – 181v; Nr. 1449, fol. 149 – 150v). 42 Genannt sei an dieser Stelle ein «Schulmeister Oetiker», der in Korsika und Sardinien «als Unteroffizier -ge dient hatte» und im späten 18. Jahrhundert in Männedorf und Stäfa am Zürichsee eine Nebenschule hielt und Privatunterricht erteilte (Schulthess 1813, S. 151). 43 Nicht erfasst wurde etwa «Niclaus Wild», wohl der Vorgänger des gleichnamigen, seit 1797 im Schuldienst arbeitenden Lehrers von Mitlödi (Glarus). Beide waren – offenbar als Kaufleute – eine Zeit lang in Augs- burg gewesen und wurden später im Heimatdorf Lehrer. Im Genealogiebuch von Mitlödi ist beim Vorgän- ger neben dem Aufenthalt in Augsburg vermerkt, dass er Hauptmann war (Landesarchiv Glarus, Genealo- giebuch Mitlödi, S. 196). 44 So war etwa der Lehrer in Champvent (Waadt) nach eigenen Angaben Unteroffizier gewesen, sein Berufs- kollege in Bühler (Appenzell Ausserrhoden) Feldweibel und Werbeoffizier «in Sardinischen Diensten» (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1444, fol. 87 – 88v; Nr. 1458, fol. 73 – 74v) und der Lehrer in Habkern (Bern) «Granadier-Lieütenant» (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1455, fol. 229 – 230v). Erwähnens- wert ist der Lehrer der katholischen Schule in Bischofszell (Thurgau), der in Sardinien «4 Jahre als Batail- lons-Chyrurgen unter [dem] Regiment Kalbermatten gedient» hatte (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1463, fol. 301 – 302v). 45 So unterrichtete etwa der Lehrer an der katholischen Schule in Bischofszell (Thurgau) neben «Orthogra- phie», Rechnen, «Vaterlands- und Religionsgeschichte» auch die «Französische Sprache» (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1463, fol. 301 – 302v).

62 19. Jahrhundert

spärlichen Angaben zu den fremden Diensten können jedoch keine allgemein- gültigen Aussagen über eine in fremden Diensten erworbene Bildung der Leh- rer gemacht werden. Nur ganz wenige äusserten sich überhaupt in irgendeiner Form zu ihrer Zeit im Militär. Der Lehrer aus Turbach (Bern) war der Einzige, der sich als Kriegsin- valider zu erkennen gab.46 Sein 26 Jahre alter Berufskollege in Döttingen (Aargau) bemerkte, er habe sich um «seines Vaters Willen ein Genügen zu leisten», welcher «allwo [ … ] Officier gewessen», als Söldner nach Frankreich begeben.47 Neben dem bereits erwähnten Lehrer aus Güttingen (Thurgau) bemerkten lediglich die Lehrer aus Dörflingen (Schaffhausen), Erlenbach (Zürich) und Erstfeld (Uri) in der Umfrage explizit, dass sie in fremden Diensten eine schulische Bildung er- halten hätten.48 Letzterer betonte in einem langen Schlusskommentar, er habe während seiner Dienstzeit (wohl in Frankreich) Lesen, Schreiben, Musik «und buchbünden» gelernt, und so könne «also jeder Jüngling einsehen, dass das Militärische Leben nicht zum Nachtheil, sondern dass jeder vielen Nutzen daraus schöpfen kann, wann er nur will».49 Prinzipiell lässt sich vermuten, dass zumindest ein Teil der ehemaligen Söld- ner die Sprache des Gastlandes gelernt hatte. Der Dienst in Korsika und Sardini- en mag erklären, weshalb etwa «Schulmeister Oetiker» nach seiner Rückkehr an den Zürichsee «Privatunterricht im Französischen und Italiänischen gab».50 Sein Berufskollege aus Bischofszell (Thurgau) unterrichtete laut eigenen Angaben in der dortigen öffentlichen katholischen Schule – neben Lesen, Schreiben, Rechnen und «Natur lehre» – auch Französisch.51 Möglich ist auch, dass einige wenige dieser Lehrer sich im Militär musikalisch gebildet hatten.52 Bemerkenswert ist schliesslich der 64 Jahre alte Melchior Hurter, «Professor der Mathematik» am Gymnasium in Schaffhausen, der nach dem Militärdienst studiert hatte und später neben der Lehrtätigkeit in der Schweiz Angehörige des Militärs schulte: Er war «11 Jahre als Cadet und Secretaire in Militair-diensten»

46 Nach dem Dienst in Holland wurde ihm am «5.ten Merz. 1798» als «Lieutenant zu Laupen, in der Schlacht, in das rechte Bein geschossen». Seit da ging er «mit grösester Not an zweyen Krücken, auf einem Bein», den Unterricht hielt er «auf einem Stuhl sitzend» (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1455, fol. 11 – 13v). 47 Sein Bruder sei noch «unter dem Militär», er habe nun «niemand als seine Mutter bey sich» (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1424, fol. 219 – 220). 48 Die beiden ersten Lehrer waren in holländischen Diensten gewesen und hatten dort Schreiben, Rechnen und im einen Fall auch Singen gelernt (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1421, fol. 62 – 63v; Nr. 1456, fol. 112 – 113v; Staatsarchiv Zürich, K II 94.12.7). 49 Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1465, fol. 211 – 214v. 50 Schulthess 1813, S. 151. 51 Er war «12 Jahre in Sardinischen Diensten» gewesen, unter anderem im Regiment des Genfers Pierre Fatio (zu Fatio vgl. Coet 2003). 52 So zum Beispiel der bereits erwähnte Lehrer aus Starkenbach (St. Gallen), der nicht nur Singen, sondern auch «Clarinet» und «Violin» unterrichtete.

63 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

in Holland gewesen, hatte den Dienst «wegen Mangel aber von weiterer Beför- derung» verlassen und «sich zu Erlernung der mathematischen Wissenschafften auf die Universitaet [ … ] in Friessland» begeben. Als ehemaliger Artillerie- Hauptmann53 unterrichtete er auf Geheiss der «Obrigkeit» mehrere Stunden pro Woche in Abendkursen die Artilleristen und ihre Söhne «in der Geometrie, Tri- gonometrie, Mechanik und Artillerie-Wissenschafften».54

3. Armee in der Schule Etliche Teile der Schweiz waren um 1800 von einer Hungersnot, aber auch von kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. Truppen aus Frankreich, Öster- reich und Russland marschierten durch die Schweiz und lieferten sich an ver- schiedenen Orten schwere Gefechte.55 Obschon die Lehrer in der Helvetischen Republik – wie im letzten Kapitel erwähnt – von der Wehrpflicht befreit waren, wurde ihr Privatleben sowie der Schulunterricht von der politischen Situation stark beeinträchtigt. Aargauer Lehrer hatten 1799 Schanzarbeit zu leisten, wovon sie befreit werden wollten. Der Erziehungsrat schrieb deshalb im November 1799 ein entsprechen- des Gesuch an die Kantonsregierung mit der Begründung, man müsse Rücksicht auf die Schule nehmen.56 Im Aargau wurde den Lehrern – wie in mehreren an- deren Kantonen – in demselben Jahr kein Lohn oder nur ein Teil davon ausbezahlt. Aufgrund der Lohnrückstände machte sich Unmut breit, einige betroffene Lehrer legten ihr Amt nieder.57 Ende 1799 schrieb der Erziehungsrat den Lehrern «in den Landschulen» einen dreiseitigen Brief, in dem er mit Verweis auf den «verheerende[n] Krieg mit allen seinen traurigen Folgen» erklärte, dass der Re- gierung die «Kräfte» fehlten, um die Schulen richtig zu unterstützen und die Lehrer «besser» zu belohnen.58 Zur Lohnunsicherheit kam für nicht wenige Lehrer hinzu, dass sie bei sich zu Hause – wie die übrige Bevölkerung – franzö-

53 Hurter wurde 1780 «zum Artillerie-Hauptmann alhier ernannt, welche Stelle er jez noch bekleidet, obwohl er seines Alters und schwachen Gesundheit wegen, um seine Entlassung angehalten, aber solche noch nicht erlangt hat» (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1456, fol. 67a – 67b). 54 Ebd. 55 Vgl. Landolt 1973, S. 77f. 56 Staatsarchiv Aargau, HA 9128, S. 55. Unter «Schanzarbeit» sind schwere Arbeiten mit dem Spaten zu ver- stehen. 57 So etwa in der Pfarrgemeinde Bözberg, wo alle fünf Lehrer im Lauf des Jahres 1800 vom Schuldienst zu- rücktraten. Der Pfarrer teilte mit, der Unterricht werde im Winter wohl nicht stattfinden (Staatsarchiv Aar- gau, HA 9128, S. 99). Beim Lehrer von Densbüren hatten sich im Januar 1801 Lohnrückstände von drei Jahren angehäuft (ebd., S. 123). 58 Staatsarchiv Thurgau, 1’51’0, Akten 1798 – 1801, Mappe 1801, o.S.

64 19. Jahrhundert

sische Soldaten oder Offiziere einquartieren mussten.59 Der Unterricht wurde beeinträchtigt, denn die betroffenen Lehrer waren in ständiger Angst, von ihren «Gästen» beraubt zu werden. Einige hielten sich statt in der Schule lieber zu Hause auf, wo sie ihr Hab und Gut bewachten.60 Mehrere Lehrer baten in den Antworten auf die Schulumfrage 1799 offen, von der Beherbergung der Soldaten ausgenommen zu werden. Ein Musiklehrer aus Zug bemerkte, er habe «Von der 10ten halb Brigade wohl die helfte [kuriert]», was ungerecht sei, da viele «Colle- gen» von dieser Last befreit worden seien.61 Nicht nur die Lehrer selbst litten unter Einquartierungen, auch Schulhäuser wurden für ausländische Heere – als Lazarette oder Nachtlager – genutzt, was den Unterricht störte oder gar verhinderte: Der Lehrer von Herblingen (Schaff- hausen) klagte in der erwähnten Umfrage, er habe den «Franken» die Schulstu- be übergeben müssen. Der neue Raum sei für die Schule viel zu klein. Die jüngsten Schüler müsse er nun «aus Mangel an Plaz wider nach Hause» schi- cken.62 Eine Lehrerin der Zuger Mädchenschule beschwerte sich, dass «nur 28» Schülerinnen den Unterricht besuchten und vorher weit mehr Mädchen gekom- men seien. Die Schülerinnen seien jedoch durch die Einquartierung der «frän- kischen Soldaten» verscheucht worden. Man hoffe, dass es wieder mehr würden, wenn die Soldaten abgezogen seien.63 Nicht nur in Zug und Schaffhausen, auch im Staatsarchiv des Kantons Aargau liegen Informationen zu betroffenen Schul- häusern vor.64 Im Thurgau diskutierte der Erziehungsrat ebenfalls Klagen von Lehrern, die sich gegen eine Einquartierung von Soldaten der französischen Armee in einem Schulhaus in Frauenfeld wehrten.65 «Der Krieg verunmöglichte [ … ] das Schulehalten» auch in vielen Glarner Dörfern, wo der Schulraum, wie etwa in Elm, vom Militär besetzt wurde.66 In weiten Teilen der Ostschweiz standen im Frühsommer 1799 Truppen nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus Österreich. Selbst wenn der Un-

59 Unter den Einquartierungen litten etliche Gemeinden in grossen Teilen der Schweiz in einem heute kaum vorstellbaren Ausmass. Sursee (Luzern) war einer der betroffenen Orte. Die Stadt, die damals gerade ein- mal 1000 Einwohner zähle, hatte im Mai 1798 völlig unerwartet 800 Mann der französischen Armee und 130 Pferde auf einmal zu beherbergen. Die Truppen wurden gerade mal zwei Stunden vor ihrem Eintreffen angemeldet. Im August kamen noch einmal 1800 Soldaten. 1799 richteten die Franzosen zum grossen Är- ger der Bevölkerung in der Stadt ein Lazarett ein, das noch 1800 bestand (Willimann 2006, S. 151f.). 60 Vgl. hierzu etwa die Aussage des Lehrers von Oberägeri (Zug) (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1465, fol. 43 – 44v). 61 Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1465, fol. 70 – 70v. 62 Gleichzeitig werde seine «Schulstube durch die fränkischen Soldaten immer mehr und mehr verderbt» (Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1456, fol. 120 – 121v.). 63 Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1465, fol. 64 – 65v. 64 Betroffen waren unter anderem die Schulen in Zetzwil und Kulm (Aargau) (Staatsarchiv Aargau, HA 9128, S. 43). 65 Staatsarchiv Thurgau, 1’50’0, Erziehungsrat Protokoll 1799 – 1803, S. 36f. 66 Landolt 1973, S. 108.

65 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

terricht stattfand, hatte die Anwesenheit der österreichischen Soldaten einen ziemlichen Einfluss auf das Geschehen. So schreibt Johann Rudolf Steinmül- ler in seinen «Schul-Anekdoten» – ohne den Namen der Ortschaft zu nennen – von einer katholischen Gemeinde, wo der Lehrer in «Gegenwart der kaiser- lichen Truppen» jeden Vormittag die «beste Schulzeit» damit verbrachte, «dass er mit seinen Schulkindern [ … ] knieend das in St. Gallen [ … ] gedruckte Gebet für den Erzherzog Karl laut herbetete».67 In der Stadt Zürich wurde die Schule offenbar verschont. Zu Beginn des Jahres 1799 wurde die damalige Waisen- hauskirche von der Stadt in ein Lazarett umfunktioniert – die Gottesdienste wurden (insbesondere auch über die Osterfesttage) in der nahe gelegenen Schulstube abgehalten.68

4. Eine Schule für die Armee Die Helvetische Republik sollte nicht nur über eine einheitliche Armee, son- dern auch über eigene Schulen verfügen, wo zukünftige Führungskräfte des Militärs ausgebildet wurden. Am 22. Oktober 1799 veranlasste die helvetische Regierung die Schaffung einer Militärschule in Bern. Ihr Zweck war die Aus- bildung der Offiziere und Unteroffiziere; die Absolventen hatten zudem den Schutz von Regierung und Parlament zu gewährleisten.69 Im Januar 1800 wur- de im Kloster St. Urban im Kanton Luzern – nachdem dort am Lehrerseminar die Lehrtätigkeit wieder aufgenommen worden war70 – eine Artillerieschule ge- schaffen. Sie bestand aus zwei Kompanien und ging wie die Militärschule bald wieder ein.71 In Bezug auf die zu Beginn dieses Beitrags erwähnte Schule in Wädenswil am Zürichsee erschien fast auf den Tag genau ein Jahr nach der ersten, von Stapfer unterschriebenen Anzeige am 7. April 1801 in einer Beilage der damaligen Zürcher Zeitung eine vierseitige Annonce zur Schule. Das Ziel war – ganz im Sinne des neuen Zentralstaats – , «dem Vaterlande einen nützlichen Bürger [ … ] zu

67 Steinmüller 1801, S. 206. 68 Zürcher Zeitung, 16. März 1799, S. 4. 69 Die Stärke der Wachtruppe «betrug sechs Kompanien zu je 100 Mann» (Fankhauser 1995, S. 59). Die Aus- bildung sollte jeweils zwei Monate dauern. Aufgrund der desolaten Finanzen wurde schon im Januar 1800 die Schülerzahl halbiert. Nach einer weiteren Reduktion wurde die Schule im Sommer geschlossen. Nach der Wiedereröffnung im Herbst wurde die Schule ein Jahr später, im November 1801, definitiv aufgehoben (ebd.; Gos 1933, S. 72f.). 70 Zum Lehrerseminar in St. Urban vgl. Grunder 2012. 71 Das Kloster wurde offenbar verpflichtet, der Schule Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Leiter der Schule war der Basler Schriftgiesser, Major und Generalinspektor der helvetischen Artillerie Wilhelm Haas (Zschokke 1805, S. 72; vgl. auch Hess 2006). Die Schule existierte nicht lange – die genaue Dauer des Be- stands ist jedoch unklar. Es ist möglich, dass sie bereits nach zwei Monaten wieder einging (Gos 1933, S. 72).

66 19. Jahrhundert

gewähren».72 Angesprochen wurden nun alle, die «sich auf irgend ein wissen- schaftliches Fach, auf die Handlung und Geschäfte vorbereiten, oder dem Militair als künftige Offiziere widmen wollen».73 In dem sehr umfassenden Lehrplan spielten militärische Inhalte eine gewichtige Rolle, der «Anweisung zur Kriegs- kunst» war im Text ein eigenes Kapitel gewidmet.74 Auf die von Stapfer ursprüng- lich angekündigte Bildung künftiger Lehrer wird am Schluss eingegangen: Junge Leute, «die sich zu Schulstellen auf dem Land hier vorbereiten wollen», hätten «der Regierung gewisse Vortheile zu verdanken» und sollten sich an den Vorste- her der Schule oder direkt an den «Minister des öffentlichen Unterrichts» wen- den.75 Als Schulort diente das Schloss Wädenswil. Die Schule bestand lediglich zwei Jahre.76 Keine der um 1800 gegründeten Militärschulen überdauerte die Helvetische Republik – zu gross waren politische und finanzielle Probleme. Das Interesse an diesen Schulen blieb jedoch erhalten. Nach der Helvetik sollten schnell weitere Militärschulen gegründet werden. Für den Aargau bestehen Hinweise auf eine kantonale «Militär-Instruktionsschule».77 1804 wurde in Vevey im Kanton Waadt die «École du soldat [ … ], destinée à l’usage et à l’instruction des milices du Canton de Vaud» gedruckt.78 Mithilfe dieser Mischung zwischen einer militäri- schen Verordnung und einem Lehrplan wollte man den Soldaten wichtige Bewe- gungen sowie die Handhabung der Waffe beibringen.79 In demselben Jahr er- schien in Bern beim «obrigkeitl. Buchdrucker» Gottlieb Stämpfli ein nicht unter- schriebener fünfzehn Seiten langer «Vorschlag einer in Bern zu errichtenden Central-Militair- und Artillerie-Schule». Begründet wurde die Notwendigkeit der Schule damit, dass «Theile» des Kriegswesens, wie der «Artillerie- und Ingenieur- Dienst, ohne theoretischen Unterricht unmöglich ausgeübt werden» könnten.80 Vermittelt werden sollten von verschiedenen Lehrern und einem «mathemati- schen Professor» neben der «Artillerie-Wissenschaft» auch «Grundsätze der

72 Zürcher Zeitung, 7. April 1801, S. 5. 73 Ebd. 74 Man verstand sich offenbar auch als «Cadetenschule zur Bildung brauchbarer Offiziere»: Auf der Stunden- tafel standen nicht nur «Geometrie und Trigonometrie», sondern auch «Gebrauch und Anwendung aller und jeder Truppen und des Geschützes» sowie «Kriegsbau und Befestigungskunst» (ebd., S. 7). 75 Ebd., S. 8. 76 Das Gebäude wurde nach der Helvetischen Revolution 1798 zum Nationalgut erklärt. 1799 beschloss die Regierung, in dem leer stehenden ehemaligen Landvogteischloss eine Erziehungsanstalt einzurichten. Die- se wurde 1800 unter der Leitung des «Aarberger Pädagogen C. J. Lutz» eröffnet (Ziegler 2000, S. 50). 77 Zschokke 1910, S. 38f. 78 Vgl. o.A. 1804a. 79 Die «École du Soldat» erschien nach einem Beschluss des Kleinen Rates des Kantons Waadt, alle Offiziere hatten sich ein Exemplar zu beschaffen (ebd., S. 1). 80 O.A. 1804b, S. 1, 3.

67 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Taktik» oder die «Organisation [ … ] der Schweizerischen Truppen».81 Die weitere Entwicklung in dieser Sache ist unbekannt. Bis 1850 lag die Verantwortung über die Ausbildung der Truppen bei den jeweiligen Kantonen. Die Situation der Wehrpflicht und somit auch die Ausbil- dung waren sehr unterschiedlich. Ab 1815 führten einzelne Kantone zentrale Rekrutenschulen ein82 – die Dauer der Ausbildung belief sich auf eine bis fünf Wochen. 1819 wurde in Thun die eidgenössische Militärschule gegründet – sie bestand bis 1874.83

5. Wissenstransfer Krieg, Armut, Hunger und eine Revolution – in den politisch sehr unsicheren Jahren um 1800 befand sich die Schweiz in vielerlei Hinsicht im Umbruch. Der neu gegründete und durch französischen Druck zustande gekommene Zentral- staat, die Helvetische Republik, machte sich zum Ziel, eine einheitliche und staat- lich kontrollierte Schule aufzubauen – dasselbe galt für das Militär. Beide Systeme – Schule und Militär – waren Brüchen, Ungewissheiten und Widerständen aus- gesetzt, denn alte Gewohnheiten und Traditionen sollten durch neue Ideen ab- gelöst werden: Eine neue staatliche Verwaltung verkündete öffentlichkeitswirksam die Schulpflicht und griff auf kommunaler Ebene mit Gemeinden bei der Wahl oder der Besoldung eines Lehrers ein. Neben der Schule hatte auch das Militär eine Identifikation mit dem neuen Staat zu schaffen: Das Söldnerwesen sollte un- terbunden und das Vaterland, die Republik, durch die (männlichen) Bürger in Milizheeren verteidigt werden. Diese Vorstellungen etablierten sich auch in an- deren Ländern wie in Frankreich oder Preussen.84 Auf dem Schlachtfeld selbst zeichneten sich um 1800 zudem nachhaltige Veränderungen des «Kriegsbildes» ab, etwa «in der Kriegstaktik und -strategie».85

81 Ebd., S. 9, 11. 82 So etwa die Kantone Freiburg (1815), Aargau (1833) oder Solothurn (1841). Die Ausbildung dauerte eine bis fünf Wochen (Senn 2012). 83 Rapp 1983c, S. 134f. Die Schule richtete sich vornehmlich an die Artillerie, ihr Besuch war für Kader der be- treffenden Truppen obligatorisch (Senn 2012). 84 Birgfeld beschreibt den in Europa einsetzenden Wandel im 18. Jahrhundert von über nationale Grenzen hinweg agierenden «profitorientierten Söldnertruppen» hin zum Wehrdienst als staatliche Bürgerpflicht als «Verstaatlichung des Militärs» (Birgfeld 2012, S. 67). Die Bestrebungen der Verstaatlichung des Militärs fanden in der Schweiz offenbar schon (kurz) vor der Helvetischen Republik statt. Bemerkenswert ist näm- lich, dass der damalige Kanton Léman (in Bezug auf das Kantonsgebiet fast identisch mit dem heutigen Waadtland) im Zuge der Helvetischen Revolution schon vor der Gründung der Helvetischen Republik ein eigenes stehendes Heer errichtet hatte. Dieses Heer trat später in den Dienst der Helvetischen Republik (Frey 1888, S. 9). 85 Zuerst setzen sich die Veränderungen lediglich bei den Franzosen durch, bei den deutschen Heeren folgen sie erst nach 1800 im Zug der «massiven Heeresreformen in Österreich und Preussen» nach den Niederla- gen bei Jena und Auerstedt (Birgfeld 2012, S. 100f.).

68 19. Jahrhundert

Die neuen Ideen in Bezug auf Schule und Militär wurden vorerst nicht oder nur teilweise realisiert, denn weite Teile der Bevölkerung waren nicht bereit, die Kinder – auf staatlichen Befehl – zur Schule zu schicken oder für den neuen Staat (oder gar für eine andere Nation) in den Krieg zu ziehen. Von einem strukturierten, institutionalisierten Wissenstransfer zwischen Schule und Militär kann für die Zeit um 1800 in der Schweiz – trotz etlichen Berührungspunkten – nicht gesprochen werden. In diesem Beitrag konnte jedoch dargelegt werden, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert in der grossen Mehrheit der Schweizer Kantone Schulen existierten, an denen ehemalige Angehörige verschiedener Heere – meist Söldner in fremden Diensten – unterrichteten. Diese Schulen profitierten vom Wissen, das sich die Lehrer in ihrer Dienstzeit im Militär angeegnet hatten. Die Lehrer mit militärischer Vergangenheit machten um 1800 in den verschiedenen Kantonen jedoch lediglich zwischen einem und acht Prozent aus86 – selbst wenn davon ausgegangen wird, dass die faktische Zahl ehemaliger Soldaten und Offiziere in den Klassenzimmern höher lag und gewis- se Lehrer ihren militärischen Hintergrund aufgrund der politischen Situation verschwiegen, bleiben sie wohl eher ein Randphänomen.87 Wissenstransfers vom Militär zur Schule – in Form von ehemaligen Militärangehörigen, die in den Schuldienst eintraten – fanden um 1800 unkoordiniert bzw. zufällig statt, bei der Ausprägung bestanden je nach Kanton grosse Unterschiede. In ganz seltenen Fällen kann auch von Wissenstransfers in umgekehrter Richtung – vom System Schule zum Militär – gesprochen werden, wenn etwa ein erfahrener Landschullehrer in die Armee eingezogen wurde oder ein Gymnasi- allehrer in der Freizeit Angehörige der Schweizer Artillerie schulen musste. Nicht nur Schweizer Soldaten und Offiziere, auch ausländische Heere kamen in Berührung mit der Schule: «Militär im Klassenzimmer» bedeutete um 1800 für einige, vornehmlich in der Zentral- und der Ostschweiz sowie im Aargau befindliche Schulen, dass wortwörtlich ein fremdes Heer im Schulhaus stand, die Räumlichkeiten für sich beanspruchte und den Schulunterricht – und somit jede Vermittlung von Wissen – beeinträchtigte oder verunmöglichte.

86 Die Angaben beziehen sich auf Daten der nationalen Schulumfrage von Stapfer aus dem Jahr 1799. 87 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Neugebauer in seiner Untersuchung zu den Lehrern in Bran- denburg-Preussen im 18. Jahrhundert. In einer Stichprobe von 232 Kirchendienern und Landschulmeistern aus dem späten 18. Jahrhundert waren fast 70 Prozent ehemalige Handwerker – gerade einmal 5 Prozent hatten eine militärische Vergangenheit (Neugebauer 1985, S. 323). Trotz eines Kabinettsbeschlusses aus dem Jahre 1779 mit dem ausdrücklichen Befehl, dass vom Kriegsdienst heimkehrende belesene Invalide mit Schulstellen betraut werden sollten, wurden die wenigsten Kriegsinvaliden Lehrer. Beim betroffenen Direktorium wurden gerade einmal 1,9 Prozent der Invaliden für «tüchtig» befunden, und von diesen hatte nur ein Teil Interesse an der Übernahme einer Schulstelle (ebd., S. 355f.).

69 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Schliesslich wurden sowohl für die Schule als auch für das Militär, mehrere staatliche Bildungseinrichtungen gegründet, wo künftige Lehrer bzw. Offiziere ausgebildet werden sollten: In einem Fall sollte dies am selben Ort, in einem weiteren Fall sogar an derselben Schule geschehen. Keine dieser Institutionen überdauerte die Helvetik. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stand vorerst noch die Idee einer kantonal geregelten Bildung von Angehörigen des Militärs bzw. Lehrpersonen im Zentrum.88 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Schule um 1800 in Einzelfällen von militärisch gebildeten Lehrern profitierte. Umgekehrt sollte das Militär von einer neuen schulischen Bildung ihrer Angehörigen einen Nutzen ziehen, indem versucht wurde, die sich im Aufbau befindende Schweizer Armee durch spezifi- sche, für das Militär eingerichtete Schulen, zu stärken.

Bibliografie

Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1424, Baden (1798 – 1801). Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1444, Léman (1798 – 1803). Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1445, Oberland (1799). Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1449, Linth; Lugano (1798 – 1802). Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1456, Schaffhausen (1798 – 1799). Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1461, Solothurn (1798 – 1802). Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1463, Thurgau (1798 – 1803). Bundesarchiv Bern, B0 1000/1483, Nr. 1465, Waldstätten (1798 – 1802). Landesarchiv Glarus, Genealogiebuch Mitlödi. Staatsarchiv Aargau, Altes Archiv: CH-000051-7, HA 9128: Protokoll des Erzie- hungsrathes, Kanton Aargau, vom 16. Jenner 1799 bis 19. August 1803. Staatsarchiv Thurgau, 1’51’0, Helvetik, Erziehungs- u. Kirchenrat, Sanitätskom- mission: Erziehungsrat: Akten 1798 – 1801, Mappe 1801: Der Erziehungs- Rath des Kantons Argau an die Lehrer in den Landschulen desselben Kan- tons. 20.10.1799. Staatsarchiv Zürich, K II 94.12, Distrikt Meilen (1799.02).

88 Durch die Bundesverfassung von 1848 wurde die Bildung der Spezialtruppen als Sache des Bundes erklärt, ab 1874 unterstand auch der Infanterieunterricht dem Bund (Senn 2012).

70 19. Jahrhundert

Gedruckte Quellen O.A.: Bericht der Militär-Commission über die Einrichtung eines stehenden Truppencorps dem grossen Rathe der einen und untheilbaren helvetischen Republik, den 21ten August 1798, vorgelegt. Aarau: Gruner 1798. O.A.: École du soldat et du peloton, destinée à l’usage et à l’instruction des mili- ces du Canton de Vaud. Vevey: Loertscher 1804a. O.A: Vorschlag einer in Bern zu errichtenden Central-Militair- und Artillerie- Schule. Bern: Stämpfli 1804b. Strickler, Johannes: Actensammlung aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798 – 1803), Bd. 1: October 1797 bis Ende Mai 1798. Bern: Stämpfli 1886.

Literatur Böning, Holger: Revolution in der Schweiz. Das Ende der Alten Eidgenossen- schaft. Die Helvetische Republik 1798 – 1803. Bern: Peter Lang 1985. Birgfeld, Johannes: Krieg und Aufklärung. Studien zum Kriegsdiskurs in der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts, Bd. 1. Hannover: Wehr- hahn 2012. Brühwiler, Ingrid: Finanzierung des Bildungswesens in der Helvetischen Re- publik. Vielfalt, Entwicklungen, Herausforderungen. Bad Heilbrunn: Klink- hardt 2014. Coet, Philippe: Fatio, Pierre. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D23670.php (Version vom 23.5.2003). Fankhauser, Andreas: Die helvetische Militärorganisation. Absichten und Probleme. In: Simon, Christian/Schluchter, André (Hrsg.): Souveränitätsfra- gen, Militärgeschichte La souveraineté en question, histoire militaire. Basel: Helbing & Lichtenhahn 1995. S. 47 – 62. Fankhauser, Andreas. Helvetische Republik. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9797.php (Version vom 27.1.2011). Fend, Helmut: Geschichte des Bildungswesens. Der Sonderweg im europäi- schen Kulturraum. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. Foerster, Hubert: Die militärische Emigration 1798 – 1801. Offene Fragen zur Motivation, Zusammensetzung, Bedeutung und zum Souveränitätsverständ- nis der Auswanderungsbewegung. In: Simon, Christian/Schluchter, André (Hrsg.): Souveränitätsfragen, Militärgeschichte. La souveraineté en question, histoire militaire. Basel: Helbing & Lichtenhahn 1995. S. 83 – 124. Frey, Adolf: Die helvetische Armee und ihr Generalstabschef J. G. v. Salis-See- wis im Jahre 1799. Zürich: Schulthess 1888.

71 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Gos, Charles. Schweizer Generäle. Oberbefehlshaber der Schweizer Armee von Marignano bis 1914. [Neuenburg]: Attinger 1933. Grunder, Hans-Ulrich: Lehrerseminar. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D28711.php (Version vom 9.8.2012). Henry, Philippe: Fremde Dienste. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8608.php (Version vom 16.7.2015). Hess, Stefan: Haas, Wilhelm. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D41191.php (Version vom 27.4.2006). Hofer, Viktor: Führungsverhältnisse in der Alten Eidgenossenschaft. In: Der Schweizerische Generalstab. L’État-major général suisse, 1 (1983), S. 26 – 48. Holenstein, André: Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte. Baden: Hier und Jetzt 2014. Hunziker, Otto: Geschichte der Schweizerischen Volksschule in gedrängter Darstellung mit Lebensabrissen der bedeutenderen Schulmänner, Bd. 2. Zü- rich: Schulthess 1881. Im Hof, Ulrich: Ancien Régime. In: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2. Zürich: Berichthaus 1977, S. 673 – 784. Jenzer, Carlo: Der Aufbau der staatlich organisierten Schule im Kanton Solo- thurn. Der obligatorische Schulbesuch für alle und die Loslösung von der Kirche. In: Criblez, Lucien/Jenzer, Carlo/Hofstetter, Rita/Magnin, Charles (Hrsg.): Eine Schule für die Demokratie. Zur Entwicklung der Volksschule in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Bern: Peter Lang 1999, S. 73 – 92. Klinke, Wilibald: Das Volksschulwesen des Kantons Zurich zur Zeit der Hel- vetik (1798 – 1803). Zurich: Leemann 1907. Landolt, Hermann: Die Schule der Helvetik im Kanton Linth 1798 – 1803 und ihre Grundlagen im 18. Jahrhundert. Zürich: Juris 1973. Luginbühl, Rudolf: Phil. Alb. Stapfer, helvetischer Minister der Künste und Wissenschaften. (1766 – 1840). Basel: Reich 1902. Neugebauer, Wolfgang: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Bran- denburg-Preussen. Berlin: Walter de Gruyter 1985. O.A.: Schweizerischer Militär-Almanach, Bd. 2: Beiträge zur Geschichte der Schweizer-Truppen im Auslande. Basel: Universitäts-Bibliothek 1844. Oechsli, Wilhelm: Quellenbuch zur Schweizergeschichte für Haus und Schu- le. Zürich: Schulthess 1901. Osterwalder, Fritz: Condorcet – Instruction publique und das Design der Pä- dagogik als öffentlich-rechtliche Wissenschaft. In Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Aufklärung, Bildung und Öffentlichkeit. Zeitschrift für Pädagogik, 28 (1992), Beiheft, S. 157 – 193.

72 19. Jahrhundert

Osterwalder, Fritz: Education Programmes, Education Reforms, and the longue durée in Historiography of Education. In: Tröhler, Daniel/Barbu, Ragnhild (Hrsg.): Education Systems in Historical, Cultural, and Sociologi- cal Perspectives. Rotterdam: Sense 2011, S. 7 – 20. Pochon, Arnold/Zesiger, Alfred: Schweizer Militär vom Jahr 1700 bis auf die Neuzeit. Bern: Scheitlin, Spring & Cie 1906. Rapp, Georges: Période de l’occupation française (1798 – 1803). In: Der Schwei- zerische Generalstab. L’État-major général suisse, 1 (1983a), S. 63 – 89. Rapp, Georges: Période de l’Acte de Médiation (1803 – 1814). In: Der Schweize- rische Generalstab. L’État-major général suisse, 1 (1983b), S. 90 – 129. Rapp, Georges: La neutralité armée sous la régime du Pacte Fédéral (1815 – 1847). In: Der Schweizerische Generalstab. L’État-major général su- isse, 1 (1983c), S. 130 – 167. Rohr, Adolf: Stapfer, Philipp Albert. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9078.php (Version vom 28.2.2012). Ruloff, Michael: Öffentlichkeit durch Bildung, Bildung durch Öffentlichkeit? Zur Rolle des Berner Hinkenden Boten und der Neuen Zürcher Zeitung in der Frage der Lehrerbildung zwischen 1800 und 1830. In: Deluigi, Tamara/ Gabathuler, Michael/Katzenstein, Rahel/Rothen, Christina (Hrsg.): Sakrali- tät, Demokratie und Erziehung. Auseinandersetzungen mit der historischen Pädagogik Fritz Osterwalders. Berlin: Lit Verlag 2012, S. 57 – 67. Ruloff, Michel/Rothen, Marcel: Die vergessenen Schulumfragen der Helve- tischen Republik. In: Tröhler, Daniel (Hrsg.): Volksschule um 1800. Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête 1799. Bad Heilbrunn: Klink- hardt 2014, S. 33 – 54. Scandola, Pietro: Von der Schulmeisterkasse zur modernen Pensionskasse. 175 Jahre Bernische Lehrerversicherungskasse 1818 – 1993. Bern: Bernische Lehrerversicherungskasse 1993. Schneider, Ernst: Die bernische Landschule am Ende des XVIII. Jahrhun- derts. Bern: Gustav Grunau 1905. Schulthess, Johannes: Kaspar Fierz von Männedorf. Kurze Biographie eines schweizerischen Jugendlehrers. In: Schulthess, Johannes (Hrsg.): Beyträge zur Kenntniss und Beförderung des Kirchen- und Schulwesens in der Schweiz. Zürich: Näf 1813, S. 151 – 160. Senn, Hans: Militärische Schulen. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D24638.php (Version vom 13.11.2012).

73 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Späni, Martina: Die Entkonfessionalisierung der Volksschule in der Schweiz im 19. Jahrhundert. In: Criblez, Lucien/Jenzer, Carlo/Hofstetter, Rita/Mag- nin, Charles (Hrsg.): Eine Schule für die Demokratie. Zur Entwicklung der Volksschule in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Bern: Peter Lang 1999, S. 300 – 307. Staehelin, Andreas: Helvetik. Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2. Zürich: Berichthaus 1977, S. 796 – 836. Steinmüller, Johann Rudolf: Einige Schul-Anekdoten. In: Steinmüller, Jo- hann Rudolf (Hrsg.): Helvetische Schulmeister-Bibliothek, Bd. 1. St. Gallen: Huber 1801, S. 205 – 211. Stüssi-Lauterburg, Jürg/Albert, Cornelia: Die Schweizer Kriegsjahre 1798 und 1799 und die Schlacht an der Grimsel. Bern: Bibliothek am Guisanplatz 2015. Tröhler, Daniel/Schwab, Andrea (Hrsg.): Volksschule im 18. Jahrhundert. Die Schulumfrage auf der Zürcher Landschaft in den Jahren 1771/1772. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. Willimann, Andrea: Sursee – Die zweite Kapitale des Kantons Luzern. Zur po- litischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschichte der Luzerner Landstadt in den Jahren 1798 bis 1871. Basel: Schwabe 2006. Windler, Christian: Republikanismus und reichsstädtisches Freiheitsbe- wusstsein. Das Beispiel Mühlhausen. In: Böhler, Michael/Hofmann, Etienne/Reill, Peter H./Zurbuchen, Simone (Hrsg.): Republikanische Tu- gend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung ei- nes neuen Bürgers. Genf: Slatkine 2000, S. 223 – 239. Würgler, Andreas: Zugewandte Orte. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9815.php (Version vom 26.2.2014). Ziegler, Peter: Schloss Wädenswil. Vom Sitz der Landvögte zur Eidgenössi- schen Forschungsanstalt. Wädenswil: Stutz 2000. Zimmer, Oliver: A Contested Nation. History, Memory and Nationalism in , 1761 – 1891. Cambridge: Cambridge University Press 2003. Zschokke, Heinrich: Historische Denkwürdigkeiten der helvetischen Staats- umwälzung, Bd. 3. Winterthur: Steiner 1805. Zschokke, Ernst: Oberst J. N. v. Schmiel. In: Taschenbuch der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau für das Jahr 1910. Aarau: H. R. Sauerländer & Co. 1910, S. 1 – 170.

Dr. Michael Ruloff, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Institut Sekundarstufe I und II, [email protected]

74

Physische Bildung als Nationalerziehung4

19. Jahrhundert

Rebekka Horlacher

4. Physische Bildung als Nationalerziehung Die Turnbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

1829 sah sich ein «wahrheitliebender Schweizer» angesichts der Ereignisse im Kö- nigreich der Niederlande und der «merkwürdigen Entwickelung eines seit meh- rern Jahren heftig sich zeigenden Oppositionsgeistes gegen das dermalige Regierungssystem, besonders in Bezug auf den öffentlichen Unterricht»1 veran- lasst, eine Schrift mit dem Titel Die Freiheit des Unterrichtes zu veröffentlichen. Der Autor, Ernst Hermann Joseph Münch (1798 – 1841),2 ein Schweizer Historiker und Bibliothekar, stellte im ersten Kapitel seiner Publikation fest, dass «die Bildung ei- nes Nationalgeistes [ … ] eine der Hauptbedingungen des konstitutionellen Lebens» sei, was nicht ohne «National-Erziehung» möglich sei.3 Je stärker den Grundsätzen der Nationalerziehung gefolgt werde, «desto mehr sehen wir alle physischen, mo- ralischen und intellektuellen Kräfte entwickelt und dem Ideale von politischer Frei- heit uns näher gebracht».4 Nationalerziehung, die eng mit physischer, moralischer und intellektueller Entwicklung des Individuums verbunden war, was wiederum als Voraussetzung für politische Freiheit gesehen wurde, schätzte Münch als Vor-

1 [Münch] 1829, S. III. 2 Münch hatte in Freiburg im Breisgau Geschichte, Philosophie, Ästhetik und Rechtswissenschaften stu- diert, war dort Mitglied im Corps Helvetia, einer Art Vorläuferinstitution der 1818 gegründeten Burschen- schaft, 1819 bis 1821 Lehrer an der Kantonsschule in Aarau und seit 1824 Professor für Historische Hilfs- wissenschaften in Freiburg, bevor er 1828 als Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht an die Universität Lüttich wechselte. Da er als «Freigeist» und «Parteigänger der Niederlande» und damit als Geg- ner der Unabhängigkeit Belgiens galt, war er vom Lehrbetrieb ausgeschlossen und wechselte schon ein Jahr später als Staatsbibliothekar nach Den Haag. Kurz darauf wurde er vom Württembergischen König Wilhelm I. (1781 – 1864) als Bibliothekar nach Stuttgart berufen (Steigmeier 2007). 3 [Münch] 1829, S. 18. 4 Ebd.

79 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

aussetzung für das Bestehen eines Staatswesens ein. Mit dieser Überzeugung reih- te sich Münch unter eine Vielzahl von Autoren ein, die sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit der Nation, der Nationalstaatenbildung und den dafür notwendigen bzw. unterstützenden Erziehungsmethoden und -institu- tionen beschäftigten und damit nicht zuletzt der öffentlichen, staatlich finanzier- ten Schule in Europa zum institutionellen Durchbruch verhalfen.5 Eines der zentralen Themen der Nationalstaatenbildung war die Rolle der Spra- che. Die Überzeugung war weit verbreitet, dass sich ein Nationalstaat auf eine Nati- onalsprache konzentrieren müsse, wenn die Idee der Nation realisiert werden solle.6 Die Idee der einheitlichen Sprache bzw. die daraus entstehenden Probleme liegen auch den politischen Ereignissen zugrunde, die Münch 1829 zur Publikation seiner Abhandlung veranlasst hatten. Bei der Neuordnung Europas während des Wiener Kongresses (1814/15) waren die habsburgischen mit den nördlichen Niederlanden zum Königreich der Vereinigten Niederlande zusammengeführt und Wilhelm Friedrich von Oranien-Nassau (1772 – 1843) zum König gekrönt worden, der trotz seines Anscheins von «Bürgerlichkeit und Liberalität eher autoritär gesinnt und von der zeitlosen Würde seines Königtums durchdrungen war».7 Diese Würde wieder- um hing in seinen Augen eng mit einer «Niederlandisierung» des Staatsgebiets zusammen, was schon bald zu Konflikten führen sollte. Die Konfliktlinien verliefen dabei quer durch die verschiedenen Sprach- und Religionsgruppen und können nicht einfach auf den Gegensatz zwischen dem «protestantisch-niederländischen Norden» und dem «katholisch-französischen Süden» reduziert werden. Sie bildeten eher eine Gemengelage von unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen, wobei sich der vielfältig begründete Unmut an der Sprachenfrage konkretisierte. Um die nationale Einheit des die Friesen, Wallonen, Holländer und Flamen umfassenden Staatsgebiets zu stärken und die Anziehungskraft Frankreichs vor allem für den Süden des Staatsgebiets zu brechen, schien für Wilhelm Friedrich von Oranien-Nassau die Stärkung des Niederländischen als «offizielle» National- sprache geboten, das sich im flandrischen Teil, mit Vorteil aber im ganzen Süden des Staatsgebiets als Hochsprache durchsetzen sollte.8 Die 1817 auf dem Gebiet des heutigen Belgiens neu eingerichteten Universitäten hatten denn auch den Auftrag, das Niederländische zu fördern bzw. durchzusetzen.

5 Vgl. Harp 1998; Tröhler/Popkewitz/Labaree 2011; Dahn/Boser 2015; Tröhler 2016. 6 Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) beispielsweise hatte diese Überzeugung in seinen Abhandlungen über die neuere Deutsche Literatur (1768) vertreten. Er verbindet darin ein Konzept der Bildung über die Sprache mit dem Konzept der Nation und fordert einen neuen Typus von Schriftsteller, der eine eigentliche «volkserzieherische» Rolle zu übernehmen hat (Horlacher 2016, S. 51 – 53). 7 Erbe 1993, S. 198f. 8 Ebd., S. 200.

80 19. Jahrhundert

Gleichzeitig wurde im belgischen Süden das ursprünglich niederländische Schulsystem eingeführt, das europaweit einen guten Ruf genoss. Während das niederländische Grundschulsystem 1821 nach längerer Vorbereitung relativ problemlos auch auf das belgische Staatsgebiet ausgeweitet werden konnte, womit gleichzeitig das Niederländische offizielle Schulsprache wurde und die Alphabe- tisierungsrate merklich gesteigert werden konnte, erwies sich die Durchsetzung des niederländischen Schulsystems auf der Sekundarstufe als wenig erfolgreich und löste einen eigentlichen Schulstreit aus. Entsprechend den niederländischen Gymnasien waren im Süden ab 1818 Athenäen eingerichtet worden, die zwar «eine wachsende Zahl von Schülern aus den Oberschichten» anzogen,9 jedoch eine Konkurrenz zu den bischöflichen petits séminaires bildeten, die nicht nur vom Klerikernachwuchs besucht wurden. Die 1825 vom König beschlossene Schlie- ssung der petits séminaires stiess auf heftigen Widerstand, auch weil damit die Ausbildung der angehenden Kleriker komplett aus der kirchlichen Verantwortung gelöst wurde. An dieser Frage entzündete sich ein Streit, da das angestrebte staatliche Monopol in Sachen Schule nicht nur die katholische Kirche «entmach- tete», sondern auch eine sprachliche Vereinheitlichung bezweckte, was als Be- drohung der kulturellen Tradition verstanden wurde und eine Allianz von ver- schiedenen Kräften gegen das staatliche Monopol in Schulfragen ermöglichte. Gleichzeitig entwickelte sich auch ein Streit über den Grad der «Niederlandi- sierung» der öffentlichen Verwaltung, trat doch 1823 ein Gesetz in Kraft, das vorschrieb, dass «auf sämtlichen Ebenen der Administration wie des Gerichts- wesens das Niederländische» zu verwenden sei.10 Eine 1829 eingereichte Petition führte dann zu einer prinzipiellen Zweisprachigkeit vor Gericht und bei den notariellen Akten. Der aus dieser Auseinandersetzung entstandene Dissens zwischen der Krone und dem eher liberal orientierten Bürgertum hatte aber weitreichende Folgen, da das Bürgertum eigentlich die Politik des Königs mit Institutionen, die von der Kirche unabhängig sein sollten, unterstützte. Die weitgehende Missachtung der politischen Institutionen durch den König und seine eher an aufgeklärte Fürsten des 18. Jahrhunderts erinnernde Herrschaft liessen aber viele Mitglieder des Bürgertums zu Gegnern des Königs werden. Gleichzeitig sah sich die katholische Kirche in einer paradoxen Position. Mit der Trennung von Schule und Kirche hatte sie auf der einen Seite an Einfluss verloren, anderseits gab ihr die verfassungsmässig garantierte Religionsfreiheit Argumen- te gegen die Bildungspolitik der Krone in die Hand, und sie konnte «auf volle

9 Ebd., S. 201. 10 Ebd., S. 202.

81 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Entfaltungsmöglichkeit innerhalb einer freiheitlich verfassten Staats- und Gesell- schaftsordnung» pochen.11 Diese Situation führte zu einer Annäherung der beiden Oppositionsgruppen, des liberalen Bürgertums und der katholischen Kirche, die sich in den Forderungen der Freiheit von Schule und Sprache, nach Pressefreiheit, direkten Wahlen und einer Erweiterung der politischen Befugnis- se inklusive Ministerverantwortlichkeit zusammenfanden. Trotz einem teilweise Einlenken der Krone auf die oppositionellen Forderungen kam es 1830 zu Auf- ständen, die auch von der wirtschaftlichen Krise und der Julirevolution in Frank- reich begünstigt wurden12 und die in die am 4. Oktober 1830 proklamierte Un- abhängigkeit Belgiens mündeten. In dieser politischen Grosswetterlage hatte sich Münch gezwungen gesehen, das Konzept der Nationalerziehung mit dem Ziel der politischen Freiheit durch die Entwicklung der physischen, moralischen und intellektuellen Kräfte zu verteidi- gen.13 Nationalerziehung konnte demnach nicht nur mit Sprache, sondern auch mit der Entwicklung der physischen Kräfte, sprich mit Gymnastik, Turnen oder Sport, verbunden werden. Damit formulierte Münch 1829 keinen ganz neuen oder revolutionären Gedanken, hatten doch schon Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Eiselen in ihrer 1816 veröffentlichtenDeutschen Turnkunst diese Idee verfolgt,14 wobei auch diese beiden Autoren die Idee nicht «erfunden» haben, sondern eher einer breiter geteilten Überzeugung, die bis heute nachwirkt, prominent zum Ausdruck gebracht haben: «Im umfassenden traditionellen Sinne bedeutet Turnen vielseitige Leibeserziehung durch alle möglichen Arten von Leibesübungen (Turn- spiele, volkstümliche Übungen) unter staatsbürgerlicher Zielsetzung.»15 Anhand von ausgewählten Publikationen aus der Zeit um 1800 untersucht dieser Beitrag die Frage, welche Bedeutung dem Turnen bzw. der Gymnastik für die Nationalerziehung bzw. für die Bildung des Bürgers zugesprochen wurde. Dabei wird Erziehung bzw. Schule – neben dem Militär16 – als die der institutio- nellen Möglichkeiten verstanden, wie das anvisierte Ideal des Menschen bzw. Bürgers aus staatlicher Perspektive erreicht werden kann. Für den Bereich der körperlichen Tätigkeit wird hier der Begriff «Turnen» verwendet, wobei in den Quellen auch die Begriffe «Gymnastik», «körperliche Übungen» oder «körperli-

11 Ebd., S. 203. 12 Ebd., S. 204. 13 Belgien wurde neulich sogar zum «laboratory of European nationhood and citizenship» geadelt (Hoegaerts 2014, S. 3). 14 Jahn 1992, S. 32ff. 15 Röthig 1992, S. 535. Dieses Lexikon gilt auch als «Standard-Nachschlagewerk» der Sportwissenschaften (http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/94_0523.html; abgerufen am 17.08.2015). 16 Vgl. Weber 1976.

82 19. Jahrhundert

che Ausbildung» zu finden sind. Damit grenzt sich dieser Begriff vor allem von der englischen Variante der physischen Betätigung, sports, ab, der sich um 1800 an der Idee des Wettkampfs orientierte, während die deutsche Variante des Turnens die physische Betätigung als Übung und als Wiederbelebung der «volks- thümlichen Spiele» interpretierte.17 In den hier untersuchten Schriften, die zum «Kanon» der Begründungsschrif- ten des Turnens gezählt werden können und die auch die von Münch geforderte «Nationalerziehung» mit der physischen Erziehung verbinden, wird eine enge argumentative Verbindung des Turnens mit der nationalen Geschichte, der Sprache, der (früheren) Wehrhaftigkeit, einem breiten Verständnis von Gesund- heit, der Volkskultur sowie einem mythischen Verständnis von «Natur» sichtbar, wobei die inhaltliche Gewichtung der verschiedenen Aspekte unterschiedlich ausfällt. Damit beschäftigt sich dieser Beitrag weniger mit der «eigentlichen» Frage des Wissenstransfers, wenn unter diesem Konzept die Vorstellung von zwei wie auch immer voneinander getrennten Bereichen verstanden wird, zwischen denen Wissen zirkulieren kann, sondern untersucht vielmehr, wie Militär und Schule, die beiden «tragenden» Institutionen der Bürgerbildung, eben diesen Bürger bilden, wobei Turnen als das verbindende Element thematisiert wird. Im ersten Abschnitt kommt Johann Christoph Friedrich GutsMuths mit seinen Schriften zum Turnen und zur Gymnastik für die Jugend zu Wort, in denen er für ein «systematisches» und «pädagogisches» Turnen plädiert. Friedrich Ludwig Jahns und Ernst Eiselens Deutsche Turnkunst «nationalisiert» die pädagogische Turnkunst GutsMuths’, wie der zweite Abschnitt zeigt. Phokion Heinrich Clias’ Abhandlung zu den Anfangsgründen der Gymnastik oder Turnkunst transferiert die pädagogische Konzeption GutsMuths’ in einen republikanischen Kontext. Auch Clias betont das «nationalerzieherische» Potenzial des Turnens, allerdings mit Rückbezug auf die heldenhafte Geschichte der alten Eidgenossen. Im Kontext der Schweiz wird zudem im vierten Abschnitt der Frage nachgegan- gen, wie diese Vorstellungen von körperlicher Ausbildung und/oder Ertüchtigung Eingang in das Curriculum gefunden haben. 1840 bis 1846 veröffentlichte Adolf Spiess (1810 – 1858) ein vierbändiges Werk mit dem Titel Die Lehre von der Turn-

17 Eisenberg 1999, S. 83. Jahn weist in seinem Vorbericht zur Deutschen Turnkunst darauf hin, dass der Be- griff «Turnen» ein deutscher Begriff und deshalb ausgewählt worden sei, weil er im Deutschen auf eine bis zu Notker und das Jahr 1023 zurückreichende Tradition blicken könne (Jahn 1816, S. XXVIII). Damit reihte sich Jahn in eine zeitgenössische Debatte ein, in der Begriffs- und Sprachgeschichte und der Rückgriff auf mittelalterliche Erzählungen als Mittel der kulturellen Selbstvergewisserung gesehen wurde.

83 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

kunst, das als erstes eigentliches Lehrmittel in der Schweiz für das Turnen gilt.18 Allerdings geht es in diesem Beitrag nicht darum, den Weg dieser Curricularisie- rung nachzuzeichnen, sondern beispielhaft aufzuarbeiten, auf welche Traditionen das Turnen und die Gymnastik zurückgreifen konnten, bis 1874 das Schulturnen und der «militärische Vorunterricht» als Pflichtfach für Knaben in den Lehrplan aufgenommen wurden. Allerdings wurde lediglich das Schulturnen umgesetzt, während der militärische Vorunterricht, der Turn- und Schiesskurse beinhaltete und dazu gedacht gewesen war, «die körperliche Wehrtüchtigkeit der jungen Knaben in der Zeit zwischen dem Austritt aus der Volksschule und dem Eintritt in die Rekrutenschule»19 sicherzustellen, Papier blieb. In diesem Kontext soll auch die Frage thematisiert werden, ob Turnen mit dem Nützlichkeitsargument der Wehrtüchtigkeit propagiert wurde und ob bestimmte Interessengruppen als Pro- motoren des Turnens rekonstruiert werden können oder ob um 1800 andere Ar- gumente stark gemacht wurden, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Überzeu- gungskraft verloren oder aus anderen Gründen aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwanden.

1. Turnunterricht als pädagogische Gymnastik Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759 – 1839), der im Umfeld der Philan- thropen zu verorten ist, verfolgte mit seinen verschiedenen Publikationen zum Turnen und zur Gymnastik das Ziel, «den überlieferten Übungskanon neu zu- sammenzustellen, zu systematisieren und [ … ] mit bürgerlichen Inhalten zu füllen»,20 wobei er zeittypisch davon ausging, dass der Mensch durch Erziehung vervollkommnet werden könne. GutsMuths’ Turnen war schon seiner eigenen Formulierung zufolge keine «Neuerfindung», sondern ein Anknüpfen an beste- hende Traditionen und Praktiken, die neu geordnet und mit neuen Inhalten ge- füllt werden sollten, das heisst an die Bedürfnisse der «bürgerlichen» Schichten anzupassen waren. Die Philanthropen, ein Sammelbegriff für eine Gruppe von Erziehern und Schulreformern, die sich nach dem Vorbild des 1774 von Johann Bernhard Base- dow (1724 – 1790) in Dessau gegründeten Philanthropins mit «moderner» Erzie- hung und Schule beschäftigten, verfolgten das Ziel, mit der Aufnahme von Un-

18 Wolf 1983, S. 13. Der aus Deutschland stammende Spiess war seit seinem Theologiestudium in Giessen ak- tiver Turner und Burschenschafter und emigrierte 1833 in die Schweiz. In Münchenbuchsee und Basel war er als Turnlehrer aktiv, errichtete ebenda einen Turnplatz, führte den ganzjährigen Turnunterricht ein und plädierte für einen Turnunterricht für Mädchen. 1847 und 1851 veröffentlichte er ein zweibändiges Turn- buch für die Schulen, das die Turnkunst didaktisch aufbereitete (Jordan 2010). 19 Kern 2009, S. 4. 20 Eisenberg 1999, S. 96.

84 19. Jahrhundert

terrichtsfächern wie Mathematik, Naturwissenschaften, Geografie oder modernen Fremdsprachen in den Lehrplan ihrer Schulen ein Ausbildungsbedürfnis einer aufstrebenden Bevölkerungsschicht abzudecken. Diese Schicht war nicht Teil des Adels, weshalb ihre Nachkommen auf den adeligen Standesschulen nicht ihren (neuen) Bedürfnissen entsprechend ausgebildet werden konnten; die traditionel- le Schule vermochte ihre Bedürfnisse aber ebenfalls nicht mehr zu erfüllen. Diese aufstrebende Bevölkerungsschicht, die auch mit dem Begriff «bürgerlich» bezeichnet wird, setzte sich aus Kaufleuten, Regierungsbeamten, wohlhabenden Handwerkern oder Pfarrern zusammen, die ihre Nachkommen für Berufskarri- eren im Handel und in der Geschäftswelt ausbilden wollten.21 Diese neuen – hier konkret die philanthropischen – Schulen boten auch Gymnastik an, ein Unterrichtsfach, das abgesehen von der ärztlichen Ratgeber- literatur für Erwachsene, bisher ausschliesslich an Ritterakademien gelehrt worden war. Dementsprechend wurden denn auch die klassischen, dem Adel zugedachten Disziplinen Voltigieren, Tanzen, Fechten und «Anstand» geübt.22 Die Leibesübungen, zu denen um 1800 übrigens auch der Unterricht in hand- werklichen Fähigkeiten gehörte,23 verfolgten damit die Funktion einer breiten «Lebensbefähigung», also das Ziel, unterschiedliche Lebenssituationen meistern zu können, was nicht nur beruflichen und persönlichen Erfolg mit einschloss, sondern auch den Umgang mit Naturgewalten und die Ermöglichung einer möglichst naturnahen Lebensart, wie sie die Zeitgenossen um 1800 in Rousseaus Erziehungsroman Émile als paradigmatisch beschrieben zu sehen glaubten. GutsMuths, Hauslehrer bei der Familie Ritter in Quedlinburg, hatte 1785 die beiden Söhne der Familie in das von Christian Gotthilf Salzmann (1744 – 1811) gegründete Philanthropin Schnepfenthal begleitet, wo ihm schon bald nach seiner Ankunft eine Stelle als Lehrer angeboten wurde. Hier entwickelte Guts- Muths seinen Gymnastikunterricht, der die Gymnastik weg von der höfischen Tradition hin zu einer Arbeit am Körper führen sollte. «Lasst uns den Körper mehr abhärten, so wird er mehr Dauer und Nervenstärke erhalten; lasst uns ihn üben, so wird er kraftvoll und thätig werden; dann wird er den Geist beleben, ihn männlich, kraftvoll, unermüdlich, standhaft und muthvoll machen»,24 wie Guts- Muths in seiner Gymnastik für die Jugend schrieb. Diese Arbeit am Körper unter- schied sich nicht nur qualitativ von der höfischen Tradition, sondern wurde auch

21 Aus dieser Bevölkerungsschicht rekrutierte auch Pestalozzi einen Grossteil seiner Schülerschaft in seinem Institut in Yverdon (Horlacher 2010). 22 Eisenberg 1999, S. 97. 23 Schmitt 2007, S. 209. 24 GutsMuths 1793, S. 140.

85 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

mit dem «Deutschsein» in Verbindung gebracht: «Es ist aber ein sehr grosser Unterschied zwischen Tanzen lernen und Ausbildung des Körpers, zwischen zierlicher Haltung und Nervosität desselben, zwischen dem zaghaften Geiste des jungen Elegants und dem männlichen Wesen des deutsch seyn sollenden Jünglings.»25 Damit waren diejenigen Eigenschaften angesprochen, die durch die körperliche Übung hervorgebracht werden sollten: Abhärtung, Übung und die Belebung des (deutschen) Geistes. Dazu gehörte auch, dass die körperliche Übung sich an eine «ursprüngliche Natur» und am Vorbild der «Naturvölker»26 zu orientierten hatte, wobei diese Ursprünglichkeit als «nicht-verzärtelte» Ver- bundenheit mit den natürlichen Elementen verstanden wurde. Ziel war eine «freye Selbstüberlassenheit»27 an die natürlichen Einflüsse und Kräfte, welche «die wohlthätigsten Folgen»28 haben musste. Eine an den Prinzipien der Natur orientierte Erziehung, welche die physischen Kräfte gezielt mitentwickelte, führe zu einem «deutschen» Menschen. Umso erstaunlicher war es für Guts- Muths, dass zwar das Konzept der «Natur» in die Erziehung der «Seele» Eingang gefunden habe, der Körper bis jetzt aber davon nicht berührt worden sei, ja dass die Erziehung sich sogar den Anschein gebe, also ob «wir keinen Körper hätten».29 Folgerichtig würden auch die Schulen «keinen Plan» von der Bildung des Körpers verfolgen.30 Die Kinder würden sich zwar nach der Schule durchaus körperlich betätigen und verschiedene Spiele spielen, diese seien aber «nur gar zu oft für Gesundheit und Leben gefährlich», blosser «Zeitvertreib [und] nicht Körperübung unter sorgsamer Leitung».31 Mit seiner Gymnastik verfolgte GutsMuths das Ziel, die verschiedenen Übun- gen und Konzepte zur körperlichen Ertüchtigung systematisch zu ordnen und zu begründen und sie im Sinne einer «praktischen Anleitung» den Eltern, Pri- vaterziehern, Schulanstalten, ja «meiner ganzen Nation, die es so sehr verdient, ihrer nervichten Ahnen werth zu bleiben, und durch physische Festigkeit die edle, altdeutsche Treue ihres Charakters zu behaupten und zu beleben»,32 zur Verfü- gung zu stellen. Mit dieser Zusammenstellung wollte er auch an die antiken Vorbilder anknüpfen, die im Deutschland des 18. Jahrhunderts als unübertroffe- ne Ideale galten. Damit brachte GutsMuths in der philanthropischen Reformbe- wegung verbreitete Vorstellungen auf den Punkt, wie sie Peter Villaume 1787 in

25 Ebd., S. 16. 26 Ebd., S. 3. 27 Ebd., S. 2f. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 12. 30 Ebd., S. 13. 31 Ebd., S. 14. 32 Ebd., S. 143f.

86 19. Jahrhundert

seiner Schrift Von der Bildung des Körpers in Ansätzen formuliert und Gerhard Ulrich Anton Vieth in seinem dreibändigen Versuch einer Encyklopädie der Leibes- übungen (1794, 1795, 1818) systematisiert hatte.33 Gymnastik war primär der körperlichen Ertüchtigung gewidmet, ohne allerdings die Leistungsmessung und damit einen bestimmten Anteil an Wettkampf aussen vor zu lassen. Mit der Beförderung der Entwicklung des «männlichen» oder «deutschen» Wesens er- hielt die Gymnastik zudem eine moralische Dimension. GutsMuths’ Publikationen wurden breit rezipiert, wie etwa die umfangreiche Subskribentenliste für die zweite Auflage der Gymnastik für die Jugend von 1804 zeigt und wie GutsMuths selber im Vorwort bemerkt: «Schon ist von tausend Familien gymnastische Bildung in die Privaterziehung aufgenommen; schon keimt auf einer deutschen Universität eine gymnastische Anstalt hervor, und eine andere durchsinnet die Errichtung einer solchen. Schulen erhalten hier und da Spielplätze, die edle Gräffinn Harrach verpflanzte die Leibesübungen zuerst in die Landschule zu Kunnewald in Mähren; mehrere Anstalten, z. B. das Christi- anspflegehaus zu Eckernförde, eine Militär-Schule in Baden und andere nehmen gymnastische Spiele in ihren Plan auf; Badeanstalten und Schwimmschulen entstehn in mehreren Städten und bey vielen Schulen; bey allen Böhmischen Landschulen macht die Regierung das wöchentliche Baden gesetzlich, und in einzelnen Städten z. B. Zürich, Lübeck werden Anstalten zu Leibesübungen getroffen.»34 Auch Kopenhagen richte, so GutsMuths weiter, ein «öffentliches gymnastisches Institut»35 ein, und «in Norwegen zu Drontheim wurden auf Schwimmübungen öffentliche Prämien ausgesetzt»36. Zudem sei die Publikation ins Englische, Dänische und Französische übersetzt worden. Dieser internatio- nale Erfolg habe ihn verpflichtet, die Gymnastik für die Jugend für die zweite Auflage wesentlich zu überarbeiten. «Es ist wenig von dem geblieben, was die alte Ausgabe enthält. Alles fremdartige ist weggestrichen und die ganze Anlage des Buchs ist neu.»37 Konkret wurde im Vorwort zur zweiten Auflage die Gymnastik stärker «natür- lich» begründet und von einer von der Natur gegebenen Notwendigkeit hergelei- tet, die im Laufe der Zeit vergessen gegangen sei und jetzt wieder restituiert werden müsse. «So lange» nämlich «die Natur den Menschen an den Fesseln des Instinkts und der physischen Bedürfnisse» geführt habe, «war er stets in der

33 Schmitt 2007, S. 215. 34 GutsMuths 1804, S. XIIf. 35 Ebd., S. XIII. 36 Ebd., S. XIV. 37 Ebd., S. XV.

87 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

strengen Schule der Körperübung».38 Die alltägliche Notwendigkeit des Überle- bens habe dazu geführt, Gymnastik als natürlichen Teil des Alltags zu verstehen. Mit der zunehmenden Kultivierung der Gesellschaft sei diese natürliche Übung aber verloren gegangen, da der Mensch «seine Bedürfnisse auf eine bequemere Art»39 habe stillen können. Das Resultat sei «Convenienz», «Bequemlichkeit», ein «feiner Ton» und oft sogar «fanatische Ueberspannung».40 Um diese negati- ven Auswirkungen zu verhindern, hätten einige «weise Völker des Alterthums absichtlich körperliche Uebungen an die Stelle der vormaligen natürlichen Gymnastik» gesetzt, woraus die «künstliche» Gymnastik entstanden sei, die in vier Unterarten aufgeteilt werden könne: die «kriegerische», die «athletische», die «medicinische» und die «echte», nämlich die «Pädagogische».41 Seine eigene Gymnastik widme sich nun ausschliesslich der letzten Art, der pädagogischen Gymnastik, womit sich GutsMuths explizit gegen «einige Verworfene» abgrenz- te, welche «die Athletik [ … ] gleich unsern Luftspringern zum einzigen Zwecke des Lebens machten».42 Systematisch aufgebaute körperliche Übungen waren damit für GutsMuths keinesfalls eine Betätigung mit einem Zweck in sich selbst und damit nicht mit dem englischen Konzept des sports vergleichbar, sondern immer ein pädagogi- sches Mittel mit dem Ziel der Erziehung des nützlichen, brauchbaren, tätigen und tugendhaften Bürgers. Dieser Bürger war auch ein «ästhetischer» Bürger, wobei mit Ästhetik der sichtbare Teil der Ethik gemeint war. Auch wenn die äu- sserlichen Gesichtszüge unveränderlich seien, wirke die physische Bildung auf deren Gestalt ein und mache die «innere» Schönheit gegen aussen sichtbar.43 Turnen und Gymnastik wurde so mit körperlicher Übung und Abhärtung ver- bunden, mit einer systematischen Ausübung und einem pädagogischen Zweck, orientierte sich an einer mythischen Vorstellung von Natur und am ästhetischen Ideal der Antike. Darin integriert war eine «nationale» Orientierung, als eine wenig konturierte Vorstellung des «Deutschen». Im Vordergrund stand die «bürgerliche Tüchtigkeit», weniger die «nationale Identität».

2. Turnen als nationale Befreiung und europäischer Exportschlager GutsMuths’ Konzept einer pädagogisch ausgerichteten Gymnastik wurde zur Re- ferenzgrösse für die nachfolgenden Schriften zum Turnen. Diese lobten in der

38 Ebd., S. 1. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 2. 42 Ebd., S. 3. 43 Ebd., S. 5.

88 19. Jahrhundert

Regel explizit GutsMuths’ Verdienste für die Gymnastik und das Turnen und ak- zentuierten seine Überlegungen in die eine oder andere Richtung, so auch Fried- rich Ludwig Jahn (1778 – 1852)44. Im Vorbericht zur Deutschen Turnkunst legte Jahn dar, wie es 1811 zur Eröffnung des ersten Turnplatzes auf der Berliner Ha- senheide gekommen sei.45 Seine Vorstellung des Turnens sei von den «Vorarbei- tern Vieth­ und Gutsmuths»46 inspiriert worden, und die Turnkunst habe «von Anfang an» von einem «grossen Gemeingeist und vaterländischen Sinn, Beharr- lichkeit und Selbstverläugnung»47 gezeugt. Einer seiner Mitstreiter, Friedrich Friesen (1784 – 1814)48 aus Magdeburg, der sich nicht nur um das «Ordneramt», sondern auch um die «wissenschaftliche Erforschung und kunstrechte Begrün- dung des Turnwesens»49 kümmerte, war denn auch «bei Fichte ein fleissiger Zu- hörer gewesen» und wusste «vor allem [ … ], was dem Vaterlande Noth that»50. In Jahns Schriften wird eine gewisse Nähe zum Militär deutlich, die nicht nur damit zusammenhing, dass die Anhänger der Turnbewegung in den Befreiungs- kriegen gegen Napoleon aktiv gewesen waren, sondern in seiner Konzeption des Turnens begründet lag. Die Deutsche Turnkunst war als erster Band einer grösseren Reihe gedacht, die allerdings nie publiziert wurde. «Auf ein grösseres Werk über die Turnkunst müssen wir für jetzt Fechten, Schwimmen, Reiten, Tanzen, die Kriegsübungen für die Jugend, Kopfübern oder Luftspringen und Schlittschuh- laufen versparen.»51 Jahn gab in der Einleitung zur Deutschen Turnkunst aber Hinweise darauf, wie er sich diese weiteren Disziplinen vorstellte. Für das Schwim- men beispielsweise sei auch der Staat in die Pflicht zu nehmen, da dafür «Sicher- heitsanstalten» notwendig seien. Ein staatlicher Zwang zum Schwimmunterricht

44 Jahn studierte an der Universität Halle, wo er einem freimaurerischen Studentenorden beitrat. Wegen ei- ner Prügelei wurde er von der Universität verwiesen und arbeitete an verschiedenen Orten als Hauslehrer, bevor er 1809 nach Berlin zog und an mehreren Schulen als Lehrer tätig war, unter anderem auch an der Plamannschen Erziehungsanstalt. 1810 gründete er zusammen mit Friedrich Friesen den Deutschen Bund, einen Vorläufer der Burschenschaften. Im Juni 1811 eröffnete Jahn auf der Hasenheide in Berlin den ersten Turnplatz und verbrachte die Jahre 1813 bis 1815 im Lützowschen Freikorps. Nach Kriegsende kam es zu Spannungen zwischen Jahn und den Behörden über die Funktion des Turnens, die in der Schliessung des Turnplatzes 1819 mündeten. Im selben Jahr wurde Jahn verhaftet, 1825 jedoch freigesprochen, wobei er sich nicht mehr in einer Universitäts- oder Gymnasialstadt aufhalten durfte. Die ebenfalls verhängten Ein- schränkungen seiner politischen Tätigkeiten wurden erst 1840 aufgehoben, und 1848 wurde er in das Par- lament der Frankfurter Paulskirche gewählt (Ueberhorst 1974). 45 Jahn/Eiselen 1816, S. IV. 46 Ebd., S. V. 47 Ebd., S. Vf. 48 Friesen hatte eine aktive Rolle im politischen und militärischen Kampf gegen Napoleon gespielt, was Jahn in seinem Vorbericht allerdings nicht explizit erwähnte. Friesen gründete 1810 den Deutschen Bund mit, ei- nen Geheimbund mit dem Ziel eines bewaffneten Aufstandes und der sittlichen Erneuerung des Volkes, war in der Burschenschaftsbewegung aktiv, bereitete 1812 die Erhebung gegen Napoleon mit vor und starb 1814 in den Befreiungskriegen (Leber 1961). 49 Jahn/Eiselen 1816, S. V. 50 Ebd., S. VII. 51 Jahn 1816, S. XIII.

89 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

sei zudem nicht nur für «Fischer, Fährleute, Flussschiffer» sinnvoll, weil diese dann weniger ertrinken würden, sondern es «würden [auch] nicht so viele Menschen in der Blüthe der Jahre an scheuslichen Krankheiten durch Nichtbaden sterben».52 Da ein Nichtschwimmer immer Angst vor dem Wasser habe, gehe er auch nicht ins Wasser, um sich zu waschen, sondern werde «mit dem Schmutz der Haut, den er im Leben aufsammelt, jämmerlich zu Grabe»53 getragen. Schwimmen diente in Jahns Konzeption also nicht nur der Unfallprävention und körperlichen Ertüch- tigung, sondern war auch Teil der Hygieneerziehung. Auch die Kriegsübungen waren nicht ausschliesslich auf die körperliche Er- tüchtigung gerichtet, sondern erfüllten noch weitere Zwecke. Kriegsübungen, die ohne Gewehr stattfinden sollten, «bilden männlichen Anstand, erwecken und beleben den Ordnungssinn, gewöhnen zur Folgsamkeit und zum Aufmerken, [und] lehren den Einzelnen, sich als Glied in ein grosses Ganzes [zu] fügen».54 Ziel der Kriegsübungen war damit eher eine Art moralische Bildung und soziale Kultivierung, abgesehen davon, dass «eine wohlgeübte Kriegerschaar [ … ] ein Schauspiel von der höchsten Einheit der Kraft und des Willens»55 sei und damit auch einen ästhetischen Gewinn biete. Turnen könne zudem ganz praktische Vorteile haben, da es den Volksfesten einen Sinn gebe und verhindere, dass die Leute nur dastehen und sich langweilen würden.56 Die wegen seiner Biografie und seiner politischen Äusserungen zu erwarten- de explizite Verbindung des Turnens zur deutschen Nation formulierte Jahn im Kontext der «Turngesetze». Jeder Turner war angehalten, «den Adel des Leibes und der Seele mehr [zu] wahren» als andere Menschen und sich «am wenigsten [ … ] eines Tugendgebots darum [zu] entheben, weil er leiblich tauglicher ist».57 Die körperliche Stärke erlaubt oder kompensiert demnach keine moralischen Verfehlungen, im Gegenteil. «Tugendsam und tüchtig, rein und ringfertig, keusch und kühn, wahrhaft und wehrhaft sei sein Wandel.»58 Dieser eigentlich «bürger- liche» Tugendkatalog wurde national erhöht. Es sei «des Deutschen Knaben und Deutschen Jünglings höchste und heiligste Pflicht [ … ], ein Deutscher Mann zu werden und geworden zu bleiben, um für Volk und Vaterland kräftig zu würken, unsern Urahnen den Weltrettern ähnlich».59 Diese nationale Überhöhung wurde allerdings nicht mit einer nationalen Überlegenheit im Vergleich zu anderen

52 Ebd., S. XV. 53 Ebd. 54 Ebd., S. XVII. 55 Ebd. 56 Ebd., S. XVIIIf. 57 Ebd., S. 233. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 234.

90 19. Jahrhundert

Nationen begründet, sondern pädagogisch. Mit dem Ziel vor Augen, ein deutscher Mann zu werden, werde der Heranwachsende davon abgehalten, auf die schiefe Band zu geraten, weil dadurch der moralische Ehrgeiz geweckt werde. Das «Feindbild» beziehungsweise die abgelehnte Orientierung war die «wahngeschaf- fene Weltbürgerlichkeit», ein Kosmopolitismus ohne Wurzeln und normative Leitlinie, was als «Irrwisch»60 bezeichnet wurde. Das «Deutsche» dagegen offe- riere eine moralische Orientierung und ein anzustrebendes Ziel, das für eine gelingende Erziehung zum «Biedermanne»61 als unabdingbar angesehen wurde. Wer sich diesen Gesetzen nicht unterwerfen wolle, habe auf einem Turnplatz nichts zu suchen. Damit ist Turnen bei Jahn zwar auch körperliche Ertüchtigung, militärische Vorbereitung und allgemeines Gesunderhalten, vor allem aber nati- onale Erziehung, die sich an einem Ideal des «Deutschen» orientiert, das Leitidee für die Nation ist.

3. Leibesübungen zur Stärkung der patriotischen Tugend und Wehrhaftigkeit Am Beispiel der Berner Akademie kann nun gezeigt werden, wie Turnen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in einen Lehrplan aufgenommen und mit welchen Argumenten die Bedeutung des entsprechenden Unterrichts be- gründet wurde. Auch hier wird wie schon bei GutsMuths’ Schriften deutlich, dass Turnen «mehr» war als nur ein Unterrichtsfach für körperliche Betätigung, wo- bei dieses «mehr» im Beispiel von Phokion Heinrich Clias (1782 – 1854)62 bzw. der Berner Akademie eher in Richtung patriotische Tugend und Wehrhaftigkeit ausformuliert wurde. In Verbindung mit dem Turnen wurden diese als geeigne- te Mittel angesehen, die nationale Identität zu fördern, ohne auf eine – im Fall der Schweiz ohnehin nicht vorhandene – gemeinsame Sprache, Konfession oder Ethnie zurückgreifen zu müssen.63 Am 10. September 1804 beschloss der Kleine Rat der Stadt Bern, eine Kom- mission zur Neuorganisation des Unterrichts einzusetzen, die schon ein Jahr

60 Ebd. 61 Ebd. 62 Clias, Sohn eines Nidwaldner Kaufmanns und Offiziers im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wurde in Boston geboren und nach dem Tod der Mutter in ein Institut im niederländischen Groningen geschickt, das er allerdings nach kurzer Zeit wieder verliess, um Europa zu bereisen. Seit 1810 arbeitete er als Turn- lehrer in Gottstatt bei Biel, anschliessend am Gymnasium und am Waisenhaus in Bern sowie am Institut Fellenberg in Hofwil. 1816 veröffentlichte er die Anfangsgründe der Gymnastik oder Turnkunst, ein Buch, das die Behörden und die Öffentlichkeit von der Bedeutung des Turnens überzeugen sollte. 1821 gründete er die Schwimm- und Badeanstalt im Berner Marzili und wechselte im gleichen Jahr nach England an die königliche Militär- und Seemannsschule. 1824 kehrte er in die Schweiz zurück, war kurzzeitig als Mitglied des Berner Grossrats (1832 – 1835) auch politisch tätig, lebte zeitweise in Frankreich und kehrte 1848 erneut in die Schweiz zurück (Gmür 2003). Zusammen mit Johannes Niggeler (1816 – 1887) und Adolf Spiess gilt er als «Begründer» des Turnunterrichts in der Schweiz (Bussard 2007, S. 64). 63 Bussard 2007, S. 65.

91 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

später einen entsprechenden Vorschlag vorlegte. Darin wurden die Schulen der Stadt Bern in zwei eng zusammenhängende Teile gegliedert, eine untere und eine obere Schule, die mit Abendlektionen ergänzt wurden. In diesen Lektionen sollte Tanzen, Fechten und Schwimmen unterrichtet werden, wobei der Unterricht freiwillig war.64 Die dazu notwendigen Einrichtungen wie Badeplatz oder Fecht- halle waren zumindest teilweise schon vorhanden, nicht so die entsprechenden Lehrpersonen. Waren diese zu Beginn noch eher zufällig ausgewählt worden, wurde schon bald auch von behördlicher Seite immer mehr Wert darauf gelegt, dass der im Plan vorgesehene Unterricht wirklich durchgeführt wurde und die entsprechenden Lehrpersonen für den Unterricht qualifiziert waren. 1807 wurde zudem angeregt, auch in Bern Gymnastik gemäss den Vorgaben von GutsMuths einzuführen. Die Akademische Kuratel beschloss allerdings, «von ‹der körperli- chen Ausbildung nach Guts Muths zu abstrahieren›, da durch die jetzige Organi- sation genügend und zweckmässig für die Leibesübungen gesorgt sei».65 Erst sieben Jahre später, als sich Clias um eine Anstellung in Bern bemühte und dazu bestimmt wurde, die «Aufsicht über die zu veranstaltenden gymnastischen Uebun- gen der Schüler der hiesigen Akademie zu übernehmen», und ein «gleicher Antrag [ … ] auch von Hrn. v. Fellenberg in Hofwyl für seine Erziehungs-Anstalt daselbst gemacht worden»66 war, war die Berner Behörde bereit, dieses Fach einzuführen. Der Turnunterricht hing bei Clias eng mit der Vorbereitung auf den militäri- schen Unterricht zusammen. Anlässlich eines Turnfestes, das er 1817 in Bern zur Förderung der Gymnastik veranstaltete und das er auch dazu nutzen wollte, seine eigene berufliche Position in Bern zu verbessern, schrieb er an seine vor- gesetzte Behörde: «L’attachement que j’ai pour Berne et l’idée flatteuse que je serais puissamment secondé aussitôt qu’on reconnaîtrait l’utilité et les avantages (que présentaient à la jeunesse et surtout à celle qui est destinée à la carrière des armes) des exercises corporels bien suivis m’ont persévéré dans mon entreprise.»67 Die Nützlichkeit der körperlichen Ertüchtigung war damit gegeben. Im Vorwort seiner ein Jahr früher erschienenen Schrift über die Anfangsgründe der Gymnastik oder Turnkunst hatte er sich zudem explizit an «die Bewohner meines Vaterlandes»,68 das heisst der Schweiz, gerichtet und auf die aktuelle politische Situation Bezug genommen. Anhand des Beispiels Deutschland wies er auf die Notwendigkeit der physischen Erziehung hin: «Die Gewitterwolken, welche

64 Strupler 1955, S. 33f. 65 Ebd., S. 43. 66 Clias 1816, S. 36. 67 Strupler 1955, S. 55. 68 Clias 1816, S. 1.

92 19. Jahrhundert

während dem allgemeinen Sturme über unsern Häuptern schwebte; die innere Kraft und das Aufwachen einer Nation, die unter einem eisernen Joche schmach- tete, ihre raschen Siege, ihr kriegerischer Ruhm und die Wiederherstellung ihrer Sitten, – alles dieses sind eben so viele Beyspiele und ernste Ermahnungen, mit Sorgfalt über die physische Erziehung eines Volks zu wachen, welches durch Stärke, Muth und Treue sich immer ausgezeichnet hat.»69 Der Zusammenhang zwischen Nation und physischer Bildung wird in einer Fussnote zum Stichwort Nation noch deutlicher ausgeführt. Clias verweist expli- zit auf Friedrich Ludwig Jahn und seine Schriften; von Jahn würden viele «mit Recht» behaupten, «dass der Einfluss dieser Uebungen mächtig dazu beygetragen habe, dieser Nation jenen patriotischen Geist und die körperliche Ausharrung mitzutheilen, dessen sie bedurfte, um sich von der Sklaverey, unter welcher sie seufzte, zu befreyen»,70 womit Clias eine enge Verbindung zwischen Turnkunst, militärischer Stärke und Nationalbewusstsein zog. Er wies denn auch auf die heldenhaften Taten der Alten Eidgenossen hin, die es ermöglicht hätten, dass «eine Handvoll Hirten ein zahlreiches und geübtes Heer» besiegen konnte und «wie eine Nation, deren Land kaum einer Provinz eines grossen Reichs gleich kommt, Mächten widerstehen konnte, welche durch ihre Siege und die Zahl ihrer Krieger furchtbar waren».71 Neben den eigentlichen physischen Vorteilen habe die Gymnastik zusätzlich noch moralische Vorteile, da eine «fortdauernde Hei- terkeit des Gemüths die Frucht der Gesundheit des Körpers sey».72

4. Turnen als Schulfach 1972 entwickelte David Layton am Beispiel der Naturwissenschaften im England des 19. Jahrhunderts ein dreistufiges Modell, um die Entstehung eines Schul- fachs zu erklären. Dabei stellte er fest, dass in der ersten Stufe das neue Fach sei- nen Platz im Stundenplan mit Nützlichkeitsargumenten rechtfertige und die entsprechenden Lehrpersonen selten explizit für das Fach ausgebildet seien, da- für aber «the missionary enthusiasm of pioneers to their task»73 hätten. Auf der zweiten Stufe entstehe eine eigentliche Tradition wissenschaftlichen Arbeitens

69 Ebd., S. 1f. 70 Ebd., S. 1. 71 Ebd., S. 2f. 72 Ebd., S. 23. Im Unterschied zu GutsMuth und vor allem auch zu Jahn betonte Clias auch den anatomisch- physiologischen Aspekt der Gymnastik. Nach einer allgemeinen Einleitung in die Anfangsgründe der Gym- nastik und der Turnkunst folgen sechs Kapitel von insgesamt rund zwanzig Seiten, die sich ausschliesslich mit dem Aufbau des Körpers beschäftigen. Diesen Aspekt der Gymnastik baute Clias gegen Ende seiner be- ruflichen Tätigkeit noch aus und wandte sich der eigentlichen Heilgymnastik zu, wo er auch einige prakti- sche Erfolge erzielen konnte (Strupler 1955, S. 73). 73 Layton 1972, S. 11.

93 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

und eine Lehrerschaft, die sich exklusiv diesem Unterrichtsgebiet widme. Auf der dritten Stufe gebe dann die Wissenschaft die curricularen Inhalte vor, wobei dem Unterricht die Funktion eines eigentlichen «Initiationsritus» zukomme.74 Aus einer wissenssoziologischen Perspektive argumentierend, betonte Ivor F. Goodson rund zehn Jahre später die Bedeutung der verschiedenen Interessen- gruppen bei der Einführung eines neuen Schulfachs und stellte damit die «tra- ditionelle» Sichtweise infrage, das heisst die Sichtweise, dass Schulfächer von wissenschaftlichen Disziplinen oder Formen des Wissens herrühren,75 was Lay- ton vor allem für seine dritte Stufe als relevant erachtet hatte. Goodson betonte, dass seine Perspektive vor allem für Schulfächer relevant sei, die nicht zum Ka- non der höheren Bildung gehörten und nicht auf eine zugehörige wissenschaft- liche Disziplin rekurrieren könnten, wie er am Beispiel des Fachs Geografie zeigt. In dem hier zur Diskussion stehenden Zeitraum dürfte sich das Fach Turnen auf Laytons erster Stufe befunden haben. Von der Entwicklung der physischen Kräfte bzw. von Turnen oder Gymnastik schienen sich die verschiedenen Promo- toren des Turnens, aber auch die Behörden, Eltern und Lehrer einen Nutzen versprochen zu haben, der den Unterricht im Fach «Turnen» oder, wie es etwa im Schulplan der Kantonsschule Aarau hiess, «Leibesübung» oder «Gymnastik», als geboten erscheinen liessen.76 Das Unterrichtsfach «Leibesübung» oder «Gym- nastik» lässt sich auch an weiteren Schweizer Schulen nachweisen,77 und schon der helvetische Bildungsminister Philipp Albert Stapfer (1766 – 1840) hatte 1798 körperlichen Unterricht in seinem Projet de loi sur les écoles élémentaires vorgese- hen. Gemäss diesem Gesetzesvorschlag sollten in der Primarschule «connaissan- ces nécessaires» vermittelt werden «pour s’acquitter de leurs devoirs [ … ] de dé- velopper leurs forces intellectuelles et physiques et le germe des facultés indust- rielles [et] d’inspirer enfin à leurs jeunes âmes l’amour de la vertu et les principes républicains».78 Ähnlich wie bei GutsMuths sollte auch bei Stapfer die physische Erziehung zu praktischer Lebensfähigkeit führen und war Teil der Tugenderzie-

74 Ebd. 75 Goodson 1981, S. 166. 76 Strupler 1955, S. 29f. 77 Das Collège académique in Lausanne führte gemäss seinem Règlement von 1818 einen fakultativen Turn- unterricht ein mit dem Ziel, «à donner plus d’énergie au caractère, plus de vigueur à l’âme et plus d’activité à l’intelligence» (Bussard 2007, S. 38). Im zwischen 1808 und 1813 bestehenden Privatinstitut von Samuel Hopf in Basel wurde ebenfalls «Leibesübung» betrieben, wie auch schon dreissig Jahre früher im Philan­ thropin im bündnerischen Marschlins (Strupler 1955, S. 30f.). 1825 wurde in Murten eine Gymnastik-Ge- sellschaft gegründet, und ein Jahr später beauftragte der Gemeinderat die Schulkommission, die Notwen- digkeit von Turnunterricht in der Schule zu prüfen (Flückiger 1950, S. 79). 1827 wurde ein Unterrichtskon- zept vorgelegt, das zahlreiche Spiele und militärische Übungen beinhaltete und das 1829 für die Knaben der oberen Klassen mit zwei Wochenstunden eingeführt wurde. Als Lehrer wurde ein Arzt namens August Beck engagiert. 78 Stapfer 1887, S. 528f.

94 19. Jahrhundert

hung, wobei diese Tradition mindestens bis zu Johann Georg Sulzers (1720 – 1779) Schrift Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder (1748) und damit in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, wo die Leibesübun- gen ebenfalls schon Thema gewesen waren. Für Sulzer hatten diese «einen nicht geringen Einfluss auf die Eigenschaften der Seele», da sie «die Kinder hart, herzhaft, geduldig, standhaft, kühn [machen]; und [ … ] dem Gemüth, wenn sie in Ordnung geübet werden, etwas edles ein[prägen]».79 Die Präsenz der physischen Erziehung in diesen Schriften über Erziehung sowie in den Schulgesetzen oder Curricula ist möglicherweise nicht ganz zufällig, waren doch in abgelegenen Gegenden der Schweiz noch im 18. Jahrhundert Volksspiele verbreitet, «wie sie im 15. und im beginnenden 16. Jahrhundert im ganzen Mittelland feststellbar sind»,80 was dazu geführt habe, dass das «moderne» Turnern relativ nahtlos an diese Traditionen anknüpfen konnte. Zumindest bis zur Reformation seien Schützenfeste, die «viel zur Verbrüderung der Eidgenossen beigetragen»81 hätten, Leichtathletikwettkämpfe, teilweise auch für Frauen, sowie Schwimmen in der Schweiz weit verbreitet gewesen. Erst im Nachgang der Re- formation seien diese Spiele, Wettkämpfe und auch das Schwimmen immer stärker eingeschränkt oder verboten worden, auch weil diese Tätigkeiten zu un- erwünschten Lustbarkeiten geführt hätten. Die konfessionelle Spaltung der Eidgenossenschaft nach der Reformation habe gesamteidgenössische Aktivitäten zusätzlich minimiert.82 Turnen bzw. Gymnastik oder körperliche Betätigung war demnach bis ins 18. Jahrhundert Zeitvertreib, Spiel, Unterhaltung, Vorbereitung für Wettkampf oder Krieg und wurde – wie so viele andere Praktiken auch – im 18. Jahrhundert pädagogisiert. Turnen konnte damit wie die übrigen Schulfächer nicht einfach «nur» als Unterricht in einer bestimmten Fähigkeit oder Fertigkeit gesehen werden, sondern diese Fähigkeit und der Unterricht in dieser Fertigkeit war immer mit einem «pädagogischen Zugewinn» verbunden, mit der Vorberei- tung auf die Zukunft oder der «Gesunderhaltung» des Körpers und der Seele, was ebenfalls als Investition in die Zukunft gesehen wurde. Auf dieser Basis wurde die körperliche Ertüchtigung in die neu zu organisie- rende Schule integriert, da Turnen in seiner pädagogisierten Form nicht ausser- halb des schulischen Curriculums bleiben konnte. Mit dem Verweis auf die re- publikanische Tugendtradition oder die ritterliche Tradition der Kraft und Stärke war es denn auch einfach und naheliegend, Turnen in nationalerzieherische

79 Sulzer 1748, S. 221f. 80 Strupler 1955, S. 1. 81 Ebd., S. 4. 82 Ebd., S. 9.

95 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Zielvorstellungen zu überführen. Dies wird am Beispiel der Publikationen von GutsMuths deutlich, in dessen Schriften zwischen 1804 und 1817 eine deutliche Veränderung vom Konzept der systematischen, pädagogischen Körperübung hin zu einem Konzept von Turnen sichtbar wird, das auch als militärische Vorberei- tung verstanden wurde, ohne allerdings die pädagogische Dimension deswegen aufzugeben.83 Angesichts der «nationalen Erweckung» Deutschlands nach der Niederlage gegen Napoleon, der Erfolge in den «Befreiungskriegen» und des Zulaufs, den die Jahn’sche Turnbewegung gleichzeitig erlebte, die explizit mit der nationalen Befreiung in Verbindung stand, ist diese Anpassung an die aktuellen Debatten nicht sehr überraschend, sondern eher als Ausdruck einer weit verbrei- teten Befindlichkeit zu lesen. In Jahns nationalisierter Ausformulierung, vor allem auch über dessen konkrete didaktische Anleitungen und Turngeräte, fand Turnen dann Eingang in die neu gegründeten Schulen. Die grosse Nachfrage nach konkreten Anleitungen, wie Turnen unterrichtet werden konnte bzw. wie Turnplätze einzurichten waren, spiegelt ein allgemeines Phänomen des frühen 19. Jahrhunderts. Die nach 1800 entstehenden «neuen» Schulen entwickelten eine grosse Nachfrage nach Lehrmitteln und Anleitungen, weil diese sehr oft – mangels breitflächig angebotener Lehrerbildung – die einzi- ge Möglichkeit waren, pädagogische Neuerungen unterrichtswirksam werden zu lassen. Gemäss der von David Layton vorgeschlagenen Stufung besassen die entsprechenden Lehrpersonen um 1800 den «missionarischen Eifer von Pionieren»,84 waren sie doch vom pädagogischen Wert ihres Unterrichtsfaches überzeugt und versprachen sich von einer systematischen Unterweisung nichts weniger als «bessere Menschen». Mit dem Rückgriff auf die verschiedenen Tra- ditionen der körperlichen Betätigung, die sich gerade im Fall Deutschlands auch bestens mit einer romantisierenden Vorstellung von Natur und Volk verbinden liessen, konnte auch der Gefahr begegnet werden, dass Turnen oder Gymnastik wegen der höfischen Tradition des Fechtens, Tanzens oder Schwimmens allenfalls als etwas «Fremdes» oder gar «Französisches» wahrgenommen worden wäre; Tanzen konnte beispielsweise auch als «Volkstanz» verstanden werden. In dem Sinne war Turnen schlicht ein weiteres Unterrichtsfach, das in das Curriculum der neuen Volksschule Eingang fand, weil es wie die Schule überhaupt versprach, den «neuen Bürger» zu bilden. Wie dieser «neue Bürger» dann inhaltlich ausfor- muliert wurde bzw. auf welche Traditionen er sich zu beziehen hatte, konnte an die jeweiligen nationalen Gepflogenheiten angepasst werden. Wie das eingangs

83 Gutsmuths 1817, [S. 1]. 84 Vgl. Layton 1972, S. 11.

96 19. Jahrhundert

erwähnte Beispiel Münchs zeigt, konnten aber gerade diese nationalen Gepflo- genheiten, an denen sich der neue Bürger zu orientierten hatte, zu Konflikten führen. Während in den grundsätzlichen Überzeugungen, was Schule zu leisten und wozu Schule zu erziehen hatte, leicht Übereinstimmung erzielt werden konnte, erwiesen sich die konkreten inhaltlichen Ausformulierungen des Curri- culums als sehr viel konfliktträchtiger, waren damit doch auch weitreichende Entscheide über die konkrete Vorstellung «des Bürgers» verbunden. Auch wenn Nationalerziehung das übergreifende Ziel der Schule und des Curriculums war, wurden die Fächer Turnen und Sprache für diesen Zweck als besonders geeignet angesehen. Nationalerziehung bot so den normativen Kontext für das «moderne» Turnen und ermöglichte dem Fach die Aufnahme in die pädagogisierte Schule des 19. Jahrhunderts.

Bibliografie

Quellen Clias, Phokion Heinrich: Anfangsgründe der Gymnastik oder Turnkunst. Bern: J. J. Burgdorfer 1816. GutsMuths, Johann Christoph Friedrich: Gymnastik für die Jugend. Ent- haltend eine praktische Anweisung zu Leibesübungen. Schnepfenthal: Ver- lage der Buchhandlung der Erziehungsanstalt 1793. GutsMuths, Johann Christoph Friedrich: Gymnastik für die Jugend, ent- haltend eine praktische Anweisung zu Leibesübungen (1793). Schnep- fenthal: Buchhandlung der Erziehungsanstalt 1804. GutsMuths, Johann Christoph Friedrich: Turnbuch für die Söhne des Va- terlandes. Frankfurt am Main: Gebrüder Wilmans 1817. Jahn, Friedrich Ludwig: Vorbericht. In: Jahn, Friedrich Ludwig/Eiselen, Ernst: Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. Berlin: Auf Kos- ten der Herausgeber 1816, S. III – XLVIII. Jahn, Friedrich Ludwig/Eiselen, Ernst: Deutsche Turnkunst zur Einrich- tung der Turnplätze. Berlin: Auf Kosten der Herausgeber 1816. [Münch, Ernst Hermann Joseph]: Die Freiheit des Unterrichtes, mit beson- derer Rücksicht auf das Königreich der Niederlande und die gegenwärtige Opposition in demselben; von einem wahrheitliebenden Schweizer. Bonn: in Commission bei Eduard Weber 1829.

97 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Stapfer, Philipp Albert: Projet de loi sur les écoles élémentaires (1798). In: Luginbühl, Rudolf: Philipp Albert Stapfer, helvetischer Minister der Künste und der Wissenschaften (1766 – 1849). Basel: E. Detloff’s Buchhandlung 1887, S. 526 – 536. Sulzer, Johann Georg: Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder. Zürich: Conrad Orell u. Comp. 1748.

Literatur Bussard, Jean-Claude: L’éducation physique suisse en quête d’identité (1800 – 1930). Paris: L’Harmattan 2007. Dahn, Nathalie/Boser, Lukas: Learning to See the Nation-State. History, Geo- graphy and Public Schooling in Late 19th-Century Switzerland. In: Bildungs- geschichte. International Journal for the Historiography of Education, 5, 1 (2015), S. 41 – 56. Eisenberg, Christiane: «English Sports» und deutsche Bürger. Eine Gesell- schaftsgeschichte 1800 – 1939. Paderborn: Schöningh 1999. Erbe, Michael: Belgien, Niederlande, Luxemburg. Geschichte des niederländi- schen Raumes. Stuttgart: Kohlhammer 1993. Flückiger, Ernst: Die Stadtschulen von Murten. Zur Hundertjahrfeier der Se- kundarschule von Murten 1950. Laupen: Polygraphische Gesellschaft 1950. Gmür, Thomas: Clias, Phokion Heinrich. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D14009.php (Version vom 19.12.2003). Goodson, Ivor F.: Becoming an Academic Subject. Patterns of explanation and evolution. In: British Journal of Sociology of Education, 2, 2 (1981), S. 163 – 180. Harp, Stephen L.: Learning to be Loyal. Primary Schooling as Nation Building in Alsace and Lorraine 1850 – 1940. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press 1998. Hoegaerts, Josephine: Masculinity and Nationhood, 1830 – 1910. Constructions of Identity and Citizenship in Belgium. New York: Palgrave Macmillan 2014. Horlacher, Rebekka: Private Bildungsangebote, wohlhabende Eltern und die Karriereplanung ihrer Kinder in Pestalozzis Anstalt in Yverdon. In: Tröhler, Daniel/Horlacher, Rebekka (Hrsg.): Die Lebenswelten Pestalozzis im Spie- gel seiner Korrespondenz 1760 – 1810. Jahrbuch der Schweizerischen Gesell- schaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, 1, (2010), S. 133 – 151. Horlacher, Rebekka: The Educated Subject and the German Concept of Bil- dung. A Comparative Cultural History. New York, NY: Routledge 2016. Jahn, Günther: Friedrich Ludwig Jahn. Volkserzieher und Vorkämpfer für Deutschlands Einigung 1778 – 1852. Göttingen: Muster-Schmidt 1992.

98 19. Jahrhundert

Jordan, Stefan: Spiess, Karl Adolf. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 24. Ber- lin: Duncker & Humblot 2010, S. 693f. Kern, Stefan: Turnen für das Vaterland und die Gesundheit. Der Eidgenössi- sche Turnverein und seine Ansichten vom Schulturnen, dem freiwilligen Vorunterricht und dem Vereinsturnen 1900 – 1930. Norderstedt: Grin 2009. Layton, David: Science as General Education. In: Trends in Education, 25 (1972), S. 11 – 15. Leber, Marianne: Friesen, Karl Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5. Berlin: Duncker & Humblot 1961, S. 613f. Röthig, Peter (Hrsg.): Sportwissenschaftliches Lexikon (1972). Schorndorf: Hofmann 1992. Schmitt, Hanno: Die Anfänge des Schulsports im 18. Jahrhundert. In: Schmitt, Hanno: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropi- schen Erziehungsbewegung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007, S. 209 – 222. Steigmeier, Andreas: Münch, Ernst. In: Historisches Lexikon der Schweiz, www.hls-dhs-dss.chD43934php (Version vom 5.10.2007). Strupler, Ernst: Die Anfänge der modernen Leibesübungen in der Schweiz bis 1833. Winterthur: P. G. Keller 1955. Tröhler, Daniel/Popkewitz, Thomas S./Labaree, David F.: Introduction. Children, Citizens, and Promised Lands: Comparative History of Political Cultures and Schooling in the Long 19th Century. In: Tröhler, Daniel/Popke- witz, Thomas S./Labaree, David F. (Hrsg.): Schooling and the Making of Ci- tizens in the Long Nineteenth Century. Comparative Visions. New York, NY: Routledge 2011, S. 1 – 30. Tröhler, Daniel: Curriculum History, or the Educational Construction of Eu- rope in the Long 19th Century. In: European Educational Research Journal, 15, 3 (2016), S. 279 – 297. Ueberhorst, Horst: Jahn, Friedrich Ludwig. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10. Berlin: Duncker & Humblot 1974, S. 301 – 303. Weber, Eugen: Peasants into Frenchmen. Stanford: University Press 1976. Wolf, Kaspar: Das Schulturnen – eine starke Säule des Schweizersports. In: Hotz, Arturo (Hrsg.): 125 anni al servizio dell’educazione fisica nella scuola. 125 ans au service de l’éducation physique scolaire. 125 Jahre im Dienste des Schulturnens 1858 – 1983. Stäfa: Gut 1983, S. 13f.

Dr. Rebekka Horlacher, Pädagogische Hochschule Zürich, Zentrum für Schulge- schichte, Lagerstrasse 2, 8090 Zürich, [email protected]

99

«Grundsätzlich ist auf diese Weise das ganze männliche Geschlecht von der Jugend bis zum5 Alter in steter Beziehung zum Kriege»

19. Jahrhundert

Rudolf Jaun

5. «Grundsätzlich ist auf diese Weise das ganze männliche Geschlecht von der Jugend bis zum Alter in steter Beziehung zum Kriege» Militär-, Staats- und Geschlechterkonzeptionen bei Friedrich Beust und Emil Rothpletz

Nie waren die Erwartungen an die enge Zusammenarbeit, gar Verzahnung von Schule und Militär in der Schweiz so hoch wie im 19. Jahrhundert. Dies kann nur vor dem Hintergrund der republikanischen Staats- und Geschichts- sowie Gesell- schafts- und Geschlechterphilosophie verstanden werden, die sich in der Schweiz 1848 auf nationaler Ebene durchsetzte. Im vorliegenden Beitrag soll dieser ideengeschichtliche Hintergrund an zwei vergessenen, aber herausragenden Vertretern der republikanischen, liberalen und demokratischen Gesellschafts- und Staatsphilosophie der Schweiz vorgestellt werden. Beide waren auch herausragende Lehrpersonen: Friedrich Beust als Lehrer der Froebel-Schule und 1854 Begründer einer eigenen Pestalozzi-Schule in Zürich, Emil Rothpletz als erster Inhaber des militärwissenschaftlichen Lehr- stuhles an der ETH von 1878 bis 1897. Damit ist auch der Bogen von der Volksschule zur Hochschule geschlagen. Die zivil-militärischen Konzepte der physischen und geistigen Bildung des nati- onalen Männerpotenzials sollte in der Volksschule beginnen und mit der Hoch- schule enden: vom Knabenturnen in der Primarschule zur geistigen Durchbildung des Milizoffizierskorps an der Hochschule.

103 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Ich werde zuerst am Beispiel von Friedrich Beust zeigen, wie die Einheit von ziviler und militärischer Bildung stark von der deutschen liberalen Emigration der 1848er getragen wurde, welche Hoffnungen und Perspektiven sie mit diesem Konzept verband und welches die staats- und gesellschaftsphilosophische Quelle war. Dann werde ich anhand von Friedrich Rothpletz’ Erörterungen zu den ge- sellschafts-, geschichts- und geschlechterpolitischen Grundlagen der Schweizer Milizarmee zeigen, wie die zivile und militärische Entwicklung der Schweizer Nation angedacht wurde.

1. Friedrich Beust und die Organisation eines Volksheeres Wie manch andere Offiziere quittierte Friedrich Beust noch vor dem Revoluti- onsversuch von 1848 wegen nicht geahndeter Missstände den Offiziersdienst in der preussischen Armee und wurde Redaktor der Neuen Kölnischen Zeitung. Nach- dem er als Kommandant der Kölner Landwehr den Auszug der Kölner Garnison gegen die Bürgerwehr in Düsseldorf verhindert hatte, flüchtete er über Brüssel nach Paris. 1849 reiste er über Genf und Basel nach Baden, nahm als Mitglied des Oberkommandos der revolutionären Armee am badisch-pfälzischen Aufstand teil. Im Juli 1949 führte er einen Truppenteil bei Rheinfelden in die Schweiz. Beust liess sich in Zürich nieder − er war in Abwesenheit dreimal zum Tode ver- urteilt worden − und übernahm von Karl Fröbel eine nach den Grundsätzen Pes- talozzis geführte Schule. Vor dem Hintergrund der republikanischen Volksheer-Theorie propagierte und praktizierte er an seiner Schule einen militä- rischen Jugendunterricht für Knaben. Jeden Sonntag soll er Exerzier- und Schiess- übungen geleitet haben.1 Zum Kernbestand der republikanisch-liberalen Militärtheorie gehört die Idee, den militärischen Unterricht des nationalen Männerpotenzials im Knabenalter beginnen zu lassen und in den obligatorischen Volksschulunterricht zu integrie- ren. Beust veröffentlichte 1867 nach dem preussischen Sieg über Österreich die Schrift Grundzüge der Organisation eines Volksheeres, die postulierte, die militäri- sche Ausbildung vollständig in die Jugendzeit der Männer zu verlegen: Vom 12. bis 16. Jahr sollten sie einen halben Tag in der Woche die Knabenwehr besuchen und vom 17. bis 19. Altersjahr die Jugendwehr, die jährliche Kurse von einer bis vier Wochen vorsah.2 Dann setzte der Repetitionsdienst in den Formationen der Armee ein, eine eigentliche Grundausbildung innerhalb der Armee entfiel. Beust formulierte dieses Konzept nicht nur im Hinblick auf die Schweiz aus: Minutiös

1 Osterwalder 2004. 2 Beust 1867.

104 19. Jahrhundert

eruierte er für die deutschen Staaten, Dänemark, Niederlande, die Schweiz, Portugal, Belgien, Schweden und Norwegen, Spanien, Italien mit Rom, Gross- britannien, die USA und Frankreich nach dem Geografen «Wappäus» den Anteil männlicher Personen auf eine Million Einwohner und rechnete die entsprechen- den Sollbestände eines Volksheeres aus. Doch die Schweizer Miliz blieb für ihn modellhaft das «einzige wahre und ächte Volksheer», das er allen Völkern empfahl, um sich vom Absolutismus zu befreien und auf die Bahn des nationalen gesellschaftlichen Fortschrittes zu gelan- gen: «Möchten alle Völker diesen Weg gehen, dann werden die Zustände in den alten Kulturländern Europas bald eine andere Gestalt annehmen, denn die Umge- staltung der stehenden Heere in eine wahre und ächte Volkswehr schliesst die Lösung der Bande in sich, mit welchen der Absolutismus die Völker gefesselt hält. Aus einem ächten Volksheer wird die Freiheit hervorwachsen und diese wiederum wird alle peinlichen und drückenden Fragen im Leben der Völker lösbar machen.»3

2. Machiavelli und Rousseau als Grundlage einer republikanischen Milizstreitkraft Dieser starke Glauben an die Wirkkraft einer aus dem ganzen wehrfähigen Männerpotenzial geschöpften Volksheeres gründete auf der republikanischen Staatstheorie Machiavellis, der in der Republik der Eidgenossenschaft die Wie- dergeburt der Römischen Republik erblickte.4 In einer starken Überzeichnung der politischen und militärischen Entwicklungsmöglichkeiten entwickelte Ma- chiavelli eine helvetische Projektion: Es ging ihm in seiner politisch-militärischen Theorie darum, den von Klientelismus und Sonderinteressen des Feudal- und Geldadels gekennzeichneten Städten Oberitaliens das Modell eines entwicklungs- fähigen, territorial expansiven Republikanismus entgegenzustellen. Dabei setzte Machiavelli die Entwicklung der Römischen Republik als gültiges historisches Vorbild und die schweizerische Eidgenossenschaft als aktuelles Beispiel eines zwar nicht perfekten, aber sich militärisch erfolgreich entwickelnden Republika- nismus ein. In völlig unzulässiger Weise parallelisierte Machiavelli dabei die Republik der Römer und die der Eidgenossen. Seine Absicht war es, das erfolg- reiche Funktionieren der Verzahnung von Staat und Militär, von Politik und Krieg modellhaft aufzuzeigen. In diesem Rahmen entwickelte er seine Theorie der staatsbürgerlichen Miliz, die durch folgende Elemente und Eigenschaften ge- kennzeichnet war:

3 Ebd., S. 32. 4 Reinhardt 1995, S. 301.

105 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

1. Eine staatliche, nicht permanente Streitkraft, die sich aus den Staatsbürgern rekrutiert und von diesen auch kommandiert wird, das heisst eine Armee un- ter einheimischen Führern – ein Modell, das sich gegen die europaweit rek- rutierten Söldnerheere der Condottieri richtete, die ihre Kampfkraft anwarben und den meistbietenden Fürsten verkauften. 2. Dieses Milizmodell implizierte die militärische Schulung der Staatsbürger. Mit diesem Modell verband Machiavelli seine Theorie der Staatsbildung: Staatsbürgerliche und militärische Disziplin und Ordnung bedingen sich. Nur ein Staatsbürger kann ein guter Soldat sein, und nur ein Soldat kann ein gu- ter Staatsbürger sein. Die militärische Ausbildung macht unkriegerische Bür- ger tapfer und zerstrittene Bürger geeint – weichlich-weibische Männer zu männlichen Männern. 3. Das Machiavellische Wehrmodell gab im Weitern dem Fussvolk die Priorität, das heisst, die Infanterie sollte auf Kosten der Kavallerie stark gemacht werden.

Im Gefecht sollte der blutige Kampf Mann gegen Mann gesucht werden und nicht eine Entscheidung mit der «künstlichen» Artillerie und mit Belagerungs- techniken. Jugend und Jugendlichkeit sah Machiavelli als soziale Basis der Kampfkraft, die in gemeinsamen Übungen in der arbeitsfreien Zeit aufgebaut werden sollte. Ein solches Modell sollte die in sich verwobene staatsbürgerliche und militärische virtù erzeugen. In einer so gearteten männlichen Tugend er- blickte Machiavelli die Voraussetzungen zum politisch-militärischen Erfolg einer Republik. Dieses Staats- und Streitkräftemodell und die damit verbundenen Ei- genschaften projizierte Machiavelli auf die Schweizer Eidgenossen, die zwischen 1499 und 1515 in Oberitalien militärisch in eigener und fremder Sache erfolgrei- che Schlachten schlugen. Damit war ein Schweizbild gelegt, das enorme wirkungsgeschichtliche Folgen haben sollte. Auch wenn die Staatstheorie Machiavellis der Verfemung anheim- fiel, Machiavelli wurde andauernd und nachhaltig positiv oder negativ aktualisiert, womit auch das republikanisch-militärische Schweizbild weitertransportiert und als Projektionsfläche konserviert wurde. Am Beispiel von Rousseau lässt sich zeigen, welches Resetting das Schweizer Milizmodell in der Aufklärung erhielt. Hatte Machiavelli die Eidgenossen wie die Römer noch als kriegerisch-expansive Republik imaginiert, baute Rousseau die Schweizer Miliz in seine Friedenstheorie ein: als Beispiel einer kleinen, selbstge- nügsamen Republik, die, gelenkt von der volonté générale, nichts anderes als ihre Freiheit verteidigt: «Tout homme doit être soldat pour la défense de sa liberté; nul ne doit l’être pour envahir quelqu’un d’autrui: et mourir en servant la patrie est

106 19. Jahrhundert

un emploi trop beau pour le confier à des mains mercenaires. Tout citoyen doit être soldat par devoir, nul ne doit l’être par métier. Tel fut le système militaire des Romains; tel est aujourd’hui celui des Suisses; tel doit être celui de tout État libre.»5 Im Gegensatz zu Machiavelli fehlen bei Rousseau, der die Sicherung des Friedens in der Verteidigungsbereitschaft der Völker erblickt, bellizistische Ele- mente, denn er ist entschieden der Meinung, dass die vertus militaires, die er durchaus schätzt, hinter den vertus civiques rangierten und der Staatsbürger sich primär für das Wohl und Glück der Menschheit zu engagieren habe. Im Übrigen ist die Übereinstimmung mit Machiavelli verblüffend: Frontstellung gegen die Soldheere, Parallelisierung von Römern und Eidgenossen. Die erneute Einset- zung der Schweizer Miliz als aktuelles Beispiel – tel est aujourd’hui le système des Suisses – beruhte auf einer erneuten Projektion, die zwar wahrnahm, dass die Schweizer Kantone seit dem frühen 17. Jahrhundert nach dem oranisch-nassau- ischen Landesdefensionsmodell Milizstreitkräfte bildeten. Das entworfene Bild sah aber darüber hinweg, dass Schweizer Soldunternehmer mit staatlicher Be- willigung den europäischen Fürsten bis zur Französischen Revolution ca. zwan- zig Fremddienst-Regimenter zur Verfügung stellten. Die Schweizer Landmilizen blieben jedoch im 17. und 18. Jahrhundert die einzigen republikanischen Milizen, auf die sich die aufklärerische Staats- und Militärtheorie beziehen konnte. So kam es, dass auch Hume und Carlyle sich für die Schweizer Miliz begeisterten. Einzig Adam Smith, der aus ökonomischen Gründen Milizverbände ablehnte und eine Berufsstreitkraft bevorzugte, sah in der Schweizer Miliz ein Symptom ökonomi- scher Rückständigkeit.6 Beust war nicht der einzige republikanische Offizier aus deutschen Landen, der in der Schweiz Zuflucht suchte, Asyl erhielt und später eingebürgert wurde. Insbesondere sind Rudolf Lohbauer und Wilhelm Rüstow zu nennen. Lohbauer wurde an der neu gegründeten Berner Universität Professor für Militärwissen- schaften und später Lehrer an der Generalstabsschule in Thun.7 Wilhelm Rüstow, der sich an der Universität Zürich habilitierte, entwickelte sich zwischen 1850 und 1870 zu einem der profiliertesten Militärschriftsteller des deutschen Sprachraumes. Er erarbeitete die Grundlagen für das 1868 publi- zierte Militärreformprojekt von Bundesrat Welti. Rüstow führte in seinem Konzept der nationalen republikanischen Staatsbürgerarmee das Gesellschafts- und Staatskonzept Machiavellis mit der hegelianischen Geschichtsphilosophie zu- sammen. Nur die geistig und physisch sich höher entwickelnde Männernation

5 Rousseau, Jean-Jacques: Considérations sur le Gouvernement de Pologne, zit. nach Fischbach 1990, S. 75. 6 Brühlmeier 1987; Metzger 1999, S. 312. 7 Jaun 2008.

107 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

wird Krieg mit Erfolg bestehen und im Krieg den Beweis der Weiterentwicklung erbringen. Krieg wird damit als Test des geistig-physischen Entwicklungsstandes der Männernation gedeutet.8

3. Emil Rothpletz. Die Integration von Machiavellis Streitkräfte-Modell und Hegels Geschichts­ philosophie des geistig-physischen Kampfes der Nationalstaaten Der Schweizer Emil Rothpletz hatte als Student 1848 in Berlin auf den Barrika- den für die liberale Revolution gekämpft. Als Multitalent betätigte er sich in Aarau als Jurist, Richter, Kunstmaler und Militärwissenschafter. Rothpletz entwickelte wie Rüstow seinen Kriegsbegriff an dem Hegels, der zwei Lesarten zulässt. Die eine erblickt im Krieg ein Mittel, die Männer der bürgerlichen Gesellschaft, die im Schutz des konstitutionellen Staates ihren persönlichen Nutzen maximieren, kollektiv zu Tapferkeit und Entbehrung zu erziehen und den Tod und die Ver- nichtung von Hab und Gut fühlen zu lassen. Das andere, von Rothpletz heraus- gestrichene Moment sieht im Krieg primär ein geschichtsnotwendiges Mittel, um die Anerkennung und Selbsterhaltung des Staates zu sichern. Rothpletz stell- te den Zusammenhang von Staatsexistenz und Krieg ins Zentrum seiner Abhand- lung über den «absoluten» Krieg: «Die Existenz eines Staates ist gegenüber den andern Staaten und gegenüber seiner eigenen Bevölkerung eine Frage der Macht. [ … ] Das letzte Mittel der Lösung der Machtfrage ist die Gewalt. Der Krieg ist das stärkste und äusserste Mittel der Politik – er ist der Kampf um die Existenz.»9 Obwohl die Neutralität der Schweiz ihre Teilnahme am immerwährenden Kampf um die Existenz wenig wahrscheinlich machte, hielt Rothpletz diesen Status nicht für hinderlich, solange die Weiterentwicklung der Männernation voranschritt. «Solange die Republik lebenskräftig nach immer grösserer Vervoll- kommnung ihrer sittlichen Grundlagen strebt, kann ihr die Neutralität auch nicht an Einfluss und Ansehen schaden.»10 Die Fixierung auf die absolute Begrifflichkeit des militärischen Sieges und des Krieges als Todeskampf um die staatliche Existenz erforderte eine gewaltige Dynamisierung der Humanressourcen der republikanischen Miliz. Auch in der Vision von Rothpletz sollte die militärische Qualifizierung der männlichen Be- völkerung in die zivile Ausbildung und ins zivile Sozialleben integriert werden. Mit dem Schuleintritt begann nach diesen Vorstellungen auch die militärische Ausbildung. Die Rekrutenschule zum Zeitpunkt der politischen Mündigkeit

8 Jaun 2012. 9 Rothpletz 1869, S. 1, 3. 10 Ebd., S. 220.

108 19. Jahrhundert

sollte lediglich als «Prüfung und [ … ] Repetitorium der elementarwissenschaftli- chen und der militairischen Arbeit der Jugendzeit» und als «Übergang vom Spiele der Jugend zu dem Ernst der Kriegstüchtigkeit» dienen.11 An den höheren Schulen, eingeschlossen die Hochschulen, sollten militärische Pflichtvorlesungen eingeführt werden, um die Unteroffiziere und Offiziere auf ihre Aufgaben- vor zubereiten. Zudem sollten die Schützen-, Jäger-, Turner- und Bergsteigervereine und ihre eidgenössischen Zentralfeste zur «nationalen Erziehung» herbeigezogen werden.12 Am Lebensende erhielt der ältere, zum Felddienst nicht mehr verwend- bare Mann die Aufgabe, die militärische Erziehung des nachkommenden Ge- schlechtes zu überwachen und für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern des Landes besorgt zu sein: «Grundsätzlich ist auf diese Weise das ganze männ- liche Geschlecht von der Jugend bis zum Alter in steter Beziehung zum Kriege.»13 Die Frauen galten als die «vegetative, der Natur zugewandte Seite des Menschen- geschlechts». Mit Blick auf den existenziell aufgefassten Krieg sei ihnen aufge- geben, «ein gesundes, kräftiges Geschlecht» zu erzeugen und Kranke und Ver- wundete zu pflegen: «Das Weib hat somit eine für den Krieg und die Zukunft des Vaterlandes höchst bedeutungsvolle, aber doch nur primitive Aufgabe.»14 Mit der Biologisierung der Frauen wurde ihr Status auch für den Bereich des Staates und der Streitkraft auf die Rolle der gebärenden und fürsorgenden Mutter einge- schränkt. Für die Erziehung der Knaben zu Männern und Soldaten erkannte Rothpletz, «von welch grosser Bedeutung ein guter Lehrerstand für das Heer ist», war doch «die spielende Angewöhnung, dem Commando der gewählten Führer pünktlich zu folgen, eine der wichtigsten Seiten dieses Schulunterrichtes», selbst wenn es für den «verständigen Lehrer keine zu schwere Aufgabe [darstellt], binnen 7 – 8 Jahren des Schulunterrichts vom 8. bis zum 16. Altersjahr das Soldatenspiel trotz dem flatterhaften Geist der Jugend so in Fleisch und Blut eingehen zu machen, dass die Erinnerung daran [ … ] nicht zerstört werden kann».15 Der Lehrer müsse aber «ein taktvoller Mensch sein, der in der Jugend fortlebt, ein rechter Soldat». Es erschien daher «nothwendig, dass die Volksschullehrer die soldatische Bildung eines Subalternoffiziers besitzen». Das hiess, dass die Volksschullehrer direkt die Offiziersschule als «Aspiranten» zu absolvieren hatten und zum Offizier befördert werden sollten, was bis in die 1880er-Jahre noch

11 Ebd., S. 84. 12 Ebd., S. 60. 13 Ebd., S. 50. 14 Ebd., S. 49. 15 Ebd., S. 71f.

109 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

möglich war. Danach wollte Rothpletz die «Lehrer der öffentlichen Schule» aber vom Militärdienst befreien, «da denselben die Obsorge und militärische Erzie- hung der Jugend anheimfällt».16 Rothpletz entwarf sein Konzept der Militärrepublik im Kontrast zum monar- chischen Militärstaat und seinem stehenden Konskriptions- und Söldnerheer. Wenn die militärische «Erziehung das ganze Menschenleben» umfasse und die Republik aus «einem Volk besteht, das den Pflug und die Waffe mit gleicher Leichtigkeit und Freude handhabt», dann sei die Republik «die wohl stärkere Kriegsbasis» und «der eigentliche Soldatenstaat».17 Rothpletz bezeichnete dies als «idealen Wunsch», welcher der «Wirklichkeit nur in geringem Maasse» ent- spreche. Die Gefahr der Militarisierung und der Dominanz des Militärischen über das Zivilleben sah Rothpletz in der Tradition der liberalen Militärtheorie nur bei den stehenden Heeren der Monarchien, die über ein autonomes Militär verfügten. Sein «radikales», geradezu staatssozialistisch anmutendes Konzept hatte zu- sammen mit den Schriften von Wilhelm Rüstow eine nicht geringe Wirkungskraft: Es bildete in grossen Zügen das Ideengerüst des Armeereform-Entwurfes von Bundesrat Emil Welti für ein neues Militärorganisations-Gesetz aus dem Jahr 1868. Bundesrat Welti war ein grosser Anhänger des Einbezugs der Volks-, Mittel- und Hochschulen in die Militärausbildung und des militärischen Vorun- terrichtes, der die Zeit zwischen Ende der Schulpflicht und Beginn der Wehrpflicht überbrücken sollte. Bereits bestehende kantonale Institutionen wie die Kadetten- korps an den Oberstufen der Volksschule und an den Kantonsschulen sollten schweizweit eingeführt werden. Auf der Grundlage der revidierten Verfassung und des Militärorganisations- Gesetzes von 1874 wurden einige Instrumente der schulischen Entwicklung des zivil-militärischen Potenzials der Männernation realisiert: Die Einführung des obligatorischen Knabenschulturnens ab dem zehnten Lebensjahr, die Förderung des militärischen Vorunterrichts auf freiwilliger Basis und die Erteilung von militärwissenschaftlichem Unterricht an der ETH. Dass die Einführung des obligatorischen Vorunterrichts für alle männlichen Schulabgänger und der militärwissenschaftliche Unterricht für alle Hochschul- absolventen am föderalen, kulturkonservativen Widerstand scheiterten, missfiel Bundesrat Welti und Professor Rothpletz gründlich.

16 Ebd., S. 53 17 Ebd., S. 60, 62.

110 19. Jahrhundert

4. Europäische und schweizerische Rezeption des republikanischen Milizstreitkräfte-Modells In Deutschland und in Frankreich wurden die Konzepte des «Volksheeres», wie es von Beust und Rothpletz ausformuliert worden war, von der Linken weiterge- tragen. Sie stellten dieses Modell dem stehenden, von Berufsoffizieren geführten Heer entgegen und deuteten die Errichtung von Milizarmeen in der Nachfolge Rousseaus als Beitrag zur Friedenssicherung durch Nichtangriffsfähigkeit.18 Die Schweizer Milizarmee diente den Führern der deutschen Sozialdemokratie, Wil- helm Liebknecht und August Bebel, als Alternativmodell, mit welchem sie das monarchische, für militaristisch gehaltene Heer bekämpften. Für den französi- schen Sozialistenführer Jean Jaurès bildete die von Machiavelli entworfene Visi- on eines republikanischen Wehrpflichtheeres und das konkrete Modell der Schweizer Armee als Grundlage seines 1911 publizierten Werkes Armée nouvelle, die als Teil der «Organisation socialiste de la France» gedacht war und zur Gene- rierung einer sozialistischen vertu und der europäischen Friedenssicherung die- nen sollte. Weder die deutsche noch die französische Rezeption des Konzepts republikanischer Streitkräfte sollte irgendwelche Auswirkungen auf die Ausge- staltung der Streitkräfte und auf die Sicherung des Friedens haben. Für die Entwicklung des schweizerischen Militär-, Kriegs- und Staatsverständ- nisses hatte jedoch die Rezeption von Elementen der idealistischen Staats-, Ge- sellschafts- und Geschichtsphilosophie langfristig eine nachhaltige Wirkung. Obwohl das 1874 fast vollständig zentralisierte Militärwesen beachtliche orga- nisatorische Fortschritte machte, mochte es mit der Gefechtsfeldentwicklung des späten 19. Jahrhunderts nicht mitzuhalten. Insbesondere die immer noch äusserst kurze Grundausbildung in den Rekrutenschulen erschien als zu oberflächlich und zu defizitär, um im Kampf in den zu Schützenlinien aufgelösten Kampffor- mationen zu bestehen. Dies war nach 1880 der Hintergrund der Entstehung einer neuartigen Auffas- sung der militärischen Ausbildung um Ulrich Wille.19 Er forderte nicht nur for- malen Einzel- und Formationsdrill, sondern Erziehungsdrill, der den Soldaten zu autodynamischer Reaktion auf die Befehle der Offiziere sozialisierte und die Offiziere befähigte, dieses Verhalten situativ abzurufen. Appell, Adresse und Disziplin wurden zu Schlüsselbegriffen des von Ulrich Wille geforderten «neuen Geistes». Die Anhänger dieses «neuen Geistes» wurden alsbald als «Neue Rich- tung» im Offizierskorps bezeichnet.

18 Vgl. Jaun 2010. 19 Vgl. Jaun 1999.

111 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Die «Neue Richtung» ging ebenfalls von der machiavellistischen Militär- und der hegelianischen Geschichtsauffassung aus, aber das Verhältnis von Bürger und Soldat wurde umgekehrt, das Kampfverhalten der Soldaten der stehenden (monarchischen) Armeen wurde zum Richtmass genommen. Im Bürger wurde nicht der Staatsbürger und soldat-citoyen gesehen, sondern der auf egoistischen Vorteil und Bequemlichkeit bedachte Zivilist, der zum kampftüchtigen Soldaten gemacht werden musste. Die Autorität der Offiziere war mit allen Mitteln zu stärken, um die durch staatsbürgerliche Gleichheit und dörfliche Sozialisation entstandene Nähe zu den Milizsoldaten zu kompensieren. Dabei wurden die preussisch-deutsche Auffassung des Soldaten- und Offiziersverhaltens und die preussisch-deutschen Methoden der Erziehung durch Drill zum Vorbild genom- men. Die Erzeugung und Aufrechterhaltung der individuellen, jederzeit von den Offizieren abrufbaren Disziplin der Soldaten wurde zum zentralen Element des für die «Kriegstauglichkeit» notwendigen «Manneswesens» erklärt. Damit fand der neue Geist Ulrich Willes Anschluss an das Geschlechterkonzept und die Geschichtsphilosophie, wie sie Emil Rothpletz ausformuliert hatte. Nur die zum Kriegsgenügen durch Männlichkeit erzogene Männernation werde den Test des Kriegs sowohl im Erfolg wie in der Niederlage erfolgreich bestehen und die Na- tion in der geistig-physischen Entwicklung weiterbringen. Seit den 1890er-Jahren wurden Lehrer aller Stufen vermehrt Offiziere und im Lauf der Jahrzehnte zur einer Schlüsselgruppe im schweizerischen Milizoffiziers- korps aller Stufen. Ihre Fähigkeit, Autorität auszuüben, wurde entdeckt und durch die militärische Kaderausbildung auch in der Autoritätsausübung als Lehrer bestärkt.20 Gegen diese im Offizierskorps rasch an Anhängerschaft gewinnende Bewe- gung um Ulrich Wille formierte sich Widerstand. Die gegen den neuen Geist opponierenden Offiziere wurden als «Nationale Richtung» bezeichnet. Diese verteidigte den Primat des Staatsbürgers und die staatsbürgerliche Gleichheit von Soldaten und Offizieren, lehnte den Erziehungsdrill ab, beharrte auf der funkti- onalen Drillausbildung der Soldaten und auf der Förderung der patriotischen Motivation der Milizen. Sie nährte ihr Bild des Milizsoldaten und Milizoffiziers aus dem Konzept des republikanischen Volksheeres, wie es Beust und Rothpletz ausformuliert hatten. Nach 1900 wurde aber die «Neue Richtung» im Offizierskorps dominant und durch die steile Karriere Ulrich Willes, als Heereseinheitskommandant, Professor für Militärwissenschaften an der ETH und Oberbefehlshaber der

20 Ebd., S. 200.

112 19. Jahrhundert

Schweizer Armee während des Aktivdiensts 1914 bis 1918 gestärkt.21 Sie domi- nierte die schweizerische Militärausbildung bis zum Aktivdienst 1939 bis 1945. Erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges formierte sich wieder eine starke oppositionelle Richtung im Offizierskorps, die sich jedoch bis in die 1960er- und 1970er-Jahre mit dem Glauben an den Erziehungsdrill zur Herstellung von Manneswesen bzw. Disziplin herumschlagen musste. Zugleich wurde die Lehrerschaft immer weniger ein Reservoir der Offiziersrekrutierung und unter dem Einfluss der antiautoritären Erziehung zunehmend eine Quelle der Mili- tärkritik und des Pazifismus. Der Glaube, dass die gesamte Männer- und Frauennation das schweizerische Wehrpotenzial ausmache – «Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee» – , wurde vom Bundesrat noch in der Botschaft zur GSoA-Initiative 1988 geäu- ssert. Mit der Armeereform XXI und den nachfolgenden Anpassungen im 21. Jahrhundert wurde diese Maxime, dass die Armee den kämpfenden Teil des Volkes repräsentiert, aufgegeben und die Schweizer Armee in ein Supportun- ternehmen – «strategische Reserve» – im Dienst der Kantone und des Bundes verwandelt.

Bibliografie

Quellen Beust, Friedrich: Grundzüge der Organisation eines Volksheeres. Zürich: Verlags-Magazin 1867. Rothpletz, Emil: Die Schweizerische Armee im Feld. Eine Anleitung zum mi- litairischen Denken und Arbeiten. Erster Teil: Vom Kriege. Basel: o. V. 1869.

Literatur Brühlmeier, Daniel: Die schottische Aufklärung und die Frage der Milizar- mee. In: Neue Zürcher Zeitung, 21. Mai 1987, Nr. 116, S. 81. Fischbach, Claudius R.: Krieg und Frieden in der französischen Aufklärung. Münster: Waxmann 1990. Jaun, Rudolf: Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im mili- tärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de Siècle. Zürich: Chronos 1999.

21 Jaun 2013.

113 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Jaun, Rudolf: Lohbauer, Rudolf. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D42513.php (Version vom 9.7.2008). Jaun, Rudolf: Die Schweizer Miliz als Inspirationsquelle republikanischer Streitkräfte. Von Rüstow zu und Jean Jaurès. In: Bergi- en, Rüdiger/Pröve, Ralf (Hrsg.): Spiesser, Patrioten, Revolutionäre. Militäri- sche Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung und in der Neuzeit. Göt- tingen: V&R Unipress 2010, S. 347 – 360. Jaun, Rudolf: Rüstow, Wilhelm. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D24226.php (Version vom 5.1.2012). Jaun, Rudolf: Wille, Ulrich. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www. hls-dhs-dss.ch/textes/d/D24433.php (Version vom 4.11.2013). Metzger, Jan: Die Milizarmee im klassischen Republikanismus. Bern: Haupt 1999. Osterwalder, Fritz: Beust, Friedrich [von]. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8058.php (Version vom 30.6.2004). Reinhardt, Volker: Machiavellis helvetische Projektion. Neue Überlegungen zu einem alten Thema. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 45 (1995), S. 301 – 329.

Prof. em. Dr. Rudolf Jaun, Universität Zürich und MILAK/ETH, E-Mail: [email protected]

114

Corps de cadets, bataillons scolaires­ et petits6 soldats

19. Jahrhundert

Alexandre Fontaine

6. Corps de cadets, bataillons scolaires et petits soldats Un exemple de transfert éducationnel dans l’espace européen

« Amis, que j’ai connus sur les bancs du Collège, Vous aussi, nos aînés, et vous tous, nos Cadets [ … ] Enrégimentez donc les écoles primaires, Et vous n’aurez ainsi plus d’inégalité. Formez de tous vos fils des bataillons scolaires, Et vous au- rez créé de la fraternité. Vous tuerez par ce fait l’antimilitarisme, Car le cœur des petits n’est jamais gangrené, Et vous désarmerez d’un seul coup l’anarchisme, Qui n’ayant plus d’objet, mourra comme il est né. Le péril étranger est là qui nous menace, Et le corps des Cadets était un bon moyen. De nous assimiler des gens d’une autre race, Et faire d’un enfant un parfait citoyen. Si notre peuple veut gar- der son âme altière, Ses institutions, ses mœurs, jusqu’à ses goûts. Il faut, si l’étranger franchit notre frontière, Quel que soit le moment, qu’il nous trouve de- bout ! Debout en temps de paix, comme au temps de la guerre. Et prêts à résister à toute invasion d’éléments subversifs, au souffle délétère, Qui sèmeraient chez nous l’erreur, la division. Nous voulons être unis en un peuple de frères, Nous voulons qu’en ces lieux, si beaux, règne à jamais, Ce que nous ont légué, les vieux Suisses, nos pères : L’Honneur, l’Amour des lois, la Liberté, la Paix ».1

Dans un tribune publiée dans le Corriere del Ticino en décembre 2015, le dépu- té tessinois Paolo Pamini proposait l’introduction de leçons sur le maniement des armes à l’école obligatoire.2 Cette provocation, à contextualiser dans le sillage

1 Krieg 1912, p. 2. 2 http ://www.ticinonews.ch/ticino/260695/contro-il-terrorismo-insegniamo-ai-bambini-a-sparare [14. 5. 2016].

119 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

des attentats de Paris de novembre 2015, reflète la longue histoire partagée en Suisse – et bien au-delà – entre l’école et l’armée et dont la trame se résume dans cette citation du bien nommé Georges Krieg qui était professeur à Fribourg et lieutenant de l’armée suisse. Cette synthèse s’est progressivement instituée à la fin du XVIIIe siècle, sous les traits des corps de cadets. Leurs défenseurs les considéraient comme un instrument d’intégration, de solidarité, de fraternité et surtout comme un outillage particulièrement efficient de la construction du citoyen suisse. Il faut dire que l’éducation du corps fut l’une des composantes essentielles du processus de fabrication des États-nations européens, contribuant en premier lieu à l’exaltation patriotique des sens. Nul hasard donc si les États européens, engagés dans la construction de leur cadre national et de leur identité, se soient inspirés de cette pratique militaro-scolaire. Enjeu d’un véritable transfert trans- national de savoirs,3 l’objectif de cet article sera d’exposer la translation des cadets vers la France républicaine qui institua, par le décret du 6 juillet 1882, la mise en place des bataillons scolaires dans les établissements d’instruction primaire ou secondaire.

1. Les corps de cadets en Suisse, une pratique hybride Si l’on en trouve des traces antérieures – des écoles de cadets de Louis XIV aux instituts de cadets de Frédéric II et autres Ritterakademien de Marie-Thérèse d’Autriche – il apparaît que les corps de cadets, dans leur déclinaison moderne, émergent en Suisse lors du second XVIIIe siècle.4 La pratique débute sérieuse- ment en 1787 avec la constitution d’un corps à Zurich dirigé par le colonel Johann Conrad Escher. Ce qu’il est important de clarifier de suite, c’est que les corps de cadets ne sont pas une production made in Switzerland, comme certaines publi- cations officielles le postulent : « Les corps de cadets sont des institutions particu- lières à la Suisse et méritent toute l’attention des officiers qui réfléchissent. Aucun pays ne possède d’institution semblable, formant la jeunesse dès l’âge de 10 à 12 ans, au maniement des armes et posant ainsi pour plus tard les fondements de l’instruction militaire de l’armée » peut-on lire dans la Revue militaire suisse de 1856.5 Il semble en effet tout à fait plausible, en regard de l’histoire militaire su- isse et de ses relations avec les pays voisins (service de France, régiment perma- nent des Gardes suisses créé en 1616, etc.), que les cadets suisses traduisent en

3 Cet article développe l’idée de « transfert » dans le sillage des recherches sur les transferts culturels. Voir Es- pagne 1990 , 2013 ainsi que Fontaine/Masoni 2015 et Fontaine 2016 notamment. 4 Sur l’histoire des corps de cadets en Suisse, voir notamment Secrétan 1882 ; Jung 1950 ; Burgener 1986 ; Giuli 2000 ; Clément 2001. 5 Anonyme 1856, « Revue militaire suisse », p. 5.

120 19. Jahrhundert

vérité une certaine synthèse franco-germanique. Il s’agit donc plutôt de souligner leur composition hybride, constituée tant d’éléments latins que germaniques : « Alors que le recrutement, les premiers uniformes, ainsi que certaines coutumes sont d’origine française, on peut se pencher, en ce qui concerne l’exercice, davan- tage vers le modèle prussien instauré par Frédéric II et dont la tactique et l’instruction furent introduites en Suisse dans l’armée zurichoise par Salomon Landolt ».6 Or, rappelons que Salomon Landolt (1741 – 1818) est lui-même un pro- duit de ce cosmopolitisme du siècle des Lumières et fréquente, comme il est de coutume dans les familles de l’aristocratie, les principales capitales européennes. Il se forme à l’académie de Metz, puis séjourne à Paris, au Pays-Bas et à Berlin. Dès lors était-il particulièrement habilité, en tant que « passeur », à utiliser les in- novations et pratiques les plus efficientes de chaque système pour décliner sa pro- pre version zurichoise.

2. Concurrences et transferts de savoirs entre l’armée et l’école Si les corps de cadets découlent originellement d’une ambition militaire – les ca- dets de Berne et d’Aarau participèrent à la lutte contre les Français en 1798 – on se doit de replacer leur histoire dans le renouvellement des idées pédagogiques en Europe et qui plus est en relation avec l’émergence de la gymnastique scolaire moderne. En portant un regard global sur le mouvement, de la fin du XVIIIe sièc- le jusqu’au tournant du XXe siècle, on remarque un lent glissement, sinon un transfert d’autorité, de savoirs et de compétences, de l’initiative privée et libérale vers la sphère publique, de la chose militaire vers la chose scolaire. En d’autres termes, on assiste peu à peu à l’institutionnalisation de la gymnastique scolaire (prémilitaire) et des corps de cadets, processus au sein duquel l’école va jouer un rôle nodal. Tony Froissart souligne à cet égard que « cette mutation se réalise dans un système de concurrences fortes où s’entremêlent les dimensions scolaire, mé- dicale, militaire et associative ».7 En Suisse, une première tentative de diffusion s’opère autour des instructeurs zurichois emmenés comme on l’a vu par Escher. Ceux-ci font publicité de leur entreprise à la Société militaire helvétique qui, dès 1790, se charge d’essaimer la pratique dans le pays. Avec la constitution d’un corps à Schaffhouse, à Berne (Knabenwaisenhaus) et à Winterthur, le mouvement est lancé et principalement porté par les corps d’armées cantonaux et les entreprises philanthropiques helvé- tiques. Ce n’est toutefois qu’après les événements de 1830 que l’on assiste à une

6 Clément 2001, p. 27. 7 Froissart 2011, p. 71.

121 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

nette accélération du mouvement. Il faut dire que les bourgeois libéraux nouvel- lement installés considèrent les corps de cadets comme un relais efficient de leur idéologie et de leurs valeurs patriotiques. Devenu ainsi un instrument des libéraux- nationaux, une quarantaine de corps de cadets fleurissent dans toute la Suisse entre 1830 et 1840 et plus d’une centaine de 1848 à 1875.8 Les débuts de l’État fédéral marque une prise de conscience, de la part des autorités cantonales, de la nécessité de légiférer sur l’instruction militaire de la jeunesse afin d’y asseoir un certain contrôle, de préparer l’armée cantonale et de travailler à la cohésion fédérale. Le canton d’Argovie promulgue une nouvelle loi scolaire qui signale la présence d’une éducation militaire en 1846, Berne en 1847, Lucerne et Zurich en 1850 et le canton du Tessin en 1851. On voit peu à peu se dessiner une collaboration entre l’école et l’armée. Les autorités scolaires se mettent à penser des lois et des programmes soutenus par le Département mili- taire, qui se charge de procurer des officiers et du matériel adapté aux adolescents. Comme le souligne Clément, c’est dans le canton de Schaffhouse que les pres- criptions s’avèrent les plus radicales et innovantes, puisqu’elles reconnaissent à l’État le devoir de s’impliquer dans l’instruction militaire de la jeunesse et de surcroît dans celle des cadets.9 De grands rassemblements sont organisés à l’échelle cantonale et fédérale, comme celui de Zurich qui rassemble vingt-cinq corps et presque quatre mille petits soldats en septembre 1856. Attaqués dès le milieu du long siècle par les milieux catholiques qui s’insurgent contre les exercices dominicaux et dans l’entre-deux-guerres par les milieux de gauche, les cadets seront toutefois principalement mis en cause par l’introduction progressive de la gymnastique scolaire. Selon l’argumentaire de Louis Burgener, les corps de cadets ne vont pas survivre à la concurrence soutenue dès le milieu du XIXe siècle par les acteurs de la gymnastique scolaire et surtout à l’intense travail de lobbying exercé par la Société suisse des maîtres de gymnastique fondée

8 Parmi lesquels ceux de Münchenbuchsee, de l’école catholique de St-Gall, de Morat, d’Olten, de Glaris, puis de Horgen, Bienne, Soleure, Trogen, Aarburg, Porrentruy, Langenthal, Thoune, Zurzach, Vevey, Altstätten, Rheinfelden, Baden, Reinach. Concernant la Suisse romande, le corps des cadets de Morat est fondé en 1835, celui de Vevey trois ans plus tard, ceux de Fribourg et de Payerne en 1848, du Locle en 1850, d’Yverdon en 1853, ceux de Nyon et Moudon en 1858, ceux de Porrentruy, Delémont, La Neuveville, St-Imier et Genève en 1864 (voir Clément 2001, p. 28 ; Cornaz-Vulliez 1904, p. 41, 67 ; Cropt 2011, p. 7). 9 Clément 2001, p. 29. « La loi scolaire du 20 décembre 1850 prescrit l’éducation militaire des garçons par son art. 227. En conséquence, la loi sur les cadets, du 30 mai 1854, impose les exercices militaires dans les écoles cantonales (art. 1) dès que l’établissement compte au moins 40 garçons. L’uniforme est à la charge du cadet et de sa famille (art. 6), l’équipement, les armes et l’instruction à celle des communes. L’instruction militaire, au moins 3 heures par semaine, ne doit pas réduire l’enseignement (art. 9) ; elle figure, avec la gymnastique, dans l’horaire scolaire. Par contre, l’inspection se fera pendant les vacances. Mais l’art. 21 est essentiel : selon la loi militaire, art. 88, les cadets, munis d’un certificat attestant qu’ils ont suivi l’instruction pendant quatre années, seront dispensés de l’école de recrue dans l’infanterie. Les garçons devenus officiers de cadets (art. 60 de la loi militaire) peuvent être admis immédiatement comme aspirant-officier de secon- de classe dans l’armée cantonale », tiré de Burgener 1986, p. 575.

122 19. Jahrhundert

en 185810. Il faut dire qu’avec des théoriciens comme Phokion-Heinrich Clias, Pestalozzi, le colonel Francisco Amoros qui fut un relais des thèses pestaloz- ziennes en Espagne et en France ou encore Johannes Niggeler, l’instruction prémilitaire et la discipline « gymnastique scolaire » naissante vont profiter de porte-voix que les cadets n’ont plus. Il est toutefois intéressant de constater que malgré la lente agonie des corps de cadets décimés par les nouvelles orientations prises par la Confédération helvétique (réorganisation militaire de 1874), la France républicaine va s’en inspirer pour favoriser l’émergence des bataillons scolaires, portés par des républicains exilés en Suisse qui avaient eu le temps d’étudier dans le détails les structures et les pratiques scolaires helvétiques.

3. Propagande républicaine et héritage des Lumières Si la République est proclamée en 1871, les républicains français ne prennent véri- tablement le contrôle de l’école qu’en 1879, lorsque Jules Ferry accède au minis- tère de l’instruction publique et des Beaux-Arts (4 février) et place Ferdinand Buisson à la tête de l’enseignement primaire. Conscients du retard scolaire de la France – en regard notamment de la Prusse depuis la défaite de 1871 – ils s’engagent dans un travail de rénovation morale et physique qui va notamment passer par la réinterprétation de pratiques empruntées à l’étranger. Si l’on connaît le poids de l’Allemagne dans ce processus,11 on sait également que les principaux artisans des grandes réformes scolaires françaises se sont exilés en Suisse. Buisson ens- eigne la philosophie à l’Académie de Neuchâtel entre 1866 et 1870 et y est rejoint par Jules Steeg qui deviendra directeur du Musée pédagogique et Jules Pécaut, le fondateur de l’école normale de Fontenay-aux-Roses. Quant à Jules Barni, le di- vulgateur de Kant en France, grand artisan de l’instruction civique, il enseigne l’histoire à l’université de Genève de 1861 à 1870. Tous ces penseurs, réunis sous la coupe d’Edgar Quinet, sont fascinés par la démocratie suisse. N’oublions pas que l’ambition, sinon le combat de ces proscrits consistait à rétablir la république en France et que dans ce sens la Suisse leur apparaissait comme particulièrement attractive, notamment son système scolaire. Buisson collabore par exemple avec le Conseiller d’État neuchâtelois Édouard Quartier-la-Tente afin d’adapter les cours d’apprentissage en France. Fasciné par l’instruction civique du citoyen, Quinet charge un autre proscrit français établi à Fribourg de laïciser un manuel d’instruction civique édité par le Fribourgeois Louis Bornet. Cette réinterprétati- on donnera naissance au premier Manuel du citoyen français, publié à Paris en

10 Burgener 1986, p. 576 – 581. 11 Voir Digeon 1959 ; Fontaine/Goubet 2016.

123 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

1872.12 On peut donc affirmer que l’école de la Troisième république possède cer- taines racines suisses et qu’elle a élaboré son système scolaire au travers de plu- sieurs emprunts réinterprétés.13 C’est le cas de ses bataillons scolaires, institué par un décret du 6 juillet 1882, l’année où la morale laïque commence à être ens- eignée dans les écoles de la France. Or il apparaît clairement, dans les discours des années 1881 – 1882, que les bataillons scolaires sont férocement critiqués par les adversaires des républicains, qui leur reprochent notamment d’avoir importé cette pratique de l’étranger. Les cadres de l’école républicaine s’attachent alors à minimiser ou faire taire ces cri- tiques, en réhabilitant l’origine française et nationale des bataillons. Ce n’est donc pas un hasard si deux articles paraissent coup sur coup dans le Revue pédagogique de juillet – décembre 1882.14 L’influent Louis Armagnac signe un article intitulé « L’enseignement militaire à l’école ». Quant à Aristide Rey, à qui l’on doit le pre- mier essai de bataillon scolaire de la ville de Paris en 1881, on sait qu’il effectue de nombreux séjours en Belgique et en Suisse, où il s’exile sous la Commune de Paris.15 Internationaliste, bakouniste, proche des frères Reclus, de James Guil- laume et de Buisson, il apparaît au premier abord malaisé de le situer dans ce contexte martial. C’est que Rey, comme tous les républicains de la première heure, croit en une instruction publique garante d’un triple enseignement moral, civique et militaire. Il oppose la monarchie, où « il suffit d’obéir » à la démocratie républi- caine, « où chacun est responsable, où la valeur individuelle fait seule la grandeur nationale, où l’ordre doit résulter de la perfection de chacun ».16 Son article, intitulé « Les bataillons scolaires et la révolution française », marque la nécessité de rattacher cette pratique au socle national français et de provoquer par là-même une adhésion historique. Sa stratégie se construit en trois temps. En premier lieu, il cherche à montrer que ses adversaires ne connaissent pas les institutions françaises, leur histoire, ce qui est en soi « une sorte de trahison ».17 Il pose ensuite l’hypothèse d’une stricte continuité historique : « plus elles [les institutions] s’appuient sur des principes antérieurement proclamés, plus elles procèdent des circonstances premières, plus elles s’autorisent d’une adhésion historique, plus elles sont de génération nationale, et plus elles ont de force, mieux

12 Schmitt/Bornet 1882. 13 Voir Fontaine 2015a. 14 Armagnac 1882, p. 111 – 127 ; Rey 1882, p. 554 – 580. 15 Aristide Rey (1834 – 1901) assiste au premier congrès de l’Association internationale du travail (AIT) de Genève en septembre 1866. On le retrouve à Berne lors du deuxième congrès de la Ligue internationale de la paix et de la liberté en septembre 1868 et à Bâle en septembre 1869, où se tient le 4e congrès de l’AIT. Amnistié en 1879, il devient conseiller municipal du Ve arrondissement de la ville de Paris. 16 Rey 1882, p. 556. 17 Ibid., p. 554.

124 19. Jahrhundert

elles sont consenties ».18 Rey s’ouvre ainsi une voie royale, puisqu’il ne lui reste plus qu’à exposer dans le détail les plans des grands hommes de 1789 – Condor- cet, Talleyrand, Turgot, Mirabeau, Bancal, Lakanal, etc. – qui tous avaient déjà inscrit et théorisé l’instruction militaire de la jeunesse dans leurs projets d’édu- cation nationale. Selon Rey, l’inspiration vient dès lors de ces grands hommes d’État et les bataillons scolaires sont ainsi « l’œuvre de nos pères », ils sont « impo- sés par [la] tradition nationale et se révèlent de ce fait une institution nécessaire de la République ».19

4. Déni et nettoyage de l’emprunt transnational Il reste encore un point central à traiter, celle de l’épineuse question de l’emprunt à l’étranger en période de construction nationale. Anne-Marie Thiesse a démon- tré le caractère éminemment transnational de la construction des cultures nati- onales.20 Elle fait observer que ce façonnage transnational est loin d’être une évidence parce que le processus de formation des « communautés imaginées », pour reprendre la formule de Benedict Anderson, se fonde sur son propre déni.21 Alors que la nation est consécutive d’une rupture, Thiesse constate pourtant que « l’histoire de chaque nation est écrite comme une continuité scandée par des moments de souffrance et de gloire ». Ainsi ce nouveau cadre national occulte, dans un jeu de double déni, tant de son historicité que de sa dimension ­transnationale.22 La notion-clé du « déni » s’avère très utile pour cerner les mécanismes d’em- prunt, qui plus est la reterritorialisation des bataillons scolaires en France.23 Dans ce sens, Aristide Rey affirme que « les institutions écloses sur le sol qui les porte sont les seules qui aient puissance de vie ; et s’il en est de durables parmi les autres, ce sont celles, tout au plus, qu’une longue acclimatation est parvenue à transfor- mer ». Rey met ici le doigt sur la nécessité de reformuler une pratique empruntée à l’étranger et de la traduire afin qu’elle puisse être greffée dans son nouveau contexte d’accueil. Conscient de la difficulté de ce travail de « traduction », il per- sévère dans son idée première de s’inspirer des expériences antérieures de la France : « Vouloir emprunter les éléments de notre réorganisation républicaine aux nations voisines, qui ont un autre tempérament, un autre passé, d’autres mœurs, une autre tradition, c’est méconnaître et les lois et la science, et les leçons

18 Ibid., p. 555. 19 Ibid., p. 555. 20 Voir Thiesse 1999, 2000, 2009. 21 Thiesse 2014, p. 18. 22 Ibid., p. 19. 23 Sur l’idée de reterritorialisation de l’importation éducationnelle, voir Steiner-Khamsi 2005.

125 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

de l’histoire. Mais quand une Révolution s’est accomplie pour nous donner ces institutions, quand elles sont l’œuvre d’une époque qui, dans le monde et dans le temps, porte le nom de Révolution Française, quand les plus puissants par le génie et les plus grands par le cœur les ont conçus et réalisées, quand elles tiennent leur origine de ce prodigieux enfantement d’où sont sorties pour nous la patrie et la République dont elles caractérisent précisément la forme moderne, prétendre recevoir de l’étranger c’est faire preuve à la fois de beaucoup d’ignorance et de peu de patriotisme. Pour nous, nous ne pouvons, sans un profond serrement de cœur, entendre certaines personnes invoquer sans cesse l’exemple de nos ennemis mêmes, nous offrir leurs usages, alors que dans notre passé nous avons tous les éléments de régénération et de développement. »24 Pour autant, on ne saurait trop faire remarquer que le besoin d’inscrire les corps de cadets dans la continuité historique est une stratégie utilisée par la plupart des états républicains. Un retour sur celui qui a été mis en place par l’historien et pédagogue suisse-romand Alexandre Daguet (1816 – 1894) s’avère intéressant à plus d’un titre.25 Quelques mois après l’ouverture de l’école cantonale de Fribourg à l’automne 1848, il décide en effet l’introduction d’un corps militaire, avec cinq heures de gymnastique, dont trois d’exercices militaires. Daguet concède vouloir ainsi renouer avec la tradition et cite l’exemple du couvent de Bellelay près de Porrentruy où « les exercices et l’uniforme qui en est le complément obligé exista[ient] avant la Révolution ».26 Très vite attaqué par les ultramontains fribour- geois pour cette introduction de ces exercices militaires, Daguet s’en défend en invoquant la filiation qui les unit à l’antique Confédération : « Mais les exercices militaires sont aussi anciens en Suisse que la Confédération elle-même ; ils re- montent au berceau des Alliances éternelles et datent de ce temps de foi religieuse et patriotique, exprimé par la belle devise : Dieu et Patrie [ … ]. Mais les exercices militaires ne sont autre chose que la conséquence et la mise en action de ce principe fondamental de la vieille Suisse : « Tout Suisse est soldat ». De là l’intro- duction du maniement des armes dans presque tous les collèges de l’Helvétie, et l’institution de ces corps de cadets ».27 Pour revenir au cas français, cette propagande du déni et du « nettoyage idéo- logique » n’est pas neuve. Elle est déjà présente en France dans les discussions relatives à la réception de la méthode gymnique de l’éducateur allemand Jahn. Si celle-ci jouit d’une certaine diffusion dans les années 1860/1870, notamment

24 Rey 1882, p. 555. 25 Sur la trajectoire et l’œuvre de Daguet, voir Fontaine 2005, 2015a et 2015b. 26 Daguet 1857, p. 4. 27 Ibid., p. 3.

126 19. Jahrhundert

grâce aux ministres germanophiles Fortoul et Duruy, les républicains élaborent un discours qui cherche à minimiser, sinon à occulter la méthode Jahn. Tony Froissart a analysé les grandes lignes de ce processus de déconstruction, qui débute par le Dictionnaire de pédagogie et d’instruction de Buisson. L’auteur de l’article « Gymnastique » désapprouve en effet que « Jahn [ait] sacrifi[é] la gymnastique pédagogique à la gymnastique militaire ».28 Les théoriciens de la gymnastique scolaire française s’attachent dès lors, dans leurs écrits et dans les revues, à occul- ter les filiations d’avec le modèle prussien pour lui substituer des influences philosophiques et humanistes antérieures. Dans le sillage de ce mutisme orga- nisé, on place également la méthode Jahn dans un jeu de comparaisons avec d’autres auteurs – Pestalozzi, Gutsmuth, Ling, Hoffmann – duquel Jahn ressort systématiquement disqualifié. Cette germanophobie ambiante a d’ailleurs contri- bué à l’émergence de contre-modèles, comme celui de Paschal Grousset.29

5. Autour des références suisses des bataillons scolaires Au-delà de cette propagande dénégatoire, que l’on pourrait voir aujourd’hui com- me un élément de discours savamment orchestré et diffusé par les républicains, il s’agit maintenant de questionner les sources pour éclairer les fondements du transfert qui a mené à la mise en place des bataillons scolaires en France.30 Al- bert Bourzac souligne en premier lieu que si la Prusse est très souvent citée mais peu imitée, « le modèle suisse a exercé une influence certaine dans la constituti- on des bataillons scolaires ».31 À preuve, après une mission dans la Confédérati- on, l’officier de réserve Auguste Frette conclut en 1879 qu’il « serait à souhaiter que nous eussions une organisation analogue à celle des Cadets suisses ».32 Il faut dire que le ministère de l’instruction publique lorgne depuis plusieurs années déjà du côté de la Suisse. Durant l’été 1871 – et donc bien avant l’arrivée des répu- blicains aux affaires scolaires – une mission dirigée par Jean-Baptiste Fonssagri- ves, professeur d’hygiène à l’université de Montpellier, est dépêchée en Suisse par le ministre Jules Simon pour étudier les conditions spécifiques dévolues à la gym- nastique scolaire : 33 « Je ferai la même remarque sur la façon vraiment intelligente

28 Demeny 1911. 29 Voir Lebecq 2011, p. 187 – 206. 30 Ce volet reprend et développe certains développement du chapitre 7 de Fontaine 2015a. 31 Bourzac 2004, p. 21. 32 Frette 1879, cité dans Bourzac 2004, p. 19. 33 Jean-Baptiste Fonssagrives (1823 – 1884) s’est formé comme médecin dans le corps de santé de la marine. Docteur dès 1852, il est nommé professeur de médecine à l’école navale de Brest puis professeur d’hygiène à la faculté de médecine de Montpellier dès 1864. Il est l’auteur de L’éducation physique des jeunes filles (1869). Durant le mois de juin 1871, il visite les écoles ou gymnases de Genève, Lausanne, Neuchâtel, Win- terthur, Bâle, Schaffhouse, Zurich, Küsnacht, Wettingen, Saint-Gall, Fribourg, Lucerne, Berne, Burins, Rol- le et conclut son voyage par Genève où il avait plusieurs sujets d’étude à compléter.

127 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

dont la pédagogie suisse entend l’enseignement et les pratiques de la Gymnas- tique. Nous sommes, en ce qui concerne l’éducation physique, dans un état d’in- fériorité que je soupçonnais mais dont je n’avais pas la mesure. Malgré les efforts louables qui ont été tentés dans ces dernières années, la Gymnastique éducative n’existe pas chez nous. Incomplète dans les lycées, elle manque à peu près com- plètement à l’enseignement primaire libre ou public ; et on peut affirmer que l’édu- cation des filles en est absolument déshéritée. J’ai visité les Gymnases principaux de la Suisse ; j’ai interrogé les gymnasiarques les plus habiles ; j’ai assisté à leurs leçons ; j’ai rapporté des reproductions photographiques de gymnases de petites villes, et je suis arrivé à cette conclusion : que tout en France, ou peut s’en faut, était à faire en matière de gymnastique d’Écoles. Il ne me sera pas difficile de le démontrer dans le travail que je prépare ».34 Or, Fonssagrives est profondément marqué par l’organisations des cadets suisses dont il vante les avantages à son ministre : « L’introduction de la vie mili- taire, de son esprit et de ses exercices dans les Gymnases, qui correspondent à nos Collèges ou Lycées, et même dans les divisions supérieures de l’enseignement primaire, m’a fourni un sujet d’études qui m’a intéressé au plus haut point. Aussi ai-je étudié avec soin l’institution des Cadets en Suisse, cette pépinière de la milice nationale, et je n’hésiterai pas à en conclure à la nécessité urgente d’intro- duire dans nos Collèges cette institution si pleine d’attraits et d’utilité en même temps et qui donne, à la fois tant de garanties à la vigueur physique, à la pureté, et à l’instruction militaire des jeunes gens. Les exercices que font nos enfants dans l’intérieur des lycées n’ont rien qui puisse remplacer cette vie en plein air, ces exercices entourés d’un véritable appareil militaire et ces excursions où toute la jeunesse d’une École, rompue aux exercices à feu du fusil et même du canon, s’en va, musique en tête, faire une reconnaissance stratégique ou simuler une attaque. La Santé, la gaité et les muscles s’en trouvent bien ; l’instruction (l’expé- rience est là pour le démontrer) n’en souffre nullement. On fait des hommes de cette façon ; et, en même temps qu’on les trempe vigoureusement au physique et au moral, ou surexcite chez eux le sentiment national en les associant déjà aux idées de patriotisme et de défense du pays. Les événements calamiteux que nous venons de traverser, la probabilité d’une refonte complète de notre système mili- taire donneraient à cette réforme une opportunité plus particulière. L’opinion l’accepterait en ce moment et une fois entrée dans nos mœurs, elle serait d’un incalculable avantage pour le pays. »35

34 Lettre de Jean-Baptiste Fonssagrives au ministre Jules Simon, Montpellier, 17 octobre 1871, Archives natio- nales françaises, F17-12340. 35 Idem.

128 19. Jahrhundert

Ainsi, après que le ministre Victor Duruy ait introduit, à titre d’essai mais avec un succès certain l’instruction militaire à l’Académie de Paris en 1869,36 Jules Simon en reprend l’idée suite au rapport Fonssagrives. Dès le 2 novembre 1871, le ministre fait un appel auprès des recteurs pour leur rappeler de donner une place d’importance aux exercices de gymnastiques dans les établissements d’ins- truction. Moins d’une année plus tard, Simon incite tous les proviseurs de France à proposer des exercices militaires, des cours d’équitation, d’escrime, de la natation et de longues promenades37 et les implore de créer les conditions cadres pour faciliter l’installation de la gymnastique scolaire : « L’éducation physique est encore à créer en France, et je vous supplie de m’y aider ».38 Les républicains finalisent le travail et par la loi du 27 janvier 1880, l’enseignement de la gymnastique devient obligatoire pour les garçons, notamment par l’enseignement régulier d’exercices militaires élémentaires.39 À cet escient, Jules Ferry fait paraitre un Manuel de gymnastique et des exercices militaires pour les élèves des écoles primaires (1881) qui là encore s’inspire largement de L’École de gymnastique pour l’instruction militaire préparatoire de la jeunesse suisse de l’âge de 10 à 20 ans, publié par la Confédération en 1876.40 Véronique Czáka a également montré que certains expatriés suisses ont joué un rôle déterminant dans la promotion de la gymnastique scolaire en France. C’est le cas du Fribourgeois Léon Galley qui s’installe à Reims (1877 – 1880) puis à Arras (1880 – 1887) où il rédige un opuscule consacré à la nécessité de l’ensei- gnement de la gymnastique dans les villes et dans les campagnes.41 En France, Galley publie une terminologie de gymnastique, codirige le premier cours français de formation pour moniteurs, réforme les règlements des rencontres de gymnas- tique sur le modèle suisse et impulse la participation de sociétés suisses aux fêtes françaises de gymnastique.42 On peut enfin évoquer qu’au moment où Eugène Paz est chargé de rédiger les statuts de l’Union des Sociétés de Gymnastique de France en novembre 1883, il reprend et retravaille les prescriptions qu’il a em- prunté à l’Allemagne, à la Belgique et surtout à la Suisse.43

36 Sur Victor Duruy voir Geslot 2009. 37 Armagnac 1882, p. 113. 38 Chambat 1980, p. 143. 39 Au sujet de la relation entre gymnastique, armée et école républicaine, on lira Weber 1980, Arnaud 1991 et 2000, Arnal 2009 et 2011. 40 Bussard 2007, p. 99 – 104. 41 Galley 1882. 42 Voir Czáka, en cours. 43 Cité dans Saint-Martin 2011, p. 181.

129 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

6. Les bataillons, outils de la revanche ? Suite à la défaite de Sedan, on assiste en France à un mouvement général de mi- litarisation des consciences ainsi qu’à l’installation d’un attachement indéfectib- le à la patrie. La volonté d’instruire militairement l’écolier est patente. Faut-il y voir, comme cela a été longtemps le cas, les racines d’un mouvement qui devait aboutir à la revanche de 1914 ? Certes, Eugène Paz, directeur du lycée Condorcet à Paris, déclare dans sa Gymnastique obligatoire « qu’il est temps de tremper nos enfants dans le Styx ».44 S’agissait-il pour autant de façonner des hommes pour préparer, comme le souhaitait un Paul Déroulède, la revanche française et d’inscrire ce conflit armé comme le rendez-vous programmé et inéluctable de la IIIe République naissante ? D’une part, Froissart fait remarquer que l’éducation patriotique et la militari- sation de l’instruction physique ne s’intensifient qu’après un temps de latence et de résignation et non pas immédiatement au lendemain de Sedan.45 D’autre part, il faut voir que l’épisode « bataillon scolaire » n’a duré en France qu’à peine plus d’une décennie, parce que ceux-ci étaient avant tout considérés dans l’opinion publique comme une « mascarade ».46 Pour autant, en se focalisant sur l’équation « bataillons scolaires = revanche », les historiens ne se sont-ils pas détournés des véritables finalités de cette pratique. En se replongeant dans l’exemple de Daguet, on ne saurait trop souligner que l’introduction des exercices militaires à Fribourg répond avant tout à un besoin de disciplinarisation devenu urgent, dans une école cantonale rongée par l’insubor- dination. Les cahiers du directeur rendent clairement compte des efforts quotidiens exercés par l’ensemble du corps enseignant pour mater une jeunesse peu docile et habituée à la fréquentation des cabarets.47 De plus, rien ne serait plus inexact que de considérer Daguet comme un militariste forcené. Collègue de Buisson à l’Académie de Neuchâtel, rappelons qu’il fut, dès les années 1867, l’un des leaders de la contestation romande contre le projet Welti, qui prévoyait une coopération resserrée entre l’école et l’armée. « Moi aussi j’ai fait introduire les exercices des cadets à l’École cantonale, dont j’étais le recteur à Fribourg en 1848, et j’ai présidé aux fêtes de corps. S’ensuit-il que je devrais prôner et recommander le système qui relie et subordonne en quelque sorte la caserne à l’École (sic)? »48 répond-il à ses détracteurs en 1874. Daguet martèle « qu’il n’y a rien de plus contraire à l’idée d’un

44 Paz 1868, p. 57. 45 Froissart 2011, p. 87. 46 Ibid, p. 85. 47 AEF, Fonds de l’École cantonale, carton 1, livres du directeur (1849-1856). 48 Journal de Genève, 7 octobre 1874, p. 3.

130 19. Jahrhundert

éducateur que celle d’un caporal ou sergent instructeur, apportant au milieu des enfants, pour lesquels il doit être un ami et un second père, des habitudes de discipline militaire ». Criant à la « militairomanie », l’acceptation de cette loi eût été selon lui « une mesure funeste à l’école, à son caractère essentiellement péda- gogique, pacifique, intellectuel, moral, humanitaire ».49 On assiste à une véritable passe d’armes entre enseignants romands et alémaniques lors du Lehrertag de Bâle en octobre 1869 ; il est intéressant de constater, à ce sujet, que les quarante délégués français qui assistent à ce congrès « étaient, sauf trois, l’expression fidèle du sen- timent général de leurs concitoyens romans (sic) ».50 Aussi et sans minimiser l’action de Paul Déroulède et de la Ligue des patriotes fondée en 1882, il est concevable que cet esprit revanchard passé, c’est dans cette même perspective helvétique – physique, disciplinaire et surtout civique – que Paul Bert et les membres de sa commission de l’éducation militaire (instituée le 21 janvier 1882) réfléchissent à l’instauration des bataillons. Accusé tout comme Daguet en Suisse romande de vouloir développer le militarisme, Bert répond que : « L’éducation militaire me paraît le plus puissant moyen, je ne dis pas de relever, mais de maintenir le niveau moral, par l’enseignement de l’obéissance raisonnée et des sacrifices légitimes. On a dit déjà et l’on dira encore que notre tâche tend à ramener au militarisme, cette espèce d’automatisme du corps et de l’esprit tant admiré par les grands exploiteurs d’hommes. C’est là une erreur profonde : l’édu- cation militaire, au contraire, est la plus sûre protection contre le militarisme. Elle développe non les tendances serviles mais les qualités de l’homme vraiment libre, car la liberté n’est plus troublée ni entravée, mais bien assurée et consacrée par l’obéissance à la règle, à la loi. »51 De plus, la présence de Ferdinand Buisson dans la commission de l’éducation militaire – lui qui naguère avait comparé l’uniforme militaire à une « ignominieuse livrée »,52 lui qui recevra le prix Nobel de la paix en 1927 – laisse supposer, comme le suggère Jean-François Chanet, que c’est bien la « paix plutôt que la revanche »53 que l’élite scolaire de la Troisième République tenta de favoriser au travers de ses programmes. Pour bien cerner la vision de Buisson, il faut mesurer le poids qu’il attachait non pas à la guerre, mais à la capacité des citoyens à se lever pour défendre le pays et être résolu à sacrifier, in fine, leur propre existence. C’est à l’aune de cette dis-

49 Châtelain 1869, p. 115. 50 Journal de Genève, 20 octobre 1869, p. 1. 51 Allocution de Paul Bert devant la commission de l’éducation militaire, cité dans Bourzac 2004, p. 93. 52 Bulletin officiel du congrès de la paix et de la liberté de 1869, Discours de Ferdinand Buisson, p. 42. 53 Chanet 2006, p. 24 – 29.

131 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

position au sacrifice que l’on peut calculer la valeur réelle et le succès de l’ensei- gnement moral républicain. C’est ce que le même Buisson expliquera, en pleine guerre de 1914, s’enorgueillissant de ce que cette fois-ci le citoyen français, élevé par « la laïque », n’a pas failli et que l’enseignement moral républicain l’a mené à l’« union sacrée » : « Quand ces hommes, que tout séparait, éducation, croyances, opinions, intérêts, furent jetés pêle-mêle dans la fournaise, en face du péril su- prême, tous ont obéi, comme d’instinct, à un même ordre que chacun entendait au fond de lui-même [ … ] Le juif et le chrétien, le prêtre et le libre penseur, le came- lot du roi, le syndicaliste révolutionnaire n’ont pas seulement versé leur sang ensemble, ils ont ensemble communié dans l’héroïsme, disons, comme eux, simplement dans le devoir. »54 Corroborant ce point de vue, Michèle Alten souligne que si les Chants patrio- tiques de Déroulède furent largement diffusés dans les écoles suite au désastre de 1871, il n’en est pas moins vrai que cette recrudescence de l’inspiration nationaliste fit bientôt place, dans le contexte de l’école publique, à un humanisme républicain soucieux de progrès social et de paix.55 En conclusion, il importe de souligner que les mécanismes de déni ont été – et continuent certainement d’être – une composante essentielle et très souvent convoquée par les médiateurs chargés du transfert d’un savoir ou d’une pratique pédagogique. Il s’agit dès lors d’être particulièrement attentif aux discours qui accompagnent les absorptions transnationales. Car c’est lorsque les acteurs du transfert se défendent de toute « copie servile » et cherchent à minimiser le poids de l’expérience étrangère dans l’institutionnalisation d’une pratique valorisée comme la résultante du « génie national », que le transfert s’avère effectif. Il n’en reste pas moins, et c’est là un des points essentiels de la notion de transfert culturel, que l’appropriation s’émancipe de son modèle et que la transposition nouvellement créée a autant de légitimité que l’original.56 Dans ce sens, les batail- lons scolaires développés par la France républicaine ne sont en rien une copie terme à terme des corps de cadets suisses, mais bien plutôt l’expression d’une élaboration collective des systèmes scolaires occidentaux qui se façonnent au travers d’une multitude d’emprunts déclinés et réinterprétés à l’échelle locale.

54 Buisson 1916, p. 34 – 35. 55 Alten 2005, p. 5. 56 Voir Espagne et al. 2016.

132 19. Jahrhundert

Bibliografie

Sources

Non publiées Livres du directeur Alexandre Daguet (1849 – 1856), Fonds de l’École cantonale, carton 1, Archives de l’État de Fribourg. Lettres de Jean-Baptiste Fonssagrives au ministre Jules Simon, Archives natio- nales françaises, F17-12340.

Publiées Anonyme : Des corps de cadets. In : Revue militaire suisse, 1 (1856), p. 5 – 7 ; 3 (1856), p. 34 – 35. Armagnac, Louis : L’enseignement militaire à l’école. In : Revue pédagogique, 1, juillet-décembre (1882), p. 111 – 127. Buisson, Ferdinand : Souvenirs (1866 – 1916) : Conférence faite à l’Aula de l’Université de Neuchâtel le 10 janvier 1916. Paris : Fischbacher 1916. Bulletin officiel du congrès de la paix et de la liberté de 1869. Lausanne : Associ- ation typographique 1869. Châtelain, Charles : Considérations nouvelles sur le projet fédéral relatif à l’obligation du service militaire pour tout instituteur. In : L’Éducateur, 8 (1869), p. 113 – 118. Cornaz-Vuillet, Charles : Nos corps de cadets. Lausanne : S. Henchoz éditeur 1904. Daguet, Alexandre : Rapport sur l’École cantonale du 20 juillet 1857. Fribourg 1857. Demeny, Georges : Gymnastique. In : Nouveau Dictionnaire de pédagogie et d’instruction publié sous la direction de Ferdinand Buisson 1911, en ligne : http ://www.inrp.fr/edition-electronique/lodel/dictionnaire-ferdinand-buis- son/document.php ?id=2842 [8. 8. 2016]. Frette, Auguste : À propos de l’organisation de l’armée et des Cadets en Su- isse. Paris : Librairie militaire de J. Dumaine 1879. Galley, Léon : De la nécessité de l’enseignement de la gymnastique dans les vil- les et les campagnes. Arras : Sueur-Charruey libraire-éditeur 1881. Krieg, Georges : Vers de Cantine. In : Conteur vaudois, 50 (1912), p. 2. L’École de gymnastique pour l’instruction militaire préparatoire de la jeunesse suisse de l’âge de 10 à 20 ans. Berne : Imprimerie R.-F. Haller-Goldschach 1876.

133 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Paz, Eugène : Gymnastique obligatoire. Paris : Hachette 1868. Rey, Aristide : Les bataillons scolaires et la révolution française. In : Revue péd- agogique, 1, juillet-décembre (1882), p. 554 – 580. Schmitt, Georges Joseph/Bornet, Louis : Essai d’instruction morale et ci- vique à l’usage des familles et des écoles. Manuel du citoyen français avec une introduction de M. Edgar Quinet. Paris : Armand le Chevalier Éditeurs 1872.

Bibliographie Alten, Michèle : Musique scolaire et société dans la France de la Troisième république. In : Tréma [en ligne], 25/2005, p. 5 – 19. Arnal, Thierry : La révolution des mouvements : gymnastique, morale et dé- mocratie au temps d’Amoros : 1818 – 1838. Paris : L’Harmattan 2009. Arnal, Thierry : Conceptions de l’homme et usages moraux de la gymnas- tique (du Consulat à la Monarchie de Juillet). In : Arnal, Thierry/Terret, Thierry. Aux origines de la gymnastique moderne. Valenciennes : Presses universitaires de Valenciennes 2011, p. 39 – 55. Arnaud, Pierre : Le militaire, l’écolier, le gymnaste : naissance de l’éducation physique en France (1869 – 1889). Lyon : Presses universitaires de Lyon 1991. Arnaud, Pierre (éd.) : Les Athlètes de la républiques : Gymnastique, sport et idéologie républicaine (1870 – 1914). Paris : L’Harmattan 2000. Bourzac, Albert : Les bataillons scolaires 1880 – 1891. L’éducation militaire à l’école de la République. Paris : L’Harmattan 2004. Burgener, Louis : Les cadets en Suisse. In : Revue militaire suisse, 12 (1986), p. 574 – 581. Bussard, Jean-Claude : L’éducation physique suisse en quête d’identité (1830 – 1930). Paris : L’Harmattan 2007. Chambat, Pierre : Les muscles de Marianne : gymnastique et bataillons sco- laires dans la France des années 1880. In : Ehrenberg, Alain (éd.) : Aimez vous les stades ? Les origines historiques des politiques sportives en France (1870 – 1930). Paris, Recherches, 43, avril (1980), p. 30 – 45. Chanet, Jean-François : Vers l’armée nouvelle. République conservatrice et ré- forme militaires, 1871 – 1879. Rennes : PUR, 2006. Clément, Yves : Les Cadets de Vevey : un patrimoine social et culturel plus que centenaire. Mémoire de licence publié, Université de Lausanne 2001. Cropt, Dominique : Association des anciens cadets de Vevey. 100e anniversaire (1911 – 2011). Vevey : Print Riviera Vevey 2011.

134 19. Jahrhundert

Czáka, Véronique : Éduquer les corps et les âmes. Histoire sociale et genrée de l’éducation physique en Suisse romande (19e – début 20e siècle). Université de Lausanne, faculté des Lettres, thèse de doctorat, en cours. Deluermoz, Quentin : Les gamins de Paris au combat ? Les enfants-soldats sous la Commune de Paris (1871). In : Pignot, Manon (éd.) : L’enfant-combat- tant, XIXe – XXIe siècles, pratiques et representations. Paris : A. Colin 2012, p. 50 – 68. Digeon, Claude : La crise allemande de la pensée française (1870 – 1914). Paris : PUF 1959. Espagne, Michel : Les transferts culturels franco-allemands. Paris : PUF 1999. Espagne, Michel : La notion de transfert culturel. In : Revue Sciences/Lettres, 1 (2013), online. Espagne, Michel/Gorshenina, Svetlana/Grenet, Frantz/Mustafayev, Sha- hin/Rapin, Claude : Asie centrale. Transferts culturels le long de la Route de la soie. Paris : Éditions Vendémiaire 2016. Fontaine, Alexandre : Alexandre Daguet (1816 – 1894) : racines et formation d’un historien libéral-national oublié. Université de Fribourg, mémoire de li- cence, 2005 (accessible sur http ://unige.academia.edu/AlexandreFontaine). Fontaine, Alexandre : Aux heures suisses de l’école républicaine. Un siècle de transferts culturels et de déclinaisons pédagogiques dans l’espace franco-ro- mand (préface de Michel Espagne). Paris : Demopolis 2015a. Fontaine, Alexandre : Schweizer Historiker und transnationaler Erzieher : der Freiburger Intellektuelle Alexandre Daguet (1816 – 1894). In : Freiburger Ge- schichtsblätter, 92 (2015b), p. 9 – 36. Fontaine, Alexandre/Masoni, Giorgia : Circolazioni transnazionali di letture morali nell’Europa del secolo lungo. Una storia di transferts culturali. In : Wolfgang Sahlfeld (éds.), Federalismo : motore di innovazioni e transfert pe- dagogici ? Il caso della Svizzera, Annali di storia dell’educazione e delle isti- tuzioni scolastiche, 22 (2015), p. 22 – 39. Fontaine, Alexandre/Goubet, Jean-François : La pédagogie allemande dans l’espace francophone. Appropriations et résistances, numéro thématique de la Revue germanique internationale, Éditions CNRS, 23 (2016). Fontaine, Alexandre : Transferts culturels et pédagogie : reconnecter l’histoire de nos systèmes éducatifs à leurs racines métissées. In : Didactica Historica, 2 (2016), p. 63 – 67. Froissart, Tony : Défense de la nation. Education des citoyens, professionnali- sation de l’encadrement. La gymnastique et les bataillons scolaires en France. Entre références allemandes et héritage républicain (1852-1890). In :

135 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Arnal, Thierry/Terret, Thierry. Aux origines de la gymnastique moderne. Va- lenciennes : Presses universitaires de Valenciennes 2011, p. 69 – 88. Geslot, Jean-Charles : Victor Duruy. Historien et ministre (1811 – 1894). Lille : Presses universitaires du Septentrion 2009. Giuli, André de : Les Cadets veveysans. In : Vibiscum, 8 (2000), p. 256 – 274. Jung, Fritz : Corps des cadets et musique scolaire, 1850 – 1950. In : Annales lo- cloises, 8 (1950), p. 1 – 21. Lebecq, Pierre-Alban : L’éducation physique selon Paschal Grousset : un cont- re-modèle à la gymnastique allemande. In : Arnal, Thierry/Terret, Thierry. Aux origines de la gymnastique moderne. Valenciennes : Presses universi- taires de Valenciennes 2011, p. 187 – 206. Saint-Martin, Jean : Être fort pour être en paix ou l’expression d’une francité gymnique (1866 – 1881). In : Arnal, Thierry/Terret, Thierry : Aux origines de la gymnastique moderne. Valenciennes : Presses universitaires de Valenci- ennes 2011, p. 167 – 185. Secrétan, Édouard : L’instruction militaire préparatoire, les corps de cadets. Lausanne : Imprimerie A. Borgeaud 1882. Steiner-Khamsi, Gita : Reterritorialisation de l’importation éducationnelle. Ex- plorations de la politique de l’emprunt éducationnel. In : Lawn, Martin/No- voa, Antonio (éds.) : L’Europe réinventée. Regards critiques sur l’espace eu- ropéen de l’éducation. Paris : L’Harmattan 2005, p. 103 – 128. Thiesse, Anne-Marie : La création des identités nationales. Europe XVII- Ie – XIXe siècle. Paris : Seuil 1999. Thiesse, Anne-Marie : Des fictions créatrices : les identités nationales. In : Ro- mantisme, 30, 110 (2000), p. 51 – 62. Thiesse, Anne-Marie : Littérature et éducation au national. In : Le Français aujourd’hui, 167, 4 (2009), p. 19 – 26. Thiesse, Anne-Marie : Nations, internationalismes et mondialisation. In : Ro- mantisme, 163, 1 (2014), p. 15 – 27. Weber, Eugen : Gymnastique et sport en France à la fin du XIXe siècle : opium des classes ? In : Recherches, 43 (1980), p. 185 – 220.

Dr. Alexandre Fontaine, Université de Lausanne, Faculté des sciences sociales et politiques, Institut d’études politiques, historiques et internationales, [email protected]

136

Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Militärkarrieren von «Bildungsexperten» zwischen 1875 7und 1914

Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Lukas Boser

7. Militärkarrieren von «Bildungs­ experten» zwischen 1875 und 1914

«Stellen wir die Einheit der civilen und militärischen Bildung, welche Jahrhunder- te lang den Glanzpunkt unseres Volkes bildete, wieder her. Jeder Schweizer soll das Bewusstsein haben, dass Militärpflicht und Bürgerpflicht untrennbar sind.»1

1. Einleitung 2 Das Militär und die Volksschule wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Schweiz – wie in vielen anderen Staaten auch3 – als die «Schulen der Nation» ver- standen. Der «wahre» Bürger, der seine Rechte kannte und wahrnahm und sei- ne Pflichten – zu denen auch die bewaffnete Verteidigung des Vaterlandes gehörte – mit Stolz und Eifer erfüllte, werde, so die Vorstellung, in Volksschule und Militär gebildet und geformt. 1874 fasste der schweizerische Bundesrat Emil Welti (1825 – 1899) diese Idee in folgende Worte: «Das Alterthum hat in seinen schönsten Zeiten [die] Trennung zwischen civiler und militärischer Bildung nicht gekannt [ … ]. Es ist die grosse Aufgabe des Milizstaates, und darunter kann nur der republikanische Staat verstanden sein, jene verloren gegangene Einheit der Bildung in seiner Wehrverfassung wieder herzustellen.»4

1 O.A. 1882a, o. S. Diese Aussage stammt von Johannes Fenner (1851 – 1924). Fenner war Lehrer für Deutsch, Geschichte und Turnen an der Thurgauer Kantonsschule (Th. v. G. 1924, S. 433f.). Im Militär bekleidete er den Rang eines Leutnants der Infanterie (o.A. 1924, S. 412). 2 Eine erste Version dieses Beitrags wurde im Sommer 2014 an der 36. ISCHE-Konferenz in London zum Thema Education, War and Peace diskutiert. Mein besonderer Dank gilt Dr. Barry Blades, dessen kritische Rückfragen viel dazu beigetragen haben, das Konzept des Wissenstransfers für diese Arbeit fruchtbar zu machen. 3 Vgl. Grone 2008; Frevert 2001. 4 Schweizerischer Bundesrat 1874, S. 44f. Vgl. auch Rieder 2009, S. 54 – 56. Zu Bundesrat Weltis Idee des «Milizstaates» gehörten auch Vorstellungen der «Einheit des Männerstaates und des Männerheeres» res- pektive der «Leitgedanke einer Identität von Staatsvolk und Armee und letztlich von Bürger und Soldat» (ebd., S. 55).

143 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Die «Einheit der Bildung» von Bürger und Soldat litt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz darunter, dass es kaum Berührungspunkte zwischen den Institutionen Schule und Militär gab. Zwar waren seit 1848 (Art. 18 der Bundesverfassung) alle Schweizer Bürger und damit auch die Lehrer wehrpflichtig. Ein Gesetz über die Ausnahme von der Wehrpflicht ermöglichte es den Kantonen jedoch, die Lehrer von der Militärpflicht zu entbinden.5 23 von 25 Kantonen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, sodass die meisten Lehrer dem Ideal von Bürger und Soldat selber nicht entsprachen.6 Als Begrün- dung, weshalb die Lehrer von der Dienstpflicht ausgenommen wurden, wurde angeführt, man wolle den Unterricht nicht unnötig stören.7 Vor allem aber sparte diese Massnahme den Kantonen und Gemeinden viel Geld, das sie ansons- ten für Stellvertretungen hätten aufwenden müssen. Viele Lehrer sahen diese Nichtberücksichtigung für den Militärdienst als eine Form der Diskriminierung an. Sie insistierten darauf, dass die von der Verfassung garantierten bürgerlichen Freiheiten, Rechte und Pflichten auch für sie vollumfänglich zu gelten hätten. Der Sieg Preussens im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 respektive der da- zugehörige Mythos von der Überlegenheit des preussischen Schulwesens stärk- te auch in der Schweiz die Argumente der Befürworter der Militärpflicht für Lehrer.8 Die Lehrer sollten durch «periodische, nicht zu selten wiederkehrende Einberufungen zu militärischen Uebungen als Wehrmänner und als Volkslehrer tüchtig gemacht» werden, wie beispielsweise am schweizerischen Lehrertag 1882 gefordert wurde.9 Die Militärorganisation von 1874 eröffnete den Lehrern zwar den Zugang zum Militärdienst,10 verwehrt blieb ihnen jedoch der Aufstieg in die Unteroffiziers- und Offiziersränge. Mit den ArgumentenGleichbehandlung aller Schweizer Bürger, gesellschaftlicher Prestigegewinn (der mit einer militärischen Karriere verbunden war), im Militär gemachte Erfahrungen (von welchen die Lehrer auch im Klassen- zimmer profitieren können) undWissen und Können (das die Lehrer dem Militär hätten zur Verfügung stellen könnten) bemühten sich die Schweizer Lehrer in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts darum, Karriere im Militär machen zu können. Im vorliegenden Beitrag geht es um diesen letztgenannten Punkt, genauer gesagt um Wissenstransfer zwischen Schule und Militär durch Lehrer und andere

5 Bundesversammlung 1850a; Bundesversammlung 1850b. 6 Die beiden Ausnahmen waren die Kantone Wallis und Graubünden (o.A. 1867, S. 75). 7 Ebd. 8 Zimmer 2003, S. 179. 9 O.A. 1882a, o.S. – Hervorhebung L.B. 10 Vgl. Bundesversammlung 1874; Schweizerischer Bundesrat 1874.

144 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

pädagogische Experten. Konkret geht es um die Frage, ob und wie Professions- wissen11 von Lehrern, Lehrerbildnern, Schulinspektoren und Bildungsbeamten im Zeitraum von 1875 bis 1914 ins Militär transferiert wurde. Es wird gefragt, ob es so etwas wie Wissenstransfer überhaupt gab respektive ob ein solcher erwartet werden konnte und welches professionsspezifische Wissen Lehrer und andere im Bildungsbereich tätige Männer im ausgehenden 19. Jahrhundert ins Militär einbringen konnten, welches Wissen sie einbrachten, wie und unter welchen Bedingungen sie dies taten (oder auch nicht). Um diese Fragen zu beantworten, wird zuerst anhand der pädagogischen Rekrutenprüfungen, die ab 1875 gesamt- schweizerisch stattfanden, diskutiert, wie und unter welchen Bedingungen Lehrer und andere dem schulischen Umfeld entstammende Männer im Militär als sogenannte pädagogische Experten12 auftraten und handelten (2.). Daran anschliessend, wird diskutiert, welche Bedingungen es zwischen 1875 und 1914 ermöglichten respektive erschwerten, das Wissen der Lehrer für das «militärische Führertum zu instrumentalisieren» (3.).13 Abschliessend wird diskutiert, was das Konzept des Wissenstransfers, wie es in diesem Beitrag verstanden und verwen- det wird, zu einem neuen respektive weiter gefassten Verständnis des Verhält- nisses von Schule und Militär beitragen kann (4.).

2. Pädagogische Rekrutenprüfungen Der Frage nach einem Wissenstransfer von der Schule ins Militär wird zunächst am Beispiel der pädagogischen Rekrutenprüfungen, die seit 1875 gesamtschwei- zerisch durchgeführt wurden, diskutiert. Über die pädagogischen Rekrutenprü- fungen wurde bereits viel geforscht und geschrieben. Insbesondere für die historische Bildungsforschung sind sie von grossem Interesse. Die Tatsache, dass es sich dabei um einen Versuch handelte, schweizweit den Bildungsstand der Bürger zu erfassen, macht die pädagogischen Rekrutenprüfungen zu einer Be- sonderheit in einem Land, in dem Bildungsfragen primär als Sache der Kantone angesehen wurden und werden.

11 Unter Professionswissen verstehe ich hier Allgemeinwissen, pädagogisches Wissen, Wissen zu Schul- und Unterrichtsorganisation, (fach-)didaktisches Wissen, Wissen über curriculare Inhalte und deren Entwick- lung usw. 12 Im Rahmen dieses Beitrags wird auf den Transfer von Wissen durch Experten fokussiert. Beim Transfer von Wissen zwischen der Schule und dem Militär ist der Expertenstatus wechselnd besetzt, je nachdem, von wo nach wo das Wissen respektive die dieses Wissen mit sich tragenden Personen sich bewegen und wer ihr jeweiliges Gegenüber ist. Im vorliegenden Artikel interessiert vor allem eine Richtung des Wissen- stransfers, indem gefragt wird, wie Lehrer, Lehrerbildner, Schulinspektoren und Bildungsbeamte, die qua ihres pädagogischen und schulorganisatorischen Wissens als pädagogische Experten zu betrachten sind, ihr Wissen ins Militär – ein Umfeld, das von pädagogischen Laien bestimmt wird – einbringen. 13 Jaun 1999, S. 393.

145 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Laut Claudia Crotti und Katharina Kellerhals waren die pädagogischen Rekru- tenprüfungen ein «Instrument zentralisierender Steuerungsbemühungen» res- pektive eine Strategie des Bundes,14 um den sogenannten «Schulartikel» der Bundesverfassung von 1874 zu konkretisieren. In diesem Artikel 27 war festge- halten, die Kantone hätten für «genügenden» Primarunterricht zu sorgen, wobei offen blieb, was «genügend» genau bedeutete und wie es kontrolliert werden sollte. Wichtig war den Schöpfern dieses Artikels vor allem, dass die künftigen Staatsbürger in der Primarschule ein gewisses Mindestmass an Bildung erhiel- ten.15 «Der genügende Primarunterricht wurde insofern bedeutsam, als die Bundesverfassung mit der Einführung des Referendumsrechtes die politischen Rechte ihrer Bürger erweiterte, was eine verbesserte Bildung der Bürger voraussetzte.»16 Dementsprechend, so die These der bisherigen Forschung, habe der Bund auch ein Interesse daran gehabt, Qualität und Nachhaltigkeit des durch die Kantone verantworteten Primarunterrichts zu überprüfen. Durch diese Prüfungen habe der Bund für die Kantone Anreize schaffen wollen, «genügen- den» Unterricht tatsächlich durchzuführen. Weil für den Bund eine Überprüfung des Bildungsstandes vor Ort, d. h. in den Schulen selbst, nicht infrage kam,17 habe man sich des Militärs bedient, um zu überprüfen, ob die Bürger «genügenden» Primarunterricht erhalten hätten.18 Dabei hätten sich die Zeitgenossen auf die Erfahrung gestützt, dass die Musterung der Rekruten dazu benutzt werden konnte, Informationen über den Bildungsstand der jungen Männer zu erhalten, und dass daraus Schlüsse über deren Schulbildung gezogen werden konnten.19 Laut Lustenberger wurden pädagogische Rekrutenprüfungen erstmals 1854 im Kanton Solothurn durchgeführt.20 Geprüft wurden dabei Lesen, Schreiben und Rechnen. Bis 1873 folgten beinahe alle Kantone dem Beispiel Solothurns und führten pädagogische Prüfungen bei den Rekruten durch.21 Grob gesagt, zeichnet die bisherige Forschung folgendes Bild der pädagogi- schen Rekrutenprüfungen: Das minimale Wissen, von dem angenommen wurde, dass ein Staatsbürger es haben musste, um sich aktiv und verantwortungsvoll am Gemeinwesen zu beteiligen, sollte in der Volksschule vermittelt und von pädago- gischen Experten im Rahmen der militärischen Musterung abgefragt werden.

14 Crotti 2008, S. 143. 15 Vgl. Criblez/Huber 2008, S. 96 – 101. 16 Crotti/Kellerhals 2007, S. 50. 17 «Aus den Debatten in den eidgenössischen Räten ging [ … ] klar hervor, dass eine Beaufsichtigung der kan- tonalen Schulen durch eidgenössische Inspektoren undenkbar wäre» (Lustenberger 1996, S. 40). 18 Crotti/Kellerhals 2007; Crotti 2008. 19 Vgl. Lustenberger 1996, S. 35 – 41. 20 Ebd., S. 15. 21 Ebd., S. 15 – 34.

146 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Das Militär bot bloss den Rahmen und die Gelegenheit dazu, zu kontrollieren, ob die Schweizer Schüler «genügenden» Primarunterricht genossen hatten, es hatte inhaltlich nichts mit diesem Wissen zu tun. Stimmt diese These, dann kann man im Zusammenhang mit den pädagogischen Rekrutenprüfungen nicht von einem Wissenstransfer sprechen. Ein Wissenstransfer zwischen Militär und Schule war weder intendiert, noch war er nötig. Was in der bisherigen Forschung zu den pädagogischen Rekrutenprüfungen (zu) wenig berücksichtigt worden ist, ist die Tatsache, dass diese Prüfungen in einem ganz speziellen Kontext stattfanden und dass sie unter Berücksichtigung desselben untersucht und interpretiert werden müssen. Die pädagogischen Re- krutenprüfungen fanden im Rahmen der Aushebung junger Wehrpflichtiger statt, sie waren somit nicht primär ein Instrument zur Bildungssteuerung, son- dern zuerst einmal eines zur Feststellung der Diensttauglichkeit der jungen Männer und zu deren späterer Zuteilung zu einer der unterschiedlichen Trup- pengattungen. Zwar war mangelndes Wissen kein Grund für eine Dienstentlas- sung, junge Männer, deren Wissen in den geprüften Fächern als ungenügend bewertet wurde, mussten aber im Rahmen ihrer militärischen Ausbildung Nachschulungskurse in den Fächern Lesen, Schreiben und Rechnen besuchen.22 Das schulische Wissen, das 1875 abgefragt wurde, war das Wissen, das für den soldat-citoyen (Bürgersoldat) als wichtig erachtet wurde. In der Einleitung zum ersten Bericht der pädagogischen Rekrutenprüfungen von 1875 ist Folgendes zu lesen: «Niemand darf [ … ] in eine Waffengattung des Bundesheeres aufgenom- men werden, der nicht die dazu erforderlichen Eigenschaften besitzt [ … ].»23 Und weiter heisst es, man habe «in der Monarchie, wie in der Republik, längst einge- sehen, dass der Soldat keine blosse Maschine ist, und angefangen, die Bildungs- fähigkeit und den Bildungsstand des Rekruten zu prüfen und ihm durch Erthei- lung von Elementarunterricht nachzuhelfen».24 Was der Bundesrat im selben Jahr im Hinblick auf die körperliche Verfassung der Rekruten sagte, galt auch für deren Bildungsstand: «Die Untersuchung der Militärpflichtigen hat die Interes- sen des Heeres und die Rücksichten für den Bürger im Auge zu behalten. Die militärischen Interessen gebieten, dem Heere alle tauglichen Elemente zuzufüh- ren, dagegen die in der Entwicklung zurückstehenden und schwächlichen, sowie alle wirklich kranken oder gebrechlichen Individuen auszuscheiden und zurück- zustellen, oder gänzlich zurückzuweisen, damit die Armee nicht in ihrer Kriegs-

22 Schweizerischer Bundesrat 1875a, S. 103; Schweizerischer Bundesrat 1875b, S. 403; Schweizerischer Bun- desrat 1879, S. 193f.; vgl. auch Lustenberger 1996, S. 98f. 23 Statistisches Bureau 1876, S. III. 24 Ebd.

147 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

tüchtigkeit durch Elemente beeinträchtigt werde, die nach verhältnismässig ge- ringen Anstrengungen schon als Ballast sich an ihre Ferse heften.»25 Bereits von den Zeitgenossen im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde die Funktion der pädagogischen Rekrutenprüfungen unterschiedlich interpretiert. Für die einen waren sie ein Instrument der nationalen Bildungspolitik (u. a. im Hinblick auf die Erstellung eines nationalen Schulgesetzes), für die anderen ein Instrument zur Sicherstellung der nationalen Wehrhaftigkeit, wobei sich diese beiden Interpretationen gegenseitig nicht ausschlossen. Für eine dritte Gruppe schliesslich waren sie ein Instrument zur Durchsetzung persönlicher Ziele. In der Schweizerischen Lehrerzeitung interpretierte ein unbekannter Autor die Resul- tate der pädagogischen Rekrutenprüfungen von 1875 wie folgt: «Di leistungen der schulen entsprechen fast überall den besoldungen der lerer.»26 Die Schluss- folgerung aus dieser Feststellung konnte nur lauten: Mehr Lohn gleich bessere Leistung. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die pädagogischen Rekrutenprü- fungen ganz offensichtlich bildungspolitische, militärische und professionspoli- tische Elemente in sich vereinten und es gerade deshalb als durchaus lohnenswert erscheint, sie im Hinblick auf einen möglichen Wissenstransfer zu untersuchen.

Pädagogische Experten Gemäss dem Regulativ über die Durchführung der Rekrutenprüfungen, das der Bundesrat am 13. April 1875 erlassen hatte, sollte zu «Beginn eines Rekrutenkur- ses» der «Bildungsstand sämmtlicher [sic] zu demselben einberufenen und er- schienenen Rekruten durch pädagogische Experten, welche von dem Militärdepartement bezeichnet werden», untersucht werden.27 Pädagogische Ex- perten, d. h. Männer mit professionsspezifischem Expertenwissen, sollten also in einer Institution, in der solches fehlte, einen Bildungsstandstest durchführen. Das Eidgenössische Militärdepartement konnte dabei auf Personen zurückgrei- fen, die in den Jahren und Jahrzehnten zuvor Erfahrungen mit Wissenstests an Rekruten gesammelt hatten.28 Es wurden zivile Experten, nämlich Lehrer, Leh- rerbildner (d. h. Seminarlehrer), Schulinspektoren und Beamte aus Bildungsbe-

25 Schweizerischer Bundesrat 1876, S. 420. Dies erinnert ein wenig an die Anfänge der Intelligenzmessung, die nur wenige Jahre später einsetzte. Auch hier dienten die Tests Alfred Binets (1857 – 1911) und Théodore Simons (1872 – 1961) ursprünglich dazu, die Kinder gemäss ihrer Intelligenz zu gruppieren und diejenigen Kinder auszusondern, die nicht intelligent genug waren, der Normalschule zu folgen, und daher den or- dentlichen Gang des Unterrichts behinderten (Carson 2007, S. 152). Ein Verweis auf Binet und weitere in- ternationale Vergleiche (insbesondere mit den USA) finden sich bei Bovet [1935], S. 35f. 26 O.A. 1876, S. 116. 1876 verwendete die Schweizerische Lehrerzeitung die konsequente Kleinschreibung, und es wurde weitgehend auf Schärfungen und Dehnungen verzichtet. 27 Schweizerischer Bundesrat 1875a, S. 101. 28 Bovet [1935], S. 44.

148 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

hörden, aufgefordert, die Tests durchzuführen.29 Konkret sollten die Experten – gemäss dem Erlass von 1875 – drei Dinge tun: Sie sollten erstens die Prüfun- gen durchführen. Sie sollten zweitens die Leistungen der Prüflinge in Kategori- en einteilen, von 1 (befriedigende Leistung) bis 4 (keine Leistung erbracht). Sie sollten drittens abschätzen, ob Zeugnisnoten von weiterführenden Schulen «be- friedigend und zuverlässig» waren.30 Im Zusammenhang mit diesen Aufgaben ist also festzuhalten, dass sich das Expertenwissen, das die Pädagogen in die Prü- fungen einbringen sollten, darauf beschränkte, die Prüfung durchzuführen und die erbrachten (oder durch Schulnoten belegten) Leistungen der jungen Männer zu beurteilen. Über die Inhalte der Prüfung entschieden 1875 interessanterwei- se nicht pädagogische, sondern ein militärischer Experte. Lustenberger verweist darauf, dass der erste Entwurf zum Regulativ über die Durchführung der päda- gogischen Rekrutenprüfungen aus der Feder des Oberinstruktors der Infanterie, Abraham Stocker (1825 – 1887),31 stammt.32 Das Regulativ legte fest, dass das Wis- sen der jungen Männer in den Bereichen Lesen, Schreiben, Rechnen und Vater- landskunde überprüft werden sollte. Zwar erwähnte es explizit, die pädagogischen Experten hätten den «Bildungsstand» der Rekruten «zu konstatiren»,33 der Hand- lungs- und Entscheidungsspielraum der Experten wurde jedoch dadurch einge- schränkt, dass im Regulativ nicht nur die Prüfungsfächer, sondern auch die den einzelnen Noten entsprechenden Leistungsniveaus vorgegeben waren. Im Lesen beispielsweise sollte «[m]echanisch richtiges Lesen, mit sinngemässer Betonung und nach Inhalt und Form befriedigende zusammenhängende oder doch freie Reproduktion» mit der Note 1 bewertet werden, während für einen «Mangel jeg- licher Fertigkeit im mechanischen Lesen» die Note 4 zu vergeben war.34 In Anbetracht dieser Situation muss nun die These der bisherigen Forschung, die pädagogischen Experten hätten in erster Linie überprüfen sollen, ob die jungen Männer eine «genügende» Primarbildung erhalten hatten, überdacht werden. Bei der ersten Durchführung der pädagogischen Rekrutenprüfung, so scheint es, sollte überprüft werden, ob die jungen Männer genügend für das

29 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Lehrerbildung in der Schweiz so weit ausgebaut, dass Lehrer, die die Lehrerseminare besucht und Berufserfahrung gesammelt hatten, durchaus als Experten mit Professionswissen in den Bereichen Lernen, Unterrichten, Erziehen, Instruieren usw. gelten konnten. Ne- ben diesem berufsspezifischen Wissen war ihnen auch Allgemeinbildung vermittelt worden. Allerdings war von dieser Expertise im Zusammenhang mit den Rekrutenprüfungen zunächst nur ein kleiner Teil ge- fragt. 30 Der mit einem solchen Zeugnis ausgestattete Rekrut wurde von einer weiteren pädagogischen Überprü- fung befreit (Schweizerischer Bundesrat 1875a, S. 101). 31 Zu Stocker vgl. Lustenberger 2015. 32 Lustenberger 1996, S. 46. 33 Schweizerischer Bundesrat 1875a, S. 101. 34 Ebd., S. 102.

149 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Militär relevantes Wissen besassen. Zu dieser Interpretation passt auch, dass junge Männer mit mangelndem Wissen durch das Militär in Lesen, Schreiben und Rechnen nachbeschult wurden. Der militärische Wert von Lesen, Schreiben und Rechnen ist leicht nachzuvollziehen. Befehle, Anweisungen, Reglemente, Rapporte usw. müssen geschrieben und gelesen, Distanzen, Flugbahnen, Provi- ant usw. müssen berechnet werden. Aber auch der Vaterlandskunde (Geografie, Geschichte und Verfassungskunde) wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert in zweierlei Hinsicht militärische Bedeutung beigemessen. Einerseits wurde, ent- sprechend dem Konzept des soldat-citoyen, in dem Bürger und Soldat eine Einheit bilden, staatsbürgerliches Wissen mit soldatischem Wissen gleichgesetzt.35 An- dererseits war beispielsweise geografisches Wissen für die Orientierung der Soldaten von grosser Bedeutung, wie das folgende Zitat verdeutlicht: «Was ist’s heute mit einem Soldaten, der nichts von der Geographie, der Geschichte seines Vaterlandes kennt? Diese geben Einsicht und wahre Begeisterung, Mut und Vertrauen; sie zeigen, dass das Vaterland aus tausend drohenden Gefahren durch kühnen Mut gerettet worden, und weken [sic] Vaterlandsliebe. ‹Eure Unteroffi- ziere kennen die Fusswege in Frankreich besser, als unsere Generäle die Haupt- strassen›, antwortete ein gefangener französischer Offizier einem preussischen General, der sein Erstaunen darüber äusserte, dass Frankreich so leicht überwun- den worden.»36 Die pädagogischen Experten, so könnte man nach diesen Überlegungen resü- mieren, prüften nicht nur, ob der Primarunterricht in den Kantonen «genügend» war, sie prüften vor allem, ob die jungen Männer das vom Militär verlangte (Allgemein-)Wissen besassen. War die erste Durchführung der pädagogischen Rekrutenprüfung im Jahr 1875, wie erwähnt, noch sehr stark vom Militär beeinflusst, so gelang es den pä- dagogischen Experten, ihre Zuständigkeiten und ihren Einfluss alsbald massiv zu erweitern. Für die Überarbeitung des Erlasses über die Durchführung der Rekrutenprüfungen wurden pädagogische Experten wie beispielsweise der Solo- thurner Seminardirektor Peter Gunzinger (1844 – 1919) beigezogen.37 Auch in Bezug auf die geprüften Inhalte begannen die Pädagogen nun, ihren Experten- status geltend zu machen. Dieser stützte sich nicht zuletzt darauf, dass etliche

35 Zum Verständnis der Einheit von Staat und Armee respektive Bürger und Soldat vgl. Jaun 1999 (insbeson- dere S. 89 – 114) und Rieder 2009. 36 O.A. 1892a, S. 55. Interessanterweise war dem Militär die Vaterlandskunde aber dann doch nicht so wichtig, als dass sie in den Nachschulen hätte unterrichtet werden sollen. Gemäss dem Regulativ von 1875 sollte in diesen Schulen nur «Schreiben, Lesen und Rechnen» unterrichtet werden (Schweizerischer Bundesrat 1875a, S. 103). Auch in den darauffolgenden Regulativen wurde nur eine Nachbeschulung in Lesen, Schrei- ben und Rechnen angeordnet (vgl. Schweizerischer Bundesrat 1875b; Schweizerischer Bundesrat 1879). 37 Keller-Zschokke 1925, S. 38.

150 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

der Pädagogen im zivilen Leben massgeblich an der Lehrbuchproduktion oder der Gestaltung von Lehrplänen beteiligt waren.38 Sie nahmen so eine Art doppel- te Expertenrolle ein: Einerseits bestimmten sie qua ihrer Rolle als zivile pädago- gische Experten den Lehrstoff der Volksschulen, andererseits führten sie qua ihrer Rolle als pädagogische Experten im Militär die Überprüfung des Erfolgs dieses Unterrichts im Rahmen der Rekrutenprüfungen durch. Im Lauf der Zeit übernahmen die Experten endgültig die Deutungshoheit über die geprüften In- halte, indem sie Wegleitungen für die Abnahme der Prüfungen erstellten, in denen detailliert aufgelistet war, was die Prüflinge wissen mussten, um eine bestimmte Note zu erreichen.39 Ihre Position, die sie als Experten an der eben beschriebenen Nahtstelle zwischen Schule und Militär einnahmen, nutzten die Pädagogen auch, um in beiden Bereichen neues Wissen zu implementieren, wie das folgende Beispiel zeigt: Bei einem Treffen der nationalen Experten im Rahmen des schweizerischen Lehrerfestes in Bern im August 1876 beschlossen diese,40 im Rechnen seien ab sofort auch Kenntnisse über das metrische System abzufra- gen. Das war eine interessante Neuerung. Das metrische System war in der Schweiz zwar seit 1868 toleriert, sollte aber erst per 1. Januar 1877 als offizielles Masssystem eingeführt werden.41 In vielen Rechenbüchern, die in den 1860er- und 1870er-Jahren in den Schweizer Primarschulen verwendet wurden, kam das metrische System kaum vor, und ebenso wenig waren die Lehrer in den meisten Kantonen durch den Lehrplan dazu verpflichtet, dieses System zu unterrichten. Im Rechenunterricht, den die jungen Männer, die 1876 ausgehoben wurden, erhalten hatten, war es daher noch kaum behandelt worden.42 Wenn die jungen Männer mit metrischen Massen umgehen konnten, dann weil sie dies ausserhalb der Schule gelernt hatten. Für das Militär jedoch waren Kenntnisse des metrischen Systems wichtig, weil das Militär bereits seit 1870 anstelle von Schweizer Fuss und Pfund den Meter und das Kilogramm eingeführt hatte.43 Der Umstand, dass das metrische System zum Prüfungsstoff der Rekrutenprüfungen erhoben wur- de, führte dazu, dass es innerhalb von wenigen Jahren in allen Kantonen zum

38 Beispielsweise der Solothurner Seminardirektor Peter Gunzinger (1844 – 1919), der Kreuzlinger Seminardi- rektor Johann Ulrich Rebsamen (1825 – 1897) oder der Liestaler Lehrer Justus Stöcklin (1860 – 1943). Zu Stöcklin vgl. Boser 2011. 39 Bovet [1935], S. 52. Ein Beispiel für eine Wegleitung für Vaterlandskunde, die der Oberexperte Heinrich Näf (1830 – 1888) vermutlich im Jahr 1887 geschrieben hatte, findet sich im Schweizerischen Bundesarchiv (vgl. Schweizerisches Bundesarchiv BAR, E27, 5864 – Rekrutenprüfung). 40 Anwesend waren gemäss einem Schreiben vom 11. August 1876 die Herren «Luquiens, Inspecteur des écoles primaires à Yverdon; König, Schulinspektor in Bern; Bucher, Lehrer der städtischen Knabenschule in Luzern; Näf, Erziehungsrat in Riedbach; Rebsamen, Seminardirektor in Kreuzlingen; Donatz, Erziehungs- sekretär in Chur» (Schweizerisches Bundesarchiv BAR, E27, 5863 – Schreiben vom 11. August 1876). 41 Vgl. Boser 2015. 42 Vgl. Boser 2016. 43 O.A. 1870, S. 159.

151 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

verbindlich zu unterrichtenden Primarschulstoff erklärt und – soweit sich dies anhand von Lehrmitteln beurteilen lässt – auch unterrichtet wurde.44 Hier könn- te man nun tatsächlich von «Bildungssteuerung» sprechen, allerdings ist zu beachten, dass diese in Zusammenhang stand mit Wissen, das primär für das Militär von Bedeutung war.

Widerstand gegen die pädagogischen Experten Ein probates Mittel, Erkenntnisse über historische Prozesse zu gewinnen, ist es, Widerstände gegen diese Prozesse zu untersuchen. Das ist auch im Fall der pä- dagogischen Experten und ihres Wirkens nicht anders. Ein Beispiel für Wider- stand, der nationales Aufsehen erregte, soll hier kurz dargestellt werden. Es handelt sich dabei um den des Divisionärs Aymon de Gingins (1823 – 1893) aus La Sarraz im Kanton Waadt. Gingins stammte aus einer alten Adelsfamilie und hatte unter anderem in neapolitanischen Diensten Karriere gemacht. Nach sei- ner Rückkehr aus dem Ausland stieg er in der Hierarchie des Schweizer Militärs auf,45 bis er 1875 schliesslich zum Kommandant der 8. Infanteriedivision ernannt wurde.46 In dieser Funktion war er auch für die ordnungsgemässe Durchführung der Aushebungen in seinem Divisionskreis verantwortlich. Gingins machte kei- nen Hehl daraus, dass er das vom Bundesrat erlassene Regulativ über die Durch- führung der Rekrutenprüfungen nicht mochte. Seine Kritik lautete folgendermassen: «En somme, le mode de recrutement adopté en 1875 par le Conseil fédéral était compliqué, coûteux, bureaucratique à l’excès.»47 Im Januar 1876 wurde Gingins vom Bundesrat aufgefordert, Vorschläge zur Verbesserung der Aushebung zu unterbreiten,48 was Gingins knapp einen Monat später tat.49 Diese Verbesserungsvorschläge betrafen auch die pädagogischen Rekrutenprü- fungen: «La commission d’experts pédagogiques serait supprimé; l’examen sco- laire dans les cas individuels où il est nécessaire pouvant être fait très convenablement par les officiers membres de la commission de recrutement. C’est d’ailleurs dans les écoles de recrues qu’il sera possible d’apprécier le plus justement le degré d’instruction des hommes, et M[essieurs] les instructeurs se- ront parfaitement aptes à s’en assurer sans qu’il soit besoin de faire intervenir des experts pédagogiques, dont l’utilité est contestable quoiqu’ils occasionnent une

44 Boser 2015, S. 82. 45 1861 wurde er zum Major befördert, 1866 zum Oberstleutnant, 1870 zum Oberst (Monbaron 1987, S. 32). 46 Ebd., S. 29. 47 Nouvelliste vaudois, 21.10.1876, S. 3. 48 Gingins 1876, S. 4. Nachdem Gingins seines Postens als Divisionskommandant enthoben worden war, pu- blizierte er eine Broschüre mit allen Akten zu diesem Fall (vgl. Gingins 1876). 49 Ebd., S. 4.

152 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

dépense assez élevée.»50 Gingins war also der Ansicht, die von externen Exper- ten durchgeführten Tests seien nicht nötig, um festzustellen, ob die jungen Män- ner eine genügende Bildung besässen. Dies könne viel besser durch die Offiziere geschehen, welche die jungen Männer während der Rekrutenschule beobachte- ten. Zudem würden die externen Experten die Hierarchie des Militärs unterlau- fen und somit die Autorität der Offiziere untergraben. Mit der Idee, dass die Offiziere, die täglichen Umgang mit den Soldaten hatten, am besten dazu geeig- net seien, deren Bildungsstand respektive deren Intelligenz zu beurteilen, sahen sich rund vierzig Jahre später auch Psychologen in den USA konfrontiert, welche ausgeschickt worden waren, mittels standardisierter IQ-Tests die Intelligenz der Soldaten zu messen, um festzustellen, welche der jungen Männer sich für den Offiziersdienst eigneten.51 In beiden Fällen hatten die Kritiker der Tests ein soli- des Argument auf ihrer Seite: Langfristige Beobachtungen versprachen, aussa- gekräftigere Erkenntnisse über den Bildungsstand und die Intelligenz der Soldaten zu liefern als einmalige Tests, die überdies unter teilweise dubiosen Umständen durchgeführt wurden.52 In beiden Fällen fanden die Einwände der militärischen Experten jedoch kein Gehör. Zu verlockend war wohl die Aussicht, mittels scheinbar objektiver Informationen über den Bildungsstand respektive die Intelligenz der Rekruten ein schnelles Urteil fällen zu können. Während, wie weiter oben dargelegt, die pädagogischen Experten durchaus Einfluss auf die Überarbeitung des Regulativs über die Rekrutenprüfungen nahmen, fanden Gingins’ Vorschläge beim Bundesrat kein Gehör. Weder die von ihm geforderte Absetzung der pädagogischen Experten noch seine anderen Vorschläge, mittels deren er das Aushebungsverfahren vereinfachen wollte, wurden umgesetzt. Das neue Reglement, das in den Augen von Gingins keiner- lei Vereinfachung mit sich brachte, lehnte er ab und sah sich daher nicht in der Lage, die Verantwortung für die Durchführung der Rekrutenprüfungen im Jahr 1877 zu übernehmen.53 Aus dieser Weigerung entspann sich ein Disput zwischen Gingins und dem Bundesrat, der schliesslich mit der Abberufung Gingins’ als Kommandant der 8. Infanteriedivision endete.54 Trotz Gingins’ Widerstand behielten die pädagogischen Experten ihre Rolle und Funktion im Rahmen der Rekrutenprüfungen. Dabei blieben sie aber immer Zivilisten, d. h., sie wurden nicht ins Militär übernommen. Die Experten blieben

50 Ebd., S. 6. 51 Carson 2007, S. 208 – 212. 52 Vgl. hierzu Gould 1988, S. 222 – 225; Lustenberger 1996, S. 70. 53 Schweizerisches Bundesarchiv BAR, E27, 4916, Dossier: de Gingins-la-Sarraz, von La Sarraz – Brief vom 27. August 1876. 54 Gingins 1876, S. 8 – 22.

153 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

in ihre zivilen Netzwerke eingebunden, und die Rekrutenprüfungen blieben ein isolierter Berührungspunkt, an dem sie direkt mit dem Militär in Kontakt traten. Etwas anders war die Situation für Lehrer, die im Militär Karriere als Offiziere machten. Hätten sie nicht, so könnte man fragen, innerhalb der Armee ihr Ex- pertenwissen anwenden und verbreiten, also gleichsam einen Wissenstransfer von innen heraus initiieren können? Dieser Frage wird im folgenden Kapitel nachgegangen.

3. Der Lehrer als Offizier Erziehung, Disziplin und Bildung spielten sowohl in der Schweizer Primarschu- le als auch im Schweizer Militär eine wichtige Rolle, wie beispielsweise die Ar- beit von David Rieder in Bezug auf Letzteres deutlich aufzeigt.55 Es liegt also nahe, zu vermuten, dass das professionsspezifische Wissen von Lehrern in der Ausbil- dung von Rekruten und der Führung von Soldaten eine Rolle gespielt haben könn- te. Eine Bestätigung dieser Vermutung findet sich bei Rudolf Jaun, der schreibt: «Bei den Lehrern – gemeint sind ausschliesslich die Volksschullehrer der Primar- und Sekundarstufe – handelt es sich um eine Schlüsselgruppe, der auch für die militärische Sozialisation der männlichen Bevölkerung hohe Bedeutung zukam.»56 Die Lehrer selbst bemühten sich seit dem 19. Jahrhundert in öffent- lich geführten Debatten um das Recht auf Avancement und brachten dabei im- mer wieder das Argument vor, sie hätten dem Militär etwas (d. h. Expertenwissen) zu bieten. Auch in militärischen Kreisen wurde dies so gesehen. Das Aargauer Schulblatt berichtete beispielsweise 1892 von einer Äusserung des Oberstdivisi- onärs Eduard Müller (1848 – 1919), der auf den «qualitativen Wert des Beizugs des Lehrerstandes für die Armee» hingewiesen habe und gesagt haben soll, «der Lehrerstand liefere der Armee vorzügliche Elemente für die Cadres». Müller soll dabei auch auf eine ganz konkrete Form des Wissenstransfers aufmerksam ge- macht haben, indem der Militärdienst den Lehrern ermögliche «mit anderen Kreisen in Berührung» zu kommen und «andere Kreise für die Schule [zu] interessiren».57 Im März 1891 hielt Karl Fisch (1850 – 1930), Kantonsschullehrer in Aarau im zivilen Leben und Kommandant des Bataillons 59 im Militär, einen Vortrag in Olten, in dem er anhand von Zahlen aufzuzeigen versuchte, dass sich Lehrer für das Avancement, also für den Aufstieg in die Offiziersränge, besonders eigneten. «Zur Illustration diene Ihnen beispielsweise, dass zunächst von den 16 aargaui-

55 Rieder 2009. 56 Jaun 1999, S. 391. 57 O.A. 1892b, S. 101.

154 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

schen Infanterie-Bataillonen des Auszugs und der Landwehr nicht weniger als 6 von gegenwärtigen und ehemaligen Lehrern, und zwar zur Hälfte von der Volks- schule, kommandirt werden»,58 erklärte Fisch seinen Zuhörern, und er schloss daraus, es werde dadurch «unwiderleglich dargetan, dass der Lehrerstand an persönlicher Befähigung für die aktive Landesverteidigung zum mindesten hinter keinem andern zurücksteht».59 Weitere Belege für seine These fand er darin, dass von gesamtschweizerisch 2500 «eingeteilten» Lehrern rund 650 ihren Dienst als «Unteroffiziere oder Offiziere» versehen würden. Im Kanton -Grau bünden seien sogar mehr als die Hälfte der Lehrer befördert worden.60 Das Problem bei der Sache war, dass die Lehrer seit 1874 zwar zum Militärdienst verpflichtet waren, dass sie jedoch von der Beförderung ausgeschlossen werden konnten. Deshalb mangelte es auch nicht an Gegenbeispielen zu Fischs Zahlen. In Zürich zum Beispiel waren nur 12 Prozent der Militärdienst leistenden Lehrer befördert worden.61 Nicht anders sah es im Kanton Thurgau aus: «Unter allen thurgauischen Lehrern befinden sich ganze drei, welche einen Grad bekleiden: ein Korporal, ein Lieutenant und ein Hauptmann.»62 Ein Grund für den Aus- schluss der Lehrer vom militärischen Avancement war finanzieller Art. Solange die Kantone respektive die Gemeinden die Kosten für die Stellvertretung der Lehrer, die Militärkarriere machten, zu tragen hatten, war ihre Bereitschaft, den Lehrern eine solche Karriere zu erlauben, relativ gering.63 Und wenn die Kosten auf die Lehrer selbst abgewälzt wurden, wie beispielsweise im Kanton Aargau, so minderte dies drastisch deren Motivation, sich länger als unbedingt nötig im Militär aufzuhalten.64 Abhilfe konnte nur der Bund schaffen, indem er sich bereit erklärte, diese Kosten zu übernehmen, was allerdings erst mit dem Militärgesetz von 1907 geschah.65 Erst mit dieser neuen Militärorganisation konnte die Absicht, «die Lehrer der mentalen Militarisierung zu unterwerfen und ihre Bildung für das militärische Führertum zu instrumentalisieren», in die Tat umgesetzt wer- den.66 Es stellt sich nun die Frage, wieso es mehr als dreissig Jahre dauerte, bis der Bund die Kosten für die Stellvertretungen übernahm und sich so die Bildung respektive das Expertenwissen der Lehrer zunutze machte. Eine mögliche Ant-

58 Fisch 1891, S. 349. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 341. 61 O.A. 1882b, S. 196f. 62 Vorstand des Schulvereins Weinfelden 1891, S. 385. 63 Vgl. Jaun 1999, S. 391. 64 Vgl. Fisch 1891, S. 350. 65 Bundesversammlung 1907, S. 1017. 66 Jaun 1999, S. 393.

155 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

wort auf diese Frage findet sich bei Jaun und Rieder.67 In den 1880er- und 1890er- Jahren entstanden in der Schweiz «zwei informelle Offiziersgruppierungen mit unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der Organisations- und Kampfkon- zepte sowie den daraus abgeleiteten Ausbildungs- und Führungsformen».68 Die eine dieser Gruppen beschreibt Rieder wie folgt: «Auf der einen Seite waren die Verfechter der von Bundesrat Welti vorangetriebenen Zentralisierung des gesam- ten Militärwesens sowie der bestehenden Gefechts- und Ausbildungsformen. Sie wurden als Anhänger der ‹Nationalen Richtung› etikettiert, waren eng verflochten mit den staatstragenden liberal-demokratischen Kräften des Landes und stamm- ten aus den höchsten Kreisen der Militärverwaltung. Ihre Konzeption einer re- publikanisch-egalitären Milizarmee basierte analog zur Reform Welti auf der Ausschöpfung aller Altersklassen und der staatsphilosophischen Überlegung einer Vorrangstellung des Staatsbürgers gegenüber dem Soldaten: In der Armee sollte der Staatsbürger als ‹Bürger in Uniform› respektiert werden, dessen Diszi- plin in erster Linie auf ‹denkendem Gehorsam› beruht.»69 Welti, so lässt sich vermuten, wusste um den Wert der Lehrer im Zusammenhang mit einer zivilen und militärischen Ausbildung des soldat-citoyen respektive des «Bürgers in Uni- form». Neben Welti war der bereits erwähnte Karl Fisch ein prominenter Vertre- ter dieser «Nationalen Richtung». Fisch hatte die Einheit von Bürger und Soldat zu seinem eigenen Lebensentwurf gemacht. Als Student der Altphilologie und Geschichte war es ihm bereits vor 1874 möglich gewesen, in der Armee eine Karriere zu lancieren. Als Kantonsschullehrer in Aarau setzte er diese zwischen 1875 und 1891 fort und war zudem auch in der Kadettenausbildung aktiv.70 1892 verliess er den Schuldienst und «wurde, nunmehr als Oberstleutnant, Instrukti- onsoffizier erster Klasse auf den Waffenplätzen in Aarau, Chur und Bellinzona».71 Fischs Vorstellungen von Bürger- und Soldatenbildung werden in seinen Schrif- ten sichtbar, so beispielsweise in einem Text, in dem er sich für die Einführung eines eidgenössischen Schulsekretärs aussprach.72 Der «Nationalen Richtung» stand die sogenannte «Neue Richtung» entgegen, die «sich seit den 1880er Jahren im Offizierskorps» herausbildete und die «an- gesichts der gestiegenen Komplexität und Brutalität des Gefechtsfelds die betont zivilistische, dem soldat-citoyen angemessene Ausbildung als völlig untauglich

67 Vgl. Jaun 1999; Rieder 2009. 68 Rieder 2009, S. 16. 69 Ebd. Zum «denkenden Gehorsam» vgl. Fisch 1901, S. 2. 70 Vgl. Zschokke 1909, S. 94 – 96. 71 Keller 1958, S. 201. 72 Vgl. Fisch 1882.

156 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

taxierte».73 Zentrale Figuren dieser Bewegung waren beispielsweise der spätere General Ulrich Wille (1848 – 1925) und der Berufsoffizier Fritz Gertsch (1862 – 1938). Auch für die Anhänger der «Neuen Richtung» waren Erziehungs- und Ausbildungsfragen wichtig, und auch sie legten grossen Wert auf Bildung,74 zentral jedoch waren ihnen Drill und Disziplin: «Ohne Drill gibt es keine militä- rische Erziehung, wird eine Truppe ewig unbeholfen bleiben, sind Ordnung und Zusammenhalt in den Verbänden undenkbar. Der allgemein anerkannte Einfluss des Militärdienstes auf die Volkserziehung fusst allein auf dem Drill und ist nicht vorhanden, wo dieser fehlt», stellte Gertsch in einem Vortrag im März 1900 fest.75 Die Vertreter der «Neuen Richtung» sahen im Soldaten «nicht wie die Anhänger der Nationalen Richtung den Staatsbürger in Uniform, dessen Disziplin auf ‹denkendem Gehorsam› beruhte, sondern in erster Linie den zum Soldaten zu erziehenden Zivilisten, der sich aus Pflichtschuldigkeit gegenüber dem Staat der Führungshierarchie zu unterwerfen hatte».76 In dieser Beziehung hatten die Lehrer kaum mehr Expertenwissen als alle anderen Bürger, im Gegenteil, ihr Professionswissen konnte ihnen sogar negativ ausgelegt werden, wie etwa beim streitbaren Fritz Gertsch zu lesen ist: «Es besteht ein gewisses Professorentum in der Armee, und dessen Angehörige sind überzeugte Drillgegner, weil ihnen vom militärerzieherischen Standpunkte aus das Wissen alles, das praktische Können Nebensache und der Charakter nichts ist.»77 Militärische Erziehung, so glaubte Gertsch, hatte nichts oder nur sehr wenig mit dem zu tun, was in der Schule geschah. Während Fisch als Vertreter der «Nationalen Richtung» in der Verbindung von «Drill und Erziehung»78 die Einheit von Bürger- und Soldaten- bildung weiterhin gewährleistet sah, erachtete Gertsch als Vertreter der «Neuen Richtung» die Ausbildung des Soldaten als Erziehungsform eigener Ordnung an, in der ohne Drill gar keine Erziehung möglich war.79 Die beiden «Richtungen» hatten auch unterschiedliche Vorstellungen davon, wie der Offiziersnachwuchs ausgewählt werden sollte. Die «Neue Richtung» setzte auf eine «Früherkennung» bei der Aushebung oder in der Rekrutenschu- le.80 Das Augenmerk sollte dabei auf die mentale «Disposition für die Ausbildung

73 Rieder 2009, S. 57f. 74 Jaun 1999, S. 449f. 75 Gertsch 1900, S. 46. 76 Rieder 2009, S. 58f. 77 Gertsch 1900, S. 47. Karl Fisch ging in seiner Replik auf Gertsch von 1901 nicht auf dieses «Professoren- tum» ein, obwohl sich dieser Angriff durchaus auch gegen ihn richtete (vgl. Fisch 1901). 78 Fisch 1901, S. 18 – Hervorhebung L. B. 79 Gertsch 1900, S. 5. 80 Jaun 1999, S. 405.

157 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

eines Offiziershabitus» gerichtet werden.81 Nicht was die jungen Männer ins Militär mitbrachten, war entscheidend, sondern wie gut sie sich den Vorstellun- gen der «Neuen Richtung» entsprechend formen liessen. Auch in diesem Zu- sammenhang spielte Wissenstransfer keine Rolle. Die «Nationale Richtung» dagegen wollte die zukünftigen Unteroffiziere durch Beobachtung der Rekruten erkennen und legte grossen Wert auf Unteroffiziersschule und das Abverdienen des Korporalsgrades.82 In dieser Form der Selektion, so könnte man vermuten, hatten die Lehrer, aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Erfahrungen im Umgang mit Menschen, möglicherweise gewisse Vorteile. Zwischen 1874 und 1914 verhinderten Faktoren wie die lange ungeklärte Frage der Kostenübernahme bei Stellvertretungen und die Vorstellungen der «Neuen Richtung» über Aufgabe und Charakter der Offiziere das Avancement der Lehrer. Hinzu kam, dass viele Lehrer keine Lust hatten, lange Militärdienst zu leisten, sie sahen sich selber eher als ideale Offiziere der Reserve, die in der Landwehr einen verkürzten Dienst leisteten und nur im Kriegsfall tatsächlich ins Militär eingezogen werden sollten.83 Die Voraussetzungen für einen Wissen- stransfer durch Lehrer, die zu Offizieren avancierten, waren, obwohl ein solcher Wissenstransfer von vielen Zeitgenossen als wünschenswert erachtet wurde, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht besonders gut. Dazu kam, dass die Vorstellung, ein solcher Wissenstransfer sei wünschenswert, längst nicht nur auf Zustimmung traf. Vielen Militärs galten Lehrer als Bürger, deren ziviles Exper- tenwissen für die Armee keinerlei oder höchstens einen geringen Wert hatte. «Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Lehrer zu einem der wichtigsten Rek- rutierungsfelder des schweizerischen Offizierscorps»,84 schreibt Jaun, und es lässt sich vermuten, dass dies auch mit ihrem Expertenwissen zusammenhängt. Al- lerdings liegt die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ausserhalb des in diesem Beitrag behandelten Zeitabschnittes. Die Fragen, wie das Militär im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von den Lehrern profitierte respektive ob durch die Lehrer tatsächlich ein Wissenstransfer stattfand, soll zum Schluss dieses Beitrages resümiert werden.

4. Wissenstransfer, oder: Aber was hat das Militär davon? In Bezug auf die Frage, ob Wissenstransfer durch die Experten bei den pädago- gischen Rekrutenprüfungen stattfand, lässt sich das Folgende feststellen: Auf die-

81 Ebd. 82 Ebd., S. 406. 83 O.A. 1882a, o. S. 84 Jaun 1999, S. 393.

158 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

se Frage gibt es zwei Antworten. Erstens kann man mit Ja antworten, denn es wurde hier spezifisches pädagogisches und organisatorisches Wissen von päda- gogischen Experten in einem Umfeld von pädagogischen Laien zur Anwendung gebracht. Das dabei entstehende Hierarchiegefälle zwischen Experten und Laien kollidierte gelegentlich mit den bestehenden Hierarchien der Armee, wie das Bei- spiel Gingins zeigt. Zweitens muss man mit Nein antworten, denn es wurde kein Wissen von den Experten auf die Laien übertragen. Dass der Wissensfluss von Experten zu Laien nicht oder nur in sehr geringem Masse stattfand, war in die- sem Fall zum Vorteil der Experten. Ihre Dienste blieben über einen langen Zeit- raum hinweg gefragt. Tatsächlich waren einige der Pädagogen während vieler Jahre als Experten tätig und machten richtiggehende Expertenkarrieren. Dabei kann zwar nicht von eigentlichen Militärkarrieren gesprochen werden, da die Ex- perten keinen militärischen Rang innehatten; nichtsdestotrotz waren diese Kar- rieren nur im Zusammenhang mit dem Militär möglich. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte das Militär darauf verzichten, externe Experten beizuzie- hen. Erst als es nämlich genügend Lehrer gab, die eine militärische Karriere ge- macht hatten,85 konnten die Experten in den eigenen Reihen gefunden werden.86 Wie sieht es aber in Bezug auf die Lehrer im Offizierscorps und einen allfälli- gen durch sie initiierten Wissenstransfer aus? Quellen zur Beantwortung dieser Frage zu finden, ist gar nicht so einfach. Auch eine (unsystematische) Suche in den Akten des Eidgenössischen Militärdepartements brachte wenig Aufschluss. Zwar wurden vereinzelt Dokumente gefunden, die über die Militärkarrieren von Lehrern Auskunft geben, aber sie beinhalten keinerlei Hinweise auf ein spezifi- sches Wissen, das die Lehrer im Militär hätten nutzbar machen können. Hinge- wiesen wurde vor allem auf persönliche Eigenschaften der beurteilten Personen, nicht jedoch auf professionelle. Wenn hervorgehoben wurde, dass eine Person etwas besonders gut konnte, dann wurde dies in keinem Fall mit dem beruflichen Hintergrund dieser Person in Verbindung gebracht. Beschreibungen wie die folgenden – willkürlich ausgewählten – verdeutlichen dies: «Fähig zur Führung eines Füs.-Bat, lange Diensterfahrung, hält auf gute Ordnung, gute Instruktion mit [ … ] Verständnis. Hebt nicht genügend die Selbständigkeit des Kaders und weckt zu wenig den frischen Geist im Kader. Es liegt das nicht in seiner Natur, die sehr empfindlich ist.»87 Oder: «Er hat selbständig gearbeitet namentlich das Rapportwesen gut besorgt, abgesehen davon, dass er kein Reiter ist, hat er sich

85 Ebd. 86 Bovet [1935], S. 45. 87 Schweizerisches Bundesarchiv BAR, E5570A, 755.1, 1891 – 1945 – Brunner, Peter.

159 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

im Uebrigen für diese Stellung gut geeignet.»88 Einige der Lehrer, die nach 1874 im Militär Karriere machten, dürften wohl von ihrem Professions- oder Exper- tenwissen und den Erfahrungen, die sie im zivilen Leben gemacht hatten, profi- tiert haben. Ob respektive zu welchem Grad dies jedoch auch in die Ausbildung und Führung von Rekruten und Soldaten einfloss, ist schwer zu rekonstruieren, und wenn, dann möglicherweise über Anleitungen, Lehrbücher und Manuale, die für diesen Beitrag nicht berücksichtigt werden konnten. Was aber rekonstru- iert werden kann, sind die Ansprüche und die Erwartungen, die an die Lehrer gestellt wurden und die eindeutig darauf verweisen, dass sie – von sich selber und von anderen – qua ihres professionellen Wissens als besonders geeignet für den Offiziersdienst angesehen wurden. Die von Johannes Fenner im Motto zu diesem Beitrag angesprochene «Einheit der civilen und militärischen Bildung» sollte nicht nur im Hinblick auf die Empfänger dieser Bildung, d. h. die Schüler, wie- derhergestellt werden. Als Verkörperung dieser Einheit – insbesondere in der Doppelfunktion als Lehrer und Offizier – konnten und sollten die Lehrer dienen.

Bibliografie

Ungedruckte Quellen Schweizerisches Bundesarchiv BAR, E5570A, 755.1, 1891 – 1945 – Becker, Jakob. Schweizerisches Bundesarchiv, BAR, E5570A, 755.1, 1891 – 1945 – Brunner, Peter.

Gedruckte Quellen Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft: Gesetz über die Militärorganisation der schweizerischen Eidgenossenschaft. (Vom 8. Mai 1850.). In: Schweizerisches Bundesblatt, 2/2, 28 (1850a), S. 119 – 157. Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft: Bundesgesetz über die Ausnahmen und Ausschliessungen von der Wehrpflicht. (Vom 19. Juli 1850.). In: Schweizerisches Bundesblatt, 2/2, 36 (1850b), S. 345 – 350. Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft: Militärorganisa- tion der schweizerischen Eidgenossenschaft. (Vom 13. Wintermonat 1874.). In: Schweizerisches Bundesblatt, 26/3, 50 (1874), S. 421 – 509. Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft: Militärorganisa- tion der schweizerischen Eidgenossenschaft. (Vom 12. April 1907.). In: Schweizerisches Bundesblatt, 59/2, 17 (1907), S. 1013 – 1075.

88 Schweizerisches Bundesarchiv BAR, E5570A, 755.1, 1891 – 1945 – Becker, Jakob.

160 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Fisch, Karl: Sociale Frage und Schulfrage. In: Helvetia N. F., 1 (1882), S. 367 – 372. Fisch, Karl: Avancement und Stellvertretungspflicht militärpflichtiger Lehrer. In: Schweizerische Lehrerzeitung, 36, 41 (1891), S. 341f., und 36, 41 (1891), S. 349 – 351. Fisch, Karl: Ohne Drill keine Erziehung. In: Schweizerische Monatsschrift für Offiziere aller Waffen, 13, 1 (1901), S. 1 – 20. Gertsch, Fritz: Ohne Drill keine Erziehung. Bern: Stalder & Sieber 1900. Gingins, Aymon de: Ma révocation. Lausanne: A. Immer 1876. O.A.: Militär und Schule. In: Schweizerische Lehrerzeitung, 12, 10 (1867), S. 75 – 78. O.A.: Einführung des metrischen Systems in der schweizerischen Artillerie. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 16, 20 (1870), S. 159. O.A.: Resultate der Rekrutenprüfungen pro 1875. In: Schweizerische Lehrerzei- tung, 21, 14 (1876), S. 116. O.A.: Vom schweizerischen Lehrertag. In: Aargauer Schulblatt, 1, 19 – 21 (1882a), o. S. O.A.: Aus amtlichen Mitteilungen. In: Schweizerische Lehrerzeitung, 27, 21 (1882b), S. 162 – 169. O.A.: Zur Geschichte des Artikels 27 der Bundesverfassung. In: Pionier. Organ der schweizerischen permanenten Schulausstellung in Bern, 13, 14 (1892a), S. 55 – 56. O.A.: Militärdienst der Lehrer. In: Aargauer Schul-Blatt, 11, 13 (1892b), S. 100f. O.A.: Totentafel. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 70, 25 (1924), S. 412. Schweizerischer Bundesrat: Botschaft des Bundesrathes an die Bundesver- sammlung über den Entwurf einer Militärorganisation. (Vom 13. Juni 1874.). In: Schweizerisches Bundesblatt, 16/2, 27 (1874), S. 1 – 234. Schweizerischer Bundesrat: Regulativ für die Rekrutenprüfungen und die Nachschulen. (Vom 13. April 1875). In: Schweizerisches Bundesblatt, 27/2, 16 (1875a), S. 101 – 103. Schweizerischer Bundesrat: Bundesrathsbeschluss betreffend theilweise Abän- derung des Regulativs für die Rekrutenprüfungen und die Nachschulen. (Vom 28. September 1875.). In: Schweizerisches Bundesblatt, 27/4, 43 (1875b), S. 401 – 403. Schweizerischer Bundesrat: Bericht des Bundesrates an die hohe Bundesver- sammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1875. In: Schweizerisches Bundesblatt, 28/2, 22 (1876), S. 411 – 484.

161 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Schweizerischer Bundesrat: Regulativ für Rekrutenprüfungen und Nachschu- len. (Vom 15. Juni 1879.). In: Gesetze, Dekrete und Verordnungen des Kan- tons Bern, 18 (1879), S. 190 – 194. Statistisches Bureau des eidgenössischen Departement des Innern (Hrsg.): Re- kruten-Prüfung im Jahr 1875. Bern/Zürich: Orell Füssli 1876. Th. v. G.: Totentafel. In: Schweizerische Lehrerzeitung, 69, 48 (1924), S. 433f. Vorstand des Schulvereins Weinfelden: Avencement und Stellvertretungs- pflicht militärpflichtiger Lehrer. In: Schweizerische Lehrerzeitung, 36, 45 (1891), S. 384f.

Literatur Boser, Lukas: Liebe zu Zahlen und Poeten. Justus Stöcklin. Der Vater des roten Rechnungsbüchleins. In: Kommission für das Baselbieter Heimatbuch (Hrsg.): Mir wei hirne. Bildung und Wissen im Baselbiet. Liestal: Verlag des Kantons Basel-Landschaft 2011, S. 87 – 94. Boser, Lukas: Taking the Right Measures – The French Political and Cultural Revolution and the Introduction of New Systems of Measurement in Swiss Schools during the 19th Century. In: Tröhler, Daniel/Lenz, Thomas (Hrsg.): Trajectories in the Development of Modern School Systems: Between the National and the Global. New York: Routledge 2015, S. 73 – 84. Boser, Lukas: Messen ist Wissen. Die Verwendung von Massen und Gewichten im Primarunterricht im 19. Jahrhundert in der Schweiz. In: Götz, Margarete/ Vogt, Michaela (Hrsg.): Schulwissen für und über Kinder. Beiträge zur histori- schen Primarschulforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016, S. 143 – 161. Bovet, Pierre: Les examens de recrues dans l’armée suisse, 1854 – 1913. Enquête internationale sur les examens. Neuchâtel/Paris: Delachaux & Niestlé S. A. [1935]. Carson, John: The Measure of Merit. Talents, Intelligence, and Inequality in the French and American Republics, 1750 – 1940. Princeton: Princeton Uni- versity Press 2007. Criblez, Lucien/Huber, Christina: Der Bildungsartikel der Bundesverfassung und die Diskussion uber den eidgenössischen «Schulvogt». In: Criblez, Lu- cien (Hrsg.): Bildungsraum Schweiz. Historische Entwicklung und aktuelle Herausforderung. Bern: Haupt 2008, S. 87 – 129. Crotti, Claudia: Pädagogische Rekrutenprüfungen. Bildungspolitische Steue- rungsversuche zwischen 1875 und 1931. In: Criblez, Lucien (Hrsg.): Bil- dungsraum Schweiz. Historische Entwicklungen und aktuelle Herausforde- rungen. Bern: Haupt 2008, S. 131 – 154.

162 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Crotti, Claudia/Kellerhals, Katharina: «Mögen sich die Rekrutenprüfungen als kräftiger Hebel für Fortschritt im Schulwesen erweisen!» PISA im 19. Jahrhundert. Die schweizerischen Rekrutenprüfungen. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 29, 1 (2007), S. 47 – 64. Frevert, Ute: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland. München: C.H. Beck 2001. Gould, Stephen Jay: Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1988. Grone, Carloyn: Schulen der Nation? Nationale Bildung und Erziehung an hö- heren Schulen des deutschen Kaiserreichs von 1871 bis 1914. Bielefeld: Univ. Diss. 2008. Jaun, Rudolf: Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im mili- tärischen Wandel des Fin de siècle. Zürich: Chronos 1999. Keller, Verena: Fisch, Karl. In: Historische Gesellschaft des Kantons Aargau (Hrsg.): Biographisches Lexikon des Aargaus, 1803 – 1957. Aarau: Sauerlän- der 1958, S. 200f. Keller-Zschokke, Johann Valentin: Peter Gunzinger. Seminardirektor. Olten: Dietschi & Cie. 1925. Lustenberger, Werner: Pädagogische Rekrutenprüfungen. Ein Beitrag zur Schweizer Schulgeschichte. Chur/Zürich: Rüegger 1996. Lustenberger, Werner: Oberst Abraham Stocker. Lebensbild eines Eidgenos- sen im jungen Bundesstaat. Bern: Bibliothek am Guisanplatz 2015. Monbaron, Patrick-Ronald: Aymon de Gingins – La Sarraz (1823 – 1893). Le Militaire, le Colonisateur, et le Politique. In: Château de La Sarraz: [bulletin d’information de la Société des amis du Château de La Sarraz, Musée ro- mand], 1987, S. 9 – 33. Rieder, David: Fritz Gertsch. Enfant terrible des schweizerischen Offiziers- korps. Zürich: Orell Füssli 2009. Zimmer, Oliver: A Contested Nation. History, Memory and Nationalism in Switzerland, 1761 – 1891. Cambridge: Cambridge University Press 2003. Zschokke, Ernst: Geschichte des Kadettenkorps der Aargauischen Kantons- schule. Aarau: H. R. Sauerländer & Co. 1909.

Dr. Lukas Boser, Université de Lausanne, Section d’Histoire/Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Institut Primarstufe, [email protected]

163 8 «Frauen und Mütter sind gleichsam­ die zweite Armee ­unseres8 Landes»

Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Claudia Crotti

8. «Frauen und Mütter sind gleichsam die zweite Armee unseres Landes» Hauswirtschaft im Dienst der Sicherheitspolitik der Schweiz (1895 – 1945)

1. Einleitung Im Brennpunkt der Tagung Pulverdampf und Kreidestaub steht die Frage nach der Geschichte des Wissenstransfers zwischen den zentralen sozialen Systemen Mi- litär und Schule in der Schweiz. Ziel der Tagung ist es, verschiedene Facetten eben dieser Transfergeschichte(n) zu untersuchen. Damit rückt auf den ersten Blick die Bildung des männlichen Geschlechts ins Zentrum der Aufmerksam- keit, da das Militär als «Born der Männlichkeit» gelten muss.1 Dass es sich beim Wissenstransfer zwischen Militär und Schule um eine komplexe, vielgestaltige und wechselseitige Beziehung handelt, die sich zweitens auch auf die Bildung des weiblichen Geschlechts auswirkte, soll nachfolgend untersucht werden. Da- bei gehe ich von der Annahme aus, dass der Begriff des Wissens auch die empi- rische Beschreibung von meinungsbildenden Praktiken umfasst und die Frage nach dem Wissenstransfer solche Prozesse ebenfalls in den Blick nimmt. In ei- nem so verstandenen Wissenstransferprozess spielt der historische Kontext, spie- len Konstellationen und Allianzbildungen eine zentrale Rolle. Am Beispiel der Ernährung soll aufgezeigt werden, wie die Erfahrungen der Kriegs- und Zwi- schenkriegsjahre in der Schweiz dem hauswirtschaftlichen Unterricht im öffent- lichen Bildungssystem zum Durchbruch verhelfen. Dem wehrhaften Soldaten wird die tüchtige Hausfrau zur Seite gestellt. In dieser Konstruktion bilden «Frau-

1 Jaun 1995, S. 160.

167 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

en und Mütter» die «zweite Armee unseres Landes».2 Militärische Interessen und Argumentationen – so die These – verdichten Diskurse und Praktiken der ge- schlechtsspezifischen Zuordnung von Aufgaben und Verantwortungsbereichen, zementieren eine Geschlechterordnung, die über die Kriegsjahre hinaus ihre Wirksamkeit entfaltet und über das öffentliche Bildungssystem auf Dauer gestellt wird. Der Beitrag zu den Frauen und Müttern als zweite Armee des Landes thema- tisiert vor diesem Hintergrund, wie Frauen durch ihr Wissen um hauswirtschaft- liche Fragen in das schweizerische Verteidigungssystem eingebunden werden und wie sich diese Einbindung auf das Bildungssystem auswirkte. Der hauswirt- schaftliche Unterricht wird angesichts der kriegsbedingten Versorgungs- und Ernährungsengpässe im Ersten und Zweiten Weltkrieg zu einem zentralen Faktor der inneren Sicherheitspolitik.3 In dieser nationalpolitischen Bedeutung erobert sich das Fach einen festen Platz im Curriculum des öffentlichen Bildungs- systems und definiert zugleich den weiblichen Handlungsspielraum. Dieser Prozess soll nachfolgend rekonstruiert und analysiert werden. Dabei wird in ei- nem ersten Schritt die «gesellschaftliche Produktion und Zirkulation» von hauswirtschaftlichem Wissen gegen Ende des 19. Jahrhunderts thematisiert:4 In welchen Kreisen wird über hauswirtschaftliche Bildung diskutiert? Welches In- teresse wird mit der hauswirtschaftlichen Bildung verbunden? Wer sind die zentralen Akteure? In einem zweiten Schritt wird aufgezeigt, wie die hauswirt- schaftliche Bildung während des Ersten Weltkrieges als wichtiger Teil der inneren Sicherheitspolitik wahrgenommen wird. Drittens soll betrachtet werden, in welchen konkreten Projekten sich die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges in Fragen der Versorgung der Bevölkerung am Vorabend und während des Zweiten Weltkrieges niederschlagen. Auch hier stellt sich die Frage nach den zentralen Akteuren, Argumentationen sowie nach den Effekten verdichteter Diskurse und Praktiken. Der Beitrag schliesst mit einigen Überlegungen zum Verhältnis von Militär, Hauswirtschaft und Schule.

2 Schmid-Itten/Meili-Lüthi/Wyler 1934. 3 Zu den zentralen Aufgaben des Militärs gehört neben der Verteidigung des Landes (Sicherheit gegen aus- sen) die Unterstützung der zivilen Behörden. Im Zentrum steht dabei die «Bewältigung von Notlagen und der Schutz der inneren Sicherheit» (http://www.vtg.admin.ch/internet/vtg/de/home/themen/auftraege. html, abgerufen am 6.7.2016). 4 Sarasin 2011, S. 164.

168 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

2. Ungebildete Frauen – wehrunfähige Bürger Der hauswirtschaftliche Unterricht wurde erstmals ausführlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Abstinenzbewegung thematisiert.5 Diese bildete neben der Frauen- und Arbeiterbewegung zahlenmässig die dritt- grösste sozialreformerische Bewegung in der Schweiz.6 In der Fachliteratur wird der übermässige Alkoholkonsum im 19. Jahrhundert als Elendsalkoholismus be- zeichnet, den es zu bekämpfen galt.7 In diesem Kampf brachten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vermehrt Wissenschaftler und Ärzte ein. Gustav von Bunge (1844 – 1920), Physiologe und Professor an der Universität Basel, hielt 1886 seine Antrittsvorlesung zur Alkoholfrage.8 Detailliert schilderte er die phy- siologischen Auswirkungen übermässigen Alkoholkonsums: körperlicher und geistiger Verfall, geistig-vererbte Inferiorität bei Kindern von Gewohnheitstrin- kern, Zunahme der Verbrechensrate, der Ehescheidungen und Selbstmorde. In der Folge seien zahlreiche wirtschaftliche und soziale negative Effekte zu ver- zeichnen: steigende Krankheitskosten, ansteigende Kriminalitätsrate, erhöhte Mortalität und reduzierte Arbeitsleistungen.9 In Gefahr schien zunächst der ge- sunde und leistungsfähige Bürger, doch schon bald richtete sich der Blick auf den wehrfähigen Bürger, denn mit der Revision der Bundesverfassung 1874 wurde das Wehrwesen dem Bund übertragen und damit der einzelne Bürger dem Bund gegenüber wehrpflichtig. Hierüber berichtete 1880 der Aushebungsoffizier und Militärarzt Josef Hürlimann (1851 – 1911) an der Jahresversammlung der Schwei- zerischen Gemeinnützigen Gesellschaft10. In seinem Referat über die Ergebnis- se der sanitarischen Rekruten-Musterungen der Jahre 1875 – 1879 führte Hürlimann aus, dass die Prozentzahl der Diensttauglichen in der Schweiz stark abgenommen habe. Dies sei besorgniserregend, da die Schlagfähigkeit der Ar- mee und ihrer seit den 1870er-Jahren entwickelten modernen Kriegstaktik von der «Gesundheit und Leistungsfähigkeit» der Einzelnen abhänge.11 Während

5 Erste Diskussionen zur Frage der Unterweisung der Mädchen in den «Gegenständen des Hauswesens» wurden bereits in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts in der Schweizerischen Gemeinnützigen Ge- sellschaft geführt (Verhandlungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft 1820; Mesmer 1988). 6 Zürcher Meuwly 2010, S. 3. 7 Zürcher 1996. 8 Bunge 1887. 9 Bünzli 1914, S. 88. Der Zürcher Bezirksanwalt und Sozialistenführer Otto Lang hat in einer Untersuchung über den Zusammenhang von Alkoholkonsum und Verbrechen festgestellt: «Unter dem Einfluss des Alko- hols sind begangen worden: Mord 46%, Totschlag 63%, Totschlagsversuch 51%, Raub 63%, Diebstahl 52%, Körperverletzung 74,5%, Brandstiftung 47,6%, Meineid 25,6%, Sittlichkeitsvergehen 60%» (Lütscher 1904, S. 87). 10 Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft verstand sich als Vertreterin öffentlicher Interessen, als ein sozialpolitisches Forum, das im 19. Jahrhundert in Zusammenhang mit der strukturell bedingten Mas- senarmut mehrfach die Frage der Bildung der Mädchen diskutierte. 11 Hürlimann 1880, S. 4.

169 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

1867 noch 62% der Rekruten diensttauglich waren, habe diese Zahl seither kon- tinuierlich abgenommen. 1879 konnten nur noch 42% der Stellungspflichtigen zum Wehrdienst zugelassen werden.12 Die Ursache für diesen Rückgang ortete Hürlimann in einer «einseitige[n] und mangelhafte[n] Ernährung aller Alters- klassen beider Geschlechter; in der Verdrängung guter Nahrungsmittel durch einseitig nährende und reizende Speisen und Getränke».13 Was not tue, sei eine «allgemeine unentgeltliche Belehrung unseres Volkes über die wichtigsten Lebensbedingungen».14 Im Anschluss an Hürlimanns Referat beschlossen die Mitglieder der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, sich der Ernäh- rungsfrage zuzuwenden, und richteten hierfür zwei Kommissionen ein: eine Kommission zur Bekämpfung der Trunksucht15 und eine «Kochschulkommissi- on, die sich der Erziehung der Hausfrauen zu gesundheitsbewussten Köchin- nen» annehmen sollte.16 In den ungebildeten Frauen lokalisierten die gemeinnützigen Männer einer Ursache der Verarmung und Verlotterung der Fa- milien, des Verlustes von Gesundheit und damit der Wehrfähigkeit.17 So sei es den unwissenden Frauen zuzuschreiben, wenn es den Mann ins Wirtshaus trei- be.18 «Ein schlecht gemachter Kaffee, eine ungenügend gekochte oder falsch zu- bereitete Speise, ein ungemachtes Bett, ein Loch im Strumpf oder im Kittel, das sind Faktoren, die ein Land mehr herunterdrücken können, als Vieles, was eine höhere Theorie als Ursachen der Verarmung, des Familienzerwürfnisses und des Elendes glaubt angeben zu müssen.»19 Was not tue, seien junge Mädchen, die «zu sparsamen, geschickten, verständigen Hausfrauen» erzogen werden; ein Gebot, dem sich der Bundesrat anschloss.20 Damit verdichtete sich das Modell ei- ner klar definierten Rollenteilung zwischen den Geschlechtern, die angesichts wirtschaftlicher Veränderungen und der damit einhergehenden sozialen Miss- stände im 19. Jahrhundert in Unordnung zu geraten drohte. Frauen sollten ge- zielt befähigt werden, ihre Leistungen in der Haus- und Familienwirtschaft zu

12 Ebd., S. 12; vgl. hierzu auch die Übersicht in der Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung 1884, S. 388f. 13 Hürlimann 1880, S. 59. 14 Ebd. 15 Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft gelangte im Mai 1882 an den Bundesrat und verlangte die Einschränkung der Anzahl der Wirtschaften (vgl. Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung 1884, S. 372). 16 Hunziker, zit. nach Mesmer 1989, S. 339; Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung 1884, S. 372. 17 Wyser 1893. 18 Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung 1884, S. 462. 19 Wyser 1893, S. 6. 20 Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung 1884, S. 463.

170 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

erfüllen.21 Die Konzeption des wehrfähigen Bürgers setzte die Konzeption der tüchtigen Hausfrau voraus. Die Kochschulkommission der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft treibt das Projekt der Aufklärung der Frauen in Ernährungsfragen voran und lässt Pauline Wyder-Ineichen zur ersten Haushaltungslehrerin der Schweiz ausbil- den.22 In mehrwöchigen Kursen unterrichtete sie in den folgenden Jahren an verschiedenen Orten der Schweiz Töchter vom Land.23 Im Zentrum dieser Auf- klärungsarbeit stand die Frage, wie «man eine Familie mit wenig Geld gut und rationell ernähren» könne.24 Mit dem Aufkommen der ersten Dachorganisationen von bis anhin lokal organisierten Frauenvereinen gegen Ende des 19. Jahrhun- derts bot sich der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft in Bezug auf die Bildung des weiblichen Geschlechts ein direkter Ansprechpartner. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich in der Schweiz weit über hundert lokale Frauenvereine nachweisen, die vorwiegend gemeinnützige Zwecke verfolgten und von Pfarrern, Sozialpolitikern oder Pädagogen geleitet wurden. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen sich die Frauen in überregio- nale Vereine zu organisieren, die jedoch unterschiedliche ideologische, konfes- sionelle und politische Ziele verfolgten. So lassen sich in der Frage des Geschlech- terverhältnisses zwei Konzepte unterscheiden: ein egalitäres und ein dualistisches Rollenkonzept. Letztgenanntes ging von einer männlichen und weiblichen Natur aus und leitete daraus spezifische Aufgaben ab, während das egalitäre Modell das Prinzip der Gleichheit aller Menschen und damit die Gleichstellung der Ge- schlechter in allen gesellschaftlichen Belangen verfolgte. Dem egalitären Konzept war zunächst wenig Erfolg beschieden.25

3. Hauswirtschaft als Professionalisierungsfeld Der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein (SGF) gehörte neben dem Bund Schweizerischer Frauenvereine zu den zahlenmässig stärksten Frauenor- ganisationen der Schweiz und fasste verschiedene lokale Frauenvereine in einem Dachverband zusammen.26 Seine Gründung erfolgte am 18. März 1888 in Aarau.

21 Tanner 1999, S. 95. 22 Fleckenstein 1948, S. 47. Pauline Wyder-Ineichen eröffnete 1885 ihre eigene Schule und bildete 1887 erst- mals Kochschullehrerinnen aus, erneut mit der finanziellen Unterstützung der Schweizerischen Gemein- nützigen Gesellschaft. 23 Pädagogische Chronik 1884. 24 Fünfter Bericht der Spezialkommission der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft für Förderung von Koch- und Haushaltungskursen, 29. Aug. 1885, zit. nach Tanner 1999, S. 103. 25 Eidgenössische Kommission für Frauenfragen 1998, Teil 1, S. 2. 26 Escher 1985.

171 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Zu den Initiantinnen gehörten Gertrud Villiger,27 Emma Coradi-Stahl,28 Maria Rosina Gschwind29 und Emma Boos-Jegher30. Das Programm des neuen Vereins lautete: «Schweizerfrauen, Eure Stärke liegt auf dem gemeinnützigen Gebiet! Be- ginnt Eure Arbeit damit, dass Ihr das Übel an der Wurzel fasst: Eine bessere Aus- bildung des ganzen weiblichen Geschlechtes tut vor allem Not – tragt Bausteine herbei zum Aufbau eines besseren und schöneren Ganzen. Euer Ideal sei Sitt- lichkeit, Häuslichkeit – die glückliche Familie!»31 Die Ausbildung der Frau wur- de auf die glückliche Familie ausgerichtet und setzte hauswirtschaftliche Kenntnisse voraus. Dieses Geschlechtermodell vereinte die gemeinnützigen Frau- en mit den gemeinnützigen Männern,32 welche die Lösung der sozialen Frage und die Stärkung der Wehrfähigkeit der Männer in der Wiederherstellung einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sahen, die durch wirtschaftliche Verän- derungen aus den Fugen zu geraten drohte. Diesen weiblichen Wirkungskreis – Hauswirtschaft, Gartenbau, Krankenpflege – galt es zu professionalisieren. Im Bereich der Hauswirtschaft sollten anstelle der mehrwöchigen Koch- und Haus- haltungskurse eigentliche Koch- und Haushaltungsschulen eingerichtet werden. Bereits im Mai 1889 eröffnete der SGF seine erste Haushaltungs- und Dienstbo- tenschule in Buchs bei Aarau und beantragte wenige Jahre später beim Bund Sub- ventionen mit der Begründung: «Wir machen Sie, hochgeehrter Herr Bundesrat, an dieser Stelle aufmerksam auf den Unterschied der Unterstützung, die Sie für Erziehung und Ausbildung der männlichen Jugend gewähren: wir machen Sie auch aufmerksam auf das sich allerorts kundgebende Streben, den Frauen zu ih- ren Rechten zu verhelfen. Wir bitten nicht um Machtstellung im Staate, wir bit-

27 Gertrud Villiger-Keller (1843 – 1908) war die Tochter von Augustin Keller (1805 – 1883), Regierungsrat, Stän- derat, Nationalrat und Direktor des Lehrerseminars des Kantons Aargau. Sie begann ihr öffentliches Wirk- en mit der Gründung des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins, dem sie als Präsidentin von 1889 – 1908 vorstand. Sie half beim Aufbau der Pflegerinnenschule in Zürich und gründete u. a. die Gar- tenbauschule in Niederlenz und die acht Haushaltungsschulen des Vereins (Huggenberg-Kaufmann 1939). 28 Emma Coradi-Stahl (1846 – 1912) stand dem Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein als Präsiden- tin von 1908 bis 1912 vor. In ihrer Funktion als eidgenössische Expertin für das hauswirtschaftliche und gewerbliche Bildungswesen reiste sie viel, referierte und überwachte die subventionierten Mädchenfortbil- dungsschulen (ebd.). 29 Maria Rosina Gschwind-Hofer (1841 – 1904) besuchte das Lehrerinnenseminar in Bern. In zweiter Ehe war sie mit Paulin Gschwind (Pfarrer und Gründer der christkatholischen Kirche Schweiz) verheiratet. Sie be- treute die Arbeiterfamilien des Pfarramtes. 1899 eröffnete sie in Kaiseraugst eine eigene Haushaltungs­ schule (1889 – 1902). Als Prüfungsexpertin und als Mitglied verschiedener Fachkommissionen des Haushaltungswesens war sie langjährig tätig. Dem Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein stand sie als erste Präsidentin von 1888 – 1889 vor (ebd.). 30 Emma Boos-Jegher (1857 – 1932) zählte zu den Mitbegründerinnen des ersten Schweizerischen Frauenver- bandes (1883). Ziel des Vereins war die Förderung der Fraueninteressen im Allgemeinen und die Mil­ derung gesellschaftlicher Übelstände in der Frauenwelt. Darüber hinaus war Boos-Jegher Präsidentin der Union für Frauenbestrebungen Zürich. Sie gehörte zu den Initiantinnen des Schweizerischen Gemein- nützigen Frauenvereins, in dessen Vorstand sie einige Jahre wirkte (Ludi 2004). 31 Merz 1928, S. 175. 32 Einige Frauen waren auch Mitglied der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, so z. B. Emma Boos-Jegher oder Emma Coradi-Stahl.

172 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

ten um die Gleichberechtigung der weiblichen Jugend mit der männlichen Jugend insoweit, dass derselben die gleiche väterliche Bundesfürsorge zu teil werde und ebenfalls jährlich wiederkehrende bescheidene, aber bestimmte Unterstützun- gen zu ihrer Ausbildung gewährt werden möchten.»33 1895 wurde durch den Bundesbeschluss betreffend die hauswirtschaftliche und berufliche Bildung des weiblichen Geschlechts die finanzielle Unterstützung entsprechender Institutionen sichergestellt.34 Bemerkenswert ist die Betonung, dass es den Frauen nicht um eine Machtstellung im Staate gehe, sondern um die staatliche Anerkennung ihrer Bildungsaspirationen. Die Frauen definierten ihr eigenes Professionalisierungsfeld und klagten Gleichheit im Anspruch auf ein entsprechendes Bildungsangebot ein. Bereits ein Jahr später wurde Emma Cora- di-Stahl durch den Bundesrat zur ersten eidgenössischen Expertin für das haus- wirtschaftliche und gewerbliche Bildungswesen ernannt, und in dieser Funktion besuchte sie 1900 die Weltausstellung in Paris, um sich über die «berufliche und hauswirtschaftliche Ausbildung der weiblichen Jugend in verschiedenen Län- dern» zu informieren.35 Die Ausstellung zeigte, dass in Frankreich und Belgien der hauswirtschaftliche Unterricht in der Mittelschule obligatorisch und unent- geltlich, in Belgien und England gar in die Primarschule integriert war. «In Deutschland, England und auch in Frankreich ist man sich der Wichtigkeit des hauswirtschaftlichen Unterrichtes wohl bewusst.»36 Davon war die Schweiz um 1900 noch weit entfernt. Dabei – so die gemeinnützigen Frauen und Männer – ging es bei der hauswirtschaftlichen Bildung nicht nur um die Zubereitung von Mahlzeiten: «Fleiss und Sparsamkeit, Pflichtgefühl und Charakterfestigkeit, Friedfertigkeit und Sanftmut, [ … ], das Gefühl der Verantwortlichkeit für das körperliche, seelische und geistige Wohlbefinden derjenigen, welche von der Frau im Hause abhängig sind, [ … ] werde den zukünftigen Frauen unseres Landes als spezielle Ziele ihres Strebens hingestellt in einem Unterricht, der alle erworbenen praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten durchdringt und erhebt.»37 Dieses Bil- dungsziel umfasste mehr als hauswirtschaftliche Kenntnisse. Was sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzte, war das Modell einer doppelten Orientie- rung in der Mädchenbildung: Bildung zu tüchtigen Hausfrauen und Müttern als primäres Bildungsziel und als sekundäres die berufliche Ausbildung. In den nachfolgenden Kriegs- und Zwischenkriegsjahren verdichteten sich die Diskus-

33 Coradi-Stahl 1909, S. 175; Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung 1894, S. 238. 34 Bundesbeschluss 1895. 35 Coradi-Stahl 1901. 36 Zehnder 1906, S. 11. 37 Ebd., S. 10.

173 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

sionen und Praktiken der geschlechtsspezifischen Zuordnung von Aufgaben- und Verantwortungsbereichen zwischen den Geschlechtern durch die Umstände der Zeit.

4. Grenzdienst der Schweizerin 1914 – 1918 Das 1934 publizierte Buch mit dem Titel Grenzdienst der Schweizerin 1914 – 1918 umfasst über 300 Seiten und führt Leserinnen und Lesern die Leistungen der Frauen während des Ersten Weltkrieges vor Augen. Es gab nicht nur die Front der kämpfenden Männer, sondern auch die Front der kämpfenden Frauen, zu Hause, auf dem Feld, in der Fabrik, im Büro, im Alltag, in der Soldatenstube, in der Soldatenwäscherei. «Die Frauen und Mütter sind gleichsam die zweite Ar- mee unseres Landes, sie sind jener Geist, jene stille Macht, jene hingebende Lie- be, die unsere Väter und Söhne und Brüder an die Grenze begleitet haben.»38 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges traf die Schweiz unvorbereitet, eine kriegswirtschaftliche Organisation fehlte gänzlich, und das internationale Han- delssystem wurde durch den Krieg empfindlich gestört. Klara Honegger,39 Präsi- dentin des Bundes Schweizerischer Frauenvereine, rief in dieser Situation die Schweizerfrauen zur Tat auf: «Wir stehen vor der Tatsache, dass unsere ganze Armee mobilisiert wurde. Damit ist der Augenblick für die Frauen gekommen, ihre Besonnenheit und Tüchtigkeit in ernster Zeit zu beweisen und ihre Kräfte für das Vaterland einzusetzen.»40 Mit der Mobilisierung der Männer nahm die wirtschaftliche Bedeutung der Frauen in der Schweiz zu. Da der Bund keine Vorkehrungen getroffen hatte, «um die sozialen Folgen des Krieges aufzufangen», übernahmen die Frauenorganisationen diese Aufgabe, allen voran der Schweize- rische Gemeinnützige Frauenverein.41 Dieser konzentrierte seine Bemühungen auf drei Wirkungskreise: 1. Fürsorge für die einrückenden Männer; 2. Bekämp- fung der wirtschaftlichen Notsituation aus Mobilisierung und Krieg; 3. Mitwir- kung bei «internationalen Liebeswerken».42 Vor allem die Ernährungslage ver- schlechterte sich zusehends: Die Preise für Lebensmittel stiegen zwischen 1914 bis 1919 um mehr als das Doppelte an. Unterernährung und Hunger waren in weiten Teilen der Bevölkerung die Folge. Erst 1917 wurden die Lebensmittel ra-

38 Schmid-Itten/Meili-Lüthi/Wyler 1934, S. 9. 39 Klara Honegger (1860 – 1940), Tochter des Zürcher Erziehungsrates Kaspar Honegger, setzte sich früh für die politische Gleichberechtigung der Frauen ein. Sie zählt zu den Mitbegründerinnen der Union für Frau- enbestrebungen Zürich sowie des Schweizerischen Verbandes für Frauenstimmrecht (1909). Seit 1905 war sie Mitglied des Bundes Schweizerischer Frauenvereine, den sie von 1911 bis 1916 präsidierte (Ludi 2008). 40 Protokoll der Generalversammlung des Bundes Schweizer Frauenvereine 1915, zit. nach Stämpfli 2002, S. 60. 41 Joris/Witzig 1991, S. 459. 42 Merz 1915, S. 55.

174 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

tioniert: im März zunächst Reis, Zucker, später Mais, Teigwaren, Hafer und Gerste. Im Oktober 1917 folgte die Rationierung für Brot und Mehl, später jene für Butter, Fett, Öl, Käse und Milch. Die Frauenorganisationen konzentrierten daher ihre Energien u. a. auf die Schulung der «reifen» Frauen in Fragen der Lebensmittelverwertung und setzten sich für eine bessere Verteilung von Lebens- mitteln ein. Mit «ihren Anstrengungen, den Umgang mit Nahrungsmittel ratio- neller zu gestalten» und den Selbstversorgungsgrad zu heben, waren die Frau- enorganisationen wesentlich früher zur Stelle als die Bundesbehörden.43 Bereits im Juni 1917 wurden an alle Haushalte Flugblätter verteilt mit Anleitungen zu Aufbewahrungs- und Konservierungsmethoden. Gemeinsam mit dem Schwei- zerischen Gemeinnützigen Frauenverein publizierte das Volkswirtschaftsdepar- tement eine Broschüre zur «Hebung der pflanzlichen und tierischen Kleinpro- duktion und deren Verwertung im Dienste der Lebensmittelversorgung des Landes», die der «Belehrung des Schweizervolkes, besonders der Frauen» dienen sollte.44 Die gemeinnützigen und katholischen Frauenvereine klärten in der ge- samten Schweiz intensiv über die Lebensmittelversorgung und den Umgang mit Lebensmitteln auf. Sie organisierten Kurse und Vorträge zu einfachen Kochver- fahren, zu Gartenbau, Obst- und Gemüseverwertung, Flugblätter wurden gedruckt und mancherorts hauswirtschaftliche Beratungsstellen eingerichtet, so zum Beispiel in St. Gallen, Zürich, Basel und Bern.45 In speziellen Rubriken zu haus- wirtschaftlichen Fragen wurden die Frauen über die Tagespresse aufgeklärt. Gemeinsam mit dem Volkswirtschaftsdepartement organisierte der Schweizeri- sche Gemeinnützige Frauenverein im März 1917 in Bern, Zürich und Lausanne Referentinnen-Instruktionskurse, um die Aufklärungsarbeit in der Schweiz zu intensivieren.46 Die Frauen sollten nicht nur aufgeklärt werden, es galt auch den sozialen Frieden im Land zu wahren, der angesichts der desolaten Versorgungs- situation gefährdet war. In Bern befürchteten die Politiker Krawalle durch Haus- frauen, welche die «schamlosen Wucherpraktiken der Bauern und Händler auf den Märkten» anprangerten.47 Trotz aller Bemühungen verschlechterte sich die Ernährungslage zusehends, und in Zürich gingen 1918 Hunderte von Hausfrauen auf die Strasse, um gegen Hunger und Teuerung zu protestieren.48 Sie klagten über Hungersnot und Un- terernährung, vor allem der Kinder, über Schikanen und Ungerechtigkeiten bei

43 Mesmer 2007, S. 32. 44 Volkswirtschaftsdepartement 1917. 45 Gosteli 2000, S. 142f. 46 Ebd. 47 Berner Tagwacht vom 28. Juni 1916, zit. nach Stämpfli 2002, S. 68. 48 Joris/Witzig 1991, S. 508.

175 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

der Verteilung von Lebensmitteln, sie beschwerten sich über unerschwingliche Preise, schlechte Löhne, «über Milchwucher und Hamsterei der bürgerlichen Kreise».49 Die Aktivitäten der verschiedenen Frauenvereine konzentrierten sich im Ersten Weltkrieg nicht nur auf die Bildung der Mädchen und Frauen, sie nahmen sich auch der Männer an der Front an. Bereits im August 1914 wurde in Bern die erste Kriegswäscherei gegründet, angeregt durch Emma Müller-Vogt50. «Die Organisation der Kriegswäschereien erfolgte offenbar gänzlich unabhängig vom Kriegskommissariat [ … ]. Von den dort leitenden Männern hatte niemand an dieses offensichtliche Bedürfnis der Truppen gedacht.»51 Auch übernahm der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein die Produktion von Hemden und Socken für die Wehrmänner.52 1914 gründete Else Spiller53 den Schweizer Ver- band Soldatenwohl, der die alkoholfreie Verpflegung und die materielle Besser- stellung der Soldaten als Ziel verfolgte. In kurzer Zeit und in Zusammenarbeit mit der Armeeleitung gelang es Else Spiller, die ersten Soldatenstuben einzurich- ten. Hilfreich waren in diesem Zusammenhang ihre guten Beziehungen zu Bundesrat Ludwig Forrer (1845 – 1921), ihrem ehemaligen Vormund. Bereits 1917 waren 178 Soldatenstuben in Betrieb, die ausschliesslich von Frauen geführt wurden und Wehrmännern eine alkoholfreie, preisgünstige und qualitativ hoch- wertige Verpflegung anboten. Es galt, den Alkoholmissbrauch zu bekämpfen, um die «Wehrkraft und den Wehrwillen der Soldaten zu stützen».54 Die Arbeit der Frauen in den Kriegsjahren bewegte sich im traditionell weiblichen Bereich der Hauswirtschaft. Durch die Bedrohung von aussen rückten die Frauen zusammen, bildeten die Armee im Hinterland und avancierten zu «Müttern der Nation».55 Aufgrund der Erfahrungen im Ersten Weltkrieg begannen die Kantone ver- stärkt, hauswirtschaftliche Fortbildungsschulen – zunächst auf freiwilliger Basis – einzurichten.56 Die Vollzugsverordnungen der Jahre 1920 und 1928 zum Bundesbeschluss über die hauswirtschaftliche und berufliche Bildung des weib-

49 Ebd., S. 507. 50 Emma Müller-Vogt war Gründerin des kantonal-bernischen Frauenvereins Berna und Gattin von Bundesrat Eduard Müller (Mesmer 2007, S. 37). 51 Ebd. 52 Bereits 1902 hatte der Schweizerische Gemeinnützige Frauenverein mit dem Roten Kreuz einen Vertrag über die Mitarbeit im rückwärtigen Dienst der Armee und bei der Flüchtlingsbetreuung abgeschlossen (Mesmer 1996, S. 340). 53 Else [Züblin-]Spiller (1881 – 1948) übernahm nach dem Krieg den Betrieb von Kantinen und Wohlfahrtsein- richtungen als Aufgabe des neu gegründeten Schweizer Verbandes Volksdienst (seit 1999 AG SV Group). Sie wirkte aktiv in der Frauenbewegung mit, so z. B. 1928 bei der ersten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa). Sie zählte 1938 zu den Initiantinnen des zivilen Frauenhilfsdienstes (Ludi 2014) 54 Stämpfli 2002, S. 73. 55 Neuhaus 1985, S. 37. 56 Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit 1944.

176 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

lichen Geschlechts trieb diese Entwicklung voran. Es zeigte sich bald, dass die Fortbildungsschulen auf der Basis der Freiwilligkeit die in sie gesetzten Hoffnun- gen zur Qualifizierung des weiblichen Geschlechts in Haushaltungsfragen nicht zu erfüllen vermochten, denn nicht erreicht wurden jene Mädchen, die nach der obligatorischen Schulzeit direkt ins Erwerbsleben übertraten. Die bereits 1897 formulierte Forderung des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins nach einer obligatorischen Fortbildung der Mädchen in hauswirtschaftlichen Fragen wurde am Zweiten Schweizerischen Kongress für die Interessen der Frau in Bern 1921 erneut aufgegriffen. Bezugnehmend auf die Natur der Geschlechter, die Volks- wirtschaft und den Staat, legitimierten die Frauen am Kongress ihre Forderung nach einer nachschulischen Ausbildung der Mädchen in den Bereichen Haus- wirtschaft, Säuglings- und Kinderpflege.57 Gottlieb Rothen (? – 1939), Vorsteher der städtischen Mädchensekundarschule in Bern, forderte gar die Einführung eines «weiblichen Dienstjahres». Die Bildung der Mädchen müsse einer doppel- ten Aufgabe gerecht werden: Berufsausbildung einerseits, andererseits beruhe die «Hauptaufgabe des weiblichen Geschlechts» in der Führung des Haushalts und in der Erziehung der Kinder.58 Wer, so folgerte Rothen, dem Glück der Fa- milie diene, fördere damit die Wohlfahrt der Nation. Analog der Militärausbildung des jungen Mannes sollten Mädchen während eines Jahres auf den Hausfrauen- beruf vorbereitet werden. Die Idee der «weiblichen Dienstpflicht» verfestigte sich in der von Nationalrat Traugott Waldvogel (1861 – 1930) eingereichten Motion (1920) zur Arbeitsdienstpflicht für die gesamte schweizerische Jugend.59 Aus erzieherischen, hygienischen, sozialen, volkswirtschaftlichen und nationalen Gründen – so Waldvogel – sei eine sechsmonatige Arbeitsdienstpflicht für die gesamte schweizerische Jugend einzuführen. Dabei sollen Mädchen auf dem Gebiet der Kranken- und Kinderpflege wirken, in verschiedenen Wohlfahrts­ einrichtungen eingesetzt werden und auch Gartenarbeiten verrichten. Waldvogel sah es als dringende Pflicht, «den Töchtern des Landes zum Bewusstsein zu bringen, dass sie als Bürgerinnen ihres Vaterlandes nationale und soziale Pflich- ten zu erfüllen haben, dass sich ihr Dasein nicht im Selbstzweck verlieren, sondern im Dienste der Allgemeinheit stehen soll».60 In Frauenkreisen wurde die Motion Waldvogel kontrovers diskutiert. Mehrheitlich lehnten die Frauen einen Arbeits- dienst ab. Sie forderten weiterhin die Einführung obligatorischer Mädchenfortbil- dungsschulen mit dem Ziel, die Mädchen «in die hauswirtschaftlichen Berufe zu

57 Evard 1921. 58 Rothen 1915, S. 29. 59 Waldvogel 1922. 60 Ebd., S. 9.

177 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

lenken, [ … ] der künftigen Hausfrau und Mutter eine Grundlage rationeller hauswirtschaftlicher Kenntnisse für das körperliche und seelische Wohl der Fa- milien und damit für die Zukunft unseres Volkes» zu vermitteln.61 Die wirtschaft- liche Situation in den Zwischenkriegsjahren unterstützte die Frauen in ihren Absichten. Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren in der Schweiz von unterschied- lichen Problemlagen geprägt, u. a. von wirtschaftlichen Krisen. Diese betrafen die Frauen und den hauswirtschaftlichen Unterricht in besonderer Weise. Während bis zum Ersten Weltkrieg die hauswirtschaftliche Bildung der Mäd- chen/Frauen vor allem aus einer Perspektive des defizitären Wissens und mit Blick auf seine sozial- und nationalpolitische Bedeutung erörtert wurde, verän- derte sich die Ausgangslage der Diskussion nach dem Ersten Weltkrieg. Die nach 1918 um sich greifende Arbeitslosigkeit verlangte vom Bund und den Kantonen ausserordentliche Massnahmen. Gemäss Erlass des Bundesrates vom 29. Oktober 1919 sollten Männer wie Frauen Arbeitslosenunterstützung erhal- ten. Drei Jahre später – auf Anfrage des eidgenössischen Arbeitsamtes – stimm- ten 21 Kantone einer Sistierung dieser Unterstützung an Frauen zu mit der Begründung, dass diese den Arbeitsmarkt von ausländischen Arbeitnehmerin- nen entlasten sollten.62 Arbeitslose Frauen wurden in der Folge zum Teil «zwangsweise» umgeschult. So organisierte der Kanton St. Gallen 1921 einen ersten hauswirtschaftlichen Umschulungskurs für arbeitslose Frauen. Indem man drohte, ihnen die Arbeitslosenunterstützung zu entziehen, wurden die Frauen zum Besuch dieser Umschulung angehalten.63 Die Diskussionen um die Einführung des obligatorischen hauswirtschaftlichen Unterrichts in der Schule, die obligatorische Fortbildungsschule und die Schaffung von Haus- dienstlehrjahren wurde vor diesem Hintergrund erneut aufgenommen. Kanto- ne wie Bern, Basel-Landschaft und Schaffhausen führten auf kantonaler Ebene 1925 das Obligatorium für den hauswirtschaftlichen Unterricht im nachschul- pflichtigen Alter ein, später folgten Zürich (1931) und Waadt (1931).64 Uri (1932) und Appenzell A. Rh. (1935) setzten dagegen die obligatorische Fortbildungs- schule auf Gemeindeebene um.65 Eine zusätzliche Legitimation erhielt das Projekt der «Rückführung» der Frauen in das Hauswesen durch den sogenannten Geburtenrückgang, der zum

61 22. Generalversammlung 1923/24, S. 4; P.M. 1923. 62 Strub 1924. 63 Bochsler/Gisiger 1989, S. 286. 64 Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit 1944, S. 9. 65 Ebd.

178 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

nationalen Problem erklärt wurde: «Während früher 4 oder mehr Kinder eine Selbstverständlichkeit waren, zählte eine Familie mit 2 Kindern 1930 bereits zur überwiegenden Mehrheit. 65,6% der Ehepaare hatten an der Volkszählung 1920 kein, ein oder zwei Kinder, während an der Volkszählung 1930 der Prozentanteil mit keinem, einem oder zwei Kinder bereits auf 72,8% anstieg.»66 Einen Grund hierfür sahen Politiker in der Emanzipation der Frau: «Die erwerbstätige und intellektualisierte Frau hatte weder Zeit noch Lust, zahlreiche Kinder zu gebären und aufzuziehen.»67 Vor allem gegen Ende der 1930er-Jahre wurden die Auswir- kungen des Geburtenrückgangs in den schwärzesten Farben dargestellt und sowohl der Fortbestand des Schweizervolkes als auch die Schwächung der Wehr- kraft in den Vordergrund gestellt: «Wäre die Fruchtbarkeit gleich wie um die Jahrhundertwende, so könnten wir bei der gegenwärtigen Tauglichkeitsziffer jährlich 30 000 Rekruten einkleiden; in Wirklichkeit sind es 20 000. Der Ausfall gibt für die zwölf Jahrgänge des Auszuges eine Armee von über hunderttausend Soldaten, die wir verloren haben.»68 Im Nationalrat wurde am 11. Dezember 1930 das Postulat des Walliser Nationalrates Joseph Escher (1885 – 1954) zum Gebur- tenrückgang als erheblich erklärt.69 Bundesrat Philipp Etter (1891 – 1977) schlug zum Schutz der Familien verschiedene Massnahmen vor, u. a. die «obligatorische Ausbildung der Töchter für den Hausdienst und für die Führung des Haushaltes».70 In den 1930er-Jahren zeigten sich viele Kantone bereit, das Obligatorium für hauswirtschaftliche Fortbildungsschulen auszusprechen, nicht zuletzt mit der Absicht, den Arbeitsmarkt von Frauen zu entlasten, das Dienstbotenproblem zu lösen und die Geburtenrate zu steigern. «In erster Linie diente das Obligatorium aber der ideologischen Einbindung aller Frauen in den nationalen Konsens durch die allgemeine Verbreitung des einheitlichen [ … ] Bild[es] der Schweizer Hausfrau.»71

5. Treu der Heimat – Dienstbüchlein für den Alltag der Schweizerin Der Erste Weltkrieg hatte gezeigt, dass der moderne Krieg nicht «einzig mit mi- litärischen Waffen, sondern ebensosehr mit wirtschaftlichen Kampfmitteln ge- führt wird».72 Aus dieser Erfahrung heraus traf die schweizerische Bundesbehörde am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nicht nur erste militäri-

66 Linz 1938, S. 11. 67 Bickel 1947, S. 238. 68 Brüschweiler 1938, S. 11. 69 Etter 1938. 70 Ebd., S. 168. 71 Joris 1990, S. 115. 72 Eidgenössische Zentralstelle für Kriegswirtschaft 1950, S. 5.

179 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

sche Vorkehrungen zur Verteidigung des Landes, ebenso wurden erste Anord- nungen zu wirtschaftlichen Aspekten erlassen. Bundesrat Herman Obrecht (1882 – 1940) betraute bereits am 1. April 1937 Paul Keller (1898 – 1973) mit der Organisation der Kriegswirtschaft. Es galt, die kriegswirtschaftlichen Vorberei- tungen zu koordinieren, die rechtlichen Grundlagen zu schaffen und lebenswich- tige Rohstoffe und Nahrungsmittel sicherzustellen. Dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement wurde die Führung dieser Kriegswirtschaft über- antwortet und hierfür eigens ein Kriegsernährungs-Amt eingerichtet. Dessen Aufgabe bestand in der «Sicherstellung der Landesversorgung mit lebenswichti- gen Gütern».73 Neben anderen Sektionen führte das Kriegsernährungs-Amt eine Sektion Hauswirtschaft, die von Dora Schmidt74 geleitet wurde.75 Bereits am 1. April 1938 verabschiedete die Bundesversammlung das Bundesgesetz über die Sicherstellung der Landesversorgung mit lebenswichtigen Gütern. Bei allen kriegswirtschaftlichen Massnahmen stand die «Sicherstellung der militärischen Bereitschaft und Verteidigungskraft» an erster Stelle, ihr folgten in zweiter Prio- rität die Mittel für die «Erhaltung des Lebens, der Gesundheit und der Leistungs- kraft der Zivilbevölkerung».76 Anders als noch während des Ersten Weltkrieges wurde das Thema der Kriegsversorgung vorgängig aufgegriffen, u. a. mit dem Ar- gument, dass ein «Wehrmann mit wesentlich andern Gefühlen unter die Waffen [tritt], wenn er weiss, dass für die zu Hause Gebliebenen keine unmittelbaren Brot- und Nahrungssorgen bestehen».77 Bei diesem Projekt wollten die Frauen – wie sie dies bereits im Ersten Weltkrieg getan hatten – helfend mitwirken: Rosa Neuenschwander,78 Mitglied des Bernischen Frauenbundes, wandte sich 1938 mit der Frage an das Eidgenössische Militärdepartement, «was von den Schwei- zer Frauen im Kriegsfalle erwartet würde».79 Die Antwort folgte ein halbes Jahr vor Kriegsausbruch am 5. April 1939. In seinem Aufruf an das Schweizervolk er-

73 Ebd., S. 158. 74 Dora [Grob-]Schmidt (1895 – 1985) studierte in Basel, Bern und Berlin Nationalökonomie, Philologie, Geschichte und promovierte 1926. Ein Jahr zuvor wurde sie als Adjunktin in das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) gewählt und war damit die erste Frau in leitender Position in der Bundesver- waltung. Sie war aktiv in der Frauenbewegung und präsidierte die Gruppe Industrie an der ersten Schweiz- erischen Ausstellung für Frauenarbeit 1928 (Ludi 2012). 75 Zum Kriegs-Ernährungs-Amt zählten die Sektionen für Getreideversorgung, für Milch- und Milchprodukte, für Fleisch und Schlachtvieh, für landwirtschaftliche Produktion und Hauswirtschaft, für Kartoffeln, für Obst und Obstproduktion, für Speisefette und Speiseöle, für Waren, für Düngerwesen und Abfallverwer- tung, für Rationierungswesen und für Nutzgeflügel und Eierversorgung (Eidgenössische Zentralstelle für Kriegswirtschaft 1950, S. 5). 76 Ebd., S. 15. 77 Ebd., S. 162. 78 Rosa Neuenschwander (1883 – 1962) war die erste Berufsberaterin für Mädchen und Präsidentin des Ber- nischen Frauenbundes. Im Bereich Hauswirtschaft sind ihr die Gründung der Hausdienstkommission Bern (1923) und die erste Haushaltslehre in der Schweiz zu verdanken. Sie regte 1930 die Gründung des Bernischen Landfrauenverbandes und des Schweizerischen Bäuerinnenverbandes an (Ludi 2009). 79 Joris 1990, S. 115.

180 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

klärte der damalige Leiter des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements, Hermann Obrecht (1882 – 1940): «Allen Hausfrauen und Vorstehern kleinerer und grösserer Verpflegungsstätten stellt sich im Hinblick auf unsere Wehrbereit- schaft eine stille, aber grosse und dringende Aufgabe. [ … ] Die Hausfrau soll nicht nur an ihren eigenen Haushalt denken, sondern darüber hinaus an den des gan- zen Landes. Dieses muss sich für den Fall der Absperrung mit allen notwendi- gen Lebensmitteln für eine gewisse Mindestzeit vorsehen. Daraus ergibt sich von selbst, dass sich auch der einzelne Haushalt, gleichviel ob klein oder gross, Fami- lie oder Verpflegungsstätte, einen eisernen Vorrat an wichtigsten Lebensmitteln80 anlegen muss.»81 Der Aufruf, einen Vorrat an unverderblichen Lebensmitteln für zwei Monate anzulegen, erfolgte mit dem Hinweis, dass bei Kriegsausbruch al- lenfalls eine Bezugssperre in Kraft trete.82 Bei den Vorarbeiten zu diesem Aufruf waren die Frauenverbände eingebunden. Das Eidgenössische Kriegsernährungs- amt – der grossen Bedeutung der Hauswirtschaft bewusst – traf sich mit Vertre- terinnen der grossen Frauenverbände, um über geeignete Massnahmen der kriegswirtschaftlichen Lenkungs- und Verteilungsmassnahmen zu beraten.83 Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges rückten die Frauenorganisationen zusammen, überwanden ihre ideologischen und/oder konfessionellen Differenzen. Resultat dieser Zusammenarbeit war u. a. der vom Eidgenössischen Kriegser- nährungsamt mit allen bedeutenden Frauenorganisationen84 gemeinsam her- ausgegebene Ratgeber Die Schweizer Frau im Dienste der Landesversorgung.85 Diese Broschüre wurde 112 000 Haushalten zugestellt und klärte die Frauen über den Wert und die Verwendung von Lebensmitteln auf, führte in verschiedene Methoden der Lebensmittelkonservierung ein, gab Anweisungen zum Gemüse- bau des kleinen Selbstversorgers und empfahl volkstümliche Schriften für die Küche. Der Aufklärung der Frauen wurde bereits vor Kriegsausbruch eine hohe Bedeutung zugeordnet, und in militärischen Kreisen sah man ein, dass «eine gute Ernährungspolitik ohne die Hilfe der Frauen und Frauenorganisationen nicht bewerkstelligt werden konnte».86 Else Züblin-Spiller, die im Ersten Welt- krieg die Soldatenstuben eingerichtet hatte, wurde 1939 als einzige Frau in die neu eingerichtete eidgenössische Kommission für Kriegsernährung (EKKE), das

80 Dies betraf vor allem Zucker, Reis, Hülsenfrüchte, Teigwaren, Hafer- und Gerstenprodukte, Maisgriess, Maismehl, Speisefett, Koch- und Salatöl, Mehl (Grob-Schmidt 1941, S. 26). 81 Schneebeli 1948, S. 95. 82 Bereits am 29. August 1939 wurde für die wichtigsten Lebensmittel eine solche Sperre ausgesprochen (We- ber 1981, S. 6). 83 Feisst 1948. 84 23 Frauenorganisationen beteiligten sich an der Herausgabe der Broschüre. 85 Die Schweizerfrau im Dienste der Landesversorgung 1940. 86 Stämpfli 2002, S. 117.

181 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

beratende Organ des Kriegsernährungsamtes, berufen.87 Als Expertin nahm sie an den Beratungen der neuen Kommission teil und stellte den Kontakt zu den Frauenorganisationen her. «Diese informellen Kontakte führten schliesslich zur Einrichtung des Konsultativen Frauenkomitees der eidgenössischen Kriegswirt- schaftsämter im Jahre 1939.»88 Die Bundesverwaltung wollte «mit berufenen Vertreterinnen der Frauenverbände» spezifische, die Frauen betreffende Fragen besprechen, damit diese ihrerseits «unter der Bevölkerung um Verständnis und Unterstützung für die unumgänglich notwendigen Einschränkungen» werben konnten.89 1943 wurde die hauswirtschaftliche Aufklärung Else Züblin-Spiller unterstellt. Mehrfach wiederholte die eidgenössische Kommission für Kriegser- nährung, dass die wichtigsten Ernährungsfragen bereits im Volksschulunterricht zu thematisieren seien, und im Herbst 1943 organisierte das Pestalozzianum in Zürich unter dem Motto «Zeitgemässe Ernährungsfragen im Unterricht» eine entsprechende Schulausstellung.90 Die Aufklärung der Mädchen und Frauen zu Ernährungsfragen erfolgte durch Frauenverbände, Schulinspektoren, hauswirtschaftliche Beraterinnen, Fürsor- gerinnen und Lehrerinnen. Mithilfe von Ausstellungen, Vortragsreihen, Bro- schüren, Merkblättern, Pressemitteilungen und Rezeptsammlungen, über die Ausbildung von Haushaltungslehrerinnen und Kursleiterinnen, über Schauko- chen, Einzelberatungen oder über das «sprechende Menue»91 wurden Mädchen und Frauen in hauswirtschaftlichen Fragen aufgeklärt.92 Der Haushalt wurde zum Bewährungsfeld der inneren Front. Doch mit dieser Aufgabe gaben sich die Frauen nicht zufrieden. Bereits während des Ersten Weltkrieges hatten sie gezeigt, dass sie mehr konnten als nur kochen. Einmal mehr war es Else Züblin- Spiller, die Schöpferin der Soldatenstuben, welche die Initiative ergriff. Alle Frauen sollten in eine zivile Landesverteidigung eingebunden werden, für die Armee und das Hinterland. Damit war die Idee eines zivilen Frauenhilfsdienstes93

87 Fleisch 1947, S. 27. Der Kommission gehörten an: Dr. med. A. Fleisch, Direktor des Physiologischen Insti- tutes der Universität Lausanne; PD Dr. med. Gloor, Zürich; Prof. Dr. med. W. von Gonzenbach, Direktor des Hygiene-Instituts der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich; Dr. med. F. Grote, Präsident der Schweizerischen Diätkommission; Prof. Dr. med. W. R. Hess, Direktor des Physiologischen Instituts der Universität Zürich; Prof. Dr. med. h. Hunziker, Physikus, Basel; PD Dr. med. A. Jung, Bern; Dr. med. A. Roos, Zahnarzt, Basel. 88 Stämpfli 2002, S. 118. 89 Eidgenössische Zentralstelle für Kriegswirtschaft 1950, S. 177. 90 Ebd., S. 179. 91 Das «sprechende Menue» war über eine Telefonnummer abzurufen (Tanner 1999, S. 435). 92 Ebd. 93 Vom zivilen Frauenhilfsdienst ist der militärische Frauenhilfsdienst zu unterscheiden. Else Züblin-Spiller forderte die Einbindung der Frauen als Hilfsdienstpflichtige in die Armee. 1940 wurden die ersten Richt- linien für die Organisation des Frauenhilfsdienstes erlassen. Zur konfliktreichen Geschichte des mil- itärischen Frauenhilfsdienstes vgl. ausführlich Stämpfli 2002.

182 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

geboren. Die traditionell ehrenamtliche Tätigkeit der Frauen galt es zu koordi- nieren, um entsprechende Fürsorgehilfe für die Zivilbevölkerung zu leisten und den Schutz der Zivilbevölkerung vor Ort zu sichern. Hierfür organisierten sich die Frauen in Hilfstrupps mit eigenen Uniformen und einem eigenen Gelöbnis.94 Das vom zivilen Frauenhilfsdienst herausgegebene Dienstbüchlein95 für den Alltag der Schweizerin schreibt fest, was die Heimat benötigt: «Frauen, die nicht jammern und klagen. Frauen, die Entbehrungen willig auf sich nehmen. Frauen, die ein starkes, opferfreudiges Geschlecht heranziehen. Frauen, die unsere Gebrauchsgüter gewissenhaft verwalten.»96 Zu diesem Dienst waren alle Schwei- zerinnen verpflichtet, in jedem Alter, in jeder Stellung. Die Einbindung der Frauen in die Landesverteidigung bestätigte sie in ihrer Forderung nach einem obligatorischen hauswirtschaftlichen Unterricht, und das Thema wurde in Frauenkreisen wie in politischen Kreisen erneut auf die Agenda gesetzt. Der Kanton Neuenburg stimmte im Dezember 1942 dem Obligatorium der haus- wirtschaftlichen Fortbildungsschule auf Kantonsebene zu, 1944 wurde das Thema in Basel und Aargau diskutiert. Im gleichen Jahr legte der Grosse Rat des Kantons Bern fest, dass der hauswirtschaftliche Unterricht für Mädchen in den beiden letzten Schuljahren zu erfolgen habe, und erklärte darüber hinaus den hauswirtschaftlichen Fortbildungsschulunterricht für obligatorisch. Das Volk des Kantons Solothurn stimmte 1945 einer Vorlage zu, die den Besuch der hauswirtschaftlichen Fortbildungsschule als obligatorisch erklärte.97 In den folgenden Jahren führten weitere Kantone die hauswirtschaftliche Bildung als Teil der allgemeinen Schulpflicht ein. Die Instruktion der Haus-Frauen während des Zweiten Weltkrieges war allge- genwärtig und wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten über das Bildungssystem weitergeführt und gefestigt. Im Bericht zur schweizerischen Kriegswirtschaft der Jahre 1939 bis 1948 ist zu lesen: «Zum Schluss dieses Abschnittes ist es uns Bedürfnis, die Leistung der Hausfrauen zu erwähnen, die in erster Linie und am stärksten von den kriegswirtschaftlichen Massnahmen und Einschränkungen betroffen worden sind. Ihrer Anpassungsfähigkeit, ihrem fachlichen Können und ihrer Virtuosität, die Einschränkungen durch ihre hauswirtschaftliche Findigkeit zu mildern, ist es weitgehend zuzuschreiben, dass die Mangelwirtschaft während des Krieges erfolgreich gemeistert werden konnte.»98

94 Ebd., S. 144ff. 95 Das Dienstbüchlein der Männer diente als Ausweis über die Erfüllung der Militärpflicht. 96 Treu der Heimat 1941, S. 1. 97 Gosteli 2000, Bd. 2, S. 709ff. 98 Eidgenössische Zentralstelle für Kriegswirtschaft 1950, S. 165.

183 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

6. Schluss Der hauswirtschaftliche Unterricht der Mädchen, der zum ersten Mal zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Männerkreisen als gesellschaftliches Problem einer spe- zifischen Bevölkerungsschicht wahrgenommen wurde, verfestigte sich in den nachfolgenden Jahrzehnten als allgemein verbindliches Bildungsziel für das weib- liche Geschlecht. Zunächst bündelte der hauswirtschaftliche Unterricht nicht ge- nügend Kräfte, um ihn flächendeckend im Bildungssystem zu verankern. Zu stark wirkte im 19. Jahrhundert in Bildungsfragen das föderalistische, zu stark das standespolitische Moment. Auch die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts formierende Frauenbewegung, die sich primär als Bildungsbewegung konstitu- ierte, verfügte weder über die finanziellen Mittel noch über direkte Instrumente der politischen Einflussnahme. Ihre Bemühungen, das Tätigkeitsfeld Hauswirt- schaft zu professionalisieren, gingen einher mit Forderungen nach beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen. Noch schien zu Beginn des 20. Jahr- hunderts die Frage offen, wie sich die doppelte Orientierung in Fragen der Mäd- chenbildung (Hauswirtschaft/Beruf) langfristig entwickeln würde. Mit dem Ersten Weltkrieg, den Zwischenkriegsjahren und den Jahren des Zweiten Weltkrieges gewann in der Schweiz die hauswirtschaftliche Bildung mit Bezug auf die innere Sicherheit an Bedeutung. Während im Ersten Weltkrieg von militärischer Seite der Landesversorgung zu wenig Beachtung geschenkt wurde und Frauen aus eigener Initiative Verantwortung übernahmen, wurden sie am Vorabend des Zweiten Weltkrieges gezielt in die Landesverteidigung eingebun- den. Dem Mann an der äusseren Front korrespondierte die Frau an der Heimat- front. Als Hausmutter sollte sie fleissig, ordentlich, sparsam und für das Wohl- ergehen der Familienmitglieder verantwortlich sein. Am Herd stehend, wusste sie die wenigen Nahrungsmittel der Kriegsjahre zu einer sättigenden Mahlzeit zu verarbeiten und leistete damit ihren zentralen Beitrag zur Volksgesundheit. Als Frau – treu der Heimat – stellte sie sich in den Dienst der Heimat. Progres- sive und konservative Frauenvereine bewältigten gemeinsam mit dem Militärde- partement die nationale Bedrohung durch eine klar definierte Rollenzuweisung, in der die Pflichten der Frauen und Männer je unterschiedlich definiert wurden. Die Schule setzte diese Rollenfestlegung über curriculare Anpassungen um. Diese diskursiv und praktisch verdichtete Geschlechterordnung beeinflusste in der Folge über Jahrzehnte die Bildungsmöglichkeiten beider Geschlechter. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts – mit der zweiten Welle der schweizerischen Frauenbewegung – wurde die Rolle der Schweizer Bürgerin und die Rolle des Schweizer Bürgers aufgebrochen.

184 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Bibliografie

Quellen und Literatur 22. Generalversammlung des Bundes schweizerischer Frauenvereine in Win- terthur: 6./7. Oktober 1923. In: Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 28 (1923/24), S. 2 – 4. Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die Unter- stützung von Koch-, Haushaltungs-, Dienstboten- und Krankenwärterkursen durch den Bund (Postulat vom 28. März 1893). In: Schweizerisches Bundes- blatt, 46, 51 (1894), S. 229 – 246. Bickel, Wilhelm: Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik der Schweiz seit dem Ausgang des Mittelalters. Zürich: Büchergilde Gutenberg 1947. Bünzli, B[ertha]: IV. Wissenschaftlicher Kurs über den Alkoholismus in St. Gallen. In: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege, 12, 6/7 (1914), S. 102 – 106. Bochsler, Regula/Gisiger, Sabine: Dienen in der Fremde. Dienstmädchen und ihre Herrschaften in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Zürich: Chro- nos 1989. Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die auf die Alkoholfrage bezüglichen Postulate und Petitionen vom 20. Nov. 1884. In: Schweizerisches Bundesblatt, 36, 58 (1884), S. 369 – 496. Brüschweiler, Carl: Die schweizerische Bevölkerungskrise. Erweiterte Fassung des Radiovortrages vom 6. Mai 1938. Bern: o.V. 1939. Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Hrsg.): Ergebnisse einer Erhe- bung vom Jahre 1943 über die obligatorischen hauswirtschaftlichen Fortbil- dungsschulen. Bern: Eidgenössische Drucksachen- und Materialzentrale 1944. Bundesbeschluss betreffend die hauswirtschaftliche und berufliche Bildung des weiblichen Geschlechts vom 20. Dezember 1895. In: Schweizerisches Bundesblatt, 47, 56 (1895), S. 872f. Bunge, Gustav von: Die Alkoholfrage. Leipzig: Vogel 1887. Coradi-Stahl, Emma: Über berufliche und hauswirtschaftliche Ausbildung der weiblichen Jugend in verschiedenen Ländern. Nach einer Berichterstat- tung an das Schweiz. Industriedepartement bei Anlass der Weltausstellung in Paris 1900. Zürich: Coradi-Maag 1901. Coradi-Stahl, Emma: Das hauswirtschaftliche Bildungswesen in der deutschen Schweiz. Freiburg/Schweiz: o.V. 1909.

185 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (Hrsg.): Frauen Macht Ge- schichte 1848 – 2000, Teil 1: Frauenbewegung, Politik, Recht. Bern: Eidge- nössische Kommission für Frauenfragen 1998. Eidgenössische Zentralstelle für Kriegswirtschaft (Hrsg.): Die Schweizerische Kriegswirtschaft 1939/1948. Bericht des Eidgenössischen Volkswirtschafts- Departementes. Bern: Eidgenössische Drucksachen- und Materialzentrale 1950. Escher, Nora: Entwicklungstendenzen der Frauenbewegung in der deutschen Schweiz 1850 – 1918/19. Zürich: o. V. 1985. Etter, Philipp: Der Geburtenrückgang als nationales Problem. In: Zeitschrift für Schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 74, 2 (1938), S. 156 – 170. Evard, Marguerite: Enseignement complémentaire féminin. In: Bericht über den Zweiten Schweizerischen Kongress für Fraueninteressen. Bern: Stämpf- li 1921, S. 274 – 285. Feisst, Ernst: Tätigkeitsbericht der Leitung des Eidg. Kriegs-Ernährungs-Am- tes, 1939 – 1947. Bern: o.V. 1948. Fleckenstein, Fanny: Die Berufsausbildung der Hausfrau. Zürich: Juris 1948. Fleisch, Alfred: Ernährungsprobleme in Mangelzeiten. Die schweizerische Kriegsernährung 1939 – 1946. Basel: Schwabe 1947. Gosteli, Marthe (Hrsg.): Vergessene Geschichte. Illustrierte Chronik der Frauenbewegung 1914 – 1963. Bern: Stämpfli 2000. Grob-Schmidt, Dora: Werden wir den Krieg ohne Hunger überstehen? Kurzer Abriss der Kriegsernährungsvorsorge des Bundes, anhand verschiedener Vorträge. Wetzikon: Aktienbuchdruck 1941. Hürlimann, Josef: Über die Ergebnisse der Sanitarischen Rekruten-Muste- rung in der Schweiz während den Jahren 1875 bis 1879. Referat für die Jah- resversammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft 21. Sep- tember 1880 in Zug. Zürich: o.V. 1880. Huggenberg-Kaufmann, Frieda: Frauen dienen der Heimat. Drei soziale Frauenleben. Lebensbilder von Maria Rosina Geschwind-Hofer, Gertrud Vil- liger-Keller, Emma Coradi-Stahl. Zürich: Rascher 1939. Jaun, Rudolf: Zur Akzentuierung der Geschlechtscharaktere in der Belle Épo- que der Schweiz. In: Jaun, Rudolf/Studer, Brigitte (Hrsg.): weiblich – männ- lich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz. Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken. Zürich: Chronos 1995, S. 117 – 127.

186 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Joris, Elisabeth: Die Schweizer Hausfrau. Genese eines Mythos. In: Brändli, Sebastian/Gugerli, David/Jaun, Rudolf/Pfister, Ulrich (Hrsg.): Schweiz im Wandel. Studien zur neueren Gesellschaftsgeschichte. Basel/Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn 1990, S. 99 – 116. Joris, Elisabeth/Witzig, Heidi: Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz. Zürich: Limmat 1991. Linz, Basil: Schweizervolk wohin dein Weg? Olten: Walter 1938. Ludi, Regula: Boos-Jegher, Emma. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9277.php (Version vom 17.8.2004). Ludi, Regula: Honegger, Klara. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9333.php (Version vom 15.1.2008). Ludi, Regula: Neuenschwander, Rosa. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9365.php (Version vom 20.7.2009). Ludi, Regula: Schmidt, Dora. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9383.php (Version vom 11.9.2012). Ludi, Regula: Züblin-Spiller, Else. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9415.php (Version vom 26.2.2014). Lütscher, Peter: Die Aufgabe der Schule im Kampfe gegen den Alkoholis- mus. In: Schweizerisches Evangelisches Schulblatt, 39, 8 (1904), S. 85 – 102. Merz, Julie: Die Schweizerfrau und der Krieg. In: Jahrbuch der Schweizerfrau, 1 (1915), S. 54 – 67. Merz, Julie: Die Schweizerische gemeinnützige Frauenbewegung. In: Zentral- blatt des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins, 16, 8 (1928), S. 174 – 179. Mesmer, Beatrix: Ausgeklammert – Eingeklammert. Frauen und Frauenorga- nisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Basel/Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn 1988. Mesmer, Beatrix: Rationelle Ernährung. Sozialmedizinische Reaktionen auf den Wandel der Ess- und Trinkgewohnheiten. In: Saladin, Peter/Schaufel- berger, Hans Jürg/Schläppi, Peter (Hrsg.): Medizin für die Medizin. Arzt und Ärztin zwischen Wissenschaft und Praxis. Basel/Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn 1989, S. 329 – 344. Mesmer, Beatrix: Pflichten erfüllen heisst Rechte begründen. Die frühe Frau- enbewegung und der Staat. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 46 (1996), S. 332 – 355. Mesmer, Beatrix: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Die Politik der schwei- zerischen Frauenverbände 1914 – 1971. Zürich: Chronos 2007.

187 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Neuhaus, Gabi: Die Schweizerinnen im Ersten Weltkrieg – Grosseinsatz der bürgerlichen Frauenorganisationen. In: Ryter, Annemarie/Wecker, Regina/ Burghartz, Susanne (Hrsg.): Auf den Spuren weiblicher Vergangenheit. Be- richte des Zweiten Schweizerischen Historikerinnentreffens in Basel, Okto- ber 1984. Basel: Schwabe 1985, S. 22 – 42. Pädagogische Chronik. In: Schweizerisches Schularchiv, 5, 2 (1884), S. 40 – 45. P.M.: Zur Motion Waldvogel. In: Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 27, 6 (1923), S. 113 – 115. Rothen, Gottlieb: Probleme der Mädchenbildung. In: Schweizerische Lehre- rinnenzeitung, 20, 2 – 4 (1915), S. 25 – 30, 52f., 83 – 90. Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur, 36 (2011), S. 159 – 172. Schmid-Itten, M./Meili-Lüthi, [R.]/Wyler, Eugen (Hrsg.): Der Grenzdienst der Schweizerin 1914 – 1918. Bern: Schmid 1934. Schneebeli, Paul: Die Lebensmittel-Versorgung der Schweiz während des Krieges 1939 – 1945. Zug: Kalt-Zehnder 1948. Die Schweizer Frau im Dienste der Landesversorgung. Hrsg. im Auftrag des Eidgenössischen Kriegsernährungsamtes. Bern: Eidgenössische Drucksa- chen- und Materialzentrale 1940. Stämpfli, Regula: Mit der Schürze in die Landesverteidigung. Frauenemanzi- pation und Schweizer Militär 1914 – 1945. Zürich: Orell Füssli 2002. Strub, Elisa: Chronik der schweizerischen Frauenbewegung 1923 – 1924. In: Jahrbuch der Schweizerfrau, 8 (1924), S. 205 – 228. Tanner, Jakob: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890 – 1950. Zürich: Chronos 1999. Treu der Heimat. Dienstbüchlein für den Alltag der Schweizerin. Worte zur in- nern Haltung. Hrsg. vom Schweizerischen Zivilen Frauenhilfsdienst. Zü- rich: Bühler 1941. Verhandlungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft: Wie kön- nen am zweckmässigsten dem weiblichen Geschlecht in den untern Stän- den, Unterricht über Gegenstände des Hauswesens, der Erziehung u.s.w. dessen sie so sehr bedürfen, beygebracht werden? In: Verhandlungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, 5 (1820), S. 207 – 218. Volkswirtschaftsdepartement (Hrsg.): Die Hebung der pflanzlichen und tieri- schen Kleinproduktion und deren Verwertung im Dienste der Lebensmittel- versorgung des Landes. Zur Belehrung des Schweizervolkes, besonders der Frauen und Kleinproduzenten. Bern: Blaser & Tschanz 1917.

188 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Waldvogel, Traugott: Motion und Begründung der Motion. In: Zentralblatt des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins, 10, 4 (1922), S. 74 – 86. Weber, Konrad: Die Lebensmittelrationierung während der beiden Weltkriege und bei einer zukünftigen Versorgungskrise. Bern: o.V. 1981. Wyser, Otto: Die Einführung der Obligatorischen Haushaltungsschule. Dem solothurnischen Volke gewidmet; im Auftrag der Gemeinnützigen Gesell- schaft von Olten-Gösgen. Olten: Oltner Tagblatt 1893. Zehnder, Emilie: Die hauswirtschaftliche Ausbildung unserer Töchter. St. Gallen: Fehr’sche Buchhandlung 1906. Zürcher, Regula: Von Apfelsaft bis Zollifilm. Frauen für die Volksgesundheit. Hünibach: Schweizerischer Bund abstinenter Frauen 1996. Zürcher Meuwly, Regula: Frauen für die Volksgesundheit. Eine komparative Untersuchung der Alkoholfrage in der Schweiz anhand der Leitbegriffe Ge- schlecht, Gesellschaft und Gesundheit (1860 – 1940). St. Gallen: Selbstverlag 2010.

Prof. Dr. Claudia Crotti, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwest- schweiz, Institut Primarstufe, [email protected]

189

Waffen im Kampf gegen­ 9­Krankheiten

Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Michèle Hofmann

9. Waffen im Kampf gegen Krankheiten Transfer medizinischen Wissens zwischen Militär und Schule um 19001

Too fat to fight – dies ist der Titel eines Berichts, der 2010 erschien. Geschrieben haben ihn pensionierte Generale und Admirale der US-Armee. Sie äussern ihre Besorgnis darüber, dass Übergewicht den hauptsächlichen medizinischen Grund darstelle, warum Bewerber nicht zum Militärdienst zugelassen würden.2 «Today, otherwise excellent recruit prospects, some of them with generations of sterling military service in their family history, are being turned away because they are just too overweight.»3 Abhilfe für dieses Problem soll die Schule schaffen. «We [ … ] know that the childhood years are critical to the formation of sound eating habits. Millions of children buy breakfast, lunch and snacks in school every day. Properly managed, the school environment can be instrumental in fostering healthful eating habits that will last a lifetime.»4 Der Schule wird von verschiedenen Seiten die Verantwortung für die Lösung sozialer Probleme übertragen. Sie soll etwa die Integration von Kindern unter- schiedlicher sozialer, sprachlicher und kultureller Herkunft in die Gesellschaft ermöglichen, Gewaltprävention betreiben oder einen verantwortungsvollen Umgang mit Medien und Geld vermitteln. Dass auch die Militärs auf die Schule

1 Eine erste Version dieses Beitrags wurde im Juli 2014 am 36. Kongress der International Standing Confe- rence for the History of Education (ISCHE) in London zum Thema Education, War and Peace präsentiert und diskutiert. 2 Vgl. o.A. 2010, o. S. 3 Ebd. 4 Ebd.

193 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

verweisen, ist daher wenig erstaunlich – und hat eine lange Tradition, wie im Folgenden in vier Schritten am Beispiel der Schweiz aufgezeigt wird. In der Schweiz des 19. Jahrhunderts wurden der schlechte Gesundheitszustand der Stellungspflichtigen im Allgemeinen und ihre mangelhafte Ernährung im Besonderen ebenfalls als Problem identifiziert. Dieses Problem zutage gefördert hatte die Auswertung der Ergebnisse der «sanitarischen» (medizinischen) Rekru- tenprüfungen, die 1875 nach der Zentralisierung der Armee durch die Bundesre- gierung eingeführt worden waren (1.). Auch damals spielte die Schule eine wichtige Rolle – in doppelter Hinsicht. Einerseits wurde sie als schädlicher Einfluss auf die Gesundheit der Kinder (die die künftigen Rekruten und zukünftigen Mütter waren), und damit als Teil des Problems, wahrgenommen (2.). Andererseits sollte sie zur Lösung des Problems beitragen. Die Kinder und Jugendlichen sollten in der Schule über die Grundsätze der Hygiene unterrichtet, ihr gesundheitlicher Zustand sollte hier überwacht und die Unterrichtsräume und das Schulmobiliar sollten gesundheitsgemäss gestaltet werden (3.). In den Debatten, die durch die Ergebnisse der «sanitarischen» Rekrutenprüfungen ausgelöst wurden, waren das Militär und die Schule miteinander verflochten. Die «Schnittstelle» zwischen den beiden Feldern war die Hygienebewegung (4.). Die Frage, die sich hier stellt und die in diesem Beitrag diskutiert werden soll, ist: Inwiefern fand ein Transfer me- dizinischen Wissens zwischen dem Militär und der Schule statt?

1. Einführung «sanitarischer» Rekrutenprüfungen, oder: Das Militär als wissenschaftliches Experimentierfeld Die Mobilmachung und Grenzbesetzung während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 führten in der Schweiz zu einer Diskussion über die Wehr- fähigkeit der Armee.5 In der Bundesverfassung war 1848 die allgemeine Wehr- pflicht festgeschrieben worden. Die Umsetzung dieser Bestimmung verblieb jedoch vorerst bei den Kantonen, die der Bundesarmee Kontingente aus ihren Wehrpflichtigen zur Verfügung stellen mussten.6 Bestrebungen, das eidgenössi- sche Wehrsystem zu reformieren und zu vereinheitlichen, scheiterten zunächst.7

5 Die Schweiz war zwar weder für Frankreich noch für Preussen unmittelbares Angriffsziel. Gefahr hätte aber beim Versuch einer der beiden Kriegsparteien gedroht, das Schweizer Territorium für einen Durch- marsch zu benützen. Die Schweizer Armee wurde während des Deutsch-Französischen Krieges zweimal mobilisiert, als sich die Kampfhandlungen der Landesgrenze näherten (Aeschimann 2007, S. 57 – 59). 6 Bis zur Bundesverfassung von 1874 vollzog sich die Alimentierung der eidgenössischen Truppen im Rah- men einer korporativen Wehrpflicht. Die Kantone hatten ein auf Basis der Bevölkerungsgrösse bestimmtes Truppenkontingent zu stellen. Dabei kam eine Vielfalt von Rekrutierungskriterien zur Anwendung: Grad und Dauer der Verpflichtung, Freistellungsgründe (Alter, Besitz, Beruf) und Auswahlmethoden (Los, Frei- kauf, Stellen eines Ersatzmanns), zudem die Tauglichkeitsabklärung (Fuhrer 1994, S. 195 – 197; Fuhrer/ Haltiner 2011, S. 223f.). 7 Vgl. Jaun 1997, S. 69; Jaun 1999, S. 89 – 114.

194 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Erst als die beiden Berichte von General Hans Herzog (1819 – 1894) zur Grenz- besetzung von 1870 und 1871 die Mängel des kantonal organisierten Wehrwe- sens und der uneinheitlichen Umsetzung der Wehrpflicht offenbarten, wurde das Wehrwesen in der Bundesverfassung von 1874 und der Militärorganisation vom selben Jahr dem Bund übertragen. Wie in der Zeit der Helvetik wurde nun der einzelne Bürger gegenüber dem Bund wehrpflichtig, und fortan entschied die individuelle Tauglichkeit, ob ein junger Mann eingezogen wurde oder nicht.8 Damit «wurde die vormalige Leerformel ‹Allgemeine Wehrpflicht› zum leiten- den Organisationsprinzip des Militärwesens».9 Um die Diensttauglichkeit abzuklären, führte die Bundesregierung 1875 ge- samtschweizerische Rekrutenprüfungen ein.10 Diese bestanden aus einem «sa- nitarischen» und einem pädagogischen Teil.11 Die pädagogischen Prüfungen sollten «die Bildungsfähigkeit und den Bildungszustand der Rekruten» erheben.12 Die Rekruten wurden in den Fächern Lesen, Aufsatz, Rechnen und Vaterlands- kunde (Geografie, Geschichte, Verfassung) getestet.13 Bei den «sanitarischen» Kontrollen hatte die Untersuchungskommission14 darüber zu wachen, «dass weder Diensttaugliche wegen unerheblicher oder vorgetäuschter Gebrechen der Armee entzogen, noch Dienstuntaugliche in dieselbe eingereiht werden».15 Die Beurteilung der Tauglichkeit beruhte einerseits auf den Messungen der Körper- grösse, des Brustumfangs und ab 1887 auch des Umfangs des rechten Oberarmes. Zu diesen metrischen Körpermerkmalen enthielt die Instruktion über die Unter- suchung und Ausmusterung der Militärpflichtigen Mindestnormen, die ein Stel- lungspflichtiger erfüllen musste, um diensttauglich zu sein.16 Die geforderte Körperhöhe betrug mindestens 155 Zentimeter (1875 – 1877, 1912 – 1932) respek-

8 Fuhrer 1994, S. 197; Fuhrer/Haltiner 2014, S. 328; Senn 2004, S. 674; Schoch 2007, S. 44f.; vgl. auch Bau- mann 1932. Die individuelle Stellungs- und Militärdienstleistungspflicht, die seit 1874 besteht, wird ergänzt durch eine individuelle Ersatzpflicht bei Untauglichkeit, den sog. Militärpflichtersatz. Die Schweiz stellt -in ternational einen Sonderfall dar, weil das militärische Kader mehrheitlich aus Milizangehörigen rekrutiert wird. Als Folge des hohen Beteiligungsgrads der aristokratischen und bürgerlichen Elite beim Milizkader und bedingt durch die hohe Präsenz des Militärs im Alltag, erlangte das Schweizer Wehrwesen v.a. im 20. Jahrhundert eine hohe gesellschaftliche Bedeutung (Fuhrer/Haltiner 2011, S. 224). 9 Schoch 2007, S. 44. 10 Pädagogische Rekrutenprüfungen waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – mit Ausnahme von Basel- Stadt und Neuenburg – bereits auf kantonaler Ebene durchgeführt worden (Lustenberger 1996, S. 19). Und auch «sanitarische» Prüfungen existierten schon vor 1875 (vgl. bspw. Scherer 1872, S. 286). 11 Während der Jahre 1909 – 1914 und 1931 – 1935 wurde ausserdem die physische Leistungsfähigkeit mit ei- ner turnerischen Prüfung erhoben (Schoch 2007, S. 46). 12 O.A. 1876a, S. III. 13 Vgl. Lustenberger 1996; Crotti/Kellerhals 2007; Crotti 2008; vgl. auch den Beitrag von Lukas Boser in die- sem Band. 14 Die Untersuchungskommission eines Divisionskreises setzte sich zusammen aus «[d]em Divisionsarzte als Vorsitzendem, dem Kommandanten des Rekrutirungskreises, in welchem jeweilen die Untersuchung statt- findet, und zwei Militärärzten» (o.A. 1875, § 2). 15 Ebd., § 4. 16 Vgl. ebd., § 16f.; o.A. 1877; o.A. 1895, § 38 – 40; o.A. 1915, § 39 – 41.

195 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

tive 156 Zentimeter (1877 – 1912).17 Der Brustumfang musste wenigstens die Hälfte der Körpergrösse betragen.18 Und der Oberarmumfang musste bei einem «normal entwickelten Jüngling» mindestens einem Siebtel, bei einem «sehr kräftigen» Rekruten mindestens einem Sechstel der Körperhöhe entsprechen.19 Anderseits basierte das Urteil der Kommission auf ärztlichen Untersuchungen zum allgemeinen Gesundheitszustand der Rekruten sowie zur Sehschärfe und zum Hörvermögen. Als «Anhaltspunkte zur Beurtheilung eines für den Militär- dienst tüchtigen Körperbaus einer dauerhaften Gesundheit» galten ein «[a]ufrecht getragener Kopf», ein «starker Naken, gesunde Gesichtsfarbe, lebhaft blikende Augen, gute Zähne, rothes, festes Zahnfleisch», ein «[b]reiter, gewölbter Brust- korb, starke, fleischige Schulterblätter, ein langsames, tiefes, leichtes und andau- ernd ruhiges Athmen», «[k]räftiger, regelmässiger Puls», «[f]este, elastische Haut, kräftige Muskeln, starke Knochen, ein fester Gang» und «[u]eberhaupt ein rich- tiges Ebenmass der Körperteile und ein freier Gebrauch der Sinne».20 Die Seh- schärfe der Schweizer Rekruten wurde bis 1912 mithilfe der «Snellen’schen Buchstaben- und Zeichentafeln» bestimmt.21 Diese Tafeln hatte der niederländi- sche Augenarzt Hermann Snellen (1834 – 1908) entwickelt und 1862 publiziert.22 Zu den von Snellen entworfenen Sehzeichen zählt auch der bekannte E-Haken, das Zeichen in Form eines grossen lateinischen E. Ab 1912 kamen die «Militär- sehproben» zum Einsatz.23 Hierbei handelt es sich um E-Haken, die der Berner Professor für Augenheilkunde Ernst Pflüger (1846 – 1903) entwickelt hatte. Diese E-Haken waren eine Abwandlung derjenigen von Snellen. Die zu untersu- chenden Stellungspflichtigen mussten aus einer Distanz von sechs respektive (ab

17 Mühlberg 1951, S. 121; vgl. auch o.A. 1875, § 16; o.A. 1877; o.A. 1895, § 38; o.A. 1915, § 39. Stellungspflichtige, die zur Zeit der Aushebung die geforderte Körpergrösse nicht erreichten, aber deren Erreichung bis zum 24. Altersjahr (1877 auf 22 Jahre reduziert) erwarten liessen, wurden für eine Nachuntersuchung um ein oder zwei Jahre zurückgestellt. Von der Mindestgrössennorm ausgenommen waren Wehrpflichtige, die aufgrund ihres beruflichen Profils dem Militär trotz körperlicher Einschränkungen nützlich waren (u. a. Hufschmiede, Schlosser oder Sattler). 18 Vgl. o.A. 1875, § 17; o.A. 1877; o.A. 1895, § 39; o.A. 1915, § 40. Von dieser Regelung ausgenommen waren gross gewachsene Männer, sofern ihr Brustumfang mindestens 80 Zentimeter mass. 19 O.A. 1895, § 40; vgl. auch o.A. 1915, § 41. 20 O.A. 1875, § 14. 21 Ebd., § 19; vgl. auch o.A. 1895, § 42. Die Sehschärfe (Visus) ist ein wissenschaftlich definierter Wert, der durch einen Bruch respektive einen Zahlenwert ausgedrückt wird. Dieser Wert wird folgendermassen be- rechnet: Abstand vom Objekt in Metern geteilt durch die Höhe des Objekts (Buchstabe, Zeichen, Zahl) in Millimetern. Wer also einen 6 Millimeter hohen Buchstaben aus 6 Metern Entfernung lesen kann, besitzt einen Visus von 1.0 (vgl. bspw. Grehn 2012, S. 28, 35f.). 22 Vgl. Snellen 1862. Snellens Tafeln dienten als Vorbild für weitere Sehproben, die im ausgehenden 19. Jahr- hundert entwickelt wurden. Sein Prinzip «wurde fast allgemein angenommen» (Steiger 1892, S. 2). 23 Vgl. o.A. 1915, Anhang II.

196 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

1912) fünf Metern verschieden grosse Buchstaben lesen.24 Waren sie in der Lage, die unterste Zeile mit den kleinsten Buchstaben zu entziffern, galten sie als «normalsichtig» (Sehschärfe 1).25 Damit ein Rekrut zum Militärdienst zugelassen wurde, musste seine Sehschärfe, unkorrigiert oder korrigiert durch eine Brille, «wenigstens ½ (d. h. die Hälfte der normalen) betragen».26 Als schwerhörig und damit untauglich galten Stellungspflichtige, die «accentuirtes Flüstern im Zim- mer, auf 1 Meter vom Ohr entfernt, nicht verstanden».27 Die Instruktionsrichtli- nien beinhalteten zudem einen Katalog mit über hundert Positionen zu körper- lichen und geistigen Beeinträchtigungen, die Dienstuntauglichkeit zur Folge hatten.28 Mit der Militärorganisation von 1874 war die «sanitarische» Untersuchung für jeden Schweizer im diensttauglichen Alter zur Pflicht geworden.29 Diese Pflicht wurde in der Instruktion über die Untersuchung und Ausmusterung der Militärpflich- tigen von 1875 konkretisiert.30 «Ganz entgegen der früheren, in einigen Kantonen gepflogenen Praxis, nur diejenigen Rekruten einer sanitarischen Untersuchung zu unterwerfen, die sich mit irgend einem Leiden behaftet glaubten, verlangt das neue Reglement vom Jahre 1875 eine sanitarische Untersuchung sämmtlicher im dienstpflichtigen Alter stehender Schweizersöhne vor dem Eintritt in die Rekrutenschule.»31 Die Untersuchung der Stellungspflichtigen hatte nach ein- heitlichen, ausführlich festgehaltenen Kriterien zu erfolgen,32 ausgearbeitet hatten diese Kriterien medizinische Experten. Sie waren es auch, die die Prüfun- gen durchführten. Dies ermöglichte die Produktion eines umfangreichen Daten- korpus, das sich zwecks Gewinnung von Wissen zum gesundheitlichen Zustand der jungen männlichen Bevölkerung mit statistischen Methoden auswerten liess.33 Die «sanitarischen» Rekrutenprüfungen stellten, mit anderen Worten, ein wichtiges wissenschaftliches Experimentierfeld dar. Dieses Experimentierfeld machte sich einige Jahrzehnte später auch die Psychologie zunutze. Als in den

24 In der Instruktion von 1875 ist die Entfernung des zu untersuchenden Rekruten zu den Sehprobentafeln in Pariser Fuss angegeben (vgl. o.A. 1875, § 19). Hier betrug der Abstand 20 Pariser Fuss (6.48 Meter). Die Snellen’schen Tafeln wurden nach der Umstellung auf das metrische System den neuen Masseinheiten an- gepasst. 25 O.A. 1895, § 42. 26 Ebd., § 41; vgl. auch o.A. 1875, § 18; o.A. 1915, § 42. 27 O.A. 1875, § 38. 28 Vgl. ebd., § 35 – 38; o.A. 1895, § 106 – 109; o.A. 1915, § 109 – 114. 29 Vgl. o.A. 1874, § 1, 15. 30 Vgl. o.A. 1875. 31 Hürlimann [1880], S. 3; Hervorhebung im Original. 32 Vgl. o.A. 1875; o.A. 1895; o.A. 1915. 33 Das Eidgenössische Statistische Bureau – aus dem 1928 das Eidgenössische Statistische Amt (seit 1979 Bundesamt für Statistik) hervorging – beklagte sich allerdings anfänglich, dass das erhobene Datenmaterial «lückenhaft» sei (o.A. 1879, S. 1). Zur «Militärsanitätsstatistik» in verschiedenen europäischen Ländern vgl. Hartmann 2011.

197 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

USA die Mobilisierung zum Ersten Weltkrieg näher rückte, überzeugte der Psychologe Robert M. Yerkes (1876 – 1956) die Heeresleitung, die geistige Leis- tungsfähigkeit aller Rekruten zu testen. Als Oberst Yerkes hatte er die Aufsicht über die Durchführung von Tests bei 1,75 Millionen Rekruten. Gemeinsam mit Lewis M. Terman (1877 – 1956), Henry H. Goddard (1866 – 1957) und anderen Kollegen entwickelte er die army mental tests,34 von denen er später sagte, sie hätten geholfen, den Krieg zu gewinnen. Mit diesen Tests begann das Massen- testen im Bereich der Psychometrie, das bald zu einem Gewerbe mit einem Zig-Millionen-Dollar-Umsatz wurde.35 Die Entwicklung und Durchführung der «sanitarischen» Rekrutenprüfungen in der Schweiz seit 1875 ist Teil dessen, was der amerikanische Wissenschaftshis- toriker Theodore Porter «the rise of statistical thinking» nennt.36 Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen verfolgten seit dem frühen 19. Jahrhundert die Absicht, mithilfe statistischer Methoden grundlegende Prinzipien des sozialen Lebens zu entschlüsseln: «Statistics could provide an understanding not only of the prevailing causes of death and disease, but also of crime and revolution, res- pectively the chronic and epidemic disorders of the human spirit.»37 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zu verschiedenen Bereichen des Soziallebens umfangreiche statistische Untersuchungen durchgeführt.38 Das «Gesetz der grossen Zahl» sollte die wissenschaftliche Grundlage liefern für so- zialpolitische Reformen und damit einen Beitrag leisten zur Lösung der Proble- me, die unter dem Begriff der «sozialen Frage» zusammengefasst wurden.39 Mit diesem Begriff thematisierte die bürgerliche Öffentlichkeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die infolge der Industrialisierung entstandenen sozialen Probleme, die Not der rasch wachsenden Schicht der Arbeiterinnen und Arbeiter.40 Zu den beklagten Problemen zählten auch Mängel der Volksgesundheit im Allgemeinen und der Volksernährung im Speziellen. Hier zeigte sich «die Befürchtung, schlecht ernährte, hungrige Menschen würden Unruhe stiften, die nationale Wehrkraft würde zersetzt durch die gesundheitliche Depravation junger Männer,

34 Yerkes und seine Kollegen erarbeiteten drei Testtypen. Rekruten, die des Lesens und Schreibens kundig waren, sollten einer schriftlichen Prüfung mit dem Namen Army Alpha unterzogen werden. Analphabeten und Männern, die Alpha nicht bewältigen konnten – dazu zählten auch Einwanderer, die der englischen Sprache nicht mächtig waren – , sollte der Bildertest Army Beta vorgelegt werden. Versager bei Beta waren für eine Einzelprüfung vorgesehen, bei der eine Version des Binet-Simon-Intelligenztests zum Einsatz kommen sollte (Gould 1988, S. 214). 35 Gould 1988, S. 212 – 215. 36 Porter 1986, S. i. 37 Ebd., S. 31. 38 Tanner 1999, S. 127 – 134; Busset 2012, S. 654. 39 Der deutsche Historiker Lutz Raphael spricht in diesem Zusammenhang von der «Verwissenschaftlichung des Sozialen» (vgl. Raphael 1996). 40 Degen 2012, S. 646.

198 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

und die Konkurrenzfähigkeit der Volkswirtschaft sei gefährdet durch mangelhaf- te Leistungsfähigkeit der Arbeitskräfte in den industriellen Unternehmen».41 Diese Befürchtung wurde genährt durch die Ergebnisse der «sanitarischen» Rekrutenprüfungen. Gleichzeitig konnte durch die Analyse der Ergebnisse der Zusammenhang zwischen Militärtauglichkeit und Volksernährung auf eine empirische Grundlage gestellt werden.42 Die medizinischen Experten begnügten sich nicht damit, die Rekrutenprüfungen zu konzeptualisieren und durchzufüh- ren, sie analysierten auch deren Resultate und stellten diese der Öffentlichkeit vor. Die ersten Resultate wurden nur wenige Jahre nach der Einführung der Untersuchungen präsentiert. Sie erlangten – wie rund vierzig Jahre später die Ergebnisse der army mental tests in den USA – grosse Aufmerksamkeit und gaben «vielerlei Stoff zu Zeitungsnachrichten», bedingt durch den Umstand, dass viele Rekruten für dienstuntauglich erklärt worden waren.43

2. Kurzsichtigkeit, Skoliose und Kropf, oder: Die Schule als Teil des Problems 1880 hielt Josef Hürlimann (1851 – 1911) ein Referat an der Jahresversammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft in Zug.44 Er war eingeladen worden, die Ergebnisse der Rekrutenprüfungen zu präsentieren. Hürlimann war Militärarzt und seit 1876 Mitglied der für die «sanitarischen» Rekrutenprüfun- gen zuständigen Untersuchungskommission.45 Im zivilen Leben war er Arzt in Unterägeri (ZG), Gründer und Leiter der örtlichen Kinderheilstätte.46 Hürlimann engagierte sich im Bereich der Kinderfürsorge und der Schulgesundheitspfle- ge.47 Er war somit ein medizinischer Experte, der in den beiden Feldern Militär und Schule tätig war, der über Wissen aus beiden Feldern verfügte. Es ist nahe- liegend, dass durch Experten wie Hürlimann, die wichtige Vertreter der Hygie- nebewegung waren, medizinisches Wissen zwischen dem Militär und der

41 Tanner 1999, S. 91. 42 Ebd., S. 94. 43 Graf 1880, S. 211; vgl. auch Mesmer 1989, S. 337. 44 Vgl. Hürlimann [1880]. Die Gemeinnützige Gesellschaft war 1810 in Zürich gegründet worden. Sie ver- stand sich als Erbin der Helvetischen Gesellschaft und verfolgte aufklärerisch-patriotische Ziele, wobei sie die Gemeinwohlorientierung ins Zentrum stellte. Im 19. Jahrhundert richtete sie ihr Augenmerk u. a. auf die Bekämpfung des Alkoholkonsums und des Glückspiels um Geld, auf die Popularisierung von Gesund- heits- und Ernährungswissen und die Förderung der Berufsbildung (Schumacher 2012, S. 296; vgl. auch Rickenbach 1960). 45 BAR E 27, 1000/721, 5859, o. S.: 1876 – Verzeichnis der ordentlichen ärztlichen Mitglieder der Untersu- chungskommission. 46 Die Kinderheilstätte in Unterägeri wurde 1881 gegründet. 1898 wurde sie um ein «Schulsanatorium» er- weitert, da Hürlimann zur Erkenntnis gelangt war, «dass nicht bloss der Körper, sondern auch der Geist sei- ner Patienten berücksichtigt werden müsse» (Arnold 1911, S. 486; vgl. auch Weber-Biehly 1911). 47 1911 würdigte die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, deren langjähriges Mitglied Hürlimann gewesen war, seine Verdienste in einem mehrseitigen Nekrolog (vgl. Arnold 1911).

199 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Schule transferiert wurde. Der Versuch, diesen Wissenstransfer zu rekonstruie- ren, kann dazu beitragen, das Verhältnis von Militär und Schule besser zu ver- stehen. In seinem Referat vor der Gemeinnützigen Gesellschaft stellte Hürlimann fest, dass der Prozentsatz der diensttauglichen jungen Männer in den Jahren 1875 bis 1879 zurückgegangen sei. Um dieses Resultat zu verdeutlichen, verglich er die Zahlen von 1875 bis 1879 mit Daten aus früheren Jahren (wobei allerdings nicht klar ist, auf welche Untersuchungen sich diese älteren Daten bezogen).48

1867 1868 1869 1870 1875 1876 1877 1878 1879

62% 68% 66% 63% 55% 57% 48% 49% 42%

Tabelle 1: «Prozentzahl der Diensttauglichen in der Schweiz»49

Hürlimann identifizierte fünf Hauptgruppen von Beeinträchtigungen und Krankheiten, die in den vergangenen Jahren zum Ausschluss vom Militärdienst geführt hätten: allen voran «ungenügend[e] körperliche Entwicklung», gefolgt von Kropf, Plattfüssen, Unterleibsbrüchen und mangelhafter Sehschärfe.50 Die Sammelbezeichnung «[m]angelhafte Körperentwicklung» bezog sich auf «die Kleinen, die Schmalbrüstigen, die Kandidaten für Lungenkrankheiten, die Schwächlichen im Allgemeinen u.s.w.».51 Ergänzend zum Vergleich über die Zeit stellte Hürlimann die verschiedenen Rekrutierungskreise einander gegenüber. Er wies darauf hin, dass sich die Resultate je nach Region unterschieden und dass diese Unterschiede kein Zufall seien. «Je einlässlicher wir uns mit den ungleichen Gesammtergebnissen der 75 Rekrutirungskreise beschäftigen, desto mehr ge- winnen wir den Eindruck, als habe man es in vielen Gegenden der Schweiz mit einer statistisch nachweisbaren Abnahme der Volkskraft zu thun.»52 Interessant ist in diesem Zusammenhang Hürlimanns Feststellung, «dass die Rekruten der Kantone Tessin und Waadt etwas früher entwickelt sind, als unsere Alpensöhne»53 – eine Feststellung, die nicht zur Mythologisierung und Idealisierung des bäuer- lichen (alpinen) Lebens passt, wie sie seit dem 18. Jahrhundert im Zuge der Al- penbegeisterung üblich war.54 Hürlimann nannte verschiedene schädliche Ein- flüsse als Gründe für die «Abnahme der Volkskraft». Als Hauptgrund sah er die

48 Hürlimann [1880], S. 11. 49 Ebd., S. 12. 50 Ebd., S. 24. Diese Aussagen basieren auf den Prüfungsergebnissen von 1878. Prozentzahlen vgl. ebd., S. 23f. 51 Ebd., S. 31. 52 Ebd., S. 40. 53 Ebd. 54 Vgl. bspw. Boerlin-Brodbeck 1998.

200 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

unzureichende Ernährung. «Wohl kein Faktor übt auf die normale Entwicklung des Menschen, auf seine körperlichen und geistigen Kräfte und seine Leistungs- fähigkeit einen grössern Einfluss aus, als die Ernährung.»55 Dem Volk fehle «im Allgemeinen eine genügende Quantität eiweisshaltiger Nahrungsmittel».56 Diesen festgestellten Mangel kontrastierte Hürlimann mit einer – zeitlich nicht bestimmten – Vergangenheit, in der «unsere Nahrungsmittel noch in Hülle und Fülle, in voller Reinheit vorhanden waren, wo die Milch, dieser Quell der Volks- wohlfahrt, selbst für den armen Mann und seine Kinder überall billig und leicht zu erhalten war».57 Hier zeigt sich ein Schweizer «Milchmythos», der eng ver- knüpft war mit der Idealisierung des alpinen Lebens.58 Im Zusammenhang mit der Milch wurde die einfache, gesunde Ernährungs- und Lebensweise der Vor- fahren beschworen. Die Vorfahren wurden dabei gleichgesetzt mit Kuhhirten, die auf der Alp lebten. Der homo alpinus der Schweizer Berge war als literarische Figur – und als Pendant zum «guten Wilden» – im Kontext der Alpenbegeisterung entstanden. Er galt als naturverbunden, unverdorben, urwüchsig, frei. Mit dem Aufkommen von zahlreichen Schweizer-, Alpen- und Hirtengeschichten wurden die von Milch und Käse lebenden, steinstossenden und Kühe weidenden Hirten der Schweizer Alpen zum Allgemeinplatz.59 Die Milchwirtschaft entwickelte sich allerdings erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Hauptzweig der schweizerischen Landwirtschaft – erst damit wurde die Milch zu einem Nahrungs- mittel für alle Schichten, vorher war sie ein rarer und teurer Artikel.60 Hürlimann stellte nicht bloss einen Nahrungsmittelmangel fest, sondern auch einen Mangel an Wissen. «Unserem Volke fehlt [ … ] die Kenntniss eines richtigen Ernährungsplanes und des innern Werthes der Nahrungsmittel.»61 Als weitere Ursachen für die rückläufige Zahl der diensttauglichen jungen Männer nannte er den Alkoholismus, besonders den exzessiven Schnapskonsum, ungesunde Wohn- verhältnisse, unzweckmässige Kleidung und den schädigenden Einfluss der Schule auf die Gesundheit der Kinder.62 Als «unpassend[e] Kleidungsstücke» befand Hürlimann insbesondere «schlecht geschnitten[e] Schuhe, stramm

55 Hürlimann [1880], S. 41. 56 Ebd., S. 43. 57 Ebd., S. 41. 58 Die Idealisierung des alpinen Lebens war zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch ein beliebtes Motiv in den Lehrbüchern für den «Antialkoholunterricht» (vgl. Hofmann 2014, S. 52; Hofmann 2015b, S. 107). 59 Weishaupt 1992, S. 21, 25f. 60 Im Zuge der sog. zweiten Agrarrevolution wurde die Milchproduktion bis 1900 massiv gesteigert. Der Kuh- bestand wurde erhöht, die Milchleistung pro Tier nahm zu. Diese Produktionssteigerung war verbunden mit einer effizienten Versorgung durch Milchzentralen und Molkereien (Hauser 1989, S. 175, Stadler 2009, S. 577). 61 Hürlimann [1880], S. 43. 62 Vgl. ebd., S. 44f., 47f., 49.

201 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

anliegend[e] Strumpfbänder, einschneidend[e] Leibgürtel und die Blutzirkulation erschwerend[e] Halsbinden und Hemdkragen».63 Diese Kleidungsstücke hätten «Verstümmelungen, Verkrümmungen der Zehen, der Füsse, Unterleibsbrüche, Verdauungsleiden, rasches Anschwellen der Kröpfe, Nervenleiden aller Art» zur Folge.64 Der gesundheitsschädigende Einfluss der Schule wurde seit den 1860er- Jahren wissenschaftlich erforscht. Ärzte untersuchten viele Tausend Schulkinder und sammelten so eine grosse Zahl von statistischen Daten. Wie das Militär wurde auch die Schule zu einem wichtigen Experimentierfeld.65 Auf der Grund- lage der statistischen Daten wurden verschiedene Leiden als «Schulkrankheiten» identifiziert. Damit waren Krankheiten gemeint, die durch den Schulbesuch ver- ursacht würden. Insbesondere Augenerkrankungen (allen voran Kurzsichtigkeit) und Skoliose (seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule) galten als «Schulkrank- heiten», ausserdem Kropf, Schwerhörigkeit, Lungentuberkulose, Kopfschmerzen, Nervosität, Epilepsie, Onanie, Nasenbluten, Durchblutungs- und Verdauungsstö- rungen.66 Die Ärzte gingen sogar so weit, die Schule mit dem Krieg zu vergleichen. «Bringt die Schule nicht gleich augenscheinlich tödtliche Verwundungen und akute Krankheiten wie der Krieg, so hat sie doch darin sehr viel Aehnlichkeit mit einem solchen, dass sie bis gegen ihr Ende hin einen stetig zunehmenden Auf- wand an geistiger Kraft von Seite der in der Entwicklung begriffenen jungen Leute erfordert, wobei es an Gefahren körperlicher Schädigung, an chronischen Verwundungen gleichsam, nicht mangelt.»67 Hürlimann war mit den wissen- schaftlichen Studien zu den «Schulkrankheiten» vertraut. «Ueber den Einfluss der Schule auf die Gesundheit des Schülers ist in den letzten Jahren manch treffliches Wort geschrieben worden.»68 Indem er auf den schädigenden Einfluss der Schule verwies, bezog Hürlimann schulhygienisches Expertenwissen mit ein, um die Abnahme der Diensttauglichkeit zu erklären. Dieses Expertenwissen war zuerst durch augenärztliche Untersuchungen generiert worden. Die Augenärzte hatten in den 1860er-Jahren begonnen, den Einfluss der Schule auf die Gesundheit (in diesem Fall: auf die Sehschärfe) der Kinder zu erforschen.69 Grosse Bekanntheit erlangte eine Studie des Breslauer Augenarztes Hermann Cohn (1838 – 1906).70

63 Ebd., S. 48. 64 Ebd. 65 Vgl. Imboden 2003, S. 38 – 40; Hofmann 2015a. 66 Vgl. bspw. Baginsky 1877, S. 389 – 490. 67 Zürcher 1876, S. 7f. 68 Hürlimann [1880], S. 49. 69 Imboden 2003, S. 141. Die Augenheilkunde hatte sich früh als medizinisches Spezialfach etabliert und ent- wickelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts v.a. in der Diagnostik stetig weiter (vgl. Eckart 2011, S. 152f.). 70 Vgl. Cohn 1867. Cohn war nicht der Erste, der Augenuntersuchungen an Schulkindern durchführte. Er galt jedoch als der Erste, «der eine zu allgemeinen Schlüssen genügend grosse Zahl von Schülern untersuchte» (Siegrist 1902, S. 47).

202 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Cohn hatte 1865/66 die Augen von über 10 000 Schulkindern untersucht. Die Auswertung seiner Daten liess ihn zum Schluss kommen, dass die Kinder mit fortschreitendem Alter und entsprechend höherer Klassenstufe zunehmend zu Kurzsichtigkeit neigten.71 Cohn gilt als Pionier der Augenuntersuchungen an Schülerinnen und Schülern.72 Seine Resultate stiessen auf breites Interesse und wurden international rezipiert. In den folgenden Jahrzehnten wurden zahlreiche Studien in Angriff genommen, die Cohns Arbeit zum Vorbild nahmen und seine Resultate bestätigten. Ein Beispiel ist die Studie des Augenarztes und späteren Berner Professors für Augenheilkunde Ernst Pflüger.73 Er hatte im Sommer 1875 die Augen von 1687 Luzerner Schulkindern untersucht.74 Seine Ergebnisse er- schienen 1876 im Druck. Im selben Jahr wurde er – wie Hürlimann – Mitglied der «sanitarischen» Untersuchungskommission, die für die «sanitarischen» Re- krutenprüfungen zuständig war.75 Pflügers Forschungsarbeit bestätigte «[d]en Satz, dass die Kurzsichtigkeit von den niedern [Schul-]Classen zu den höhern an Zahl zunehme, [ … ] in vollem Masse».76 Als Hauptursache identifizierte Pflüger die «ungenügende Beleuchtung» in den Schulzimmern.77 Auch zu anderen «Schulkrankheiten» wurden wissenschaftliche Studien durchgeführt. Eine viel beachtete und breit rezipierte Forschungsarbeit zur Skoliose war die Untersu- chung des Zürcher Arztes Hans Conrad Fahrner (1822 – 1872), die 1865 unter dem Titel Das Kind und der Schultisch erschien.78 Fahrner hatte Schülerinnen und Schüler untersucht und vermessen, während sie schrieben, und war zum Ergebnis gelangt, dass viele Kinder permanent eine schlechte Körperhaltung einnähmen – bedingt hauptsächlich durch fehlerhaft konstruiertes Schulmobiliar – , was zu Skoliosen führe. Alfred Zürcher (1838 – 1925), Arzt in Aarau und Mitglied der «sanitarischen» Untersuchungskommission,79 erklärte die Entstehung von Sko- liosen in der Schule 1875 folgendermassen: «Einseitiger anhaltender Muskelzug auf gewisse Partien des noch im Wachsthum befindlichen Skelettes bewirkt eine Verziehung desselben nach dem Angriffspunkte der Kraft. Während der Schulzeit

71 Vgl. Cohn 1867, S. 15, 18. 72 Hahn 1994, S. 25. 73 Vgl. Pflüger [1876]. Weitere Studien vgl. bspw. Erismann 1871; Dor 1874; Emmert 1877. 74 Pflüger [1876], S. 2. Im selben Jahr untersuchte Pflüger auch die Augen von 529 Lehrern, die zur Rekruten- schule angetreten waren, und verglich die Häufigkeit der Kurzsichtigkeit zwischen Deutsch- und West- schweizern (vgl. o.A. 1876b, o. S.). Solche Untersuchungen wurden angestellt, um herauszufinden, das Le- sen welchen Schrifttyps – Antiqua oder Fraktur – für die Augen verträglicher sei. 75 BAR E 27, 1000/721, 5859, o. S.: 1876 – Verzeichnis der ordentlichen ärztlichen Mitglieder der Untersu- chungskommission. 76 Pflüger [1876], S. 4; Ergänzung M. H. 77 Ebd., S. 5. 78 Vgl. Fahrner 1865. 79 BAR E 27, 1000/721, 5859, o. S.: 1875 – Verzeichnis der ordentlichen ärztlichen Mitglieder der Untersu- chungskommission.

203 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

ist dieser Angriffspunkt, hauptsächlich beim Schreiben und Zeichnen, die Wir- belsäule, die in ihrem Brusttheil durch Höherstellung der rechten Schulter, na- mentlich an zu hohen Tischen, nach rechts verzogen wird. Die unzweckmässige Konstruktion der alten Schultische, die eine gerade Haltung der Kinder wegen des zu grossen horizontalen und vertikalen Abstandes zwischen Sitz- und Tischbrett verunmöglichen, ist häufig genug die Veranlassung zu Schiefwuchs, hoher Schul- ter, Krümmung der Wirbelsäule nach rechts, und in bedeutenderen Graden der Ausgleichskrümmung in ihrem untern Theile nach links, so dass eine vollständi- ge seitliche Sförmige Verkrümmung, eine Skoliose, entsteht. Auf dem Lande begegnet man noch fast durchweg der alten Schulbank und damit auch allen Folgen ihrer verderblichen Einflüsse auf den jugendlichen Körper.»80 Als Entde- cker des «Schulkropfs» galt der Neuenburger Arzt Louis Guillaume (1833 – 1924).81 Er hatte über 700 Schulkinder untersucht und bei mehr als der Hälfte von ihnen einen Kropf diagnostiziert, «obwohl in Neuenburg sonst der Kropf selten vorkom- men soll».82 Als Hauptursache wurden – wie für die Skoliose – auch für den «Schulkropf» «unzweckmässige Schultische» gesehen, «besonders solche, die keine, oder doch keine guten Lehnen haben».83 «Wenn [ … ] das Kind vom Sitzen ermüdet ist, so lässt es den Kopf vorn überhängen, krümmt den Rücken und übt so auf die vielen grossen Blutadern, die am Halse sich finden, einen schädlichen Druck aus. Es entsteht daher eine Stauung im Halse und ganz besonders in der vor der Luftröhre sitzenden Schilddrüse, die in Folge dessen allmälig immer mehr anschwillt, d. h. zum Kropf wird.»84 Hürlimann verknüpfte in seinem Referat an der Jahresversammlung der Gemeinnützigen Gesellschaft 1880 die beiden Felder Militär und Schule mitein- ander.85 Er stützte seine Argumentation auf die Ergebnisse der Studien zu den «Schulkrankheiten» ab und stellte zugleich eine Verbindung zum gesundheitli- chen Zustand der Rekruten her. «Manche Rückgratsverkrümmung, mancher Kropf, viele frühzeitig schwach gewordene Augen unserer Rekruten lassen sich zurückführen auf die Zeiten des Schulbesuches.»86 Hürlimann sah die Gründe

80 Zürcher 1876, S. 9. 81 Vgl. bspw. o.A. 1872, S. 92; Demme 1878, S. 354; Chatelanat 1880, S. 114. 82 Fankhauser 1879, S. 199. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Vgl. auch Hürlimann 1887. 86 Hürlimann [1880], S. 49. Ein Zusammenhang zwischen der «sehr grosse[n] Zahl» an kurzsichtigen Rekru- ten im Kanton Basel-Stadt (13,8%) und dem Schulbesuch wurde auch in den vom Eidgenössischen Statisti- schen Bureau veröffentlichten Mittheilungen betreffend die ärztlichen Untersuchungen bei der Rekruti- rung für die Jahre 1878 und 1879 hergestellt. «[D]a dieser Kanton bei der pädagogischen Prüfung meist oben an steht, so bekommen wir durch diese Angabe einen Wink über den Zusammenhang der Kurzsich- tigkeit mit der besuchten Schule» (o.A. 1879, S. 6f.).

204 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

für das schlechte Abschneiden der Rekruten bei den «sanitarischen» Untersu- chungen nicht zuletzt in der Schule. Mit anderen Worten: Er identifizierte die Schule als Teil des Problems. Die Lösung für dieses Problem fand sich interes- santerweise wiederum in der Institution Schule.

3. Hygieneunterricht und «Schüleruntersuchungen», oder: Die Schule als Lösung Nachdem er die schädlichen Einflüsse identifiziert hatte, die zu einer Abnahme der Wehrfähigkeit führten, kam Hürlimann auf die zu ergreifenden Massnahmen zu sprechen. Als wichtigste Massnahme «zur Hebung der Volkskraft» erachtete er, die Bevölkerung zu einer gesunden Lebensweise zu erziehen.87 Dies sollte via Schu- le geschehen, indem die Kinder und Jugendlichen über die Grundsätze der Hygi- ene unterrichtet würden. «Die Einführung der Hygieine [sic] als Unterrichtsfach in den Kantonsschulen und den Seminarien der Lehrer und Lehrerinnen, sowie die Aufnahme leicht verständlicher Kapitel ‹über die wichtigsten Lebensbedingungen› in die Lehrbücher der Sekundar- und den obern Volksschulen ist dringendes Bedürfnis.»88 Wie ein solcher «Gesundheits-Unterricht für die Schule» ausgestal- tet sein sollte, hatte Hürlimanns Kollege Zürcher bereits 1875 in einem Vortrag in Aarau erläutert.89 Auch er nahm dabei Bezug auf die Armee, allerdings nicht auf die schweizerische, sondern auf die englische und die französische. Für England und Frankreich zeigten sich gegenteilige Ergebnisse, was die Entwicklung der «Volkskraft» betraf, das heisst, diese nahm zu. «Die letzten Jahrzehnde [sic] haben uns herausgerechnet, dass die Sterblichkeit in den stehenden Heeren [ … ] sich ver- mindert hat.»90 Englische und französische «Riesenstädte» hätten gegenwärtig «eine kleinere jährliche Sterblichkeitsziffer, als der Kanton Aargau», es rühre «dies im Allgemeinen von günstigeren Lebensbedingungen und von einer intensivern Pflege der Prophylaxe».91 Diese Feststellung ist insofern bemerkenswert, als die Grossstädte in jener Zeit als äusserst bedrohlich wahrgenommen wurden. Kein Hygieniker unterliess es, auf die gesundheitsschädigenden Einflüsse von Urbani- sierung und Industrialisierung hinzuweisen. Die grossen Städte galten als «Grab des Menschengeschlechts».92 Um den allgemeinen Gesundheitszustand der Be- völkerung auch in der Schweiz zu verbessern, plädierte Zürcher für die Einführung von Hygieneunterricht in den Schulen. Die von ihm angeführten Wissensbestän-

87 Hürlimann [1880], S. 59. 88 Ebd.; Hervorhebung im Original. «Hygieine» war eine alternative Schreibweise des Wortes «Hygiene». 89 Vgl. Zürcher 1876. 90 Ebd., S. 4. 91 Ebd., S. 5. 92 Witzler 1995, S. 163f.; vgl. auch Hofmann 2011; Sarasin 2011.

205 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

de, die es zu vermitteln galt, lassen sich auf die bei den «sanitarischen» Rekruten- prüfungen eruierten Beeinträchtigungen und die dafür verantwortlich gemachten schädlichen Einflüsse zurückführen. Die Kinder sollten das nötige Wissen erhal- ten, um negative Einflüsse künftig vermeiden und Krankheiten und Schädigun- gen vorbeugen zu können. Im Hygieneunterricht sollte die «Entwicklung des Skelettes» gelehrt und sollten die Kinder gleichzeitig an eine korrekte Körperhal- tung gewöhnt werden.93 «Wir wissen, welch’ grosse Mühe man sich in monarchi- schen Staaten gefallen lässt, dem Soldaten eine militärische Haltung anzugewöhnen, und wie wenig wir es bei unsern Rekruten dazu bringen. Man muss eben die Schu- le dafür benutzen und ein Alter für die Angewöhnung einer bestimmten Körper- haltung wählen, wo nicht bloss ein energischer Wille mehr durchsetzt als später, sondern bei weichen und gefügigen Organen eine gewissen Muskeltendenz auch leichter bleibend erworben wird.»94 Eine korrekte Haltung und das Wissen darum sollten nicht nur Skoliosen, sondern auch Plattfüssen vorbeugen.95 Bei der «Be- trachtung des Skelettes» lernten die Kinder ausserdem jene «Organe an den Kie- fern kennen, die es mit der Vorbereitung der Speisen zur Verdauung zu thun haben, die Zähne».96 «Ihren Bau, die Reihenfolge ihres Erscheinens im Milchgebiss und den Wechsel für das bleibende Gebiss sollte Jedermann kennen. [ … ] Durch gute Pflege der Zähne, besonders ihre Reinhaltung, können wir ihr frühzeitiges Verder- ben verhüten.»97 Ein Thema, das naheliegenderweise hier anschloss, war die Er- nährung – einschliesslich der Alkoholprävention.98 Der Hygieneunterricht sollte «das Augenmerk der Jugend auf eine zweckmässige Nahrung richten und sie vor dem [ … ] Genuss des Alkohols warnen».99 Als weitere Inhalte nannte Zürcher die «Reinhaltung der Luft» (in Schulzimmern und Wohnräumen), «körperliche Ruhe und Schlaf», Hautpflege und Bekleidung.100 Und auch in «Bezug auf die Dietätik der Augen» lasse sich im Gesundheitsunterricht «[m]anches anbringen».101 «Ueb- le Gewohnheiten der Kinder können abgestellt werden, so z. B. das Zudrücken der Augen von rückwärts zur Ueberraschung, was schon plötzliche Erblindung zur Fol- ge gehabt hat, die Einwirkung grellen Lichtes auf die Nervenhaut der Augen u.s.f. Rauch, Staub und Schmutz geben Anlass zu verschiedenen Augenkrankheiten, die

93 Zürcher 1876, S. 7. 94 Ebd., S. 10. 95 Ebd., S. 12f. 96 Ebd., S. 14. 97 Ebd. 98 Vgl. ebd., S. 18 – 25. 99 Ebd., S. 24. 100 Vgl. ebd., S. 15 – 18, 26 – 28, 30 – 35. 101 Ebd., S. 30.

206 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

verhütet werden können.»102 Ergänzend zum Hygieneunterricht wurde auch die Einführung von Koch- und Haushaltungskursen für die Mädchen gefordert.103 Die zukünftigen Ehefrauen und Mütter sollten hier die Zubereitung gesunder Nah- rung lernen, um die künftigen Soldaten optimal versorgen zu können. Nebst dem Hygieneunterricht bezogen sich auch weitere Massnahmen, die Hürlimann in seinem Referat von 1880 zur «Hebung der Volkskraft» vorsah, auf die Schule. Die Unterrichtsräume und das Schulmobiliar sollten «mit den An- forderungen der Gesundheitspflege in Uebereinstimmung gebracht werden».104 Dies war eine weitverbreitete schulhygienische Forderung, die sich aus den Er- gebnissen der wissenschaftlichen Studien zu den «Schulkrankheiten» ableitete.105 Hürlimann plädierte ausserdem für «eine periodisch wiederkehrende sanitarische Inspektion der Schulen» und für «zweckmässig geleiteten Turn- und Schwimmunterricht».106 Mit «sanitarischer Inspektion» war gemeint, dass in regelmässigen Abständen durch medizinisches Fachpersonal überprüft würde, ob die Schulgebäude und ihre Einrichtungen hygienischen Vorgaben entsprä- chen.107 Turnunterricht für die Knaben war seit 1874 in der Militärorganisation festgeschrieben. Die «männliche Jugend» sollte «vom 10. Altersjahr bis zum Austritt aus der Primarschule [ … ] durch einen angemessenen Turnunterricht auf den Militärdienst vorbereitet werde[n]».108 Das Knabenschulturnen wurde vom Eidgenössischen Militärdepartement finanziert. Für die Mädchen war das Turnen auf eidgenössischer Ebene lediglich empfohlen – in einigen Kantonen hingegen ebenfalls obligatorisch.109 Eine weitere Forderung der Ärzte, die sich ebenfalls auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien stützte, war die gesundheitliche Überwachung der Schulkinder. Die «sanitarische Inspektion» sollte nicht bloss die Schulgebäude und -einrichtungen betreffen, sondern auch die Körper der Schülerinnen und Schüler. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert sollten alle Schweizer Kinder, die schulpflichtig wurden, medizinisch untersucht werden. Zu wissenschaftlichen Zwecken war zuvor immer nur eine ausgewählte Anzahl Kinder getestet worden.

102 Ebd. 103 Vgl. bspw. Chatelanat 1880, S. 112; Bossard 1880, S. 698. 104 Hürlimann [1880], S. 60. 105 Vgl. bspw. Pflüger [1876], S. 8f. 106 Hürlimann [1880], S. 60. 107 Vgl. bspw. Baginsky 1877, S. 493 – 502. 108 O.A. 1874, § 81. 109 Vannod 1908, S. 630; Späni 1997, S. 49. Der Turnunterricht der Mädchen wurde aber im Gegensatz zu dem der Knaben nicht mit öffentlichen Geldern unterstützt. Ungeachtet einer bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzenden Diskussion über das Mädchenturnen, erfolgte die rechtliche Gleichstellung der Mädchen im Turn- und Sportbetrieb der Schulen erst in den frühen 1970er-Jahren (Späni 1997, S. 49; Bus- sard 2008, S. 412).

207 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Es wurden Schulärzte angestellt – zuerst in den grösseren Städten, später auch in kleineren Gemeinden – , die die Untersuchungen durchführten.110 Diese «Schüleruntersuchungen» (so der zeitgenössische Begriff) folgten demselben Muster wie die «sanitarischen» Rekrutenprüfungen. Der allgemeine Gesund- heitszustand der Kinder wurde untersucht, ihre Sehschärfe und ihr Hörvermögen wurden getestet.111 Die Sehschärfe der Kinder wurde aus einer Entfernung von zehn Metern bestimmt, anhand von Tafeln, auf denen verschieden grosse E- Haken abgebildet waren.112 Die hierbei verwendeten Sehprobentafeln waren diejenigen von Pflüger, die ab 1912 auch bei den Rekrutenprüfungen zum Einsatz kamen.113 Der Sehtest verlief somit in der Schule und im Militär nach gleichem Muster, was insofern bemerkenswert ist, als dieser Test und damit auch das Konzept von Sehschärfe eng verbunden ist mit einem kulturellen Umfeld, in dem Lesen (Bildung) eine zentrale Rolle spielt. Es galt, Buchstaben von einer Tafel zu entziffern. Die Distanz von fünf bis zehn Metern zwischen den zu Untersuchen- den und der Tafel entsprach dabei dem Abstand von den Bankreihen zur Wand- tafel in einem Schulzimmer. Es wäre denkbar oder sogar naheliegend, dass im Militär im Rahmen eines Sehtests ganz andere Dinge geprüft würden als in der Schule, zum Beispiel das Erkennen von Farben oder peripheres Sehen. Das Hörvermögen der Schulkinder wurde wie bei den Rekrutenprüfungen mittels «betonte[r] Flüstersprache» getestet.114 Eine «Hörweite» von sechs Metern wurde für Unterrichtszwecke als «praktisch genügend» angesehen, bei «weniger als 3 Meter[n] Hördistanz» sollten die Kinder «nahe beim Lehrer sitzen».115 Die Gren- ze zur Schwerhörigkeit lag nicht nur im Militär, sondern auch in der Schule bei einem Meter «Hörweite».116 Bemerkenswert ist auch das im Zusammenhang mit den «Schüleruntersuchungen» verwendete Vokabular. Der obligatorische Schul- besuch wurde «Dienstzeit» genannt.117 Die neu in die Schule eintretenden Kinder wurden als «Schulrekruten» und «kleine Soldaten» bezeichnet.118 Anders als im Militär waren hier Knaben und Mädchen gemeint. Wie die Rekruten sollten mit den Untersuchungen auch die Schulnovizen in zwei Kategorien eingeteilt werden:

110 Vgl. Imboden 2003; Hofmann 2007; Hofmann 2008a; Hofmann 2008b. 111 Vgl. bspw. Müller 1900, S. 17. 112 Vgl. o.A. [1901a], S. 14. 113 StABE BB III b 3379, o. S.: [1900] – Sehproben für die Primarschüler nach Prof. Dr. E. Pflüger. Diese Tafeln waren vom Eidgenössischen Statistischen Bureau für die Untersuchungen der Schulkinder vorgeschlagen worden (o.A. 1901b, S. 5). 114 O.A. [1901a], S. 6. 115 Ebd., S. 7. 116 Vgl. o.A. [1901a], S. 7. 117 Vgl. Siegrist 1907, S. 434. 118 Vgl. bspw. Hürlimann 1887, S. 6; Müller 1899, S. 59; Müller 1900, S. 19, 22f.; Laubi 1903, S. 433; o.A. 1906, S.I; Siegrist 1907, S. 434; Laubi 1916, S. 1697.

208 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

in taugliche und untaugliche. Im Unterschied zum Militär wurden Letztere nicht einfach ausgesondert. Im Gegenteil, die Institution Schule sollte um ihre Gesund- heit besorgt sein. Ergänzend zu den Prophylaxemassnahmen für alle Kinder sollte die Schule für diese Kinder spezielle, unterstützende oder therapeutische Massnahmen ergreifen. So sollten etwa Schülerinnen und Schüler, «welche Flüstersprache erst unter 1 Meter Hördistanz verstehen, [ … ] besondere Nachhül- fe beim Unterricht erhalten und speciell beachtet werden».119 Für stark kurzsich- tige Schulkinder wurde die Einrichtung von Sonderklassen gefordert. Kinder, die an ausgeprägten Skoliosen litten, sollten ebenfalls spezielle Klassen besuchen, und ausserdem sollten für sie besondere Turnkurse angeboten werden.120 Im Laufe der Zeit wurde via Schule ein umfangreicher Sozialfürsorgeapparat aufge- baut. Die ärztlichen Untersuchungen wurden auf weitere Schulstufen ausgedehnt – vom Kindergarten bis zum Gymnasium – , um eine kontinuierliche gesund- heitliche Überwachung sicherzustellen. Den Schulärzten wurde Hilfspersonal zur Seite gestellt. Zu den Aufgaben der «Schulschwestern» gehörten auch Hausbesuche. Diese eröffneten neue Wege der Sozialfürsorge und erweiterten damit den ärztlichen Zuständigkeits- und Einflussbereich in die Familien der Kinder hinein. Die Schulärzte richteten ihr Augenmerk auf immer «neue» Krankheiten und führten weitere Diagnoseverfahren ein. Besondere Beachtung schenkten sie der Tuberkulose. Im Gegensatz zu Kurzsichtigkeit und Skoliose handelte es sich hierbei allerdings nicht um eine Erkrankung, an der Kinder häufig litten. Die Tuberkulose war nach 1900das dominierende Problemfeld der kommunalen Gesundheitspolitik, bedingt durch die hohe Sterblichkeitsrate bei erkrankten Erwachsenen.121 Die Ärzte wiesen auf die Bedeutsamkeit einer Früh- erkennung der Krankheit bei den Schülerinnen und Schülern hin und betonten die Wichtigkeit der Aufklärung und Prophylaxe. Zu den Massnahmen zur Ver- hütung der Tuberkulose zählten der Gebrauch von Spucknäpfen in der Schule, die Reduktion der Lektionenzahl und die Einführung von «Ferienkolonien»,122 auch Tuberkulose-Hauttests und «Röntgendurchleuchtungen» des Thorax ge- hörten – insbesondere in den Städten – bald zum Schulalltag.123 Die gesunden Kinder rückten als potenziell kranke Erwachsene in den Fokus der ärztlichen Aufmerksamkeit. Für die Knaben war besonders die künftige Wehrtauglichkeit von Bedeutung. Es sollte verhindert werden, dass sie «Kandidaten für Lungen-

119 O.A. [1901a], S. 7. 120 Vgl. zu diesen und weiteren Massnahmen Hofmann 2015a. 121 Vgl. bspw. Corti 2013. 122 «Ferienkolonien» waren Ferienlager, die in ländlicher Umgebung für (städtische) Kinder im schulpflichti- gen Alter durchgeführt wurden (vgl. bspw. Bion 1879). 123 Vgl. Hofmann 2008b, S. 205 – 208.

209 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

krankheiten» würden, wie Hürlimann die körperlich ungenügend Entwickelten, die vom Militärdienst ausgeschlossen wurden, bezeichnet hatte.

4. Fazit: Wissenstransfer zwischen Militär und Schule Mit der Durchsetzung der allgemeinen (individuellen) Wehrpflicht wurden auch die «sanitarischen» Untersuchungen für alle Schweizer Männer im diensttaugli- chen Alter obligatorisch. Diese Untersuchungen wurden ab 1875 von medizini- schen Experten nach einheitlichen Kriterien durchgeführt, was die Produktion eines umfangreichen Datenkorpus ermöglichte, das sich statisch auswerten liess. Auf diesem Weg gewannen die Ärzte Wissen zum gesundheitlichen Zustand der jungen männlichen Bevölkerung – Wissen über körperliche Beeinträchtigungen und deren Ursachen. Festgestellte Mängel waren unter anderem verminderte Seh- schärfe, Kropf und Skoliose. Als Ursachen wurden unzureichende Ernährung, Al- koholismus, ungesunde Wohnverhältnisse, unzweckmässige Kleidung und der schädliche Einfluss der Schule identifiziert. Die Schule galt somit als mitverant- wortlich für die schlechten Ergebnisse der Rekruten bei den «sanitarischen» Un- tersuchungen. Wie das Militär stellte auch die Schule in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein wichtiges wissenschaftliches Experimentierfeld dar. Gross angelegte Studien hatten seit den 1860er-Jahren verschiedene «Schulkrankhei- ten» nachgewiesen, die mit fortschreitendem Alter der Kinder und entsprechend höherer Klassenstufe zunähmen. Zu diesen Krankheiten zählten Kurzsichtigkeit, Kropf und Skoliose – dieselben Beeinträchtigungen, die im Rahmen der Rekru- tenprüfungen diagnostiziert wurden. Die «Waffen» zur Bekämpfung dieser Män- gel fanden die Ärzte interessanterweise wiederum in der Schule. Über die Institution Schule konnten, bedingt durch die allgemeine Schulpflicht, nahezu alle Kinder im Alter von sieben bis fünfzehn Jahren und damit – in einer langfris- tigen Perspektive – die gesamte Bevölkerung (die künftigen Soldaten, die zukünf- tigen Ehefrauen und Mütter) erreicht werden. Durch Hygiene- und Turnunterricht, Koch- und Haushaltungskurse, eine gesundheitsgemässe Gestaltung und «sani- tarische» Inspektion der Schulgebäulichkeiten und eine gesundheitliche Überwa- chung der Kinder sollten «Schulkrankheiten» – und damit gleichzeitig «Militärkrankheiten» – verhindert werden. Die verschiedenen Massnahmen, al- len voran die Inhalte des Hygieneunterrichts und die Konzeption der «Schüler- untersuchungen», lassen sich zurückführen auf die Rekrutenprüfungen und ihre Ergebnisse. Im Hygieneunterricht sollten die Kinder etwa lernen, was eine kor- rekte Körperhaltung sei, um Skoliosen und Plattfüssen vorzubeugen, oder wie sie ihre Augen vor Schädigungen schützen könnten. Im Rahmen der schulärztlichen Untersuchungen wurde – wie auch bei den Rekrutenprüfungen – der allgemeine

210 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Gesundheitszustand untersucht, und das Seh- und Hörvermögen wurden getes- tet. Dabei kamen dieselben Diagnosemethoden und -hilfsmittel zum Einsatz. Das durch die «sanitarischen» Untersuchungen gewonnene Wissen lieferte die Grund- lage für die schulhygienischen Massnahmen. Die Ausgestaltung der Massnahmen war, mit anderen Worten, das Resultat eines Wissenstransfers zwischen Militär und Schule. Die «Schnittstelle», die diesen Transfer ermöglichte, war die Hygie- nebewegung. Ihre wichtigsten Vertreter waren die Ärzte, sie bildeten den «Stoss- trupp» der Bewegung und wirkten federführend in der Verbreitung von hygienischen Erkenntnissen in der Bevölkerung.124 Diese Erkenntnisse lieferte die Hygiene als neues medizinisches Spezialgebiet.125 Die Experimentierfelder Militär und Schule waren für die Vertreter der Hygienebewegung von grossem Interesse. Die Ergebnisse der «sanitarischen» Rekrutenprüfungen und der wis- senschaftlichen Untersuchungen an Schulkindern trugen zur Erweiterung des hygienischen Wissens bei. Medizinische Experten wie Hürlimann, Pflüger oder Zürcher waren sowohl mit dem Militär als auch mit der Schule vertraut, und sie waren an der Generierung von Wissen in beiden Feldern beteiligt. Durch sie wur- de dieses Wissen auch zwischen den Feldern transferiert. Dies zeigt sich wohl am deutlichsten an den «sanitarischen» Untersuchungen. Die Ärzte forderten medi- zinische Kontrollen für die neu in die Schule eintretenden Kinder und gestalteten diese nach dem Vorbild der Rekrutenprüfungen. Letztere erhielten damit quasi eine zeitliche Vorverlagerung, was die Knaben betraf. Das Wissen, das die Ärzte (etwa als Mitglieder der «sanitarischen» Untersuchungskommission) im militä- rischen Kontext erlangt hatten, transferierten sie in den Kontext der Schule. Wissenstransfer ist aber kein statischer, sondern ein dynamischer Prozess. Wissen, das in einen neuen Kontext transferiert wird, wird hier gleichzeitig transformiert und den neuen Umständen angepasst. Was das Militär betrifft, veränderten sich die «sanitarischen» Untersuchungen im Laufe der Zeit nur sehr geringfügig. Aktuell wird immer noch der gesundheitliche Allgemeinzustand der Rekruten untersucht, ihre Grösse gemessen, ihre Sehkraft und ihr Hörvermögen werden getestet.126 Die einzigen Neuerungen sind ein Elektrokardiogramm, das bei jedem Stellungspflichtigen angefertigt wird, und ein Lungenfunktionstest,

124 Mesmer 1982, S. 471. 125 In Europa kamen Ideen von einer wissenschaftlichen Hygiene um 1850 auf. Der Heidelberger Internist Friedrich Oesterlen (1812 – 1877) unterschied in seinem Handbuch der Hygiene (1850) eine wissenschaftli- che Seite der Hygiene von einer praktischen. Als eigentlicher Begründer der Hygiene als Disziplin der Me- dizin zur Erforschung und Verbesserung der natürlichen Lebensumwelt des Menschen gilt Max von Pet- tenkofer (1818 – 1901). Er besetzte 1865 in München den ersten Lehrstuhl für Hygiene im deutschsprachi- gen Raum (Eckart 2011, S. 115f.). 126 Vgl. o.A. 2014, S. 8f.

211 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

der bei «entsprechender medizinischer Fragestellung» durchgeführt wird.127 Frauen, die sich freiwillig zum Militärdienst melden, unterziehen sich heute der gleichen Tauglichkeitsabklärung wie die Männer.128 Im Gegensatz zur Armee wurden in der Schule von Beginn an auch die weib- lichen «Rekruten» untersucht. «Untaugliche» wurden hier nicht einfach ausge- sondert, sondern für ihre Gesundheit sollte gesorgt werden, damit sie ihre «Dienstzeit» absolvieren konnten. Im schulischen Kontext wurden die medizini- schen Kontrollen und Massnahmen im Verlauf des 20. Jahrhunderts weiterent- wickelt. Die Schularztstellen wurden zu schulärztlichen Diensten ausgebaut, Schulzahnkliniken und schulpsychologische Beratungsstellen wurden eingerich- tet. Das Ergebnis dieses Prozesses war eine umfassende gesundheitliche Über- wachung aller schulpflichtigen Kinder, die in hohem Mass zur Medikalisierung der Bevölkerung beitrug.129

Bibliografie

Quellen

Ungedruckte Quellen Bundesarchiv, Bern (BAR) BAR E 27, 1000/721, 5859 – Rekrutierung. Sanitarische Untersuchungskom- missionen (1875 – 1957). Staatsarchiv Bern (StABE) StABE BB III b 3379 – Schularzt 1903 – 1906/1932.

Gedruckte Quellen Arnold, C[arl]: Dr. med. Josef Hürlimann †. In: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, 11 (1910). Zürich: Zürcher & Furrer 1911, S. 485 – 491. Baginsky, Adolf: Handbuch der Schul-Hygiene. Berlin: Denicke’s 1877. Bion, Walter: Ueber Ferienversorgung erholungsbedürftiger Kinder. Zürich: Zürcher & Furrer 1879.

127 Ebd., S. 8. Auf freiwilliger Basis können die Rekruten ausserdem eine laborchemische Blutuntersuchung vornehmen und sich gegen Starrkrampf und Diphtherie, Kinderlähmung, bakterielle Hirnhautentzündung und Masern-Mumps-Röteln impfen lassen (ebd., S. 8f.). 128 Fuhrer/Haltiner 2011, S. 224. 129 Vgl. Hofmann 2016.

212 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Bossard, G.: Protokoll der Verhandlungen der Schweizerischen Gemeinnützi- gen Gesellschaft an der 58. Jahresversammlung, den 21. und 22. September 1880, in Zug. In: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, 19 (1880), S. 681 – 712. Chatelanat, A[rmand]: Militärtauglichkeit und Volksernährung. In: Zeitschrift für schweizerische Statistik, 16 (1880), S. 112 – 115. Cohn, Hermann: Untersuchung der Augen von 10 060 Schulkindern, nebst Vorschlägen zur Verbesserung der den Augen nachtheiligen Schuleinrich- tungen. Eine ätiologische Studie. Leipzig: Fr. Fleischer 1867. Demme, R[udolf]: Die Krankheiten der Schilddrüse. In: Gerhardt, C[arl] (Hrsg.): Handbuch der Kinderkrankheiten (Bd. 3.2: Krankheiten der Ath- mungsorgane). Tübingen: Verlag der Laupp’schen Buchhandlung 1878, S. 337 – 420. Dor, [Heinrich]: Die Schule und die Kurzsichtigkeit. Rectoratsrede, gehalten den 14. November 1874 in der Aula Bern’s am 40jährigen Stiftungsfeste der Universität. Bern: B. F. Haller 1874. Emmert, Emil: Ueber funktionelle Störungen des menschlichen Auges im All- gemeinen sowie speziell nach Schuluntersuchungen in den Kantonen Bern, Solothurn und Neuenburg nebst der Hilfsmittel dagegen. Bern: Haller 1877. Erismann, Friedrich: Ein Beitrag zur Entwickelungs-Geschichte der Myopie, gestützt auf die Untersuchung der Augen von 4358 Schülern und Schülerin- nen. In: Albrecht von Graefes Archiv für Ophthalmologie, 17 (1871), S. 1 – 79. Fahrner, H[ans] C[onrad]: Das Kind und der Schultisch. Die schlechte Hal- tung der Kinder beim Schreiben und ihre Folgen, sowie die Mittel, dersel- ben in Schule und Haus abzuhelfen. Zürich: Friedrich Schulthess 1865. Fankhauser, [Max]: Ueber Schulgesundheitspflege. In: Schweizerische Zeit- schrift für Gemeinnützigkeit, 18 (1879), S. 187 – 258, 305 – 337. Graf: Die Rekrutenaushebung im VI. Divisionskreis, 1879. In: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, 19 (1880), S. 211 – 222. Hürlimann, [Josef]: Ueber die Ergebnisse der Sanitarischen Rekruten-Muste- rung in der Schweiz während den Jahren 1875 bis 1879. Eine populäre medi- zinische Skizze. Erstes Referat an die Festversammlung der Schweizeri- schen Gemeinnützigen Gesellschaft 1880. [Zürich]: [J. Herzog] [1880]. Hürlimann, Josef: Ueber Gesundheitspflege an unsern Volksschulen. Eine populäre, hygienische Darstellung der zuger. Schulverhältnisse. Zug: Blun- schi 1887.

213 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Laubi, Otto: Methode und Resultate der Ohrenuntersuchungen von 22 894 Schülern der ersten Primarklassen der Stadt Zürich. In: Correspondenz- Blatt für Schweizer Aerzte, 33 (1903), S. 433 – 440. Laubi, Otto: Fürsorgebestrebungen für ohrenkranke Schulkinder. Vortrag in der Versammlung schweizerischer Hals- und Ohrenärzte, am 24./25. Juni 1916, in Basel. In: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, 46 (1916), S. 1697 – 1703. Müller, A[rnold]: Anregung betreffend Aufnahme von Bestimmungen über ärztliche Untersuchungen der Schulkinder im neuen cantonalen Schulge- setz. In: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, 29 (1899), S. 58f. Müller, A[rnold]: Der heutige Stand der Schularztfrage. In: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, 1 (1900), S. 15 – 25. O.A.: Berichte des Sanitäts-Collegiums von Basel-Stadt vom Jahr 1870. Basel: J. G. Baur 1872. O.A.: Militärorganisation der schweizerischen Eidgenossenschaft. Vom 13. Win- termonat [Dezember] 1874. [Bern]: o. V. 1874. O.A.: Instruktion über die Untersuchung und Ausmusterung der Militärpflich- tigen. Vom 22. Herbstmonat [September] 1875. [Bern]: o. V. 1875. O.A.: Einleitung. In: Rekruten-Prüfungen im Jahr 1875 (Schweizerische Statis- tik, XXVII). Hrsg. vom Statistischen Bureau des eidgenössischen Departe- ment des Innern. Bern: Orell, Füssli & Co. 1876a, S. III – VII. O.A.: Sanitarisches. In: Neue Zürcher Zeitung, 56 (1876b), No. 467, 14. Septem- ber, 1. Blatt, o. S. O.A.: Bundesrathsbeschluss betreffend Abänderung der Instruktion vom 22. September 1875 über die Untersuchung und Ausmusterung der Militär- pflichtigen. Vom 31. Juli 1877. [Bern]: o. V. 1877. O.A.: Mittheilungen betreffend die ärztlichen Untersuchungen bei der Rekruti- rung für die Jahre 1878 und 1879. Veröffentlicht vom Eidg. Statistischen Bu- reau. Bern: o. V. 1879. O.A.: Instruktion über die sanitarische Beurteilung der Wehrpflichtigen. Vom Bundesrate genehmigt den 2. September 1887. Neudruck von 1895 mit An- merkungen des Oberfeldarztes gemäss § 12, 3. Bern: Körber 1895. O.A.: Anleitungen für das Lehrpersonal, um die in das Alter der Schulpflicht getretenen Kinder auf das Vorhandensein geistiger oder körperlicher Gebre- chen zu untersuchen. [Bern]: [Neukomm & Zimmermann] [1901a].

214 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

O.A.: Sanitarische Untersuchung der ersten Primarschulklassen des Kantons Basel-Stadt 1899/1900. Aus dem von Dr. G[ustav] Schaffner an das Tit. Er- ziehungsdepartement erstatteten Berichte. Basel: Buchdruckerei von Franz Wittmer 1901b. O.A.: Eingabe der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege an die Erziehungsdirektoren betreffend Förderung der Schularztfrage. In: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege, 4 (1906), Beilage zu Nr. 2, S. I – III. O.A.: Instruktion über die sanitarische Beurteilung der Wehrpflichtigen (I. B. W.). Vom Bundesrat für 1912 bis und mit 1915 provisorisch in Kraft erklärt. [Bern]: [Verlag des Eidg. Oberkriegskommissariats] 1915 [Neudruck]. Pflüger, [Ernst]: Die Augen der Luzerner Schulkinder und die Luzerner Schulhäuser. Kurzsichtigkeit und Schule. Luzern: C. M. Härdi [1876]. Scherer: Truppenzusammenzug an der Sitter 1872. In: Allgemeine schweize- rische Militärzeitung, 18 (1872), S. 286 – 288. Siegrist, A[ugust]: Zweck und Methode der Augenuntersuchungen in den Volksschulen. In: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulge- sundheitspflege, 3 (1902), S. 37 – 54. Siegrist, A[ugust]: Ueber die Notwendigkeit, die Augen der schulpflichtigen Kinder vor dem Schuleintritte untersuchen zu lassen und über die Bezie- hung des Astigmatismus zur Myopie. In: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, 37 (1907), S. 425 – 433, 465 – 475. Snellen, H[erman]: Probebuchstaben zur Bestimmung der Sehschärfe. Ut- recht: Van de Weijer 1862. Steiger, Adolf: Einheitliche Sehproben zur Untersuchung der Sehschärfe in die Ferne und in die Nähe. Hamburg/Leipzig: Leopold Voss 1892. Weber-Biehly, Traugott: Das Schulsanatorium und verwandte Anstalten. Zweck, Organisation und Beziehungen zur Volksschule mit spezieller Be- rücksichtigung des Schulsanatoriums am Aegerisee. In: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, 11 (1910). Zürich: Zürcher & Furrer 1911, S. 21 – 38. Zürcher, A[lfred]: Der Gesundheits-Unterricht für die Schule. Vortrag aus dem Cyclus öffentlicher Vorträge der naturforschenden und historischen Gesellschaft, gehalten am 16. November 1875 in Aarau. Aarau: H. R. Sauer- länder 1876.

215 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Literatur Aeschimann, Manuel: Die Bourbaki-Internierung 1871. Ein bewegendes Kapi- tel Schweizer Geschichte, dargestellt am Beispiel einiger Emmentaler Ge- meinden. In: Burgdorfer Jahrbuch, 74 (2007), S. 49 – 78. Baumann, Werner: Die Entwicklung der Wehrpflicht in der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1803 – 1874. Zürich: Leemann & Co. 1932. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: Das Bild der Alpen. In: Die Erfindung der Schweiz 1848 – 1948. Bildentwürfe einer Nation. Zürich: Schweizerisches Landesmuseum 1998, S. 76 – 87. Bussard, Jean-Claude: Körpererziehung. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7. Basel: Schwabe 2008, S. 411f. Busset, Thomas: Sozialenqueten. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 11. Basel: Schwabe 2012, S. 654. Corti, Francesca: Tuberkulose. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 12. Basel: Schwabe 2013, S. 539f. Crotti, Claudia/Kellerhals, Katharina: «Mögen sich die Rekrutenprüfun- gen als kräftiger Hebel für Fortschritt im Schulwesen erweisen!» PISA im 19. Jahrhundert. Die schweizerischen Rekrutenprüfungen – Absichten und Auswirkungen. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 29 (2007), S. 47 – 64. Crotti, Claudia: Pädagogische Rekrutenprüfungen. Bildungspolitische Steue- rungsversuche zwischen 1875 und 1931. In: Criblez, Lucien (Hrsg.): Bil- dungsraum Schweiz. Historische Entwicklung und aktuelle Herausforde- rungen. Bern: Haupt 2008, S. 131 – 154. Degen, Bernard: Soziale Frage. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 11. Basel: Schwabe 2012, S. 646f. Eckart, Wolfgang U.: Illustrierte Geschichte der Medizin. Von der französi- schen Revolution bis zur Gegenwart. Berlin: Springer 2011. Fuhrer, Hans Rudolf: Das Schweizer System. Friedenssicherung und Selbst- verteidigung im 19. und 20. Jahrhundert. In: Foerster, Roland G. (Hrsg.): Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsform und politisch-militärische Wirkung. München: Oldenbourg 1994, S. 193 – 206. Fuhrer, Hans Rudolf/Haltiner, Karl W.: Rekrutierung. In: Historisches Le- xikon der Schweiz, Bd. 10. Basel: Schwabe 2011, S. 223f. Fuhrer, Hans Rudolf/Haltiner, Karl W.: Wehrpflicht. In: Historisches Lexi- kon der Schweiz, Bd. 13. Basel: Schwabe 2014, S. 327f. Gould, Stephen Jay: Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.

216 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Grehn, Franz: Augenheilkunde. Heidelberg: Springer 2012. Hahn, Susanne: Die Schulhygiene zwischen naturwissenschaftlicher Erkennt- nis, sozialer Verantwortung und «vaterländischem Dienst». Das Beispiel der Myopie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Medizinhistorisches Journal, 29 (1994), S. 23 – 28. Hartmann, Heinrich: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Göttingen: Wallstein 2011. Hauser, Albert: Das Neue kommt. Schweizer Alltag im 19. Jahrhundert. Zü- rich: Neue Zürcher Zeitung 1989. Hofmann, Michèle: Von der Beratung zur Behandlung. Institutionalisierung des schulärztlichen Dienstes in der Stadt Bern zu Beginn des 20. Jahrhun- derts. In: Gilomen, Hans-Jörg/Müller, Margrit/Tissot, Laurent (Hrsg.): Dienstleistungen – Expansion und Transformation des «dritten Sektors» (15. – 20. Jahrhundert). Zürich: Chronos 2007, S. 345 – 355. Hofmann, Michèle: Wie der Arzt in die Schule kam – Schulhygiene in Bern (1899 – 1952). In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, 70, 4 (2008a), S. 1 – 47. Hofmann, Michèle: Schulhygiene. In: Tröhler, Daniel/Hardegger, Urs (Hrsg.): Zukunft bilden. Die Geschichte der modernen Zürcher Volksschule. Zürich: NZZ Libro 2008b, S. 201 – 213. Hofmann, Michèle: Die Gründung der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Bern als Projekt der Gesundheitsförderung. In: Kehrli, Manuel (Hrsg.): Licht und Luft. Gemeinnützige Baugenossenschaft Bern aus Anlass ihres 100-jäh- rigen Bestehens 1911 – 2011. Bern: Stämpfli 2011, S. 15 – 36. Hofmann, Michèle: Pausenapfel statt Obstbrand. Alkoholprävention im Un- terricht. In: Boser, Lukas/Hofmann, Michèle (Hrsg.): Ernährung macht Schule – seit 200 Jahren (Themenheft der Berner Zeitschrift für Geschich- te), 76, 3 (2014), S. 39 – 57. Hofmann, Michèle: Ärztliche Macht und ihr Einfluss auf den Schulalltag in der Schweiz im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. In: Pae- dagogica historica. International Journal of the History of Education, 51 (2015a), S. 88 – 103. Hofmann, Michèle: From Abstinence to Economic Promotion, or the Interna- tional Temperance Movement and the Swiss Schools. In: Tröhler, Daniel/ Lenz, Thomas (Hrsg.): Trajectories in the Development of Modern School Systems: Between the National and the Global (Studies in Curriculum Theo- ry Series). London: Routledge 2015b, S. 98 – 110.

217 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Hofmann, Michèle: Gesundheitswissen in der Schule. Schulhygiene in der deutschsprachigen Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript (erscheint 2016). Imboden, Monika: Die Schule macht gesund. Die Anfänge des schulärztlichen Dienstes der Stadt Zürich und die Macht hygienischer Wissensdispositive in der Volksschule 1860 – 1900. Zürich: Chronos 2003. Jaun, Rudolf: Vom Bürger-Militär zum Soldaten-Militär. Die Schweiz im 19. Jahrhundert. In: Frevert, Ute (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 48 – 77. Jaun, Rudolf: Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im mili- tärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de siècle. Zürich: Chronos 1999. Lustenberger, Werner: Pädagogische Rekrutenprüfungen. Ein Beitrag zur Schweizer Schulgeschichte. Chur/Zürich: Rüegger 1996. Mesmer, Beatrix: Reinheit und Reinlichkeit. Bemerkungen zur Durchsetzung der häuslichen Hygiene in der Schweiz. In: Bernard, Nicolai/Reichen, Qui- rinus (Hrsg.): Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburts- tag von Professor Dr. Ulrich Im Hof. Bern: Wyss 1982, S. 470 – 494. Mesmer, Beatrix: Rationelle Ernährung. Sozialmedizinische Reaktionen auf den Wandel der Ess- und Trinkgewohnheiten. In: Saladin, Peter/Schaufel- berger, Hans Jürg/Schläppi, Peter (Hrsg.): «Medizin» für die Medizin. Arzt und Ärztin zwischen Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Hannes G. Pauli. Basel/Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn 1989, S. 329 – 343. Mühlberg, O[tto]: Verlauf der Tauglichkeitswerte 1913 – 1949 von der Aushe- bung bis zum Ende des Ausbildungsjahres, spezifiziert nach Krankheits- gruppen. Basel: Schwabe 1951. O.A.: Too Fat to Fight. Retired Military Leaders Want Junk Food Out of America’s Schools. New York: Mission Readiness 2010. O.A.: Die Rekrutierung – Armee, Zivildienst und Zivilschutz. Ausgabe 2014. Bern: Öffentlichkeitsarbeit Verteidigung 2014. Porter, Theodore M.: The Rise of Statistical Thinking, 1820 – 1900. Prince- ton: Princeton University Press 1986. Raphael, Lutz: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhun- derts. In: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S. 165 – 193. Rickenbach, Walter: Geschichte der Schweizerischen Gemeinnützigen Ge- sellschaft, 1810 – 1960. Zürich: o. V. 1960.

218 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Sarasin, Philipp: Die moderne Stadt als hygienisches Projekt. Zum Konzept der «Assanierung» der Städte im Europa des 19. Jahrhunderts. In: Magnago Lampugnani, Vittorio/Frey, Katia/Perotti, Eliana (Hrsg.): Stadt & Text. Zur Ideengeschichte des Städtebaus im Spiegel theoretischer Schriften seit dem 18. Jahrhundert. Berlin: Gebr. Mann Verlag 2011, S. 99 – 112. Schoch, Tobias: Nicht jeder Soldat trägt den Marschallstab in seinem Tornis- ter. Soziale Ungleichheit und der Biologische Lebensstandard. Eine histo- risch-anthropometrische Studie zu den Rekrutierungsprotokollen des Kan- tons Basel-Stadt, 1875 – 1935. Lizentiatsarbeit. Bern: Universität Bern 2007. Schumacher, Beatrice: Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft. In: His- torisches Lexikon der Schweiz, Bd. 11. Basel: Schwabe 2012, S. 296f. Senn, Hans: Deutsch-Französischer Krieg. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 3. Basel: Schwabe 2004, S. 673f. Späni, Martina: Umstrittene Fächer in der Pädagogik. Zur Geschichte des Re- ligions- und Turnunterrichts. In: Badertscher, Hans/Grunder, Hans-Ulrich (Hrsg.): Geschichte der Erziehung und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Leitlinien. Bern: Haupt 1997, S. 17 – 55. Stadler: Milchwirtschaft. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 8. Basel: Schwabe 2009, S. 576 – 579. Tanner, Jakob: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890 – 1950. Zürich: Chronos 1999. Vannod, Th[eodor]: Schulgesundheitspflege. In: Reichesberg, N[aum] (Hrsg.): Handwörterbuch der Schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. 3. Bern: Verlag Encyklopädie 1908, S. 627 – 634. Weishaupt, Matthias: Bauern, Hirten und «frume edle puren». Bauern- und Bauernstaatsideologie in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft und der nationalen Geschichtsschreibung der Schweiz. Basel/Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn 1992. Witzler, Beate: Grossstadt und Hygiene. Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung. Stuttgart: Franz Steiner 1995.

Dr. Michèle Hofmann, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Institut Primarstufe, [email protected]

219 10 Wissenstransfer ­zwischen Armee 10und Schule?

Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Patrick Bühler

10. Wissenstransfer zwischen Armee und Schule? Schwache Soldaten und schwache Schüler um 1900

1. Schwache Soldaten und schwache Schüler 1908 fand in Frauenfeld die Jahresversammlung der Schweizerischen Gemeinnüt- zigen Gesellschaft statt, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rol- le bei «der Bearbeitung sozialer, sozialpolitischer und sozialpädagogischer Fragen» spielte.1 Das «Thema» der Versammlung lautete: «Die neueren sanitarischen Rek- rutenuntersuchungen in der Schweiz und Folgerungen daraus für die physische und moralische Erziehung der schweizerischen Jugend». Gegenstand der Debatten sollte die «physische[] Kräftigung der Generationen» durch «Erziehung» sein, die «Ursachen der mangelhaften Resultate der sanitarischen Rekrutenuntersuchun- gen» sollten besprochen, die Gründe für die «Krankheiten» und «körperlichen De- fekte» erhellt und «Mittel» «zur Verbesserung d[]er Zustände» erwogen werden.2 «Sanitarisch» stand dabei gewissermassen im Gegensatz zu «pädagogisch». Der Gemeinnützigen Gesellschaft ging es nämlich gerade nicht um die sogenannten pädagogischen Rekrutenprüfungen, mit denen zwischen 1875 und 1914 in der ge- samten Schweiz der «Bildungsstand» der Ausgehobenen in Lesen, ­Schreiben, Rech- nen und Vaterlandskunde (Geografie, Geschichte und Verfassung) «durch pädagogische Experten», die das «Militärdepartement bezeichnet[e]», erhoben wur-

1 Criblez 2013, S. 170. Für eine Analyse der «sozialpädagogischen Diskurse», welche die 1810 gegründete Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft im 19. Jahrhundert bestimmten, vgl. Grubenmann 2007. 2 O.A. 1908, S. 97 – 99. Der Gemeinnützigen Gesellschaft ging es trotz Rekrutenuntersuchung auch um die «weibliche Jugend», sie interessierte sich für die «Verminderung der körperlichen Leistungsfähigkeit» überhaupt (ebd., S. 98).

223 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

de.3 Die Ergebnisse der Prüfungen wurden in Ranglisten gebracht, und das Ab- schneiden der Kantone und ihrer Regionen wurde mit grossem publizistischem Getöse kommentiert.4 So ging schon bei der ersten pädagogischen Erhebung 1875, noch «bevor die Resultate [ … ] vollständig bekannt waren», «durch die lange Reihe der öffentlichen Tagesblätter [ … ] ein Schrei getäuschter Hoffnung».5 Die Gemein- nützige Gesellschaft hatte sich mit der pädagogischen Rekrutenprüfung gleich 1876 beschäftigt. An der Jahresversammlung in Schwyz hatte Seminardirektor Johann Baptist Marty (1840 – 1901) über die Frage referiert: «Welchen Ursachen ist es zu- zuschreiben, dass die Schüler die in der Schule erworbenen Kenntnisse bis zum Eintritte in’s praktische Leben so vielfach vergessen, wie dies durch die Resultate der Rekrutenprüfungen konstatiert ist, und auf welche Weise ist diesem Übelstan- de wirksam abzuhelfen?»6 Pfarrer Marty quittierte übrigens zehn Jahre später den Dienst am Seminar in Rickenbach, der Schulmann wechselte die «Front»: Er wur- de päpstlicher «Feldprediger», Kaplan der Schweizergarde in Rom.7 In Frauenfeld war von der Gemeinnützigen Gesellschaft 1908 also nicht mehr wie 1876 «die Besprechung» der geistigen, sondern eben der «körperlichen Bedin- gungen für ein tüchtiges Material von Vaterlandsverteidigern als Traktandum ange- setzt» worden.8 Den «einleitende[n]» Vortrag hielt der Direktor des Krankenhau- ses in Herisau, Paul Wiesmann (1854 – 1916),9 dessen Vater Lehrer und der auch selbst, bevor er Medizin studierte, Lehrer gewesen war.10 Wiesmann war gut vorbereitet, hatte er doch bereits im kleineren Kreis zum selben Thema vorgetra- gen: Der Titel seines Vortrags an der Jahresversammlung der Appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft 1903 lautete «Über die Ergebnisse der sanitarischen Untersuchungen der Rekruten von Appenzell A. Rh. 1883 – 1902».11 Fünf Jahre später legte Wiesmann nun wiederum mithilfe zahlreicher statistischer Unter- suchungen dar, dass es um das «Material» miserabel stehe. Denn nicht «viel mehr als die Hälfte» der Ausgehobenen besitze «die für den Militärdienst erforderlichen Eigenschaften».12 Bei der Durchsicht der Ergebnisse des Kantons Appenzell Au- sserrhoden, der «zu den allerschlechtest gestellten Kantonen gehört[e]», hatte

3 O.A. 1875, S. 101f. 4 Zu den pädagogischen Rekrutenprüfungen vgl. Crotti 2008; Crotti/Kellerhals 2007; Lustenberger 1996 und den Beitrag von Lukas Boser im vorliegenden Band. 5 Marty 1876, S. 363. 6 Ebd., S. 305. Für eine Übersicht über die Themen der Jahresversammlungen der Gemeinnützigen Gesell- schaft zwischen 1862 und 1910 vgl. Hunziker/Wachter 1910, S. 158 – 183, 276 – 285. 7 Vgl. o.A. 1885; Waser [1901]. 8 Wiesmann 1908, S. 364f. 9 Ebd., S. 364. 10 [Schiller] 1916, S. 63f., 73 – 76, 84. 11 Vgl. Wiesmann 1904. 12 Wiesmann 1908, S. 370.

224 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

sich Wiesmann «[g]anz unwillkürlich» «der freilich etwas krasse Ausdruck» «eine degenerierte Rasse» aufgedrängt.13 Als der Arzt die «statistischen Zusammen- stellungen» zwischen 1880 und 1900 für seinen Vortrag in Frauenfeld studierte, erlebte er zunächst «eine erhebliche Enttäuschung». Denn Wiesmann hatte «ein allmähliches Zurückgehen der Militärtauglichkeit, eine zunehmende Verschlech- terung» erwartet, der Anteil der «Untaugliche[n] und Zurückgestellte[n]» blieb jedoch nahezu konstant. Dass es keine «absteigende[] Kurve der Tauglichkeit» gab, hielt Wiesmann jedoch nicht davon ab, vor dem Niedergang der helvetischen «Wehr»- und «Volkskraft» zu warnen. Er folgerte, dass die «Ursachen» der Misere «schon lange und im Laufe der Jahre gleichmässig wirksam gewesen» sein mussten:14 Der «bedauerliche[] Zustand» sei durch «mangelhafte und unpassende Ernährung, [ … ] Alkoholismus und Genusssucht, schlechte Wohnungsverhältnisse, de[n] Industrialismus mit seinen Auswüchsen» bedingt. Neben der entschiedenen «Bekämpfung» dieser Missstände plädierte Wiesmann daher auch für den Aus- bau der Schulgesundheitspflege und für die«physische[] Erziehung der heranwach- senden Jugend».15 Weder das Thema der Jahresversammlung der Gemeinnützigen Gesellschaft noch der Vortrag waren besonders originell. Denn schon 1881 stand folgende Frage an der Luzernischen Kantonal-Lehrerkonferenz zur Debatte: «Bei den Rekrutenaushebungen wird alljährlich ein grosser Prozentsatz der stellungs- pflichtigen Mannschaft für militärunfähig erklärt. Muss diese Erscheinung als Folge einer Abschwächung der jungen Generation gedeutet werden und wenn ja, in wie weit trägt die häusliche und öffentliche Erziehung hievon Schuld, und mit was für Mitteln kann diesem Uebel vorgebeugt und begegnet werden?»16 Rund ein Vierteljahrhundert vor Wiesmann stellte der Krienser Lehrer Joseph Felber in seiner «Lösung» der «Konferenzaufgabe» ebenfalls schon eine erschre- ckende «Abschwächung» der «jungen Generation» fest. Einer der Gründe dafür

13 Wiesmann 1904, S. 51, 56. 14 Wiesmann 1908, S. 369, 380, 389. 15 Ebd., S. 389f., 395, 400. Das kurze «Koreferat» zu Paul Wiesmanns Vortrag hielt der Kreuzlinger Seminar- direktor Paul Häberlin (1878 – 1960), der später Professor für Pädagogik in Bern und Basel war. Häberlin, der Theologie studiert hatte, betonte, dass «die physische Gesundung eines Volkes» auch «mit seiner mora- lischen Erziehung» zusammenhänge. Neben der physischen müsse es daher auch zu einer «moralische[n] Kräftigung» der Jugend kommen, tue eine «intensive[] ethische[] Erziehung» der Jugend not. Die Schule müsse «immer mehr eine Erziehungsstätte werden, in deren Theorie und Praxis die ethische Beeinflus- sung und Bildung im Zentrum» stünden: «In erster Linie ist es nötig, die sozialen Gefühle, die in allen nor- malen Kindern angelegt sind, zu pflegen und zu fördern» (Häberlin 1908, S. 409f., 411 – 413). 16 Felber 1881, S. 96.

225 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

war, dass die Kinder nicht mehr gestillt würden.17 «[U]nnatürlich» und «schlecht[]» sei die Ernährung auch danach: Früher sei Milch «das Nationalgetränk der Schweizer» gewesen, man habe Brot und Habermus gegessen, heute trinke man «Kaffee, Schnaps und Cichorien», und «Jahr aus, Jahr ein, Tag für Tag» komme diese «amerikanische Frucht», «der Erdapfel [,] auf de[n] Tisch». Weitere «Uebel- stände» seien «Trunksucht», «Rauchen», «unnatürliche Bekleidung», «ungesun- de Wohnungen», «gesundheitsschädliche Künste und Gewerbe», «Frühheirathen und Ueberbevölkerung». Zwar trage die «häusliche Erziehung» die «grösste Schuld», aber auch die Schule trage zur Misere bei: «[U]nzweckmässige, ungesunde Schulhäuser», «abscheuliche Schul(Folter)Bänke» und «Ueberbürdung» mach- ten, dass es um «die Gesundheit des Schweizervolkes» schlecht bestellt sei.18 Felbers Ausführungen sind nun aus zwei Gründen besonders aufschlussreich. Seine Darlegung ist zum einen beachtenswert, weil er zwar auch von einer «Ab- schwächung» der «Volkskraft» ausgeht und zu ähnlichen Schlüssen gelangt wie Wiesmann, aber anders argumentiert. Felber unterstreicht nämlich, dass «das schreckliche Bild», das sich biete, «grossentheils eine optische Täuschung» sei, die durch die Statistik «hervorgezaubert» werde. Da man erst seit 1875 überhaupt statistische Daten habe, in den letzten Jahren «ein viel schärferes Reglement» «hinsichtlich Aufnahme der Rekruten» angewandt worden sei und da viele der «Krankheiten» wie Platt- und Schweissfüsse, Geschwüre, Augenleiden usw., die zu einem «Ausschluss von der Armee» führten, «auf den allgemeinen Gesund- heitszustand keinen Einfluss» hätten, sei eine «Beurtheilung», die sich auf die Militärstatistik stütze, «werthlos», «unsicher[] und trügerisch[]». Die «Kniffe», die Felber anwandte, um trotz aller «Mängel der Statistik» dennoch einen verhäng- nisvollen Rückgang der Militärtauglichkeit festzustellen, war der Vergleich mit dem Ausland, wo es, obwohl «noch strenger verfahren» werde, meistens «mehr Taugliche» gebe. Felber betonte ausserdem vor allem die «Unterschiede» zwi- schen den Schweizer Divisionskreisen: Die «grosse[n] Differenzen» liessen nur den Schluss zu, dass die «Volkskraft» wirklich «in einzelnen Gegenden» des «Vaterlandes zurückgegangen» sei.19 Zum anderen ist Felbers Erörterung interessant, weil der Krienser Lehrer, ohne seine Quelle wirklich kenntlich zu machen, in seiner Argumentation (und zum

17 Seit der Aufklärung wurde fürs Stillen und überhaupt für eine «natürliche» weibliche Intimisierung von Erziehung die Werbetrommel gerührt. Im Émile, der sich gerade auch an die «tendre et prévoyante mère» richtete, wurde 1762 beklagt, dass die Mütter aufgehört hätten, ihre Kinder selbst zu stillen: Ammen seien «un usage dénaturé» (Rousseau 2012, S. 209, 322f.). Vgl. z. B. Kittler 2003, S. 35 – 86; Larcher 2004; Seich- ter 2014. 18 Felber 1881, S. 101 – 106, 109, 111, 115. 19 Ebd., S. 97, 98, 99, 100.

226 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Teil auch in den Beispielen und sogar im Wortlaut) «der Schilderung von Arzt Hürlimann» folgte.20 So präsentierte Felber an der Luzerner Lehrerkonferenz ziemlich unverfroren einen mehr oder weniger gelungenen Aufguss dessen, was Josef Hürlimann (1851 – 1911) im Jahr zuvor an der «Festversammlung» der Ge- meinnützigen Gesellschaft in Zug vorgetragen hatte. Hürlimann, der verschie- dene Anstalten für Kinder und Jugendliche leitete, sich für Schulhygiene enga- gierte und Erziehungsrat war, hatte 1880 einen Vortrag mit dem Titel «Ueber die Ergebnisse der Sanitarischen Rekruten-Musterung in der Schweiz während den Jahren 1875 bis 1879: Eine populäre militärärztliche Skizze» gehalten, der in der Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit erschienen war und im selben Jahr auch als Broschüre publiziert wurde.21 In seinem Referat ging Hürlimann zuerst hellsichtig auf die Schwierigkeiten der Statistik ein,22 um dann detailliert die Resultate der Aufnahme in die einzelnen Divisionen zu erörtern und so – wegen der «ungleichen Gesammtergebnisse[]» – doch noch «eine[] statistisch nachweisbare[] Abnahme der Volkskraft» feststellen zu können.23 Die «wichtigsten Ursachen» der «schlechte[n] Ergebnisse der sanitarischen Untersuchungen» seien – auch hier bediente sich Felber grosszügig – mangelhafte Ernährung (Kinder würden nicht mehr gestillt, es werde keine Milch, sondern Schnaps ge- trunken, Kartoffeln statt Brot gegessen usw.), schlechte Wohnverhältnisse, «fehlerhafte Kleidung», «leichtsinnige Jugenderziehung», «Vererbung» sowie «Ueberbevölkerung». Hürlimann sprach sich daher für die «Einführung der Hygiene als Unterrichtsfach» aus, plädierte für Schulgesundheitspflege und forderte «die Anwendung der strengsten Massregeln» gegen «Trunksucht und Unzucht».24 Was Wiesmann also rund dreissig Jahre nach Hürlimann vortrug, war alles andere als neu, auch wenn er es anders darzustellen versuchte. Vielleicht erwähn- te er Hürlimanns Vortrag gerade deshalb nur en passant als eine der «Arbeiten» «älteren Datums».25 Denn eine ausführliche Würdigung Hürlimanns hätte nicht nur Wiesmanns Einfallsreichtum geschmälert, sondern auch sein Lamento schal und abgestanden wirken lassen. Dass sich die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft überhaupt mehrmals über die Rekrutenuntersuchungen unterhielt,

20 Ebd., S. 104; vgl. auch Felber 1881, S. 100. 21 Vgl. Hürlimann 1880a; Hürlimann 1880b. Josef Hürlimann veröffentlichte später übrigens auch eine Stu- die zur Schlacht am Morgarten: Mit Berücksichtigung der Landestopographie zur Schlachtzeit (Hürlimann 1911). Zu Hürlimanns Leben und Werk vgl. Arnold 1910. 22 Vgl. Hürlimann 1880a, S. 419 – 427, 453f. 23 Ebd., S. 456. 24 Ebd., S. 457 – 461, 475f. Vgl. zu Josef Hürlimann auch den Beitrag von Michèle Hofmann im vorliegenden Band. 25 Wiesmann 1908, S. 365.

227 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

hatte mit einem fundamentalen Wandel zu tun, der sich im 19. Jahrhundert vollzog. Durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht waren in vielen Staaten «Massenheere» entstanden, in denen nun «mehrheitlich der Bürger» und nicht mehr wie zuvor Söldner und Berufssoldaten «in Uniform» steckten. Der Staat hatte daher «ein vitales Eigeninteresse daran», dass die Soldaten sowohl gesund einrückten als auch gesund «aus dem Krieg zurückkehrte[n]».26 In der Schweiz wurde erst in der Folge der Revision der Bundesverfassung 1874 die Militärpflicht langsam durchgesetzt: «Bis zum Ersten Weltkrieg stieg der Anteil der wehrpflichtigen Männer, die Militärdienst leisteten, auf über 60%; vor 1874 lag der Anteil klar unter 40%».27 Mit dem Militärgesetz 1874, der sogenannten Militärorganisation, wurde die Armee auch erst zur ausschliesslichen Angelegen- heit des Bundes.28 Die Durchsetzung einer allgemeinen Wehrpflicht sowie die «Zentralisierung» der Armee beeinflussten die Wahrnehmung «der ‹sozialen Frage›» in der Schweiz wesentlich»: «Die nationalen Rekrutierungsstatistiken wurden seit den 1880er Jahren [ … ] zunehmend in den sozialpolitischen Diskurs integriert».29 Weder die Angst, die Wehrkraft nehme ab, noch der Versuch, mit- hilfe statistischer Auswertungen genauere «Diagnosen» zu stellen, waren Wies- manns, Felbers oder Hürlimanns private Obsessionen:30 Die Befürchtungen und die damit verbundenen statistischen Anstrengungen hatten nicht nur in der Schweiz, sondern «transnational[] Konjunktur».31 Auch die Gründe, die für das konstatierte «körperliche Minus» vorgebracht wurden,32 entsprachen dem epis- temologischen Repertoire der Zeit und kursierten international nicht nur in Militär und Medizin, sondern genauso in «der Rechtswissenschaft und Philoso- phie, aber auch der Anthropologie, Biologie und Literatur».33 Dass in einer solch misslichen Lage Erziehung eine Lösung sein könnte, ist ein ehrwürdiger Topos, der mit der Aufklärung äusserst populär wurde, als die «Neugestaltung von Staat und Gesellschaft» in ein «Erziehungsprojekt» verwandelt und eine «umfassende[] Versittlichung und Vernunftwerdung» angestrebt wurde.34 Wie in der Armee durch die Wehrpflicht, die Schaffung moderner Massenheere, hatte eine solche «Versittlichung» nur dann eine Aussicht auf Erfolg, wenn «Massenschülerheere»

26 Neuner 2009, S. 32f. 27 Jaun 1997, S. 69. 28 Vgl. Jaun 1997. 29 Lengwiler 2000, S. 301. 30 Wiesmann verwies auf eine Reihe älterer Studien, mit voller Titelangabe nannte er jedoch nur die beiden Arbeiten von Bircher (1886) und von Heer (1897) (Wiesmann 1908, S. 365). 31 Hartmann 2011, S. 37; vgl. auch ebd., S. 33 – 67. 32 Wiesmann 1908, S. 402. 33 Becker 2002, S. 17. Vgl. z. B. für Pädagogik, Psychiatrie und Justiz Dollinger 2006; Germann 2004; Ritter 2009. 34 Becker 2002, S. 47.

228 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

entstanden, es eine Schulpflicht gab. Kaum zufällig wurde die Schulpflicht in der Schweiz ebenfalls erst mit der Verfassungsrevision 1874 allmählich durchge- setzt.35 Zwar scheiterte die «Zentralisierung» der Schule – 1882 wurde die soge- nannte Schulvogtvorlage abgelehnt – , die pädagogischen Rekrutenprüfungen führten jedoch zu einem starken Wettbewerb zwischen den Kantonen:36 Da kein Kanton schlecht dastehen wollte, beschleunigten die Rekrutenprüfungen Schul- reformen.37

2. Anormale Soldaten und anormale Schüler 1912 erschienen Die neuen Gedanken über das Schulkind, die «deutsche Bearbei- tung des letzten und zusammenfassenden Werkes des bekannten Pariser Psycho- logen Alfred Binet, dessen arbeitsvolles Leben am 18. Oktober 1911 durch einen Schlaganfall ein plötzliches Endes fand».38 Das Original, Les idées modernes sur les enfants, wurde 1909 veröffentlicht, den deutschen Herausgebern zufolge enthielt es «gewissermassen die Zusammenfassung der Erziehungsgedanken eines für uns zum Teil vorbildlichen Franzosen»: «Die ganze Darstellung bewegt sich in dem temperamentvollen Stile eines echten Franzosen, der auch die uns Deut- schen abgehende ungeheure Kombinationsmöglichkeit der einzelnen Gedanken- gänge aufweist.»39 Auch zwanzig Jahre nach ihrem Erscheinen hatten Alfred Binets (1857 – 1911) moderne «französische» Gedanken offenbar ihre Bedeutung nicht eingebüsst. Denn 1927 wurde von denselben Herausgebern eine zweite «durchgesehene und ergänzte Auflage» publiziert, die «seit vielen Jahren notwen- dig» gewesen sei: Die «Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse» hätten diese zweite Auflage «wesentlich verzögert».40 Wie in den Neuen Gedanken geschildert wird, führten die «Väter» des später sogenannten IQ-Tests, Binet und sein Mitarbeiter, der Psychiater Théodore Simon (1872 – 1961), ihre «Messung[en] der Intelligenz» nun nicht nur an Schülern, sondern auch an Soldaten durch.41 Der Test verlief sowohl für die Soldaten als auch für Binet und Simon selbst einigermassen tumultuös: Als Binet und Simon nämlich versuchten, mit ihrem Test «Schwachsinnige[]» in der französischen Armee ausfindig zu machen,42

35 Vgl. Bauder/Crotti 2009. 36 Vgl. Criblez/Huber 2008. 37 Crotti/Kellerhals 2007, S. 58. 38 Anschütz/Ruttmann 1912, S. III. 39 Ebd., S. XI. 40 Ebd., S. VII. 41 Binet 1912, S. 95. 42 Für «Test» verwenden Alfred Binet und Théodore Simon meist Formen von examiner oder diagnostic. Der Terminus «Test» wird im Deutschen Anfang des Jahrhunderts aus dem Englischen übernommen, das Verb verbreitet sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (o.A. 1993, S. 1427).

229 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

waren «mehrere Soldaten» trotz des «freundschaftlichen Empfanges» «bleich, zitterten mit der Stimme und zuckten im Gesicht und mit den Händen; eben von diesen Aufgeregten bekamen wir [Binet und Simon] recht phantastische Antwor- ten». Es sei «die Gegenwart einiger höherer Offiziere» gewesen, die sich «un- günstig auf das intellektuelle Niveau der Soldaten» ausgewirkt habe. Denn als die Offiziere den Raum verlassen hätten, seien die Antworten «im allgemeinen besser» ausgefallen. Binet zog den Schluss, dass das «geistige[] Niveau» der Soldaten, über das man sich auch schon in den «Zeitungen lustig gemacht» habe, vor allem «durch Aufregung herabgesetzt» worden sei.43 Dass Psychologie bei der Intelligenzmessung eine entscheidende Rolle spiele, betonte Binet immer wieder.44 Die «Methode» setze «einen feinen Sinn, Geschick, Erfahrung hinsichtlich der Vermeidung von Fehlerquellen und vor allem eine klare Vorstellung von den Wirkungen der Suggestion» voraus. Die Ergebnisse müssten daher auch dringend «kommentiert» werden. So habe die «Prüfung» der Intelligenz «mit Automatismus gar nichts zu tun; man kann sie nicht mit einer Bahnhofswaage vergleichen, auf die man sich nur zu stellen braucht, damit sie unser Gewicht auf einem Zettel angibt».45 Binets Psychologie war in diesem Fall jedoch ziemlich schlicht. Schliesslich deutete er Zittern, Zucken und Blässe allein als flüchtige «Unzurechnungsfähigkeit», die von der «Schüchternheit der Leute ihren Vorgesetzten gegenüber» herrühre.46 Somit konnte das Unbehagen der Soldaten nichts damit zu tun haben, dass sie etwa als «Schwachsinnige[]» aus der Untersuchung hätten hervorgehen oder vielleicht bei schlechtem Abschnei- den hätten bestraft werden können. Die Tests an französischen Soldaten wurden 1908 am Armeespital Val-de- Grâce in Paris durchgeführt.47 Da «in Deutschland unter den Eingezogenen re- gelmässige Untersuchungen bezüglich Schwachsinniger» durchgeführt worden waren,48 wollten Binet und Simon wissen, ob ihr für die Schule entwickeltes Verfahren nicht auch von der französischen Armee verwendet werden könnte.49 Der Versuch verlief jedoch nicht so, wie Binet und Simon es sich erhofft hatten. Denn der Gerichtsmediziner Jules Simonin (1864 – 1920), der vom Verteidigungs-

43 Binet 1912, S. 111f. 44 Der Frage der «suggestibilité» hatte Binet 1900 eine Monografie gewidmet, sie war in der Reihe «Biblio- thèque de pédagogie et de psychologie» erschienen (vgl. Binet 1900). 45 Binet 1912, S. 113f. 46 Ebd., S. 111. 47 Binet/Simon 1910, S. 123. Das Militärhospital, das es heute noch gibt, wurde während der Französischen Revolution gegründet und ist in einem ehemaligen Kloster untergebracht (Hassenforder 1958). 48 Binet 1912, S. 111. 49 Binet/Simon 1910, S. 123. Zu den «Anfänge[n] der deutschen Intelligenzforschung» in der Armee vgl. Lengwiler 2000, S. 205 – 224.

230 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

ministerium konsultiert worden war und Binet und Simon half, die Messungen durchzuführen, kam ihnen in einer Publikation nicht nur zuvor, sondern äusser- te sich darin auch abschätzig über ihr Prüfverfahren. Simonin, «Médecin-Major de 1re classe», war einer der Ehrenpräsidenten des 19. Congrès des médecins aliénistes et neurologistes 1909 in Nantes, an dem eine ganze Sitzung der Frage nach der «aliénation mentale dans l’armée au point de vue clinique et médico-légal» gewidmet war.50 An diesem Kongress hielt Simonin einen Vortrag zum «Essai des tests psychiques scolaires pour apprécier l’aptitude intellectuelle au service militaire», in dem er kritisch Binets und Simons Mess- verfahren erörterte. Die beiden hätten vorgeschlagen, «d’appliquer aux appelés [ … ] un ingénieux procédé mis à l’essai dans les écoles communales de la Ville de Paris»: «Cette méthode devait permettre d’écarter des rangs de l’armée un certain nombre d’arriérés ou de dégénérés inférieurs qui représentent des non-valeurs militaires.»51 Es wurden elf Soldaten untersucht, wobei die erzielten Resultate nicht gerade berauschend waren: «[L]e psychisme du soldat incorporé, étudié à l’aide des tests scolaires, flotte entre 12 et 15 ans; il est donc en retard sur le déve- loppement intellectuel des adultes ayant poursuivi leur culture intellectuelle par l’assistance méthodique à des cours plus élevés; mais il ne s’agit pas, ordinaire- ment, d’arriération psychique vraie, le retard se rapproche surtout du type pédagogique.»52 Zum Disput führte nun nicht, dass die Soldaten einen IQ hatten, der dem von zwölf- bis fünfzehnjährigen Jugendlichen entsprach, sondern dass Simonin das Verfahren für militärisch untauglich hielt. Zum grossen Ärger Binets und Simons konnte sich ihr Kollege am Val-de-Grâce nämlich nicht für ihren Test erwärmen: «Dénier toute valeur aux tests scolaires serait réellement injuste et excessif: mais au point de vue militaire, ils ne peuvent être réellement utiles que pour déceler une arriération mentale très accusée.»53 Simonin kritisierte, dass die Methode für die Aushebung zu umständlich sei, sie beanspruche zu viel Zeit, ihre Ergebnisse seien zudem nicht verlässlich. Ausserdem seien die «faibles d’esprit» eben nicht «la cause principale de difficultés ou d’embarras» der Armee: «La notoriété publique commence leur élimination dès le conseil de révision, où le maire, les parents et les concitoyens de l’appelé nous désignent immédiatement les arriérés, les incapables, les idiots.» Was die Armee hingegen brauche, seien «des tests moraux rapides et sûrs, capables de stigmatiser en quelque sorte, non

50 Mirallié 1910, S. 12, 235. 51 Simonin 1909a, S. 1043f. 52 Ebd., S. 1045. 53 Ebd., S. 1046.

231 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

pas les débiles mentaux mais les déséquilibrés de l’esprit et les dégénérés amoraux».54 Den Vorwurf, umständlich und unzuverlässig das Falsche zu messen, wollten Binet und Simon nicht auf sich sitzen lassen. Sie hielten Simonin zudem für einen akademischen Wegelagerer, der über Versuche schrieb, die er nicht selbst durchgeführt hatte: «[N]ous affirmons que les expériences rapportées par M. -Si monin ne sont autres que des expériences faites par nous en sa présence, aux- quelles il a assisté comme témoin, sans y prendre d’autre part.» Ausserdem habe es sich nur um einen ersten Versuch zu Vorbereitungszwecken, einen Pretest, gehandelt.55 Binet und Simon führten in ihrem Artikel «Sur la nécessité d’une méthode applicable au diagnostic des arriérés militaires» aus, dass es eigentlich nur wenige «soldats arriérés» gebe: Sie gingen von rund einem Prozent aus. Sie hätten daher auch gar nicht vor, alle Soldaten zu prüfen, sondern nur die zwei- felhaften Fälle, d. h. ungefähr vier bis fünf Prozent aller Ausgehobenen.56 Den Einwand einiger Militärärzte, dass ihr Verfahren unnütz sei, weil die «Schwach- sinnigen» ja sowieso auffielen, konterten sie damit, dass sie den «Kranken» genau das ersparen wollten: «L’essai de la vie de caserne est une épreuve longue et pé- nible [ … ]; l’imbécile sera pendant ce temps plus ou moins la victime de ses camarades».57 Sich daher gegen ihr Verfahren «pour dépister les arriérés» zu stellen, sei, wie wenn man behaupten würde, man müsse die Soldaten nicht auf Tuberkulose untersuchen: «À quoi bon, pourrait-on soutenir en effet, à quoi bon ausculter les jeunes soldats? [ … ] [N]e suffira-t-il pas d’attendre? Si les marches en fatiguent quelques-uns, si d’aucuns crachent le sang [ … ].»58 Binets und Simons Replik erschien sowohl in den Annales médico-psychologiques als auch in ihrer «Hauszeitung» L’Année psychologique.59 Es handelte sich bei ihrer «Gegendarstellung» um einen Vortrag, den Simon in der wichtigen psychiatri- schen Société médico-psychologique in Paris vier Monate nach dem Kongress in Nantes alleine gehalten hatte; weder Binet, noch Simon hatten an der Tagung in Nantes teilgenommen.60 In der anschliessenden Diskussion in der Société médico-

54 Ebd., S. 1047. Zum Thema «Les dégénérés dans l’armée: Origine – caractères – prophylaxie» hatte Simon gerade einen Artikel veröffentlicht. Zu den «dégénérés», ein vager Sammelbegriff, der Psychosen aus- schloss, zählte Simonin «indisciplinés», «déserteurs», «débiles d’esprit», «hystériques», «épileptiques», «névros[é]s» (Simonin 1909b, S. 33f., 38). 55 Binet/Simon 1910, S. 123, 135. 56 Ebd., S. 124f. 57 Ebd., S. 125f. 58 Ebd., S. 126f. 59 Vgl. Binet/Simon 1911. Zur Gründung von L’Année psychologique und zur Zusammenarbeit von Binet mit Simon und mit dem Schweizer Jean Larguier des Bancels vgl. Nicolas 1997. 60 Binet/Simon 1910, S. 128, 135. Die noch heute bestehende Société wurde 1852 gegründet. Beim Vortrag war unter anderem der einflussreiche Gerichtspsychiater Gaëtan Gatian de Clérambaut (1872 – 1934) anwesend.

232 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

psychologique wurde nach den «dégénérés», den «sujets impulsifs, amoraux et intelligents» und den «inverti[s]» gefragt. Wie Simon ausführte, könnten solche «Kranken» mit dem Binet-Simon-Test nicht erfasst werden.61 Während zwei Psychiater das Verfahren zwar durchaus als ein nützliches Hilfsmittel erachteten, aber vor allem unterstrichen, dass viel Leid und Ungerechtigkeit verhindert werden könne, wenn sowohl Offiziere als auch Militärärzte eine seriöse psychia- trische «Grundausbildung» geniessen würden, wiederholte ein Arzt Simonins Einwände.62 Die Kritik betraf nicht nur Binets und Simons Test, sondern alle ähnlichen Versuche überhaupt: Der Psychiater monierte, dass Intelligenzprüfun- gen unzureichend seien und keine verlässlichen Resultate lieferten. Die einzige Methode, um eine «arriération mentale» festzustellen, bestehe darin, eine kom- plette psychiatrische Anamnese aufzunehmen und den Kranken nach allen Re- geln der Kunst zu untersuchen. Der Kritiker behauptete, in Nantes hätten alle anwesenden Psychiater Simonin zugestimmt.63 Im Tagungsband des Kongresses findet sich jedoch nur ein Kommentar, der sich dafür ausspricht, dass der Binet- Simon-Test für die Armee verbessert werden müsse: «[I]l est curieux de remarquer une fois de plus, combien ont de points communs les milieux scolaires et militaires.»64 Was Binet und Simon der französischen Armee vorschlugen, glich grosso modo dem Prozedere, das sie 1907 für die Schule empfohlen hatten. Auch da sollten nicht alle Kinder geprüft werden, wie sie in Les Enfants anormaux: Guide pour l’admission des enfants anormaux dans les classes de perfectionnement ausführten,65 sondern ebenfalls nur die zweifelhaften Fälle: «C’est à la pédago- gie qu’il appartient de faire le premier triage parmi les enfants des écoles, en désignant ceux qui sont suspects d’arriération.»66 So war «l’examen psycholo- gique», die Durchführung des Binet-Simon-Tests, nicht Teil des vorgesehenen obligatorischen «examen pédagogique» der Schulkinder, sondern «un moyen de réhabiliter l’enfant qui présente un retard scolaire accentué»: «C’est là sa seule utilité. Jamais, dans aucun cas, cet examen ne peut servir à déclarer arri- éré un enfant régulier dans ses études.»67 Was Binet und Simon mit ihrem Test

61 Binet/Simon 1910, S. 127, 130, 135. 62 In L’Année psychologique wurde die Debatte nach dem Referat gekürzt. Während sich in den Annales médi- co-psychologiques fünf zum Teil sehr ausführliche und auch zustimmende Voten fanden, finden sich in L’Année psychologique nur die Einwände des Kritikers, der sich Simonin anschloss (vgl. Binet/Simon 1911, S. 478 – 480). 63 Binet/Simon 1910, S. 128f., 130, 132. 64 Simonin 1910, S. 244. 65 Vgl. das Kapitel «L’examen pédagogique des anormaux d’école» (Binet/Simon 1907, S. 53 – 124). 66 Ebd., S. 56. 67 Ebd., S. 103.

233 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

versuchten, war, «de mettre en lumière la puissance intellectuelle de l’enfant, prise en elle-même, et séparée de tout ce qui constitue le savoir». Die Prüfung der Intelligenz sollte gerade «ausserhalb» von Erziehung und Schule stattfinden, da es verschiedene Gründe gab, weshalb Kinder wenig wussten (Kinder, die schlecht Französisch sprachen, die oft den Wohnort gewechselt hatten, häufig krank gewesen waren usw.).68 Das Herzstück von Binets und Simons Vorschlag war also gerade kein genuin pädagogisches Verfahren, sondern es bestand vielmehr in einem zusätzlichen psychologischen Test. An der Abfolge und der Arbeitsteilung zwischen einem «examen pédagogique», bei dem Kinder in der Schule auf Auffälligkeiten hin geprüft werden, und einem «examen psychologique», bei dem das «examen pé- dagogique» überprüft und die exakte Diagnose vorgenommen wird, hat sich bis heute nichts geändert. Dadurch, dass Ärzte bei der Aushebung beteiligt waren, dass es Militärärzte und später Militärpsychologen gab, herrschte in der Armee eine ähnliche Form der Arbeitsteilung wie in der Schule: In beiden Fällen konn- te eine gültige Diagnose nur dank einer «externen» medizinischen, psychologi- schen Expertise vorgenommen werden.69

3. Wissenstransfer zwischen Armee und Schule? Der Psychiater Anton Koller, der lange die Heil- und Pflegeanstalt in Herisau lei- tete, führte 1907 und 1922 «Zählung[en] der Schwachsinnigen, Taubstummen und Epileptischen» im Kanton Appenzell Ausserrhoden durch. Mit der Erhebung 1922 wurde gleichzeitig auch eine «Nachzählung» der «Kinder» von 1907 vorge- nommen: Einer der «schwachsinnigen» Jungen war etwa «Legionär in Frank- reich und Marokko» geworden, er hatte «es bis zum Unteroffizier» gebracht. «Militärtauglichkeit» war ein beliebter Gradmesser dafür, ob die männlichen «Anormalen» sich «im praktischen Leben ordentlich machen, sich mit ihrer Ar- beit durchbringen können und nicht besonders auffallen»: «36 von den 183 nach- gezählten männlichen Personen haben Militärdienst gemacht. Sie haben bei der Rekrutierung also nicht den Eindruck so erheblicher Geistesschwäche gemacht, dass sie deswegen dienstfrei geworden wären.»70 Dass «anormaux médicaux», «militaires» und «scolaires», wie Binet und Simon betonten,71 nicht unbedingt dasselbe waren, lässt sich auch sehr gut an den Schriften des Psychiaters und Genfer Schularztes François Naville (1883 – 1968) und an den Arbeiten Albert

68 Ebd., S. 42, 69. 69 Vgl. Bühler 2015, S. 340 – 350. 70 Koller 1926, S. 96, 147, 159, 162; vgl. auch Nager [1909]. 71 Vgl. Binet/Simon 1907, S. 108 – 120.

234 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Furrers (1889 – 1933) studieren, der Psychoanalytiker, Lehrer und Leiter pädago- gisch-psychiatrischer «Beobachtungsstationen» in Zürich war. Naville promovierte 1910 über L’aliénation mentale dans l’armée suisse et dans les armées étrangères,72 danach arbeitete er als Schularzt in Genf und publizierte über «anormale» Schulkinder. Er betreute auch die Dissertation Contribution clinique et statistique à l’étude des enfants anormaux des Écoles primaires de Genève.73 Furrer besuchte das Seminar in Küsnacht und arbeitete als Lehrer. 1917 richtete er für die Pro Juventute ein psychiatrisch-pädagogisches «Beobachtungsheim» in Zü- rich ein, das bis 1920 bestand.74 1921 wurde er pädagogischer Leiter der «Ste- phansburg», der kantonalen «Beobachtungsstation» für Kinder an der Psychiat- rischen Klinik Burghölzli.75 1928 übernahm er eine sogenannte Beobachtungs- klasse, eine «Psychopathen-Sammelklasse».76 Furrer promovierte 1930 in Zürich mit einer Arbeit über den Rorschach-Test.77 Er publizierte jedoch nicht nur zur psychoanalytischen Pädagogik und zu «anormalen» Schulkindern,78 sondern ist auch der Verfasser der Abhandlung Seelische Ursachen des Schlechtschiessens und deren Bekämpfung.79 Furrer wandte dabei sowohl «das psychanalytische Verfahren» Sigmund Freuds als auch «das neue psychodiagnostische Verfahren» Hermann Rorschachs an und präsentierte vier «Untersuchungsfälle». Beim ersten, dem des Schützen Kawa, stand z. B. nach «54 Analysestunden» fest, dass er «die Liebe des Vaters» «schmerzlich entbehrte», was auch sein Schiessen nachteilig beein- flusste: «Seine neurotische Angst, die mit Geringwertigkeits- und Schuldgefühlen vermischt war, äusserte sich schon vor dem Schiessen in depressiver Stimmung, Unsicherheit, Zweifeln am Können und am Glück; beim Zielen tat sich die ängstliche Unruhe durch Zittern kund, unmittelbar vor der Schussabgabe durch die Zwangsbefürchtungen, er werde nicht im richtigen Moment abdrücken, der Schuss werde trotz aller Anstrengung und Sorgfalt schlecht ausfallen usw.»80 Der Psychiater Naville untersuchte in seiner Dissertation zwar Geisteskrank- heiten in der Armee und behandelte danach sowohl ganz praktisch als auch theoretisch in seinen Schriften psychisch «anormale» Schulkinder, aber in seinen «Schulschriften» führte Naville weder seine Dissertation noch die Armee an.81

72 Vgl. Naville 1910a. Zu Navilles Publikationen vgl. Naville 1938. 73 Vgl. Rabinerson-Lévine 1914. 74 Vgl. Furrer 1920. 75 Furrer 1923a. 76 Vgl. Furrer 1930, S. 63; vgl. auch Zürrer-Simmen 1994, S. 70. 77 Vgl. Furrer 1930. Vgl. auch Furrer 1925. 78 Vgl. Furrer 1919; Furrer 1922; Furrer 1926a; Furrer 1926b; Furrer 1928. 79 Vgl. Furrer [1923b]. 80 Ebd., S. 9, 36, 42, 45. 81 Vgl. Naville [1910b]; Naville 1913; Naville 1914; Naville 1923; Naville/Saussure 1926. Ebenso wenig ging François Naville in einem späteren Beitrag zur Armee auf die Schule ein (vgl. Naville 1918).

235 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Der Lehrer Furrer wiederum arbeitete in «pädagogisch-psychiatrischen» «Beob- achtungsstationen» und schrieb über psychopathologische Hemmungen beim Schiessen:82 Er stützte sich dabei jedoch zumindest nicht explizit auf seine reichen Erfahrungen mit «schwererziehbare[n] Kinder[n]».83 Nur, bedeutet das nun, dass es insgesamt zu keinem Wissenstransfer zwischen Armee und Schule kam? Die Debatten um die «Abschwächung» der Schweizer Jugend, die Diskussio- nen, die Binets und Simons Versuch auslöste, ihren Test in der Armee anzuwen- den, sowie die Schriften und Karrieren von Naville und Furrer könnten auf den ersten Blick als exemplarisch für Wissenstransfer zwischen Schule und Armee gelten. Denn der Wechsel vollzog sich immer sowohl über Personen und Insti- tutionen als auch über Verfahren und geteilte Wissensbestände hinweg: Militär- ärzte wie Hürlimann und Wiesmann und Lehrer wie Felber konnten mithilfe von Statistiken die «Degeneration» der Schweizer «Volkskraft» bestimmen und eine «Educationalization of Social Problems» betreiben,84 der Psychologe Binet und der Psychiater Simon konnten über «Schwachsinnige» sowohl in der Schule als auch in der Armee referieren und für ihren Test die Werbetrommel rühren, während der Armeearzt Naville Schularzt werden und Hauptmann Furrer «psy- chopathische Kinder» unterrichten konnte.85 Auf den zweiten Blick scheint es sich jedoch gerade nicht um einfache Formen von Wissenstransfer gehandelt zu haben. Denn der Austausch scheint häufig zeitgleich in beide «Richtungen» funktioniert zu haben: Hürlimann, Naville oder Furrer publizierten etwa mehr oder weniger zur selben Zeit sowohl schul- als auch militärärztliche Studien. Wenn es jedoch zu simultanem «Wissenstransfer» kommt, ist gerade diese in der Pädagogik ausserordentlich beliebte Bezeichnung eine schlechte Wahl, da die Metaphorik suggeriert, dass Wissen wie «ein ding von eim ort zum andern ­ [ge]tragen» werden könne.86 Der Begriff ist jedoch nicht nur wegen seiner «Unidirektionalität»,87 sondern auch wegen seiner «Essentialität» schwierig. Der Terminus legt nämlich nahe, dass Wissen in klar definierten kleinen Einheiten wie Münzen in Umlauf gebracht werden könne.88 Wenn Wissen jedoch unauf- haltsam und eher «breiig» hin und her flösse, wäre es nicht mehr möglich ein- zelne Transfers und auch das Wissen selbst genau zu bestimmen: Worin bestand z. B. Wiesmanns Wissen wirklich genau, und stammte es aus der Armee, dem

82 Furrer 1930, S. 63. 83 Furrer 1919. 84 Vgl. Smeyers/Depaepe 2008. 85 Furrer 1928. 86 Das Verb «transferieren» war im 16. Jahrhundert «durchaus geläufig, später seltener»:«concret ‹ein ding von eim ort zum andern tragen›», so eine Bestimmung von 1572 (o.A. [1935]/1984, Sp. 1237). 87 Behrs/Gittel/Klausnitzer 2013, S. 40. 88 Mit dem Ausdruck «Zirkulation» lässt sich leider nur das erste Problem der «Unidirektionalität» lösen.

236 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Spital oder dem Lehrerseminar? Versuchten Binet und Simon tatsächlich, einen Test, den sie für die Schule entwickelt hatten, für die Armee zu adaptieren? Hatte Binet nicht vielmehr schon lange davor über Psychopathologie gearbeitet,89 war Simon nicht Psychiater und die «Frage der Intelligenzmessung» schon «seit zwanzig bis dreissig Jahren» «immerwährend an der Tagesordnung gewesen»?90 Handelte es sich vielleicht eher um einen Transfer eines Transfers? Ginge man von solch komplizierten Fällen von Wissenstransfer aus, müsste man wohl, statt sich auf einzelne «Übertragungen» zu konzentrieren und von einem klar be- stimmbaren Wissen auszugehen, das Augenmerk ganz altmodisch auf die Ord- nung, die Medien und die Institutionen von Wissen richten,91 «Denkstil» und «kollektive», «Denkökonomie» und «sozialen Denkzwang» untersuchen.92 Würde man die untersuchten Beispiele aus dieser Perspektive betrachten, so würde es sich dabei plötzlich nicht mehr um schlichte Überträge von Wissen von der Schule in die Armee handeln und umgekehrt, sondern um komplexe, sozu- sagen über einen Dritten vermittelte Formen des Austausches: Schule und Armee wären dann direkt nur noch lose zu koppeln. Bei den Debatten um die «Abschwä- chung» der Schweizer Jugend hätte vielmehr ein zeittypisches, auf Statistik ge- stütztes Amalgam aus Eugenik, sozialer Frage und Nationalismus als «Relais» funktioniert, bei Binet und Simon sowie bei Naville und Furrer hätte die damals ebenso aktuelle und davon nicht zu trennende Beschäftigung mit psychischer «Anormalität» die Möglichkeit der Verbindung geschaffen. Die «Transmission» hätte also just nicht da stattgefunden, wo man sie zuerst vermutet hätte, sondern in Schule und in Armee, würden sich «Symptome» derselben Prozesse studieren lassen, die auch sonst zu beobachten sind. Es wären der am Ende des 19. Jahr- hunderts wichtig werdende eugenische, nationalistische und «sozialpolitische[] Diskurs»93 und die damit einhergehende Medikalisierung der Gesellschaft mit- samt der einsetzenden «Errettung der modernen Seele»94 gewesen, die es erlaubt hätten, Schule und Armee zu verbinden: Die gleichzeitige «Ausdehnung» von Sozialpolitik und Medizin hätten es möglich gemacht, Schule und Militär zu «assoziieren», sich in beiden und nicht nur da zu «bewegen». Naville etwa wand- te sich nach Armee und Schule der Forensik zu: Ab 1934 leitet er das Institut für Gerichtsmedizin der Universität Genf.95

89 Vgl. Plas 1994. 90 Binet 1912, S. 96. 91 Vgl. Sarasin 2011, S. 167 – 172. 92 Fleck [1935]/2010, S. 14, 86. 93 Lengwiler 2000, S. 301. 94 Illouz 2009. 95 Naville war einer der Experten, die 1943 das Massaker in Katyn untersuchten (vgl. Staufer 2004).

237 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Bibliografie

Quellen Anschütz, Georg/Ruttmann, W. J.: Vorwort. In: Binet, Alfred: Die neuen Ge- danken über das Schulkind. Autorisierte deutsche Bearbeitung. Leipzig: Wunderlich 1912, S. III – VI. Arnold, C[arl]: Dr. med. Josef Hürlimann †. In: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, 11 (1910), S. 485 – 491. Binet, Alfred: La suggestibilité. Paris: Schleicher 1900. Binet, Alfred: Die neuen Gedanken über das Schulkind. Autorisierte deutsche Bearbeitung besorgt durch Georg Anschütz und W. J. Ruttmann. Leipzig: Wunderlich 1912. Binet, Alfred/Simon, Th[éodore]: Les enfants anormaux. Guide pour l’admission des enfants anormaux dans les classes de perfectionnement. Pa- ris: Colin 1907. Binet, Alfred/Simon, Th[éodore]: Sur la nécessité d’une méthode applicable au diagnostic des arriérés militaires. In: Annales médico-psychologiques, 11 (1910), S. 123 – 137. Binet, Alfred/Simon, Th[éodore]: Sur la nécessité d’une méthode applicable au diagnostic des arriérés militaires. In: L’Année psychologique, 17 (1911), S. 475 – 480. Bircher, H[einrich]: Die Rekrutierung und Ausmusterung der Schweizeri- schen Armee. Aarau: Sauerländer 1886. Felber, Joseph: [Beantwortung der «[e]rziehungsräthlichen Konferenzaufga- be»]. In: Jahrbuch der Luzernischen Kantonal-Lehrerkonferenz (1881), S. 96 – 121. Furrer, Albert: Zur Frage der Beobachtung schwererziehbarer Kinder. In: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, 58 (1919), S. 118 – 126, 129 – 134. Furrer, Albert: Unsere Erfahrungen mit dem Beobachtungsheim Pro Juven- tute in Zürich. Zürich: Roth 1920. Furrer, Albert: [Besprechung Oskar Pfisters «Die Liebe des Kindes und ihre Fehlentwicklung»]. In: Schweizerische pädagogische Zeitschrift, 32 (1922), S. 378 – 379. Furrer, Albert: Die Stephansburg, kantonale Beobachtungsstation für Kinder in Zürich. In: Schweizerische pädagogische Zeitschrift, 33 (1923a), S. 112 – 117.

238 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Furrer, A[lbert]: Seelische Ursachen des Schlechtschiessens und deren Be- kämpfung. Zürich: Aschmann & Scheller [1923b]. Furrer, A[lbert]: Über die Bedeutung der «B» im Rorschachschen Versuch. Nach einem Vortrag in der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse, 15. März 1924. In: Imago, 11 (1925), S. 58 – 83. Furrer, A[lbert]: Der «moralische Defekt». Das Schuld- und Strafproblem in psychanalytischer Beleuchtung. Zürich/Leipzig/Berlin: Orell Füssli 1926. Es handelt sich um einen Separatdruck, der Artikel erschien in: Schweizerische pädagogische Zeitschrift, 36 (1926a), S. 47 – 52, 78 – 84. Furrer, Albert: Trotzneurose eines fünfzehnjährigen Mädchens. In: Zeit- schrift für psychoanalytische Pädagogik, 1 (1926b), S. 49 – 60. Furrer, A[lbert]: Wie erziehen wir neurotische und psychopathische Kinder? Aus einem Vortrag über «Heilpädagogische Möglichkeiten beim anormalen Kind», gehalten vor Schulpflegern des Bezirks Zürich, 20. Januar 1928. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 2 (1928), S. 255 – 264. Furrer, Albert: Der Auffassungsvorgang beim Rorschach’schen psychodiag- nostischen Versuch. Zürich: zur Alten Universität 1930. Häberlin, P[aul]: Koreferat [zu Wiesmann 1908]. In: Schweizerische Zeit- schrift für Gemeinnützigkeit, 47, 4 (1908), S. 408 – 415. Heer, Oswald: Beitrag zur Kenntnis der Rekrutierungsverhältnisse der land- wirtschaftlichen und industriellen Bevölkerung der Schweiz. Schaffhausen: Meier 1897. Hürlimann, [Josef]: Ueber die Ergebnisse der Sanitarischen Rekruten-Muste- rung in der Schweiz während den Jahren 1875 bis 1879. Eine populäre mili- tärärztliche Skizze. In: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, 19 (1880a), S. 417 – 475. Hürlimann, [Josef]: Ueber die Ergebnisse der Sanitarischen Rekruten-Muste- rung in der Schweiz während den Jahren 1875 bis 1879. Referat für die Jah- resversammlung der Schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft 21. Sep- tember 1880 in Zug. Zürich: Herzog 1880b. Hürlimann, Josef: Die Schlacht am Morgarten. Mit Berücksichtigung der Lan- destopographie zur Schlachtzeit. Zug: Rey & Kalt 1911. Koller, A[rnold]: Die Zählung der Schwachsinnigen, Taubstummen und Epi- leptischen des Kantons Appenzell a. Rh. im Jahre 1922. Zürich: Gutzwiller 1926. Marty, J[ohann]: Die Rekruten-Prüfungen. In: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, 15 (1876), S. 305 – 453.

239 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Mirallié, Ch[arles] (Hrsg.): Congrès des médecins aliénistes et neurologistes de France et des pays de langue française. 19e session tenue à Nantes du 2 au 7 Août 1909. Nantes: Dugas 1910. Nager, Franz: Die Behandlung der geistig Anomalen bei der Aushebung der Wehrpflichtigen. In: Verhandlungen der VII. Schweiz. Konferenz für das Idiotenwesen in Altdorf am 5. und 6. Juli 1909. Glarus: Buchdruck Glarner Nachrichten [1909], S. 121 – 130. Naville, François: Contribution à l’étude de l’aliénation mentale dans l’armée suisse et dans les armées étrangères. Études clinique, statistique, et de pro- phylaxie. Genève: Kündig 1910a. Naville, F[rançois]: Du rôle des classes spéciales dans l’éducation des enfants anormaux et leur organisation actuelle, à Genève en particulier. Rapport pré- senté à la séance annuelle de la Société de patronage des aliénés, Genève 1910. [o. O.]: [o. V.] [1910b]. Naville, François: Les classes spéciales pour enfants anormaux. De leur rôle et de leur organisation actuelle en Suisse, à Genève en particulier. In: Schwei- zerische Rundschau für Medizin, 13, 21 (1913), S. 865 – 881. Naville, F[rançois]: L’éducation des enfants anormaux. In: Quartier-La-Tente, E. (Hrsg.): Recueil de monographies pédagogiques publié à l’occasion de l’Exposition nationale suisse Berne 1914 par la Conférence romande des Chefs de l’Instruction publique. Lausanne: Payot 1914, S. 275 – 299. Naville, F[rançois]: Le traitement et la guérison des psychonévroses de guerre invétérées à l’hôpital Saint-André de Salins. In: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, 47, 25 (1918), S. 817 – 829. Naville, F[rançois]: Les diplégies congénitales et les troubles dysthyroïdiens dans les classes d’enfants anormaux de Genève. Etude clinique et statistique. In: Veraguth, O[tto]/Minkowski, M[iecyol]/Brun, R[udolf] (Hrsg.): Fest- schrift für Constantin von Monakow. Zürich: Orell Füssli 1923, S. 559 – 567. Naville, François/Saussure, Raymond de: Sur quelques cas de paragraphie infantile. In: Journal de Psychologie normale et pathologique, 13 (1926), S. 567 – 574. Naville, F[rançois]: Résumé des publications. Genève: Imprimerie du Journal de Genève 1938. O.A.: Regulativ für die Rekrutenprüfungen und die Nachschulen. (Vom 13. Ap- ril 1875). In: Bundesblatt, 2, 16 (1875), S. 101 – 103. O.A.: Andenken an die Abschieds-Feier für den hochwürdigen Herrn Seminar- direktor J. B. Marty, Sonntag den 28. Juni 1885 im Gasthof zum «Rössli» in Schwyz. Schwyz: Triner 1885.

240 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

O.A.: An die verehrt. Vorstände der kantonalen gemeinnützigen Gesellschaften und Bezirksvereine. In: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, 47 (1908), S. 97 – 99. Rabinerson-Lévine, Beila: Contribution clinique et statistique à l’étude des en- fants anormaux des Écoles primaires de Genève. Genève: Sonor 1914. Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’éducation. Œuvres complètes. 7. Band. Genève/Paris: Slatkine/Champion 2012. [Schiller, Heinrich]: Dr. med. Paul Wiesmann, Krankenhausarzt in Herisau. Das Lebensbild eines Arztes. In: Appenzellische Jahrbücher, 44 (1916), S. 62 – 98. Simonin, J[ules]: Essai des tests psychiques scolaires pour apprécier l’aptitude intellectuelle au service militaire. In: Revue neurologique, 17 (1909a), S. 1043 – 1048. Simonin, J[ules]: Les dégénérés dans l’armée. Origine – caractères – prophyla- xie. In: Annales d’Hygiène publique et de médicine légale, 11 (1909b), S. 32 – 52. Simonin, J[ules]: Essai des tests psychiques scolaires pour apprécier l’aptitude intellectuelle au service militaire. In: Mirallié, Ch[arles] (Hrsg.): Congrès des médecins aliénistes et neurologistes de France et des pays de langue françai- se. 19e session tenue à Nantes du 2 au 7 Août 1909. Nantes: Dugas 1910, S. 235 – 245. Waser, M. (Hrsg.): Monsignore Joh[ann] Bapt[ist] Marty, Kaplan der päpstl. Schweizergarde und Geheimkämmerer Sr. Heiligkeit Leo XIII. Ingenbohl: Paradies [1901]. Wiesmann, P[aul]: Über die Ergebnisse der sanitarischen Untersuchungen der Rekruten von Appenzell A. Rh. 1883 – 1902. Vortrag, gehalten an der Jahres- versammlung der Appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft in Wolf- halden am 7. September 1903. In: Appenzellische Jahrbücher, 32 (1904), S. 48 – 59. Wiesmann, P[aul]: Die neueren sanitarischen Rekrutenuntersuchungen in der Schweiz und Folgerungen für die physische u. moralische Erziehung der Schweizer Jugend. In: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, 47 (1908), S. 364 – 408.

241 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Literatur Bauder, Tibor/Crotti, Claudia: Labour, children and education in the first half of the 19th century. Socio-political and pedagogical endeavours in Swit- zerland. In: Mayer, Christine (Hrsg.): Children and youth at risk. Historical and international perspectives. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2009, S. 107 – 120. Becker, Peter: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ru- precht 2002. Behrs, Jan/Gittel, Benjamin/Klausnitzer, Ralf: Wissenstransfer. Konditio- nen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2013. Bühler, Patrick: Krankhafte «Geschwätzigkeit» und «psychogene Stumm- heit». Zur Geschichte von Reden und Schweigen in der Pädagogik. In: Mag- yar-Haas, Veronika/Geiss, Michael (Hrsg.): Zum Schweigen: Macht und Ohnmacht in Erziehung, Bildung und Politik. Baden-Baden: Velbrück 2015, S. 335 – 358. Criblez, Lucien: Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft – ein päda- gogisches Netzwerk in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. In: Grunder, Hans- Ulrich/Hoffmann-Ocon, Andreas/Metz, Peter (Hrsg.): Netzwerke in bil- dungshistorischer Perspektive. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013, S. 167 – 178. Criblez, Lucien/Huber, Christina: Der Bildungsartikel der Bundesverfas- sung von 1874 und die Diskussion über den eidgenössischen «Schulvogt». In: Criblez, Lucien (Hrsg.): Bildungsraum Schweiz. Historische Entwick- lung und aktuelle Herausforderung. Bern: Haupt 2008, S. 87 – 129. Crotti, Claudia: Pädagogische Rekrutenprüfungen. Bildungspolitische Steue- rungsversuche zwischen 1875 und 1931. In: Criblez, Lucien (Hrsg.): Bil- dungsraum Schweiz. Historische Entwicklungen und aktuelle Herausforde- rungen. Bern: Haupt 2008, S. 131 – 154. Crotti, Claudia/Kellerhals, Katharina: «Mögen sich die Rekrutenprüfun- gen als kräftiger Hebel für Fortschritt im Schulwesen erweisen!» PISA im 19. Jahrhundert: Die schweizerischen Rekrutenprüfungen – Absichten und Auswirkungen. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 29, 1 (2007), S. 47 – 64. Dollinger, Bernd: Die Pädagogik der sozialen Frage. (Sozial-)Pädagogische Theorie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Re- publik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006.

242 Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert

Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsa- che. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Frank- furt am Main: Suhrkamp 2010. Germann, Urs: Psychiatrie und Strafjustiz. Entstehung, Praxis und Ausdiffe- renzierung der forensischen Psychiatrie in der deutschsprachigen Schweiz. Zürich: Chronos 2004. Grubenmann, Bettina: Nächstenliebe und Sozialpädagogik im 19. Jahrhun- dert. Eine Diskursanalyse. Bern: Haupt 2007. Hartmann, Heinrich: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Göttingen: Wallstein 2011. Hassenforder: Le Val-de-Grâce. In: Revue historique de l’armée, 14, 1 (1958), S. 95 – 135. Hunziker, O./Wachter, R.: Geschichte der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft 1810 – 1910. Im Auftrage der Gesellschaft bearbeitet bis 1896 von O. Hunziker, ergänzt bis zum Zentenarjahr von R. Wachter. Zürich: Zürcher & Furrer 1910. Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. Jaun, Rudolf: Vom Bürger-Militär zum Soldaten-Militär: Die Schweiz im 19. Jahrhundert. In: Frevert, Ute (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 48 – 77. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900. 4. vollständig überar- beite Auflage. München: Fink 2003. Larcher, Sabina: Mütterlichkeit. In: Benner, Dietrich/Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel: Beltz 2004, S. 700 – 723. Lengwiler, Martin: Zwischen Klinik und Kaserne. Die Geschichte der Militär- psychiatrie in Deutschland und der Schweiz 1870 – 1914. Zürich: Chronos 2000. Lustenberger, Werner: Pädagogische Rekrutenprüfungen. Ein Beitrag zur Schweizer Schulgeschichte. Chur: Rüegger 1996. O.A.: Transferieren [1935]. In: Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm (Hrsg.): Deut- sches Wörterbuch. 21. Band. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, Sp. 1237 – 1238. O.A.: Test. In: Pfeifer, Wolfgang (Hrsg.): Etymologisches Wörterbuch des Deut- schen. 2. Auflage. 2. Band. Berlin: Akademie 1993, S. 1427.

243 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Neuner, Stephanie: Medizin und Militär in der Moderne. Deutschland 1814 – 1918. Eine Einführung. In: Larner, Melissa/Peto, James/Schmitz, Col- leen M. (Hrsg.): Krieg und Medizin. Göttingen: Wallstein 2009, S. 31 – 43. Nicolas, Serge: Alfred Binet et «L’Année psychologique» d’après une corres- pondance inédite. In: L’Année psychologique, 97 (1997), S. 665 – 699. Plas, Régine: La Psychologie pathologique d’Alfred Binet. In: Fraisse, Paul/Se- gui, Juan (Hrsg.): Les Origines de la psychologie scientifique. Centième an- niversaire de «L’Année psychologique» (1894 – 1994). Paris: Presses univer- sitaires de France 1994, S. 229 – 245. Ritter, Hans Jakob: Psychiatrie und Eugenik. Zur Ausprägung eugenischer Denk- und Handlungsmuster in der schweizerischen Psychiatrie 1850 – 1950. Zürich: Chronos 2009. Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 36 (2011), S. 159 – 172. Seichter, Sabine: Erziehung an der Mutterbrust. Eine kritische Kulturge- schichte des Stillens. Weinheim: Beltz Juventa 2014. Smeyers, Paul/Depaepe, Marc (Hrsg.): Educational Research: The Educatio- nalization of Social Problems. [Dordrecht]: Springer 2008. Staufer, Paul: Die Schweiz und Katyn (1943). In: Staufer, Paul: Polen – Juden – Schweizer. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2004, S. 186 – 211. Zürrer-Simmen, Susanna: Wege zu einer Kinderpsychiatrie in Zürich Dieti- kon: Juris 1994.

Prof. Dr. Patrick Bühler, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwest- schweiz, Institut Primarstufe, [email protected]

244

20. Jahrhundert

Reflexion und Kritik des Ersten Weltkriegs in der Zürcher Schulsynode und 11den Schulkapiteln

20. Jahrhundert

Andreas Hoffmann-Ocon

11. Reflexion und Kritik des Ersten Weltkriegs in der Zürcher Schulsynode­ und den Schulkapiteln Die Dynamik der Krisenwahrnehmung und der Wandel der individualpädagogischen Perspektive

Der Kanton und vor allem die Stadt Zürich lassen sich insbesondere zur Zeit des Ersten Weltkriegs als ein gelebter Raum kennzeichnen, in dem mehrschichtig verschiedene Erkenntnishaltungen, Einstellungen und Praktiken von individu- ellen und kollektiven Akteuren verknüpft waren.1 In der Kaserne Zürich wurden während des Kriegs Rekruten ausgebildet und eine hohe Anzahl Soldaten stati- oniert.2 Neben der Kaserne, quasi als eine Stadt in der Stadt, entwickelte sich Zü- rich zu einem Zentrum für emigrierte Künstlerinnen und Künstler, Dienstverweigerer und Deserteure.3 Auch wenn es sich um eine Überinterpreta- tion handeln sollte, wenn Zürich in der Kriegszeit mit den dadaistischen Expo- nenten in der Spiegelgasse, die sich in habitueller Bürgerverachtung jeglichem kriegerischen Idealismus verweigerten, als Ort der «Sprengung der alteuropäi- schen Sinn-Systeme durch die Nullpunkt-Geste» bezeichnet wird,4 paarten sich in dieser Stadt soziale, kulturelle und politische Gegensätze.5

1 Beuttler 2014, S. 78. 2 Maeder 2014, S. 15f. 3 Billeter 2014, S. 121; Jaun 2014a, S. 186. 4 Sloterdijk 2014, S. 135; Mittelmeier 2016, S. 65. 5 Tanner 2015, S. 132.

251 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

In den zürcherischen Schulkapiteln und der Schulsynode wurde der Erste Weltkrieg, der die von militärischen Auseinandersetzungen verschonte Schweiz als Nichtkriegspartei nur indirekt betraf, jedoch auf vielfältige Weise tangierte,6 aus einem Blickwinkel beobachtet, reflektiert und kritisiert, der mit seinen For- men der Selektivität und Abstraktion den Orientierungen und Wahrnehmungen selbst organisierter Lehrpersonen für die Volksschule entsprach. Das institutio- nelle Zusammenspiel von Schulkapiteln mit einmal oder auch mehrmals jährlich stattfindenden Sitzungen als vorberatende Instanz der Schulsynode etablierte bereits im 19. Jahrhundert eine Praxis der kollektiven Suche nach gesellschaftlich relevanten Perspektiven und Positionen. Die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfeinernde Grundidee der debattierenden Schulsynode schloss ausdrücklich die Diversität von verschiedenen Annahmen mit ein. Die Schulsynode hat ihr institutionelles Gefüge durch zwei Jahrhunderte hindurch mehrfach geändert. Will man nach den typischen Elementen dieser einzigartigen Einrichtung fragen, die nach der einer liberalen Ideen folgenden Lehrerschaft zu einer legislativen Institution, zu einer Art Schulparlament – wie die Gegner dieser Überlegungen eher polemisch anmerkten – , ausgebaut werden sollte,7 kann diese als eine «durch die kantonale Verfassung (1831) und das kantonale Schulgesetz (1832) errichtete[] ständische[] Organisation der Zürcher Lehrerschaft und der Mitglieder des Erzie- hungsrates sowie der Bezirksschulpflegen mit ausgedehnten Rechten gegenüber der schulpolitischen Verwaltung» für das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahr- hunderts bezeichnet werden.8 Gerade die fluide Institution Schulsynode mit stets wechselnden Tagungsorten im Kanton und den dezentralen Schulkapiteln eröff- net die Chance, das Verhältnis von Stadt und Land, Metropole und Provinz einmal anders in den Blick zu nehmen. Denn Alternativen zum vorherrschenden Schulsystem und zu gängigen Ausbildungsverläufen von Lehrpersonen wurden auch jenseits der Grossstadt mit je unterschiedlichem Regionalbewusstsein for- muliert. Während der Kriegszeit debattierten die Lehrpersonen für Volksschulen, die durch vielerlei Bande mit unterschiedlichen Strömungen verbunden waren, über die Folgen des Krieges für die Schule. In der hier beleuchteten Phase wurden lineare Vorstellungen vom wissen- schaftlichen Fortschritt und liberales politisches Denken durch ein Krisennarra- tiv gebrochen. Der häufige Bezug der Referierenden vor den Lehrergremien auf Weltabgewandtheit, schwächende Überreiztheit, ungesunde Nervosität, Verro- hung, Materialismus – um einige damals gebräuchliche zeitdiagnostische Cha-

6 Kreis 2014, S. 11; Kury 2014, S. 6. 7 Keller 1934, S. 26. 8 Tröhler 2007, S. 53.

252 20. Jahrhundert

rakteristika zu nennen – verweist auf imaginierte Dekadenzprozesse.9 Mit dem Ausbruch des Kriegs wurde auch in Debatten die Frage impliziert, ob der wissen- schaftliche Fortschritt noch eine Zukunft habe. Dass Forschungsprozesse und wissenschaftliche Befunde mit dem sozialen und politischen Leben unentwirrbar verstrickt seien,10 konnte im Sinne sozialtechnologischen Denkens positiv kon- notiert werden. Negativ fiel dagegen einigen Lehrpersonen die antipluralistische Stossrichtung der nationalen Pädagogik im Sinne eines vielschichtigen staatlichen Erziehungsprogrammes auf. Auch wenn die sozialtechnologisch vorgeschlagenen Praktiken zur schrittweisen Abhilfe gegen angebliche Dekadenzsymptome bei der Beschulung von Individuen ansetzen sollten, blieb die gesamte Schülerpo- pulation das Ziel der erzieherischen Interventionen.11 Mit der Formulierung des Wandels der individualpädagogischen Perspektive soll auf die unscharfe und in sich wiederum differente Strömung am Übergang zum 20. Jahrhundert angespielt werden, die etwa im Anschluss an Friedrich Natorp bildungsphilosophische Elemente und in Auseinandersetzung mit Wil- liam Stern psychologische Persönlichkeitsmodellierungen aufnehmen konnte, aber auch von Ellen Keys Verteidigung der Rechte des Kindes nicht unbeeindruckt blieb. Als Leitsätze galten Umschreibungen, nach denen das Einzelwesen selbst- ständig gemacht werden und man dessen Natur sich entfalten lassen solle. In der Rezeptionsweise damaliger Sozialpädagogik sollte in Anbetracht fortschreitender Arbeitsteilung in Massenbetrieben und drohender Einengung auf einförmige Teilgebiete mechanischen Geschehens der Einzelmensch zur Geltung kommen.12 Das unklare Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft blieb im Rahmen dieser Strömung ein stetiges Thema; Forderungen an ein Individuum, sich für die Gemeinschaft zu opfern, wurden theoretisiert und mit den Argumenten zu- rückgewiesen, dass so ein Individuum aus der Gemeinschaft, zu der es gehöre, herausgestossen werde und dass die Gemeinschaft ohne dieses Individuum zu einer anderen werde.13 Ein vehementer Kritiker der individualpädagogischen Positionen war Friedrich Paulsen, der betonte, dass «die heutige Erziehung im ganzen gewiss weniger an zu grosser Härte als an zu grosser Weichlichkeit» leide.14 Die Bildungspolitik folgte nach und nach dem Anspruch anderer Politikfelder, orientierte sich an quasiwissenschaftlichen Effizienz- und Rationalitätsidealen

9 Pross 2013, S. 104; Nonhoff 2016, S. 25. 10 Mittelstrass 2001, S. 131. 11 Etzemüller 2009, S. 22. 12 Herget 1921, S. 96. 13 Henseler 2000, S. 86. 14 Paulsen 1911, S. 14f.

253 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

und förderte somit eine Verwissenschaftlichung politischer Entscheidungspro- zesse. Diese Tendenz nahmen viele Zeitgenossen als Rationalisierung wahr, wobei als Nebenfolge der Raum des Politischen ausgehöhlt werden konnte.15 Die komplexen Vorgänge von Bildungsreformen wurden vonseiten Zürcher Pädago- gik-Professoren mit Stichworten der «Verwertung» und «Rationalität» begleitet.16 1913 etwa debattierte die Schulsynode in Zürich unter dem Thema «Die Lehrer- schaft im Dienste der pädagogischen Forschung» über den Stellenwert der Sozi- al- und der Experimentalpädagogik. Dabei wurde der normative Charakter der seinerzeit dominierenden Pädagogik hinterfragt, die «sorgfältige Sichtung des schon vorhandenen Tatsachenmaterials und die Überprüfung herrschender Normen» sowie der Aufbau einer planmässigen Forschung mit den Mitteln des Experiments und der Erhebung samt der Gründung forschender Arbeitsgemein- schaften von Lehrpersonen gefordert.17 Tatsächlich lässt sich der kurze Höhepunkt der Rezeption experimenteller pädagogischer Ansätze kurz vor dem Ersten Weltkrieg verorten,18 obgleich universitäre Rezeptionen und Verarbeitungsfor- men an Lehrerseminaren nicht als Einheit betrachtet werden sollten. Schulkapitel und Schulsynode boten in der Phase um den Ersten Weltkrieg herum einen Reflexionskontext, auf dessen Grundlage sich interdependente und intertextuelle Kommunikationsformen auf verschiedenen organisatorischen Ebenen ausbilden konnten. Wenn dieser Beitrag sich entlang dieser zwei Gremi- en mit Krisenwahrnehmungen und pädagogischen Überlegungen befasst, die von Zürcher Volksschullehrpersonen diskutiert wurden, dann steht weniger ein institutioneller Zugang zu den Standeseinrichtungen der Unterrichtenden im Mittelpunkt. Vielmehr geht es aus übergeordneter Sicht darum zu klären, welche pädagogischen Reflexionen zum Krieg in der eigentümlichen Doppelstruktur hervorgebracht und welche Spannungsfelder erzeugt wurden. Vor diesem Hin- tergrund ist erstens die Frage nach der Dialektik von Individuum und Nation in pädagogischen Reden zu klären. Zweitens sind die zur Verhandlung stehenden Themen, Problemstellungen und Perspektiven – etwa die der Disziplin in der Schule, der nationalen Erziehung, des Verhältnisses von ideologischen Strömun- gen zur Pädagogik oder der Überbürdung der Schüler – noch einmal auf ihre Argumentarien hinsichtlich der Positionierung zum Kriegsgeschehen zu hinter- fragen. In einer dritten Perspektive sollen die scheinbaren Widersprüche beleuch- tet und diskutiert werden, wenn zum Beispiel Referierende vor den Schulkapiteln

15 Geulen 2007, S. 91. 16 Stettbacher 1924, S. 4. 17 Gassmann 1913, S. 92 – 95. 18 Criblez 2013, S. 28; Hopf 2004.

254 20. Jahrhundert

einerseits Positionen einer synchronen Diversität von pädagogischen Ansätzen und Kulturen implizieren, andererseits bildungspolitisch ein tendenziell autori- täres Ideal nationaler Erziehung stützen. In der hier eingenommenen Optik ist bei der Sichtung und Deutung des Materials – zum Beispiel Schulkapitelprotokolle, Schulsynodalberichte, Artikel aus Lehrerzeitschriften – kontinuierlich zu überlegen, ob die infrage stehenden Wissensbestände zeitgenössisch als wissenschaftliches Wissen galten und als solches in Anspruch genommen werden konnten.19 Andersherum kann auch gefragt werden, ob die beiden Standeseinrichtungen mit eigenwillig schulfeldbe- zogenen Diskursbeiträgen als Kollektivakteure beschrieben werden können, die ein eigenes Wissensfeld konstituierten. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die partielle Abkehr von individualpädagogischen Perspektiven und die Hinwendung zur nationalen Pädagogik mit kollektiven Erziehungs- und Wis- senszielen als instrumentelle Konzeption aus der Not des kriegerischen Augen- blicks heraus zumindest von einem bedeutsamen Teil der Lehrpersonen nicht emphatisch begrüsst wurden. Die Kritiker einer nationalen Pädagogik machten unterdessen auf andere Sozialisationskontexte und gesellschaftliche Strömungen aufmerksam, die durch das Volksschulwesen kaum beeinflussbar waren. Schulkapitel und Schulsynode leisteten in der Kriegszeit einen Beitrag zu einer Wissensproduktion, in der politische und wissenschaftliche, die nationale Erzie- hung legitimierende und delegitimierende Elemente miteinander verschmelzen konnten. Inwiefern in dem Zusammenhang u. a. über nationale Erziehung de- battierende Schulkapitel eine konventionelle Wissensordnung ausser Kraft setzen respektive einschränken konnten, derzufolge es simplifizierend eine Gegenüber- stellung unparteilicher, objektiver Expertise und spezifisch (bildung-)politischer Parteilichkeit gebe,20 soll am Ende dieser Betrachtungen zumindest in eine plausible Vermutung münden. Das Vorgehen besteht darin, quellennah Beiträge aus den Schulkapiteln und der Schulsynode parallel zu lesen und sie teilweise direkt miteinander zu konfrontieren.21 Das heisst nicht, dass man die Äusserun- gen in der Schulsynode auf die Impulse aus den Schulkapiteln reduzieren könnte. Allein die Schulsynode mit ihren Eigendynamiken ist zu komplex und von zu vielen Einflüssen und Bezugnahmen geprägt, um eine simple Deutung von Wissenstransfer und Wissenszirkulation zu erlauben.

19 Pross 2013, S. 90. 20 Weingart 2001, S. 67. 21 Sarasin 2009, S. 10.

255 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

1. Die «grosse Umwertung» der Pädagogik – Der Erste Weltkrieg als Rahmen pädagogischer Themenbearbeitung

Von der Hebung des Nationalgefühls zum Krieg als Erzieher zu Gutem? – Deutungen des Krieges in den Schulkapiteln Zürich Der Sekundarlehrer Fritz Kuhn darf im Rahmen der vor den Schulkapiteln Refe- rierenden als eine Ausnahmeerscheinung gelten. Wenige Tage vor dem Attentat von Sarajevo legte er Wert darauf, «in seiner Eigenschaft als Schweizer Offizier» über Disziplin in Schule und Leben zu sprechen. Dabei, so das Protokoll, «zieht er möglichst viele Parallelen zwischen Schule und Militärdienst».22 In dem Pro- tokoll begegnen dem Lesenden mehrmals ein ironischer Unterton respektive Wortspiele mit dem Begriff «Schweizer Offizier», da der Vortragende den Anschein erweckte, mehr als Offizier denn als Schweizer Bürger den Weiterbildungsvortrag halten zu wollen. Eine weitere Nuance ist, dass Kuhn anstelle von Schülern von «kleinen Soldaten» sprach und damit Zweifel an der gebotenen militärischen Zu- rückhaltung in einem zivilen Kontext säte.23 In der Vorstellungswelt von Kuhn galt die Rekrutenschule als probates Mittel für die Berufsvorbereitung; der Offi- zier traute der Volksschule nicht zu, Primärtugenden, Härte und Entschlossen- heit bei den Schülern aufzubauen: «Durch seinen disziplinierenden Einfluss bereitet der Militärdienst so trefflich auf’s bürgerliche Leben vor, dass man ihn oder etwas Ähnliches sofort schaffen müsste, besässe man diese Anstalt zur Wil- lenserziehung der erwachsenen Jugend nicht schon.»24 Die Angst vor dem Ver- lust von Kriegsführungsfähigkeit25 brachte Kuhn zu der Aussage, «dass wir ein schwächliches für den Lebenskampf untaugliches Geschlecht erziehen», wenn nicht «Leistungsfähigkeit und Willensbildung» mehr Beachtung in der Schule be- kämen.26 Die Forderungen des Offiziers können als eine schleichende Militarisie- rung des Alltagslebens gedeutet werden, welche sich in der Schule fortsetzen und in der Devise der deutschen – auch in der Schweiz beachteten – pädagogischen (Fach-)Literatur: «Lerne vom Militär» ausdrücken konnte.27 Noch bevor die Dis- kussion um nationale Erziehung eine rasante Entwicklung nahm, setzten die Be- mühungen um eine erhöhte Kriegsbereitschaft der Jugend ein.28 Allerdings dürfte Kuhn mit seinen Überlegungen damalige Erwartungen an die Themenbe-

22 [Kuhn] 1914, S. 6. 23 Ebd., S. 7. 24 Ebd. 25 Greiner 2014, S. 22. 26 [Kuhn] 1914, S. 8. 27 Müller, M. 2014, S. 113; Ullrich 1999, S. 398. 28 Wolschke-Buhlmahn 1987, S. 251.

256 20. Jahrhundert

arbeitung Disziplin – auch im militärischen Kontext – streckenweise unterlaufen haben:29 «Mit dem Ausdruck Kadavergehorsam wollte man die unbedingte Un- terordnung unter einen fremden Willen als menschenunwürdig hinstellen. Mit Unrecht! Denn Höchstleistungen sind nur bei bedingungsloser Unterwerfung unter den führenden Willen erreichbar.»30 Eine für die damalige Zeit geradezu ex- emplarische Verknüpfung von Disziplin und Schule hatte Friedrich Wilhelm Foerster in seinem Werk Schule und Charakter (1907) analysiert. In diesem breit rezipierten Buch31 verwies Foerster, angelehnt an angelsächsische Konzeptionen, auf die «weitgehendste Verwirklichung des Gedankens des self-government in der Schuldisziplin» und betont zur deutlichen Abgrenzung, «dass das despotische Sys- tem, das doch auf den strengsten Gehorsam ausgehe, gerade darin am stärksten versage, weil es nur eine äusserliche Unterwerfung erzielen könne».32 Kuhns Plädoyer für Disziplin in der Schule konnte trotz der wenig elaborierten Argumentation nicht zuletzt deshalb auf Resonanz stossen, weil er an gängige Muster der Schulkritik ankoppelte. Demnach sei die Erziehung mancherorts zur blossen Fütterung herabgesunken, doch sei «neben der Vermittlung von Wissen und Können auch die Gewöhnung zur Disziplin» ein wichtiger Teil der Schuler- ziehung und daher die Einreihung der diensttauglichen Lehrer aller Stufen als ein Mittel zur Förderung der Volkserziehung zu begrüssen.33 Kuhn erkannte durchaus die Geltungsmacht des immer wieder gebräuchlichen Überbürdungs- Arguments, sodass er in einem eklektizistischen und auch opportunistischen Zugriff auf pädagogisch-medizinische Versatzstücke versuchte, weitere Lehrper- sonen für seine Optik zu gewinnen. Der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen auf das schweizerische – oder verengt zürcherische – Bildungssystem wurde in den Schulkapiteln und der Schulsynode als Umbruchsituation gedeutet. Debatten in den Schulkapiteln über «das Ziel der Erziehung», über die Ablösung der Individualpädagogik, über die Erziehung des Menschen für Staat und Gesellschaft, über den Menschen als «Glied der Volksgemeinschaft»34 lassen sich als Auseinandersetzung um die den Kriegs- zeiten angemessene Verhältnisbestimmung der sozialen Systeme Militär und Schule verstehen. Einige Exponenten der akademischen Pädagogik – etwa Robert Seidel, der in der schweizerischen Sozialdemokratie den Wandel von einer inter-

29 Wildbolz 1917, S. 399; Wildbolz 1918. 30 [Kuhn] 1914, S. 7. 31 Max 1999, S. 53. 32 Foerster 1907, S. 157 – 162. 33 [Kuhn] 1914, S. 9. 34 [Seidel] 1915, S. 178.

257 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

nationalistischen zu einer nationalen Orientierung repräsentierte35 und als Grütlianer dem rechten Flügel der sozialistischen Bewegung zugerechnet werden darf36 – forderten im Rahmen der als Weiterbildungsveranstaltung vorgesehenen Schulkapitelsvorträge eine «Erziehung des Menschen als Glied der Allgemeinheit».37 Sie boten mit dem kritischen Verweis auf eine unzulängliche, elitäre, dem Schul- feld und Lebenswirklichkeit abgewandte universitäre Pädagogik vielen Lehrper- sonen argumentative Anschlüsse, die, getrieben von «Wirklichkeitshunger»,38 eine Akademisierung auf der Basis einer Tatsachenforschung wünschten. Die Vorstellung, «dass die Weltabgewandtheit des Lehramtskandidaten, be- sonders des Seminaristen endlich aufhören möge», wurde zu einer zentralen Idee von Lehrpersonen und Lehrerbildnern, die 1915 argumentierten, dass mit einer experimentell und sozialpädagogisch orientierten Erziehungswissenschaft «der junge Mann vom Leben Einsicht erlangen soll, anstatt nur mit blossem Gedächtniskram vollgestopft zu werden».39 Die Diskussion von 1915, angestossen von Robert Seidel, weist eine Verbindung zum Kriegskontext auf. Seidels Forde- rung, «dass an Stelle der Individualerziehung eine [ … ] Erziehung aller Menschen ohne Unterschied auf ihren Stand und Rang treten müsse»,40 bot mit dem Verweis auf die Erziehung des Menschen als Glied der Allgemeinheit argumentative Anschlüsse an Modellierungen staats- und national orientierter Pädagogik. Mit der parlamentarischen Motion Wettstein wurde 1915 der Bundesrat aufge- fordert, die Förderung des staatsbürgerlichen Unterrichts durch den Bund zu prüfen. Oskar Wettstein (1866 – 1952), Privatdozent für Journalismus und Pres- serecht an der Universität Zürich, war zur Zeit des Ersten Weltkriegs sowohl Teil des Regierungsrats des Kantons Zürich (Justiz- und Polizeidirektor) als auch Ständerat (radikal-demokratische Fraktion).41 In seiner Motion sah er sich veran- lasst zu betonen, dass mit Hilfe des Bundes etwa ein Handbuch für Lehrpersonen zur Förderung der nationalen Erziehung im Unterricht geschaffen werden solle. 1917 richtete der Bundesrat eine «Botschaft betreffend die Beteiligung des Bundes an den Bestrebungen für die Förderung der nationalen Erziehung» an die Bun- desversammlung.42 Innerhalb und ausserhalb des Bundeshauses wurde die na- tionale Erziehung «nach und nach zum Kampffeld».43 Die EDK, Parteien und

35 Seidel 1918. 36 Gonon 1998, S. 225; Jaun 2014b, S. 29. 37 [Seidel] 1915, S. 180. 38 Radkau 2005, S. 168. 39 [Seidel] 1915, S. 181. 40 Ebd., S. 180. 41 Tögel 2013. 42 Schweizerischer Bundesrat 1917. 43 O.A. 1916, S. 313.

258 20. Jahrhundert

Lehrerverbände debattierten über ein Konzept der nationalen Erziehung; die Kontroverse, die sich auf alle Schultypen bezog, entwickelte sich vor allem bei Sozialisten, Sozialdemokraten, aber auch bei der katholisch-konservativen Frak- tion zum politischen Kampf gegen einen aggressiv wahrgenommenen Liberalis- mus.44 Insbesondere die Hebung des Nationalgefühls durch die Schule wurde in der Kapitelsversammlung 1916 problematisiert. Der Sekundarlehrer Jakob Böschen- stein stellte in seinem Vortrag eine Anatomie der Erziehung zum Krieg dar, die den Teilnehmenden das Schulkind «als Produkt seiner Umgebung vom Kriege» vor Augen führte.45 Zu den kollektiven schulischen Erziehungszielen gehöre inhaltlich, das eigene Land überschwänglich zu preisen und den Feind masslos zu hassen. Von der methodischen Seite her werde das Kind durch Erwachsene in kriegerische Organisationen hineingezogen, wenn zum Beispiel Jugendkom- panien Schützengräben erstellten. In seiner Analyse gelangte Böschenstein zum Schluss, dass die «Schule die Zeit nicht um[schaffe]; sie ist das Spiegelbild der Zeit». Aus diesem Grund dürften sich auch Schweizer Lehrpersonen nicht viel von der «staatsbürgerlichen Erziehung im Sinne der herrschenden Parteien» versprechen.46 Der Sekundarlehrer zeigte mit seiner nüchternen Haltung zum staatsbürgerlichen Unterricht, dass nicht alle im Grütliverein Organisierten47 den Schwenk Seidels zu einer national-patriotischen Erziehung nachvollzogen.48 Überblickt man die Diskussionen im Schulkapitel Zürich im Jahr 1917, fällt auf, dass das grosse Thema der Reform der Lehrerbildung dazu genutzt wurde, nachdrücklich den Krieg als eine Rahmung der Debatte zu verstehen. Mit der Neuperspektivierung der Lehrerbildung war die «grosse Umwertung, die durch den Krieg hervorgebracht wurde», angesprochen, wobei «aber der kommende Friede noch viel mehr umwälzen [wird]».49 Auf welche Situation müssten sich Pädagogik und Lehrerbildung einstellen, wenn sie nicht vom vermeintlichen Ende des Krieges her gedacht werden? Der zur Lehrerbildungsreform vortragende Sekundarlehrer Heinrich Hintermann verlor sich weniger in einer düsteren Wiedergabe der Gegenwart. Aus seiner Sicht sollten zeitgenössische Erwartungen

44 Crotti 2008, S. 234 – 236; Düring 1916. 45 [Böschenstein] 1916. 46 Ebd. 47 Böschenstein 1903. 48 Dass dieser Zeit- und Schuldiagnostik keine abgeschiedene pädagogische Reflexion zugrunde lag, die Beur- teilungen des Verhältnisses von Schule und Gesellschaft respektive von Schule und Staat vielmehr eng mit seinerzeit geführten Debatten zusammenhingen, zeigt Durkheims zum Anfang des 20. Jahrhunderts ver- fasstes Werk zu «Erziehung und Soziologie». Wie andere frühe Sozialwissenschaftler hegte Durkheim kei- ne Zweifel an der zentralen Bedeutung des Staates gegenüber Erziehung und Schule (Durkheim 1972, S. 39). 49 [Hintermann] 1917.

259 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

an die Lehrerbildung am Aufspüren zukünftiger Entwicklungen und Zusammen- hänge ansetzen. Zu seinem Erwartungshorizont gehörte die Vorstellung, dass «bei den Kriegsführenden nach Friedensschluss eine riesige Steigerung von Wirtschaft und Kultur einsetzen [wird]».50 Die Bemerkung wird mit der Befürch- tung fortgeführt, dass über Jahrzehnte ein wirtschaftlicher Wettkampf einsetzen werde, der zur Frage führe, «ob es unserem kleinen Land gelingen» werde, «seine wirtschaftliche Selbständigkeit zu bewahren, und seine Eigenart» oder ob «es dem Druck von aussen unterliegen» werde.51 In den Ausführungen Hintermanns wurde der Krieg fast im Sinne einer Ka- tharsis zum Ausgangspunkt einer ökonomischen und kulturellen Dynamik. Derartige Tendenzen wurden im deutschsprachigen Raum seit der Romantik mit Vorstellungen vorbereitet, dass Kriege nicht als Katastrophen zu betrachten seien, sondern als Momente der Erneuerung. Wie die Eingangssätze zu Ernst Jüngers Roman In Stahlgewittern (1978) andeuten: «Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der grossen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch»,52 hatte der Be- ginn des Ersten Weltkriegs etwas im literarischen Sinne Befreiendes gegenüber dem Gefühl des Eingesperrtseins und Erstickens.53 Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts waren tonangebende Intellektuelle der Auffassung, dass ein Krieg von Zeit zu Zeit aus sozialhygienischen Gründen notwendig sei, zum Beispiel um der epidemisch um sich greifenden Zeit- und Verfallskrankheit der Neurasthenie entgegenzutreten.54 Nicht in Reinkultur, jedoch in massvoller Ak- zeptanz erreichten derartige Aussprüche Jugendliche, die den Krieg als Möglich- keit deuteten, eine Erneuerung der Nation zu erreichen, mit dem Ziel, ein orga- nisches Leben des gesamten Volkes, unabhängig von Klassen-, Partei- und Inte- ressengegensätzen, zu schaffen.55 Die Rhetorik Hintermanns schien den Krieg als Voraussetzung für ein mo- dernes, ökonomisch starkes und kulturell die Massen ansprechendes Staatswesen zu betrachten. Nun müsse, so die Folgerung Hintermanns, die Leistung der Schule durch die Leistung des Lehrers erhöht werden. Damit folgte der Sekun- darlehrer, nicht untypisch für die damalige Sichtweise, einer doppelten tempora- len Struktur:56 Sowohl der Einbruch durch den Krieg ausgelöster neuer Realitäten

50 Ebd.; Müller/Tooze 2015, S. 9. 51 [Hintermann] 1917. 52 Jünger 1978, S. 7. 53 Becher 1987, S. 167; Illies 2012, S. 202. 54 Kiesel 2007, S. 79. 55 Fenske 1987, S. 206. 56 Müller, T. 2014, S. 43.

260 20. Jahrhundert

in den schweizerischen Alltag als auch die Verankerung der tradierten schweize- rischen Eigenart und die wirtschaftliche Selbstständigkeit im Zukünftigen sollten in pädagogischen Konzeptionen innerhalb einer Lehrerbildungsreform in De- ckung gebracht werden. Hintermanns Argumentation war keineswegs singulär: Obgleich die Erleichterung darüber, nicht an den Kriegshändeln beteiligt zu sein, überwogen haben dürfte, sprachen Pädagogen die Befürchtung aus, dass die schweizerische Jugend schwächlich bleibe: «Vergesst [ … ] nicht, dass der Krieg auch ein Erzieher zu Gutem ist. Er weckt den Mut und die Tapferkeit, er schafft das Heldentum, [ … ] er ruft der Opferfreudigkeit und entzündet die Glut, [ … ] sich selbst entäussernder Liebe. [ … ] Und in faulige Zustände des Völkerlebens fährt er wie ein zwar schreckhaftes, vielfach verwüstendes, doch auch reinigendes Gewitter.»57 Der anonyme Autor O.H. diskutierte in seinem Beitrag in der Schwei- zerischen Lehrerzeitung im Herbst 1914, ob die Kulturvölker von heute an zu rei- chem Lebensgenuss krankten, dessen Folgen sich in schwächender Überreiztheit sowie ungesunder Nervosität zeigten, und ob der Krieg Anlass gebe, erzieherisch erhebend auf die Seele von Jung und Alt zu wirken. Eingekleidet in das Gewand erzieherischer Semantik, ging es hier um nichts weniger um als das schweizeri- sche Selbstverständnis. Auf der einen Seite stand das durch den Krieg herausge- forderte Bekenntnis des neutralen Kleinstaats, mit sich zufrieden zu sein und im friedlichen Einvernehmen mit seinen Nachbarn leben zu wollen. Dieses Bild mündete in eine Schweiz als Gegen-Europa, die sich von Abgrenzungsdiskursen, Rückzug auf sich selbst und von der Idee leiten liess, eine humane Alternative zu den benachbarten kriegerischen Grossmächten zu sein.58 Auf der anderen Seite stand eine zunächst grösstenteils deutschfreundliche Armeeleitung, die eine Kriegsbeteiligung der Schweiz an der Seite Deutschlands unter bestimmten Umständen für vorstellbar hielt oder sich sehr stark für die Gefechtsführung der nördlichen Nachbarn interessierte59 und generell Entfremdungsäusserungen provozierte, die u. a. anmahnten, dass man erst selber das Einigungsexamen einer politischen Einheit bestehen müsse, um als Vorbild unter den Völkern dienen zu können.60

57 O.H. 1914, S. 359. 58 Holenstein 2014, S. 203f. 59 Stadler 2003, S. 287; Olsansky 2015, S. 123f. 60 Etwa Spitteler 1915, S. 23f.; Schneider 2014, S. 54.

261 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Bilden Schulen «Bekämpfer des Staates» aus? – Die Kopplung zwischen Pädagogik und ideologischen Debatten Während sich das Schulkapitel Zürich am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit dem Thema «Disziplin und Schule» befasste, diskutierten 1913 die Lehrer auf ih- rer Versammlung im ländlichen Schulkapitel Hinwil den Vortrag «Der Anarchis- mus und die Anarchisten» von Emil Jucker (1883 – 1973).61 «An unseren Augen vorbei rollten die Bilder der führenden Geister des Anarchismus, der Russen Ba- kunin u. Kropotkin, des Amerikaners Tucker, des Deutschen Max Stirner, von Tolstoj.»62 In dem Referat ging es nicht darum, die alternativen Konzepte als il- lusionär zu denunzieren, sondern vielmehr auch um eine Verhältnisbestimmung der Kategorien Erziehung, Schule und Gesellschaft. Jucker umreisst die Positio- nen, welche die Einführung unbeschränkter Selbstständigkeit der Individuen in rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Beziehung erstreben und in der Ver- nichtung des Staates die notwendige Vorbedingung für eine befriedigende Ord- nung der gesellschaftlichen Zustände erblicken.63 Den Lehrpersonen ging es während der Schulkapitelversammlung vor allem darum, den Anarchismus als Erziehungsproblem zu erfassen: «Tun wir unsere Pflicht durch richtige Behand- lung namentlich des Jünglings, der sich nicht verstanden fühlt, denn gar bald hat sich ein Antimilitarist, ein Steuerverweigerer, ein Bekämpfer des Staates gebildet.»64 Es ist auffällig, dass die Angst vor einer schleichenden gesellschaftli- chen Radikalisierung der Beschulten auch ihren Ausdruck in einem Kreisschrei- ben der zürcherischen Erziehungsdirektion fand: «Die kriegerischen Ereignisse, von denen die Kinder täglich zu Hause und auf der Strasse hören, drohen, einen schlimmen Einfluss auf die Jugend zu gewinnen. Es ist die Aufgabe der Schule, der Verrohung [ … ] entgegenzuwirken.»65 Dementsprechend reduzierte sich die Auseinandersetzung mit dem Anarchismus auf Aussagen, dass die Bekämpfung des Anarchismus eine Frage der wirtschaftlichen und sozialen Fürsorge sei. Die vorgetragenen anarchistischen Positionen wurden durch eine didaktisierende Einhegung korrigiert, und es findet sich in der Rezeption der zuhörenden Lehr- personen eine deutlich akzentuierte Parteinahme für den Staat, der in Sachen Pflichtenerfüllung vom Individuum in krisenhaften Zeiten eine Kraftsteigerung verlangen durfte.

61 Gehrig-Straube 2005. 62 [Jucker] 1913, S. 269. 63 Ebd., S. 268. 64 Ebd., S. 271. 65 Zollinger [1914]/1915, S. 246.

262 20. Jahrhundert

Für eine tiefenschärfere Analyse sei ein weiterer Aspekte angedeutet: Auch wenn die Auseinandersetzungen mit politischen und ideologischen Strömungen andernorts in elaborierterer Form geführt wurden, schloss die selbst organisier- te Weiterbildungspraxis der Schulkapitel nicht aus, dass in diesen zugleich schul- feldbezogenen und -begrenzten Kontexten tiefere theoretische Einsichten zutage traten. Wie Selbst- und Fremdbeschreibungen von jungen Volksschullehrperso- nen zur Zeit des Ersten Weltkriegs zeigen, lässt sich eine hohe Sensibilität und Wachheit der Unterrichtenden gegenüber philosophischen, gesellschaftspoliti- schen und pädagogischen Strömungen, gegenüber den sozial-, wirtschafts- und kulturpolitischen Ereignissen sowie vor allem gegenüber dem als krisenhaft wahrgenommenen und als Weltbrand apostrophierten globalen Geschehen nachweisen.66 Damit teilten die debattierenden Lehrpersonen das gerade in den Jahren vor 1914 zu verzeichnende Interesse an alternativen Lebensentwürfen.67 Während die Vortragsthemen des Schulkapitels Hinwil 1915 mit «Henri Du- nant und die Entstehung des Roten Kreuzes» von Sekundarlehrer Ulrich aus Gossau und 1916 «Unsere Demokratie» des Professors für französische und italienische Literatur an der Universität Zürich, Ernest Bovet, der zu dieser Zeit Präsident des Schweizer Heimatschutzes und Pro-Europäer war,68 eher einer politikkritischen Linie folgten, welche etwa das Referat zum Anarchismus vorge- geben hatte, gewann mit dem Vortrag von 1917 die «Frage der nationalen Erzie- hung» durch J. Schmid an Bedeutung. Die von einer nationalen Sensibilität ge- prägten Jahre nach der Motion Wettstein 1915 verhalfen dem Thema der natio- nalen Erziehung auch in dem Schulkapitel Hinwil zu völlig neuer Geltung. Mit der Aufarbeitung des Themas wurde die Pflicht und Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit und dem Staat als bestimmendes Merkmal der gegenwärtigen Zeit charakterisiert.69 Mit der erzieherischen Aufgabe sollte einer- seits das «Pflichtgefühl der Staatsglieder» geweckt und gestärkt werden, während die didaktische Aufgabe die Vermittlung der nötigen staatsbürgerlichen Kennt- nisse beinhalte. Ergänzend zum Unterricht, wurden Spiel- und Turnabende, verbunden mit Belehrungen über Hygiene, Geografie, Gesetzes- und Verfas- sungskunde, vorgeschlagen, um mit Charakterbildung die politische Gleichgül- tigkeit zu bekämpfen. Um den nationalen Standpunkt zu betonen, müsse die Volksschule das Fach Heimatkunde weiter ausbauen.70 Mehrere Lehrer sahen

66 Guyer undatiert; Roth 1977; O.H. 1914, S. 344. 67 Blom 2008, S. 246; Peukert 1987, S. 11; Rizek 2002. 68 Rizek 2002. 69 [Schmid] 1917, S. 331. 70 Ebd., S. 332.

263 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

die Ursache der politischen Misere jedoch nicht im Mangel an staatsbürgerlichen Kenntnissen. Sie hinterfragten die Wahrnehmung einer politisch kenntnislosen Jugend und sahen vielmehr «in dem krassen Materialismus unserer Zeit, der kein anderes Lebensziel kennt als den Erwerb über die Sicherung der Existenz hinaus» das dominierende Problem.71 Die Vorträge und Diskussionen im Schulkapitel Hinwil, sind über die Kriegs- jahre hinweg betrachtet, als Teil der bildungspolitischen Machtkämpfe um die Deutungshoheit in jener Zeit zu begreifen, die sowohl den Anarchismus als auch die nationale Erziehung kritisch verhandeln konnten. Während es im Schulkapi- tel Zürich vor allem um die Formen einer Unterstützung der nationalen Erziehung ging, die streckenweise an Eduard Sprangers schematische Umrisse zur Politi- sierung der Schule unter der Weltpolitik erinnern,72 richteten die Akteure im Schulkapitel Hinwil sich deutlicher gegen die Deutung einer simplen Erfolgsge- schichte der nationalen Erziehung und der Unterstützungsmöglichkeiten des Militärs durch die Schule und Lehrerbildung und standen mit dieser ambivalent- kritischen Haltung in bildungspolitischen Fragen möglicherweise in einer Tra- ditionslinie der Hinwiler Schulbehörden.73 Insgesamt zeigte sich, dass eine staatsorientierte, nationale Pädagogik selbst nicht das Vortragsthema sein musste, um sich in den Debatten niederzuschlagen. Die Frage nach der nationa- len Pädagogik hatte bei einer horizontalen Reihung diverser pädagogischer Themen eine besondere Durchdringungstiefe. Als strittige Frage erzwang diese in unterschiedlichen Themengefässen eine an die Vorträge anschliessende De- batte. So zeigte sich auch, dass der Wandel der individualpädagogischen Perspek- tive in ihrer Kopplung an verschiedenen Themen eine Bedeutungsoffenheit er- zeugte und damit die kulturelle Verzahnung verschiedener diskursiver Formati- onen zuliess.74 In den Aushandlungen der Gremien ging es weniger darum, was noch oder nicht mehr als wissenschaftliche Aussage gelten kann. Die Wirkungs- macht des pädagogischen Wissens bestand in der Ordnung der Standesgremien darin, dass es von allen Akteuren, Vortragenden und aktivem Publikum, geteilt wurde.75

71 Ebd., S. 334. 72 Spranger 1914, S. 13. 73 De Vincenti/Grube/Rosenmund 2011, S. 114f. 74 Pross 2013, S. 87. 75 Weingart 2001, S. 345.

264 20. Jahrhundert

Exkurs: Die Suche nach differenzierten Positionen in Zeiten des Weltbrands Nationalpädagogische Funktionszuschreibungen geradezu als Epochensignatur zu verstehen, dem verweigerten sich die Teilnehmenden der Schulkapitel. Die- jenigen, die das vor den Schulkapiteln dennoch taten, vertraten mit der Differen- zierung von erzieherischen und didaktischen Aufgaben der nationalen Erziehung76 pädagogisch begründete Standpunkte. Was folgt daraus für die Betrachtung des Wandels der individualpädagogischen Perspektive im Krieg? Hinweise darauf, mit welcher analytisch-theoretischen Klarsicht Diskursbeiträge für Volksschul- lehrpersonen formuliert waren, gab der bereits erwähnte Artikel Krieg und Erzie- hung von O.H. in der Schweizerischen Lehrerzeitung: Die auch aus heutiger Sicht durchaus bemerkenswerte These zu der Frage, welche Aufgabe die Schule in Zei- ten des «ungeheuren Weltkriegsbrands» habe, lautete: «Die Aufgabe der Erzie- hung ist Erziehung für den Krieg und Erziehung gegen den Krieg.» Zudem: «Erziehung bewahrt nicht vor Krieg.»77 Drei grosse Argumentationsschritte wur- den unternommen, die kurz in Zitaten wiedergeben werden sollen: «Unerläss- lich ist die Pflicht, das heranwachsende Geschlecht für den Krieg zu erziehen [ … ]. Völker, die ihre Kriege nicht mehr mit den eigenen Leuten führten, verfaulten sittlich in Verweichlichung und verschwanden vom Schauplatz der Geschichte.»78 Solange noch nicht die Aussicht auf dauernden Weltfrieden winke, müsse man auf der Basis des Realismusprinzips der Erziehung für den Krieg den Vorrang geben. Aus dem Text geht deutlich hervor, dass der Autor einen Kriegseintritt der Schweiz für möglich hielt. In einer zweiten Passage wird der Krieg als Ausdruck einer kollektiv-seelischen Verirrung gedeutet: «Und dass der Antimilitarismus [ … ] mehr und mehr unter den Völkern sich geltend macht, beweist, dass in den Massen immer deutlicher das Bewusstsein erwacht, sie haben denn doch nicht nur willenlos den Völker- lenkern als Kanonenfutter zu dienen. Stärker und stärker entwickelt sich der Zug von Demokratie im Völkerleben.»79 Die Erziehung gegen den Krieg wird hier mit dem Unverständnis gegenüber nationalen Regierungen begründet, die – ohne genügend die Interessen der Werktätigen einer «friedlichen Kultur» zu berück- sichtigen – einen Krieg der Regierungen führten.80

76 [Schmid] 1917, S. 332. 77 O.H. 1914, S. 344. 78 Ebd., S. 351. 79 Ebd., S. 360. 80 Jörn Leonhard bilanziert, dass trotz allen rhetorischen Bekenntnissen 1914 die westlichen kriegführenden Staaten nicht vor einer sozialen Revolution standen und die Chancen, durch einen Militärstreik der Arbei- ter einen grossen Krieg zu verhindern, kaum gegeben waren (Leonhard 2014, S. 75).

265 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Zum Abschluss des Textbeispiels aus der Schweizerischen Lehrerzeitung ein Satz, der die Wirkung von Schulerziehung stark relativiert: «So beginnen [ … ] die Massen mehr oder weniger bewusst sich selbst gegen den Krieg zu erziehen. Der Kirche, der Schule, dem Hause steht es nun gemäss ihrer innersten Berufung zu, diese Erziehung angelegentlich aufs kräftigste zu unterstützen.»81 Die Selbst- erziehung gesellschaftlicher Gruppierungen könnte nach Ansicht des Verfassers in Auseinandersetzung mit anderen Erziehungsinstanzen erfolgen, von der die Schule lediglich eine darstelle. Die Schule wird als ein gesellschaftliches Feld beschrieben, das durch Heteronomie geprägt ist. Es werden weitere Erziehungs- instanzen genannt – eine typische «Figur» der geisteswissenschaftlichen Päda- gogik – , die am Material des heranwachsenden Kindes Interessen hegen. Dieser Beitrag argumentierte vor dem Hintergrund einer zivilen Gesellschaft, die Gefahr laufe, implizit und explizit durch den Krieg auch in Friedenszeiten militarisiert zu werden. Die bildungshistorische Spurensuche nach diesen Am- bivalenzen und Mehrdeutigkeiten in Materialien der Schulkapitel zum Ersten Weltkrieg könnte mit dem Hinweis von Herfried Münkler korrespondieren, dass geschichtswissenschaftliche Analysen zum Ersten Weltkrieg aufpassen müssten, den Krieg nicht als überdeterminiert zu betrachten.82 Diesbezüglich stellt auch Christopher Clark die Frage: «How open was the future?» Nach seinem Befund, der auf Auswertungen von Briefen, Vorträgen und Memoiren der politischen und militärischen Schlüsselprotagonisten beruht, gab es in dem mehrschrittigen Geschichtsverlauf kaum mehr eine Alternative zu dem eingeschlagenen Pfad der beteiligten Staaten. Dabei schliesst sich die Frage an, welchen Einfluss Gremien wie Parlamente auf die politisch zugespitzte Situation 1914 hatten.83 Die Akteure der Schulkapitel und Schulsynode waren sich ihres begrenzten Einflusses auf das damalige bildungspolitische Geschehen bewusst, zumindest in den Schulkapiteln dominierte hinsichtlich der Themenbearbeitung der Weiterbildungsgedanke. Dennoch gelangt man mit der Sichtung des Quellenmaterials zu dem Eindruck, dass die Akteure der Standesinstitutionen sich nicht als servile, subordinierte Lehrerbeamte verstanden, sondern die Bühne der Gremien als ein selbstbewuss- ter, akademisierungsaffiner Lehrpersonenstand zu bespielen wussten. Schnell befindet man sich in einer fast geschichtstheoretischen Debatte über die Dimen- sionen Zufall, Offenheit, Kontingenz und Zwangsläufigkeiten. Die Traditionen und Strukturen der Felder Militär und Schule haben historische Handlungen gerahmt, erklären jedoch nicht hinreichend, wie innerhalb eines solchen Rah-

81 O.H. 1914, S. 360. 82 Münkler 2013, S. 14. 83 Clark 2012, S. 362.

266 20. Jahrhundert

mens agiert, entschieden und nicht entschieden respektive auf Zeit gespielt wurde.84

2. Überbürdung und weltanschauliche Heimatlosigkeit – Die Re-Integration schulischer Dauerthemen in nationalpädagogischen Reflexionen zum Krieg in der Schulsynode Das Jahr 1915 wurde in der zürcherischen Schulsynode mit der Frage zur natio- nalen Erziehung einerseits zu einem Fluchtpunkt von in das 19. Jahrhundert zu- rückreichenden Traditionslinien staatlicher Selbstvergewisserung, andererseits zu einem Ausgangspunkt bildungspolitischer Debatten verschiedener gesell- schaftlicher Strömungen, die weit in die Phase zwischen den Kriegen reichten. Mit der Eröffnungsrede zur 81. ordentlichen Schulsynode sprach Theodor Vet- ter, Erziehungsrat und Professor für englische Sprachen und Literatur an der Uni- versität Zürich und ETH,85 die Gereiztheit und Unzufriedenheit mit dem, was Volksschule und höhere Schule in Sachen nationale Erziehung seinerzeit leiste- ten, am Beispiel der Motion Wettstein an.86 Unter dem Eindruck des «Weltbrands» und der über Europa liegenden nervö- sen Aufladung klagte Vetter ein, auf den Stufen der Primar-, Sekundar- und Mittelschule solle «die gesamte Erziehung und Ausbildung auf nationaler Grund- lage erfolgen»87 – und verbaute damit einen individualpädagogischen Zugang. Mit dieser radikalen Rezeptur und Fixierung auf das Nationale zeigte der Hoch- schullehrer wenig Gespür für die Komplexität und limitierten Möglichkeiten von Bildungsreformen, die das Handeln von Lehrpersonen auf Unterrichtsebene tatsächlich beeinflussen oder gar leiten. Die Repräsentanten im Schulkapitel Zürich kritisierten dagegen unkritisches Postulieren von «kollektiven Erziehungszielen».88 Der Vorwurf gegenüber solch extremen Positionen lautete, deren Vertreter erlägen einem deterministischen Geschichtsverständnis. Dass Vetter gleich auf allen Schulstufen nationale Erziehung für unabdingbar hielt, legt zudem nahe, dass er Erziehungspolitik und Pädagogik für Lehrpersonen als strategische Ressource zur Bearbeitung der gesellschaftlichen Krise in der Schweiz im Weltkrieg betrachtete.89 Es mag naheliegend erscheinen, die Äusserungen von Vetter 1915 zur natio- nalen Erziehung vor der Versammlung der Schulsynode nur in Differenz und

84 Greiner 2014, S. 25. 85 Baertschi 2013. 86 Vetter 1915, S. 49. 87 Ebd. 88 [Böschenstein] 1916. 89 Tenorth 2002, S. 202.

267 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Abgrenzung zu den Verhandlungen in den Schulkapiteln zu verstehen. Doch damit würde man nicht nur viele gemeinsame Positionen übersehen, sondern auch die Interdependenzen dieser beiden Foren. Die schulkritische Behauptung der Überbürdung als Konvergenzpunkt der pädagogischen Reflexionen des Kriegs von Schulkapiteln und Schulsynode in den Vordergrund zu stellen, mag auf den ersten Blick überraschen. Entscheidend ist aber, dass seinerzeit Vortragende aus beiden Gremien der hohen Fächeranzahl die Verantwortung für politische Wil- lenslosigkeit und nervöse Erschöpfung zuschrieben. Der Offizier und Sekundar- lehrer Kuhn hielt vor dem Schulkapitel Zürich die Konzentration der Schule auf Wissensvermittlung wegen der Nichtbeachtung der Disziplin für einen verhäng- nisvollen Irrtum;90 auch der Sozialpädagogik-Professor Seidel erachtete das wünschenswerte Gleichgewicht zwischen Wissensvermittlung und Belebung des schweizerischen Nationalgefühls als aus der Balance geraten, da die angehenden Lehrpersonen mit Gedächtniskram vollgestopft würden.91 Nun führte auch Vetter vor der Schulsynode, ähnlich wie die Vortragenden aus den Schulkapiteln, die Schwierigkeiten auf dem Weg zu nationaler Erziehung auf das Übel der Überbürdung zurück: «Was wir jetzt aus unseren jungen Leuten [ … ] machen, das sind wandernde Kleine Meyer, Konversationslexika [ … ], denen aber leider so oft die Fähigkeit fehlt, sich in ein Problem zu versenken.»92 Vetters Ausführungen über die Überbürdung haben nur die eine Hälfte der Schulkritik beleuchtet, nämlich diejenige, deren Gegenstand gewissermassen nicht spezifisch für die Kriegsperiode war. Zyklen dieser Debatte und Themenbearbeitung finden sich durch das gesamte 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Bildungsraum.93 Al- lerdings erscheint im Fall der Überbürdungsdebatte der Krieg als eigentümlicher Beschleuniger von Theoriearbeit. Ein waches Sensorium für die Ideen und Positionen zu pädagogischen Tran- sitionen in Zeiten des Kriegs, wie sie in den Schulkapiteln aufgegriffen wurden, bewiesen 1915 Hans Schneider, Prorektor der kantonalen Handelsschule in Zü- rich, und Sekundarlehrer Walter Wettstein in ihren Reden vor der Schulsynode. Stellvertretend für viele, stellte Schneider die Frage, was uns dieser Krieg lehre. Er konstatierte, dass grossen Teilen der geistigen Elite die Erkenntnis über Kriegsursachen fehle. Dem Handelslehrer manifestierten sich die treibenden Kräfte des Grossen Krieges in der erstaunlichen Entwicklung von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Verkehr, welche eine Kultur erzeugte, die dem Materi-

90 [Kuhn] 1914, S. 9. 91 [Seidel] 1915, S. 181. 92 Vetter 1915, S. 54 – 56. 93 Hoffmann-Ocon 2009, S. 127; Oelkers 1996, S. 79; Kraul 1984, S. 53.

268 20. Jahrhundert

ellen, dem übertriebenen Individualismus und dem äusseren Erfolg ein unna- türliches Übergewicht über das Psychische, Ethische und Religiöse gab. Die Kultur des Materiellen, so Schneider, «haben wir zu bekämpfen, wenn wir den Frieden wollen, aber auch – wenn wir die Erhaltung unseres Staates wollen».94 Im Vergleich mit den Debatten im Schulkapitel Hinwil waren sich Schneider und die auf der Landschaft debattierenden Lehrer in ihrem Urteil einig, dass die Kultur des Materialismus für den Verfall und die Dekadenz der Jugend und der daraus resultierenden Schwäche im Sinne einer weltanschaulichen Heimatlosig- keit verantwortlich sei. Anders jedoch als die gegenüber vorgetragenen nationalen Erziehungsmodellierungen skeptischen Hinwiler Lehrpersonen suchte Schneider seinen Standpunkt aus einer Verknüpfung der Materialismuskritik mit der For- derung nach einer Stärkung des Staatsgedankens in der Schulerziehung zu ver- teidigen. Die Geringschätzung der individuellen pädagogischen Perspektive führte Walter Wettstein, Sohn des Küsnachter Seminardirektors Heinrich Wettstein, schliesslich dazu, vor der Schulsynode die Hebung der «Leistungsfähigkeit, die Kraft des Einzelnen» in der Schule lediglich aus dem «wohlorganisierten Arbei- terheer» heraus zu begründen: «Winkelriede erstehen zu tausenden. Das Indivi- duum ist bereit zu kämpfen, sich zu opfern, damit die Rasse, die Nation lebe. Das Einzelwesen fühlt sich als Glied eines grossen Ganzen und dieses grosse Ganze, die Nation, verrichtet jene Wunder an Kraftentfaltung, die wir nie für möglich gehalten hätten. [ … ] Allein diese Gesinnung, welche die Nation im Kampfe stark macht, ist nicht erst im Schützengraben entstanden, nicht am Biertisch [ … ], nein, die muss anerzogen worden sein.»95 Im Anschluss stellte der Sekundarlehrer die rhetorische Frage, ob die Schweizer Schule das Nötige tue. Generell fügte sich diese Interpretation in die Vielzahl der Deutungen ein, die eine individualpäda- gogische Perspektive für obsolet hielten. Es scheint nicht zu weit hergeholt, in Wettsteins Einschätzung eine Protoform des Gedankens zu erkennen, vom Krieg Katharsis und Erneuerung zu erwarten.

3. Resümee Bei allen Unterschieden in den Debattenverläufen lassen sich zwei Gemeinsam- keiten in den pädagogischen Auseinandersetzungen während der Phase des Ers- ten Weltkriegs in den Schulkapiteln Zürich und Hinwil erkennen. Erstens bemühte man sich anhand einer Vielzahl von schulrelevanten Themen, die Trans-

94 [Schneider] 1915, S. 96 – 98. 95 [Wettstein] 1915, S. 123.

269 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

formation der individualpädagogischen Perspektive, die bereits durch die expe- rimentelle Pädagogik unter Druck geraten war, durch partizipative Debatten zu verändern. Zweitens erwiesen sich dabei die Schulkapitel mit ihrem jeweiligen quasiautonomem Weiterbildungshandeln als leistungsfähige Einrichtungen, die Themen, welche gesellschaftlich in der Luft lagen, kritisch bearbeiten und damit den Typus der politisch und akademisch interessierten Volksschullehrperson sta- bilisieren konnten. Auffällig bleibt, dass kaum Frauen in Erscheinung traten – auch nicht als Diskussionsteilnehmerinnen in den Schulkapiteln. Die im Untersuchungszeitraum zu beobachtende und an den Krieg gekoppelte wach- sende Dominanz des Themas der nationalen Erziehung, das die individualpäda- gogische Perspektive obsolet erschienen liess, förderte die Tendenz einer porösen Grenze zwischen eher politischen und akademisch abgesicherten Wissensele- menten. Zu diesen Unklarheiten, Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten konnte sich eine potenzielle Verschiebung der Sprecher und Diskursbeitragenden im Gefüge hinzugesellen, was ihre Position im Ämtergefüge betraf. So konnte vor den Schulkapiteln, dem regionalen Standesgremium der Unterrichtenden, ein Lehrer als Offizier sprechen. Analytisch resümierend, ist in diesem Fall weniger bedeutsam, in welchem Amt die Person vorgetragen hatte, sondern was in ihrer Rede die Differenz von Lehrer und Offizier hervorgebracht und was diese an -Wer tungen, Zuweisungen und allenfalls auch Zumutungen für die Schulkapitelsteil- nehmenden mitgeschleppt hatte.96 Während der Lehrer/Offizier fast stereotyp inhaltliche Zuweisungen gegenüber dem Militär am Thema Disziplin und Schu- le reproduzierte, war in einem anderen Fall kaum unterscheidbar, ob der vortra- gende Unterrichtende die präsentierte gesellschaftliche Strömung des Anarchismus auch repräsentierte oder nicht. Nicht nur in diesen beiden Beispie- len war der BegriffIndividuum in den Vorträgen und Debatten jedoch weiterhin relevant, es kam eben zu einer Verschiebung der Optik. Der mit dem Krieg für manche Schulkapitelsteilnehmende als brutale Macht wahrgenommene Vorrang des Begriffsensemble von Staat und Nation benötigte geradezu den Begriffs des Individuums; denn eine nationale Gemeinschaft gab es nicht ohne Individuen. Vor den Schulkapiteln blieb die Auseinandersetzung über eine pädagogische In- dividualperspektive und Perspektive der nationalen Gemeinschaft im Schatten der Kriegszeit eigentümlich unabgeschlossen. Dies mag auch daran gelegen ha- ben, dass nicht alle Vorträge in den Lehrergremien ihren Gegenstand angesichts der Kriegszeit analytisch so durchdrangen, dass im Rahmen der eine Individual- pädagogik überformenden Debatte um nationale Pädagogik zwischen einer Ge-

96 Feustel 2015, S. 34.

270 20. Jahrhundert

meinschaft als Idee und einer Gemeinschaft als Faktum unterschieden wurde.97 Derartige kategoriale Probleme waren damals bekannt, sie schienen in den Leh- rerzeitschriften auf, wenn die dialektische Aussage «Die Aufgabe der Erziehung ist Erziehung für den Krieg und Erziehung gegen den Krieg» mit der Analyse des Krieges der Regierungen und der sich dessen langsam bewusst werdenden Mas- se verbunden wurde. Nimmt man die Vortragspraxis der Schulkapitel zusammen und fragt, was das Neue an der Ordnung der Themen, Problemstellungen und Argumente war, so zeigt sich, dass zunächst die nationale Pädagogik mit Blick auf viele in den Schulkapiteln verhandelte schulerzieherische Dauerthemen an- schlussfähig war. Als die nationale Pädagogik selbst ein etabliertes Thema gewor- den war, bot sie wiederum für die Behandlung von schulischen Zeitstrangthemen ein Dach. Die Unsicherheit, Vorläufigkeit und auch Widersprüchlichkeit des in den Schulkapiteln gewonnenen pädagogischen Wissens gelangte nicht unverändert in die Schulsynode. Der weitgehende Verzicht auf Widersprüche und Zweifel sowie der starke Postulatscharakter in der Schulsynode sollten den eingeschlage- nen Weg der strittigen nationalen Pädagogik legitimieren helfen. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn zum Beispiel die Indienstnahme der damals gängigen Materialismuskritik oder Schulkritik für die Sache der nationalen Erziehung ar- gumentative Lücken aufwies. Doch waren die streckenweise die Zuhörenden beschwörenden Reden der Schulsynode, für deren idealistische Ausführungen die Schulkapitel ein Korrektiv boten, nicht irrelevant gewesen. So gaben sie in Zeiten tief greifender Gewaltirritation vor, mit der Vision einer nationalen Schul- praxis Gewalt normativ und institutionell zu hegen, instrumentell zu bändigen und weiterhin für eine kriegsfreie Schweiz beizutragen.98

Bibliografie

Ungedruckte Quellen [Böschenstein, Jakob]: Krieg und Schule. Vortrag von Herrn Jakob Böschen- stein, Sekundarlehrer, Zürich III. Schulkapitel Zürich. Gesamtkapitel. ASK 34. Versammlung. Samstag, den 18. März 1916, vormittags 8 ¼ Uhr in der Kirche zu Oberstrass in Zürich 6 (1916) [Forschungsbibliothek Pestalozzia- num ZH HC III 19, 4].

97 Henseler 2000, S. 86. 98 Naumann 2014, S. 38.

271 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Guyer, Walter: Beitrag zu meinem Leben, besonders zur geistigen Situation, in die ich hineingeboren wurde und ein langes Leben führte (undatiert; ca. 1955) [Forschungsbibliothek Pestalozzianum, Nachlass Walter Guyer: Arti- kel, Notizen (1), Spezielle Korrespondenz (1)]. [Hintermann, Heinrich]: Zur Reform der Lehrerbildung im Kanton Zürich. Vortrag von Herrn Dr. Heinrich Hintermann, Sekundarlehrer in Zürich 4. Schulkapitel Zürich. Gesamtkapitel. ASK 35. Versammlung. Samstag, den 8. September 1917, vormittags ¼ 9 Uhr in der Kreuzkirche in Zürich 8 (1917) [Forschungsbibliothek Pestalozzianum ZH HC III 19, 3]. [Jucker, Emil]: Der Anarchismus und die Anarchisten. Vortrag von Herrn Ju- cker, Fägswil. Schulkapitel Hinwil. II. Versammlung. Samstag, den 24. Mai 1913, vormittags 9 ½ Uhr, im «Bären», Bäretswil (1913), S. 268 – 271 [For- schungsbibliothek Pestalozzianum ZH HC III 4, 5]. [Kuhn, Fritz]: Disziplin in Schule und Leben. Vortrag von Herrn Fr. Kuhn, Se- kundarlehrer, Zürich 8. Schulkapitel Zürich. 1. Abteilung. ASK 32. Ver- sammlung. Samstag, den 13. Juni 1914, vormittags 8 ½ Uhr in der Kirche Zollikon (1914) [Forschungsbibliothek Pestalozzianum ZH HC III 19, 2]. Roth, Heinrich [CH]: Walter Guyers Beitrag zur Erneuerung des Bildungswe- sens (1977). Typoscript (22 S.) [Forschungsbibliothek Pestalozzianum, Nach- lass Walter Guyer: Artikel, Notizen (1), Spezielle Korrespondenz (1)]. [Schmid, J.]: Zur Frage der nationalen Erziehung. Vortrag von Herrn J. Schmid, Wald. Schulkapitel Hinwil. I. Versammlung. Samstag, den 26. Mai 1917, vormittags punkt 9 Uhr im «Schwert» Wald (1917), S. 331 – 334 [For- schungsbibliothek Pestalozzianum ZH HC III 4, 5]. [Seidel, Robert]: Das Ziel der Erziehung vom Standpunkt der Sozialpädagogik. Vortrag von Herrn Nationalrat Robert Seidel, alt Sekundarlehrer, Privatdo- zent an der Eidg. Technischen Hochschule und der Universität Zürich. Schulkapitel Zürich 1915. Abt. I – IV. 4. Abteilung. ASK 33. Versammlung. Samstag, den 27. Februar 1915, vormittags 8 ¾ Uhr im Tonhallepavillon Zü- rich (1915) [Forschungsbibliothek Pestalozzianum ZH HC III 19, 5]. Stettbacher, Hans: Die Ausbildung der zürcherischen Primarlehrer an der Universität. Vorschläge, der tit. Erziehungsdirektion unterbreitet von H. Stettbacher. Mai 1924. Typoskript, (20 S.) (1924) [Forschungsbibliothek Pes- talozzianum].

272 20. Jahrhundert

Gedruckte Quellen Becher, Johannes R.: Abschied. München: dtv 1987. Böschenstein, Jakob: Zu freien Höhen. Erinnerungen von der Reise der 4. Se- minarklasse Küsnacht 1902/1903. Zürich: Buchdruckerei des Schweizeri- schen Grütlivereins 1903. Düring, Josef: Zur Frage der vaterländischen Erziehung. Luzern: Verlag von Räber & Cie 1916. Durkheim, Émile: Erziehung und Soziologie. Düsseldorf: Pädagogischer Ver- lag Schwann 1972. Foerster, Friedrich Wilhelm: Schule und Charakter. Beiträge zur Pädagogik des Gehorsams und zur Reform der Schuldisziplin. Zürich: Verlag von Schulthess & Co 1907. Gassmann, Emil: Die Lehrerschaft im Dienste der pädagogischen Forschung. Beilage VIII. In: Bericht über die Verhandlungen der Zürcherischen Schul- synode von 1913. Zürich: o.V. 1913, S. 89 – 111. Herget, Anton: Die wichtigsten Strömungen im pädagogischen Leben der Ge- genwart, II. Teil: Die experimentelle Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf die Begabungsforschung und die Berufsberatung. Die Sozialpädagogik. Die Individualpädagogik. Die Persönlichkeitspädagogik. Die Nationalschule und die Einheitsschule. Die natürliche Erziehung. 4., erweiterte Auflage. Leipzig: Schulwissenschaftlicher Verlag A. Haase 1921. Illies, Florian: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Fi- scher 2012. Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. 32. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta 1978. Keller, Emil: 100 Jahre zürcherische Schulsynode. Eröffnungswort zur 99. Ordentlichen Schulsynode in Zürich. In: Bericht über die Verhandlungen der Zürcherischen Schulsynode von 1934. Pfäffikon: A. Peter 1934, S. 22 – 33. O.A.: Die Motion Wettstein vor Parteigericht. In: Schweizerische Lehrerzeitung, 61, 35 (1916), S. 313f.; 36 (1916), S. 321f. [O.H.]: Krieg und Erziehung. In: Schweizerische Lehrerzeitung, 59, 36 (1914), S. 343 – 345; 37 (1914), S. 351 – 353; 38 (1914), S. 359 – 361. Paulsen, Friedrich: Pädagogik. 2. und 3. Auflage. Stuttgart: Cotta 1911. [Schneider, Hans]: Krieg und Schule. Referent: Dr. Hans Schneider, Prorektor der Kant. Handelsschule in Zürich. In: Jahresbericht der Direktion des Er- ziehungswesens über das zürcherische Unterrichtswesen im Jahre 1914/Be- richt über die Verhandlungen der Zürcherischen Schulsynode von 1915. Bei- lage XI (1915), S. 93 – 120.

273 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

[Schweizerischer Bundesrat]: Botschaft des Bundesrates an die Bundesver- sammlung betreffend die Beteiligung des Bundes an den Bestrebungen für die Förderung der nationalen Erziehung. (Vom 3. Dezember 1917.) In: Schweizerisches Bundesblatt, 4, 51 (1917), S. 749 – 764. Seidel, Robert: Sozialdemokratie und staatsbürgerliche Erziehung oder Staats- bürger, Weltbürger und Mensch. Geschichtlich, systematisch, kritisch. 3. Auflage. Zürich: Kommissionsverlag der Grütlibuchhandlung 1918. Spitteler, Carl: Unser Schweizer Standpunkt. Vortrag, gehalten in der Neuen Helvet. Gesellschaft, Gruppe Zürich, am 14. Dezember 1914. Zürich: Verlag von Rascher & Cie 1915. Spranger, Eduard: Der Zusammenhang von Politik und Pädagogik. In: Die Deutsche Schule, 18, 1 (1914), S. 13 – 21; 6 (1914), S. 356 – 367. [Vetter, Theodor]: Eröffnungsworte für die 81. ordentliche Versammlung der zürcherischen Schulsynode. Montag den 23. August 1915, in der Kirche Küs- nacht. In: Jahresbericht der Direktion des Erziehungswesens über das zür- cherische Unterrichtswesen im Jahre 1914/Bericht über die Verhandlungen der Zürcherischen Schulsynode von 1915. Beilage 1 (1915), S. 49 – 61. [Wettstein, Walter]: Krieg und Schule. Zweites Referat von Walter Wettstein, Sekundarlehrer, Zürich 3. In: Jahresbericht der Direktion des Erziehungswe- sens über das zürcherische Unterrichtswesen im Jahre 1914/Bericht über die Verhandlungen der Zürcherischen Schulsynode von 1915. Beilage XII (1915), S. 121 – 140. Wildbolz, G.: Drill und Exerzieren. In: Allgemeine schweizerische Militärzei- tung, 63, 45 (1917), S. 398 – 401. Wildbolz, G.: «Vom falschen Drill». In: Allgemeine schweizerische Militärzei- tung, 64, 1 (1918), S. 6f. Zollinger, Friedrich: Neutralität und Schule. Kreisschreiben der zürcheri- schen Erziehungsdirektion an die Lehrerschaft des Kantons Zürich vom 24. September 1914. Mitgeteilt von Dr. F. Zollinger. In: Bernoulli, Carl Albrecht et al. (Hrsg.): Wir Schweizer – unsere Neutralität und der Krieg. Eine natio- nale Kundgebung. Zürich: Verlag von Rascher & Co. [1914]/1915, S. 244 – 246.

Literatur Baertschi, Christian: Vetter, Theodor. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D41393.php (Version vom 25.2.2014).

274 20. Jahrhundert

Beuttler, Ulrich: Religiöse Orte und gelebter Raum. In: Schlitte, Annika/ Hünefeldt, Thomas/Romic, Danie/van Loon, Joost (Hrsg.): Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaf- ten. Bielefeld: transcript 2014, S. 63 – 80. Billeter, Nicole: Alles, nur nicht feldgrau. Schriftstellerinnen und Schriftstel- ler in der Zürcher Emigration. In: Hebeisen, Erika/Niederhäuser, Peter/ Schmid, Regula (Hrsg.): Kriegs- und Krisenzeit. Zürich während des Ersten Weltkriegs. Zürich: Chronos 2014, S. 121 – 130. Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914. München: Carl Hanser 2008. Clark, Christopher: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London: Penguin Books 2012. Criblez, Lucien: Die experimentelle «Avantgarde» der Pädagogik in der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Historische Bil- dungsforschung, Bd. 19. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013, S. 13 – 34. Crotti, Claudia: Schweizer sein – die Nationalisierung der Jugend. Politische Bildung im öffentlichen Bildungssystem. In: Crotti, Claudia/Osterwalder, Fritz (Hrsg.): Das Jahrhundert der Schulreformen. Internationale und histo- rische Perspektiven, 1900 – 1950. Bern: Haupt 2008, S. 223 – 247. De Vincenti, Andrea/Grube, Norbert/Rosenmund, Moritz: Öffentliche Schulaufsicht zwischen pastoraler Verantwortung, Laienmitwirkung und ra- tionalisierter Expertise. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 17. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011, S. 110 – 125. Etzemüller, Thomas: Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopf- es. Eine einleitende Skizze. In: ders. (Hrsg.): Die Ordnung der Moderne. So- cial Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2009. Fenske, Thomas: Der Verlust des Jugendreiches. Die bürgerliche Jugendbewe- gung und die Herausforderung des Ersten Weltkrieges. In: Jahrbuch des Ar- chivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 16/1986 – 87 (1987), S. 197 – 228. Feustel, Robert: Die Kunst des Verschiebens. Paderborn: Fink 2015. Gehrig-Straube, Christine: Jucker, Ernst. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D42914.php (Version vom 29.7.2005). Geulen, Christian: Geschichte des Rassismus. München: C. H. Beck 2007. Gonon, Philipp: Die politische Seite der Arbeitsschulbewegung: Fischer contra Seidel. In: Oelkers, Jürgen/Rülcker, Tobias (Hrsg.): Politische Reformpäda- gogik. Bern: Peter Lang 1998.

275 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Greiner, Bernd: Casino Royale. Barbara Tuchmanns Klassiker über die An- fänge des Ersten Weltkriegs. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 23, 4 (2014), S. 16 – 29. Henseler, Joachim: Wie das Soziale in die Pädagogik kam. Zur Theoriege- schichte universitärer Sozialpädagogik am Beispiels Paul Natorps und Her- man Nohls. Weinheim, München: Juventa 2000. Hoffmann-Ocon, Andreas: Schule zwischen Stadt und Staat. Steuerungskon- flikte zwischen städtischen Schulträgern, höheren Schulen und staatlichen Unterrichtsbehörden im 19. Jahrhundert. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. Holenstein, André: Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte. Baden: Hier und Jetzt 2014. Hopf, Caroline: Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissen- schaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. Jaun, Rudolf: Militärgewalt und das «revolutionäre» Gravitationszentrum Zü- rich 1917 – 1918. In: Hebeisen, Erika/Niederhäuser, Peter/Schmid, Regula (Hrsg.): Kriegs- und Krisenzeit. Zürich während des Ersten Weltkriegs. Zü- rich: Chronos 2014a, S. 185 – 198. Jaun, Rudolf: «Meuterei am Gotthard». Die Schweizer Armee zwischen preu- ssisch-deutschem Erziehungsdrill und sozialistischer Skandalisierung. In: Rossfeld, Roman/Buomberger, Thomas/Kury, Patrick (Hrsg.): 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg. Baden: Hier und Jetzt 2014b, S. 20 – 47. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München: Siedler 2007. Kraul, Margret: Das deutsche Gymnasium, 1780 – 1980. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Kreis, Georg: Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegs- jahren 1914 – 1918. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2014. Kury, Patrick: Einleitung. Der Erste Weltkrieg: globale Bedeutung und lokale Auswirkungen. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 114. Basel: Schwabe 2014, S. 5 – 10. Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München. C. H. Beck 2014. Maeder, Eva: Zürich im Ersten Weltkrieg – eine Annäherung in Bildern. In: Hebeisen, Erika/Niederhäuser, Peter/Schmid, Regula (Hrsg.): Kriegs- und Krisenzeit. Zürich während des Ersten Weltkriegs. Zürich: Chronos 2014, S. 11 – 28. Max, Pascal: Pädagogische und politische Kritik im Lebenswerk Friedrich Wil- helm Foersters (1869 – 1966). Stuttgart: ibidem 1999.

276 20. Jahrhundert

Mittelmeier, Martin: DADA. Eine Jahrhundertgeschichte. München: Siedler 2016. Mittelstrass, Jürgen: Wissen und Grenzen. Philosophische Studien. Frank- furt am Main: Suhrkamp 2001. Müller, Marcel: Der Erste Weltkrieg im St. Galler Schulalltag. In: Historischer Verein St. Gallen (Hrsg.): 1914 – 1918/1919. Die Ostschweiz und der Grosse Krieg [154. Neujahrsblatt]. St. Gallen: o.V. 2014, S. 108 – 119. Müller, Tim B.: Krieg und Demokratisierung. Für eine andere Geschichte Eu- ropas nach 1918. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 23, 4 (2014), S. 30 – 52. Müller, Tim B./Tooze, Adam: Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. In: dies. (Hrsg.): Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Welt- krieg. Hamburg: Hamburger Edition 2015, S. 9 – 36. Münkler, Herfried: Der grosse Krieg. Die Welt 1914 – 1918. Berlin: Rowohlt 2013. Naumann, Klaus: Das politische Gefechtsfeld. Militärische Berufsbilder in den neuen Kriegen. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 23, 6 (2014), S. 28 – 48. Nonhoff, Martin: Krisenanalyse und radikale Theorie der Demokratie. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 25, 2 (2016), S. 21 – 37. Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 3. voll- ständig bearbeitete und erweiterte Auflage. Weinheim/München: Juventa 1996. Olsansky, Michael M.: «Geborgte Kriegserfahrungen»: Kriegsschauplatzmis- sionen schweizerischer Offiziere und die schweizerische Taktikentwicklung im Ersten Weltkrieg. In: Jaun, Rudolf/Oslansky, Michael M./Picaud-Monne- rat, Sandrine/Wettstein, Adrian (Hrsg.): An der Front und hinter der Front. Der Erste Weltkrieg und seine Gefechtsfelder. Au front et à l’arrière. La Pre- mière Guerre mondiale et ses champs de bataille. Baden: Hier und Jetzt 2015, S. 114 – 127. Peukert, Detlev J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. Pross, Caroline: Dekadenz. Studien zu einer grossen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen: Wallstein 2013. Radkau, Joachim: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München: Carl Hanser 2005.

277 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Rizek, Martin: Bovet, Ernest. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D43752.php (Version vom 13.12.2002). Sarasin, Philipp: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeital- ter der Biologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. Schneider, Oliver: Diktatur der Bürokratie? Das Vollmachtenregime des Bun- desrats im Ersten Weltkrieg. In: Rossfeld, Roman/Buomberger, Thomas/ Kury, Patrick (Hrsg.): 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg. Baden: Hier und Jetzt 2014, S. 48 – 71. Sloterdijk, Peter: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Berlin: Suhrkamp 2014. Stadler, Peter: Epochen der Schweizergeschichte. Zürich: Orell Füssli 2003. Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck 2015. Tenorth, Heinz-Elmar: Pädagogik für Krieg und Frieden. Eduard Spranger und die Erziehungswissenschaft an der Universität Berlin von 1913 – 1933. In: Horn, Klaus-Peter/Kemnitz, Heidemarie (Hrsg.): Pädagogik Unter den Linden. Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 2002, S. 191 – 226. Tögel, Bettina: Wettstein, Oskar. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D3723.php (Version vom 5.9.2013). Tröhler, Daniel: Die Zürcher Schulsynode: Ein demokratisches Kuckucksei in der liberalen Ära Zürichs im 19. Jahrhundert. In: Crotti, Claudia/Gonon, Philipp/Herzog, Walter (Hrsg.): Pädagogik und Politik. Historische und ak- tuelle Perspektiven. Bern: Haupt 2007, S. 53 – 68. Ullrich, Volker: Die nervöse Grossmacht 1871 – 1918. Aufstieg und Unter- gang des deutschen Kaiserreichs. Frankfurt am Main: Fischer 1999. Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück 2001. Wolschke-Buhlman: Kriegsspiel und Naturgenuss. Zur Funktionalisierung der bürgerlichen Jugendbewegung für militärische Ziele. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 16/1986 – 87 (1987), S. 251 – 270.

Prof. Dr. Andreas Hoffmann-Ocon, Zentrum für Schulgeschichte (ZSG), Pädagogische Hochschule Zürich, [email protected]

278

Die Pädagogisierung­ des Krieges­ 12um 1914 – 1918

20. Jahrhundert

Norbert Grube und Andrea De Vincenti

12. Die Pädagogisierung des Krieges um 1914 – 1918 Wissenszirkulation am Beispiel deutsch- und italienischsprachiger Intellektueller

1. Einleitung In der Neuauflage seines BestsellersIl mito della grande guerra gibt der italienische Historiker Mario Isnenghi zu bedenken, dass Narrative, die den Ersten Weltkrieg als non sense und Absurdität, als sinnloses Gemetzel oder als unverzeihlichen eu- ropäischen Bürgerkrieg darstellen, zwar der civic education (educazione civica) oder auch der Idee einer fortschreitenden europäischen Integration (europeismo) die- nen mögen, jedoch auch die Arbeit des Historikers erschweren. Die Absurditätsan- nahme verstelle nämlich den Blick auf die Vielfalt von Sinnzuschreibungen und Hoffnungen, die vor Kriegsausbruch mit dem Ereignis verbunden wurden. Um die- se historiografisch zu erfassen, müssten nicht die Absurditäten, sondern vielmehr die damals wahrgenommenen Logiken des Krieges Ausgangspunkt der Auseinan- dersetzungen sein.1 Über die erinnerungspolitisch und päda­gogisch einsetzbaren Narrative hinaus stellen sich der Geschichtsschreibung derzeit weitere Fragen: Wie nahmen Menschen den Krieg wahr? Welche Hoffnungen und Ängste verbanden sie damit, sodass er letztlich aus unterschiedlichen Perspektiven und Motivationen heraus vielen als wünschbar oder wenigstens hinnehmbar erschien? Wie es die europäischen Intellektuellen, speziell die deutschen und italieni- schen Geistesgrössen, mit dem Ersten Weltkrieg hielten, steht im Mittelpunkt

1 Isnenghi 2014, S. 1 – 6.

283 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

einer Vielzahl von sehr profunden ideengeschichtlichen Untersuchungen.2 In häufig eher akteurs- und personenbezogenen Zugängen zeigen sie gleichwohl in vielfältigen Deutungen Argumentations-, Darstellungs- und Einstellungsmuster auf, etwa indem «Textmassen und ihre Ordnung» fokussiert werden.3 Jüngstes Beispiel eines solchen ideengeschichtlichen Ertrags ist Herfried Münklers Un- terscheidung zwischen «victima» und «sacrificia»:4 Dieses differenzierte Opfer- verständnis, das zum einen die Sorge und Furcht umfasst, Opfer zu werden, zum anderen das fast rauschhafte, an ein Fest gemahnende Bestreben, sich selbst zu opfern, habe die Gesellschaft zunächst gespalten. Jedoch sei zumindest in den ersten Kriegswochen eine von den Künstlern Ernst Barlach und Franz Marc über den Philosophen Max Scheler bis zum Wirtschaftshistoriker Werner Sombart reichende «Transformation der viktimen in eine sakrifizielle Gemeinschaft» er- folgt.5 Diese Vorstellungen von nationaler Einigung durch Krieg zeigen sich etwa in Hermann Hesses euphorisch-andächtigem Gedicht Der Künstler an die Krieger,6 das auch in der Schweiz Verbreitung fand, wurden noch 1917 von Alfred Döblin als klassenübergreifende, Volksgemeinschaft stiftende Kraft geteilt und auch von Giovanni Boine als «gemeinsamer Enthusiasmus» herbeigesehnt, um das durch Klassenkämpfe sowie liberale und demokratische Prinzipien erodierte Italien zu Ordnung, Kohäsion und Stabilität zurückzuführen.7 Quasireligiös und naturme- taphorisch idealisiert und personifiziert wurde der Krieg in Kriegspredigten als «wunderbarer Meister» bezeichnet, der die innere Einigung Deutschlands wie durch Zauberschlag herbeigeführt habe. Selbst in ihrer Empörung über die eini- gende Kraft des Krieges bestätigte diese Vorstellung etwa auch die Pazifistin Lida Gustava Heymann.8 In semisakralen Kreisen, wie dem um Stefan George, und im literarisch-intellektuellen Salon von Eliza Bruckmann in München feierten Dichter wie Norbert von Hellingrath den Krieg als ein Ereignis, der den Glutkern des geheimen Deutschland freilege, zumindest für die sich als Avantgarde und Volkserzieher stilisierenden Dichter.9 Die Freilegung des Glutkerns gehe in einem Bild des Vulkanismus mit der Zerstörung der bislang undurchdringbaren Schla-

2 Flasch 2000; Mommsen 1996; Martynkewicz 2009, S. 225 – 232; Blom 2014; Clavien 2014; Isnenghi 2014; Calì/Corni/Ferrandi 2000; David 2011; Mosse 1988. Mit demselben Erkenntnisinteresse wurde etwa auch der italienisch-türkische Krieg (1911/1912) bearbeitet (vgl. Schiavulli 2009). 3 Flasch 2000, S. 227. 4 Zu den Mythen «sacrificium» und «Kameradschaft» sowie zum Gefallenenkult, der die Weltkriegserfah- rung des massenhaften Tötens nachträglich erträglich gemacht habe, als Kernelemente der nationalisti- schen politischen Religionen und zur Prägung der europäischen Nachkriegspolitik durch diese vgl. Mosse 1988, S. 19f., 22. 5 Münkler 2014, S. 226. 6 Hesse 1915, S. 129 7 Münkler 2014, S. 233; Isnenghi 2014, S. 80f. 8 Dunkel/Schneider 2015, S. 35. 9 Raulff 2010, S. 254f.; Martynkewicz 2009, S. 224, 292f.

284 20. Jahrhundert

ckekruste des (klein-)bürgerlichen Lebens einher. In ganz ähnlichen Registern schrieben Intellektuelle, Dichter und Schriftsteller um Giovanni Papini oder Fi- lippo Tommaso Marinetti in Italien den Krieg herbei. In den hier nur sehr grob skizzierten historischen Darstellungen wird der Krieg zwar in vielfältiger Weise als Ausdruck von Nationalismus, Imperialismus, Militarismus, revolutionärem Umsturzwillen oder auch von Sinnsuche und Sinnstiftung gedeutet – jedoch kaum als ein Ausdruck pädagogisierter Gesell- schaften.10 Hier knüpft dieser Beitrag an und vertritt die These, dass der Erste Weltkrieg in mehrfacher Hinsicht pädagogisiert und somit als Lösung für die diagnostizierten sozialen Probleme propagiert wurde. Damit greift der vorliegen- de Aufsatz einen vor allem von David Labaree stark gemachten Ansatz auf, wonach die Pädagogisierung sozialer Probleme auf einen hohen soziokulturellen Stellen- wert des Pädagogischen und seine tiefe Verankerung in der Gesellschaft hinweist und zugleich eine Alternative zur politischen Lösung ebendieser Probleme dar- stellt.11 Auf diese Weise wird eine Perspektivenweitung auf den Krieg 1914/18 im Zwischenbereich von historischer Bildungsforschung, Wissens-, Intellektuellen-, Militär- und Literaturgeschichte versucht. Die Zirkulation des Argumentations- musters des erziehenden Krieges 1914/18 und die damit verbundenen Zuschrei- bungen und Wissensbestände sollen anhand vielfältiger intellektueller Kreise analysiert werden, die vordergründig wenig miteinander gemein haben und auch historiografisch eher getrennt oder in Gegensatzpositionierung thematisiert werden.12 Die Fokussierung auf Intellektuelle liegt einerseits an der Quellenlage, rechtfertigt sich aber auch durch ihr grosses öffentliches Engagement im ausge- henden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. So dominierten Intellektuelle in Italien etwa die Debatten um die kolonialen Unternehmungen am Horn von Afrika, in Frankreich erschien das Manifeste des intellectuels und Zola verfasste sein berühmtes J’accuse als Positionsbezug zur Dreyfus-Affäre.13 Auch der «Krieg der Geister» zwischen Deutschland und Grossbritannien 1915 wurde von jewei-

10 Der Lesart nahe kommen etwa Isnenghi (2014, S. 98, 102), der am Rande seiner These des «Krieges als Pharmakum» auch explizit auf pädagogisierende Elemente der Kriegsbefürwortung hinweist, oder auch Fausto Curi und Wolfgang Mommsen, wenn sie den Krieg mit der in vielen europäischen Ländern geäu- sserten Gesellschaftskritik in Verbindung bringen: Curi (2000, S. 61f.) betont die in breiten, auch intellek- tuellen Kreisen in Europa geteilte Ansicht, allein der Krieg könne zur Regeneration der Menschheit führen. Mommsen (2000, S. 43 – 45) verweist auf die in Frankreich und in Deutschland ähnlich lautende Kritik, das bürgerlich-städtische Leben habe einen verweiblichten Lebensstil forciert, weshalb traditionell männli- chen Werten, wie Mut, Opferbereitschaft, Ehre und Kameradschaft, wieder Respekt verschafft werden müs- se. 11 Labaree 2008; vgl. auch Smeyers/Depaepe 2008. 12 Dies gilt etwa für die Historiografie der Avantgardebewegung des Futurismus, die entweder durch Exper- ten für die sogenannte rechte oder linke intellektuelle Kultur bearbeitet wurde (Asor Rosa 1988). 13 Schiavulli 2009, S. 10f.; Blom 2014, S. 27 – 31.

285 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

ligen Intellektuellen geprägt, die sich gegenseitig beschuldigten, keine valablen Gründe für den Kriegseintritt gehabt zu haben.14 In unserem Beitrag beschränken wir uns auf Argumentations- und Darstel- lungsmuster aus heterogenen deutsch- und italienischsprachigen kriegsbejahen- den Federn.15 Um die in diesem Beitrag untersuchten, soziokulturell ganz un- terschiedlich zu verortenden Gruppierungen zu fassen, muss der Intellektuellen- begriff nicht als Kategorie einer Selbst- oder Sozialbeschreibung, sondern in einer breiteren, handlungsbezogenen Deutung bestimmt werden.16 Entsprechend umfasst er hier Akteure, die sich an öffentlichen Zeitdiagnosen über die gesell- schaftlichen Verhältnisse und teils auch an mobilisierend angelegten Stellung- nahmen über Neuordnungen des Gesellschaftlichen beteiligten. Über ihre Nähe oder Ferne zur (staatlichen) Macht ist damit genauso wenig ausgesagt wie über ihre politische Positionierung links oder rechts der Mitte. Als Intellektuelle können folglich auch den Krieg ästhetisierend verherrlichende Dichter, Pazifisten, Offiziere der Schweizer Armee oder auch eugenisch argumentierende Mediziner bezeichnet werden. Wir betrachten Schriften des Schweizer Armeegenerals Ul- rich Wille, Beiträge in der von ihm gegründeten Allgemeinen Schweizer Militärzei- tung (ASMZ), aber auch Publikationen reformerisch und pazifistisch etikettierter Wissenschaftler, wie die des christsozialen Theologen Leonhard Ragaz und des deutschen Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster.17 Des Weiteren werden Schrif- ten von italienischen Schriftstellern, Intellektuellen und Kunstschaffenden un- tersucht. Viele von ihnen standen der futuristischen Avantgarde nahe, die sich insbesondere während ihrer ersten Phase (1909 bis 1920) einer Einordnung in politische Rechts-Links-Schemata weitgehend entzieht.18 Neben Filippo Tomma- so Marinetti, dem Begründer des Futurismus, und seinem norditalienischen futuristischen Umfeld wird vor allem die von Giovanni Papini herausgegebene

14 Mommsen 2000; Münkler 2014, S. 248 – 257. 15 Damit sei keineswegs suggeriert, dass es keine sich gegen den Krieg aussprechenden Autoren und Autorin- nen gab. Im Fokus stehen hier aber nicht Positionierungen für oder gegen den Kriegseintritt, sondern viel- mehr Argumentationsmuster im Zusammenhang mit einer Pädagogisierung des Krieges. – Die italienisch- sprachigen Quellen wurden in der Originalsprache und für die Zitationen in eigenen Übersetzungen ver- wendet. 16 Morat 2011. 17 Zu Willes, Ragaz’ und Foersters Einstellungen zum Zusammenhang von Krieg, Militär und Erziehung lie- gen neuere, diskursanalytisch argumentierende Darstellungen vor, die mit ihrem gesonderten Fokus (wis- senschaftliche Disziplinen, Militär und Pazifismus), jedoch nur zum Teil diskursiven Verschränkungen hierzu nachgehen (vgl. Moos 2014; Jaun 2003, S. 236; von Prondczynsky 2004, S. 47 – 50). 18 In den 1980er-Jahren wurde die politische Kultur des Futurismus intensiv unter der Fragestellung nach Nähe und Distanz zum Faschismus beforscht und dabei auf gleichzeitige An- und Abgrenzungen der bei- den – in sich wiederum nicht homogenen – Kulturen verwiesen, etwa auf die anarchischen und irrationa- len, auf die Zukunft gerichteten Elemente des Futurismus gegenüber dem Vergangenheits- und Hierar- chiekult des «reifen Faschismus». Im emphatischen Nationalismus und in der Zurückweisung von politi- schen Institutionen finden sich indes Gemeinsamkeiten (De Felice 1988; Schiavo 1981; Crispolti 1986; D’Orsi 2009).

286 20. Jahrhundert

florentinische ZeitschriftLacerba für die Jahre 1913 – 1915 ausgewertet. Laut dem marxistischen Philosophen Antonio Gramsci sollen vier Fünftel der in einer Auflage von 20 000 Exemplaren erscheinenden ZeitschriftLacerba von Arbeitern gelesen worden sein.19 Künstler und Aktivisten erzielten mit ihren so genannten serate futuriste, Aufführungen und Ausstellungen von futuristischen Werken mit performativen Elementen, die mit dem oft heterogenen und massenhaft anwesenden Publikum interagierten, sowohl bei Bürgerlichen als auch bei Stu- denten, Arbeitern oder Intellektuellen eine gewisse Resonanz.20 Der Erfolg der futuristischen Avantgarde bei den Zeitgenossen ist für George Mosse darauf zurückzuführen, dass es ihr gelang, drängende Fragen der Zeit aufzugreifen.21 Sie dürften also an Wissen angeknüpft haben, das an unterschiedlichen Orten der Gesellschaft und auch über nationale Grenzen hinaus zirkulierte und somit in der Zeit selbst eine gewisse Bedeutung hatte. Es fragt sich daher, um welches Wissen es sich handelte, wie über den Krieg geschrieben wurde, welche Befürch- tungen und pädagogisierenden Hoffnungen sich damit verbanden. Diese Wissensbestände über den Krieg sind vielfältig und lassen sich nicht in Einstimmigkeit überführen, sie sind fluide, zirkulieren an verschiedenen Orten in den Gesellschaften und verändern sich dabei stetig.22 Die vorliegende Unter- suchung hebt auf explizit gemachte Wissensbestände ab, die aber in einer wis- sensgeschichtlichen Lesart auf Zirkulation zurückzuführen sind. Diese Zirkula- tion des Wissens und die Zuschreibungen hinsichtlich des Kriegs 1914/18 werden so in einer transnationalen Perspektive und vor allem über weltanschauliche, beruflich-funktionale und kulturelle Grenzen hinweg untersucht. Es geht darum, (inter)diskursive Schichtungen (Pross) und Überlappungen,23 aber auch diskur- sive Unterschiede kenntlich zu machen und möglicherweise traditionelle histo- riografische Narrative, etwa von Militarisierung oder Pazifismus, zu ergänzen. Solche Narrative werden durch nationalgeschichtliche Verengungen verfestigt. Sie beruhen häufig darauf, dass unterschiedliche Akteure, gesellschaftliche Gruppen, wie Militär und Pädagogen, sowie verschiedene ideologische Kreise in ihrer euphorischen Zustimmung zum Krieg isoliert voneinander oder vorwiegend

19 D’Orsi 2009, S. 21. 20 Mosse, 1988, S. 19. 21 Ebd., S. 13ff. 22 Lipphardt/Patel 2008; Sarasin 2011; Foucault 2014. 23 Pross 2013, S. 87. Mit «Schichtungen» wird in diesem Beitrag auf eine momentane Gemengelage von Wis- sen verwiesen, die dessen Zirkulation geschuldet ist. Dabei mischt sich explizites und implizites, etabliertes und unterworfenes Wissen immer wieder neu. Intentionale Bezugnahmen auf oder Rezeptionen von ande- ren Autoren und Autorinnen spielen daher nur eine kleine Rolle bei der Wissenszirkulation, die insgesamt weder als intentional noch als gelenkt, sondern als emergentes Ergebnis von «Zusammenstösse[n] und Kämpfe[n]» von Wissen (Foucault 2014, S. 21) innerhalb und zwischen den (nationalen) Gesellschaften be- griffen wird.

287 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

mit Blick auf das Augusterlebnis und die Mobilmachung 1914 betrachtet werden und so Abgrenzungsetikettierungen erfahren.24 Demgegenüber beabsichtigt dieser Beitrag mit dem wissensgeschichtlichen Ansatz und dem Pädagogisie- rungskonzept nicht, einzelne Akteure in ihren Stellungnahmen politisch-ideolo- gisch zum Ersten Weltkrieg zu verorten oder gar zu enttarnen. Vielmehr geht es darum, auf Wissenszirkulation beruhende diskursive Verflechtungen und Ge- mengelagen zu dem Fragekomplex, wie und in welchen Bereichen der Krieg erziehend wirken sollte, zu untersuchen. Damit rücken anstelle hoher ideologi- scher Verortungen eher auf der Klaviatur der Dekadenz und des Defizits spielen- de Gegenwartsdiagnosen von Lebensstilen und Lebenszielen, von Performanz und Lebensführung in den Blick, wie sie insbesondere im zweiten Abschnitt betrachtet werden. Daran schliesst ein dritter Teil an, der eher das Erziehungsziel, also die der zurückgewiesenen Gegenwart gegenübergestellten Entwürfe einer besseren Welt und insbesondere besserer Menschen fokusiert, die der Krieg angeblich bilden könne. In einem vierten Teil werden die diskursiven Muster zum pädagogisierten Krieg zusammenfassend dargestellt, und es wird schliess- lich die Frage diskutiert, inwiefern der wissensgeschichtliche Ansatz in Kombi- nation mit der Pädagogisierungsthese eine gewinnbringende Relektüre der oft- mals bereits bekannten Autoren und Texte erlaubt.

2. Gegenwartsdiagnosen: Degeneration und Defizite der Gesellschaft Vorstellungen, wonach der Erste Weltkrieg vermisste Tugenden pädagogisierend und erzieherisch (re-)etablieren könne, waren möglicherweise deshalb gesell- schaftlich weit verbreitet, weil sie auf vielfach ähnlichen, zirkulierenden Diagno- sen einer defizitären oder degenerierten Gegenwart beruhten. Diese Gegenwartsdiagnostik setzte schon weit vor dem Krieg ein und fusste auf einer teils polemischen Kritik an Öffentlichkeit und soziokulturellen Lebensstilen.

Defizitäre Werte und Traditionen – Aufruf zum Bruch und zur Überwindung Nach dieser weitverbreiteten Sichtweise, die historiografisch so unterschiedlich verortete Intellektuelle wie der deutschstämmige Pädagoge Foerster und der Zür- cher Theologe Ragaz, aber auch der Schweizer Offizier Wille einnahmen, habe eine Lebensführung überhandgenommen, die mit dem Degenerationsnarrativ

24 Nach Jaun (2014a, S. 286) haben biografisch zugespitzte polemische und moralisierende Bewertungen Willes seriöse diskurs- und milieugeschichtliche Arbeiten zu ihm eher behindert. Weitgehend einzelbiogra- fisch getrennte Betrachtungen zwischen Pädagogik und Militär enthält auch der Band von Gatzemann/Gö- ing (2004).

288 20. Jahrhundert

als entartet bewertet wurde.25 Demnach dominierten individualistische und he- donistische Lebensstile, in denen Selbstsucht, launenhafte, eitle und sinnliche Zerstreuung und Triebhaftigkeit, etwa durch Alkohol und Sexualität, im Vorder- grund stehen. Individualismus war in dieser Perspektive die Folge von Egoismus und schrankenlosem Wettbewerb, wie Leonhard Ragaz 1915 beklagte. «Materia- lismus der Lebensauffassung und Lebensführung» gingen wechselseitig verstär- kend einher mit Selbstsucht, Grössenwahn, Oberflächlichkeit, Verlust des Religiösen, Entseelung, Sinnengenuss und einer Gier nach «Mammonismus», so Ragaz in ähnlicher Diktion wie der deutsche Soziologe Georg Simmel.26 Die Folgen seien kultureller Niedergang, «zügellose Frechheit, dämonische Entartun- gen und Verkehrtheiten besonders im geschlechtlichen Leben».27 In dieser Ver- fallsbewertung von Liebe und Sexualität gleichen sich Ragaz’ Bewertungen mit denen von Foerster und dem Zürcher Psychiater Auguste Forel, die zur Bekämp- fung von Liebesillusionen, Verführungen und pornografischen Perversionen pä- dagogische, naturnahe Aufklärung zur «bewusste[n] menschliche[n] Zuchtwahl» (Forel) oder eben Askese gegenüber dem «Liebespöbel» (Foerster) forderten.28 Vor allem die romantische Liebe und das Reden über die Figuren des Frauenhel- den («dongiovanni») und des Betrogenen («cornuto») prangerte auch Marinetti als lähmend an, forderte darüber hinaus jedoch eine rein auf körperliche Repro- duktion der Art konzentrierte Form der «Liebe».29 Gerade die sentimentalen Be- ziehungen zur entlang des weiblichen Geschlechterstereotyps sozialisierten Frau30 und zur Familie hinderten den tatkräftigen Mann, seinen Mut zu leben, weil sich am Tag der Mobilmachung die «weichen Arme um unsere Knie schlingen».31 Dieses von Marinetti entworfene und zugleich als romantische Er- findung verworfene Bild erinnert wiederum an die Eingangsszene einer affek- tierten, manierierten und daher unaufrichtigen und soldatische Konzentration hemmenden Liebesinszenierung in Robert Faesis 1917 publizierter Erzählung über den Schweizer Füsilier Wipf.32 Doch nicht bloss die individuellen sentimentalen Bindungen, auch die gesell- schaftlichen Traditionen und Institutionen lähmten nach futuristischer Auffas-

25 Pross 2013; von Prondczynsky 2004, S. 53. 26 Simmel 1917, S. 14 – 16; Ragaz 1915, S. 26. 27 Ragaz 1915, S. 27. 28 Forel 1909, S. 544 – 567; Foerster 1915, S. 42. 29 Marinetti 1910b/2000, S. 41. 30 Marinetti (1915a/2000, S. 43) spricht dabei von der in der gegebenen Gesellschaft sozialisierten, im Zu- stand körperlicher und geistiger Sklaverei befindlichen Frau, die gegenüber dem Mann minderwertig sei. Wenn Frau und Mann jedoch über mehrere Generationen dieselbe Erziehung genössen, könne in der Fol- ge auch von ihrer Gleichheit gesprochen werden. 31 Marinetti 1909b/2000, S. 10. 32 Faesi 1917, S. 20.

289 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

sung die Menschen. So werden die Bewohner des fingierten Ortes «Paralisi» – also Lähmung – mit (lebendigen) Toten verglichen, welche die Strassen verstopften. «Impotenter Stolz» und «verstümmelte Säulen», verkrustete Machtstrukturen, Bürokratien und Hierarchien werden für die soziale Paralyse verantwortlich ge- macht. Die besten Alliierten im Befreiungskampf seien daher die Suffragetten, denn in ihrem Streben nach mehr Rechten und politischer Macht seien sie der sentimentalen und körperlichen Liebe entzogen und würden durch ihre Bemäch- tigung der als korrupt und geschwätzig verachteten Parlamente diese endgültig zu Fall bringen.33 In der Gesellschaftsdiagnostik von Foerster, Wille, Simmel und Ragaz bildete die Vergangenheit den Fluchtpunkt für die Zukunft, indem sie den Verfall einer ursprünglich guten, christlich-abendländisch und harmonisch imaginierten und damit fast als naturhaft idealisierten sozialen Ordnung beklagten. Die Futuristen machten ihre Kritik hingegen eher am angeblichen Verlust eines idealen, vitalis- tisch imaginierten Naturzustandes des Menschen und somit seiner schöpferisch- kreativen Lebenskraft fest. Diese sei erstickt in der «grossen Staatsmaschinerie», der Bürokratie, der parlamentarischen Demokratie, von etablierten gesellschaft- lichen Gruppen wie Anwälten und Professoren. Museen und Bibliotheken müssten daher genauso zerstört werden wie Universitäten und andere Instituti- onen, denn die Betrachtung eines alten Gemäldes lenke die Aufmerksamkeit auf eine Urne anstatt in die Ferne, auf die «gewaltigen Ströme der Kreation und der Aktion».34 Die Universitäten kultivierten die Bewunderung, Wiederholung und Nachahmung der Meister («maestri»), Kreativität und Ungewohntes seien ver- boten. Ähnlich kritisierte Ragaz die Hochschulen als erstickende «Hochburgen der bestehenden Verhältnisse und Meinungen», forderte dabei allerdings eine pädagogische Erneuerung und nicht die von den Futuristen geforderte Zerstörung der Universität.35 Da in der Wahrnehmung der Futuristen die italienische Jugend, traurig kanalisiert, der grossen Kloake des Intellektes entgegenfliesse, müssten die drei korrumpierenden Feinde der Kunst bekämpft werden: die Imitation (heisst es in ähnlicher Diktion wie später Walter Benjamin),36 die Vorsicht und das Geld (der Topos des Mammonismus), die alle zusammenfielen in einer einzigen Sache: Feigheit.37 Der in tradierten Strukturen vegetierende rationale

33 Marinetti, 1915a/2000, S. 45. 34 Marinetti 1909a/2000, S. 7. 35 Ragaz (1919, S. 19f.; 1915, S. 30) beklagte das Versagen der Wissenschaften, welche die grossen Leitlinien verloren hätten, nämlich «ein Führergeschlecht heranzubilden, das dem Abendland bessere Wege und Zie- le gezeigt hatte [ … ]: die Erziehung zu wahrer Menschlichkeit». 36 Benjamin 1955/2003, S. 11, 13. 37 Marinetti 1910a/2000, S. 36.

290 20. Jahrhundert

Mensch, der seine Kräfte in einer «ewigen und nutzlosen Bewunderung der Vergangenheit» verschwende, müsse daher sowohl diese als auch seine Sterb- lichkeit vergessen, um «nach den Sternen zu greifen».38 Die Futuristen sahen sich dabei als «Gelegenheitsärzte» («medici occasionali»), die das an Vergangen- heitskult («passatismo») sterbende Italien, aber auch andere Länder zu retten versuchten.39 Der Futurismus sei total, eine Unternehmung des Abbruchs, die alle Traditionen sprenge wie faule Brücken («ponti fradici»),40 um danach wieder zu bauen: «Wir räumen die Trümmer weg, um weiterzugehen».41 In diesem Bild einer schon vor dem Krieg in Trümmern liegenden Gesellschaft, die erst durch den Krieg als Zerstörer und zugleich erziehenden Bringer eines Guten sichtbar und erneuerbar sei, ähnelt die allerdings auf erneuernde Zukunft zielende Ge- sellschaftsdiagnostik von Futuristen derjenigen von deutschsprachigen Intellek- tuellen, Wissenschaftlern und auch Repräsentanten des Militärs. Diese rekurrier- ten ebenfalls auf die Degenerationsthese, lenkten ihren Blick jedoch zurück auf die christlich-abendländische Vergangenheit als vermeintliches Vorbild – aber auch auf Naturverbundenheit und nationale Gemeinschaft sowie vor allem auf die Traditionstugenden Disziplin, Gehorsam, Treue und Pflichterfüllung als Komponenten des Ideals der «echte[n] und schweigsame[n] Mannhaftigkeit».42 Dieses Ideal sei durch eine vielfach, etwa auch vom Zürcher Lehrer Erwin Kunz 1918, beklagte «Pädagogik des Sich-Nachgebens»43 und die Aufwertung intellek- tueller Verstandesbildung geschwächt, sodass nunmehr Bequemlichkeit, Ver- weichlichung und Verweiblichung in der Gesellschaft neue Leitlinien mit den damit verbundenen teilweise als feminin geltenden Untugenden Streit- und Habsucht, Eifersucht, Herrschsucht, Neid, Äusserlichkeit, Maniküre und Wich- tigtuerei geworden seien.44 Oder wie es in einem anonymen Beitrag in der ASMZ heisst: «Durch unsere Zeitperiode ist, bei allem Dagegenkämpfen gerade durch den Militärdienst, vielfach ein Zug der Verweichlichung und Vernüchterung gegangen, ein Zug des Verwischens. Die Frauen tragen sich männlicher und die Männer weiblicher. Die Frauen wollen den Männern gleichen und die Männer den Frauen.»45 In dieser Betrachtung waren sich historiografisch so getrennt betrachtete Exponenten, wie der vermeintliche Pazifist Foerster und General Wille, sehr einig.

38 Marinetti, 1909a/2000, S. 3 – 9. 39 Marinetti 1915b/2000, S. 153. 40 Marinetti 1909b/2000, S. 10. 41 Marinetti 1915b/2000, S. 154f. 42 Foerster 1908, S. 101. 43 Ebd., S. 96; Kunz 1918, S. 11. 44 Foerster 1915, S. 27f. 45 O.A. 1915b, S. 116.

291 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Verführte öffentliche Meinung und publizistische Erziehung An der wahrgenommenen und so bewerteten Verkrustung, Lähmung und Ver- kommenheit von Gesellschaft sei nicht zwingend das Volk selbst schuld. Wenn etwa im Bereich des Militärs die schlechte Charaktererziehung vieler Soldaten beklagt werde, liege die schuldhafte Ursache dafür, so Offizier Wille, nicht bei diesen selbst, sondern bei nachgiebigen Vorgesetzten, die massenmedialer Kri- tik gegenüber der Armee, insbesondere bezüglich Unfällen, Aufbegehren und Selbstmordabsichten von Soldaten, nicht standhielten.46 Der auch von Foerster angeprangerte «Steinhagel der öffentlichen Missbilligung»47 ebenso wie «bestän- dige Seitenblicke nach der öffentlichen Meinung und der oppositionellen Presse aller Schattierungen» beförderte nach Ansicht eines Autors in der ASMZ die «ge- fährlichen Friedenskrankheiten», also die vorhin skizzierten soziokulturellen Fehlentwicklungen.48 Die bestehende Öffentlichkeit und die Medien werden in dieser Sicht mit Geschwätzigkeit – und damit wiederum mit den genannten weib- lichen Untugenden – in Verbindung gebracht, die wahre Mannhaftigkeit, deren Kennzeichen eben Schweigen als Ausdruck von Beständigkeit und Duldsamkeit sei, verhindere. Nach Wille und vielerlei Autoren der ASMZ bedurfte die Milizar- mee der Schweiz des öffentlichen Rückhalts.49 Umso stärker war dann die Klage über mediale Berichterstattung, die stets Skandale und Defizite in der Armee ins Zentrum rücke.50 Angesichts dieser Medienmacht sahen Wille und einige Offi- ziere das Militär in der öffentlichen Defensive und oberste Leitlinien des Militärs, wie Disziplin und Paradedrill, polemisch und demagogisch diskreditiert, sodass Offiziere den Mut verlören, militärische Härte durchzuhalten.51 In der Wahrneh- mung der Militärs in der Schweiz war die Gesellschaft also alles andere als militarisiert,52 sondern von einem durch die Presse gestützten Lebensstil des He- donismus und der Verweichlichung dominiert. Diese als kaum greifbar wahrge- nommene Macht der öffentlichen Meinung stiess auf verbreitetes Unbehagen – repräsentierte die öffentliche Meinung für viele Militärs und Intellektuelle doch gleichermassen die Masse, die man eigentlich als erziehungsbedürftig ansah und nicht als Leitlinie für das eigene Handeln akzeptierte.53 Im eigentümlichen Ge- gensatz zur negativ konnotierten Masse und Öffentlichkeit wurde so etwas wie das gesunde Volksempfinden imaginiert, das prinzipiell die Armee unterstütze,

46 Wille 1881/1941. 47 Foerster 1915, S. 13. 48 O.A. 1915c, S. 131; o. A. 1915d, S. 141. 49 O.A. 1914, S. 241. 50 Jaun 2014b, S. 21, 29, 42. 51 Wille 1881/1941, S. 70f.; Wille 1901a/1941. 52 Zur militarisierten Gesellschaft vgl. Blom 2014, S. 192; Schumann/Sealander 2008, S. 229f. 53 Zur Macht der öffentlichen Meinung im Ersten Weltkrieg vgl. Münkler 2014, S. 268 – 271, 283, 792.

292 20. Jahrhundert

jedoch als verführt und irregeleitet wahrgenommen wurde. Aus diesem Missver- hältnis ergab sich die angebliche Erziehungsbedürftigkeit, eine Art Re-Education für Öffentlichkeit und Bevölkerung. Zu diesem Zweck entfaltete gerade Wille, etwa als leitender Redaktor der ASMZ ab 1901, eine rege eigene publizistische und mediale (Gegen-)Aktivität. In diesem Sinne agierten auch die Propaganda- büros der europäischen Armeestäbe, die dazu beitrugen, Mobilmachung und Au- gusterlebnis 1914 als öffentliches Gemeinschafts- und Leistungserlebnis zu stilisieren.54 Ähnlich ambivalent gestaltete sich das Verhältnis zur (medial vermittelten) Öffentlichkeit auch bei Autoren derLacerba, wo eigene pädagogisierende Schreibaktivitäten für den Kriegseintritt und harte Kritik einer angeblich verführ- ten öffentlichen Meinung Hand in Hand gingen. So adressierte in dieser Zeit- schrift 1914 etwa der italienische Künstler und Autor Ardengo Soffici die Macht der Öffentlichkeit und kritisierte die Regierung dafür, den seiner Ansicht nach schon «vom bescheidensten Analphabeten bis zum Genie» bestehenden öffent- lichen Konsens zugunsten eines italienischen Kriegseintrittes nicht wahrhaben und umsetzen zu wollen.55 Während also in Willes Wahrnehmung eine medial verführte Öffentlichkeit die militärische Schlagkraft unterminierte, diente Soffici der angebliche Konsens der Öffentlichkeit für den Kriegseintritt als Argument, um die noch an der Neutralität Italiens festhaltende Regierung zu diskreditieren. Ähnlich warf zwei Monate später D’Angelo ebenfalls in Lacerba Ministerpräsident Antonio Salandra vor, er habe die öffentliche Meinung an der Nase herumgeführt, korrumpiert und letztlich durch Zögerlichkeit und «Mittelmässigkeit» die öffent- liche Kriegswilligkeit verspielt, ja geradezu Skeptizismus, Apathie, Entmutigung und Gleichgültigkeit gesät. D’Angelo spottete: «Ja, ihr Lieben, die Mobilmachung wird im März stattfinden, und jeder Soldat wird einen Schirm und Galoschen ausgehändigt bekommen, denn der ‹März ist regnerisch›. Im April marschieren wir dann gegen das verhasste Österreich, aber wir passen auf, die Margeriten auf den Wiesen nicht zu zertreten und die schön in Blüte stehenden Bäume nicht zu beschädigen! Schade, dass wir die Seidenraupenzüchter stören. Aber der Krieg wird kurz sein: Im Juli ist es heiss, und im August machen unsere Soldaten Urlaub in den pittoresken Dolomiten im Trentino und baden im Meer von Triest!»56 Trotz unterschiedlichen soziokulturellen Umgebungen und ideologischen Stossrichtungen kritisierten demnach publizistisch selbst aktive europäische

54 Zu Willes publizistischer Tätigkeit vgl. Jaun 2003, S. 223. Zum Vortragsdienst in der Schweizer Armee vgl. Elsig 2014, S. 85. 55 Soffici 1914a. 56 D’Angelo 1914, S. 298, 300.

293 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Intellektuelle mit eigenem pädagogisierendem Engagement Politik und Medien, dass sie die Bevölkerung nicht führten bzw. das gesunde Volksempfinden nicht aufgriffen und pädagogisierend verstärkten, sondern eher verwirrten und schwächten.

Defizitäre Erziehung – Aufruf zur Charakterbildung und Entfaltung von Genius Mit der Gesellschafts- und auch Medienkritik ging früh eine breite Klage gegen traditionelle Erziehungsinstanzen und gegen das Schulsystem einher. Schon 1908 forderte Friedrich Wilhelm Foerster, dass die Schule die vernachlässigte Charak- terbildung stärken müsse, um die Gesellschaft leiten zu können – ganz und gar falsch sei die besonders in Amerika verbreitete Vorstellung, wonach die (demo- kratische) Gesellschaft die Prämissen schulischer Erziehung prägen solle.57 Ge- nau umgekehrt argumentierte der italienische Schriftsteller Giovanni Papini, um dabei aber trotzdem auf eine vermisste Bildung des Charakters zu zielen: Die Schulen sollten geschlossen werden, weil gerade sie – wie auch Gefängnisse, Kir- chen, Parlamente, Kasernen und überhaupt alle grösseren Institutionen – Kör- per und Geist einsperrten. Ähnlich forderte der deutsche Kommunist Willi Münzenberg die Beseitigung herkömmlicher kasernierter Schulerziehung – al- lerdings um sozialistische Sonntagsschulen mit Friedenserziehung zu gründen.58 An den Schulen, so Papinis Kritik, funktioniere das Lernen schlecht, weil über- all dieselben Dinge mit denselben Methoden in derselben Quantität gelehrt wür- den und den «unendlichen Unterschieden in Geist, Rasse, sozialer Herkunft, Alter, Bedürfnissen» nicht Rechnung getragen werde. Die sogenannte morali- sche Erziehung im Unterricht bringe bloss offenkundige Unterwürfigkeit, Heu- chelei der Schüler gegenüber den Lehrern sowie gegenseitige Korruption unter den Kameraden hervor.59 «Wehe dem», warnt Marinetti, «der sein Genie (genio) verkauft!»60 Ähnliche Klagen über mechanischen Schulunterricht, der Kinder von Heimat und Familie entfremde, Abstumpfung, Denkfaulheit, Urteilslosigkeit for- ciere und intellektuelle Vielwisserei, Realitätsferne und eitle Gelehrtennachah- mung auf Kosten von kindlicher Genialität befördere, finden sich bei Ragaz, Forel und im pädagogischen Diskurs, etwa in Zürich.61 Wille geisselte das Zu- vielwissen zuspitzend als Element des bürgerlichen Zivillebens, das den Offizier

57 Foerster 1908. 58 Münzenberg 1917, S. 20f., 38. 59 Papini 1914a. Marinetti (1910a/2000, S. 37) zieht auch die Möglichkeit in Betracht, die Schüler und Schüle- rinnen im Rahmen eines regelmässigen Kurses in «Risiko und körperlicher Gefahr» zu unterrichten, in- dem sie – auch gegen ihren Willen – stets unvorhersehbaren Gefahren wie etwa einem Brand, dem Ertrin- ken, dem Einsturz einer Decke und ähnlichen Katastrophen ausgesetzt würden. 60 Marinetti 1910a/2000, S. 36. 61 Ragaz 1918, S. 206 – 227; Forel 1909, S. 557f.; Schneider 1916, S. 107 – 109, 113, 119; Wettstein 1916, S. 129.

294 20. Jahrhundert

«zum Handeln impotent» mache.62 In gewisser Argumentationsnähe führte wie- derum Marinetti aus, dass nur die Freiheit, die eigene Persönlichkeit in einem offenen Leben mit «zehntausend Möglichkeiten» und im «persönlichen Kontakt mit der Realität» zu entwickeln, wirkliches Lernen ermögliche. Anstatt Bücher zu lesen und deren Inhalt zu wiederholen, solle der Jugend «hygienische Anar- chie» gegönnt sein. In jedem Menschen sei die Möglichkeit der Transformation und die Entwicklung von Flügeln angelegt. Dies geschehe im Krieg oder als Wil- lensakt, der von Freiheit (vor allem die Freiheit von sentimentalen Beziehungen und alltäglichen Arbeiten) und vom regelmässigen Kontakt mit Maschinen be- günstigt werde. Mittlerweile fänden sich immer mehr gewöhnliche Leute ohne Kultur und Bildung, die aber dem Ideal des metallisierten Menschen nahe sei- en.63 Nicht eine an vorgegebenen Tugenden der Mannhaftigkeit orientierte Cha- rakterbildung, wie Foerster sie anstrebte, sondern die Freisetzung der Genialität des Einzelnen (wir werden im nächsten Abschnitt sehen, wie diese angeblich er- folgte) sollte deshalb die Erziehung bewirken. Auf Disziplin und Charakterfestigkeit als Urtugenden des Manneswesens an der Stelle von abstraktem Wissen und rationalen Kriegslehren setzte besonders Offizier Wille. Erst auf dieser unhinterfragbaren Grundlage von Disziplin, Ge- horsam und Kameradschaft könne der Krieg gleichsam als Lehrmeister zugleich auch Vertrauen und Freiheit verleihen, je nach den militärischen Erfordernissen eigenmächtig Entscheidungsnotwendigkeit und Entscheidungsfähigkeit von Soldaten gegen Hierarchien und Befehle herbeizuführen.64 Die Kriege von 1866 und 1870/71 hätten gezeigt, dass der preussische Offizier je nach Kriegslage fähig war, eigenmächtig zu handeln.65 Diese auf Tatkraft, Charakterfestigkeit und Verantwortungsgefühl gründende Eigenmächtigkeit erfolgte im Bewusstsein der unverbrüchlichen vertrauensvollen Bindung der Soldaten untereinander. Im Gegensatz dazu sei die egoistische Eitelkeit österreichischer Offiziere im Krieg von 1866 zu bewerten und seien auch die meuternden Truppenteile an der Flüela einzustufen, die nicht als eigenmächtig handelnde, sondern als naive, verweichlichte und von den Offizieren schlecht ausgebildete Soldaten wahrge- nommen wurden.66 Das gefährliche Gegenteil echter soldatischer Eigenmächtig- keit sei «die Verknöcherung des Mandarinentums»,67 weil es die Kampfkraft der Armee schwäche und das Kennzeichen einer durch Friedenszeiten und durch zu

62 Wille 1901b/1941, S. 421. 63 Marinetti 1910b/2000, S. 40. 64 Wille 1901b/1941, S. 416. 65 Wille 1924/1941, S. 590 – 593. 66 O.A. 1913, S. 388. 67 Wille 1924/1941, S. 599.

295 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

rationale, wissenschaftliche Kriegslehren erstarrten Truppe sei, die nicht mehr das durch Kriege gestählte Manneswesen kenne und eher an die um 1914 kriti- sierte Verkrustung der Gesellschaft erinnere. Wie sehr kriegserfahrene, mann- hafte Tatkraft und Eigenmächtigkeit der Unterführer zum «Durchhalten in der furchtbaren Lage bis zur Vernichtung» geschwunden sei, habe die Marne-Schlacht 1914 gezeigt.68 Den von Wille stark gemachten Begriff der Eigenmächtigkeit kann man somit durchaus in eine gewisse Nähe zum futuristischen Ideal des Genius setzen, beruhte doch soldatische Eigenmächtigkeit der Unterführer auf individu- ellem, intuitivem, geistesblitzartigem, kaum zuvor rational einzuübendem Er- kennen und Handeln in militärischen Extremsituationen.

3. Erzieherisch entfaltet aus Krieg und Zerstörung: Der neue Mensch und die neue Gesellschaft Gemäss vielen schon angedeuteten Lesarten entfalte der Krieg – ob er nun als furchtbares und notwendiges Übel oder als «Fest» bezeichnet wurde – seinen di- daktischen Sinn, indem er die Zerbrechlichkeit und Verkrustung der defizitären und degenerierten materialistischen, hedonistischen und schwatzhaften Vor- kriegs-Lebenswelt rücksichtslos anschaulich enttarne. Somit bereite er nicht nur der unabdingbaren Erneuerung insbesondere der Tugend, den Weg, betonte der italienische Schriftsteller Aldo Palazzeschi,69 sondern weise sie geradezu an.

Frieden als soziales Problem – Krieg als pädagogisierendes Übel Die oben skizzierten Friedenskrankheiten, auch das vermeintlich etablierte, aber als hohl empfundene bürgerliche Wertesystem, würden nun durch den Krieg zer- stört. Diese Zerstörungen sah man als Voraussetzung der Erneuerung, Verände- rung und Verbesserung, denn der als Erdbeben oder generell als Naturkatastrophe metaphorisierte Krieg vernichte diese Verkrustungen gleichsam mit der Urkraft und Wahrhaftigkeit der Natur, und «als Katastrophe eines Schlimmen ist er auch der Bringer eines grossen Guten.»70 Eine «furchtbare und verhasste Tatsache» war der Krieg auch dem italienischen Sozialisten Gaetano Salvemini, doch zeich- nete er den Frieden als eine noch viel grössere Gefahr. Manchmal zehre der Frie- den die Völker langsam auf, etwa wenn Arbeiter hungernd oder in Bürgerunruhen stürben. Dieser Art von Frieden sei der Krieg, wenn er zu gewinnen sei, tausend-

68 Ebd., S. 601; Münkler 2014, S. 173f. 69 Palazzeschi 1915, S. 162. 70 Ragaz 1915, S. 34f.; D’Arezzo 1914, S. 294. Maria D’Arezzo ist das Pseudonym der italienischen Altphilolo- gin und Schriftstellerin Maria Timpanaro Cardini, die in ihrer Jugend der Dada-Bewegung angehörte.

296 20. Jahrhundert

mal vorzuziehen.71 Auch weitere europäische Intellektuelle schwankten zwischen Friedensschluss und Kriegsfortsetzung. In der Debatte vom Frühjahr 1916, ob ein zu früher Friedensschluss die Lehren des Krieges nicht vorzeitig abwürge, begründeten manche, wie Foerster, ihr national motiviertes Votum für eine Kriegsfortsetzung mit verbrämten Hinweisen auf die pädagogisierenden Kräfte, die der Krieg noch entfalten müsse. Demnach sei der Frieden erst möglich, wenn «das europäische Läuterungsfeuer» (also der Krieg) den kriegverursachenden Weltzustand beendet, die «Pflege eines neuen europäischen Gewissens» und eine auf europäischer Vergemeinschaftung beruhende Friedenseinsicht herbeigeführt habe.72 In der Debatte ging es auch darum, welcher Nation der Frieden zugute- komme. Vom Frieden, schrieb Salvemini, hätten bisher vor allem die Deutschen profitiert, während die Italiener in ihrer Unterstützung des reicher gewordenen Deutschland im Dreibund verarmt seien. Der Krieg biete die Gelegenheit zur Be- freiung aus dieser «vergangenen Knechtschaft»: «Wenn wir uns heute nicht be- freien, werden wir nie mehr frei sein.»73 Hieran anknüpfend, schrieb Papini, sei der Krieg in der Sichtweise der Sozialisten notwendig, um Menschen, Ideen und Gleichgewichte zu verändern.74 Auch Soffici bezeichnete den Krieg 1914 als «ziemlich unappetitlich und nervig»,75 doch noch abstossender sei die zur Feig- heit sich steigernde Vorsicht. Bleibe Italien neutral, während sich die Zivilisati- on (Frankreich und seine Verbündeten) gegen «das Sakrileg einer Horde ohne Geschichte» verteidige, wäre dies das «schlimmste Unheil», das die schlechtes- te aller Regierungen über die unterste und unglücklichste der Nationen gebracht hätte. Italien wäre nicht nur entehrt, sondern auch jeder Zukunftsperspektive be- raubt.76 In einer fast dialektischen Didaktik wurde also aus verschiedenen Posi- tionen heraus die Fortsetzung des Krieges legitimiert und der Frieden als Option delegitimiert.

Der Krieg – Hygiene der Welt, Bringer einer neuen Tugendhaftigkeit und Essenz des Lebens Der Krieg wurde, wie schon mehrfach angedeutet, einerseits als «einzige Hygie- ne der Welt» herbeigesehnt, indem er die Zerstörung der alten Ordnung realisie- re und zu einer neuen Tugendhaftigkeit erziehe. Andererseits wurde er aber als

71 Salvemini 1915, S. 4, 31. 72 Foerster 1916, S. 30, 36. 73 Salvemini 1915, S. 4, 31f. 74 Papini 1915a, S. 90. 75 Soffici 1914a, S. 254. 76 Soffici 1914b, S. 261; Soffici, 1914a, S. 256.

297 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

«schönstes futuristisches Gedicht»77 ästhetisiert und gefeiert. Während das ers- te Argumentationsmuster sehr verbreitet war, beschränkt sich letzteres auf Ma- rinetti, die Futuristen und teilweise auf die Autoren der Lacerba. Zuweilen vermischen sich beide Lesarten, wie etwa das folgende Zitat aus einem futuristi- schen Manifest zeigt: «Der Krieg? [ … ] Nun gut, ja: Er ist unsere einzige Hoffnung, unser Sinn des Lebens, unser einziger Wille! [ … ] Ja, der Krieg! Gegen euch, die ihr allzu langsam sterbt, und gegen alle Toten, die unsere Strassen verstopfen!»78 Es ist der Krieg, der als «einzige Inspiration der Kunst, einzige reinigende Mo- ral, einzige Hefe des menschlichen Teigs» bezeichnet wird. Nur der Krieg ver- möge zu «ent-altern» (svecchiare), zu beschleunigen, die menschliche Intelligenz zu schärfen, die Nerven zu erleichtern und durchzulüften, von den alltäglichen Gewichten zu befreien, dem Leben tausend Geschmäcker und den Idioten Ver- stand zu verleihen.79 Dem Krieg wurde also Vitalismus und Erkenntnisermögli- chung gleichermassen zugesprochen. Als Mittel zum Zweck fege der Krieg angeblich mitsamt der verachteten bür- gerlichen Ordnung weg, was die Menschen lähme und binde: «Ich fürchte, wir sind ein verfaultes Land, das wirklich Feuer und Blut braucht, um sich zu erholen.»80 Der Krieg sei «der Tag des Zorns», «das warme Bad im schwarzen Blut nach all dem Feuchten und Lauwarmen der Muttermilch und den Tränen der Brüder». Die «Siesta der Feigheit, der Diplomatie des Heuchlertums und der Friedensserie» sei vorbei, die Zivilen seien wieder bereit, wild zu werden: Die Menschen verleugneten ihre Raubtiermütter nicht länger.81 In weniger blumiger Sprache sah auch Foerster, ähnlich etwa wie der Verfechter der Arbeitsschule Georg Kerschensteiner,82 den Krieg als Erziehungsoption, im Vernichtungskampf gegen jede Furcht auch den «heimlichen Feigling in uns» zu überwinden.83 Die Futuristen hofften, der Krieg werde das Alte zerstören, Intellektualismus, Ratio- nalismus, Sozialismus, Egoismus, überhaupt jeden -ismus wegfegen84 und all seine Feinde entmächtigen: die Diplomaten, Professoren, Philosophen, Archäo- logen, Kritiker, die Kulturobsession, das Griechische, Lateinische, die Geschich- te, den Senilismus, die Museen, Bibliotheken, die Fremdenindustrie. Neuere und «hygienischere» Dörfer würden gebaut, und eine neue Kunst werde aus den Ruinen geboren: «Jeder Vernichtungskrieg ist der Anfang einer andersartigen

77 Marinetti 1915b/2000, S. 157. 78 Marinetti 1909b/2000, S. 10. 79 Marinetti 1915b/2000, S. 158. 80 Papini 1915b, S. 135. 81 Papini 1914b, S. 274. 82 Von Prondczynsky 2004, S. 56. 83 Foerster, 1915, S. 11. 84 Tavolato 1914, S. 287.

298 20. Jahrhundert

Mode.»85 Die Blütezeit der Waffen werde allen den Atem zurückgeben und die Gymnastik, den Sport, die praktischen Schulen der Landwirtschaft, des Handels und der Industrie fördern, Italien verjüngen, das Land an Tatmenschen berei- chern und es zwingen, nicht länger von der Vergangenheit zu leben, von den Ruinen und dem milden Klima, sondern von den eigenen nationalen Kräften.86 Die futuristische Erwartung, der Krieg werde eine Verjüngung, Erneuerung, Entwicklung, auch Erziehung neuer Menschen ermöglichen, korrespondierte durchaus mit Sichtweisen deutschsprachiger Intellektueller, wie etwa Simmels.87 Nur beruhte hier der neue Mensch häufig auf der Restitution alter Werte. Foers- ters eugenisch imprägnierte Sicht, wonach der Krieg eine notwendige und letztlich gesunde Selektion unter den Menschen herbeiführen werde, ähnelt al- lerdings sehr den futuristischen Hoffnungen auf erneuernde Verjüngung. Im Krieg, so Foerster, «mit all seinen übermenschlichen Anforderungen an Seele und Leib [ … ] geht der Mensch entweder zugrunde, oder es vollzieht sich ein unbarmherziger und heilsamer Ausscheideprozess; es kommt unzweideutig an den Tag, was Schund an ihm ist, was schwach, unbrauchbar, abstrakt, lebensun- fähig, Schein und Trug».88 In dieser biologistischen Perspektive sollte der Krieg die durch Dekadenz der Vorkriegszeit erfolgte Verweichlichung, Verweiblichung und Infantilisierung der Gesellschaft korrigieren und nicht zuletzt durch Selek- tion eine Ver-Mannhaftung einleiten. Der Krieg lehrte für Foerster bei aller Zerstörung wahre christliche Tugenden und enthielt «neben allen zerstörenden Elementen ein moralisch aufbauendes Element, das Element der ehernen Zucht und des restlosen Opfers; dieses ist ein Zuchtmeister auf Christum».89 In Foers- ters Skizze eines durch den Krieg erfolgenden moralischen Aufbaus klingt wie- derum Marinetti an, der den Krieg im Titel eines seiner Texte als «einzige erzie- hende Moral» definierte.90 Er sei, so wiederum Foerster, eine Prüfung zum Mann durch «die hohe Schule der Fürsorge» und Kameradschaft und «befreit den Menschen von der verweichlichenden und beschmutzenden Anhänglichkeit an das Vergängliche».91 Damit argumentiert Foerster in der Nähe von Papinis Dik- tum: «Der Krieg ist furchterregend – und genau weil er furchterregend, fürchter- lich und zerstörerisch ist, müssen wir ihn mit unserem ganzen Männerherz lieben.»92 Diese Liebe für den Kampf, die Proklamation des männlichen Mutes

85 Papini 1914b, S. 275. 86 Marinetti 1915b/2000, S. 159. 87 Münkler 2014, S. 243. 88 Foerster 1915, S. 30. 89 Ebd., S. 8f., 33. 90 Marinetti 1911/2009, S. 165. 91 Foerster 1915, S. 29. 92 Papini 1914b, S. 275.

299 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

in einer degenerierten Welt bezeichnete Mosse als roten Faden, der das frühe 20. Jahrhundert durchziehe.93 Nur die gleichsam planetarische Zerstörungskraft des Krieges, so hiess es auch in Schweizer Militärkreisen, könne die Notwendigkeit und Einsicht zur Restitu- tion verloren gegangener Mannestugenden vermitteln, da die Vorkriegserziehung zwar schon bestehende Charakterfestigkeit zu entwickeln, aber nicht herzustellen vermöge. Sie richte sich zudem zu sehr an die Psyche und steigere so eher die Verunsicherung, statt innere geistige und seelische Festigkeit, Willen und Tatkraft auszubilden.94 Die «Festigkeit des Charakters»,95 gleichsam ein Synonym für «Manneswesen», sei jedoch die erste Priorität für die Eignung zum militärischen Vorgesetzten. Nach dem Instruktionsoffizier Wille seien in der Vorkriegszeit der Drill, das Marschieren, Paradieren und Disziplin soldatische Erziehungsgrund- lagen. Doch erst die Kriegserfahrung biete die besten Erziehungsleitlinien96 und zeige, wie stark die militärischen Erziehungsgrundsätze der Subordination und Disziplin bei den jeweiligen Truppenteilen und Armeen verankert seien, nach- vollzogen und «gelebt» würden. Zugleich gingen nach Ansicht Willes und ande- rer diese soldatischen Ideale allerdings mit einem traditionellen zivilen und bis ins 20. Jahrhundert – etwa in der Lehrerbildung, – gültigen pädagogischen Ideal konform: dem Ideal der Persönlichkeit.97 Willes Maxime, «im Krieg ist überhaupt die Persönlichkeit alles, kein Wissen und Können kann dieselbe ersetzen»,98 wurden nahezu bruchlos auch in pädagogischen Kontexten vertreten. In diesem Sinn beförderten gerade Kriegserfahrungen die Ausbildung von Persönlichkeit, denn sie seien wahr und wurden von Wille mit Authentizität verbunden – im Gegensatz zu eher rationalen, theoretischen Kriegslehren, die als spekulatives Verstandeswerk in die Irre führten.99 Die Kriegserfahrung hingegen trage zur als notwendig empfundenen Erziehung zum Schlachten- und Soldatentod bei: «Die Friedenserziehung zum Tode ist aber nur eine Vorerziehung, die eigentliche und beste, die Haupterziehung war, ist und bleibt ewig die einfache Kriegserziehung: Führer stets in den gefährlichsten Lagen, in den allergrössten Gefahren voran, dann wird und muss der gute Soldat nachfolgen und die andern mitreissen!»100 Erst vor dem Hintergrund des Krieges und der mit ihm verbundenen Todeser- fahrung und -bereitschaft sei demnach eine Erziehung der Willens- und Tatkraft

93 Mosse 1988, S. 28. 94 O.A. 1915b, S. 115. 95 Wille 1914, S. 1. 96 Wille 1924/1941. 97 Grube/De Vincenti [2016]; Schumacher 1942, S. 14f. 98 Wille 1901b/1941, S. 420. 99 Wille 1924/1941, S. 587f. 100 O.A. 1915d, S. 141.

300 20. Jahrhundert

erfolgreich. Allein sie könne die Weichlichkeit der Vorkriegszeit eliminieren. Wie sehr die Kriegszeit auch im militärischen Umfeld, ähnlich wie bei den Futuristen, als Option zwar nicht der Verjüngung, aber der Prüfung, Kräftigung und Leis- tungssteigerung des Körpers betrachtet wurde, zeigt ein 1915 in der ASMZ ver- öffentlichter Beitrag. Er betonte, militärische Ordnung und Marschdisziplin vermöchten den «Zeitpunkt der körperlichen Ermüdung [ … ] ganz erheblich hinauszuschieben».101 Derlei Erfahrungen in Kriegszeiten und gerade auch To- deswahrnehmungen galten als höchste Form der Natur-, Ursprungs- und Ich- Nähe: ein vitalistischer Hochpunkt angesichts des Todes, den nur der Krieg lehre. Auch den Futuristen galt die im Krieg oder durch eine enorme Willensanstren- gung zu erreichende Überwindung der Todesangst als Schlüsselmoment auf dem Weg zu einem neuen Menschen jenseits der alten Ordnung und Rationalität, wobei der Krieg gleichsam die Essenz sowie auch die Bedingung des Lebens darstelle. Bereits im ersten, 1909 in der französischen Zeitung Le Figaro erschie- nenen, futuristischen Manifest von Marinetti unternimmt der Protagonist eine allegorische Reise, auf der er mit dem Auto in einen Graben rast und in diesem Schlüsselerlebnis den Tod zähmt und bezwingt. In dem Moment stirbt der logisch- rationale Mensch, und der Futurist wird geboren: «lass uns aus der Weisheit wie aus einer furchtbaren Schale kriechen [ … ]! Lassen wir uns vom Unbekannten auffressen, nicht schon aus Verzweiflung, sondern nur, um die tiefen Gräben des Absurden zuzuschütten!»102 Der Krieg sei die Essenz des Lebens, weil der Tod dem Leben seinen Wert verleihe und keine Energie so aufweckend, belebend und schöpferisch sei wie der als «göttliche Trunkenheit» oder «grosses Todesspektakel» bezeichnete Krieg.103 Mit dem Krieg nehme der Sinn für Ernsthaftigkeit und moralische Verantwortung zu, und Helden sowie das Sublime, das durch das humanitäre und egalitäre Ideal zum Verschwinden tendiere, kämen zurück. Der Mensch finde sich selbst in seiner primitiven Existenz wieder, befreit von der so- zialen Hülle.104 Der neue, entweder durch einen extremen Willensakt oder durch den Krieg geformte «uomo moltiplicato» (multiplizierte Mann) beherrsche Natur und Tod, indem er sich der Maschine angleiche, das korrumpierbare Fleisch metallisiere105 und dadurch auch immun werde gegen die «Krankheit der Liebe».106 Im Gegensatz zu Nietzsches «griechischem» Übermenschen, den Marinetti als

101 O.A. 1915a, S. 86. 102 Marinetti, 1909a/2000, S. 4f.; De Maria 1968, S. XXII. 103 D’Arezzo 1914, S. 294. 104 Ebd. 105 De Maria 1968, S. XXVIII. 106 Marinetti 1910b/2000, S. 41.

301 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

eine der Vergangenheit und den Bibliotheken entsprungene Mischung von Apol- lo, Mars und Bacchus verlacht, habe sich der futuristische Übermensch selbst erschaffen. Er sei ein «Feind des Buches und ein Freund der persönlichen Erfah- rung, Schüler der Maschine, ausdauernder Erzeuger des eigenen Willens, luzide in seinem Geistesblitz, mit einem katzenartigen Spürsinn, blitzartigem Kalkül, wildem Instinkt, Intuition, List und Kühnheit».107 Dieser nahezu animalisch ge- zeichnete neue Mensch ist nicht Teil einer Kameradschaft, sondern ein individu- eller «Dominator der ursprünglichen Kräfte», der in einer «Atmosphäre der Ge- schwindigkeit und der Gefahr» sein Leben «in unzähligen antagonistischen An- strengungen perfektioniert. Eine Anarchie der Perfektionierung.»108 In der Technikorientierung und im Ideal des neuen Menschen liegen Unter- schiede etwa zu Ansichten von Offizieren wie Wille und zu Ernst Jüngers Arbei- ter vor. In Schweizer Militärkreisen wurde vor dem Glauben gewarnt, neue Ma- schinen und Technik ermöglichten nun militärische Erfolge. Stattdessen sei immer noch die Erziehung der Truppe zu Männlichkeits- und Ritterlichkeitside- alen, Kriegserfahrung und Persönlichkeitsstärke der Offiziere vorzuziehen. Der Umgang mit neuen Waffentechniken und Manöverstrategien sei trügerisch, weil neue Technik das Vermeiden von Verlusten im Krieg suggeriere, es aber umge- kehrt notwendig sei, zum Schlachten- und Soldatentod und zum Ertragen von Verlusten zu erziehen.109 In Jüngers Arbeiter wiederum geht es zwar ebenfalls um eine Art durch den Krieg geformten neuen Übermenschen. Auch der Arbei- ter beherrscht seinen Körper wie ein Instrument, hat jeden Selbsterhaltungstrieb überwunden, doch er ist nicht entsozialisiert, sondern Teil eines disziplinierten Heeres, das aus ehemals ungeordneten Massen hervorgegangen ist.110 Futuristi- sches Ziel hingegen war die Kreation einer «nichtmenschlichen» Art, die weder moralischen Schmerz, Güte, Zuneigung noch Liebe kenne. Dies alles sei ätzendes Gift für die unerschöpfliche Lebensenergie, «Schalter für unsere gewaltige phy- siologische Elektrizität».111 Diesem Ideal des neuen Menschen nähert sich aus Sicht der Futuristen die idealisierte Figur des Piloten, der im gefährlichen, un- kontrollierten Flugexperiment den Sieg über die Natur und die Entmystifizierung der Welt zelebriere und somit die Freiheit gewinne – eine Freiheit, die sich vor allem im Krieg erhalten lasse. Analog widersprachen die Futuristen jeglichen Friedenshoffnungen, indem sie im unsterblichen Krieg ein Gesetz des Lebens

107 Marinetti 1910a/2000, S. 35. 108 Marinetti 1915/1968, S. 276f. 109 O.A. 1915c. 110 Mosse 1988, S. 24; Martus 2001, S. 90f. 111 Marinetti 1910b/2000, S. 40.

302 20. Jahrhundert

sahen. Das Leben sei Aggression, eine blutige, notwendige Prüfung der Kräfte eines Volkes. Universeller Friede bringe hingegen Gebrechlichkeit und Agonie der Rassen mit sich.112 Der Krieg sei «die höchste und perfekte Synthese des Fortschrittes und eine «obligatorische Schule der Ambition und des Heroismus; Lebensfülle und maximale Freiheit, sich dem Vaterland zu widmen».113 Deshalb solle der Krieg als ewiges Werden als Unordnung stiftende Simultanität der Reize immerwährend erhalten bleiben.114 Ein Friedensschluss zurre die Men- schen im neuen Gleichgewicht fest und lasse die vorgängig skizzierten Friedens- krankheiten wieder aufleben. «Lasst mich atmen. Mögen die Kanonen mit ihren grossen Mäulern zurückkehren und die Mörser Feuer spucken.»115

Erziehung zum Opfertod durch den Krieg und als Leitbild für die Nachkriegszeit Die Auffassung, erst im Angesicht des Kriegstodes werde die wahre Lebenslust geweckt, richtet sich gegen die verbreitete Bedeutung von Lebensfreude als ver- gnügungsorientiertes und als sinnentleert gebrandmarktes Ziel einer kapitali- sierten Gesellschaft. Diese aus Friedenszeiten tradierte Form des individualistischen Lebensgenusses gefährde die Opferbereitschaft von Soldaten für die Allgemein- heit. Der Soldatentod sei jedoch der geradezu sakralisierte Opfertod, wozu nur der Kampf im Krieg erziehen könne. Dieser besonders von Münkler betonte Zu- sammenhang von victima, dem zivilen Gefühl, im Krieg geopfert zu werden, und dem sacrificium, der Haltung, freiwillig ein Opfer zu bringen, wurde auch in der ASMZ betont: «Todeserziehung ist also notwendig, wenn die Lebensfreude nicht triumphieren soll.»116 Die durch den Krieg zu erlernenden Ideale des sacrifici- um, Aushaltens, Standhaltens und Erduldens waren zwar an die rückhaltlose Ak- zeptanz militärischer Kernelemente von Disziplin und Befehlsgehorsam gebunden, jedoch nicht durch Indoktrination einzuimpfen, denn das führe nur zur äusserlichen Adaption. Vielmehr müsse der Soldat den Grund seines Han- delns einsehen, ihn fühlen und leben, also im Krieg erfahren – der Krieg war hier also so etwas wie ein Vermittler des Opferideals.117 Das Opfer für den Krieg, sacrificium, solle nach Foerster nicht um des Hero- ischen oder um des Vaterlandes – als strategisch genutztes Argument zur Ge- meinschaftsstiftung (Münkler) – willen geschehen, sondern weil es Anschauung

112 Marinetti 1915b/2000, S. 158. 113 Marinetti 1915b/2000, S. 158. 114 Marinetti 1909b/2000, S. 11. 115 Pagliai 1914, S. 288. 116 O.A. 1915d, S. 142. 117 O.A. 1915b, S. 115.

303 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

und erzieherische Kraft für die Heimat entfalten solle. Andernfalls wäre die (deutsche) Jugend im Schützengraben sinnlos verblutet, wenn sie gleichsam als Lehrer und Medium von Kriegserfahrungen nicht geachtet werde: «Ihre grosse Sorge im Schützengraben ist ja gerade: Wird all unsere Mühsal hier nur das deutsche Mundwerk in Bewegung setzen, oder werden sie daheim von uns lernen?»118 Denn mit dem pädagogisierend aufgewerteten Krieg sollen die auf dem Schlachtfeld wiedergefundenen mannhaften Tugenden, die «Wahrheit des schlichten, schweigsamen Opfers» und «das sittliche Vermächtnis» auch für nachfolgende Generationen und die Heimatfront in den Nachkriegsalltag trans- portiert werden, denn «das Menschenleben ist voll von Schützengräben».119 Die nicht ins Feld ziehende Jugend solle als «‹Ersatzreserve› in der Familie» dienen – unter anderem bekehrt durch das Vorbild der für das moderne Leben Gefalle- nen. Ähnlich lobte der italienische Schriftsteller Giovanni Boine die erziehende Wirkung der kolonialen Kriegserfahrung in Tripolis: Sie werde Jahrgänge von Männern hervorbringen, welche «dezidierter auf das Leben vorbereitet seien, fähig zum Opfer («sacrificio») und bereit zum Leiden, fähig, eigenen und fremden Schmerz zu ertragen ohne übertriebenes, sentimentales und humanitäres Ge- wimmer, weniger schlaff, derber und männlicher, weniger eingetaucht in nervige Gewohnheiten des Vergnügens und der Bequemlichkeit oder in den zersetzenden bürgerlichen Egoismus».120 Den für den traditionellen Nationalismus typischen Gefallenenkult121 lehnten der Futurismus vehement, Ragaz und Foerster in seiner phrasenhaften Form ab, ebenso jede Vorstellung einer mit dem Tod verbundenen Transzendenz oder die sakralisierende Überhöhung des Heldentodes in Gedichten. Ähnlich und zuspit- zend banalisierte Papini den Tod in seinen Texten, indem er die Vorzüge des auf den ehemaligen Schlachtfeldern gesteigerten landwirtschaftlichen Ertrages und des übergrossen Gemüses rühmte, das auf diesen Feldern wachsen würde. Die Schädel, in welche die Hacke sich bei der Arbeit zuweilen grabe, seien frohe Boten einer üppigen Ernte.122 «Welch schöne Kohlköpfe werden die Franzosen essen, dort, wo sich deutsche Infanteristen türmten.»123

118 Foerster 1915, S. 9. 119 Ebd. 120 Boine, Giovanni: Discorsi militari. Firenze: Edizioni della Voce 1914, S. 102, zit. nach Isnenghi 2014, S. 82. 121 Mosse 1988, S. 22; Ragaz 1918, S. 208; Foerster 1915, S. 9. 122 Papini 1913, S. 224. 123 Papini 1914b, S. 275.

304 20. Jahrhundert

4. Pulverdampf ist Kreidestaub: Der Krieg als Erzieher Dieser Beitrag untersuchte Schriften von Intellektuellen mit unterschiedlichen weltanschaulichen, beruflich-funktionalen und kulturellen Orientierungen. Da- bei scheinen verschiedene Argumentationsmuster auf, die dem Krieg die Macht zuschreiben, eine als degeneriert und defizitär beschriebene Gesellschaft erzie- hend zu verbessern oder gar zu retten. In allen Argumentationsmustern stand eine moralische Erziehung zu neuen oder verlorenen Tugenden einer idealisier- ten Mannhaftigkeit im Vordergrund. Der Krieg sollte den Menschen helfen, ih- rem Genius zu folgen und damit ihre Lebenskraft voll zu entfalten, also sie, und insbesondere die Soldaten, zu Männern der Tat werden zu lassen, die Verführun- gen von bürgerlichen Lebensstilen und den in Friedenszeiten entstandenen Kon- ventionen überwinden. Letztere wurden allesamt als lähmende und falsche Alltagsroutinen bewertet, mit denen teilweise weiblich konnotierte Untugenden, wie Heuchelei, Schwatzhaftigkeit, eitler Stolz, Karriereambition, «Mammonis- mus» und Liebschaften, verbunden wurden und die einen angeblich vitalen, ech- ten, unverfälschten, mutigen Lebensstil verhinderten. Über dieses allen untersuchten Schriften gemeinsame Muster hinaus, das dem Krieg erziehende, gar zur Erziehung zwingende Kraft zuschreibt, wurden auch unterschiedliche Varianten dieses groben Musters sichtbar. So rückte eine Lesart primär die neue Mannhaftigkeit, Kameradschaft und den Opferwillen für die Gemeinschaft in den Vordergrund, während sich daneben der futuristische neue Mensch (oder Mann) der menschlichen Sentimentalität und Sozialität entledigen und der Maschine ähnlich werden sollte, um dann, seiner individuel- len Intuition folgend, verjüngt das rauschhafte Erleben von Gefahr als Essenz des Lebens zu zelebrieren. Diese «Befreiung aus der sozialen Hülle» und das Rauschhaft-Irrationale unterscheiden den «neuen Menschen» von der Vorstel- lung eines im Rahmen einer neu zu erzielenden, zugleich auf traditionell christlich-abendländische und ständische Hierarchie sowie auf imaginierter Harmonie basierenden Gemeinschaft opferwillig und selbstlos lebenden Men- schen, wie ihn das erste Muster entworfen hat. Gleichwohl fliessen diese Muster auch ineinander und sind nicht stets idealtypisch zu trennen, was für zirkulie- rende Modifikationen dieses variierenden Wissens spricht. Bemerkenswert ist dabei auch, dass der Unterschied zwischen den beiden Mustern nicht entlang nationaler, sprachkultureller oder weltanschaulicher Grenzen verläuft. Vielmehr enthalten diese Argumentationsmuster unterschiedliche Priorisierungen und Prägungen: eine Kriegsbefürwortung in einer auf eine künftige (nationale) Ge- meinschaft gerichteten Perspektive, wie sie etwa von Wille, Foerster, teilweise Ragaz, Boine oder Salvemini imaginiert wurde, versus eine Kriegsbefürwortung

305 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

in avantgardistisch-anarchischer Perspektive, die im hier untersuchten Quellen- korpus vor allem durch die futuristische Avantgarde eingenommen ist. Diese hatte allerdings auch durchaus am zeitgenössischen Diskurs teil, denn viele Ideen des Futurismus seien, so De Maria, überhaupt nicht originell gewesen, sondern hätten in den literarischen Milieus der Belle Époque zirkuliert.124 In der Argumentationsfigur des Krieges als Erzieher schichten sich also dis- kursive Elemente übereinander und überlappen sich so zuweilen auch. Weltan- schaulich-politische Positionen der unterschiedlichen Akteure und Gruppierun- gen können dabei in anderer Hinsicht weiterhin äusserst disparat sein, sodass sich mit einem anderen Fokus der Untersuchung auch zahlreiche Unterschiede zwischen ihnen aufzeigen liessen. Die umfassende Verschränkung unterschiedlicher Wissensbestände und Diskurse im Vorstellungsmuster eines erziehenden Krieges kann zudem als Ausdruck einer so wahrgenommenen pädagogisierten und nicht nur militarisier- ten Gesellschaft gedeutet werden.125 Dafür sprechen mehrere thesenhaft zuge- spitzte Gründe: Erstens bildet die Klage über schlaffe, apathische, kraftlose, in eitle Bequemlichkeiten verstrickte und alles andere als militarisierte Menschen ein starkes diskursives Muster. Auch wird die Gewalt in keiner Argumentation per se akzeptiert oder gar verherrlicht, sondern immer durch moralische Über- höhung und durch ihre Sublimation zur einzigen moralischen Erziehungsinstanz legitimiert. Letztere bringe schliesslich den besseren Menschen hervor. Man könnte diese Pädagogisierung jedoch auch umgekehrt als soziokulturelle Milita- risierung deuten, die sich darin zeigt, dass der Krieg von so breiten Kreisen als einzige Lösung des Problems einer dekadenten und defizitären Gesellschaft überhöht wird. Zweitens schliessen manche Aspekte im Argumentationsmuster des Krieges als Erzieher an Elemente des pädagogischen Diskurses und der Schulkritik an, etwa die Befürwortung des Leitbilds von Persönlichkeit, das mitunter mit Vorstellungen vom neuen Menschen als oberstem Ziel militärischer Ausbildung zusammenfallen kann. Auch Aspekte der zeitgenössischen Schulk- ritik sind erkennbar, wenn kind- und menschenferne Vielwisserei und Psycho- logisieren abgelehnt werden, der Drill aber, wie in pädagogischen Traktaten zur Charaktererziehung, aufgewertet wird.126 Drittens – und das scheint auf eine bedeutende Variante hinzuweisen, die im von David Labaree, Marc Depaepe und Paul Smeyers vorgestellten Konzept der educationalization of social problems selten

124 De Maria 1968, S. XXI. 125 Zur wechselseitigen Bekräftigung von pädagogisierter Gesellschaft und Pädagogisierung sozialer Probleme vgl. Labaree 2008, S. 458. 126 Zur Pädagogisierung des Drills vgl. Rinderknecht 1937, S. 33f.

306 20. Jahrhundert

beachtet wird – wurde die soziokulturelle Neu-Erziehung nicht traditionellen Erziehungsinstanzen überantwortet, also nicht der Schule, sondern dem Krieg (der auch von Zeitgenossen wiederum vielfach als soziales Problem bewertet wurde). In diesem Sinne wird mit dem Topos vom «Krieg als Erzieher» eben nicht umstandslos eine Kriegspädagogik, also eine Erziehung zum oder für den Krieg entwickelt,127 sondern der Krieg selbst wird zum Erzieher erhoben, genau weil die traditionellen Erziehungsinstanzen als ungeeignet scheinen, um zum Krieg, Tod und zu einem neuen Menschen zu erziehen. Für diesen Zusammenhang können verschiedene Gründe gelten: Zum einen wurde die als defizitär und de- generiert wahrgenommene Gesellschaft in den hier ausgewerteten Schriften bei allen Unterschieden in einer Totalität zurückgewiesen, die kaum einen sozialen Ort ausspart, von dem aus eine Verbesserung hätte erwirkt werden können. Diese Argumentationsweise, die explizit auch die mit Imitation, Viel- und Bes- serwisserei in Verbindung gebrachten Erziehungsinstanzen in den damaligen Formen verwarf, führte schliesslich den auf eine vermeintlich glorreiche Zukunft und Vergangenheit projizierten Krieg als ultima ratio, als eine Rettung in letzter Sekunde ein. Nur er ermögliche die belehrenden Erfahrungen, welche die erstarr- ten und verführten Menschen zur angestrebten neuen Tugendhaftigkeit zu er- ziehen vermögten. Wenngleich die Pädagogisierung des Krieges hier also gerade nicht die Überweisung sozialer Probleme an in der Gesellschaft etablierte Bil- dungsinstitutionen meint, sondern vehement dem Krieg selbst erziehende Wir- kung zuweist, so wird neben dem pädagogisierenden öffentlichen Schreiben über soziale Probleme doch ein weiteres, zentrales Element von Pädagogisierung deutlich: Die Lösung soll über Erziehung und somit als Ersatzhandlung für jeweils zuständige sach- und strukturpolitische Justierungen der gesellschaftlichen Ordnung erreicht werden. Möglicherweise korrespondierte der Krieg gerade wegen seiner Totalität und Unbegreiflichkeit in Teilen mit der Züge von paterna- listischem Holismus enthaltenden und zugleich begrifflich unscharfen Pädago- gisierung.128 Denn der Krieg erfasste alle gesellschaftlichen Schichten und konnte so womöglich als (Gegen-)Medium betrachtet werden, die medial irrege- leitete öffentliche Meinung und Öffentlichkeit sowie eingeschliffene, als dekadent begriffene Alltagspraktiken der Vielen in Gänze zu korrigieren. Indem der Krieg pädagogisiert wurde, wird ein durchaus modernes Paradox sichtbar, in dem sich

127 Von Prondczynsky 2004, S. 56. Von Prondczynsky (2004, S. 45, 51) geht zwar explizit auf diesen Topos und auf die Pädagogisierung des Krieges ein, doch greift er ihn nicht selbst als analytische Kategorie auf, son- dern deutet ihn vielmehr als grundlegende, nicht auf Zirkulation zurückgeführte Denkfigur einer 1914/18 angeblich militarisierten (deutschen) Gesellschaft, in der Differenzen zwischen militärischer und pädagogi- scher Diktion verschwunden seien und sich eine Kriegspädagogik etabliert habe. 128 So in Anlehnung an Schäfer/Thompson 2013, S. 8 – 11.

307 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Angst, Sorge und zugleich erzieherischer Führungsanspruch gegenüber Öffent- lichkeit und öffentlicher Meinung mischen. Zu solcherlei Paradoxien zählt auch, dass mit starker Relevanz und Vehemenz lange vor und auch nach 1914/18 nicht der pädagogisierte Krieg, sondern der Frieden als soziales Problem gewertet wurde – eine vielleicht irritierende und gegen heute gültige westliche Narrative verstossende Sichtweise, die umso mehr der (bildungs-)historischen Erforschung bedarf.

Bibliografie

Quellen Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu- zierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1955/2003. D’Angelo: La pubblica opinione. In: Lacerba, 22 (1914), S. 298 – 300. D’Arezzo, Maria: La guerra, la civiltà e la giustizia. In: Lacerba, 22 (1914), S. 293 – 295. Faesi, Robert: Füsilier Wipf. Eine Geschichte aus dem schweizerischen Grenz- dienst. Frauenfeld: Huber 1917. Foerster, Friedrich Wilhelm: Schule und Charakter. Beiträge zur Pädagogik des Gehorsams und zur Reform der Schuldisziplin. Zürich: Schulthess 1908. Foerster, Friedrich Wilhelm: Die deutsche Jugend und der Weltkrieg (Deutschlands Jugend und der Weltkrieg, Heft 1). Cassel: Furche 1915. Foerster, Friedrich Wilhelm: Offener Brief an Senator Baron de Constant. In: O. A. (Hrsg.): Gedankenaustausch über die Beendigung des Krieges seitens deutscher und französischer Pazifisten. Zürich: Orell Füssli 1916, S. 30 – 36. Forel, Auguste: Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologi- sche, hygienische und soziologische Studie für Gebildete. München: Ernst Reinhardt 1909. Hesse, Hermann: Der Künstler an die Krieger. In: O. A. (Hrsg.): Der Weltkrieg 1914 – 1915. Prachtausgabe für das Schweizer Volk, Bd. 1. St. Gallen: Schwald 1915, S. 129. Kunz, Edwin: Was erwartet die Schule vom Elternhaus? Vortrag, gehalten am Elternabend des V. Schulkreises der Stadt Zürich … am 20. Januar 1918. Zü- rich: E. Liechti 1918. Marinetti, Filippo Tommaso: Fondazione e Manifesto del Futurismo, pubbli- cato dal «Figaro» di Parigi il 20 febbraio 1909 (1909a). In: Filippo Tommaso

308 20. Jahrhundert

Marinetti e il futurismo a cura di Luciano De Maria. Milano: Oscar Monda- dori 2000, S. 3 – 9. Marinetti, Filippo Tommaso: Uccidiamo il Chiaro di Luna! Aprile 1909 (1909b). In: Filippo Tommaso Marinetti e il futurismo a cura di Luciano De Maria. Milano: Oscar Mondadori 2000, S. 9 – 20. Marinetti, Filippo Tommaso: Contro i professori (1910a). In: Filippo Tomma- so Marinetti e il futurismo a cura di Luciano De Maria. Milano: Oscar Mondadori 2000, S. 35 – 38. Marinetti, Filippo Tommaso: L’Uomo moltiplicato e il Regno della Macchina (1910b). In: Filippo Tommaso Marinetti e il futurismo a cura di Luciano De Maria. Milano: Oscar Mondadori 2000, S. 38 – 42. Marinetti, Filippo Tommaso: Contro l’amore e il parlamentarismo (1915a). In: Filippo Tommaso Marinetti e il futurismo a cura di Luciano De Maria. Mila- no: Oscar Mondadori 2000, S. 42 – 46. Marinetti, Filippo Tommaso: 1915 In quest’anno futurista (1915b). In: Filippo Tommaso Marinetti e il futurismo a cura di Luciano De Maria. Milano: Os- car Mondadori 2000 S. 153 – 160. Marinetti, Filippo Tommaso: Per la Guerra sola igiene del mondo e sola mo- rale educatrice. Risposte alle frottole turche (1911). In: Schiavulli, Antonio (Hrsg.): La guerra lirica. Il dibattito dei letterati italiani sull’impresa di Libia (1911/1912). Ravenna: Giorgio Pozzi Editore 2009, S. 165 – 175. Marinetti, F[ilippo] T[ommaso]: La guerra elettrica (visione ipotesi futurista) (1915). In: Ders.: Teoria e invenzione futurista a cura di Luciano de Maria. [Milano]: Arnoldo Mondadori Editore 1968, S. 273 – 278. Münzenberg, Willi: Nehmt Euch der Kinder an! Die Aufgaben und der gegen- wärtige Stand der sozialistischen Kindergruppen in allen Ländern. Zürich: Sekretariat der internationalen Verbindung sozialistischer Jugendorganisati- onen 1917. O.A.: Drill und Erziehung. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung (ASMZ), 59, 49 (1913), S. 387 – 389. O.A.: Soldatische Dienstauffassung und Dienstbetrieb. In: Allgemeine Schwei- zerische Militärzeitung (ASMZ), 60, 31 (1914), S. 241f. O.A.: Betrachtungen zur psychischen Seite der Marschdisziplin. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung (ASMZ), 61, 11 (1915a), S. 84 – 86. O.A.: Physisches und Psychisches. In: Allgemeine Schweizerische Militärzei- tung (ASMZ), 61, 15 (1915b), S. 114 – 116. O.A.: Vom Soldatentod. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung (ASMZ), 61, 17 (1915c), S. 130f.

309 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

O.A.: Vom Soldatentod. Schluss. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung (ASMZ), 61, 18 (1915d), S. 141f. Pagliai, Francesco: Doveri. In: Lacerba, 21 (1914), S. 288. Palazzeschi, Aldo: Evviva questa guerra. In: Lacerba, 22 (1915), S. 162. Papini, Giovanni: La vita non è sacra. In: Lacerba, 20 (1913), S. 223 – 225. Papini, [Giovanni]: Chiudiamo le Scuole. In: Lacerba, 11 (1914a), S. 161 – 164. Papini, Giovanni: Amiamo la Guerra! In: Lacerba, 20 (1914b), S. 274f. Papini, Giovanni: Le cinque guerre. In: Lacerba, 12 (1915a), S. 89f. Papini, Giovanni: Fucilate. In: Lacerba, 17 (1915b), S. 135f. Ragaz, Leonhard: Über den Sinn des Krieges. Vortrag, gehalten vor der Zür- cher Freistudentenschaft. Zürich: Orell Füssli 1915. Ragaz, Leonhard: Die neue Schweiz. Ein Programm für Schweizer und sol- che, die es werden wollen. 2. Auflage. Olten: Trösch 1918. Ragaz, Leonhard: Die pädagogische Revolution. Zehn Vorlesungen zur Er- neuerung der Kultur. Olten: Trösch 1919. Rinderknecht, Hans Jakob: Die Schule von morgen. Zürich: Zwingli 1937. Salvemini, Gaetano: Guerra o neutralità. Milano: Rava & C Editori 1915. On- line unter: http://europeana1914-1918.eu/it/europeana/record/9200214/Bi- bliographicResource_3000073973019 (abgerufen am 31.07.2015). Schneider, Hans: Krieg und Schule. In: Bericht uber die Verhandlungen der Zurcherischen Schulsynode. Zurich: Schulsynode 1916, S. 93 – 120. Schumacher, Edgar: Armee und Schule. Zürich: Schriften des Schweizeri- schen Lehrervereins 1942. Simmel, Georg: Deutschlands innere Wandlung. Der Krieg und die geistigen Entscheidungen: Reden und Aufsätze. München/Leipzig: Duncker & Hum- blot 1917, S. 7 – 29. Soffici, Ardengo: Per la guerra. In: Lacerba, 17 (1914a), S. 253 – 256. Soffici, Ardengo: Per la guerra. In: Lacerba, 18 (1914b), S. 261 – 264. Tavolato, Italo: Vogliamo la guerra! In: Lacerba, 21 (1914), S. 287. Wettstein, Walter: Krieg und Schule. In: Bericht uber die Verhandlungen der Zurcherischen Schulsynode. Zurich: Schulsynode 1916, S. 121 – 140. Wille, Ulrich: Disziplin und Humanität (1881). In: Schumacher, Edgar (Hrsg.): General Ulrich Wille. Gesammelte Schriften. Zürich: Fretz und Wasmuth Verlag 1941, S. 69 – 71. Wille, Ulrich: Paradedrill (1901a). In: Schumacher, Edgar (Hrsg.): General Ul- rich Wille. Gesammelte Schriften. Zürich: Fretz und Wasmuth Verlag 1941, S. 408 – 414.

310 20. Jahrhundert

Wille, Ulrich: Vorbeugende Massregeln (1901b). In: Schumacher, Edgar (Hrsg.): General Ulrich Wille. Gesammelte Schriften. Zürich: Fretz und Wasmuth Verlag 1941, S. 415 – 425. Wille, Ulrich: Vorgesetzten-Autorität. In: Allgemeine Schweizerische Militär- zeitung (ASMZ), 60, 1 (1914), S. 1f. Wille, Ulrich: Kriegslehren (1924). In: Schumacher, Edgar (Hrsg.): General Ulrich Wille. Gesammelte Schriften. Zürich: Fretz und Wasmuth Verlag 1941, S. 586 – 605.

Literatur Asor Rosa, Alberto: Il futurismo nel dibattito intellettuale italiano dalle origini al 1920. In: De Felice, Renzo (Hrsg.): Futurismo, Cultura e Politica. Torino: Edizioni della Fondazione Giovanni Agnelli 1988, S. 49 – 65. Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914. 5. Auflage. München: Hanser 2014. Calì, Vincenzo/Corni, Gustavo/Ferrandi, Giuseppe (Hrsg.): Gli intellettuali e la grande guerra. Bologna: Società editrice il Mulino 2000. Clavien, Alain: Schweizer Intellektuelle und der Grosse Krieg. Ein wortgewal- tiges Engagement. In: Rossfeld, Roman/Buomberger, Thomas/Kury, Patrick (Hrsg.): 14/18: Die Schweiz und der Grosse Krieg. Baden: Hier und Jetzt 2014, S. 102 – 123. Crispolti, Enrico: Storia e Critica del Futurismo. Roma: Editori Laterza 1986. Curi, Fausto: Gli specchi del nichilismo. Le avanguardie e la Prima guerra mondiale. In: Calì, Vincenzo/Corni, Gustavo/Ferrandi, Giuseppe (Hrsg.): Gli intellettuali e la grande guerra. Bologna: Società editrice il Mulino 2000, S. 59 – 77. David, Emilia: Avanguardie, nazionalismi e interventismo nei primi decenni del XX secolo. 2. Auflage. Roma: Aracne 2011. De Felice, Renzo: Futurismo, Cultura e Politica. Torino: Edizioni della Fondazione Giovanni Agnelli 1988. De Maria, Luciano: Introduzione. In: Marinetti, F[ilippo] T[ommaso]: Teoria e invenzione futurista a cura di Luciano De Maria. [Milano]: Arnaldo Monda- dori Editore 1968, S. XIX – LXXVII. D’Orsi, Angelo: Il futurismo tra cultura e politica. Reazione o rivoluzione? Roma: Salerno Editrice 2009. Dunkel, Franziska/Schneider, Corinna (Hrsg.): Frauen und Frieden? Zu- schreibungen – Kämpfe – Verhinderungen. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2015.

311 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Elsig, Alexandre: Zwischen Zwietracht und Zusammenhalt. Propaganda als Bewährungsprobe für die nationale Kohäsion. In: Rossfeld, Roman/Buom- berger, Thomas/Kury, Patrick (Hrsg.): 14/18: Die Schweiz und der Grosse Krieg. Baden: Hier und Jetzt 2014, S. 70 – 99. Flasch, Kurt: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin: Fest 2000. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975/1976). 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014. Gatzemann, Thomas/Göing, Anja-Silvia (Hrsg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik, Krieg und Nationalsozialismus. Kritische Fragen nach der Ver- bindung von Pädagogik, Politik und Militär. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2004. Grube, Norbert/De Vincenti, Andrea: Pädagogisches Wissen in seinen fach- lichen und alltagspraktischen Ausprägungen. Die Seminare Küsnacht und Unterstrass zwischen 1830 und 1930. In: Hoffmann-Ocon, Andreas/Horla- cher, Rebekka (Hrsg.): Pädagogik und pädagogisches Wissen. Pedagogy and Education Knowledge, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016, S. 93 – 115. Isnenghi, Mario: Il mito della grande guerra. 7. Auflage. Bologna: Il Mulino [1989] 2014. Jaun, Rudolf: Erziehung, Männlichkeit und Krieg. Überkreuzungen im Den- ken Ulrich Willes. In: Fuhrer, Hans Rudolf/Strässle, Paul Meinrad (Hrsg.): General Ullrich Wille. Vorbild den einen – Feindbild den anderen. Zürich: Verlag NZZ 2003, S. 221 – 243. Jaun, Rudolf: General Wille unter Shitstorm. Niklaus Meienbergs «Wille und Wahn» in der Medien- und Fachöffentlichkeit der 1980er-Jahre. In: Ziegler, Béatrice/Kuhn, Konrad (Hrsg.): Der vergessene Krieg: Spuren und Traditio- nen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg. Baden: Hier und Jetzt, 2014a, S. 271 – 290. Jaun, Rudolf: «Meuterei am Gotthard». Die Schweizer Armee zwischen preu- ssisch-deutschem Erziehungsdrill und sozialistischer Skandalisierung. In: Rossfeld, Roman/Buomberger, Thomas/Kury, Patrick (Hrsg.): 14/18: Die Schweiz und der Grosse Krieg. Baden: Hier und Jetzt 2014b, S. 20 – 47. Labaree, David: The Winning Ways of a Losing Strategy: Educationalizing So- cial Problems in the United States. In: Educational Theory, 58, 4 (2008), S. 447 – 660. Lipphardt, Veronika/Patel, Klaus Kiran: Neuverzauberung im Gestus der Wissenschaftlichkeit. Wissenspraktiken im 20. Jahrhundert am Beispiel

312 20. Jahrhundert

menschlicher Diversität. In: Geschichte und Gesellschaft, 34 (2008), S. 425 – 454. Martus, Steffen: Ernst Jünger. Stuttgart: Metzler 2001. Martynkewicz, Wolfgang: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900 – 1945. Berlin: Aufbau Verlag 2009. Mommsen, Wolfgang J. (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuel- len, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg 1996. Mommsen, Wolfgang J.: Intellettuali, scrittori, artisti e la Prima guerra mondi- ale, 1890 – 1915. In: Calì, Vincenzo/Corni, Gustavo/Ferrandi, Giuseppe (Hrsg.): Gli intellettuali e la grande guerra. Bologna: Società editrice il Muli- no 2000, S. 41 – 58. Moos, Carlo: Wie schafft man Frieden? Leonhard Ragaz im Kontext des Ersten Weltkriegs. In: Hebeisen, Erika/Niederhäuser, Peter/Schmid, Regula (Hrsg.): Kriegs- und Krisenzeit: Zürich während des Ersten Weltkriegs. Zü- rich: Chronos 2014, S. 213 – 221. Morat, Daniel: Intellektuelle und Intellektuellengeschichte, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 20.11.2011. Online unter: http://docupedia.de/zg/ Intellektuelle_und_Intellektuellengeschichte?oldid=106435 (abgerufen am 31.07.2015). Mosse, George L.: Futurismo e culture politiche in Europa: una prospettiva globale. In: De Felice, Renzo (Hrsg.): Futurismo, Cultura e Politica. Torino: Edizioni della Fondazione Giovanni Agnelli 1988, S. 13 – 31. Münkler, Herfried 2014: Der Grosse Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Berlin: Rowohlt 2014. Prondczynsky, Andreas von: Kriegspädagogik 1914 – 1918. Ein nahezu blinder Fleck der historischen Bildungsforschung. In: Gatzemann, Thomas/Göing, Anja-Silvia (Hrsg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik, Krieg und National- sozialismus. Kritische Fragen nach der Verbindung von Pädagogik, Politik und Militär. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2004, S. 37 – 67. Pross, Caroline: Dekadenz. Studien zu einer grossen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen: Wallstein 2013. Raulff, Ulrich: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. 3. Auflage. München: C.H. Beck 2010. Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 36, 1 (2011), S. 159 – 172.

313 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane: Pädagogisierung – eine Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Pädagogisierung. Halle: Martin-Luther-Universität 2013, S. 7 – 25. Schiavo, Alberto (Hrsg.): Futurismo e Fascismo. Roma: Giovanni Volpe Edi- tore 1981. Schiavulli, Antonio: Tripoli, terra incantata. In: Ders. (Hrsg.): La guerra liri- ca. Il dibattito dei letterati italiani sull’impresa di Libia (1911 – 1912). Raven- na: Giorgio Pozzi Editore 2009, S. 7 – 31. Schumann, Dirk/Sealander, Judith: Disziplin. Schule und Militär. In: Mauch, Christof/Patel, Kiran Klaus (Hrsg.): Wettlauf um die Moderne. Die USA und Deutschland 1890 bis heute. Bonn: BpB 2008, S. 225 – 257. Smeyers, Paul/Depaepe, Marc: Educational Research: The Educationalization of Social Problems (Educational Research 3). [Dordrecht]: Springer 2008.

Prof. Dr. Norbert Grube, Pädagogische Hochschule Zürich, Zentrum für Schulgeschichte, [email protected]

Dr. Andrea De Vincenti, Pädagogische Hochschule Zürich, Zentrum für Schulgeschichte, [email protected]

314

13 Der Grosse Krieg 13als Zäsur?

20. Jahrhundert

Michael Olsansky

13. Der Grosse Krieg als Zäsur? Die Erwartungen schweizerischer Offiziere an das Schulwesen nach dem Ersten Weltkrieg

«Sobald aber die Schule die Entwicklung der Menschen als ihre oberste Aufgabe ansieht und erkennt, dass durch ihre darauf gerichtete Tätigkeit nicht bloss die Erreichung ihrer Lehraufgabe nicht gefährdet, sondern im Gegenteil erleichtert und gefördert wird, so ist auch die Erkenntnis da, dass die militärische Vorbil- dung im wesentlichen ihre alleinige Aufgabe ist.»1 Im modernen Schweizer Bundesstaat waren Ideen der militärischen Vorbil- dung oder gar der vormilitärischen Schulbildung der Jugend seit jeher umstritten. So scheiterte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz prominenter Für- sprache national-republikanischer Kreise das Vorhaben, unter der Leitidee der Nation armée die Schuljugend neben der zivilen auch einer militärischen Bildung zu unterziehen. Zwar wurde mit der Militärorganisation von 1874 nach Einfüh- rung der allgemeinen Wehrpflicht durch die Bundesverfassungsrevision des gleichen Jahres das Knabenschulturnen in der Schweiz für obligatorisch erklärt.2 Jedoch zerschlugen sich danach substanziell weitergehende Vorstellungen zur verbindlichen militärischen Vorbildung durch die Volksschule. Zudem blieben sowohl der nach der obligatorischen Schulzeit auf die Rekrutenschule vorberei- tende militärische Vorunterricht3 als auch das nicht zuletzt an den Gymnasien auf eine respektable Tradition zurückblickende Kadettenwesen4 dem Freiwillig- keitsprinzip unterworfen und trugen dadurch nicht zu einer breiteren militäri- schen Vorbildung der schweizerischen Jugend bei.

1 Wille 1912, S. 9. 2 Vgl. Senn 2008. 3 Vgl. Furrer 2008. 4 Vgl. Jeker 1942.

319 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Der eingangs zitierte Ulrich Wille, im Ersten Weltkrieg General der Schweizer Armee, gehörte nun hierzulande definitiv nicht zu den Verfechtern eines national- republikanisch geprägten Militärsystems. Im Gegensatz zum radikal-freisinnig geprägten Offizierskreis der «Nationalen Richtung» vertraten Wille und seine Mitstreiter der sogenannten «Neuen Richtung» im schweizerischen Militärdis- kurs des fin de siècle nicht das Ideal einer demokratisierten Staatsbürgerarmee, sondern dasjenige einer von den zivilen Institutionen möglichst autonomen, von Militärexperten geformten und auf soldatischer Disziplin und militärischem Imperativ beruhenden Militäranstalt, deren Messlatte nichts anderes als die so- genannte «Kriegstauglichkeit» sein musste.5 Soldatische Disziplin war demnach dem jungen Erwachsenen in der Rekrutenschule anzuerziehen, Jugendliche oder gar Kinder hielt Wille demgegenüber für diese Art der Militärsozialisation als wenig geeignet. Jedoch sprach er sich deutlich für eine bestimmte, der Jugend «angemessene» Art der militärischen Vorbildung aus.6 Vor diesem Hintergrund wird hier nach den Erwartungen schweizerischer Offiziere an das staatliche Schulsystem nach dem Ersten Weltkrieg gefragt. Welchen Beitrag sollten die Schweizer Schulen in Anbetracht von Stellungskrieg und Materialschlachten nunmehr zur Stärkung der schweizerischen Landesver- teidigung leisten? Wie sollten die Schulen nach Meinung schweizerischer Offi- ziere die Rekruten von morgen auf den Militärdienst vorbereiten? Zur Beantwor- tung dieser Fragen werden primär Beiträge schweizerischer Offiziere aus den hiesigen Militärzeitschriften untersucht, und es wird versucht, zu folgenden drei Hauptdiskussionsthemen Diskussionsstränge und Argumentationslinien freizu- legen: a) zur Frage der physischen Vorbereitung der jungen Männer auf den Militärdienst, b) zur Frage der vormilitärischen soldatischen Erziehung und c) zur Frage der vaterländischen bzw. nationalen Erziehung der jungen Erwachse- nen. Das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung richtet sich also auf die schuli- sche Militärvorbereitung, nur einzelfallweise soll sie auch Betrachtungen zu den sehr eigentümlichen schweizerischen Institutionen des militärischen Vorunter- richts und des Kadettenwesens miteinbeziehen. Beide Institutionen hatten die Aufgabe, den Schulunterricht auf ihre Weise militärisch zu ergänzen, der militä- rische Vorunterricht dadurch, dass er die «leeren Jahre» zwischen Schule und Militärdienstzeit überbrücken und «den jungen Schweizer» physisch und cha- rakterlich weiter auf die Soldatenzeit vorbereiten sollte. Die Kadettenkorps wie- derum sollten insbesondere die Absolventen von Mittelschulen mit Aspekten des

5 Vgl. dazu grundsätzlich Jaun 1999. 6 Vgl. Wille 1912, S. 11.

320 20. Jahrhundert

militärischen Handwerks vertraut machen. Beide Institutionen waren damit an die Schule gekoppelt, und in die skizzierten Diskussionen wurden sie oftmals miteinbezogen.

1. Zur physischen Erziehung der Rekruten von morgen Dass die Schweizer Armee respektive die sich zu dieser Thematik äussernden Of- fiziere vom Turnunterricht der Schulen primär eine Förderung der körperlichen Leistungsfähigkeit der jungen Männer bzw. der angehenden Rekruten erwarte- ten, geht geradezu auf die Ursprungsidee des Turnunterrichts zurück und ver- steht sich von selbst. Angesichts der kurzen militärischen Grundausbildung sei die männliche Schweizer Jugend bereits vor dem Einrücken in die Rekrutenschu- le körperlich zu erziehen. «Gesunde, starke, geschmeidige Glieder, leistungsfä- hige innere Organe (elastische Lunge, kräftiges Herz), Uebung im Gehen und Sehen, Gewandheit im Springen und Klettern und Schwimmen, im Heben und Tragen und Werfen, im Zielen und Treffen.»7 So wurden exemplarisch vor dem Ersten Weltkrieg die physischen Voraussetzungen des jungen Schweizer Staats- bürger für die erfolgreiche Absolvierung der Rekrutenschule beschrieben. Allein, die Volksschullehrer galten vielen Offizieren weder als verlässliche Unterstützer der Armee noch in turnsportlicher Hinsicht als genug geschult, um den Jugend- lichen einen den Ansprüchen des Militärs genügenden Turnunterricht bieten zu können. So zogen denn am Ende des Ersten Weltkrieges etliche Offiziere eine sehr ernüchternde Bilanz zur physischen Leistungsfähigkeit der Schweizer Trup- pen: «Unser Grenzbesetzungsdienst hat zur Genüge bewiesen, dass die allgemei- ne körperliche Leistungsfähigkeit unserer Truppe noch sehr gefördert werden muss.»8 Die Hälfte der Ausbildungszeit gehe demnach alleine dafür drauf, um «aus unseren grösstenteils sehr unbeholfenen Rekruten nur einigermassen be- wegliche Soldaten zu machen».9 Für diesen Missstand wurde nicht zuletzt der angeblich zu altmodische, weil zu militärische Turnunterricht an den Schulen verantwortlich gemacht, der viel zu stark auf stumpfe Marschier- und sinnlose Sammlungsübungen ausgerichtet und somit nichts weiter als ein Nachahmen militärischer Formalausbildung sei. «‹Mit Gruppen rechts schwenkt, marsch!› ‹Geradeaus, marsch!› – ‹Mit Gruppen links schwenkt, marsch!› Halt! Etc. etc. Man mimt Zugschule und die zappeligen Bürschchen laufen einander nach in dichter Marschkolonne oder in Linie, wirbeln

7 Hungerbühler 1909, S. 587. 8 Bossart 1918, S. 8. 9 Ebd.

321 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

sich gegenseitig den Staub in Mund und Kehle [ … ] Das Ende vom Lied? Lehrer und Schüler sind froh, wenn die Turnstunde vorbei ist.»10 Hierbei übertrug sich eine bereits vor dem Ersten Weltkrieg dominierende Argumentationslinie zum militärischen Vorunterricht und zum Kadettenwesen auf die Diskussion des Schulturnens. Die meisten der sich zum Thema äussern- den Offiziere forderten ultimativ die Abkehr von jeglichen «militärischen Allüren»11 und kritisierten die bis anhin erfolgte «Militarisierung»12 der physi- schen Militärvorbereitung sowie «falsch verstandenen Militärgeist»13. Die rein «mechanische Uebertragung äusserlicher militärischer Formen auf unsere Ju- gend» wie sie beispielsweise im schulbegleitenden Kadettenwesen gelebt werde (umgangssprachlich «kadettele»), sei oberflächlich und bringe, militärisch gese- hen, gar nichts.14 Jugendliche würden zu sehr wie Erwachsene behandelt, für Erwachsene gedachte Institutionen wie die Rekrutenschule sollten auch für solche reserviert bleiben.15 Schulturnen, militärischer Vorunterricht und Kadet- tenwesen wurden gleichermassen angehalten, sich ausschliesslich als physische Vorbildung zum Militärdienst zu verstehen, sich dabei auf die körperliche Er- tüchtigung (Turnen) und eventuell das Schiessen zu konzentrieren und ohne «Kasernenexerzitien» und «felddienstliche Übungen» auszukommen.16 Vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges stellten dann Beobachter erstmalig fest, dass sich im Vorunterricht eine «wohltuende Wandlung» bemerkbar gemacht und sich dieser von der üblichen «reduzierten Rekrutenschule» distanziert habe.17 So habe man «die Eindrillung militärischer Formen [ … ] über Bord geworfen und sich darauf konzentriert, den Jünglingen eine gute körperliche Ausbildung zu verschaffen und die Schiessausbildung, als vorzügliches Mittel zur Willensbil- dung, zu fördern, wobei bei der Erlernung dieser mehr äussern Fertigkeiten ein Hauptaugenmerk auf die Charakterbildung der jungen Leute gelegt werden soll».18 Der hier beschriebene Richtungswechsel von einem in vielen Kantonen stark militärisch geprägten Vorunterricht zu einer rein turnerisch-sportlichen Vorbereitung auf den Wehrdienst vollzog sich unterschiedlich schnell. So bekräf- tigten 1941 – nachdem das Schweizer Stimmvolk den obligatorischen militäri- schen Vorunterricht an der Urne mittels Referendum klar verworfen hatte – die

10 Aus ebd., S. 7. 11 S.N. 1901, S. 292. 12 O.B. 1903, S. 423. 13 Bossart 1918, S. 8. 14 Oehler 1918, S. 449. 15 Kürsteiner 1919, S. 129; Revue Militaire Suisse 1920, S. 18. 16 Schweizerischer Unteroffiziersverein und Jugendausbildung 1919. 17 S. u. B. 1922, S. 275. 18 Ebd.

322 20. Jahrhundert

Unterstützer einer neuen Vorunterrichts-Verordnung, dass die neue Vorlage «unter keinen Umständen mehr einen militärischen Teil (mit Ausnahme des Schiessens) enthalten» dürfe, denn «das Alter von 16 – 20 Jahren gehört ganz der körperlichen Ausbildung».19 Entsprechend müsse im Vorunterricht im ernsthaf- ten Leistungstraining geformt werden, was in der Volksschule primär spielerisch aufzubauen sei. Die klare Ablehnung eines militärisch gearteten Turn- und Vorunterrichts durch die sich dazu äussernden Offiziere mag vordergründig überraschen, liegt jedoch ganz auf der Linie der bereits angesprochenen, vor und nach dem Ersten Weltkrieg den öffentlichen Militärdiskurs in der Schweiz dominierenden und auf Ulrich Wille zurückgehenden Denkschule der «Neuen Richtung». Militärische Ausbildung, insbesondere die Soldatenerziehung, habe im Militär selbst und nicht in zivilen Institutionen zu erfolgen. Und doch äusserte sich 1912 derselbe Ulrich Wille pointiert zum Thema und tadelte Schulbehörden und Lehrerschaft des Landes, weil diese der Ansicht seien, dass «die Förderung der militärischen Tüchtigkeit der Jugend [ … ] nicht ihre Sache [sei]».20 Seiner Meinung nach ging es bei der militärischen Jugendausbildung aber explizit nicht um das «Erlernen von Fertigkeiten des Soldaten, sondern [um] die Erschaffung der Grundlage zur Erziehung jenes Manneswesens im Militärdienst, das im bürgerlichen Leben gerade so wertvoll ist wie im Kriege».21 Diese letztlich eher geistige und weniger physische Militärvorbereitung, die Übertragung des militärischen Erziehungsge- dankens auf das zivile Schulwesen also, soll primär im nächsten Abschnitt dis- kutiert werden. Hier sei aber darauf hingewiesen, dass für Ulrich Wille der Schulturnunterricht mit militärischer Erziehung in konkretem Zusammenhang stand. Der finale Zweck des in jener Zeit auch hierzulande als Vorbild dienenden Schulsportunterrichts englischer Prägung liege nicht allein in der Körperausbil- dung selbst: «Es ist ein Irrtum zu glauben, dass allein die Körperkultur der eng- lischen Schulen, die auf dem Kontinent jetzt so gewissenhaft nachgeahmt wird, das kraftvolle Wesen und das Gleichgewicht im Charakter, durch das sich die Engländer auszeichnen, geschaffen habe. Die Sportspiele und all das andere, das den Körper entwickelt und Entschlossenheit fördert, sind nur eines der Mittel zur Charaktererziehung.»22 Mit dieser Interpretation des Turnunterrichts stand Wille in der Zeit nicht alleine. Der spiritus rector des militärischen Erziehungsgedankens in der Schweiz

19 Hirt 1941, S. 531. 20 Siehe Eingangszitat. 21 Wille 1912, S. 9. 22 Ebd., S. 10.

323 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

äusserte sich jedoch am deutlichsten dahingehend, dass die körperliche Ausbil- dung der Jugend vor allem psychische Erziehungsarbeit sein müsse. Gleicher- massen sah er soldatische Ausbildung nicht primär als Aneignung von militäri- schen Fähigkeiten und Techniken, sondern als Charakterprägung. Zeigt sich also für die gesamte Betrachtungsperiode eine ziemlich einheitliche Sprechweise zu Art und Ziel der vormilitärischen Körperausbildung an den Schulen, so sind sowohl vor als auch nach dem Ersten Weltkrieg unterschiedliche Argumentationslinien zur weitergehenden Wirkung des Turnunterrichts fest- stellbar. Noch vor 1914 deuteten die sich bekämpfenden Hauptexponenten der beiden Offiziersrichtungen, Ulrich Wille und Hugo Hungerbühler, die vordienst- liche Körperausbildung gleichermassen als Mittel zur Charakterausbildung des jungen Mannes. Turnen und Körperausbildung dienten demnach nicht nur der Entwicklung des Körpers selbst, sondern mindestens so sehr der Entwicklung der Entschlossenheit, der Energie und der Ausdauer des Dienstpflichtigen.23 Zwanzig Jahre später, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, erachteten promi- nente Militärangehörige wie etwa der Instruktionsoffizier Fritz Rieter den Turnunterricht dagegen primär als Mittel der Gesunderhaltung des nationalen Kollektivs und nicht mehr bloss des Männerpotenzials. «Im Sinne einer nationa- len Erziehung liegt sodann ein Ausbau des Turnunterrichts [ … ]. Die Landesver- teidigung fordert einen gesunden Nachwuchs an Buben und Mädchen (!).»24 Nichts unterstreicht die nationale Komponente der Forderung Rieters so stark wie die Inklusion der bisher stets ausgeschlossenen Mädchen. Die gesamte Ju- gend habe äusserlich und innerlich stark und gesund zu sein bzw. «fort, robuste, utile, plein de santé».25 Rieter erwartete vom Schulwesen der Zeit nicht allein eine Steigerung der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit des Individuums und der Männergesellschaft, sondern der Gesundheit des ganzen Volkes. Die hier bediente Debatte über Volksgesundheit wurde gemäss Markus Giuliani nach dem Ersten Weltkrieg denn auch zum Medium, mit dem das bürgerliche Verständnis von Körperlichkeit mit wachsender Prägungskraft als Norm für die gesamte Bevölkerung Verbreitung fand. «Homosexualität, Irrsinn, Trunksucht und Faul- heit wurden in diesem Kontext zu Merkmalen der ‹degenerierten› Unterschicht, die es mit Gesetzen, gesundheitspolitischen Massnahmen, Erziehungsinstituten und Hygienevorschriften zu bekämpfen galt.»26

23 Hungerbühler 1909, S. 587; vgl. auch Wille 1912, S. 489. 24 Rieter 1939, S. 551. 25 Ebd. 26 Giuliani 2001, S. 282.

324 20. Jahrhundert

2. Zur soldatischen Erziehung an den Schulen Wie aufgezeigt, war die Idee der wie auch immer gearteten vormilitärischen Er- ziehung an den Schulen stets ein zentrales Element der Debatte über die wehr- vorbereitende Jugendausbildung. Der den deutschschweizerischen Militärdiskurs vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges dominierende Ulrich Wille verstand dabei unter militärischer Jugendausbildung nicht das Erlernen militärischer Fertigkei- ten, sondern allein «die Erschaffung der Grundlage zur Erziehung von Mannes- wesen im Militärdienst».27 Diese Präzisierung ist enorm wichtig, war für Wille doch völlig klar, dass die Schule keine Stunde richtigen Militärdienstes ersetzen könne. Soldaten wären nur im Militärdienst zu erschaffen, wo die Militärperso- nen im militärischen Verhältnisse zueinander stehen und alles Tun und Lassen nach dem Imperativ militärischer Pflichtauffassung erfolge. Die Schule könne hingegen wie das Kadettenwesen oder der Vorunterricht der militärischen Erzie- hung vorgängig die Arbeit erleichtern. Ihre Aufgabe sei dabei im Wesentlichen die Entwicklung von Manneswesen; «Manneswesen und militärisches Wesen sind das gleiche».28 Wie diese beiden Begriffe in der Zeit von Adepten Ulrich Wil- les verstanden wurde, führte der Instruktionsoffizier Hanspeter Brunner 25 Jah- re nach Willes Artikel in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung, der 1912 erschienen war, in einem demselben Thema gewidmeten Beitrag in der Fest- schrift für Ulrich Wille folgendermassen aus: «Das Wesen des Soldatischen liegt aber nicht nur in der Selbstbeherrschung und der Unterordnung; die Willensak- te, die vom Soldaten verlangt werden, sind zweiseitig: ein Höchstmass an Unter- ordnung und Hingabefähigkeit muss verbunden sein mit einem Höchstmass an verantwortungsfreudiger Selbständigkeit und Entschlusskraft. [ … ] Das verlangt einen Verzicht auf eigenen Willen, es verlangt aber ebenso eine Betätigung selb- ständigen Denkens und verantwortungsfreudiger Tatbereitschaft. Diese innere Wehrbereitschaft: Widerstandskraft gegen die geistigen und seelischen Belastun- gen, Gehorsam und Unterordnung, Entschlussfähigkeit und Verantwortungs- freudigkeit, kann nicht in wenigen Monaten anerzogen werden.»29 Brunner beschreibt hier innere Wehrbereitschaft bzw. militärisches Wesen als Resultat einer systematischen und langen Erziehungsarbeit, die es verstanden habe, die diesbezüglichen natürlichen Veranlagungen der jungen Männer zu entwickeln. «Echte Wehrbereitschaft kann nur dann erreicht werden, wenn schon die gesamte Jugend in soldatischem Geiste erzogen wird.»30 Wille wie Brunner

27 Wille 1912, S. 9. 28 Ebd., S. 10. 29 Brunner 1937, S. 206. 30 Ebd., S. 207.

325 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

unterschieden also zwischen «soldatischer Erziehung» und «Soldatenerziehung». Letztere ist alleinige Sache des Militärs und meint die Erziehung zum Soldaten im Militärdienst. Davor jedoch habe bereits die Schule die Heranwachsenden soldatisch zu erziehen, damit diese Selbstbeherrschung erlernten sowie Unter- ordnungsfähigkeit und selbstständige Entschlusskraft verinnerlichten. Doch wie und was sollten die Schulen konkret zur soldatischen Erziehung der Jugend beitragen? Für Wille ging es primär um die im Eingangszitat erwähnte Fokussie- rung auf die «Entwicklung des Menschen» selbst.31 Wie an den englischen Schulen sei die Erziehung der Knaben zu Männern über das eigentliche Lehren zu stellen.32 Es sei für die Entwicklung männlichen Wesens geradezu kontrapro- duktiv, den Heranwachsenden auf jeder Schulstufe einfach möglichst viel neues Wissen auf die Schultern zu packen. Die immer grösser werdende Menge an unfertigem Wissen oder Können verursache bei den jungen Männern vor allem Unsicherheit und wirke auf diese entsprechend verderblich. Die Schaffung der- artig halbfertigen Wissens sei geradezu das Stigma der modernen Jugendausbil- dung überhaupt.33 Möglichst viel dessen, was der Schüler lernen müsse, sei von ihm selbst zu erarbeiten. Entsprechend seien Grundlagenwissen und Erweite- rungswissen (von Wille auch Aufbau genannt) auseinanderzuhalten. «Beim Unterricht der Grundlagen muss positives sicheres Wissen der Schüler erstrebt und erreicht, bei dem [Aufbau] muss nur Einblick in das Gebiet gewährt und der Weg gezeigt werden, wie mit Hilfe der zu eigen erworbenen Grundlagen die weiteren Kenntnisse erworben werden können.»34 Die Abkehr von der passiven Rolle des Schülers und die Übertragung eines Teils der Lehrverantwortung an den Schüler selbst sollte Teil jener vorbereitenden Charakterentwicklung sein, an deren Ende, nach erfolgter Soldatenerziehung, voll entwickeltes Manneswesen stehe. Als wesentliches Produkt der charakterlichen Früherziehung galt ausserdem die Erschaffung der sogenannten Bereitwilligkeit der jungen Männer der militä- rischen Ausbildung und Erziehung gegenüber. «Mit der durch die Schule [und den militärischen Vorunterricht] geschaffenen Männlichkeit ist dann auch die Bereitwilligkeit erschaffen, sich im Militärdienst alledem zu unterziehen, was zur Soldatenerziehung notwendig ist.»35 Diese freiwillige, auf Einsicht und nicht primär auf Zwang basierende Bereitwilligkeit brauche es, um angesichts kurzer

31 Wille 1912, S. 9. 32 Ebd., S. 10. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 11.

326 20. Jahrhundert

Ausbildungszeiten und anderer Schwierigkeiten der Milizarmee den Staatsbürger zum kriegszuverlässigen Soldaten zu erziehen.36 Konkurrenzfähige Gegenkon- zepte gab es dazu zur Untersuchungszeit kaum mehr. Nur Hugo Hungerbühler hielt in seinem Artikel von 1909 noch einmal die Fahne der langsam verstum- menden «Nationalen Richtung» hoch und forderte vom jungen, in den Militär- dienst eintretenden Schweizer primär Staatsbürgertugenden wie freiwillige Disziplin, Bürgertreue und vaterländische Gesinnung, garniert mit «Entschlos- senheit, Energie und Ausdauer» und «jugendlicher Begeisterung».37 Die «Neue Richtung» lehnte solche Prädispositionen gar nicht ab, Wille selbst unterstützte Begeisterung und Freude als Antriebfaktoren in eigenen Ausführungen zum Kadettenwesen.38 Jedoch blieben sie für ihn klar zweitrangig gegenüber den soldatischen Primärmerkmalen wie der Selbstbeherrschung, der Unterordnungs- fähigkeit sowie der disziplinierten Selbstständigkeit. Fundamentalkritik an den Schulen übte schliesslich eine kleine Gruppe von Offizieren zu Beginn der 1930er- Jahre. Ihre Kritik entzündete sich an angeblich antimilitaristisch agitierenden Lehrern, ein aus Offizierskreisen der damaligen Zeit zuverlässig wiederkehrender und populärer Vorwurf. Doch war diese Kritik bloss einleitend gedacht. Es sei die Bildung selbst, die «im Prinzip weltfremd» ist und «damit den Keim des Antimi- litarismus in sich trägt».39 Dergestalt seien die Schulen als Träger dieser Bildung auch grundsätzlich nicht fähig, Heranwachsende zu militärischem Wesen zu erziehen, und stünden diesem Ansinnen geradezu im Wege. Deutlich antimo- dernistische und antiindividualistische Argumentationsweisen unterstellen der Schule gesellschaftlich nivellierende Wirkung und schädlichen Egalitarismus: «Die Schule ist in ihrer Entwicklung nur der grossen Menschheitsevolution ge- folgt, welche die Befreiung und Gleichberechtigung des Individuums zum Ziele, [ … ] im allgemeinen von der Subordination zur Koordination. Dieser neue, auch durch die Schule geförderte Geist, der alle Macht-, Rechts-, Standes-, Alters-, kurz alle Unterschiede unter den Menschen zu beseitigen sucht, ist wohl das grösste Hindernis, dem die Soldatenerziehung heute begegnet.»40 Entsprechend sei eine Überschätzung der Bildung eine Gefahr für den einzel- nen Menschen wie auch für den Staat selbst und der Militärdienst wie auch der militärische Vorunterricht die beste Erziehungsarbeit an der Jugend. Dergleichen Töne konzentrieren sich jedoch in den frühen 1930er-Jahren, sind für die Zeit

36 Brunner 1937, S. 215. 37 Hungerbühler 1909, S. 587. 38 Vgl. Wille 1912, S. 11. 39 Frick 1931, S. 118. 40 Walter 1932, S. 277.

327 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

vor 1914 überhaupt nicht auszumachen und stehen vor allem beispielmässig für teilweise radikalisierte politische Sichtweisen dieser Zwischenkriegszeitphase.

3. Von der staatsbürgerlichen zur vaterländischen Erziehung Sei es das militärvorbereitende Schulturnen, sei es die frühe soldatische Erzie- hung zur Mannhaftigkeit – die Reflexionen und Erwartungen hierzu galten vor dem Ersten Weltkrieg allein den Knaben bzw. dem jungen Männerpotenzial des Landes. Diese Diskussion wurde nach Beginn des Ersten Weltkrieges nach und nach um zwei bedeutende Aspekte erweitert. Zum einen kam die Forderung nach einer staatsbürgerlichen, dann vaterländischen und später nationalen Erziehung hinzu. So appellierte 1915 ein Offizier dazu, im jugendlichen Bürger und Solda- ten ein besonderes Ehrgefühl zu wecken, um dem «Vaterland ein guter Sohn zu sein und sich wohlzubetragen».41 Zum anderen wünschten gerade die Fürspre- cher einer vaterländischen Erziehung deren Ausweitung auf die Mädchen und jungen Frauen, also auf die gesamte Jugend des Landes. Gerade weil in der Schweiz nur die männliche Hälfte der jungen Staatsbürger in den Genuss mili- tärischer Erziehung komme, sei es geradezu unverzichtbar, dass alle Jugendli- chen in der Schule zu Freiheit, Selbstbestimmung und «vaterländischer Gesinnung»42 erzogen würden. Tatsächlich beschleunigte der Erste Weltkrieg diese Entwicklung, und spätestens in den 1930er-Jahren fand im Zeichen der geistigen Landesverteidigung die Forderung nach einer vaterländischen Erzie- hung an den Schulen breiteste Unterstützung. Sie beschränkte sich dabei nicht auf die Volksschule, auch die höhere Bildung sollte in der Schweiz im Zeichen eines nationalen Gemeinschaftsgefühls stehen: «Mit der ‹Erziehung› an der Hochschule meinen wir die Anerziehung der Freude für die Leistung praktischer, beruflicher Arbeit und die Weckung hohen Pflichtgefühls in der Ausübung des Berufes, in der Achtung und Begeisterung vor seiner und für seine Berufsstel- lung und für die daherige Betätigung in Staat und Gesellschaft.»43 Wie stellten sich nun aber die Fürsprecher die vaterländische Erziehung im Rahmen des Volksschulunterrichts eigentlich vor? Im Jahre 1920 wies der Offizier Paul Dubois auf inhaltliche wie methodische Problemlagen des Schulunterrichts hin.44 Dabei ging es ihm primär um den Geschichtsunterricht sowie um die geistige Ausrichtung des restlichen Unterrichts im Allgemeinen. Zum Ersten müsse der Geschichtsunterricht, vor allem auf der Sekundarstufe, mit Nachdruck

41 Becker 1915, S. 433. 42 Kürsteiner 1919, S. 128. 43 Becker 1915, S. 433. 44 Vgl. Dubois 1920, S. 17.

328 20. Jahrhundert

betrieben werden. Dabei gehe es nicht lediglich um die Vermittlung von Ereig- nisgeschichte, sondern um das Hervorheben der Geschichte des Schweizer Volkes und seiner staatlichen Entwicklungsgeschichte mit all ihren Facetten. In den Folgejahren ging die Forderung nach einem vaterländisch ausgerichteten Geschichtsunterricht häufig einher mit massiver Kritik an antimilitaristisch eingestellten Lehrern, die insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg eine von der Armee gewünschte und vom Bund vorangetriebene Militarisierung des Schulun- terrichts verhindert hätten. Gerade auf den Geschichtsunterricht dieser angeblich antimilitaristischen Lehrer prasselte die Kritik: «Es gibt keine Schweizer Schule, wo den Schülern die Liebe zum Krieg eingepflanzt wird. Der Krieg kommt in der Schule gar nicht zur Sprache. Sollten die Zürcher Lehrer unter ‹Krieg› die Taten unserer Vorfahren meinen, so begehen sie ein Verbrechen an der Jugend. Die Jugend hat nicht nur das Recht, ihr Vaterland zu kennen, sondern die Pflicht. Und um sein Vaterland zu lieben, muss man die Taten der Männer kennen, die dieses Vaterland aufgebaut und uns geschenkt haben. Das ist ein Zweck der Schule. Die Schule soll der Schweiz treue Bürger erziehen und nicht heimatlose Jungen, die das Vaterland nicht kennen, weil seine Geschichte systematisch tot- geschwiegen wird, unter dem Vorwand, man solle Kindern nicht Kriegsgeschich- te lehren. Die Geschichte des Vaterlandes ist heilig, und soll das Vaterland wei- terleben, so muss der Jugend, den Männern und Frauen von morgen, klar sein, was das Vaterland ist. Die Jugend muss wissen, dass das, was sie heute Vaterland nennen, ein Geschenk ihrer Väter ist, die dieses Land mit ihrem Körper beschützt und mit ihrem Blut erworben haben.»45 Die hier wiedergegebene Forderung nach einem nationalpädagogisch aufge- ladenen Geschichtsunterricht, der die schweizerische Staatswerdung fast schon überklischiert als Folge der Taten «grosser Schweizer Männer» erzählen wollte, war denn unter Schweizer Militärs in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in der Tat weitverbreitet. Opposition erfuhr dieses Ansinnen interessanterweise nicht durch Exponenten der mittlerweile nahezu verschollenen «Nationalen Richtung». Vielmehr kam sie von jenen Bildungsskeptikern, die schulische Bil- dung schon grundsätzlich für antimilitaristisch hielten und konsequenterweise auch bestritten, dass man «bessere Schweizer durch mehr Geschichtsunterricht und mehr staatsbürgerliche Erziehung im Sinne von Lehre» machen könne.46 Richtige staatsbürgerliche Erziehung erfolge allein im Militärdienst bzw. insbe- sondere in der Rekrutenschule.

45 Brawand 1928, S. 510. 46 Frick 1931, S. 118.

329 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Was die geistige Ausrichtung des restlichen, nicht geschichtlichen Unterrichts anbelangt, ging es Paul Dubois wie schon Ulrich Wille vor allem darum, von der Vermittlung reinen Wissens abzukommen und dafür sekundäre Fähigkeiten und Tugenden wie Ordnungssinn, Gesetzestreue, Disziplin und Bürgersinn zu vermit- teln. Die Schule müsse weiter das Verlangen nach persönlicher Verantwortung und nach kollektiver Solidarität fördern, um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Heranwachsenden zu stärken. Zwar galten neben den Schulen auch die Kirchen und insbesondere die Familien als Orte der auf vaterländischen Gemeinschaftssinn ausgerichteten Jugenderziehung. Jedoch bedauerten sich dazu äussernde Stimmen einen abnehmenden Einfluss gerade der Familie auf die vaterländische Erziehung der Jugend. Der Schule wurde daher eine immer bedeutendere Erziehungsrolle zugedacht, wie beispielsweise 1926 der Oberleutnant H. Gut unterstrich: «Es kommt die Schule! Sie erweitert den Horizont des Kindes. Es ist ihr Gelegenheit geboten, in Sprachunterricht, Naturkunde, Geographie, Geschichte, ja beinahe in jedem Fache, auf Spaziergängen und Schulreisen, auf all das hinzuweisen, was uns an unser Vaterland bindet, was uns in unverbrüchlicher Treue und heisser Liebe mit unzerreissbarer Kette an unsere Heimat schmiedet. So haben Familie und Schule es in der Hand, dem werdenden Bürger den ersten und oft einflussreichsten staats- bürgerlichen Unterricht zu vermitteln.»47 Wie sofort ersichtlich wird, hatte Guts Vorstellung von staatsbürgerlichem Unterricht wenig mit Staatskundeunterricht heutigen Zuschnitts zu tun. Damit lag er ganz im Mainstream seiner Zeit, der ausdrücklich nicht einen auf die Vermittlung von staatsrechtlichem und politischem Grundlagenwissen ausge- richteten Staatskundeunterricht wollte. Vielmehr sei die Schweizer Jugend an den Schulen im vaterländischen Sinne staatsbürgerlich zu erziehen.48

4. Erwartungen in der Zeit der Geistigen Landesverteidigung In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre äusserten sich schliesslich mehrere illust- re Schweizer Offiziere wie Henri Guisan, Edgar Schumacher, Fritz Rieter oder Hanspeter Brunner zur Rolle und Aufgabe der Schule zugunsten des Schweizer Militärwesens und der Landesverteidigung. Sie setzten unterschiedliche Akzen- te, stimmten jedoch weitgehend darin überein, dass Schule und Armee im Mit- telpunkt des erzieherischen Aufwandes der Nation stehen müssen: «Sie teilen sich die Verantwortung für das, was sein wird, oder besser, sie tragen diese Verantwor- tung gemeinsam.»49 Dabei verkörpere die Armee den schweizerischen Staatsge-

47 Gut 1926, S. 449. 48 Vgl. Dubois 1920, S. 15 – 19. 49 Schumacher 1942, S. 10.

330 20. Jahrhundert

danken am vollkommensten. Von der schulischen Erziehung hänge es wiederum ab, ob «eine Generation träge oder tätig ist, ob ihr Blick nach dem Wohlbefinden oder nach der Pflicht sich richte, ob ihr der Vorteil oder die Ehre höher sei».50 Die Bedeutung der Volksschule liege sodann vor allem darin, dass hier das Kind in den Lebensraum des Volkes und des das Volk zusammenhaltenden Staates ein- trete. In der Schule werde das Kind nicht nur zum rechten Menschen, sondern auch zum Bürger des Staates erzogen. Die Erziehung zum Gemeinschaftswillen sei dabei absolut zentral und müsse jedem Individualismus entgegenwirken.51 Hanspeter Brunner bedauerte derweil, dass sich die Volksschule mit ihrer indivi- dualisierenden Erziehungsmethode als unfähig erwiesen habe, Standes- und Klas- sengegensätze zu überwinden. Diese antiindividualistische Deutung des Schulunterrichts erhielt bisweilen eine nahezu egalitaristische Färbung, interes- santerweise von so scheinbar unterschiedlich positionierten Sprechern wie Brun- ner, Henri Guisan und Fritz Rieter. Argumentierte Guisan dahingehend, dass dem individuellen Egoismus, dem «chacun pour soi» eine nationale Solidarität, dem Klassenkampf die «communauté nationale» entgegengehalten werden müsse und dass insbesondere die Hochschulen der Ort seien, um diesen Kampf voranzutrei- ben, forderte Rieter die Weckung und Vertiefung des nationalen Gedankens in der Schule und, darauf basierend, eine leidenschaftliche, über politische, konfes- sionelle und wirtschaftliche Gegensätze hinweggehende Wehrbereitschaft.52 Die skizzierte Erziehung zum Gemeinschaftswillen verlangte für die Schreibenden, das «nationale Moment» im Schulunterricht in den Vordergrund zu stellen. Ins- besondere sollte dieses in den Fächern Geschichte, Geografie, Heimatkunde, Lan- dessprache und Naturkunde eingehend thematisiert werden.53 Wichtig sei zudem, über «Sinn und Sendung der Schweiz» zu sprechen.54 Für Fritz Rieter verkörper- te die Schweiz dabei «die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und abend- ländischen Kulturen auf christlicher Grundlage».55 Am weitesten ging diesen Gedanken – teilweise die totalitären Begrifflichkeiten der Zeit aufnehmend – viel- leicht Heinrich Frick, der 1937 «die Erziehung der Jugend zur Volksgemeinschaft» als wichtigste Frage des Schweizer Volkes bezeichnete.56 Dafür brauche es aber nicht eine erweiterte staatsbürgerliche Erziehung, sondern vielmehr eine «straf- fe Erziehung zum Gemeinschaftsdenken».57 Ein solches sei jedoch nur in einem

50 Ebd., S. 17. 51 Rieter 1939, S. 547. 52 Guisan 1937, S. 8; Rieter 1939, S. 552. 53 Rieter 1939, S. 550. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Frick 1937, S. 9. 57 Ebd.

331 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

militärischen Umfeld unter militärischer Führung möglich und im zivilen Leben nicht zu erreichen. Wenn wir das Gesamtbild betrachten, ist bei den sich hier in den späten 1930er-Jahren äussernden Offizieren auffällig, dass die physische, d. h. turnerisch- sportliche Komponente der schulischen Jugenderziehung völlig in den Hinter- grund getreten ist. Wichtiger erscheint vielmehr, dass sich die Vorstellungen zur wehrvorbereitenden Jugenderziehung in den Schulen nun stärker als in den Jahren zuvor an einem geistig-nationalen, gemeinschaftsorientierten und staats- bürgerlichen Leitgedanken orientierten. Die am 9. Dezember 1938 gegen die totalitären Geistesströmungen der Zeit erlassene «Kulturbotschaft» des schwei- zerischen Bundesrates widmete sich in Abschnitt VIII umfassend dem «staats- bürgerlichen Unterricht» sowie der «nationalen Erziehung» und strahlte weit in die Textpassagen der Offizier hinein.58 Fritz Rieter bezeichnete die bundesrätliche Botschaft explizit als eine Grundlage seiner Ausführungen.59 Der Erste Weltkrieg und die sich seither zutragende Militärentwicklung diente Brunner, Guisan und Rieter ausserdem nicht einfach nur als Einstiegsmetapher, sondern als Ausgangs- punkt ihrer Argumentation.60 «La guerre [ … ] a pris [ … ] le caractère d’un conflit de nation à nation», der Krieg sei «total» geworden, betonten Guisan und Brunner, und demnach müssten die moralischen Kräfte sowohl beim Soldaten wie im ganzen Volke gestärkt werden.61 Der auf dem modernen Gefechtsfeld häufig auf sich selbst gestellte und «in der Einsamkeit seiner [Gelände-]Kammer» sich selbst überlassene Soldat müsse sich zwar nach wie vor auf seine soldatische Erziehung verlassen können.62 «Nur ein Höchstmass an Charakterfestigkeit, an Energieleis- tung und Beherrschung des Temperamentes befähigt ihn, die Dauerbelastung auszuhalten und seine Pflicht zu erfüllen.»63 Gleichwohl sei die Frage, ob der Soldat kämpfe und wie er kämpfe, noch viel mehr als früher zu einer Angelegen- heit des eigenen Gewissens und der intellektuellen Einsicht geworden. Der Ins- truktionsoffizier Hanspeter Brunner resümierte entsprechend, dass «die Idee der absoluten Pflichterfüllung, des Soldatentums als ethischer Wert, mit unserer besonderen nationalen Idee verbunden werden» müsse, «so dass sich jeder einzelne als deren Träger» betrachte.64 Und die Jugend für diese nationale Idee

58 Vgl. Schweizerischer Bundesrat 1938. 59 Vgl. Rieter 1939, S. 549. 60 Vgl. Brunner 1937, S. 202 – 204; Guisan 1937, S. 6; Rieter 1939, S. 548. 61 Guisan 1937, S. 6; Brunner 1937, S. 202 – 204. 62 Brunner 1937, S. 204. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 211.

332 20. Jahrhundert

zu gewinnen und ihre moralischen Kräfte zu heben, müsse das Hauptziel jeder vormilitärischen Bildung die soldatische Erziehung sein.65

5. Fazit Zwar wirbelte die Erfahrung des Ersten Weltkrieges das Reden schweizerischer Offiziere über die Aufgabe der Schule zugunsten des Wehrwesens nicht abrupt durcheinander. Zentrale Auffassungen über die Möglichkeiten und Grenzen vor- militärischer Jugendausbildung, die nicht zuletzt – einmal mehr – auf die Über- legungen Ulrich Willes zurückgehen, prägten die Ansichten der sich zum Thema äussernden Offiziere auch nach dem Ersten Weltkrieg nachhaltig. Konkurrierten während des Richtungsstreits vor dem Ersten Weltkrieg primär die divergieren- den Jugend- und Soldatenerziehungskonzepte der «Neuen» bzw. der «Nationa- len Richtung», drängte sich nach 1918 allmählich die im Zeitalter der politischen Extreme gedachte «nationale Idee» in den Vordergrund. «Schulturnen ist immer gut», werden sich die meisten Offiziere wohl gesagt haben und am Dogma der militärischen Soldatenerziehung rüttelte auch kaum einer. Dass aber führende Wille-Schüler der zweiten Generation die auf die Soldatenerziehung fokussierte Militärsozialisation nicht mehr als allein kriegstauglich machend deuteten, son- dern die Verbreitung der «nationalen Idee» gerade an den Schulen als ebenso wichtig erachteten und die beiden Elemente kombinierten, spricht schon für die einschneidende Erfahrung des Ersten Weltkrieges auf das schweizerische Offi- zierskorps.

Bibliografie

Quellen und Literatur Becker, F.: Zur militärischen Erziehung und Ausbildung. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 81, 46 (1915), S. 432 – 435. Bossart: Gedanken über das Turnen in unserer Volksschule. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 84, 1 (1918), S. 7f. Brawand, Friedrich: Patriotische Antimilitaristen. In: Allgemeine Schweizeri- sche Militärzeitung, 94, 9 (1928), S. 509 – 511. Brunner, Hanspeter: Gedanken über die soldatische Erziehung unserer Ju- gend. In: Festschrift für Ulrich Wille zum 60. Geburtstag. Zürich: Albert Müller 1937, S. 202 – 221.

65 Ebd., S. 214.

333 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Dubois, Paul: L’éducation civique et nationale de la jeunesse. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 86, 1 (1920), S. 15 – 19. Frick, Heinrich: Antimilitarismus und Bildung. In: Allgemeine Schweizeri- sche Militärzeitung, 97, 3 (1931), S. 113 – 128. Frick, Heinrich, Staat, Armee und Jugend. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 103, 1 (1937), S. 9. Furrer, Max Edwin: Militärischer Vorunterricht. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8702.php (Ver- sion vom 13.11.2008). Giuliani, Markus: Starke Jugend, freies Volk. Bundesstaatliche Körpererzie- hung und gesellschaftliche Funktion von Sport in der Schweiz (1918 – 1947). Bern: Lang 2001. Guisan, Henri: Les devoirs des universitaires à l’égard de la Défense nationale. In: Schweizerische Hochschulzeitschrift, Landesverteidigung. Zürich: o. V. 1937, S. 6 – 9. Gut, H.: Die staatsbürgerliche Erziehung im Militärischen Vorunterricht. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 92, 10 (1926), S. 442 – 461. Hirt, Ernst: Anregungen zur besseren körperlichen Heranbildung unseres Volkes im Interesse der Wehrbereitschaft. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 107, 9 (1941), S. 527 – 539. Hungerbühler, Hugo: Das schweizerische Kadettenwesen. In: Schweizeri- sche Monatschrift für Offiziere aller Waffen, 20 (1909), S. 586 – 591. Jaun, Rudolf: Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im mili- tärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de siècle. Zürich: Chronos 1999. Jeker, P.: Das schweizerische Kadettenwesen und seine Stellung im Vorunter- richt. Solothurn: Vogt-Schild 1942. Kürsteiner, W.: Militär, Kadetten, Pfadfinder. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 85, 16 (1919), S. 128 – 130. O. B.: Der militärische Vorunterricht. In: Allgemeine Schweizerische Militärzei- tung, 69, 52 (1903), S. 423f. Oehler, Felix: Zur Kadettenfrage. In: Allgemeine Schweizerische Militärzei- tung, 84, 52 (1918), S. 449f. Revue Militaire Suisse, 64, 1 (1920), S. 18. Rieter, Fritz: Zusammenarbeit zwischen Schule und Armee. In: Schweizer Monatshefte, 9 (1939), S. 547 – 553. Schumacher, Edgar: Armee und Schule. Zürich: o. V. 1942.

334 20. Jahrhundert

Schweizerischer Bundesrat: Botschaft des Bundesrates an die Bundesversamm- lung über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kultur- wahrung und Kulturwerbung. (Vom 9. Dezember 1938.). In: Bundesblatt, 90, 50 (1938), S. 985 – 1033. Schweizerischer Unteroffiziersverein und Jugendausbildung. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 85, 23 (1919), S. 186. Senn, Hans: Armee (Kapitel 4, Bundesverfassung und Militärorganisation 1874). In: Historisches Lexikon der Schweiz. Online unter: http://www.hls- dhs-dss.ch/textes/d/D8683.php (Version vom 5.6.2008). S. N.: Ein Beitrag zur Geschichte des militärischen Vorunterrichtes. In: Allge- meine Schweizerische Militärzeitung, 67, 36 (1901), S. 292f. S. u. B.: Militärischer Vorunterricht. In: Allgemeine Schweizerische Militärzei- tung, 88, 17 (1922), S. 273 – 277. Walter: Soldatenerziehung. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 98, 5 (1932), S. 274 – 281. Wille, Ulrich: Die Militärische Vorbildung der Jugend. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung, 78, 2 (1912), S. 9 – 11.

Dr. Michael Olsansky, Militärakademie an der ETH Zürich, [email protected]

335

Erosion 14einer Erzählung­

20. Jahrhundert

Michael Geiss

14. Erosion einer Erzählung Militär und Gesellschaft in der Jugendpublizistik nach 1945

Die Jugend versteht die Armee nicht mehr. Die Armee versteht die Jugend nicht mehr. Tages-Anzeiger vom 4. April 1970, S. 47

Auch wenn die Schweizer Regierung Ende der 1980er-Jahre nochmals die Einheit von Militär und Gesellschaft behauptete: Auf vielen Ebenen war dieser Zusammenhang bereits fraglich geworden.1 Für Karrieren in den Unternehmen, in Behörden, der Lehrerbildung und den Universitäten spielten der militärische Rang und die Netzwerke der Milizarmee zwar in den Jahrzehnten nach 1945 eine grosse Rolle,2 doch lassen sich seit den 1950er-Jahren auch zahlreiche Stimmen ausmachen, die ein komplizierteres Verhältnis von Armee und Gesellschaft in der Schweiz andeuten, als es diese gängige Erzählung vermuten lässt.3 In der Wahrnehmung der Zeitgenossen erodierte der gesellschaftliche Zusam- menhalt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem aufgrund der guten

1 1988 verwies der Bundesrat in seiner Botschaft über die Volksinitiative «für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik» auf die gebräuchliche Redewendung «die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee» – der Satz bringe nicht nur einen Wunsch zum Ausdruck, sondern beschreibe eine Wirklichkeit (vgl. Schweizerischer Bundesrat 1988, S. 975). Im folgenden Jahr befürworteten gut ein Drittel der abstimmenden Personen die Vorlage (vgl. Degen 2006). 2 Obwohl auch diese Darstellung einer Differenzierung bedürfte. In der Schweizerischen Kreditanstalt, der Vorgängerin der Credit Suisse, hatte im ersten Nachkriegsjahrzehnt nur ein kleinerer Teil der Mitglieder der Generaldirektion einen Offiziersgrad. Diese Zahl stieg bis zur ersten Ölpreiskrise deutlich an. Aber erst in der Zeit zwischen 1973 und 1996 bekleideten mehr als zwei Drittel der Mitglieder einen Offiziersrang (vgl. Jung 2000, S. 303 – 316). 3 Siehe zum Verhältnis von Schweizer Armee und Gesellschaft nach 1945 Tanner 1997; Marti 2014; Tresch 2010.

339 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

ökonomischen Lage. Von unterschiedlicher politischer Seite wurden die schäd- lichen Folgen der sogenannten «Wohlstandsgesellschaft» kritisiert.4 Wirtschafts- wachstum und Bildungsexpansion bedeuteten bisher ungeahnte schulische und berufliche Karrieren. Die Berufsberatung prosperierte entsprechend, und die Unternehmen mussten um Lehrlinge und Arbeitnehmer werben, damit sie überhaupt noch qualifiziertes Personal bekamen. Weiterbildungsanbieter mach- ten in Magazinen und Tagespresse auf Angebote aufmerksam, mit denen sich der gesellschaftliche Aufstieg fast automatisch einstellen würde.5 Zusammenhalt stiftete zunächst der auf nahezu allen gesellschaftlichen Fel- dern anzutreffende Antikommunismus. Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz verabschiedete sich 1959 vom Klassenkampf und wurde endgültig Teil der Landesregierung. Staatliche, parastaatliche und private Initiativen bekämpften tatsächliche und vermeintliche kommunistische Umtriebe in der Schweiz.6 Die nationale gesellschaftliche Ordnung sah sich in der Nachkriegsschweiz also durch den Erfolg des Kapitalismus wie durch dessen Gegner herausgefordert. Dieses doppelte Szenario lässt sich an der Thematisierung der Armee in der Ju- gendpresse besonders gut nachvollziehen. Die Redaktoren hatten mit «der Ju- gend» einen Adressaten, der automatisch die hergebrachten sozialen Formen infrage zu stellen schien. «Jugend» gilt also im Folgenden nicht als eine gesellschaftliche Gruppierung, durch die sich die Einheit von Militär und Gesellschaft tatsächlich provoziert fühlen musste. Vielmehr möchte ich untersuchen, wie diese Unterstellung in der Jugend- publizistik eine Rolle spielte und einen spezifischen Diskurs hervorbrachte, in dem die Ordnung der Gesellschaft verhandelt wurde. Die Darstellung schreibt sich also einerseits in die neuere Forschung zur Kultur des «Kalten Krieges»7 ein, stellt mit «Jugend» aber ein älteres Konstrukt ins Zentrum, das weiterhin wirksam war und von den publizistischen Akteuren in einem begrenzten, einen Bedeutungskern immer schon voraussetzenden Sinne verwendet wurde.8 Zeitlich konzentriert sich die Untersuchung auf die drei Jahrzehnte um die sogenannte Hochkonjunktur, beginnt also mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und endet Mitte der 1970er-Jahre, als die erste Ölpreiskrise auch in der Schweiz spürbar Folgen zeitigte. Als Quellenmaterial dienen mir Schweizer Jugendzeit- schriften, von illustrierten Magazinen bis hin zu Blättern für die katholische Ju-

4 Siehe etwa Gutersohn 1964; Wanner 1967; Jurt 1969. 5 Grundsätzlich zur Schweiz in der Nachkriegszeit Tanner 2015, S. 292 – 353; Tanner 1994; zur Bildungsex- pansion in der Schweiz Criblez 2001; zur Berufsberatung Bachem 2013. 6 Studer 2009; Werner 2000; siehe für die USA auch Schild 2005. 7 Vgl. etwa die Beiträge in Eugster/Marti 2015; Rohstock/Bernhard/Nehring 2014. 8 Bruns 2006; Trommler 1985; Roth 1983; Dudek 1990.

340 20. Jahrhundert

gend und Lehrlingszeitschriften. Armee und Militär waren hier zwar nicht die dominierenden Themen, sie wurden aber in allen durchgesehenen Periodika durchaus häufiger be- und verhandelt. Zunächst wird die Jugendpublizistik der unmittelbaren Nachkriegszeit, dann der langen 50er- bis zu den Protestjahren um 1968 auf die Verhandlung von Armee und Militär hin befragt. Diese Stichworte zeigen bereits die naheliegenden Verschiebungen in den Darstellungsformen, den Vokabularien und Referenz- kontexten, die sich, auf das Thema Jugend bezogen, in den drei Jahrzehnten Hochkonjunktur durchaus zeigen. Unter dieser Oberfläche werden aber auch Verhandlungen sichtbar, die auf eine fundamentale Transformation der gesell- schaftlichen Ordnungsvorstellungen schliessen lassen. Zuletzt werde ich entspre- chend einige Schlüsse aus den Analysen ziehen und fragen, wie sich das Verhält- nis von Schweizer Armee und Gesellschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs darstellt, wenn man es anhand der Thematisierung von «Militär» in der Jugend- presse untersucht.

1. Die alte Ordnung der Geistigen Landesverteidigung 1943 wurde in den Schulen der Schweiz eine Broschüre verteilt, die sich dem Ver- hältnis von «Schweizer Jugend» und «Landesverteidigung» widmete. Verantwort- lich für die gut sechzig Seiten war der Verband «Schweizerwoche», der seit 1919 jährlich Aufsatzwettbewerbe für die Schülerinnen und Schüler des Landes zu un- terschiedlichen Themen ausrichtete.9 Unterstützt wurden diese Aktionen von den kantonalen Unterrichtsverwaltungen. Für dieses Mal stand der ganze Wett- bewerb zudem unter dem Patronat General Guisans, des Oberbefehlshabers der schweizerischen Armee. Herausgegeben wurde die Broschüre von der Sektion «Heer und Haus», dem bekanntesten Instrument der sogenannten Geistigen Landesverteidigung.10 Die Textgrundlage für den Aufsatzwettbewerb stieg mit der Schlacht von Morgarten ein und zeichnete dann die wehrhafte Geschichte der Schweiz und die aktuelle Militärorganisation nach. Erst der dritte und letzte Abschnitt richtete sich explizit an die Jugend, zählte vor- und paramilitärische Übungsmöglichkei- ten auf und nannte auch die Möglichkeiten für die Mädchen, sich in den Dienst der Landesverteidigung zu stellen. Der Übergang von den kriegsgeschichtlichen und militärorganisatorischen Darstellungen zur gegenwärtigen «Aufgabe der

9 S.W.: Aufsatzwettbewerb über die Landesverteidigung. In: Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 48, 2 (1943), S. 33. 10 Steffen Gerber 2007. Zur Begriffs- und Diskursgeschichte der Geistigen Landesverteidigung vgl. Mooser 1997.

341 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Jugend» wurde von einigen eindringlichen Passagen zum Schweizer Réduit mar- kiert, mit dem General Guisan sich zu einer nationalen Lichtgestalt wandeln und das als «Erinnerungsort» (Pierre Nora) der Schweiz im Kalten Krieg so wichtig werden sollte.11 «Es drängt auch die Jugend, mitzuwirken im Dienste der Armee»,12 behauptete der Text, auf den sich die Schüleraufsätze beziehen sollten, gemahnte diese aber zugleich, geduldig zu sein. Nach Ende des Krieges fand sich dieses Bild einer Jugend, die sich bereits als zukünftige Soldaten und freiwillige Helfer sieht, vermehrt in den Illustrierten für die Jugend. Ein Redaktor der Jugendwoche berichtete von einem Treffen mit Pri- marschülern, die General Guisan begegnet seien, ihn unmittelbar erkannt und mit ihm gesprochen hätten. Im Aktivdienst sei ihm dieselbe Begeisterung der Jugend entgegengeschlagen, und in der Jugendwoche seien zahlreiche Dankesbriefe an den General eingetroffen.13 Gekrönt wurde diese besondere Inszenierung des Natio- nalfeiertags mit einem Antwortbrief Guisans, der als abgedrucktes Faksimile eines Schreibens auf offiziellem Papier dem Artikel des Redaktors folgte. Der scheiden- de General richtete sich hier direkt aus dem «Armeehauptquartier»14 an die «Schweizer Jugend»15. Die Jugend sollte nicht nur zukünftig die Landesgrenzen schützen, sondern auch darauf achten, dass die «Volksgemeinschaft»16 nicht einem falsch verstandenen Fortschritt geopfert würde. Es sollte «allen schädlichen Ein- flüssen, die deine Seele, die unser Volk vergiften könnten»,17 entgegengetreten werden, ob sie nun von aussen in das Land kämen oder von innen her wirksam würden. Einige Jahre später waren dann zwei Nummern der Jugendwoche ganz offiziell unter Mitarbeit der schweizerischen Militärverwaltung gestaltet worden. Die Sonderausgabe zum 1. August widmete sich einzig dem Thema «Wie und was die Soldaten essen»18 und eröffnete den Reigen an Artikeln mit einem «Solda- tenbrief an die Schweizer Jugend»,19 den der umtriebige Militärpädagoge Edgar Schumacher unterzeichnete.20 Wieder ging es um fremde Eindringlinge, und auch dieses Mal schienen die Herzen der jungen Männer selbst in Gefahr zu sein:

11 Heer und Haus 1943. 12 Ebd., S. 53. 13 O.A.: Der General ist schuld. In: Jugendwoche, 1, 19 (1945), S. 6f. 14 Guisan, Henri: General Guisan an die Schweizer Jugend. In: Jugendwoche, 1, 19 (1945), S. 7. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 O.A.: Wie und was die Soldaten essen. In: Sondernummer der Jugendwoche vom 1. August (1949). 19 Schumacher, Edgar: Soldatenbrief an die Schweizer Jugend. In: Sondernummer der Jugendwoche vom 1. August (1949), S. 2. 20 Müller-Grieshaber 2014.

342 20. Jahrhundert

«Du bist nicht ein Fremdling, der gleichgültig fremdes Gut geniesst und vertut»,21 hielt Schumacher den zukünftigen Soldaten entgegen. Die Augustnummer des Folgejahres beschäftigte sich mit «unseren blauen Soldaten»,22 war von der Ab- teilung für Sanität mitgetragen und wurde von einem Schreiben des Oberfeld- arztes Hans Meuli eröffnet. Bemerkenswert ist, dass sich in diesen Nummern nicht nur die einzelnen Artikel militärischen Themen widmeten, sondern selbst die Werbung auf das Thema Armee abgestimmt war.23 Mit den Bereichen Mili- tärküche und Sanität wurden in den Sondernummern zum Nationalfeiertag Abteilungen der Armee ins Zentrum gerückt, die gerade nicht in Kampfhand- lungen involviert sind. Die Bedeutung der Armee für die Schweiz wurde noch in einer Nummer der Schweizer Lehrlings-Zeitung 1963 ähnlich wie in der Broschü- re der Schweizerwoche, über das bekannte Set nationaler Mythen hergeleitet, wobei nicht wie 1943 die erfolgreiche Schlacht von Morgarten hervorgehoben, sondern die bewaffnete Neutralität mit dem Bundesbrief und den Kriegern von Marignano illustriert wurden. Eine Fotografie Guisans, wie er die Soldaten im Aktivdienst abschreitet, schloss die historische Bildstrecke ab. Die kurze Schluss- folgerung im Fliesstext lautete dazu: «Unser Kampf ist immer Notwehr.»24 In der deutlich links positionierten Jugendpresse fand sich die explizite Ver- bindung von Antimilitarismus und Klassenkampf, wie sie bei Guisan und Schumacher als neuer Feind angedeutet worden war. Bereits zum Ende des Zweiten Weltkriegs richtete sich die Freie Jugend an ihre Mitglieder und rief zum Kampf gegen eine Verlängerung der Rekrutenschule auf.25 Die «wahnsinnig hohen Militärausgaben»26 der Schweiz sollten lieber in die Berufsausbildung investiert werden, befand 1950 die Jugend. Aus dem Wiederholungskurs berich- tete ein junger Soldat, wie er und seine Kameraden auf einen atomaren Ernstfall vorbereitet worden seien, und stellte spitz die rhetorische Frage in den Raum, ob diese westorientierte bewaffnete Neutralität nicht eine Form des Landesverrats sei.27 Der Erlebnisbericht aus dem Militärdienst war für die linke Jugendpresse ein stark genutztes Instrument, um dem dominanten Bild einer in die Armee

21 Schumacher, Edgar: Soldatenbrief an die Schweizer Jugend. In: Sondernummer der Jugendwoche vom 1. August (1949), S. 2. 22 O.A.: Von unseren blauen Soldaten. In: Jugendwoche, 6, 8 (1950). 23 Ebd. 24 Vogt, M.: Du wirst Soldat. Teil 1. In: Schweizer Lehrlings-Zeitung, 5, 11 (1963), S. 172. 25 Kern, Walter: Aufrüstung nach dem Kriege. In: Freie Jugend, April – Mai, 1 (1945), S. 8; Kägi, U.: Doch Ver- längerung der RS? In: Freie Jugend, Februar – März, 11 (1946), S. 8. 26 O.A.: Was will die Freie Jugend? In: Jugend: Zeitschrift für die Schweizerjugend vom 11. Januar 1950, S. 4. 27 O.A: Brief aus dem WK: Sind solche Offiziere Landesverräter? In: Jugend: Zeitschrift für die Schweizerju- gend vom 8. März 1950, S. 1, 3; vgl. auch o.A.: Atombomben für die Schweiz? In: Jugend: Zeitschrift für die Schweizerjugend vom 10. Mai 1950, S. 1 – 3.

343 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

drängenden Jugend etwas entgegenzusetzen:28 «Genug jetzt, ihr Herren! Wir Jungen haben nicht die geringste Sehnsucht nach militärischem Drill.»29

2. Rom oder Bern? Die Armee der katholischen Jungmänner Jugend nach dem Krieg war aber, auch wenn dieses Zeitalter sehr schnell zu Ende gehen sollte, zunächst einmal noch stark konfessionell geformte Jugend. Die Ka- tholiken hielten zahlreiche Organisationen für die Mädchen und Jungen bereit, in denen diese ihre Freizeit in einem angemessenen Rahmen verbringen sollten. Jungwacht und Jungmannschaft stellten wichtige Infrastrukturen bereit für die Demonstration der eigenen Stärke, etwa auf grossen Katholikentagen, die bis auf die letzte Zusammenkunft dieser Art 1954 in Freiburg reine Männerangelegen- heiten waren. Auch publizistisch versorgten die Jugendorganisationen den ka- tholischen Nachwuchs. Bereits 1912 wurde das Verbandsorgan Jungmannschaft gegründet und behielt diesen Namen bis 1968 bei. In der unmittelbaren Nach- kriegszeit war das Blatt noch Ausdruck des Milieukatholizismus, mit einem sehr eigenen Referenzkontext und Adressatenkreis, einer spezifischen Bildsprache und Semantik.30 Zwar war in der Jungmannschaft von «Kampf» viel die Rede, und die Rhetorik der unmittelbaren Nachkriegszeit war ausgesprochen kriegerisch. Doch richtete man sich mit seinem «heiligen Kampf in der Jungmannschaft» nicht als Soldaten gegen mögliche äussere militärische Feinde, sondern wollte der «Gefahr der roten Lügenpresse»31 im Inneren des Landes entschieden entgegentreten. Als Zeit- schrift für Lehrlinge und Jungarbeiter sah man hier seine erste Aufgabe – und seinen Gegner in der frisch gegründeten Partei der Arbeit und der durchaus moskauorientierten Freien Jugend.32 Der kämpferische Antikommunismus im Verbandsblatt der katholischen Jungmänner diente auch der Absetzung im konfessionellen Wettstreit mit den Protestanten.33 Zugleich gelobten die Jung- männer im Mai 1946, sich für den «innern Frieden»34 zu engagieren, den Frieden «in unserer Seele»,35 «unter den Berufsständen»,36 aber auch den Rassen-, Klassen- und Konfessionsfrieden im Lande mit herbeizuführen.

28 Vgl. etwa o.A.: Im Reich der Militärköpfe … In: Freie Jugend, Oktober – November, 7 (1945), S. 8. 29 O.A.: Militärköpfe provozieren. In: Freie Jugend, Mai – Juni, 2 (1945), S. 6. 30 Meier 2003; Altermatt/Metzger 2003; Jung 1988. 31 P.A.L.: Heiligem Kampf sind wir geweiht. In: Jungmannschaft, 45 (1945), S. 305. 32 Ebd. 33 J.M.: Angriffe und Abwehr. In: Jungmannschaft, 3 (1946), S. 17. 34 Pilgrim: Christkönigsnummer 1946. In: Jungmannschaft, 43 (1946). 35 Ebd. 36 Ebd.

344 20. Jahrhundert

Dort, wo Armee und Schweizer Soldatentum in der katholischen Jünglings- presse nach Kriegsende tatsächlich zur Sprache kamen, galten sie zunächst einmal als Ort des lasterhaften Verhaltens und der moralischen Verfehlungen. Ein Gastautor schilderte die fehlende Moral der Rekruten und schloss daraus auf den Zustand der Eidgenossenschaft.37 Der Beitrag löste eine Reihe von Reaktionen aus, in denen die katholischen Jungmänner von ihren eigenen Erfahrungen in der Armee berichteten. Zwar mochten sie den derben Schilderungen des Gast- beitrags nicht folgen und verteidigten die eigenen Kameraden: «Gewiss gibt es in jeder Einheit Zoter, dass aber ganz allgemein die ganze Armee in den Dreck gezogen wird, scheint wenig taktvoll.» Doch war die Armee auch in den Reakti- onen der Leser des Blattes ein Ort der Anfechtungen. Nur eine gute christliche Erziehung könne der katholischen Minderheit helfen, die Rekrutenzeit zu über- stehen.38 Unterschwellig, aber doch deutlich zu vernehmen, spielte in der katholischen Jugendpublizistik zum Thema Armee ein älterer innenpolitischer Konfliktherd eine Rolle. Die Frage des Kulturkampfs, die Bedeutung Roms, der implizite Protestantismus des verfassten Bundesstaats wurden in den Nachkriegsjahren noch mitverhandelt. Explizit kamen diese verfestigten Konfliktlinien zur Sprache, wenn sich Rekruten beschwerten, dass sie im Dienst an der Ausübung ihrer geistlichen Pflichten gehindert worden seien. Aber auch dann, wenn die Klage im Raum stand, dass die höheren Militärkarrieren faktisch nur Protestanten of- fenstünden.39 Die ersten bebilderten Texte zu Militärfragen handelten so auch von der Schweizergarde in Rom. Unter den Schlagworten «Schweizertreue»40 und «Schweizergarde»41 wurden hier detailliert die Leistungen dieser sehr spe- ziellen Truppe gewürdigt.42 Doch auch in der katholischen Jugendpresse fanden sich dann schnell die nationalpatriotischen Würdigungen des wehrhaften Schweizervolkes. Zum Na- tionalfeiertag erschien 1949 eine Sondernummer, die sich die Kriegs- und Solda- tenbegeisterung der männlichen Jugend voll zu eigen machte. «Wir spielen

37 F.D.: Die Moral der Rekruten – ein Wort der Kritik! In: Jungmannschaft, 44 (1946), S. 300. 38 Lt. W.J.: Die Moral der Rekruten. In: Jungmannschaft, 3 (1947), S. 20f.; J.E.: Das freie Wort des freien Man- nes. In: Jungmannschaft, 8 (1947), S. 66f.; o.A.: Die Moral der Rekruten. In: Jungmannschaft, 8 (1947), S. 68; Juvenis: Rekruten rücken ein. In: Jungmannschaft, 8 (1947), S. 69; o.A.: Rekrutenmoral. In: Jung- mannschaft, 9 (1947), S. 83; P.C.: In der Rekrutenschule. In: Jungmannschaft, 13 (1947), S. 139; o.A.: Die Probleme der reifenden Jugend. In: Jungmannschaft, 40 (1947), S. 298f. 39 O.A.: Erfüllung des Gottesdienstes in der Rekrutenschule. In: Jungmannschaft, 28/29 (1949), S. 202; a.sch.: Erfüllung des Gottesdienstes in der Rekrutenschule. In: Jungmannschaft, 35/36 (1949), S. 244 – 246; Sch.: Der Gottesdienst im Heimatdienst. In: Jungmannschaft, 40 (1949), S. 268f. 40 O.A.: Von der Schweizertreue und von der Schweizergarde. In: Jungmannschaft, 27/28 (1948). 41 Ebd. 42 Ebd.; P.M.K.: Zum Jubiläum der päpstlichen Schweizergarde. In: Jungmannschaft, 3 (1956); o.A.: 450 Jahre Päpstliche Schweizergarde. In: Jungmannschaft, 4 (1957).

345 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Soldätlis»,43 hiess es zwar verniedlichend in der Überschrift des ersten Abschnitts. Mit vielen Ausrufezeichen und einer grossen Emphase schritt der Leitartikel dann aber die Stationen vom militärischen Vorunterricht über die Aushebung bis zum Abschluss der Rekrutenschule ab. Der Ton war pathetisch und sollte den Stolz vermitteln, in genau dieser Armee dienen zu dürfen: «Der katholische Schweizer – ein tüchtiger Soldat!»44 Über das Bekenntnis zur Schweizer Armee konnte dem Verdacht begegnet werden, dass Katholiken mit ihrer Orientierung nach Rom im Kalten Krieg ähnlich unverlässlich seien wie moskautreue Kommunisten. Nicht zuletzt bot das Soldatentum aber auch reichlich Anschauungsmaterial, wie man sich einen echten (katholischen) Mann vorzustellen habe.45 Die militä- rischen Umgangsformen sollten helfen, den jungen Männern ein angemessenes Verhalten zu vermitteln. Die «Form»46 des militärischen Grusses schien geeignet zu sein, auch den Inhalt der Achtung gesellschaftlicher Hierarchien in den Köp- fen zu verankern. Im verbandseigenen katholischen Rex-Verlag47 war bereits 1938 ein Handbüchlein des Rekruten verlegt worden, das dann in verschiedenen über- arbeiteten Auflagen immer wieder erschien und für die katholischen Rekruten von grosser Bedeutung war.48 Mit der Rekrutenschule sollte auch für die katho- lischen Jungen ein neuer Lebensabschnitt markiert sein: «Es beginnt das Mannesalter.»49

3. Das Militär als didaktisches Instrument Erst in den 1950er-Jahren erschienen in der katholischen Jungmannschaft zahl- reiche aufwendig bebilderte Artikel zur Schweizer Armee. In der weltlichen Schweizer Jugend, die eine ähnliche Altersgruppe ansprechen sollte und explizit eine nationalpädagogische Agenda verfolgte, wurde das Thema zunächst noch zurückhaltender verhandelt. Ein Grund dafür könnte darin zu suchen sein, dass die katholische Jungmannschaft allein auf die männliche Jugend zielte, auch bei der Lehrlings-Zeitung standen technikbegeisterte Buben im Zentrum. Die Schwei- zer Jugend hingegen richtete sich gleichermassen an Jungen und Mädchen und

43 M.H.: Wehrhafte Jugend – wehrhaftes Volk. In: Jungmannschaft, 30/31 (1949), S. 212f. 44 Ebd. 45 P.A.L.: Mann sein möchte ich, ein Mann! In: Jungmannschaft, 9 (1950), S. 66f. Für die Schaffung echter Männlichkeit wurden aber auch andere Ideale abgerufen. Eine Nummer der Jungmannschaft aus dem Jahr 1950 setzte eine Moses-Statue Michelangelos auf das Titelbild: «Ein Mannescharakter trägt die Züge dieses Bildes» (vgl. o.A.: Kraftvolles Mannestum. In: Jungmannschaft, 42 [1950]). 46 H.S.: Vom Sinn und Unsinn des Grüssens. In: Jungmannschaft, 37 (1950), S. 236f. 47 Steiner 1991, S. 171 – 193. 48 Iten [1938]. Den Titelzusatz «Handbüchlein des Rekruten» erhielt die Broschüre aber erst mit der vierten, von Alois Meier überarbeiteten Auflage von 1955, der nunmehr Zitate Guisans und Bundesrat Etters voran- gestellt waren, die das Mundartgedicht Georg Thürers ersetzten. 49 Ebd., S. 23.

346 20. Jahrhundert

konnte mit der Romantik des Soldatentums deshalb nicht in derselben Weise hausieren gehen wie die publizistische Konkurrenz. Die Schweizer Jugend präsentierte sich den Eltern als eine anspruchsvolle Lektüre und damit als Alternative zu Schmutz und Schund oder gefährlicher politischer Propaganda. Zugleich war der Antikommunismus der Nachkriegszeit hier aber viel weniger explizit als in vergleichbaren publizistischen Erzeugnissen der Zeit – trotz der ebenfalls nationalpädagogischen Stossrichtung. Dafür wirkte das Organ als Medium einer frühen Schweizer Jugendforschung, in dem sich Jugendschriftsteller wie Ernst Kappeler ebenso verbreiteten wie Heinrich Han- selmann, ehemaliger Sekretär bei Pro Juventute sowie Gründer und erster Leiter des Heilpädagogischen Seminars in Zürich.50 Kappeler hatte bereits hochdeutsche Lyrik und Dialektgedichte veröffentlicht, bevor er sich forciert als selbst erklärter «Anwalt junger Menschen»51 betätigte und damit eine grössere Bekanntschaft erlangte. Von diesem Impetus waren auch Kappelers Überlegungen zum Internationalismus der Jugend und zu ihrem ri- gorosen Pazifismus durchdrungen, die er Ende des Zweiten Weltkriegs formuliert hatte. Vorsichtig, aber deutlich richtete Kappeler sich hier gegen die Strenge der Geistigen Landesverteidigung, gegen vor- und paramilitärische Übungen, gegen die Militarisierung der Jugend: «Der Idealismus der Liebe hat in den letzten Jahren schwere Zeiten gehabt. Man verhöhnte ihn, man verurteilte ihn, man hätte ihn am liebsten eingekerkert, und wo die Jugend sich zusammenfand, um die Liebe zu üben, da rief man sie nun in Scharen zusammen, um den Hass vorzubereiten.»52 Die Schilderungen von Militär, Armee und Soldatentum waren entsprechend auch in der Schweizer Jugend zunächst eher zurückhaltend. Hanselmann nutzte den Gegenstand hingegen, um über das Verhältnis von «Jung und Alt»53 zu reflektieren, und führte die Unterscheidung durchaus ange- messener Umgangsformen und inhaltsleeren Drills ein, der letztlich kontrapro- duktiv für das Zusammenleben sei. Diese direkte Didaktisierung des Militärischen stand neben der Strategie der Fiktionalisierung, die sich in der Schweizer Jugend ebenfalls in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg finden lässt: In Form eines Zeitungsromans widmete sich Adolf Haller, Träger des Schweizer Jugendbuch- preises 1947 und 1967, dem Thema «Fahnenflucht»54. Der Text verknüpfte auf

50 Wolfisberg 2002, S. 97 – 107; Heese 2007. 51 Ziehr/Mengis 1999, S. 302. 52 Kappeler 1944, S. 93. 53 Hanselmann, H.: Jung und Alt. In: Schweizer Jugend, 8 (1948), S. 183. 54 Haller, Adolf: Fahnenflucht. In: Schweizer Jugend, 10 (1948). Zum Jugendbuchautor und Schulinspektor Adolf Haller siehe den Eintrag in o.A. 1979. Die Geschichte erschien parallel auch als Separatdruck in einer Reihe des Basler Reinhardt-Verlags, der bereits eine «gediegene Sammlung Schweizer Autoren in handli- chem Taschenformat» vorgelegt hatte (vgl. Haller 1948, S. 74 – 118).

347 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

eindringliche Weise eine Kritik am stumpfen Grenzwachdienst und das Helden- tum der Soldaten. Haller erzählt die Geschichte aber aus Sicht eines Deserteurs, der einem Bunkerkoller erliegt und zu seiner Bauernfamilie heimkehrt, dann reumütig zurückläuft und nicht vor ein Kriegsgericht muss, da der zuständige Hauptmann beide Augen zudrückt. Diese Geschichte war kein unterkomplexes moralisches Lehrstück, nicht einfach eine Variante der Geschichte des verloren Sohnes im Schweizer Solda- tenkleid. Der eigentliche Held in Hallers «Fahnenflucht» ist der Vater des Bau- ernjungen, der in einer rückblickenden Erzählung während des Ersten Weltkrie- ges Dienst geleistet und dort die eigenen Kameraden davor bewahrt hatte, von einem Erdrutsch verschüttet zu werden. Der Bunkerkoller des Sohnes wird mit dem Schicksal eines (wahrscheinlich) jüdischen Flüchtlingsmädchens aus Frank- reich kontrastiert, das paradigmatisch für die Gräuel stand, die sich zeitgleich in den Konzentrationslagern ereigneten. Wie bei Ernst Kappeler auch war das Glück der Schweizer, vom Krieg verschont worden zu sein, nicht den Soldaten im Ak- tivdienst geschuldet, sondern reiner Zufall. Dass der Tod von Soldaten in der Erzählung von fälschlicherweise verschossener Munition und von rutschenden Berghängen herrührte, lieferte dafür ein starkes Bild. Zugleich wurde der Zusam- menhang der Generationen über den Aktivdienst beschworen. Die Funktion der Armee war in Hallers Geschichte nicht die – aussichtslose – Verteidigung des eigenen Landes im Falle eines Angriffs durch die Achsenmächte. Vielmehr sollte die Armee den inneren nationalen Zusammenhalt stärken und bot Gele- genheit, echten Heldenmut zu zeigen.

4. Der Soldat zwischen Abenteuer, Beruf und Atomkrieg Schweizer Soldaten traten in der Schweizer Jugend erstmals 1951 auf, in einer Bild- strecke zum Blutspenden.55 Auch das Motiv der Verberuflichung des Soldatischen fand sich nun, in einem Artikel zur Fliegerstaffel und einem zu den Übermitt- lungstruppen.56 Das Problem der gleichermassen männlichen und weiblichen Leserschaft spiegelte sich darin, dass auch der Frauenhilfsdienst (FHD) mit ei- nem eigenen umfassenden Artikel bedacht wurde.57 In einer Sondernummer zum Nationalfeiertag wurde 1954 dem Kriegsausbruch 1914 und 1939 gedacht – zwei Daten, die für die junge Leserschaft des Blattes bereits weit zurücklagen.

55 Imfeld, H.: Rekruten spenden Blut. In: Schweizer Jugend, 20 (1951), S. 470. 56 Wetter, E.: Vom Fliegerrekrut zum Vampirepilot. In: Schweizer Jugend, 47 (1952), S. 1124 – 1126; Schenker, W.: Unsere Armee braucht Funker. In: Schweizer Jugend, 32 (1952), S. 761. 57 Weitzel: Der Schweizerische Frauenhilfsdienst. In: Schweizer Jugend , 18 (1954), S. 420 – 422; siehe auch o.A.: FHD des Übermittlungsdienstes. In: Schweizer Jugend, 11 (1956), S. 250f.

348 20. Jahrhundert

Hanselmann sah auch gar keinen Bedarf einer Mobilisierung der Jugend für das Militär. Der anschliessende Artikel gemahnte die Jungen und Mädchen vielmehr reich bebildert an ihre Dankespflicht gegenüber der älteren Generation.58 Beson- ders wurden die zivilen Leistungen des Militärs gewürdigt, der Einsatz der Sani- tätshunde oder der Soldaten beim Brückenbau. Eine andere Nummer zum 1. August 1959 widmete sich im Reportagestil einem «Nahkampf-Ausbildungskurs für Offiziere»59 und enthielt sich jeglicher Einordnung in den gesellschaftlichen oder politischen Kontext. Bilder und Interpunktion zielten aber auf eine span- nende Inszenierung. Das Übungsgelände erschien hier als einer jener Abenteu- erspielplätze, wie sie in dieser Zeit in den Schweizer Städten vermehrt eingerichtet wurden. In der katholischen Jungmannschaft kamen parallel vermehrt Mitglieder des militärischen Führungspersonals zu Fragen der Motorisierung, der Ausstattung und Beschaffung selbst zu Wort und wurden von der Redaktion freundlich kom- mentiert. Die beigefügten Fotografien sollten vor den monströsen Fahrzeugen, über die die Armee nun verfügen konnte, Respekt einflössen: «Dieser Lastzug wiegt 100 Tonnen!»,60 hiess es etwa in einer Bildlegende. Der Motorradfahrer auf einer anderen Abbildung war aus der Froschperspektive fotografiert, sodass er ebenfalls gross und mächtig wirkte. Immer selbstbewusster präsentierte sich die Armee im Laufe der 1950er- Jahre sowohl in der weltlichen als auch in der katholischen Jugendpresse. Selbst die innermilitärischen Auseinandersetzungen darüber, ob die Infanterie ausrei- chend ausgestattet sei, bekamen in der Jungmannschaft nun einen eigenen Artikel, in dem der Autor sehr ins kriegstechnische Detail ging.61 Die Fernmeldetechnik wurde ebenfalls anerkennend und reich bebildert auf dem aktuellen Kenntnis- stand dargestellt.62 Für den Mechaniker liess sich konstatieren, dass sich hier «soldatische und berufliche Grundsätze in glücklicher Weise»63 zusammenbrin- gen liessen. Die Fotografien ähneln in diesem Zusammenhang den zeitgenössi-

58 Hanselmann, H.: Zum 1. August. In: Schweizer Jugend, 31 (1954). 59 Schmutz, Ferdinand: Der Sanitätshund. In: Schweizer Jugend, 15 (1956), S. 350 – 352; o.A.: Soldaten bauen Brücken. In: Schweizer Jugend, 31 (1959), S. 731f.; Bickel, Alice: Operation «Geröllhalde». In: Schweizer Ju- gend, 31 (1959), S. 736f.; siehe auch Bickel, Alice: Mit Sturmgewehr und Kampfanzug. In: Schweizer Ju- gend, 31 (1960), S. 744f. Der erste sogenannte Robinsonspielplatz der Schweiz wurde 1954 in Zürich eröff- net und gemeinsam von Pro Juventute und dem Quartierverein Wipkingen initiiert. Vorbild waren die so- genannten Trümmerspielplätze im Nachkriegseuropa. Vgl. Mugglin, Gusti: Robinson kehrt zurück. In: Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 59, 12 (1955), S. 185 – 187. Die Reportagen wurden verfasst von Alice Bickel, die 1960 mit dem Spionageroman Die Spur führt nach Osten debütierte und anschliessend zahlrei- che Detektiv- und Abenteuerromane publizierte (vgl. Schuder 1999, S. 55). 60 O.A.: Heeresmotorisierung für uns unerlässlich. In: Jungmannschaft, 4 (1959), S. 26f. 61 O.A.: Einzelkämpfer und schwere Waffe. In: Jungmannschaft, 46 (1959), S. [308]. 62 Honneger: Die Übermittlung, ein unentbehrliches Hilfsmittel. In: Jungmannschaft, 47 (1959), S. 316. 63 O.A.: Unsere Armee braucht fähige Mechaniker. In: Jungmannschaft, 51 (1959), S. 349.

349 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

schen Darstellungen der technischen Ausbildungsberufe in den entsprechenden Fachzeitschriften. Zugespitzt fand sich diese Verberuflichung des Soldatischen in einer sechsteiligen Bildreportage der Schweizer Lehrlings-Zeitung, die sich No- vember 1963 unter dem Titel «Du wirst Soldat»64 der Schweizer Armee widmete, als gehe es hier um eine gemeine Berufswahlentscheidung. Das unabhängige, kommerziell vertriebene Blatt richtete sich explizit an meist männliche, technik- begeisterte Lehrlinge, kämpfte gegen Schmutz und Schund in der Literatur und begegnete seinen Adressaten, zumindest in den ersten Jahren, ausgesprochen paternalistisch.65 Das militärische Auswahlverfahren schilderte der Redaktor als eine Art Assessment und wies darauf hin, wie wichtig es sei, für jeden männlichen Rekruten «den ihm gemässen Platz»66 auszumachen. Die Wünsche der jungen Männer könnten zwar Berücksichtigung finden, wenn auch die militärischen Kalküle immer vorgingen: Letztlich lasse sich aber «überall ein anregender und abwechslungsreicher Dienst»67 erwarten. Die Schilderung der einzelnen Truppengattungen ähnelte nun einer üblichen Berufskunde, wie sie sich in der Hochkonjunktur im zivilen Bereich häufig finden lässt: Meist fotografisch anspruchsvoll bebildert, vom Verband für Berufsberatung verantwortet oder von den Firmen direkt herausgegeben, sollten die Berufsbilder in Zeiten knapper werdenden Personals helfen, den zukünftigen «Lehrlingen» und «Lehrtöchtern» bei der Berufswahlentscheidung zu helfen.68 Auf ähnliche Weise wurden nun die «Infanterie – Königin der Waffen»,69 die «Artillerie – Mittel des Fernkampfes»,70 die «Mechanisierten und Leichten Truppen»,71 die «Fliegertruppe – schnell und beweglich»72 sowie die «Hilfstruppen und Dienste – Verantwortung für Menschen und Material»73 in ihren Grundzügen dargestellt, Organisation, Waffen und Anforderungen besprochen und mit Bildmaterial il- lustriert. Eine neue Dringlichkeit diesseits von Beruflichkeit und nationalem Gedenken bekam die Armeefrage durch die atomare Bedrohungssituation.74 In der katho- lischen Jungmannschaft sprach sich 1958 ein Redaktor für die atomare Bewaffnung

64 Schweizer Lehrlings-Zeitung, 5, 11 (1963). 65 Eigenmann/Geiss 2016. 66 Vogt, M.: Du wirst Soldat. Teil 1. In: Schweizer Lehrlings-Zeitung, 5, 11 (1963), S. 172. 67 Ebd., S. 173. 68 Angehrn 2015. 69 Brunner: Du wirst Soldat. Teil 2. In: Schweizer Lehrlings-Zeitung, 5, 12 (1963), S. 188f. 70 Vogt, M.: Du wirst Soldat. Teil 3. In: Schweizer Lehrlings-Zeitung, 6, 1 (1964), S. 4f. 71 O.A.: Du wirst Soldat. Teil 4. In: Schweizer Lehrlings-Zeitung, 6, 2 (1964), S. 20f. 72 Krucker, F.: Du wirst Soldat. Teil 5. In: Schweizer Lehrlings-Zeitung, 6, 3 (1964), S. 43f. 73 Krucker, F.: Du wirst Soldat. Teil 6. In: Schweizer Lehrlings-Zeitung, 6, 4 (1964), S. 52. 74 Zur öffentlichen Auseinandersetzung mit der nuklearen Frage vgl. Wollenmann 2004, S. 38 – 50; zu den verschiedenen Positionen innerhalb armeenaher Kreise siehe Braun 2006, S. 400 – 431.

350 20. Jahrhundert

der Schweiz aus und bewunderte die Atomverbände der NATO in Norditalien. Auch hier bildeten die Illustrationen aber nicht einfach Waffenarsenale oder militärische Dispositive ab, sondern stellten einen Soldaten in Aktion dar. Der Blick des Betrachters war der Blick des Soldaten, der einen Sprengkopf vor sich sieht und gerade den Abschuss der Rakete auslöst.75 Atomwaffen schienen den Redaktoren «auch vom christlichen Standpunkt»76 aus angezeigt. Der Gegner in dieser Debatte war die kirchliche Kritik an einer Ausstattung der Schweizer Armee mit atomaren Sprengköpfen.77 Für die Schweizer Jugend liess sich das Thema der atomaren Bewaffnung auch hinsichtlich der Technisierung und Motorisierung der Armee lesen. Zwei Fotos – wieder in der Jungmannschaft – bildeten in diesem Zusammenhang einen Landwirt zunächst in Zivil und dann in Uniform auf einem Militärjeep in nahe- zu exakt gleicher Haltung ab. Im Begleittext stellte der Bauer der Armee ein gutes Zeugnis aus: «Wenn der WK nicht gerade auf den Heuet oder die Ernte fällt, so kann ich mich über den Wehrdienst wirklich nicht beklagen; er hat mir grosse Vorteile auch für mein ziviles Leben gebracht.»78 Die proatomaren und militäraffinen Darstellungen in dem Blatt für die männ- liche katholische Jugend blieben nicht unwidersprochen. 1960 reagierte anonym ein Schweizer Soldat, «nicht einmal ein Herr Oberst»,79 auf die Kritik, die ein «Hochschulstudent aus Baselland»80 an der Berichterstattung geäussert hatte. Artikel zu Fragen der Landesverteidigung und zur Armee schienen dem jungen Redaktor aber aus einer Reihe von Gründen angebracht. Fragen der atomaren Bewaffnung seien Fragen, die weit in die Zukunft reichen würden, die Jugend also in späterer Zeit direkt beträfen, also auch von dieser behandelt werden müssten. Gerade Katholiken würden immer wieder verdächtigt, sich den drän- genden aktuellen Themen nicht zu widmen. Diese «katholischen Minderwertigkeitskomplexe»81 könnten nur angegangen werden, wenn man sich

75 O.A.: Atomwaffen für die Verteidigung. In: Jungmannschaft, 35/36 (1958), S. 220. 76 O.A.: Eine Frage des Gewissens. In: Jungmannschaft, 4 (1959), S. 26. 77 O.A.: Die atomare Bewaffnung und der Schweizersoldat. In: Jungmannschaft, 47 (1959), S. 317. Zum Anti­ atomprotest in der Schweiz nach 1958 siehe Brassel/Tanner 1986, S. 64 – 70. 78 O.A.: «Ich fasste meinen Jeep vor meinem Karabiner!» In: Jungmannschaft, 35/36 (1958), S. 220. 79 O.A.: Unsere Aussprache: Atombewaffnung – ja oder nein? In: Jungmannschaft, 5 (1960), S. 34. In späte- ren Nummern folgten ungeachtet der Kritik weitere Artikel, die aus dem Innenleben der Armee berichte- ten und bereits viel Wissen voraussetzten (vgl. o.A.: Soldaten im Überkleid. In: Jungmannschaft, 6 (1960); o.A.: Panzer – die Waffe des Atomkrieges. In: Jungmannschaft, 7 (1960), S. 51; o.A.: Unsere Infanterie nach der Armeereform. In: Jungmannschaft, 45 (1960), S. 300; o.A.: Armeereform: Neue Taktik der Verteidi- gung. In: Jungmannschaft, 5 (1961), S. 35; o.A.: Atomare Bedrohung. In: Jungmannschaft, 48 (1961), S. 313). Auch im Vorfeld der Abstimmung über die Volksinitiative «für ein Verbot von Atomwaffen» richtet sich die Jungmannschaft entsprechend aus (vgl. o.A.: Tatenlos zusehen? In: Jungmannschaft, 7 (1962), S. 101). 80 O.A.: Unsere Aussprache: Atombewaffnung – ja oder nein? In: Jungmannschaft, 5 (1960), S. 34. 81 Ebd.

351 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

auch mit Krieg und Bewaffnung auseinandersetze. Ein angeblich «einfacher Mechanikerlehrling»82 aus dem Aargau sekundierte den Kommentar kenntnis- reich und schilderte die Notwendigkeit der Atombewaffnung. Als in der Schweiz Stimmen laut wurden, der weltbekannte deutsche Anti- kriegsfilm «Die Brücke» (1959) habe eine wehrzersetzende Wirkung auf die Ju- gend, gesellte sich die Jungmannschaft überraschenderweise nicht einfach zu den Kritikern. Stattdessen hob sie unter Rückgriff auf Zuschriften und andernorts publizierte Artikel hervor, dass der Film nicht den Sinn von Militär und Armee infrage stelle, sondern auf die Gefahren ideologischen Denkens hinweise. Es sei zu hoffen, dass die Aussagen des Films nicht nur für die Verführung durch das Naziregime gelten, sondern auch für die bedrohte Jugend im Osten.83 Die promilitärische Berichterstattung wurde ergänzt durch eine direkte redak- tionelle Einbindung des militärischen Personals. Der Fürsorgechef der Armee schrieb einen Artikel zur «Soldatenmutter»,84 die sich aufopferungsvoll um die jungen Rekruten kümmere. Viel deutlicher als direkt nach dem Krieg wurden nun von der Redaktion die Notwendigkeit des Soldatischen für die Gesellschaft und die persönliche Entwicklung hervorgehoben und die Zeit der Rekrutenschu- le als selbstverständlicher Teil des Lebens junger Männer dargestellt. Die Foto- grafien stellten, neben den üblichen Actionszenen, warmherzige Kameradschaft und Sorge ins Zentrum.85 Gefühlig wurde 1961 auch Willy Zuber eingeführt, Sektionschef der Flugab- wehr, der sich als ehemaliges Mitglied der Jungmannschaft für ein Interview zur Verfügung gestellt hatte. Der Instruktionsoffizier, «aufrecht und gereift»,86 ging «in seiner freundlichen Art»87 umfassend auf alle Fragen des Interviewers ein. Als er auf die Kritik an der Armee durch die Rekruten angesprochen wurde, tat er diese als Einzelfälle ab, die die massenhaft positiven Erfahrungen mit der Armee und die guten späteren Erinnerungen der Soldaten in keiner Weise infra- ge stellen würden. Das Thema, das Zuber hier noch unter Verweis auf die Vorbildfunktion der Aktivdienstler relativ mühelos vom Tisch wischen konnte, blieb nun aber auf der Tagesordnung. Anfang der 1960er-Jahre wurde im Jungmannschaftsverband ein Imagewechsel angestrebt. Man wollte weniger angepasst erscheinen und auch

82 Ebd. 83 O.A.: Filme der Zeit: Die Brücke. In: Jungmannschaft, 10 (1960), S. 76f. 84 Bracher: Die Soldatenmutter. In: Jungmannschaft, 30/32 (1961), S. 204. 85 Ebd.; o.A.: Zur Rekrutenschule. In: Jungmannschaft, 5 (1961), S. 33. Zu den Motiven Kameradschaft und Verantwortung siehe auch W.B.: Panzersoldaten: Männer mit Verantwortung. In: Jungmannschaft, 3 (1962), S. 39. 86 O.A.: Interview des Monats: Oberst Willy Zuber, Bern. In: Jungmannschaft, (1961), S. 76f. 87 Ebd.

352 20. Jahrhundert

für eine kritischere Jugend attraktiv sein.88 Paolo Brenni, der Präses des Verban- des, schrieb den «Rekruten»89 zwar 1966 durchaus einige armeefreundliche Überlegungen «ins Album»,90 äusserte aber auch Verständnis für die Enttäu- schungen, die mit dem Militärdienst einhergingen, und richtete sich im Verbands­ organ sogar an «eingefleischte Antimilitaristen».91 Oskar Käch, ein promovierter Oberstleutnant im Generalstab, stellte parallel Überlegungen über Kosten und Nutzen der Schweizer Armee an und verwies vor allem auf die Erziehungsfunktion des Militärs. Auf den Artikel folgte eine Debat- te zur Dienstverweigerung, in der Leser der Zeitschrift und Mitglieder des Mili- tärdepartments Stellung nahmen. Anlass der Auseinandersetzung war der Einzug Arthur Villards, eines umstrittenen Linkssozialisten und verurteilten Dienstver- weigerers, in den Grossen Rat von Bern.92 Die Gesellschaft der Feldprediger hatte sich zudem gerade für die Möglichkeit ausgesprochen, einen Zivildienst einzurichten. Paolo Brenni forderte eine gewisse Toleranz gegenüber den Mili- tärkritikern: «Ich glaube, es gereicht dem Volk zur Ehre, wenn es selbst Menschen mit falsch gewickelten Gewissen toleriert und erträgt.»93 Unter ihren Klarnamen trugen sechs Leser zudem ihre Argumente für und gegen die Bestrafung von Dienstverweigerern vor. Im selben Jahr hielt Karl Schmid, Germanist, zeitweilig Rektor der ETH Zürich und einflussreicher Publizist, einen Vortrag vor Sanitätsoffizieren und stellte verschiedene «Mutmassungen über die Zukunft der Armee»94 an. Schmid zeich- nete das Bild einer Armee, die ähnlich der katholischen Kirche nicht sehe, dass ihr die Funktion abhandenzukommen drohe. Die militärische und politische Debatte zur angemessenen Ausgestaltung des Militärs bediene sich weiterhin der Bilder des Aktivdienstes und passe nicht mehr zu einer Situation, in der der atomare Erstschlag ein Handeln nach taktischen und strategischen Gesichtspunk- ten fraglich erscheinen lasse. Schmid redete nicht einer Abschaffung der Armee das Wort. Er glaubte aber auch nicht, dass sich eine auf den konventionellen Krieg hin ausgebildete und ausgerüstete Armee noch langfristig rechtfertigen lassen würde. Sich und den anwesenden Sanitätsoffizieren bescheinigte er stattdessen, als «unverbesserliche

88 Hayoz 1993, S. 131. 89 Brenni, Paolo: Unseren Rekruten ins Album. In: Jungmannschaft, 13 (1966), S. 1, 4. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Stettler 2012. 93 O.A.: Soll man Dienstverweigerer strafen? In: Jungmannschaft, 13 (1966), S. 5. 94 Schmid [1966], S. 7f. Der Text wurde 1968 auch in der Schweizerischen Zeitschrift für Militärmedizin, 1 (1968), S. 3 – 16, abgedruckt und ist in die Werkausgabe eingegangen. Zu Schmids Position zur Atombe- waffnung vgl. Sprecher 2013, S. 342 – 345.

353 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Romantiker» an einem Soldatentum festzuhalten, das sich an den eigenen Er- fahrungen orientiere und das von der Jugend gar nicht mehr verstanden werde. Die Sehnsucht nach der eigenen, unweigerlich vergangenen Jugend, aber auch die erfahrenen Härten des Militärs, die Erfahrung, dem Vaterland zu dienen und Teil einer Nation zu sein, verstellten den Blick auf die Begründungsbedürftigkeit einer konventionellen Milizarmee in Zeiten der atomaren Bedrohung.95 Dennoch hatte das Militär für Schmid weiterhin eine wichtige Funktion. In Zeiten von verschulter Wohlstandsgesellschaft und beruflichen Karrieren «auf dem Millimeterpapier dieser durchorganisierten Nation» könne die Armee «zu ein paar elementaren Erfahrungen und Erlebnissen» verhelfen: «Es liesse sich durchaus denken, dass man auch in der pazifizierten Zukunft etwas Ausgezeich- netes unternähme, wenn man die jungen Menschen für eine gewisse Zeit in eine Lage brächte, wo sie auf vergleichsweise primitive Art Hunger und Durst, Kälte und Hitze, Nacht, Wind und Wetter erführen und bis an die Grenze ihrer physi- schen und moralischen Leistungsfähigkeit beansprucht würden; man müsste alle elementaren Kräfte und Fähigkeiten der technischen Improvisation, des Sich-zu- helfen-Wissens aus ihnen hervorrufen.»96 Karl Schmid ging so weit, infrage zu stellen, ob diese Armee im weiteren Sinne, diese Schule der Nation ohne militärische Funktion noch als Armee und ihre Angehörigen noch als Soldaten bezeichnet werden müssten. Nur indem man aber der nachwachsenden Generation, für die der Krieg im herkömmlichen Sinne gar keine reale Option mehr darstelle, wirklich etwas anzubieten habe, mache man sich wahrhaft unabhängig von den Launen gesellschaftlicher Kom- munikation. Dieses Programm bedeute keine Herabsetzung des Soldaten, son- dern eine «Aufwertung des Militärdienstes als Institut der Menschenbildung».97 Für diesen «militärischen Schwanengesang» würde er noch «aus der Offiziers- gesellschaft ausgestossen werden, als subversiver Defätist», schrieb Schmid we- nige Monate vor seinem Vortrag an einen Professorenkollegen,98 der ebenfalls an der ETH lehrte. Schmids Entwurf für eine Armee der Zukunft ging ja nicht davon aus, dass diese durch Rebellentum, Intellektualismus und Wohlstandsver- wahrlosung der Jugend in eine Krise geraten sei. Die Gründe wurden stattdessen in der gesellschaftlichen Funktion der Armee gesucht. Letztere war Dreh- und Angelpunkt der Ausführungen.

95 Schmid [1966], S. 10f. 96 Ebd., S. 12f. 97 Ebd., S. 15f. 98 Karl Schmid an Adolf Max Vogt vom 16. August 1966.

354 20. Jahrhundert

Tatsächlich wurde seit 1968 der Ton in der Jugendpresse deutlich militärkri- tischer. Die katholische Jungmannschaft wechselte den Namen und hiess fortan Team: die Zeitschrift der jungen Generation, zielte auf Jungen und Mädchen und verabschiedete sich nach und nach von ihren konfessionellen Wurzeln, bis diese kaum noch nachzuweisen waren. Unter der redaktionellen Betreuung von Oth- mar Beerli widmete sich das Blatt deutlich offener Fragen der jugendlichen Se- xualität99 und brachte eine hart bebilderte Sondernummer zum Thema Vietnam, die viele Leserreaktionen provoziert.100 Beerli reiste daraufhin als Begleiter einer Caritas-Mission und als Korrespondent selbst nach Vietnam.101 Othmar Beerli, einst gelernter Buchhalter und später einmal Verleger des Musenalp-Express, der zeitweilig grössten Jugendzeitschrift der Schweiz,102 be- richtete aber der Jugend nicht nur über den Krieg im fernen Vietnam, sondern auch dem Schweizer Militär über die mentale Verfasstheit der hiesigen Jugend. Im Auftrag des Militärdepartements und im Rückgriff auf eine Umfrage, die er als Redaktor der Jugendzeitschrift durchgeführt hatte, nahm er in diesem Zu- sammenhang ausführlich zu den Bedürfnissen der nachwachsenden Generation Stellung.103 Für die Schweiz entstand in dieser Zeit eine ganze Reihe von Untersuchungen, die sich methodisch mehr oder weniger kontrolliert den Einstellungen Jugendli- cher der Armee gegenüber befassten. Die Tauglichkeitsprüfungen im Zuge der Aushebungen wurden dabei eng geführt mit den Ergebnissen von Umfragen durch Meinungsforschungsinstitute, militärinterne Untersuchungen zu Diszip- linarstraffällen und Jugendreportagen für den breiteren Buchmarkt.104

5. Versuch eines Resümees Die Thematisierung von Militär, Krieg und Soldatentum stand in der Jugendpres- se immer im Zeichen einer Auseinandersetzung über den gesellschaftlichen Zu-

99 Tschirren 1998, S. 145 – 147. 100 Jungmannschaft, 1 (1968); o.A.: Vietnam: Kernfragen an den Christen. In: Jungmannschaft, 5 (1968), S. 16f. 1972 entschied der Jungmannschaftsverband aus finanziellen Gründen, das Blatt abzustossen. Im Verlag war es zu einem Zerwürfnis mit dem Chefredaktor Peter Holenstein gekommen, der das Blatt deutlich nach links gerückt hatte (vgl. Ernst, Joachim: «team» redivivus. In: Neue Zürcher Zeitung vom 30. Juli 1973). 101 Beerli, Othmar: Ein grausam makaberer Krieg. In: Jungmannschaft, 9 (1968). 102 Hagenbüchle, Walter: Von einem Schwanengesang der Alpenmusen? In: Neue Zürcher Zeitung vom 27. Juli 1990. 103 Beerli 1972. Auf ähnlich kreativem Weg kommt Kurt Wälti, Oberst und im zivilen Leben Gymnasiallehrer, an entsprechende Informationen, indem er in seiner eigenen Schule, dem Städtischen Gymnasium in Thun, selbst Erhebungen vornahm (vgl. Waelti 1970). 104 Vgl. etwa Wetter o.J. Unter demselben Titel erschien eine Fassung des Aufsatzes in Flugwehr und -Technik, 6 (1969), S. 165f., 171 – 173; vgl. ebenfalls Walser 1972. In seinem Buch Der Aufstand der Söhne hat der Journalist Alfred Häsler auch – auf der Grundlage einer nicht repräsentativen Befragung von Studierenden, Maturandinnen und Maturanden sowie angehenden Lehrkräften – die Themen Landesverteidigung und Armeeorganisation behandelt (vgl. Häsler 1969, v. a. S. 138 – 145).

355 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

sammenhalt. Die Schweizer Armee repräsentierte dabei die alte, männlich verfasste, als Miliz formierte Erfahrungsgemeinschaft, in der die reproduzierte Ordnung nicht infrage gestellt werden sollte und alles Handeln einem gemein- samen Ziel untergeordnet schien. Über die Adressierung «der Jugend» liessen sich diese hergebrachten, sich selbst bestätigenden Entwürfe vermehrt irritieren. Davon machten die Redaktoren zunehmend regen Gebrauch. Gesellschaftliche Einheit konnte konstruiert werden, wo die Mobilisierung der Jugend im Zeichen von Aktivdienst und Geistiger Landesverteidigung ungebro- chen fortgeschrieben wurde. Im Kontext des Antikommunismus wurde weiterhin eine juvenile Begeisterung für die Armee behauptet. Möglichen gesellschaftlichen Auflösungstendenzen musste dann nicht aktiv begegnet werden. Das stellte sich anders dar, wenn der Systemkonkurrent nicht als Feindbild fungierte. Hier konnte genüsslich zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Rekrutenschule und Wiederholungskurs unterschieden und aus dem Alltag der Soldaten berichtet werden. Dies war auch ein Angriff auf die Eidgenossenschaft als Willensgemeinschaft. Wenn aber das nationalpädagogische Programm durch- aus mitgetragen wurde, die Geistige Landesverteidigung in all ihrer Strenge aber nicht mehr, mussten Strategien wie die Fiktionalisierung des Militärischen oder seine Didaktisierung eingesetzt werden, um dem Gegenstand beizukommen. Hier wurde dann der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht mehr über ein Lob des Soldatischen eingefordert, sondern es wurden alternative Varianten männlichen Heldentums skizziert oder andere Möglichkeiten der pädagogischen Bearbeitung des Generationenverhältnisses eingeführt. Da sich die gesellschaftliche Ordnung der Schweiz aber nicht nur über den Konkurrenten im Osten herausgefordert sah, sondern auch von innen her Un- gemach in Form einer Wohlstandssattheit zu drohen schien, mussten weitere Strategien Einsatz finden, um dem diagnostizierten Zerfall entgegenzuwirken. Als dominante und wirksamste Form darf hier die Strategie der Verberuflichung gelten, die das Soldatenleben in eine Reihe mit anderen Tätigkeitsformen der Arbeitswelt stellte. Männliche Technikbegeisterung und kindliche Abenteuerlust waren in diesem Zusammenhang sekundierende Routinen, als die Einsatzfähig- keit der Armee im Zeichen eines möglichen Atomkrieges fraglich geworden war. Über all dem schwebte aber in Armee und Gesellschaft der Vorwurf, dass die männliche Jugend durch die anhaltend gute Lage auf dem Arbeitsmarkt verweich- licht werde und sich etwa über Dienstverweigerung einfach den Härten des Mi- litärdienstes entziehen wolle. Diese Deutung schien aber nicht mehr ohne wei- tere Fundierung auszukommen, was die Zahl an grösseren und kleineren empi-

356 20. Jahrhundert

rischen Untersuchungen zu Einstellungen und Meinungen der Jugend zur Armee erklärt. Zuletzt ergibt die Auswertung der Jugendpresse, dass die Einheit der schwei- zerischen Gesellschaft nicht mehr allein entlang männlicher Lebensläufe reflek- tiert werden konnte. In denjenigen Zeitschriften, die gleichermassen Jungen und Mädchen ansprechen sollten, zeigte sich diese Ambivalenz bereits früh. Aber selbst in den Blättern für die katholischen Jünglinge sind entsprechende Verun- sicherungen in der üblichen Art der Berichterstattung auszumachen. Auch der anschliessende Konjunktureinbruch konnte das nicht mehr rückgängig machen.

Bibliografie

Systematisch ausgewertete Zeitschriften Freie Jugend Jugend: Zeitschrift für die Schweizerjugend Jugendwoche Jungmannschaft/Team Schweizer Jugend Schweizer Lehrlings-Zeitung

Ungedruckte Quellen Beerli, Othmar: Pilotstudie Information Jugend und Armee: die Information der 15- bis 19-jährigen Jugendlichen über Landesverteidigung und Armee. Bern: Sektion Information des EMD 1972. Schmid, Karl: Das Vertraute und das Unvorstellbare: Mutmassungen über die Zukunft der Armee. o. O. [1966]. Waelti, Kurt: Vorakademische Jugend und Militärdienst. Referat an der Konfe- renz der Waffenplatzpsychiater vom 23. April 1970. Hünibach: o. V. 1970. Walser, Erasmus: Jugend und Armee. Ein Versuch über Entfremdung. Diskus- sionsgrundlage: Literaturbericht über die Einstellung Jugendlicher zu Mili- tär und Landesverteidigung mit besonderer Berücksichtigung von Fragen der Motivation und Erziehung. Angefertigt im Auftr. der Kommission Ju- gend und Armee der Freisinnig-demokratischen Partei der Schweiz. o. O.: o. V. 1972.

Gedruckte Quellen Gutersohn, Alfred: Wohlstandsgesellschaft und Wirtschaftswachstum. In: Internationales Gewerbearchiv, 12, 2 (1964), S. 49 – 65.

357 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Haller, Adolf: Die Schmugglerin und ihr Sohn. Basel: Reinhardt 1948. Häsler, Alfred Adolf: Der Aufstand der Söhne. Die Schweiz und ihre Unru- higen. Zürich: Verlag Ex Libris 1969. Heer und Haus (Hrsg.): Schweizer Jugend und Landesverteidigung: Schweizer- woche-Aufsatzwettbewerb 1943, in den Schulen des Landes, mit Ermächti- gung der kant. Unterrichtsdir. und unter dem Patronat von General Guisan. Bern: Hallwag 1943. Iten, Josef: Der Ruf des Vaterlandes. 2. Auflage. Luzern: Rex [1938]. Jurt, Joseph: Die Herausforderung Marcuses. In: Profil: Sozialdemokratische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, 48, 11 (1969), S. 305 – 315. Kappeler, Ernst: Grösse und Gefahr der Jugend. Zürich: Oprecht 1944. Schmid, Karl, an Adolf Max Vogt vom 16. August 1966. In: Rüdin, Sylvia (Hrsg.): Gesammelte Briefe. Zürich: NZZ Verlag 2000, S. 909. Schweizerischer Bundesrat: Botschaft über die Volksinitiative «für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik». In: Schweizerisches Bundesblatt, 2, 24 (1988), S. 967 – 995. Wanner, Fritz: Ist unsere Demokratie in der modernen Wohlstandsgesell- schaft noch lebensfähig? In: Schweizer Monatshefte, April 1967, S. 45 – 49. Wetter, Ernst: Die Einstellung der heutigen Jugend zum Militär. o.O.: Wetter, 1969.

Literatur Altermatt, Urs/Metzger, Franziska: Milieu, Teilmilieus und Netzwerke: Das Beispiel des Schweizer Katholizismus. In: Altermatt, Urs (Hrsg.): Katholi- sche Denk- und Lebenswelten. Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte des Schweizer Katholizismus im 20. Jahrhundert. Freiburg/Schweiz: Acade- mic Press 2003, S. 15 – 36. Angehrn, Céline: Berufsbilder. Das Tableau der modernen Arbeit. In: Bernet, Brigitta/Tanner, Jakob (Hrsg.): Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz. Zürich: Limmat Verlag 2015, S. 109 – 123. Bachem, Malte: Beruf und Persönlichkeit. Zuordnungsroutinen der Berufsbe- ratung in der Schweiz um 1920. In: Geschichte und Gesellschaft, 39, 1 (2013), S. 69 – 85. Brassel, Ruedi/Tanner, Jakob: Zur Geschichte der Friedensbewegung in der Schweiz. In: Forum für praxisbezogene Friedensforschung (Hrsg.): Hand- buch Frieden Schweiz. Basel: Z-Verlag 1986, S. 17 – 90.

358 20. Jahrhundert

Braun, Peter: Von der Reduitstrategie zur Abwehr: die militärische Landesver- teidigung der Schweiz im Kalten Krieg 1945 – 1966, Bd. 1. Baden: hier + jetzt 2006. Bruns, Claudia: « … ein Kampf der Jugend gegen das Alter»? – Der (anti-)bür- gerliche Jugendkult zwischen Revolution und Reaktion. In: Henning, Alb- recht/Vogel, Barbara (Hrsg.): Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg: Krämer 2006, S. 77 – 88. Criblez, Lucien: Bildungsexpansion durch Systemdifferenzierung – am Bei- spiel der Sekundarstufe II in den 1960er- und 1970er Jahren. In: Schweize- rische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 23, 1 (2001), S. 95 – 116. Degen, Bernard: Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA). In: Historisches Lexi- kon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D15312.php (Version vom 7.2.2006). Dudek, Peter: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugend- forschung in Deutschland und Österreich 1890 – 1933. Opladen: Westdeut- scher Verlag 1990. Eigenmann, Philipp/Geiss, Michael: There Is No Outside to the System: Pa- ternalism and Protest in Swiss Vocational Education and Training, 1950 – 1980. In: Berner, Esther/Gonon, Philipp (Hrsg.): History of Vocatio- nal Education and Training. Cases, Concepts and Challenges. Bern: Peter Lang 2016, S. 403 – 428. Eugster, David/Marti, Sibylle: Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa. Essen: Klartext 2015. Hayoz, Beat: Der Freiburgische Katholische Jungmannschaftsverband. In: Al- termatt, Urs (Hrsg.): Schweizer Katholizismus im Umbruch, 1945 – 1990. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1993, S. 117 – 134. Heese, Gerhard: Hanselmann, Heinrich. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9029.php (Version vom 27.11.2007). Jung, Joseph: Katholische Jugendbewegung in der deutschen Schweiz. Der Jungmannschaftsverband zwischen Tradition und Wandel von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Freiburg/Schweiz: Universi- tätsverlag 1988. Jung, Joseph: Von der Schweizerischen Kreditanstalt zur Credit Suisse Group: eine Bankengeschichte. Zürich: NZZ Verlag 2000. Marti, Sibylle: Hamstern für den Ernstfall. Konsum, Kalter Krieg und geistige Landesverteidigung in der Schweiz 1950 – 1969. In: Bernhard, Patrick/

359 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Nehring, Holger (Hrsg.): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte. Essen: Klartext 2014, S. 207 – 234. Meier, Bruno: Katholisch jung sein vor 50 Jahren: eine kleine Geschichte der katholischen Jungmannschaft Wettingen. In: Badener Neujahrsblätter, 78 (2003), S. 10 – 24. Mooser, Josef: «Geistige Landesverteidigung» in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen politi- schen Kultur in der Zwischenkriegszeit. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 47, 4 (1997), S. 685 – 708. Müller-Grieshaber, Peter: Schumacher, Edgar. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D12270.php (Version vom 22.10.2014). O.A.: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-Bibliographisches Handbuch. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 7. Bern: Francke 1979. Rohstock, Anne/Bernhard, Patrick/Nehring, Holger: Der Kalte Krieg im langen 20. Jahrhundert. Neue Ansätze, Befunde und Perspektiven. In: Bern- hard, Patrick/Nehring, Holger (Hrsg.): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte. Essen: Klartext 2014, S. 11 – 39. Roth, Lutz: Die Erfindung des Jugendlichen. München: Juventa Verlag 1983. Schild, Georg: Kommunisten-Phobie. Angst und Hysterie im Kalten Krieg. In: Aschmann, Birgit (Hrsg.): Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotio- nen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Steiner 2005, S. 86 – 100. Sprecher, Thomas: Karl Schmid (1907-1974) – ein Schweizer Citoyen. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2013. Schuder, Werner (Hrsg.): Kürschners deutscher Literatur-Kalender. Nekrolog (1971 – 1998). München: Saur 1999. Steiner, Alois: Der Rex-Verlag Luzern. In: Zeitschrift für schweizerische Kir- chengeschichte, 85 (1991), S. 171 – 193. Steffen Gerber, Therese: Heer und Haus. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8695.php (Version vom 29.11.2007). Stettler, Peter: Villard, Arthur. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D6724.php (Version vom 17.9.2012). Studer, Brigitte: Antikommunismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D27836.php (Version vom 23.3.2009). Tanner, Jakob: Die Schweiz in den 50er Jahren. Prozesse, Brüche, Widersprü- che, Ungleichzeitigkeiten. In: Blanc, Jean-Daniel/Luchsinger, Christine

360 20. Jahrhundert

(Hrsg.): Achtung: die 50er Jahre! Annäherungen an eine widersprüchliche Zeit. Zürich: Chronos 1994, S. 19 – 50. Tanner, Jakob: Militär und Gesellschaft in der Schweiz nach 1945. In: Frevert, Ute (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 314 – 341. Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2015. Tresch, Tibor Szvircsev: The Transformation of Switzerland’s Militia Armed Forces and the Role of the Citizen in Uniform. In: Armed Forces & Society, 37, 2 (2010), S. 239 – 260. Trommler, Frank: Mission ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen Deutschland. In: Koebner, Thomas/Janz, Rolf-Peter/Trommler, Frank (Hrsg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos Jugend. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 14 – 49. Tschirren, Martin: Ehe- und Sexualmoral im Schweizer Katholizismus, 1950 – 1975. Diskussion zwischen kirchlicher Autorität und Eigenverantwor- tung. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1998. Werner, Christian: Für Wirtschaft und Vaterland. Erneuerungsbewegungen und bürgerliche Interessengruppen in der Deutschschweiz. 1928 – 1947. Zü- rich: Chronos 2000. Wolfisberg, Carlo: Heilpädagogik und Eugenik. Zur Geschichte der Heilpäd- agogik in der deutschsprachigen Schweiz (1800 – 1950). Zürich: Chronos 2002. Wollenmann, Reto: Zwischen Atomwaffe und Atomsperrvertrag. Die Schweiz auf dem Weg von der nuklearen Option zum Nonproliferationsvertrag (1958 – 1969). Zürich: ETH 2004. Ziehr, Wilhelm/Mengis, Ferdinand (Hrsg.): Schweizer Lexikon. Volksaus- gabe in zwölf Bänden, Bd. 6. Visp: Verlag Schweizer Lexikon 1999.

Dr. Michael Geiss, Forschungsstelle «Bildung im Arbeitsleben», Institut für Erzie- hungswissenschaft, Universität Zürich; [email protected]

361 15 Programmierte Instruktion – gesteuertes 15Verhalten?

20. Jahrhundert

Eneia Dragomir

15. Programmierte Instruktion – gesteuertes Verhalten? Die Auseinandersetzungen um die Ausbildung der Schweizer Armee und die Anthropologie des Soldaten nach 1945

1. Einleitung Ausbildungsverfahren liegen immer bestimmte anthropologische Vorstellungen zugrunde. Der «Effekt wirklichen Drills» bestehe darin, dass er «gesunde Wil- lensenergie [ … ] stärkt und aufspeichert, und sie zu mächtiger Kraftäusserung be- fähigt», so Ulrich Wille, der Kopf der damaligen «Neuen Richtung» innerhalb des Schweizer Offizierskorps.1 Es war eine Sprache der psychischen Energien, deren er sich bediente, um 1901 einen zentralen Baustein seines Erziehungskon- zepts zu beschreiben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es Wille und sei- nen Parteigängern, die Ausbildung der Schweizer Armee um die «Erziehung zum Soldaten» neu anzuordnen.2 Die damalige «Neue Richtung» nahm Anleihen bei der industriegesellschaftlichen Anthropologie des «menschlichen Motors», der Vorstellung vom Menschen als einer Energie umwandelnden Kraftmaschine. Wie andere Verfahren der Industriegesellschaft zielten auch die Drillpraktiken auf die Nutzbarmachung der menschlichen Energien – physischer wie psychischer.3 Ein halbes Jahrhundert später, als der Epochenbegriff des «technischen Zeitalters» in den Auseinandersetzungen um die Zukunft der Schweizer Armee ein zentra- ler diskursiver Bezugspunkt war, zitierte der Instruktionsoffizier der Schweizer

1 Wille 1901, S. 146. 2 Vgl. Jaun 1999; Lengwiler 1995. 3 Vgl. Rabinbach 1992; Sarasin/Tanner 1998.

365 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Armee Lorenz Zollikofer einen Satz aus der britischen Zeitschrift Instructional Technique, mit dem er zugleich eine neue Anthropologie importierte: «All know- ledge flows into the human brain through one or more of the physical senses.»4 Zwar waren das Gehirn und die Sinne angesprochen, aber es flossen keine Energien mehr. Was strömte, war Wissen. Im «Zeitalter der Technisierung» rückte in der «technisierten Armee» die Aufnahme und Speicherung von Wissen und Kenntnissen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von reformorientierten Ausbildern wie Zollikofer. In die militärische Arbeitsteilung zwischen führenden Strategen und ausführenden Infanteristen hatten sich «Techniker» und «Wis- senschaftler» zwischengeschaltet. Mathematiker, Physiker und Ingenieure, die Waffensysteme entwickelten und herstellten, schienen im «Zeitalter der Atom- bombe» die Bedeutung der anderen beiden militärischen Figuren infrage zu stellen. Mit den Geräten und Waffensystemen, die sie entwickelten, stieg auch die militärische Bedeutung von Wissen und Fähigkeiten: Ihre Handhabung und die Vermittlung des dafür notwendigen Know-hows wurden zu einem immer drängenderen Problem.5 Reformorientierte Offiziere forderten neue Methoden und Verfahren, die nicht mehr der Regulation unbewusster psychischer Energi- en galten, sondern die Effizienz der Vermittlung von Wissen und Kenntnissen steigern sollten. Diesen neuen Verfahren lagen neue anthropologische Vorstel- lungen zugrunde. Mit dem Fokus auf die Entwicklung der Anthropologie des Soldaten nach 1945 soll ein Beitrag zur historischen Anthropologie der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts geleistet werden. Im Fazit seiner einflussreichen StudieThe Human Motor bemerkte der Kulturhistoriker Anson Rabinbach, dass die industriegesell- schaftliche Anthropologie des menschlichen Motors in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer anderen Vorstellung menschlicher Produktivität verdrängt worden sei.6 Nicht mehr der energieumwandelnde Motor, sondern der informationsverarbeitende Computer werde als Modell für die Anthropologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fungieren.7 Bisherige Forschungen zur «Transformation des Humanen» nach 1945 fokussieren stark auf die Geschichte der Kybernetik.8 Die Anthropologie des Soldaten nach 1945 ist hingegen ein

4 Zollikofer 1950, S. 175. 5 Vgl. Becker 1993, S. 11. 6 Vgl. Rabinbach 1992, S. 300. 7 Rabinbach 1998, S. 36f. Zur Bedeutung des Computers für die Vorstellung vom Subjekt vgl. Edwards 1996. 8 Vgl. vor allem Hörl/Hagner 2008. Insgesamt ist die historische Anthropologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig erforscht vgl. Morat 2006, S. 327. Eine Reihe von Forschungen, die dazu einen Beitrag leisten, finden sich unter dem Label «Zeitgeschichte des Selbst», vgl. stellvertretend Eitler/Elberfeld 2015.

366 20. Jahrhundert

weitgehend unerforschtes Feld.9 Anhand der Kritik an der soldatischen Erziehung und insbesondere der Rezeption des «programmierten Lernens» durch die Schweizer Armee soll gezeigt werden, dass eine Anthropologie der psychischen Energien durch eine informatisierte Anthropologie ersetzt wurde. Setzten die Erziehungs- und Drillverfahren auf der Ebene psychischer Energien an, um diese zu kanalisieren und aufzuspeichern, so wurde der Soldat – nicht erst mit dem «programmierten Unterricht» – als ein informationsverarbeitendes Wesen begriffen. Mit dem Transfer dieses Verfahrens und der ihm zugrunde liegenden Wissensbestände verschob sich die Aufmerksamkeit der Ausbilder von der Ka- nalisierung der Energien hin zur Regulation und Steuerung der Informations- flüsse. Der Beitrag behandelt die Auseinandersetzungen um die militärische Ausbil- dung als diskursive Ereignisse, in denen die Bedeutung technologischer, wissen- schaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen für die Armee und ihre Aus- bildung verhandelt wurden. Insbesondere die Diskussionen um Verfahren, ihre Legitimation und ihre Kritik, werden als Möglichkeiten aufgefasst, die Akteure dabei zu beobachten, wie sie wissenschaftliches Wissen aufgreifen und an eine konkrete Anwendungssituation anpassen.10 Insofern die Wissensgeschichte sich mit der Zirkulation und den (lokalen) Formen der Aneignung von technischem und wissenschaftlichem Wissen und mit der Konstellation von Wissen, Wissen- schaft, Technik und Gesellschaft befasst, verfährt der Beitrag wissenshistorisch.11 Im Folgenden werden die Auseinandersetzungen um die Ausbildung der Schweizer Armee bis Ende der 1970er-Jahre verfolgt. Begonnen wird mit der Kritik an der «Erziehung zum Soldaten» und an den Drillverfahren, die unmit- telbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Im zweiten Abschnitt des Beitrags wird die Suche nach den Methoden und Verfahren nachgezeichnet, mit denen die Schweizer Armee der Herausforderung technisierter Kriegführung begegnen wollte. Im Zentrum steht der Ansatz der «Rationalisierung durch Programmierung».12 Im letzten Abschnitt wird dem merkwürdigen Verschwin- den des Begriffs der «programmierten Instruktion» aus dem Sprachgebrauch eben jener Akteure nachgegangen, die sie zuvor propagiert hatten.

9 Ausnahmen bilden die wissenshistorische Studie Peter Galisons zur «Ontologie des Feindes» (Galison 1994) und soziologisch ausgerichtete Studien, bspw. Bröckling 1997; Kaufmann 2010. 10 Vgl. Bachem/Hackler 2012, http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-1801 (abgerufen am 16.06.2016). 11 Vgl. Speich Chassé/Gugerli 2012, S. 86. 12 Vgl. Hirschy 1969, S. 179.

367 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

2. Innere Zustände: Disziplin und/oder Können? Die Bewährungsprobe des Schweizer Soldaten erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Gemeint ist damit kein verspätetes Scharmützel mit versprengten Wehrmachtssoldaten, sondern eine publizistische Attacke. Diese kam von innen heraus, sogar von einem Berufssoldaten. Noch bevor der Philosoph Günther An- ders die Gelegenheit hatte, den Menschen angesichts der Technisierung seiner Umwelt für antiquiert zu erklären,13 nahm der junge Hauptmann Walther Allgö- wer die Antiquiertheitsthese für den menschlichen Spezialfall des Soldaten vor- weg. Der «fanatisch kämpfende Soldat» sei in der «Schlussphase des Krieges vom Techniker ausgespielt worden», so seine Deutung des Kriegsgeschehens.14 Dar- aus leitete er weitreichende Reformforderungen für den militärischen Dienst- und Ausbildungsbetrieb ab. Disziplin, Opferwille, Mut, Gehorsam – all diese soldati- schen Kardinaltugenden erklärte Allgöwer für obsolet. Maschinengewehre, Pan- zer und Flugzeuge – kurz: die «Technisierung» habe sie ihres militärischen Werts beraubt.15 Allgöwers Kritik kulminierte in der Forderung, «auf eine programma- tische, am abstrakten Soldatentum orientierte Erziehung» zu verzichten.16 Allgöwer war nicht der Einzige, der am militärischen Dienstbetrieb und an der Ausbildung Kritik übte.17 Die im Zweiten Weltkrieg sichtbar gewordene Technisierung der Kriegführung hatte militärische Selbstverständlichkeiten ins Wanken gebracht. War zu Beginn des Kriegs noch Kavallerie eingesetzt worden, erfolgte an seinem Ende der Abwurf von Atombomben. Wie der «Zukunftskrieg» oder die «Armee der Zukunft» aussehen würden, schien angesichts dessen kaum absehbar, die militärische Bedeutung des «Faktors Mensch» ungewiss.18 Ende der 1940er-Jahre wurde die «Spezialisierung der Ausbildung» versuchsweise in den Rekrutenschulen der Infanterie eingeführt. Dabei handelte es sich um eine der verfahrensmässigen Antworten auf eine Gefahr, mit der sich die Milizarmee in der Nachkriegszeit konfrontiert sah: dem «Dilettantismus in der Handhabung und im Einsatz neuer Waffen und Geräte».19 In der Infanterie hatte die Aufrüs- tung der Armee den zu vermittelnden Ausbildungsstoff in einem Masse anwach- sen lassen, das manche dem «Durchschnittsinfanteristen» nicht mehr zuzumu- ten können glaubten. Da der Stoff zu reichhaltig, die Waffen zu vielgestaltig -ge

13 Vgl. Anders 1985. 14 Allgöwer 1945, S. 654. 15 Vgl. ebd., S. 652ff. 16 Ebd., S. 661. 17 Neben Allgöwer im selben Heft bspw. auch Gessler 1945 und an anderer Stelle Dürrenmatt 1946. 18 Vgl. Uhlmann 1946b. 19 Wüest 1950, S. 693.

368 20. Jahrhundert

worden seien und die Aufnahmekapazitäten mancher Rekruten zu übersteigen schienen, sollte die Ausbildung spezialisiert werden.20 Um ein «solide[s] technische[s] Können» zu erreichen, wurden in den Rekru- tenschulen der Infanterie Gruppen gebildet, die sich in der Handhabung be- stimmter Waffen und Geräte spezialisieren sollten.21 Da es in der relativ kurzen «und daher kostbaren Ausbildungszeit» unmöglich sei, alle Angehörigen einer Kompagnie in der Handhabung aller Waffen zur «Höchstform» zu bringen, sollte sich beispielsweise allein die «kleinere Zahl der begabten Werfer in ihrem Können» an den Handgranaten spezialisieren.22 Mit der Spezialisierung der Ausbildung, die zwar innerhalb des Offizierskorps umstritten war, dennoch nach den Versuchen in der Infanterie auch in anderen Truppengattungen eingeführt wurde,23 ging eine veränderte Vorstellung vom Soldaten einher. Das Problem, das durch diese Massnahme gelöst werden sollte, war die Vermittlung von Infor- mation: Wie viel Ausbildungsstoff konnte ein Durchschnittsinfanterist in der relativ kurzen Ausbildungszeit aufnehmen und so speichern, dass er die vermit- telten Kenntnisse in späteren Diensten oder im Kriegsfall anwenden konnte? Mit welcher Aufnahmekapazität konnten die Ausbildungsplaner rechnen? Das Pro- blem der Regulation der Informationsflüsse rückte damit in den Mittelpunkt: Der Soldat der Spezialisierung war nicht der von physischen und psychischen Ener- gien durchströmte, sondern der «lernende Mann» mit einer bestimmten Aufnah- me- und Verarbeitungskapazität.24 Die Vorstellung vom Soldaten als lernendem Wesen war nicht nur eine Anth- ropologie des Übungsplatzes. Die Verfechter der Spezialisierung begründeten diese auch damit, dass solides technisches Können eine unabdingbare kognitive Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des Soldaten unter den Bedingungen des Schlachtfeldes darstelle. Da nicht vorhergesehen werden könne, unter wel- chen Bedingungen ihre «Feuertaufe» erfolge – als Stillhalten im Fliegerangriff, als Feuerüberfall durch gegnerische Panzer oder im eigenen Angriff – , müsse jeder Soldat «[u]nbekümmert um das Wie und Wo [ … ] richtig reagieren» können. Jeder sollte «nach ersten unwillkürlichen Reaktionen sich selbst auffangen und überlegt handeln können». Das könne jedoch nur von «innerlich sicheren Solda-

20 Vgl. Zingg 1949, S. 111f. 21 So sollten bspw. 70% zu Füsilieren, 10% zu Mitrailleuren und 20% zu Panzerabwehrschützen ausgebildet werden, vgl. Waffenchef der Infanterie: Die Durchführung der Spezialisierung in den RS im Hinblick auf die Bedürfnisse der Feldarmee. 08.03.1956. Schweizerisches Bundesarchiv Bern. E5360A#1969/4#566*). 22 Messner 1950, S. 224. 23 Bspw. bei den Leichten Truppen, vgl. Waffenchef der Leichten Truppen: Weisungen betreffend die Speziali- sierung in den Rekrutenschulen. Juli 1952. Schweizerisches Bundesarchiv Bern. E5420A#1972/1#581*). 24 Vgl. Zingg 1949, S. 114.

369 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

ten» erwartet werden.25 Dieser «innere Zustand» fusse aber nicht nur auf Diszi- plin, sondern vor allem auch «auf solidem technischen Können».26 Eine «nur an der Oberfläche bleibende Ausbildung» hingegen führe zum «Versagen unter den seelischen und körperlichen Belastungen des Kampfes».27 Als unabdingbare innere Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Soldaten auf den techni- sierten Schlachtfeldern war das technische Können damit an die Seite der Diszi- plin getreten: Es ersetzte die Disziplin zwar nicht, die Disziplin alleine reichte als innere Voraussetzung der Kampffähigkeit jedoch nicht mehr aus. Die Erinnerung an Allgöwer und seine Forderung hallt auch in den Texten nach, in denen der damalige Ausbildungschef Hans Frick Mitte der 1950er-Jahre gegen jene Stimmen im Schweizer Offizierskorps ankämpfte, die eine «straffe Disziplin als überflüssig» ansahen. Er forderte, dass der «formellen Waffenaus- bildung», wie sie neben dem Gewehrgriff die Achtungsstellung darstelle, «wie- derum der Platz in der Ausbildung eingeräumt» werde, der ihr zukomme.28 Achtungsstellung und Gewehrgriff seien «Konzentrations- und Selbstbeherr- schungsübungen», deren Ziel es sei, «den Soldaten weitgehend gegen die Ang- streflexe des Gefechtsfeldes immun zu machen».29 Um zu erklären, wie diese Immunisierung vonstattengehen sollte, bediente sich Frick einer psychologischen Begrifflichkeit, die noch entfernt an die Sprache der psychischen Energien erin- nerte, die Wille 1901 zur Beschreibung des «wirklichen Drills» verwendet hatte. Der Entwicklung der Kriegstechnik zum Trotz sei der «Krieg nach wie vor ein Kampf zwischen Menschen und nicht ein solcher zwischen Maschinen». Die Bedeutung der Disziplin bestehe auch im Zeitalter der Technisierung darin, es dem Soldaten zu ermöglichen, «die Angst zu überwinden und trotz schwerster Lebensgefahr unbeirrt seine Pflicht zu tun».30 Mit den Drillverfahren ziele die militärische Erziehung auf die «Schaffung bestimmter psychischer Reaktionen gegenüber bestimmten Situationen» ab. Diese psychischen Konstrukte würden, «je nach Umständen als Antrieb oder auch als Hemmung zu wirken haben».31 «Angst», «Reflexe», «Antrieb» und «Hemmung» – diese Begriffe deuten an, dass die Disziplinierungsverfahren auf einer mechanistischen Anthropologie psychi- scher Energien aufbauten.32 Für die Vertreter solcher Verfahren war der Übungs-

25 Orelli 1949, S. 247. 26 Ebd. (Herv. im Orig.). 27 Wüest 1950, S. 694. 28 Frick 1954, S. 495f. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 89f. 31 Ebd., S. 90. 32 Den ingenieurswissenschaftlichen Ursprung solcher Begriffe wie «Hemmung» oder «Energie» beleuchtet Ash 2003, S. 260.

370 20. Jahrhundert

platz immer noch der Ort, wo die energetische Psycho-Mechanik des Soldaten so kalibriert werden musste, dass sie auf den möglichen Schlachtfeldern quasi-au- tomatisch funktionierte und diesem dadurch «innere Sicherheit» verlieh.33 Frick und alle anderen, die in der Schweizer Armee die herkömmlichen Dis- ziplinierungsverfahren verteidigten, führten ab Mitte der 1950er-Jahre ein Rückzugsgefecht. Nachdem der Taktschritt bereits 1946 abgeschafft worden war,34 fiel 1958 der Gewehrgriff der Technisierung zum Opfer.35 Der letzten beiden verbliebenen Drillübungen, der Achtungsstellung und des Grusses, nahm sich die 1969 eingesetzte «Kommission für Fragen der militärischen Erziehung und Ausbildung» an. Während diese das Projekt einer Anpassung der militärischen Formen an die gesellschaftlichen, ökonomischen und technologischen Entwick- lungen in Angriff nahm, erinnerte der damalige reformfreudige Ausbildungschef Pierre Hirschy daran, dass die Menschheit sich anschicke «den Mond zu erobern», und dass daher das militärische «Denken nicht im Zeitalter der Reifröcke und des Taktschrittes steckenbleiben» dürfe.36 Nach etwas mehr als einem Jahr Arbeit forderte die nach ihrem Vorsitzenden so genannte «Kommission Oswald» in ihrem Bericht, dass der militärische Gruss aus dem ideellen Zusammenhang von «Pflicht, Disziplin und Ehrbezeugung» herausgelöst und vereinfacht werden sollte.37 Auch die Achtungsstellung sollte abgeschafft werden.38 Drill sollte es in der Schweizer Armee nur noch in der Waffenausbildung geben.39 Nicht nur die Drillpraktiken waren entbehrlich geworden. Die Erziehung zum Soldaten selbst wurde von der Kommission für obsolet erklärt, denn «Erziehung [geschehe] ge- rade auch und je länger, desto mehr durch die Ausbildung».40 Zwar hatte damit in der Schweizer Armee der Soldat gegenüber dem Techniker nicht ausgespielt, aber das technische Können hatte die «straffe Disziplin» als psychischen Stabili- sator und als primäres Ziel der Ausbildungsbemühungen aus dem Zentrum gedrängt.41 Die Auseinandersetzung um die Erziehung war damit – vorerst – entschieden.42

33 Über die Besonderheit dieses Automatismus’ vgl. Lengwiler 1995. 34 Vgl. Senn 2009. 35 Vgl. Mark 1958. 36 Hirschy 1969, S. 178. 37 Vgl. Eidgenössisches Militärdepartement 1970, S. 28, 137. 38 Ebd., S. 154f. 39 Ebd., S. 171. 40 Ebd., S. 122. 41 Zum Wandel der Vorstellungen von Disziplin von der Haltungs- zur Funktions- oder «Sachdisziplin» vgl. Bröckling 1997, S. 308ff. 42 In den 1980er-Jahren wurden sowohl die Erziehung als auch die Drillpraktiken wiederentdeckt, vgl. Steiger 1983; Jaun 2006, S. 52.

371 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Taktschritt, Gewehrgriff, Achtungsstellung und Gruss waren Verfahren, die auf der Vorstellung gründeten, das Verhalten von Menschen basiere auf einer psychischen Energetik. Diese psychischen Energien glaubten die Vertreter dieser Verfahren durch die Drillpraktiken regulieren zu können. Im Zeitalter der tech- nisierten Kriegführung schien für viele Offiziere jedoch nicht ein Mangel an Disziplin, sondern ein Mangel an Wissen und Kenntnissen das primäre Problem darzustellen. Um die Gefahr des Dilettantismus zu bannen, sollte die Vermittlung des Ausbildungsstoffes in den Mittelpunkt der militärischen Ausbildung gerückt werden. Als einer der vielversprechendsten Ansätze dazu galt Ende der 1960er- Jahre der «programmierte Unterricht».43

3. «Rationalisieren durch Programmieren» Auch wenn für einige Offiziere fehlende Disziplin nicht durch «Kenntnisse und Fähigkeiten» ersetzbar waren,44 die diametral entgegengesetzte Position setzte sich durch. Die Rolle der Offiziere als Ausbilder rückte damit in den Fokus der Debatten um die militärische Ausbildung. Auf diese Rolle schienen sie jedoch schlecht vorbereitet zu sein. Dass trotz einer Verdopplung der Dauer der Rekru- tenschulen die Ergebnisse enttäuschten,45 wurde auf den «Notbehelf» des Miliz- systems zurückgeführt, die Rekrutenausbildung durch Kader zu betreiben, die sich selbst noch in Ausbildung befanden.46 Nicht nur die didaktischen Fähigkeiten der jungen Offiziere und Unteroffizie- re, sondern die der Milizoffiziere schlechthin erschienen problematisch. Es sei schon keine Kleinigkeit, stellte der Instruktionsoffizier der Infanterie Zollikofer fest, «aus irgend einer Berufstätigkeit herausgerissen zu werden, um für drei Wochen Ausbildungs- und Erziehungsarbeit zu leisten». Die Milizoffiziere be- dürften dafür entweder einer «besonderen Begabung» oder einer «besonderen Schulung». Da vor allem Letztere fehle, würden sich viele dieser Offiziere beim Anlegen und Durchführen von Übungen unsicher fühlen. Neue Ideen für die Gestaltung der Ausbildung, insbesondere didaktisch-methodologische, seien daher notwendig, so der reformfreudige Instruktor.47 Mit neuen Ideen war Zollikofer zuvor selbst in Erscheinung getreten. 1950 hatte er die bildungsökonomische Losung einer «[b]esseren Rendite in der Aus-

43 Vgl. Hirschy 1969, S. 179. 44 Vgl. Scheitlin 1954, S. 483. 45 Gemeint war die Verlängerung der Rekrutenschulen zwischen 1907 und 1949 von 67 auf 118 Tage, vgl. dazu Tanner 1997, S. 324. 46 Vgl. Wüest 1950, S. 696. Mit der Einführung dieses Systems war die Erziehung der Unteroffiziere und -Of fiziere zu «eigenständigen Führern» bezweckt worden (vgl. dazu Jaun 1999, S. 432f.). 47 Vgl. Zollikofer 1952, S. 538f.

372 20. Jahrhundert

bildung» ausgegeben. Der Berufssoldat machte ein methodologisch-verfahrens- technisches Defizit aus. Zu wenig werde versucht, die für die Ausbildung zur Verfügung stehenden «knappen Zeit- und Geldmittel durch zweckmässige Ar- beitsmethoden wettzumachen». Seiner Ansicht nach bedurfte es Arbeitsmetho- den, «die aus dem Wenigen das Bestmögliche herausholen lassen».48 Als Ziel gab er aus, bei «gleich bleibender Stoffmenge eine Kürzung der Lernzeit» zu errei- chen.49 Zollikofer propagierte nicht nur neue Verfahren und Unterrichtsmittel. Ihm schienen die neuen Verfahren auch einer neuen Vorstellung vom lernenden Individuum zu bedürfen. Diese fand er in der britischen Zeitschrift Instructional Technique: «All knowledge flows into the human brain through one or more of the physical senses – Sight, Touch, Hearing, Taste and Smell.»50 Nachdem Ende der 1940er-Jahre im Rahmen der Spezialisierung der Ausbildung die Aufnahme- kapazitäten des Durchschnittsinfanteristen problematisiert worden waren, stellte Zollikofer die «Kanäle» der Wissensvermittlung in den Vordergrund. Anstelle einer Psychologie der Triebe, Hemmungen und Reflexe war es eine Neurologie der Wissensaufnahme, an der sich die militärische Ausbildung ori- entieren sollte. Wissen «floss» seinem Modell zufolge durch alle Sinne ins menschliche Gehirn. Dem Ausbilder kam demnach die Rolle zu, diese Kanäle zu nutzen: «A good instructor seeks to make the brains of his class work to the fullest extent and realises that the more senses he exercises the greater the impression will be», zitierte Zollikofer aus der britischen Fachzeitschrift.51 Mit ihren Bemühungen um eine «Modernisierung» und Technisierung ihres Ausbildungs- und Unterrichtswesens stand die Schweizer Armee nicht allein. Spätestens nach dem Sputnik-Schock ergriffen amerikanische und europäische Bildungspolitiker Massnahmen, um die vermeintlichen Lücken zum Ostblock zu schliessen. Von einem «missile gap», einem «education and technology gap», sogar einem «political gap» war die Rede.52 «Verwissenschaftlichung» und Tech- nisierung waren in den USA bereits in den 1950er-Jahren Lösungsansätze einer vermeintlichen Krise des Bildungssystems.53 Mehr noch als die verwissenschaft- lichten Lehransätze riefen die technisierten Unterrichtsmittel Bewunderung in Europa hervor. «Sprachlabors», das «Unterrichtsfernsehen» und vor allem das

48 Zollikofer 1950, S. 173. 49 Ebd., S. 175. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Vgl. Bernet/Gugerli 2011, S. 433. 53 Vgl. Rohstock 2014, S. 262.

373 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

programmierte Lernen mit seinen «Lehrmaschinen» wurden auf Konferenzen kontrovers diskutiert und in Schulen versuchsweise eingeführt.54 Als wissenschaftlicher Experte für das programmierte Lernen profilierte sich in der Schweiz Hardi Fischer. Der Professor für Allgemeine Didaktik und expe- rimentelle Psychologie an der ETH Zürich sah im programmierten Unterrichten immerhin eine «kleine pädagogische Revolution».55 An seiner Beschreibung des programmierten Unterrichts zeigt sich, dass im Mittelpunkt des Verfahrens nicht etwa die Programmierung der Lernstoffe oder die Aufrüstung der Klassenzimmer mit Lehrmaschinen stand. Alles drehte sich um das Verhalten der Lernenden und um die Steuerung desselben.56 Im Rahmen des Verfahrens sei unter Lernen «die Änderung des Verhaltens infolge Erfahrung und Übung» zu verstehen. Die «Lernpsychologie», die Fischer damit ansprach, war der Neobehaviorismus, der die kognitiven Vorgänge im Inneren des Menschen als Blackbox behandelte und sich auf das beobachtbare Verhalten konzentrierte.57 Für Burrhus Frederic Skin- ner, den massgeblichen Vertreter des Neobehaviorismus, war Wissensvermittlung eigentlich Verhaltensformung. Entsprechend stellte er beispielsweise 1958 fest: «Teaching spelling is mainly a process of shaping complex forms of behavior.»58 Dementsprechend unterschied Fischer zwischen zwei «Grundformen des Ler- nens»: «Instrumentales Lernen» einerseits («Lernen am Erfolg, Versuch-und- Irrtum-Lernen, instrumentelle Konditionierung») und «[r]eaktives Lernen» an- dererseits («bedingter Reflex, klassische Konditionierung»). Während bei «reak- tivem Verhalten», wie dem Pupillen- oder Kniescheibenreflex, die «orthodoxe Reiz-Reaktion-Verbindung» gelte, sei das bei «operativem Verhalten», wie dem Schreiben eines Wortes oder beim Einschlagen eines Nagels, nicht der Fall. Die enge Reiz-Reaktions-Koppelung sei für die Beschreibung menschlichen Verhal- tens oder Lernens irrelevant. Dieses sei «vornehmlich operativ».59 «Operant» verhielten sich Organismen diesem Verständnis nach insofern sie auf Wirkungen in ihrer Umwelt abzielen. Skinner beobachtete, dass die Folgen des Verhaltens starke Rückwirkungen auf das Verhalten selbst hatten. Erfolg «verstärke» be- stimmte Verhaltensweisen, während Misserfolg dazu führe, dass der Organismus

54 Vgl. ebd., S. 269f. 55 Vgl. Fischer 1966, S. 184. 56 Sowohl Fischer als auch die militärischen Rezipienten wiesen auf die verschiedenen Ansätze des program- mierten Lernens hin, etwa auf den Psychologen Sidney L. Pressey, der bereits Mitte der 1920er-Jahre eine Lehrmaschine entwickelt hatte, oder auf den Ansatz der «verzweigten Programmierung» von Norman A. Crowder. Sowohl in den Ausführungen Fischers als auch in denen Emil Bruns oder Jacques Stäublis stand jedoch die Lerntheorie Skinners im Mittelpunkt. 57 Vgl. dazu Pickren/Rutherford 2010, S. 56 – 64, 152 – 157. 58 Burrhus Frederic Skinner: Teaching Machines, In: Science 128 (1958), S. 969 – 977, hier S. 971, zit. nach Rutherford 2003, S. 10. 59 Fischer 1966, S. 185.

374 20. Jahrhundert

sie seltener an den Tag lege. Daraus entwickelte Skinner eine Technik der Verhaltenssteuerung:60 Durch «Verstärker» (Belohnungen) brachte er Tauben und Ratten dazu, bestimmte Verhaltensweisen zu «erlernen». Diese Technologie der Verhaltenssteuerung, die «operante Konditionierung», bildete das konzeptu- elle Herzstück des Neobehaviorismus – und auch von Skinners Version der programmed instruction.61 Auch bei Fischer stand die Steuerung des Lernverhaltens im Vordergrund. So fasste er die lernpsychologischen Grundsätze der überwiegenden Mehrheit da- mals existierender «Lehrprogramme» folgendermassen zusammen: Ein Orga- nismus («Individuum usw.») lerne oder ändere sein Verhalten durch die Beob- achtung der Folgen seiner Handlungen. Ereignisse, welche die Wahrscheinlich- keit des Wiederauftretens einer Handlung steigern würden, nenne man «Bekräftigung (reinforcement)». Je schneller die Bekräftigung der «erwünschten Leistung» erfolge, je öfter das erwünschte Verhalten eine Bekräftigung erfahre, desto grösser die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung dieses Verhaltens. Bleibe die Bekräftigung aus oder werde sie aufgeschoben, sinke die Wahrscheinlichkeit ihres Wiederauftretens. Durch «Nichtbekräftigung» könne falsches Verhalten gelöscht werden. «Das Wechselspiel zwischen Bekräftigung und Löschen soll die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Reaktion oder Antwort erhöhen.»62 Die ersten Versuche mit dem programmierten Unterricht in der Schweiz lagen bereits einige Jahre zurück, als auch ihre Armee in dem Verfahren eine Möglich- keit erkannte, die «rasche technische Entwicklung» ausbildungstechnisch einzu- holen.63 Umso grösser waren daher die Erwartungen an dieses «neuartige und leistungsfähige Verfahren», mit dem die «technisiert[e] Wirtschaft» ein ganzes «Heer von Arbeitskräften» in kurzer Zeit anlerne.64 Genau beobachtet hatte man die Anwendung des Verfahrens auch in den Armeen des Ost- wie des West- blocks.65 Die im «Bemühen um neuzeitliche militärische Ausbildungsmethoden» neu gebildete «Sektion Lehrmethoden und Lehrmittel des Stabes der Gruppe für Ausbildung» der Armee arbeitete eng mit Instituten wie demjenigen für Arbeits- psychologie an der ETH Zürich zusammen, an dem die Professur Hardi Fischers situiert war.66

60 Mit «Verhaltenssteuerung» ist hier der Versuch der Einwirkung auf das Verhalten von Individuen gemeint, mit der Absicht, die Wahrscheinlichkeit bestimmten Verhaltens zu senken oder zu erhöhen, vgl. dazu Fou- cault 2007, S. 96f. 61 Vgl. Pickren/Rutherford 2010, S. 222; Bjork 1993, S. 169ff.; Rutherford 2003, S. 9f. 62 Fischer 1966, S. 187. 63 Vgl. MO 1967, S. 88f. 64 Zumstein 1966, S. 595. 65 Vgl. GB 1967; MO 1967; CS 1967, S. 305ff. 66 Vgl. Meyer 1968, S. 19f.

375 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Als Hirschy 1969 die «Rationalisierung der Ausbildung» durch die «Program- mierung» des militärischen Unterrichts propagierte, war diese bereits im Gange. Eine Studienkommission aus Spezialisten, Milizoffizieren und Instruktionsoffi- zieren hatte Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Unterrichts sowie Pro- gramme geprüft. 25 Lektionen waren bereits «provisorisch programmiert», von denen 17 in den Sommerschulen des Jahres 1968 versuchsweise angewendet worden waren. In den Lektionen waren militärische Sachgebiete wie Schiessleh- re, Kartenlehre, Signaturen, Funksprechverkehr, allgemeine militärische Kennt- nisse (wie Pflichten ausser Dienst, Kriegsmobilmachung usw.) sowie spezielle militärische Kenntnisse (Sanitätsdienst, Übermittlungsdienst) behandelt wor- den.67 Im Bericht des Bundesrates über die Regierungspolitik in der Legislatur- periode 1968 bis 1971 wurde das Verfahren als Beispiel für die «modernen Lehrmethoden» aufgeführt, mit denen die «Modernisierung» der militärischen Ausbildung» vorangetrieben werde.68 Mitte 1969 hatte einer der militärischen Experten für das neue Verfahren Zeit gefunden, sich «[e]inige Gedanken zur programmierten Instruktion in den Rek- rutenschulen» zu machen. Jacques Stäubli, Instruktionsoffizier der Übermitt- lungstruppen, stellte seinen Gedanken diejenigen Skinners voran. Aus dessen Arbeit über «Denken und Lernen» zitierte er eine umfangreiche Passage, die bezeichnend für die Rezeption des Verfahrens sowie des ihr zugrunde liegenden Wissens ist: «Lehren wurde und wird immer noch verstanden als eine Beeinflus- sung des Geistes des Lernenden – sei es, dass man ihn mit Wissen vollstopft, seine Vorstellungen verändert oder seine allgemeinen Fähigkeiten übt. Nun ist aber die eigentliche Funktion des Lehrens darin zu sehen, dass das Verhalten des Lernenden verändert wird.»69 Während die «Verhaltenspsychologie», so konnte man Skinner bei Stäubli weiterlesen, jene Vorgänge aufdecke, «durch welche sich das Verhalten ändert», würde das programmierte Lernen es ermöglichen, solche «Vorgänge, die das Verhalten ändern, zu bewirken».70 Während das neobehavioristische Wissen um die Steuerbarkeit menschlichen (Lern-)Verhaltens gewissermassen eine kostenlose Beigabe darstellte, verlangten Programmierung und Lehrmaschinen einen hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand. Echte Lernfortschritte, so Stäubli, waren nur mit guten Lehrprogram- men zu erreichen. Die «Erstellung und Testung» eines solchen Programms, das

67 Vgl. Hirschy 1969, S. 179. 68 Vgl. Bericht des Bundesrates 1968, S. 1213. 69 Burrhus Frederic Skinner und Werner Corell: Denken und Lernen: Beiträge der Lernforschung zur Metho- dik des Unterrichts, Braunschweig: Westermann 1967, zit. nach Stäubli 1969, S. 188. 70 Stäubli 1969, S. 188.

376 20. Jahrhundert

«LP ‹Verschleierte Sprache›», musste während des Testlaufs siebenmal umge- ändert werden und schlug schliesslich mit etwa tausend Arbeitsstunden zu Buche.71 Solch aufwendige Testläufe waren nötig, um die Erfolgschancen der Lernenden sicherzustellen. Erst wenn 95 Prozent aller Testpersonen, die der «Population zukünftiger Adressaten» entnommen waren, alle Fragen eines Programms richtig beantworten konnten, war es druckreif.72 Das war zumindest das Qualitätskriterium des zivilen Didaktikexperten Hardi Fischer. Program- mierte Lehrbücher konnten daher nicht am Schreibtisch entstehen, sondern erforderten eine «experimentell[e] Prozedur». Dadurch verteuerte sich ihre Herstellung erheblich.73 Die Überlegenheit des programmierten gegenüber dem konventionellen Unterricht blieb umstritten. Die Konjunktur des Verfahrens im zivilen Bildungs- system endete bereits Ende der 1960er-Jahre. Es war punktuell erprobt, für nur beschränkt tauglich befunden und in die Randzonen des Schulsystems verdrängt worden.74 Resultat der didaktischen Aufrüstung der Schweizer Armee mit der programmierten Instruktion waren verschiedene «Lehrprogramme», die auch nach dem Einbruch der zivilen Erfolgskurve des Verfahrens in Gebrauch blieben. Wie im zivilen Bereich hatten jedoch auch in der Armee die technizistischen Hoffnungen auf eine Steigerung der Produktivität der Wissensvermittlung im Laufe der 1970er Jahre im «computergestützten Lernen» ein neues Objekt ge- funden.75 Zwar verschwand die Begrifflichkeit der Programmierung weitgehend, und auch von Lehrmaschinen war nicht mehr viel zu lesen. Die neobehavioristi- sche Lernpsychologie, wie sie etwa unter dem Label «Lernen am Erfolg» propagiert wurde, wurde bemerkenswerterweise im selben Zeitraum zu einer in der militä- rischen Ausbildung generell anwendbaren Methodik verallgemeinert76 – und mit ihr auch die Anthropologie eines über die Regulation der Informationsflüsse steuerbaren Menschen.

4. Richtiges Verhalten: Konditionierung als Motivierung Nur kurze Zeit nach der Einführung der programmierten Instruktion in den Aus- bildungsbetrieb wurde der psychologische Ansatz der operanten Konditionierung aus dem Verfahren der Programmierung herausgelöst. Nicht nur der zuvor er- wähnte Stäubli, sondern auch Emil Brun entwickelte sich innerhalb weniger Jah-

71 Vgl. ebd. 72 Die Schweizer Armee konzentrierte sich auf «Buchprogramme», vgl. Stäubli 1970, S. 50. 73 Vgl. Fischer 1966, S. 189. 74 Vgl. Oelkers 2008, S. 220. 75 Vgl. Fischer 1971, S. 173 – 184; Oelkers 2008, S. 228. 76 Vgl. bspw. Stäubli 1976, S. 68.

377 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

re von einem Experten für die Programmierung militärischer Ausbildungsstoffe zu einem Experten für Verhaltenssteuerung. Wie Stäubli war Brun Instruktor der Übermittlungstruppen und tat sich mit Texten zur Modernisierung und Techni- sierung der militärischen Ausbildung hervor. 1972 wurde der gelernte Ingenieur Dozent für Lehrmethodik und Militärpädagogik an der Militärakademie, womit er nicht mehr nur als ein Ausbilder einer technisierten Truppengattung, sondern als eine lehrtheoretische Autorität der Schweizer Armee sprach. 1970 hatte Brun das «Prinzip des programmierten Unterrichts» aus dem Verfahren selbst herausdestilliert. Er stellte fest, dass dieses Prinzip geeignet sei, «jeden Unterricht ganz allgemein zu verbessern».77 Brun arbeitete einen «Me- chanismus» heraus, «den herzustellen für den Ausbildner nicht allzuschwer» sei: Bei diesem Mechanismus handelte es sich um das «Prinzip der Rückkoppe- lung von Erfolgserlebnissen beim Lernen auf den Lernantrieb».78 Das program- mierte Lernen hatte in seiner neobehavioristischen Version den Fokus von den Lerninhalten auf das Lernverhalten verschoben. Diese Verschiebung behielt Brun bei, er entledigte sich jedoch des Ansatzes der Programmierung. Während die Programmierung eine Möglichkeit darstellte, den theoretischen Unterricht und die Vermittlung von Wissen zu rationalisieren, eignete sich das Verfahren zur Verbesserung jeden militärischen Unterrichts. Aus der operanten Konditionie- rung, die am Zusammenhang des Erfolgs einer Handlung mit der «Verstärkung» oder «Bekräftigung» derselben Handlung ansetzte, wurde bei Brun die Lehre vom «Lernen am Erfolg». Lernen am Erfolg und «Motivierung zum Lernen» hingen für den Instruktor eng zusammen: «Motivieren heisst, beim Lernenden ein Interesse, ein Bedürfnis, ganz allgemein einen Antrieb wecken, der die In- tensität seines Lernens beeinflusst.»79 Dieser Antrieb werde durch den Mecha- nismus der Bekräftigung in Gang gesetzt, denn die Motivation für eine bestimm- te Lerntätigkeit sei umso grösser, «je intensiver der Lernende einen Erfolg beim Lernen» erlebe.80 Dem Ausbilder fiel in diesem Modell die wichtige Rolle zu, den Erfolg erlebbar zu machen, also dafür zu sorgen, dass der lernende Armeeange- hörige den richtigen Input erhielt. Nur dann könne der Mensch am Erfolg lernen, wenn er diesen «in schneller und verlässlicher Weise» empfinde. «Die Lernan- strengungen werden verstärkt, wenn die Haltung (Fleiss, Konzentration, Ausdau- er), die zum Erfolg führte, bekräftigt» werde.81

77 Vgl. Brun 1970, S. 11. 78 Ebd., S. 8. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd. (Herv. im Orig.).

378 20. Jahrhundert

Von Programmierung war in Bruns Ausführungen schon keine Rede mehr. Es ging um den Mechanismus der Bekräftigung, also um das konzeptuelle Herz- stück der operanten Konditionierung. Dieser Mechanismus war ein Feedback- system: «Der Erfolg wird als Bestätigung der Anstrengungen empfunden; das führt dazu, dass diese Anstrengungen verstärkt werden, was zu mehr Freude, leichterem Lernen, besserem Behalten, erhöhtem Eifer, weniger Misserfolg führt. Man spricht hier von einem ‹feed-back›, einer Rückwirkung des Erfolgs auf den Lernantrieb.»82 Das Konzept des Lernens am Erfolg setzte am Grundgedanken der operanten Konditionierung an, das Verhalten von Organismen lasse sich über das Feedback steuern: Organismen (gleichgültig ob Tiere oder Menschen) würden zukünftige Handlungen an den Resultaten vergangenen Handelns (neu-)ausrich- ten. Durch die systematische Regulation dieses Feedbacks sollte Verhalten in dem Sinne steuerbar werden, dass die Wahrscheinlichkeit erwünschten Verhaltens erhöht und falschen Verhaltens gesenkt werde. Diese Form der Verhaltenssteu- erung setzte nicht mehr an der Kanalisierung psychischer Energien an, sondern an der Regulation der Informationen, die das Individuum erhielt. Ansätze, die «Zwang» oder «Druck» einsetzten, klassifizierte Brun als unbrauchbar. Zwar könne mit Druck erreicht werden, dass mehr gearbeitet und der Lernstoff sogar intensiver studiert werde. Unter Zwang Gelerntes werde jedoch umso prompter wieder vergessen. Der «Aspekt des Vergessens» sei für eine Milizarmee mit langer Wehrpflicht und grossen Abständen zwischen den Diensten von beson- derer Bedeutung. Bereits nach einigen Monaten Dienstpause sei allzu oft nur noch wenig «konkretes und genaues Wissen» vorhanden. Brun konnte auch die dafür verantwortlichen psychologischen Wirkzusammenhänge benennen: Dass «Zwang Leistungseinbusse bedeute», erklärte er mit den «Auswirkungen von Frustration und repressiven Massnahmen», die beim Lernenden «zu Enttäu- schungen über die Ergebnislosigkeit seiner Lernanstrengungen, zu Angst, sich zu blamieren, oder gar Angst zu versagen und schliesslich zu einem bloss me- chanischen oder gar widerwilligen Lernen führen» würden.83 Brun formulierte in einer am Neobehaviorismus Skinners orientierten Sprache nichts anderes als die Kritik der Armeereformer an der Erziehung zum Soldaten. Disziplin musste jener Denkschule zufolge erzwungen werden. Eine «freiwillige Disziplin» war ein Widerspruch in sich, wie Hans Frick noch Mitte der 1950er- Jahre festgestellt hatte. Die Disziplinierung zielte auf unbewusste Regionen der Psyche, wie die Hemmungen. Die modernen Schlachtfelder schienen jedoch den

82 Ebd. (Herv. im Orig.). 83 Ebd., S. 11f.

379 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

«intelligente[n] und interessierte[n] Kämpfertyp» erforderlich zu machen. Denn dieser erfasse «sehr schnell, worum es im Feuerkampf geht», und «auch mit Waffen und Geräten, die er bislang nur vom Hörensagen kannte», vermöge er etwas anzufangen.84 Die Disziplinierungs- und Drillverfahren alten Typs wirkten angesichts dieser Anforderungen kontraproduktiv: «Wir verlangen vom Füsilier immer mehr Selbständigkeit. Wir wollen, dass er die erhaltenen Befehle geistig verarbeite, um eine möglichst rationelle Ausführung derselben zu erreichen. Wir müssen daher auch dafür sorgen, dass er nicht im Namen der Disziplin zum Automaten erzogen werde.»85 Vor diesem Hintergrund vollzog sich Ende der 1970er-Jahre die Weiterent- wicklung der «methodischen Leitidee» des Lernens durch Erfolg zu einer Technik, die auf die «innere Zustimmung» der Lernenden abzielte.86 Ziel jeder Ausbildung, so der Militärdidaktiker Brun, müsse eine primäre Motivierung sein: Während der «primär motivierte Wehrmann» die «Bekräftigung für sein Handeln vom Lerngegenstand selbst» erhalte, brauchte der sekundär Motivierte Fremdbestäti- gung. Diese müsse von aussen kommen, von der «Umwelt und Mitwelt» des Wehrmannes, vor allem vom Ausbilder.87 Die Rückmeldungen, die der Wehr- pflichtige von seiner Um- und Mitwelt bzw. seinen sozialen Bezügen erhalte, könne der militärische Ausbilder kaum beeinflussen. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem die Kritik am Militär zunahm,88 war die Um- und Mitwelt als Quelle der Motivierung unzuverlässig. Die Gestaltung der militärischen Lernsi- tuation hingegen hatten die militärischen Ausbilder in der Hand.89 Durch diese werde sogar ein «Transfer von sekundärer zu primärer Motivierung» denkbar: «Wenn man anfangs zu einem Lehrstoff keine Beziehung hat, aber merkt, dass man im Bemühen, ihn sich anzueignen, Erfolg hat, kann es passieren, dass einem der Lernstoff an sich interessiert.»90 In Bruns Szenario galt es also, die Informationsflüsse (die Rückmeldungen) zwischen Umwelt und Individuum zu regulieren, um die Wahrscheinlichkeit erwünschten Verhaltens zu erhöhen. Dadurch werde es möglich, wenigstens einen Teil der «vielen indifferenten Wehrmänner zu gewinnen», die sich darauf verlegt hätten, im Militärdienst abzuschalten und ihn auf möglichst bequeme Weise hinter sich zu bringen.91 Neue, subtilere Techniken der Verhaltenssteue-

84 Vgl. Schweizer 1971, S. 99. 85 Sewer 1953, S. 264ff. 86 Vgl. Brun 1977. 87 Ebd. S. 70. 88 Vgl. Tanner 1997, S. 316. 89 Vgl. Brun 1978, S. 42. 90 Brun 1977, S. 71f. 91 Vgl. ebd.

380 20. Jahrhundert

rung waren dazu notwendig, die dem Stand der psychologischen Wissenschaften näher standen. Die operante Konditionierung Skinners stellte eine solche Technik dar. Skinners lernpsychologischer Ansatz, der sich als Verhaltenssteuerung ver- stand, war einer naturwissenschaftlichen Sprache viel näher als eine Psychologie, die von Ängsten oder Trieben sprach und sich mit dem Begriff der Hemmungen an der Mechanik des 1900 Jahrhunderts orientierte. Der Neobehaviorismus entsprach mit seiner starken Betonung der «Rückmeldung», des «Feedback», dem informationstheoretischen Code des «Informationszeitalters».92

5. Fazit: Programmierte Instruktion und Verhaltenssteuerung «Die Technik hat den Faktor Mensch nicht ausgeschaltet», hielt Ernst Uhlmann 1946 seinem damaligen Kontrahenten Allgöwer entgegen.93 Im Laufe der Nach- kriegszeit hatte sich jedoch die Vorstellung von diesem Menschen gewandelt. Be- reits Ende der 1940er-Jahre bestimmte eine neue Vorstellung von innerer Festigung des Soldaten eine ausbildungsorganisatorische Reaktion der Armee auf das Anwachsen des Ausbildungsstoffes: Technisches Können verleihe dem Soldaten «innere Sicherheit». Damit rückte die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten in den Fokus der Ausbildungsbemühungen, genauso wie die Auf- nahmekapazitäten des Durchschnittssoldaten. Dass das Innere dieses Soldaten von unbewussten psychischen Energien und Kräften, von Hemmungen, Refle- xen und Trieben, bestimmt wurde, interessierte zwar die verbliebenen Verfech- ter der tradierten Disziplinar- und Drillverfahren noch immer. Die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten orientierte sich jedoch an einer anderen Vor- stellung vom menschlichen Innenleben. Die gewussten kognitiven Inhalte, die Kenntnisse und Fertigkeiten sowie ihre bewusste Verarbeitung bestimmten die- se Überlegungen. Für die reformorientierten Ausbilder der Schweizer Armee war der Soldat ein informationsverarbeitendes Wesen geworden, das Wissen und Kenntnisse mit einer bestimmten Lerngeschwindigkeit aufnehmen und bis zu einer bestimmten Aufnahmekapazität speichern konnte. In den Blick gerieten damit sowohl die methodologisch-didaktischen Fähig- keiten der Offiziere als Ausbilder als auch die Defizite der damaligen militärischen Ausbildungsverfahren. Auf der Suche nach neuen Impulsen wurden die Entwick- lungen in den zivilen Bildungssystemen und den Lehrbetrieben anderer Armeen sehr genau verfolgt. Insbesondere das programmierte Lernen erregte die Auf- merksamkeit der militärischen Modernisierer. Die Programmierung erschien als

92 Zum Verhältnis der behavioristischen Psychologie zur Kybernetik vgl. Galison 1994, S. 248ff. 93 Uhlmann 1946a, S. 486.

381 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

ein vielversprechender Ansatz für eine Rationalisierung des militärischen Aus- bildungsbetriebs, schien sie doch eine Individualisierung des Lernens zu ermög- lichen. Das technoide Adjektiv und die Lehrmaschinen beflügelten die technizis- tischen Hoffnungen der Ausbilder der Armee. Sie bildeten jedoch genau den Teil des Verfahrens, von dem schon sehr bald nach seiner Einführung keine Rede mehr war. Zwar waren Lektionen programmiert worden, aber die Programmie- rung war aufwendig und teuer, und im Vergleich zur Komplexität von Simulato- ren und Computern verblasste die Strahlkraft der relativ einfachen Lehrmaschi- nen der 1950er- und 1960er-Jahre. Mit dem Prinzip des Lernens am Erfolg lösten die militärischen Lehrexperten dasjenige psychologische Wissen aus dem Verfahren heraus, das sich in eine Technik der Verhaltenssteuerung umwandeln liess. Schon das Verfahren der programmierten Instruktion sollte die Effizienz der Wissensvermittlung über die Beeinflussung des Verhaltens steigern. Doch sehr bald entdeckten Brun und andere, dass sich neben dem Lerneifer der Soldaten auch ihre Einstellung zur Armee durch die neue methodische Leitidee beeinflussen liess. Die Beeinflussung der Einstellung war einerseits schwieriger, weil eine wider- spenstige Jugend nicht ohne Weiteres bereit zu sein schien, Autoritäten zu ak- zeptieren. Andererseits hatte diese Jugend in der Bildungsexpansion der 1960er- und 1970er-Jahre Fertigkeiten und Kenntnisse erworben, auf welche die Milizar- mee mit ihren kurzen Ausbildungszeiten angewiesen war. Die militärische Nutzbarmachung dieses «Fähigkeitskapitals»94 bedurfte nicht nur der faktischen Zugriffsmöglichkeit über die Wehrpflicht. Die vielen «indifferenten Wehrmän- ner» mussten für die Armee gewonnen werden. Das informationsverarbeitende Wesen, an dem sich das Konzept des Lernens am Erfolg ausrichtete, war ein steuerbares Wesen: Durch die Regulation der Informationsflüsse zwischen ihm und seiner Umwelt, durch die systematische Rückmeldung von Erfolg und Misserfolg würde sich sein Verhalten steuern lassen, so die Vorstellung.

Bibliografie

Ungedruckte Quellen Waffenchef der Infanterie: Die Durchführung der Spezialisierung in den RS im Hinblick auf die Bedürfnisse der Feldarmee. 08.03.1956. Schweizerisches Bundesarchiv, E5360A#1969/4#566*.

94 Für den Prognostiker Francesco Kneschaurek bestand das «Fähigkeitskapital» aus dem «Wissen und Kön- nen», aber auch dem «Arbeitswillen und Arbeitsethos», vgl. Kneschaurek 1967, S. 16.

382 20. Jahrhundert

Waffenchef der Leichten Truppen: Weisungen betreffend die Spezialisierung in den Rekrutenschulen. Juli 1952. Schweizerisches Bundesarchiv, E5420A#1972/1#581*.

Gedruckte Quellen Allgöwer, Walther: Vom Soldat zum Techniker. In: Schweizer Annalen 2 (1945), S. 651 – 662. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Teil: 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. 7., unveränderte Auflage. München: C.H. Beck 1985. Becker, Gary S.: Human capital. A theoretical and empirical analysis, with spe- cial reference to education. 3. Auflage. Chicago: University of Chicago Press 1993. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Richtlinien für die Regierungspolitik in der Legislaturperiode 1968 – 1971 (Vom 15. Mai 1968). In: Bundesblatt 1 (1968), S. 1204 – 1248. Brun, Emil: Methodik des theoretischen Unterrichtes. In: Allgemeine Schwei- zerische Militärzeitschrift 136, 1 (1970), S. 8 – 19. Brun, Emil: «Lernen durch Erfolg» in der militärischen Ausbildung. In: Allge- meine Schweizerische Militärzeitschrift 143, 2 (1977), S. 68 – 72. Brun, Emil: Psychologische Grundlagen des Ausbildens. In: Guggenbühl, Die- tegen (Hrsg.): Truppenpsychologie. Frauenfeld: Huber 1978, S. 40 – 55. CS: Polen. Programmierter Unterricht in der Armee. In: Allgemeine Schweize- rische Militärzeitschrift 133, 5 (1967), S. 305 – 307. Dürrenmatt, Peter: Volksstaat – Kleinstaat – Volksarmee. Gedanken über die Idee des Widerstandes in der Zukunft (Schluss). In: Allgemeine Schweizeri- sche Militärzeitung 112, 3 (1946), S. 160 – 174. Eidgenössisches Militärdepartement: Bericht der Kommission für Fragen der Militärischen Erziehung und Ausbildung der Armee. Bern: Eidgenössisches Militärdepartement 1970. Fischer, Hardi: Der Programmierte Unterricht. In: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 146 (1966), S. 184 – 193. Fischer, Hardi: Vom programmierten zum computergesteuerten Lernen. In: Archiv für das schweizerische Unterrichtswesen 57 (1971), S. 173 – 184. Frick, Hans: Vom «Waffendrill». In: Allgemeine Schweizerische Militärzeit- schrift 120, 7 (1954), S. 495f. GB: Sowjetunion. Programmierter Unterricht an den Militärschulen. In: Allge- meine Schweizerische Militärzeitschrift 133, 7 (1967), S. 437.

383 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Gessler, Paul: Der Militärdienst als Ort der Erziehung. In: Schweizer Annalen 12 (1945), S. 677 – 687. Hirschy, Pierre: Aktuelle Fragen der militärischen Erziehung und Ausbil- dung. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 135, 4 (1969), S. 177 – 182. Kneschaurek, Francesco: Personalpolitik und wirtschaftliche Entwicklung. Bern: Haupt 1967. Mark, Wilhelm: 12. März 1958: Ende des Gewehrgriffes. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 124, 3 (1958), S. 161 – 163. Messner, F.: Die Frage der Spezialisierung der Ausbildung der Infanterie. In: Schweizer Soldat 13 (1950), S. 224. Meyer, Werner: Bemühungen um neuzeitliche militärische Ausbildungsme- thoden. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 580, 20.09.1968, S. 19f. MO: Programmierter Unterricht. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeit- schrift 133, 2 (1967), S. 88f. Orelli: Spezialisierung der Ausbildung! In: Allgemeine Schweizerische Mili- tärzeitschrift 115, 4 (1949), S. 247 – 250. Scheitlin, Otto: Schaffung und Erhaltung der Disziplin. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 120, 7 (1954), S. 482 – 495. Schweizer, Lucas: Impulse für die Kampfschulung im Wiederholungskurs. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 137, 2 (1971), S. 92 – 99. Sewer, Karl: Disziplin aus Überzeugung. In: Allgemeine Schweizerische Mili- tärzeitschrift 119, 4 (1953), S. 264ff. Stäubli, Jacques: Einige Gedanken zur programmierten Instruktion in Rekru- tenschulen. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 135, 4 (1969), S. 188 – 191. Stäubli, Jacques: Gedanken zu neuen Lehrmethoden und Lehrmitteln. In: Schweizer Soldat 15 (1970), S. 44 – 53. Stäubli, Jacques: Motivation und Lernerfolg bei Erwachsenen. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 142, 2 (1976), S. 68. Steiger, Rudolf: Drill in der militärischen Ausbildung: wirklich überholt oder nur häufig falsch verstanden? In: Allgemeine Schweizerische Militärzeit- schrift 149, 11 (1983), S. 647 – 651. Uhlmann, Ernst: Beitrag zur Diskussion. In: Allgemeine Schweizerische Mili- tärzeitschrift 112, 8 (1946a), S. 476 – 486. Uhlmann, Ernst: Ueber die Zukunft der Armee. In: Allgemeine Schweizeri- sche Militärzeitung 112, 1 (1946b), S. 6 – 24.

384 20. Jahrhundert

Wille, Ulrich: Paradedrill. In: Allgemeine Schweizerische Militär-Zeitung 47, 18 (1901), S. 145 – 148. Wüest, Georg: Gefahren des Milizsystems. In: Allgemeine Schweizerische Mi- litärzeitschrift 116, 10 (1950), S. 691 – 699. Zingg, W.: Spezialisierung der Ausbildung. In: Allgemeine Schweizerische Mi- litärzeitschrift 115, 2 (1949), S. 111 – 117. Zollikofer, Lorenz: Bessere Rendite in der Ausbildung. In: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 116, 3 (1950), S. 173 – 179. Zollikofer, Lorenz: Die Ausbildung: ein Problem des Milizoffiziers. In: Allge- meine Schweizerische Militärzeitschrift 118, 8 (1952), S. 535 – 541. Zumstein, Jörg: Neuzeitliche Ausbildung. In: Allgemeine Schweizerische Mili- tärzeitschrift 132, 10 (1966), S. 593 – 599.

Literatur Ash, Mitchell G.: Psychology. In: Porter, Theodore M./Ross, Dorothy (Hrsg.): The Modern Social Sciences. Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 251 – 274. Bachem, Malte/Hackler, Ruben Marc: Überlegungen zu einer historischen Anthropologie des Verfahrens. In: H-Soz-Kult. 19.06.2012, http://www. hsozkult.de/debate/id/diskussionen-1801 (abgerufen am 16.6.2016). Bernet, Brigitta/Gugerli, David: Sputniks Resonanzen. Der Aufstieg der Humankapitaltheorie im Kalten Krieg – eine Argumentationsskizze. In: Historische Anthropologie: Kultur, Gesellschaft, Alltag 19, 3 (2011). S. 433 – 446. Bjork, Daniel W.: B. F. Skinner: A Life. New York: Basic Books 1993. Bröckling, Ulrich: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehor- samsproduktion. München: Fink 1997. Edwards, Paul N.: The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America. Cambridge, Mass.: MIT Press 1996. Eitler, Pascal/Elberfeld, Jens (Hrsg.): Zeitgeschichte des Selbst. Therapeuti- sierung – Politisierung – Emotionalisierung. Bielefeld: transcript 2015. Foucault, Michel: Subjekt und Macht. In: Michel Foucault: Ästhetik der Exis- tenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 81 – 104. Galison, Peter: The Ontology of the Enemy. Norbert Wiener and the Cyberne- tic Vision. In: Critical Inquiry 21, 1 (1994), S. 228 – 266.

385 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Hörl, Erich/Hagner, Michael: Überlegungen zur kybernetischen Transfor- mation des Humanen. In: Hagner, Michael/Hörl, Erich (Hrsg.): Die Trans- formation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Jaun, Rudolf: Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im mili- tärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de siècle. Zürich: Chronos 1999. Jaun, Rudolf: «Vom Soldat zum Techniker» – Armeereform und Erziehung in der schweizerischen Nachkriegsdiskussion 1945/46. In: Steiger, Rudolf/An- nen, Hubert/Zwygart, Ulrich (Hrsg.): Das Ruder in der Hand. Aspekte der Führung und Ausbildung in Armee, Wirtschaft und Politik: Festschrift für Rudolf Steiger. Frauenfeld: Huber 2006, S. 47 – 53. Kaufmann, Stefan: Der «digitale» Soldat. Eine Figur an der Front der Informa- tionsgesellschaft. In: Apelt, Maja (Hrsg.): Forschungsthema: Militär. Militäri- sche Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldati- schen Subjekten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 271 – 294. Lengwiler, Martin: Soldatische Automatismen und ständisches Offiziersbe- wusstsein. Militär und Männlichkeit in der Schweiz um 1900. In: Jaun, Ru- dolf/Studer, Brigitte (Hrsg.): Weiblich – männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken. Zürich: Chronos 1995, S. 171 – 184. Morat, Daniel: Die Aktualität der Antiquiertheit. Günther Anders’ Anthropo- logie des industriellen Zeitalters. In: Zeithistorische Forschungen 3, 2 (2006), S. 322 – 327. Oelkers, Jürgen: Kybernetische Pädagogik. Eine Episode oder ein Versuch zur falschen Zeit? In: Hagner, Michael/Hörl, Erich (Hrsg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 196 – 228. Pickren, Wade E./Rutherford, Alexandra: A History of Psychology in Con- text. Hoboken, N.J.: John Wiley 2010. Rabinbach, Anson: The human motor. Energy, fatigue, and the origins of mo- dernity. Berkeley: University of California Press 1992. Rabinbach, Anson: The End of the Utopias of Labor. Metaphors of the Machi- ne in the Post-Fordist Era. In: Thesis Eleven 53, 1 (1998), S. 29 – 44.

386 20. Jahrhundert

Rohstock, Anne: Antikörper zur Atombombe. Verwissenschaftlichung und Programmierung des Klassenzimmers im Kalten Krieg. In: Bernhard, Pa- trick/Nehring, Holger (Hrsg.): Den Kalten Krieg neu denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte. Essen: Klartext Verlag 2014, S. 259 – 284. Rutherford, Alexandra: B. F. Skinner’s Technology of Behavior in American Life. From Consumer Culture to Counterculture. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 39, 1 (2003), S. 1 – 23. Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hrsg.): Physiologie und industrielle Gesell- schaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahr- hundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Senn, Hans: Militärische Ausbildung. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8592.php (Version vom 10.11.2009). Speich Chassé, Daniel/Gugerli, David: Wissensgeschichte. Eine Standortbe- stimmung. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 19, 1 (2012), S. 85 – 100. Tanner, Jakob: Militär und Gesellschaft in der Schweiz nach 1945. In: Frevert, Ute (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 314 – 341.

Eneia Dragomir, ETH Zürich, Institut für Geschichte, [email protected]

387 16 Die Pädagogisierung 16des Kalten Krieges

20. Jahrhundert

Daniel Tröhler

16. Die Pädagogisierung des Kalten Krieges Militärische Interessen an Schulreformen nach Sputnik

In seinem Opus Majus aus dem Jahr 1267 beschreibt der englische Franziskaner- mönch und Philosoph Roger Bacon im Abschnitt über «Experimental Science» die Wirkung des Schwarzpulvers in militärischen Operationen. In diesem Zu- sammenhang weist er darauf hin, dass Schwarzpulver Leben und sogar Armeen vernichten könne, und weiter, dass das Explosionsgeräusch, das so viel lauter sei als jeder Donner, jedes Gehör taub werden lasse und dass der bei der Explosion entstehende Blitzstrahl jedes Auge zerstören könne. Bacon verweist auf eine lan- ge Geschichte des Schwarzpulvers. Er berichtet von der alttestamentarischen Er- zählung Gideons, der durch einen Engel von Gott berufen worden war, die Israeliten vom Joch der Midianiter zu befreien, und sich dabei eben dieses Pul- vers bedient habe.1 Nebst dieser kriegerischen Nutzung hätte sich das Schwarz- pulver aber auch, so Bacon, als Kinderspielzeug nützlich gemacht, also als «toy of children which is made in many parts of the world, namely, an instrument as large as the human thumb»,2 also das, was früher als «Schweizerkracher» be- zeichnet wurde. Damit ist ein pyrotechnischer Gegenstand im Umfang etwa ei- nes Daumens gemeint, er soll als Haupteffekt bloss einen Knall erzeugen. Heute ist dieser der Gefährlichkeit wegen und damit zum Schutze der Kinder und Ju- gendlichen in der Schweiz verboten. Diese vor knapp 750 Jahren so zwanglos erzählte Gleichzeitigkeit der Verwen- dung des Schwarzpulvers als Kriegsmittel und Kinderspielzeug weist auf eine

1 Ri 6,11 – 8,35. 2 Bacon 1267/1962, S. 628f.

391 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

wenig belastete Verschränkung von Militär und Kinderwelt hin, die sich auch noch 400 Jahre später findet, als wohl zum ersten Mal die Kreide als Unterrichts- instrument gepriesen wurde, nämlich in Comenius’ Orbis sensualium pictus von 1653, und zwar in der Lektion über die Schule (Schola): «Quædam præscribuntur illis cretâ in tabellá.»3 In diesem äusserst populären Lehrbuch erhalten die Kinder – fast unmittelbar nachdem sie über die unterschiedlichen Kinderspiel(zeug)e informiert wurden (CXXX – CXXXVI) – noch in aller Selbstverständlichkeit de- taillierte, visualisierte und im heutigen Sinne vielleicht nicht gerade jugendfreie Informationen über den Kriegsmann, das Feldlager, die Schlachtordnung, die Feldschlacht, den Seekrieg sowie die Verwendung des «pulveris tormentarii», also über das Schiess- bzw. das Schwarzpulver (CXXXIX – CXLII). Unmittelbar nach dem Dreissigjährigen Krieg wusste man offenbar noch um die Realität von Pul- verdampf und sah, ungeachtet der Einführung des Kreidestaubs, keinen Grund, diesen von der Erziehung des Nachwuchses auszuschliessen, ganz im Gegenteil. Pulverdampf und Kreidestaub waren also zu jener Zeit noch keine sorgsam geschiedenen Lebensbereiche, im Unterschied zu heute, wo zumindest der im deutschsprachigen Raum dominante pädagogische Diskurs sorgfältig darauf bedacht ist, Erziehung und Schulung von allem Militärischen, aber möglichst auch von allem Wirtschaftlichen und Politischen zu trennen. Diese Trennung ist einer spezifischen Epistemologie geschuldet, welche partikulare Realitäten aus- blendet und so eine Form von Wissenschaft erzeugt, die mehr einer Ideologie gleicht, gerade auch in ihrer Geschichtsschreibung. Diese Epistemologie geht wesentlich einher mit einer durchgängigen Pädagogisierung der Welt, die sich um 1800 durchsetzte und die eine Pädagogisierung der christlichen Liebesethik enthält, welche das neutestamentarisch verbriefte Leben Jesu zum pädagogischen Vorbild macht4 und die alttestamentarische Ethik «Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuss um Fuss, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme» explizit ablehnt.5 Es war, nach Matthäus, Jesus selber, der seinen Jüngern empfahl, die alttestamentarische Ethik mit jener der Liebe zu vertauschen: «Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der Böses tut, keinen Widerstand! Nein! Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht ziehen will, um dein Gewand zu nehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer nötigt, eine

3 Comenius 1659, XCVII: «Etliches wird ihnen vorgeschrieben mit der Kreide an der Tafel.» 4 Es ist kein Zufall, dass der Star dieses kulturellen Wandels einer Pädagogisierung der Welt, Johann Hein- rich Pestalozzi, sich selber in der Nachfolge Jesu Christi sah (Tröhler 2013a). 5 Ex 21,23 – 25.

392 20. Jahrhundert

Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der von dir borgen will!»6 Eine pädagogische Epistemologie, die dieser Ethik folgt, kann keine Affinität zur militärischen Seite des Lebens haben (wollen), und sie kann auch nicht an ihrem Diskurs teilnehmen; sie bleibt dort stumm und ohne Worte. Wie stark gerade die deutschsprachige Pädagogik dieser christlichen und vor allem inner- lichen Ethik des Luthertums verpflichtet ist, muss hier nicht eigens erläutert werden.7 Diese Verpflichtung auf die innerliche lutherische Ethik hatte insofern Folgen, als die dominante evangelische langue (in Abgrenzung zu parole) die gesamte Pädagogik des klassischen Republikanismus und mit ihr etwa die im- plizite Pädagogik eines Machiavelli und sein Konzept der virtú gar nicht erst zur Sprache bringen konnte,8 Platons Pädagogik auf die oberste Stufe der Erkenntnis des Guten, Wahren und Schönen setzte und gleichsam seine Erziehung zur Kriegskunst – die conditio sine qua non der Philosophenbildung9 – marginalisier- te. Sie fand auch für das pädagogische Ideal des freien republikanischen Bürger- Soldaten keine Sprache, für das ein Grossteil der Schweizer Geschichte steht, sei diese nun als Mythos oder als eine andere Form von Realität zu deuten. Im do- minanten Diskurs dieser Pädagogik ist dann beispielsweise Pestalozzi der Päda- goge der Menschenliebe, allerdings stets als Mann derjenigen Liebe, die den Rezipienten vertraut war, und nicht jener, die Pestalozzi auch verfolgte, als er jede Woche die männlichen Schüler seines Erziehungsinstituts auf dem Innenhof des Schlosses in Yverdon unter einer Flagge exerzieren liess.10 Auf der Flagge stand übrigens Pestalozzi – In Amore Virtus, und im Zentrum befand sich der Schweizer Freiheitsheld Winkelried, ein (allerdings beilloses) Fascis haltend – das Amtssym- bol der höchsten Machthaber der Römischen Republik.11 Ich werde im Folgenden das Verhältnis von Militär und Erziehung bzw. Schule nicht als scharf getrennte Bereiche behandeln und malgré tout nach his- torischen Fallbespielen suchen, von denen es sehr viele gibt, wenn man nur danach sucht und zu dieser Suche auch noch durch eine Tagung ermuntert wird, deren Beiträge in diesem Band versammelt sind. Damit werde ich die dominan- te pädagogische Epistemologie infrage stellen, die sich im deutschen Sprachraum in den Begriffen der Bildung und des Geistes kristallisiert – ein diskursives Muster, das nicht zufälligerweise in jener Zeit dominant wurde, als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation unter den Truppen Napoleons so jämmerlich

6 Mt 5:38 – 42. 7 Vgl. dazu Osterwalder 2005; Osterwalder 2006; Tröhler 2011a; Tröhler 2014. 8 Tröhler 2003. 9 Platon 408/407 v. Chr./1994, 376e – 412b. 10 Zahnder 1931, S. 55 – 57. 11 Tröhler 2013a.

393 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

zusammenkrachte:12 Der Kreidestaub sollte fortan die Zukunft der Nationen und der Menschheit insgesamt gestalten, die Armeen mit ihrem Pulverdampf sie bloss verteidigen. Es ist diese Epistemologie, die es verunmöglichte, die Rechnung mit dem Wirt zu machen, da man im Zuge der Pädagogisierung der Welt ein romantisiertes Lebensalter «Kindheit» konstruierte,13 für die man eine Schule konzipierte, die man – von Aspekten in den Fächern Turnen und Singen sowie von Kadettenspie- len einmal abgesehen – von militärischen Elementen freizuhalten suchte. Es war indes genau diese im deutschen Sprachraum so erfolgreiche Epistemologie und der mit ihr verbundene Diskurs, die und der gegenüber grösseren realen Ent- wicklungen – und das ist die These, die hier vertreten wird – blind machten, für sie keine Sprache fanden und dann Empörung und Abscheu auslösten, als die neuen Realitäten schlicht nicht mehr zu verdrängen waren: Damit ist das Entset- zen gemeint, das PISA in der pädagogisierten Welt Deutschlands auslöste14 bzw. dessen Vorgeschichte in der Mitte des Kalten Krieges, einer Entwicklung, die wiederum eine Vorgeschichte im Zweiten Weltkrieg hatte.15 Ein ähnliches Ent- setzen rief die Rakete Sputnik in den USA hervor, die eine Form von Pädagogi- sierung des Kalten Krieges auslöste, die mit der dominanten Sprache der dama- ligen US-amerikanischen Pädagogik und ihrer Epistemologie nicht vereinbar war. Ich werde den Nachweis für diese These in vier Schritten erbringen. Zunächst werde ich die kriegsbedingte Euphorie für die Naturwissenschaft und bestimm- te Ideale von Forschung beleuchten (1.) und dann auf die Idee der Anreize (In- centives) eingehen, die in diesem Zusammenhang in der Schulpolitik entwickelt wurden (2.). Im dritten Teil analysiere ich die globale Agenda der Bildungsreform und ihre Sprache (3.), um dann auf die institutionellen Aspekte (CERI) und die Instrumente (Indikatoren, PISA) einzugehen (4.). In einem Ausblick reflektiere ich auf methodologische Aspekte meiner Ausführungen (5.).

1. Science – The Endless Frontier Es ist in der Wissenschaftsgeschichte schon mehrfach darauf verwiesen worden, wie stark sich die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges auf den Zusammenhang von Politik, Militär und Wissenschaft (meist Physik und Chemie) ausgewirkt ha- ben.16 Der Erfolg, den die interdisziplinären Teams in den verschiedenen Labo- ratorien mit der Entwicklung des Radars, des Echolots, des Abstandszünders und

12 Horlacher 2016. 13 Baader 1996; Baader 2016. 14 Tröhler 2011b. 15 Tröhler 2013b. 16 Fortun/Schweber 1993; Pickering 1995; Elichirigoity 1999; Rudolph 2002.

394 20. Jahrhundert

natürlich der Atombombe hatten, lieferte das Muster, wie in Zukunft Forschung für den Nutzen der Zivilgesellschaft ausgeführt und genutzt werden sollte.17 Für die Machtträger von damals war nämlich klar, dass die erfolgreichen Mechanis- men, die geholfen hatten, den Krieg zu gewinnen, auch in der Friedenszeit wirk- sam sein mussten. Für diese Haltung gibt es ein Schlüsseldokument, das im Auftrag des damaligen Präsidenten Roosevelt von Vannevar Bush verfasst wur- de, einem Ingenieur und Initiator des Manhattan Projects.18 Der Bericht Science – The Endless Frontier wurde am 25. Juli 1945 an Präsident Harry S. Truman ab- geliefert und verband die Zukunft eng mit dem Kampf gegen Krankheiten, Ag- gressoren, und dem Aufbau eines Wohlfahrtsstaates auf der Basis von «new knowledge», das nur durch «basic scientific research» generiert werden könne,19 und zwar in interdisziplinären Teams, wie sie die militärberatende Forschung des Zweiten Weltkriegs prägten: «Science can be effective in the national welfa- re only as a member of a team, whether the conditions be peace or war. But wit- hout scientific progress no amount of achievement in other directions can insure our health, prosperity, and security as a nation in the modern world.»20 Der vielleicht eindrücklichste Ausdruck dieses gesellschaftspolitischen Pro- gramms ist die 1948 erfolgte Gründung der RAND-Cooperation, eines zunächst aus Mitteln der Air Force und Douglas Aircraft finanzierten Thinktanks zum Zwecke einer expertokratisch operierenden militärischen und zivilen Politikbe- ratung.21 Der Thinktank wurde erst ausseruniversitär organisiert und der militä- rischen Geheimhaltung verpflichtet, später wurde er unabhängig und gewann mit der Koreakrise zunehmend an Einfluss: In den 1960er-Jahren verfügte er über einen Mitarbeiterstab von bis zu 400 Ökonomen und Sozialwissenschaftlern und zeigte grosses Interesse an schulreformerischen Aktivitäten.22 Ebenfalls der Koreakrise verdankte sich im Rahmen dieses politischen Programmes Science – The Endless Frontier die Gründung der amerikanischen National Science Founda- tion 1950, deren Ziel es war, «to promote the progress of science; to advance the national health, prosperity, and welfare; and to secure the national defense».23 Jenseits der Politikberatung und der Steuerung der Hochschulforschung sollte aber auch der Lehrplan, vor allem jener der Sekundarstufe, geändert werden, und wiederum bedurfte es dazu einer militärischen Krise, die dieses Mal durch

17 Z. B. Overy 1995. 18 Bush 1945. 19 Ebd., Summary of the Report. 20 Ebd. 21 Hahn 2006, S. 58ff. 22 Hughes/Hughes 2000, S. 14. 23 http://www.nsf.gov/about/glance.jsp (abgerufen am 6.7.2016). Der Schweizerische Nationalfonds zur För- derung der wissenschaftlichen Forschung wurde zwei Jahre später, 1952, vom Physiker und Mediziner Ale- xander von Muralt gegründet.

395 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Sputnik ausgelöst wurde, den allerersten Satelliten im All, der von den Sowjets entwickelt worden war.24 Der Schock der selbstbewussten Amerikaner war gra- vierend, und die Schuldigen für Amerikas offensichtlichen Rückstand in der Raumfahrt wurden im öffentlichen Schulsystem gesucht. Den Kalten Krieg galt es in Amerikas Schulzimmern zu gewinnen, und einer der massgeblichen Pro- pagandisten in Sachen Schulreform war der ehemalige Vizeadmiral und «Vater der Nuklearmarine» Hyman G. Rickover. Unmittelbar nachdem Sputnik in den Orbit geschickt worden war, folgte eine Schelte der amerikanischen Schulpäda- gogik und ihrer Doktrin des life adjustment, welche die militärische Sphäre des Lebens ausblendete. Rickover monierte, dass «if the local school continued to teach such pleasant subjects as ‹Life Adjustment› and ‹How to know when you are really in love›, instead of French and physics, its diploma would be, for all the world to see, inferior».25 In diesem Zusammenhang propagierte er nationale Standards: «In some fashion we must devise a way to introduce uniform standards into American education. It would be best to set up a private agency, a Council of Scholars, financed by our colleges and universities as a joint undertaking – or perhaps by Foundations. This council would set a national standard for the high school diploma, as well as for the scholastic competence of teachers.»26 Die Propagierung nationaler Standards als Kern der angestrebten Schulreform war keine Eintagsfliege. 1959 veröffentliche Rickover ein Buch mit dem Titel Education and Freedom, in dem Schulbildung in einer militärischen Sprache de- finiert wurde, indem er sie als «first line of defense» bezeichnete.27 1961 wurde das Buch neu aufgelegt, ergänzt mit einem Vorwort des früheren Militärjourna- listen Edward Roscoe Murrow, und drei Jahre später veröffentliche Rickover das Buch Swiss Schools and Ours: Why Theirs are Better (1962), ein weiteres Jahr später American Education, a National Failure: The Problem of Our Schools and What We Can Learn from England (1963) und dann, am Ende der 1960er-Jahre, Liberty, Science, and Law (1969). Rickover war im militärischen Umfeld kein Solitär darin, pädagogische Am- bitionen zu entwickeln, sondern Teil einer kalt-kriegerischen Sorge um die amerikanische Schule und deren negative Auswirkungen auf die Landesverteidi- gung. Wie breit diese Epistemologie und ihr Diskurs war, lässt sich etwa an Jero- me Bruner zeigen, der sich ohne Zögern der militärischen Metaphorik bediente,

24 Schon im Kontext des Zweiten Weltkriegs wurden die Science Fairs und Science Clubs, die seit den 1920er- Jahren mit dem Ziel organisiert worden waren, pädagogisch, aber extracurricular die Qualität von citizen- ship zu erhöhen, militarisiert und ökonomisiert, aber es bedurfte dann der Sputnik-Krise, dieses Pro- gramm endgültig dominant zu machen (vgl. Terzian 2013). 25 Rickover 1957. 26 Ebd. 27 Rickover 1959, S. 15.

396 20. Jahrhundert

als es um die als notwendig erachtete Schulreform nach Sputnik ging.28 In der Folge von Sputnik hatte das Education Committee of the National Academy of Sci- ences – eine Vereinigung von «advisers to the nation on science, engineering, and medicine» – verschiedene Exponenten zu einer zehntägigen Konferenz nach Woods Hole (Massachusetts) geladen, einer Tagung, die durch die Air Force, die RAND Corporation und die National Academy of Sciences finanziert wurde,29 mit dem Ziel, die Lehrpläne und die «ways of teaching science» zu reformieren.30 Leiter der Tagung war Jerome Bruner, der sich selbst nicht als Experte in Schul- fragen verstand, der aber vorgab, dass die Konferenz eine «engineering perspec- tive» einzunehmen habe, mit der man nicht unbedingt auf die Optimierung des bestehenden Schulsystems ziele, sondern, gestützt auf die neuen Technologien, notfalls auf eine komplette Reorganisation «from scratch».31 Die an der Tagung versammelten Experten kamen zum Schluss, dass «the goals of education [ … ] expressed in terms of the human functions and tasks to be performed [ … ] can be as exactly and objectively specified as can the human functions and tasks in the Atlas Weapon System»,32 also im System der ersten interkontinentalen Raketen, die von amerikanischem Boden aus Russland hätten treffen können. Weitgehend unbeachtet von der akademischen Erziehungswissenschaft und der organisierten Lehrerschaft – ihre Vertreter waren im Unterschied zu den Psychologen gar nicht erst eingeladen worden – , begann sich in der kalt-kriege- rischen Epistemologie ein spezifischer Diskurs zu entwickeln, der weder wirklich Anschluss an die Universitäten noch zum Feld der Akteure suchte, gleichwohl in expertokratischer Ambition höchste Politikrelevanz beanspruchte und dazu ein spezifisches Wissen generieren musste, wie es nach dem Jahr 2000 mit der Publikation der ersten PISA-Resultate sichtbar geworden ist.

2. Incentives im Wechsel vom Input zum Output der Schulsteuerung Die militärische Sorge um die Leistung der Schule stand im engsten Kontext der allgemeinen politischen Sorgen. Mit Dwight D. Eisenhower war der ehemalige Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte an der Westfront in Europa Prä- sident der USA geworden, der sich am Prozess der Pädagogisierung des Kalten Kriegs stark beteiligte. Im Januar 1958, kurz nach Sputnik also, hielt er im Kon- gress eine Rede unter dem Titel Recommendations Relative to Our Educational Sys-

28 Jerome Bruner diente während des Zweiten Weltkriegs als Kriegspsychologe unter dem General und späte- ren Präsidenten Eisenhower in der Psychological Warfare Division of the Supreme Headquarters of the Al- lied Expeditionary Force Europe Committee. 29 Bruner 1960, S. ix. 30 Ebd., S. vii. 31 Bruner, zit. in Rudolph 2002, S. 94. 32 Ebd., S. 99.

397 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

tem 33 und meinte: «Because of the growing importance of science and technology, we must necessarily give special, but by no means exclusive, atten- tion to education in science and engineering.»34 In der Tat, noch im selben Jahr verabschiedete der Kongress das erste nationale Bildungsgesetz unter dem be- zeichnenden Namen National Defense Education Act (1958). Die Logik hinter diesem «Bildungsgesetz zur Landesverteidigung» ist eindeu- tig, wie aus der Einleitung zum Gesetz sichtbar wird: «To strengthen the national defense and to encourage and assist in the expansion and improvement of edu- cational programs to meet critical national needs; and for other purposes» sei folgendes Gesetz verabschiedet worden, das so beginnt: «The Congress hereby finds and declares that the security of the Nation requires the fullest development of the mental resources and technical skills of its young men and woman.»35 Weil die «defense of this Nation depends upon the mastery of modern techniques developed from complex scientific principles», müssten die jungen Menschen in drei Kernbereichen besonders gebildet werden, nämlich in «Naturwissenschaften, Mathematik sowie in Fremdsprachen», und mit Technologie vertraut werden.36 Damit wurden erstmals die drei Schulfächer prioritär, die viel später den Kern von PISA bilden werden, mit dem einzigen Unterschied, dass das Gesetz auf Fremdsprachen statt auf die Muttersprache zielte wie im Falle von PISA. In Übereinstimmung mit der föderalistischen amerikanischen Verfassung schrieb der National Defense Education Act den Schulen nicht vor, was sie zu tun hätten, versprach aber grosse Geldmengen – incentives – , falls sich die lokal ge- steuerten Schulen freiwillig dazu verpflichteten, die drei oben genannten Schul- fächer verstärkt zu fördern. Aus dem Dilemma zwischen dem dezidierten politi- schen Willen, die nationale Sicherheit mit einer Bildungsreform zu gewährleisten, und der verfassungsmässig garantierten schulpolitischen Autonomie der Gliedstaaten und der Kommunen führte lediglich das Mittel des finanziellen Anreizes. Wer sich also den Strategien aus Washington verpflichtete, sollte Gelder zur Deckung der anfallenden Kosten erhalten – 183 Millionen Dollar für das Jahr 1959 und 222 Millionen für das Jahr 1960. Für die damalige Zeit waren dies riesige Summen. Die Schulen waren durchaus bereit, das viele Geld in Empfang zu nehmen. Das Problem war dabei, dass sie dieses Geld oft weniger in den Ausbau der na- turwissenschaftlichen, mathematischen oder fremdsprachlichen Fächer steckten,

33 Schon am 15. November 1957, unmittelbar nach Sputnik, hatte sich Eisenhower im Namen der nationalen Sicherheit für mehr schulischen Unterricht in den Naturwissenschaften ausgesprochen (vgl. Eisenhower 1957). 34 Eisenhower 1958, S. 103. 35 NDEA 1958, Sec. 101. 36 Ebd.

398 20. Jahrhundert

sondern in die Renovation ihrer maroden Schulhäuser oder für den Bau teurer Sportanlagen – die kalt-kriegerischen Mittel zur Verteidigung der Nation wurden einfach in die lokale Logik übersetzt, mit der die school boards die Schule verstan- den – als the making of citizen. Dabei waren sie durch die verfassungsmässig ga- rantierte Autonomie vor Eingriffen aus Washington geschützt, das sich seinerseits neue Strategien überlegen musste, um seine Ziele zu erreichen. Die Lösung, das heisst die Idee des vergleichenden Leistungsvergleichs, d. h. der Output-Steuerung, sollte sich als sehr nachhaltig erweisen – bis heute in Europa. Wer nämlich das Geld gemäss den national definierten Prioritäten investierte, so die Überlegung, müsste eigentlich Effekte nachweisen können, die ihrerseits durch Tests sichtbar gemacht werden könnten. Diese durch vergleichende Tests festgestellten Effekte wurden im Sinne der damals boomenden Humankapitaltheorie als Outputs de- finiert, und daran hatte sich die nationale Politik des Kalten Krieges fortan zu orientieren: Monetäre Unterstützung für Schulen sollte nur noch gegen messba- re Leistung, das heisst gegen nachweisbare Outputs, fliessen.37 Zu diesem Zweck wurde 1964 das National Assessment of Educational Progress gegründet, dessen Aufgabe darin bestand, Instrumente vergleichenden Testens zu entwickeln. Die Einführung dieser Tests war alles andere als unbestritten, und die Verteidiger regionaler bzw. lokaler Autonomie wehrten sich gegen den Anspruch Washingtons, Daten ihrer Schule zu sammeln. Es folgten heftige Auseinanderset- zungen. Das bildungspolitische Schwergewicht Francis Keppel, vormals Leiter der Graduate School of Education in Harvard,38 plädierte mit folgenden Argumenten für die Einführung vergleichenden Testens: «American education today is woeful- ly short of the basic information needed to carry forward our many educational purposes, to set sound goals, and to work together to reach them. The U.S. Office of Education, for example, can report on all sort of things about education: how many teachers we have, how many school children, how many school buildings, and possibly whether the buildings are painted or not. But as yet we do not know how much our children really know, the subjects in which they are strong or weak, the relation between income levels and learning, or a host of other matters.»39 Es sollte allerdings noch fünf Jahre dauern, bis die Instrumente vergleichenden Testens entwickelt waren und der erste nationale Test – allerdings auf freiwilliger

37 Tröhler 2013b. 38 Während des Zweiten Weltkrieges diente Francis Keppel im Joint Army-Navy Committee on Welfare and Recreation und dann in der U.S. Army’s Information and Education Division und war später verantwortlich für ein zweites nationales Bildungsgesetz 1965 (Elementary and Secondary Education Act), das sehr ähnli- che Ziele wie jenes von 1958 verfolgte und das ebenso wie das erste Bildungsgesetz über finanzielle Anreize arbeiten musste. 39 Keppel 1966, S. 5.

399 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Basis – durchgeführt werden konnte. Diese hier entwickelten Instrumente wur- den später die Basis der PISA-Studie.

3. Die globale Agenda der Bildungsreform und ihre Sprache Obgleich die Bildungsreformen einem gesellschaftspolitischen Programm folg- ten, das 1945 aufgrund der Kriegserfahrungen im Zweiten Weltkrieg gemacht worden war, und obschon die Steuerung der Forschung und die angestrebte Re- form des Schulsystems sich konkreten militärischen bzw. kalt-kriegerischen Er- eignissen zu verdanken hatte, verschwand das militärische Vokabular sehr schnell aus den Diskussionen um die Implementation der angestrebten Reformen. Zwar blieb der Diskurs stets jener der nationalen Verteidigung bzw. jener des Kalten Krieges, die Performanz der Diskussion indes, die auf politische Implementati- on gerichtet war, entwickelte sich unter Stichwörtern wie Entwicklung (develop- ment), Wachstum, Planung und Management, insbesondere in Europa, das nach dem Zweiten Weltkrieg eine deutlich verkrampftere Partnerschaft zwischen Mi- litär und Politik hatte als die USA – vielleicht mit Ausnahme von Frankreich un- ter dem Staatspräsidenten und ehemaligen General Charles de Gaulle, weshalb es möglicherweise auch kein Zufall ist, dass wichtige internationale Agenturen wie die OECD oder das UNESCO International Institute for Educational Planning IIEP auf europäischem Boden in Paris stationiert wurden. Eine dieser Agenturen ist die OECD, deren Vorgängerorganisation die OEEC ist. Sie ging aus dem mit US-amerikanischen und kanadischen Geldern finan- zierten Marshallplan (1948 – 1952) hervor und galt als wirtschaftlicher Arm der NATO. Der Marshallplan (entwickelt vom amerikanischen General George C. Marshall, der für diesen Plan 1953 den Friedensnobelpreis erhielt) war ein anti- kommunistischer Sicherheitspakt, verbunden mit einer Absicherung der Übersee- Absatzmärkte, wofür eine verstärkte europäische Integration entscheidend war, die mit der OEEC organisiert werden sollte. Mit dem Marshallplan kam indes nicht nur nordamerikanisches Kapitel nach Europa, sondern auch Diskurse, die von Ökonomen, Kulturverantwortlichen und nicht zuletzt CIA-Mitarbeitern verkörpert wurden.40 Dabei ging es nicht nur darum, Produktivität zu steigern, sondern auch um praxisrelevante Forschung. Diese fand innerhalb der OEEC 1958 – wenige Tage nach Sputnik – in der Form der Bewilligung des Committee for Scientific and Technical Personnel(CSTP) ihren institutionellen Niederschlag, in dessen Rahmen nun Bildungsplanung, Bildungsmanagement, international vergleichende Bildungsstatistik, die Idee der zentralen Steuerung durch quanti- fizierte Standards, eine Expansion des Bildungswesens und eine umfassende

40 Rodgers 1998, S. 502.

400 20. Jahrhundert

Curriculumreform der europäischen Sekundarschulen in Angriff genommen wurden.41 In den europäischen Nationalstaaten konnte man sich nicht auf eine so enge Verflechtung von Politik und Militär stützen, schon gar nicht in Deutschland. Die rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien galt es zu respektieren und entsprechend Taktiken zu entwickeln, um einerseits die nationalen Hoheiten in Bildungsfragen nicht zu hinterfragen und gleichzeitig die internationalen Inter- essen des westlichen Blocks durchzusetzen. Dabei wurden Tabuthemen vermie- den, Absichten verschleiert und Ziele mehrdeutig formuliert.42 Unter die Rubrik «Tabuthemen-Vermeiden» gehörte, dass die OECD Schlagworte wie Krieg, Armee, Militär, Waffen, Kommunismus oder Sputnik nie benutzte, obgleich die curricu- laren Bemühungen, wie sie schon im Namen des Committee for Scientific and Technical Personnel (CSTP) deutlich zum Ausdruck kamen, ganz im Sinne des National Defense Education Act auf den Ausbau von Wissenschaft und Technik gerichtet waren. Die tatsächlich benutzte Sprache der OECD, also die konkrete Diskussion (parole), war weit weg von den globalen Spannungen und vorwiegend darauf gerichtet, nationale Politiken zur Durchsetzung von Standardisierungen zu bringen. Als das Arbeitsprogramm des neu gegründeten CSTP definiert wurde, erklärte der Rat, das oberste Organ der OECD: «We are deeply convinced that science and technology, and the advanced education on which they must be based, are the pillars on which future social and economic progress must be built.»43 Das Programm setzte anscheinend einzig und allein auf ökonomische und soziale Entwicklung, während das zu dieser Zeit stattfindende Wettrüsten in den OECD-Dokumenten und ihren Publikationen zwischen 1960 und 1964 aus strategischen Gründen überhaupt keine Erwähnung fand. Die Tabuthemen wurden mit einer verschleiernden Rhetorik ergänzt. Die im Rahmen der Verhandlungen benutzte Sprache wurde nie dazu verwendet, die von der OECD favorisierte Strategie de facto zum Ausdruck zu bringen, sondern diese von den Adressaten – den einzelnen Nationalstaaten – als erwünscht er- scheinen zu lassen. Die OECD teilte die Sorgen ihrer Mitglieder und nahm ihre Probleme ernst, für deren Bewältigung sie ihnen mit effizienten Lösungsstrategi- en zur Seite stehen wollte. Entsprechend war das Ziel ihres Komitees für natur- wissenschaftliches und technisches Personal (CSTP) so umschrieben: «helping the development of national policy towards the effective revision of the teaching of scientific subjects, within the framework of a more general policy designed to

41 Bürgi 2015. 42 Vgl. für das Folgende Tröhler 2013c. 43 OECD/C(61)70, 1.

401 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

increase the quality and quantity of scientific and technical personnel».44 In die- sem Sinne zielte das Komitee darauf, das Interesse seiner Mitgliedsländer zu er- wecken, indem es ihnen bei der Entwicklung nationaler Politiken half, die eine effektive Revision des naturwissenschaftlichen Unterrichts ermöglichten.45 Die OECD berichtete, dass gewisse Probleme in den meisten Mitgliedstaaten wahr- genommen würden und dass diese die grossen Sorgen hinsichtlich deren Entwick- lungen teilten.46 Die Erfahrungen mit einem Entwicklungsprogramm, das auf die Mittelmeerländer gezielt hatte, hätten gezeigt, dass die Effekte auf die Bildungs- politik möglicherweise substanzielle Folgen zeitigten und dass das Einsetzen von Planungsteams quasi einem allgemeinen Bedürfnis entspreche.47 Die wohl wichtigste Erkenntnis fusste allerdings darauf, dass der enge Kontakt zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten dazu führte, «to have a major impact not only on methods of approach to educational planning, but on actual policy decisions taken by national authorities».48 Zu den Tabuthemen und zur verschleiernden Rhetorik gehörte auch, dass die effektiven Ziele kaum je explizit genannt wurden. Politische Ziele werden gar nie geäussert – Demokratie wird nicht explizit angestrebt. In den meisten Textstellen tritt das Ziel in doppelter und mehrdeutiger Form auf: «economic and social development». In den OECD-Dokumenten werden Stellungnahmen wie die folgende gleich einem Mantra repetiert: «The O.E.C.D. policy approach [ … ] may be simply expressed as the recognition that education must be looked upon as an investment which is intimately related to the future of economic and social pro- gress of the individual nations, and of the O.E.C.D. area as a whole.»49 Damit wurde eine bildungspolitische Sprache entwickelt, die sich einer kalt- kriegerischen Epistemologie verdankte, aber in den Mitgliedstaaten keine wirk- lichen Feinde sehen konnte, sondern nur etwas weniger weit entwickelte Länder, die es über die OECD noch weiter zu entwickeln galt. Die von der OECD benutz- te Sprache ist die der «respektierlichen Herablassung», charakterisiert durch eine grosse Skepsis gegenüber demokratischen Verfahren – und dies bis heute.

4. CERI, Indikatoren und PISA Der auch in Europa viel zitierte Wandel von der bildungspolitischen Input-Steu- erung zur Output-Steuerung hat ihren Ausgangspunkt in der misslichen Lage der pädagogischen Reformer des Kalten Krieges in den USA. Der bedeutende

44 STP(61)15, 1. 45 OECD/STP(61)3, 1. 46 STP (62)19, 8. 47 STP (62)19, 10. 48 STP (62)19, 10f. 49 STP (63)5, 1.

402 20. Jahrhundert

Unterschied zu Europa ist, dass in den USA gar kein Wandel möglich war, weil die zentrale Regierung gar nie ein Input-Mandat innehatte – und noch immer nicht hat: Die Macht über die klassischen Input-Bereiche wie Lehrplan- und Lehr- mittelentwicklung, Lehrerbildung oder Übergangsregelungen zwischen Schul- stufen lagen nie und liegen bis heute nicht in Washington. Der Wechsel von Input zu Output war nicht ein bildungspolitischer Wechsel innerhalb derselben bildungspolitischen Behörde, wie in Europa, sondern eine Verschiebung der bil- dungspolitischen Machtansprüche von der Kommune bzw. vom Gliedstaat zum Zentralstaat, der allerdings über kein Input-Mandat verfügt. Die einzige Lösung, die sich in den USA unter diesen Vorzeichen anbot, war, Gelder im Austausch für erwünschte Leistungen anzubieten und zu kontrollieren, ob sie Effekte zei- tigten. Es war diese Strategie, welche die USA nun unter Ronald Reagan, der den Kalten Krieg einerseits massiv anheizte und ihm andererseits aber auch ein Ende setzte, auf die gesamte westliche Welt ausdehnte. Noch bevor Reagan an die Macht kam, erlebte insbesondere die amerikanische Automobilwirtschaft durch die Ölkrise des Jahrs 1973 ein Debakel, das sich ver- stärkte, als um 1980 die koreanische Automobilindustrie in den amerikanischen Markt eintrat. Um das Problem zu lösen, setze Reagan eine Kommission ein, die Ursachen und Lösungen zu erarbeiten hatte. Der daraus resultierende Experten- bericht A Nation at Risk stellte – einmal mehr – fest, dass das Bildungssystem versagt habe und grundlegende Reformen dringend nötig seien.50 A Nation at Risk erschien 1983, und im selben Jahr wurde die OECD vom US-amerikanischen Delegierten bedrängt, nach dem Vorbild der USA vergleichende Bildungsstatis- tiken über die Inputs und Outputs der einzelnen Staaten zu erstellen. Die euro- päische Bildungspolitik sollte gleichsam dem Output-Paradigma der USA folgen, das diese allerdings nur deswegen entwickelt hatten, weil sie gar keine Input- Politik machen durften. Das Forum dieser globalen Expansion sollte also die OECD sein, genauer ge- sagt ihr Centre for Educational Research and Innovation (CERI), das 1968 mithilfe von Geldern der Ford-Stiftung und der Royal-Dutch-Shell-Stiftung gegründet worden war.51 Über das CERI sollte die globale Reformation der nationalen Bil- dungswesen nach dem Vorbild der US-amerikanischen Bildungspolitik erfolgen, obgleich die europäischen Nationalstaaten im Unterschied zu den USA – mit

50 United States 1983; vgl. auch Tröhler 2006. 51 Das Zentrum wurde gegründet, nachdem die OECD um 1964 das bildungspolitische Interesse an Curricu- lumentwicklung (Input) verloren hatte (vgl. Tröhler 2013b). Bildungssysteme galten im Sinne des Kalten Krieges als defizitär und als fundamental reformbedürftig, vor allem hinsichtlich des Ausbaus der Sekun- darschulen («Bildungsexpansion»), der Naturwissenschaften und der Mathematik. Die Rhetorik war auch in Deutschland beunruhigend, bekanntlich hatte Georg Picht 1964 in aufsehenerregender Weise von einer Deutschen Bildungskatastrophe (Picht 1964) gesprochen, und Ralf Dahrendorf erinnerte1965 eindringlich an die Prämisse Bildung ist Bürgerrecht (Dahrendorf 1965).

403 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Ausnahme Deutschlands und der Schweiz – nationale Input-Politik betreiben konnten, wobei weder in Deutschland noch in der Schweiz die Kommunen so viel Entscheidungskompetenz haben wie in den USA. Wie die Amerikaner auf das CERI Druck ausübten, eine Politik der Output-Steuerung zu folgen, berich- tete der pädagogische Berater der Weltbank (1976 – 1984), Stephen P. Heyneman: «The US delegate was said to have put a great deal of pressure and in very direct language for OECD to engage itself in a project collecting and analyzing statistical education ‹inputs and outcomes› – information on curricular standards, costs and trends and the like. The reaction among the staff of CERI was one of shock, and deep suspicion. Those whom I interviewed believed it was unprofessional to try and quantify such indicators, and that it would oversimplify and misrepresent OECD systems, and that it would be rejected by the twenty-four member states whose common interests they were charged to serve.»52 Der Druck der US-Amerikaner, vor allem auch auf finanzieller Ebene, war allerdings zu gross, und das CERI wurde kurze Zeit später zur Plattform, mittels deren die US-amerikanische – aus einer Notlage geborene – Bildungspolitik globalisiert werden sollte. Die Ambitionen waren noch dieselben wie in der un- mittelbaren Zeit nach Sputnik: ein Ausbau der Naturwissenschaften, der Mathe- matik sowie der Muttersprache (im Unterschied zu den Fremdsprachen 1958). Es dauerte noch einige Jahre bis zur Umsetzung, doch 1992, drei Jahre nach Ende des Kalten Krieges, erschien der erste der jährlich publizierten Reports unter dem Namen Education at a Glance, der sich freilich weniger durch Wissenschaftlichkeit als durch vermeintliche bildungspolitische Nützlichkeit auszeichnete.53 Kurze Zeit später folgte dann, derselben Logik verpflichtet, PISA.

5. Ausblick Die in diesem Artikel vollzogene Rekonstruktion zeigt, wie das Militärische der Moderne zwar vom dominanten Diskurs der Pädagogik «verschwiegen» wird, aber dennoch höchste Relevanz gerade im Feld der Schule besitzt. Es war natür- lich eine Ironie der Geschichte, dass eine bildungspolitische Strategie, die sich im Kontext des Kalten Krieges aufgedrängt hatte, sich erst dann global durchset- zen konnte, als der Kalte Krieg mit dem Fall der Mauer 1989 schon vorbei war. Vielen Kommentatoren ist die Wurzel dieser Bildungspolitik verborgen geblie- ben, egal mit welcher Aggression sie auf PISA schauten. Im Diskurs der inner- lichen Liebesethik stehend, erkannte die Intelligenzija Deutschlands in PISA nur ein «Krebsgeschwür» einer «value-for-money-ideology» und zeigte sich erstaunt,

52 Heyneman 1993, S. 375. 53 Weymann/Martens 2005, S. 79.

404 20. Jahrhundert

dass «die sprachlos werdende Welt den Ideologen des Reichtums und des Wirt- schaftslebens verfällt».54 Bei PISA gehe es um die Begrenztheit von Sprache, wie der Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung Wolfgang Frühwald meinte, was sicherlich dann zutrifft, wenn jene des dominanten pädagogischen Diskurses gemeint ist. Es ist kein Zufall, dass sich die ganze kalt-kriegerische Ideologie fast vollständig ausserhalb der Universitäten entwickelt hatte: in Deutschland ab 1951 im Rahmen der «Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung», die unter Beteili- gung der US-amerikanischen Militärbehörde auf Beschluss der hessischen Landesregierung gegründet worden war, und später der Max-Planck-Gesellschaft für Bildungsforschung. In diesen Agenturen waren auffällig viele Akteure tätig, die kaum Zugang zu den universitären Lehrstühlen hatten und entsprechend von der noblen akademischen Pädagogik und ihren um die Liebesethik herum for- mierten Bildungsbegriff schlicht ignoriert wurden – bis dann PISA kam, das die wissenschaftliche Pädagogik in Schockstarre versetzte und dabei im Gegenzug die Kognitionspsychologen (diese erlebten nicht zuletzt dank Jerome Bruner einen Aufschwung) im Feld vorrücken und zugleich so übermütig werden liess, dass sie der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft den Rücken kehrten und eine eigenständige Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF) gründeten.55 Nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern mindestens auch im englischen und spanischen, haben wir heute eine Frontstellung – der militärische Ausdruck ist intendiert – zwischen einer die wirtschaftliche und militärische Seite des Le- bens nicht zur Sprache bringen könnenden Epistemologie der christlichen Lie- besethik (im lutherischen Raum wird diese um die Dimension der Innerlichkeit radikalisiert) und einer technokratischen Epistemologie des social engineering, der Planung und der statistikgestützten Prognose, die dem «cult of facts» anhängt. Beide haben ihre je eigenen historiografischen Typen: auf der einen Seite die grossen Helden, allen voran Wilhelm von Humboldt, zelebrierend, auf der ande- ren die wahren Fakten der Sozialgeschichte oder Archivalien der Institutionen- geschichte betonend. Mit dieser historiographischen Diskussion schliesse ich meinen Beitrag ab. Vor gut fünfzig Jahren wurde die Idee der faktenorientierten Geschichtsschrei- bung in einer brillanten Diskussion debattiert. Der britische Historiker Sir Geoffrey Elton hatte nämlich 1967 in einem Buch The Practice of History explizit für eine Geschichtsforschung plädierte, die sich auf «true facts» stützte: «Histo-

54 Frühwald 2004, S. 42, 44. 55 Tröhler 2014.

405 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

rical method is no more than a recognized and tested way of extracting from what the past has left the true facts and events of that past, and so far as possible their true meaning and interrelation … Its fundamental principles are only two and they may be expressed as questions, thus: exactly what evidence is there, and exactly what does it mean?»56 Eltons Buch war dabei eine Polemik gegen den damals führenden britischen Historiker Edward Hallett Carr, der ein paar Jahre zuvor in seiner Publikation What Is History?57 das kritisiert hatte, was der britische Sozialpsychologe Liam Hudson später «the cult of facts» nannte:58 «The belief in a hard core of historical facts existing objectively and independently of the interpretation of the historian is a preposterous fallacy, but one which it is very hard to eradicate.»59 Carr sollte mit seinem Pessimismus insofern recht behalten, als der «cult of facts» die Historiographie dominierte, bis Quentin Skinner, gestützt auf die Sprachphilosophie John L. Austins, Carrs Position mit dem Argument verteidig- te, dass es keine Methoden und Theorien geben könne, die nicht normative Theorien über das Soziale enthielten.60 «Elton’s fundamental reason for wishing to emphasise technique over content appears to have been a deeply ironic one: a fear that historical study might have the power to transform us, to help us think more effectively about our society and its possible need for reform and reformation.»61 Diese Angst vor historischer Selbsterkenntnis, vor der Erkenntnis der Grenzen diskursiver Ordnungen führte zu beiden beliebten pädagogischen Historiogra- phien (der romantisierten Ideengeschichte der christlichen Liebesethik und der archivbasierten Faktengeschichte). Dabei wurde die Frontstellung selber nie historisch rekonstruiert. Diese Rekonstruktion ist indes nur als Diskursgeschich- te möglich, die es allen unpräzisen Verwechslungen mit der Diskussionsgeschich- te zum Trotz zu verteidigen gilt.62 Nur eine Auseinandersetzung mit den Diskur- sen kann die Ermöglichung und die Grenzen des Sagbaren in den verschiedenen Epistemologien zur Sprache bringen. Der historiografische Fokus auf Sprachen oder Diskurse kann nicht nur den Aufstieg der militärisch bedingten Expertokra- tie hinter der OECD und PISA rekonstruieren, sondern auch die traditionelle

56 Elton 1967/1969, S. 86f. 57 Carr 1961. 58 Hudson 1972. 59 Carr 1961, S. 6. 60 Vgl. auch Popkewitz 2015. 61 Skinner 2002, S. 26. 62 In der Linguistik unterscheidet James Paul Gee Discourse («Big D Discourse») von discourse («little d Dis- course»). Letzteres bezeichnet die «language-in-use», das gesprochene Wort, oder parole oder eben Diskus- sion/Debatte. Wenn es indes um fundamentale Einstellungen oder Werte geht, die sprachlich konstruiert sind, handelt es sich um «Big D Discourse» (Gee 1990) bzw. um langue. Zum Unterschied zwischen langue und parole vgl. Pocock 1987.

406 20. Jahrhundert

Ideengeschichte dekonstruieren – beides tut not. Dabei könnte sie gleich eine pädagogisch relevante Sprache entdecken, die das Militärische und auch Wirt- schaftliche nicht ausschliesst, aber auch nicht verabsolutiert, den klassischen Republikanismus nämlich, der im Rahmen seiner Tugendethik versucht ist, zwischen Politik, Wirtschaft und Militär zu balancieren und der insbesondere in der Schweiz vom 17. bis ins 20. Jahrhundert – als Diskurs – dominierte.63 Dieses Anliegen soll zwar nicht aus allen Erdenbürgern tapfere Spartaner machen, jedoch im Sinne der Archäologie verschüttete Diskurse zutage bringen, deren Nutzen sich noch zu erweisen hat. Vielleicht wird die Wertschöpfung ja nur darin liegen, dass die Schweizerkracher, die schon im 13. Jahrhundert vielen Kindern so viel Freude bereitet haben, wieder legalisiert werden.

Bibliografie

Unpublizierte Quellen STP: Arbeitsunterlagen und Protokolle der OECD bzw. des Committee for Sci- entific and Technical Personnel (STP): OECD Archives Paris.

Literatur Baader, Meike Sophia: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld. Neuwied: Luchterhand 1996. Baader, Meike Sophia: Longing for innocence and purity: Nature and child- centered education. In: Peters, Michael A. (Hrsg.): Encyclopedia of Educatio- nal Philosophy and Theory. Singapore: Springer 2016, doi: 10.1007/978-981- 287-532-7_9-1 (abgerufen am 6.7.2016). Bacon, Roger: The Opus Majus (1267). A translation by Robert Belle Burke, Vol. II. New York: Russell & Russell 1962. Böhler, Michael/Hofmann, Etienne/Reill, Hans Peter/Zurbuchen, Simo- ne (Hrsg.): Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer National- bewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers. Genf: Slatkine 2000. Bruner, Jerome: The process of education. Cambridge: Harvard University Press 1960. Bürgi, Regula: Geplante Bildung für die freie Welt: Die OECD und die Entste- hung einer technokratischen Bildungsexpertise. Dissertation Universität Lu- xemburg 2015.

63 Böhler/Hofmann/Reill/Zurbuchen 2000.

407 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Bush, Vannevar: Science – The endless frontier: A report to the President by Vannevar Bush, Director of the Office of Scientific Research and Develop- ment, July 1945. Washington, D. C.: US Government Printing Office 1945. Carr, Edward Hallett: What is history? Cambridge: The University of Cam- bridge Press 1961. Comenius, Johann Amos: Orbis sensualium pictus. Hoc est, omnium funda- mentalium in mundo rerum, & in vitâ actionum, picturea & nomenclatura. London: J. Kirton 1659. Dahrendorf, Ralf: Bildung ist Bürgerrecht: Plädoyer für eine aktive Bildungs- politik. Hamburg: Nannen Verlag 1965. Eisenhower, Dwight D.: Science in national security: Present strength and fu- ture plans. In: Vital speeches of the day, 24 (1957), S. 66 – 69. Eisenhower, Dwight D.: Recommendations relative to our educational sys- tem. In: Science Education, 42, 2 (1958), S. 103 – 106. Elichirigoity, Fernando: Planet management: Limits to growth, computer si- mulation, and the emergence of global spaces. Evanston, IL: Northwestern University Press 1999. Elton, Geoffrey: The practice of history (1967). Glasgow: William Collins Sons & Co. 1969. Fortun, Michael/Schweber, Silvan S.: Scientists and the legacy of World War II: The case of Operations Research (OR). In: Social Studies of Science, 23 (1993), S. 595 – 642. Frühwald, Wolfgang. Kulturenstreit oder Von der Rolle der Sprache in der Wissenschaft. In: Sind wir noch ein Volk der Dichter und Denker? Heidel- berg: Universitätsverlag Winter 2004, S. 35 – 45. Gee, James Paul: Social linguistics and literacies: Ideology in discourses. Lon- don: Falmer Press 1990. Hahn, Friedemann: Von Unsinn bis Untergang: Rezeption des Club of Rome und der Grenzen des Wachstums in der Bundesrepublik der fruhen 1970er Jahre. Dissertation Universität Freiburg im Breisgau 2006, http://www.frei- dok.uni-freiburg.de/volltexte/2722/(abgerufen am 6.7.2016). Heynemann, Stephen P.: Quantity, quality, and source. In: Comparative Re- search, 37, 4, (1993), S. 372 – 388. Horlacher, Rebekka: The educated subject and the German concept of Bil- dung. A comparative cultural history. New York: Routledge 2016. Hudson, Liam: The cult of the fact: A psychologist’s autobiographical critique of his discipline. New York: Harper & Row 1972.

408 20. Jahrhundert

Hughes, Agatha C./Hughes, Thomas P. (Hrsg.): Systems, experts, and com- puters: The systems approach in management and engineering, World War II and after. Cambridge: MIT Press 2000. Keppel, Francis: National Educational Assessment: We Badly Need It. In: Ame- rican Association of School Administrators/National Education Association of the United States (Hrsg.): National Educational Assessment: Pro and Con. Washington, DC: American Association of School Administrators and Orga- nization Relations Division and Publications Division of the National Educa- tion Association 1966, S. 5 – 7. NDEA = National Defense Education Act (An Act to strengthen the national de- fense and to encourage and assist in the expansion and improvement of edu- cational programs to meet critical national needs and for other purposes). Washington: o.V. 1958. Osterwalder, Fritz: Die theologische Sprache der Pädagogik. In: Kuld, Lo- thar/Bolle, Rainer/Knauth, Thorsten (Hrsg.): Pädagogik ohne Religion. Bei- träge zur Bestimmung und Abgrenzung der Domänen von Pädagogik, Ethik und Religion. Münster: Waxmann 2005, S. 17 – 52. Osterwalder, Fritz: Die Sprache des Herzens. Konstituierung und Transfor- mation der theologischen Sprache der Pädagogik. In: Casale, Rita/Tröhler, Daniel/Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Methoden und Kontexte. Historiographi- sche Probleme der Bildungsforschung. Göttingen: Wallstein 2006, S. 155 – 180. Overy, Richard J.: Why the Allies won. London: Cape 1995. Platon: Politeia (408/407 v. Chr.). In: Platon: Sämtliche Werke, Bd. 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 195 – 537. Picht, Georg: Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten: Walter Verlag 1964. Pickering, Andy: Cyborg history and the World War II Regime. In: Perspecti- ves on Science, 3, 1 (1995), S. 1 – 48. Pocock, John Greville A.: The concept of a language and the métier d’historien: Some considerations on practice. In: Pagden, Anthony (Hrsg.): The languages of political theory in early-modern Europe. Cambridge: Cam- bridge University Press 1987, S. 19 – 38. Popkewitz, Thomas S.: Romancing the archival «Smell». Historicizing how theory acts as «the retrival» in methods. Unveröffentlichter Vortrag an der Universität Luxemburg, 28. August 2015. Rickover, Hyman G.: [Interview mit Rickover, publiziert unter dem Titel] Edu- cation: What price life adjustment? In: Time Magazine, LXX, 23 (1957). Rickover, Hyman G.: Education and Freedom. New York: E. P. Dutton 1959.

409 Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz | Nr. 65

Rickover, Hyman G.: Swiss Schools and Ours: Why Theirs are Better. Boston: Atlantic Monthly Press, Little, Brown & Co. 1962. Rickover, Hyman G.: American Education, a National Failure: The Problem of Our Schools and What We Can Learn from England. New York: E. P. Dutton 1963. Rickover, Hyman G.: Liberty, Science, and Law. New York, Newcomen Society in North America 1969. Rodgers, Daniel T.: Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age. Cambridge: Belknap Press of Harvard University Press 1998. Rudolph, John L.: Scientists in the classroom: The Cold War reconstruction of American science education. New York: Palgrave Macmillan 2002. Skinner, Quentin: The practice of history and the cult of the fact. In: ders.: Vi- sions of politics, Vol. I: Regarding method. Cambridge: Cambridge Universi- ty Press 2002, S. 8 – 26. Terzian, Sevan G.: Science education and citizenship. Fairs, clubs, and talent searches for American youth, 1918 – 1958. New York, NY: Palgrave McMillan 2013. Tröhler, Daniel: Republikanische Tugend und Erziehung bei Niccolò Machia- velli und im Selbstverständnis des Schweizer Stadtbürgertums des 16. Jahr- hunderts. In: Musolff, Hans-Ulrich/Göing, Anja-Silvia (Hrsg.): Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert. Köln: Böh- lau 2003, S. 55 – 72. Tröhler, Daniel: Öffentliche Schule, Governance und Demokratie. In: Miller- Kipp, Gisela/Zymek, Bernd (Hrsg.): Politik in der Bildungsgeschichte – Be- funde, Prozesse, Diskurse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006, S. 87 – 100. Tröhler, Daniel: Languages of Education. Protestant Legacies, National Iden- tities, and Global Aspirations. New York: Routledge 2011a. Tröhler, Daniel: Concepts, cultures and comparisons. PISA and the double German discontentment. In: Pereyra, Migueal A./Kotthoff, Hans-Georg/Co- wen, Robert (Hrsg.): PISA under Examination: Changing knowledge, chan- ging tests and changing schools. Rotterdam: Sense Publishers 2011b, S. 245 – 257. Tröhler, Daniel: Pestalozzi and the Educationalization of the world. New York: Palgrave Pivot 2013a. Tröhler, Daniel: The OECD and Cold War Culture: thinking historically about PISA. In: Meyer, Heinz-Dieter/Benavot, Aaron (Hrsg.): PISA, Power, and Policy. The Emergence of global educational governance. Oxford: Sym- posium Books 2013b, S. 141 – 161.

410 20. Jahrhundert

Tröhler, Daniel: Standardisierung nationaler Bildungspolitiken: Die Erschaf- fung internationaler Experten, Planern und Statistiken in der Frühphase der OECD. In: Bildungsgeschichte. International Journal for the Historiography of Education, 3, 1 (2013c), S. 60 – 77. Tröhler, Daniel: Tradition oder Zukunft? 50 Jahre Deutsche Gesellschaft fur Erziehungswissenschaft aus bildungshistorischer Sicht. In: Zeitschrift für Pädagogik, 60, 1 (2014), S. 9 – 32. United States. National Commission on Excellence in Education: A nation at risk: The imperative for educational reform: a report to the Nation and the Secretary of Education, United States Department of Education. Washing- ton, D. C.: The Commission 1983. Weymann, Ansgar/Martens, Kerstin: Bildungspolitik durch internationale Organisationen – Entwicklung, Strategien und Bedeutung der OECD. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 30, 4 (2005), S. 68 – 86. Zahnder, Alfred: Leben und Erziehung in Pestalozzis Institut in Iferten. Aarau: Sauerländer 1931.

Prof. Dr. Daniel Tröhler, Universität Luxemburg, Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissenschaften

411

Schriftenreihe/Publications/Serie di pubblicazioni/Series of publications

Nr. 64 Sibylle Niklaus, Erhaltung und Bewertung analoger Fotoarchive in ­Bibliotheken – Ein Diskussionsbeitrag am Beispiel des Walter-Rutishauser-Archivs in der ­Bibliothek am Guisanplatz

Nr. 63 Jürg Stüssi-Lauterburg, Cornelia Albert, Manuel Bigler, Christine Rohr-Jörg, Daniela Siegenthaler, Anna Katharina Weltert, Schwarzer September – Chronologie des Septembers 1970

Nr. 62 Christian Baumann, Revolution im Namen der reinmoralischen Religion – Thaddäus Müller als katholischer Aufklärer vor und während der Helvetischen ­Republik (1798 – 1803)

Nr. 61 Pius Müller (Hg.), Das Rückgrat der Armee – Die Unteroffiziere der Schweizer ­Armee und ihr Wirken von 1798 bis heute

Nr. 60 Simon Marti, Himmlers «germanische» Soldaten

Nr. 59 Werner Lustenberger, Oberst Abraham Stocker. Lebensbild eines Eidgenossen im jungen Bundesstaat

Nr. 58 Marcel Berni, «Gooks», Feinddarstellungen in amerikanischen Feldpostbriefen aus dem Vietnamkrieg (1965 – 1975)

Nr. 57 Bernhard Stüssi, Transfer to Canada ? – Das Projekt zur Sitzverlegung schweizerischer Firmen im Krisenfall 1949 – 1959

Nr. 56 Manuel Bigler, Ein naher Blick auf Glasnost – Berichte des Schweizer Verteidigungs- attachés aus Moskau aus dem Jahr 1986

Nr. 55 Michael Christian Ruloff, Lehrerinnen und Lehrer in der Schweizer Presse (1800 bis 1830)

Nr. 54 Felix Bendel, Bündner Wirren (1620 – 1639), Richelieus Idee vom verdeckten Krieg gegen Spanien und der Abfall der Drei Bünde

Nr. 53 Bruno de Meester, Camille-Aimé Coquilhat und die Ba-Ngala

Nr. 52 Peter Steiner, Nachlass Hans Bracher

Nr. 51 Angel Eduardo Román López Dollinger, Anna-Katharina Weltert, Maras. Jugendbanden, Gewalt und organisiertes Verbrechen in Zentralamerika

Nr. 50 Heinrich L. Wirz, Florian A. Strahm, Der Tiger-Teilersatz (TTE) in temporären Turbulenzen

Nr. 49 Heinrich L. Wirz, Florian Strahm, Schweizer im Amerikanischen Sezessionskrieg 1861 – 1865

413 Nr. 48 Hubert Foerster, Erfolg trotz Misserfolg: Der Aufstand und der Befreiungskrieg 1799 in der Schweiz

Nr. 47 Bruno Pauvert, Les Légions helvétiques en Italie 1798 – 1799

Nr. 46 Die Limmat. Eine militärische Betrachtung

Nr. 45 Heinrich L. Wirz, Florian A. Strahm, Armee, Bund und Kantonale Militärhoheit. Die verfassungsrechtliche Zentralisierung des schweizerischen Wehrwesens und ihre Folgen

Nr. 44 Begebenheiten aus dem 2. Weltkrieg

Nr. 43 Marco Arni, Es drückt der Schuh. Die Fussbekleidung in der Schweizer Armee 1850 – 1918

Nr. 42 Heinrich L. Wirz, Florian A. Strahm, Der Tiger-Teilersatz (TTE) in temporären Turbulenzen

Nr. 41 Hubert Foerster, Die eidgenössische Militärsanität während der Mediation 1803 – 1813/15. Die Freiburger Militärärzte zur Zeit der Mediation (1803 – 1813/15)

Nr. 40 Roland Haudenschild, Die chemischen Waffen in der Schweizer Armee

Nr. 39 Roland Haudenschild (Hrsg.), Von der Armee 61 über die Armee 95 und die Armee XXI zum Entwicklungsschritt 2008/11. Eine vergleichende Übersicht und Zusammenfassung (Armee-Synopse)

Nr. 38 Jost Rodolphe Poffet, Captain James Cook der britischen Royal Navy in Australien und Ozeanien 1768 bis 1779

Nr. 37 Hubert Foerster, Das Regiment Bachmann im Dienste von Sardinien 1793 – 1798, Eine Quellenpublikation

Nr. 36 Werner Wettstein, Die Kesselringaffäre als Spiegel der alten Eidgenossenschaft

Nr. 35 Alberto Palaia, «Cumpagnia adatg!» Das Rätoromanische in der Armee

Nr. 34 Hanspeter Dolder, Verwaltung und Verpflegung der schweizerischen Armee 1939 – 1945

Nr. 33 Oliver Thomas Gengenbach, «( … ) die Verantwortung für das Wohl und Wehe unseres Vaterlandes.»

Nr. 32 Simon Rageth, Sold und Soldrückstände der Schweizer Truppen in französischen Diensten im 16. Jahrhundert

Nr. 31 Henri Guisan par Laurent Boillat

414 Nr. 30 Hervé de Weck, Lʼarmée suisse face au fascisme et au nazisme (1930 – 1945)

Nr. 29 Stephan Lütolf, Mike Moling, Christoph Riedo, Tobias Schoch, Anita Springer, Von den bunten Ordonnanzen des 19. Jahrhunderts zur feldgrauen Einheitsuniform 1914/1915

Nr. 28 Joel Blunier, Aktenzeichen «Lenzlinger» ungelöst – Über die mysteriösen Umstände der Ermordung des Fluchthelfers Hans-Ulrich Lenzlinger und seine Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR

Nr. 27 Peter Hofer, Planung und Bau des Festungsgürtels Kreuzlingen

Nr. 26 Anne Barth-Gasser, Dominic M. Pedrazzini, Roland Haudenschild, Marcel Pilet-Golaz. Apérçu

Nr. 25 Felix Bendel, Rohan et Dufour: Guerre en montagne. La campagne du duc de Rohan dans les Grisons et en Valteline (1635 – 1637) – Critiques du Général Dufour

Nr. 24 Gabriel Dondi, Jürg Stüssi-Lauterburg, Dokumente zur Flüchtlingspolitik der Schweiz im August 1942

Nr. 23 Peter Reichert, Basel im Zweiten Weltkrieg. Ein Stimmungsbild

Nr. 22 Anne Barth-Gasser u. a., Dufour-Herzog-Sprecher-Wille-Guisan. Fünf Persönlich­ keiten der Schweizer Geschichte und ihre Bronzebüsten im Bundeshaus Ost

Nr. 21 Gilbert Ceffa, Témoignages de la Résistance en région genevoise 1940 – 1944. ­Dix-sept messages de captivité du Révérend Père Louis Favre

Nr. 20 Pierre Morath, Les internés militaires en suisse pendant la 2e guerre mondiale. Les cas des polonais de la division Prugar

Nr. 19 Philippe Allain, Lʼélaboration du règlement de service RS80 de lʼarmée suisse: mise en œuvre ou remilitarisation de la réforme Oswald ?

Nr. 18 Walter Graf, Fricktaler Aktivdienst 1939 – 1940 – Erlebnisbericht eines Augenzeugen. Geb. Mitr. Kp. IV/32

Nr. 17 Andreas Schwab, Vom «totalen Krieg» zur «deutschen Gotterkenntnis» – Die Weltanschauung Erich Ludendorffs

Nr. 16 Jost Rodolphe Poffet, Kriegsende, Waffenstillstand, Kapitulation und Friedensschluss

Nr. 15 Bernhard Altermatt, Der Umgang der Schweizer Armee mit der Mehrsprachigkeit: Proportionalität und Territorialität

Nr. 14 Thomas Bachmann, Guillaume Henri Dufour im Spiegel seiner Schriften – Biblio- graphisches Handbuch

415 Nr. 13 Christophe Koller, Claudio Recupero, «Ce quʼil y a de beau, dʼintéressant et dʼhorrible en Suisse» Correspondance de Joseph Gautier, soldat des armées de Napoléon pendant les campagnes dʼHelvétie et dʼAllemagne (1799 – 1801)

Nr. 12 Schweizer Schlachtfelder III: Schwaderloh, Luftgefechte 1940

Nr. 11 Schweizer Schlachtfelder II: Laupen, St. Jakob, Bicocca

Nr. 10 Schweizer Schlachtfelder I: Bibracte, Baylen

Nr. 9 Stephan Scheuzger, Aspekte der Beziehungen der Schweiz zu Mexiko und Zentralamerika

Nr. 8 Thomas Flatt, Hans Peter Bläuer, Reto Ammann, Aspekte der Beziehungen zwischen der Schweiz und den Baltischen Staaten

Nr. 7 Georg Büchler, Neue Beziehungen in den Balkan. Schweizer Kontakte zu Slowenien und Mazedonien

Nr. 6 Mathias Flückiger, Religion in der Schweizer Armee

Nr. 5 Andreas Urs Sommer, Krieg und Geschichte. Zur martialischen Ursprungsgeschichte der Geschichtsphilosophie

Nr. 4 Bernhard Sterchi, Der Orden vom Goldenen Vlies und die burgundischen Überläufer von 1477

Nr. 3 Werner Rutschmann, Die Visier- und Richtmittel der Schweizer Feld- und Positionsgeschütze Mitte 19. bis Anfang 20. Jahrhundert

Nr. 2 Andreas Urs Sommer, Zur militärischen Metaphorik im Stoizismus

Nr. 1 Bernhard Sterchi, Fortuna im burgundischen Hofadel (15. Jahrhundert). Literarische Traditionen und deskriptive Techniken numéro S

S 10 «Wohlbehütet!» – Hüte im Wandel der Zeit, 18. bis 21. Jahrhundert, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 1. November 2016 bis 24. Februar 2017 an der Bibliothek am Guisanplatz.

S 1 Hervé de Weck, Guerre secrète en Ajoie, Service de renseignement stratégique de lʼArmée et Service de renseignement de la brigade frontière 3, 2e edition revue.

S 9 RE: from the Archive, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 1. Juni 2016 bis 30. September 2016 an der Bibliothek am Guisanplatz.

S 3 Jürg Stüssi-Lauterburg, Cornelia Albert (Hg.), Die Schweizer Kriegsjahre 1798 und 1799 und die Schlacht an der Grimsel, 4., überarbeitete Auflage

S 8 Christian Furrer, Streiflichter zur NEAT – Zum langen politischen Ringen um die Neue Eisenbahn-Alpentransversale

S 7 Hervé de Weck, Le maquis du Lomont, août – septembre 1944

S 6 Jürg Stüssi-Lauterburg, Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango

S 3 Jürg Stüssi-Lauterburg, Cornelia Albert (Hg.), Die Schweizer Kriegsjahre 1798 und 1799 und die Schlacht an der Grimsel, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage

S 5 Breitenrain – Breitfeld – Beundenfeld. Streifzug durch die Geschichte unserer ­Nachbarschaft, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 1. Juli 2015 bis 26. Februar 2016 an der Bibliothek am Guisanplatz.

S 3 Jürg Stüssi-Lauterburg, Cornelia Albert (Hg.), Die Schweizer Kriegsjahre 1798 und 1799 und die Schlacht an der Grimsel, 2. Auflage

S 4 Schritt für Schritt. Die Geburt des modernen Schuhs, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 6. Januar bis 27. März 2015 an der Bibliothek am Guisanplatz.

S 3 Jürg Stüssi-Lauterburg, Cornelia Albert (Hg.), Die Schweizer Kriegsjahre 1798 und 1799 und die Schlacht an der Grimsel

S 2 «Zuerst die Soldatenstuben, dann die Fürsorge», Else Züblin-Spillers Tagebuch 1916 – 1918.

S 1 Hervé de Weck, Guerre secrète en Ajoie, Service de renseignement stratégique de lʼArmée et Service de renseignement de la brigade frontière 3.

417

6 5 PULVERDAMPF UND KREIDESTAUB Bildung und Krieg respektive die beiden entsprechenden ­gesellschaftlichen Institutionen Schule und Militär stehen seit langem in einem gegenseitigen (Spannungs-)Verhältnis. Heutzutage ist sich insbesondere die Pädagogik dieses Verhältnisses kaum mehr bewusst, nichtsdestotrotz ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Schliesslich war gerade in der Schweiz die Vorstellung von der Untrennbarkeit von Bürger und Soldat, die auch im Ausspruch «die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee» ihren Ausdruck findet, nachhaltig prägend.

Der Tagungsband «Pulverdampf und Kreidestaub» versammelt 15 Beiträge, in welchen namhafte Historikerinnen und Historiker aus den Bereichen Militär- und Bildungsgeschichte das vielfältige Beziehungsgefüge von Militär und Schule untersuchen. Schriftenreihe | Bibliothek am Guisanplatz | Bibliothek Schriftenreihe

DIE SCHRIFTENREIHE Die Bibliothek am Guisanplatz (BiG) unterstützt und betreibt allgemein historische und kulturwissenschaftliche Forschung. Im Rahmen dieser Aufgabe erscheinen Forschungsresultate von Wissenschaftlern und Nachwuchsforschern in der Schriftenreihe der Bibliothek am Guisanplatz. Die Schriftenreihe ist die Fortführung der Schriftenreihe der Eidgenössischen Militärbibliothek und des Historischen Dienstes, welche seit 2002 erscheint.

ISBN 978-3-906969-77-0

9 783906 969770