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Anhang VI

„Argumente gegen das

mit einem Vorwort von Ulrich Thöne und Jochen Nagel (15. Mai 2006)

Benjamin Ortmeyer

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Argumente gegen das Deutschlandlied

Geschichte und Gegenwart eines furchtbaren Lobliedes auf die deutsche Nation

______Vorwort

Mit dieser Neuauflage erinnern wir an die Kritik des Deutschlandliedes aus dem Jahre 1989/90. Die eine oder der andere mag sich fragen, warum die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft dies gerade zur Fußballweltmeisterschaft 2006 tut. In der ersten Auflage hatte unser damaliger Bundesvorsitzender, Dieter Wunder, wohl auch in Hoffnung auf eine grundlegendere Aufarbeitung und Weiterentwicklung der Geschichte im Rah- men des Vereinigungsprozesses, in einer Presseerklärung pointiert formuliert: das „Deutschland- lied gehört ins Museum“ (Presserklärung vom 19. August 1991). Die heutige Stimmung, dass wir doch jetzt erst recht „wieder wer sind“, und doch seit 1990 weite- re 16 Jahre zur Zeitspanne 1933- 1945 vergangen sind, also ein angeblich „natürlicher Patriotis- mus“ angesichts der gesellschaftlichen Probleme in diesem Land die richtige Antwort sei, all das ist uns nicht unbekannt. Als Bildungsgewerkschaft GEW treten wir ganz bewusst und ganz ausdrücklich solchen Stim- mungen des Nationalismus und der „deutschen Leitkultur“ entgegen und betonen die Notwen- digkeit einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gegenwart des Nationa- lismus in Deutschland und eben auch mit der Geschichte und Gegenwart des „Deutschlandlie- des“, der Nationalhymne. Die Analyse von Benjamin Ortmeyer „Argumente gegen das Deutsch- landlied“ leistet dafür einen fundierten Beitrag. Die GEW erklärt deutlich: Was wir bitter nötig haben ist eine humanistische Bildung für alle und soziale Verhältnisse, die an den sozialen Bedürfnissen der Menschen und der Jugendlichen aus vielen Ländern in Deutschland orientiert sind. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Auch wir Deutschen müssen uns verändern, wenn der nötige Integrationsprozess gelingen soll. Was wir dabei ganz und gar nicht gebrauchen können ist ein Nationalismus, der die immer größer werden- de soziale Kluft in diesem Land übertünchen soll und Integration mit Assimilation verwechselt.

Frankfurt am Main, den 15. Mai 2006

Ulrich Thöne Jochen Nagel (Bundesvorsitzender der GEW) (Vorsitzender der GEW Hessen)

Die vorliegende Broschüre ist ein Auszug aus dem Buch „Argumente gegen das Deutschlandlied“ von Benjamin Ortmeyer (Köln 1991, 2. Auflage Bonn 1999).

2 Einleitung

Fussball-WM 2006: Das Deutschlandlied ist „im Kom- Verwaltung: men“. Die Schulbücher drucken seit 1987 alle drei Stro- „dem Bundesministerium des Innern ist eine von der phen für den Musikunterricht. Streit gibt es dabei immer Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Hes- wieder. Besonders natürlich über die heute von be- sen, Landesschüler Innen-Vertretung(LSV) herausgege- bene Schrift ‚Argumente gegen das Deutschlandlied’ (... ) stimmten Politikern propagierte erste Strophe „Deutsch- bekannt geworden.“ land, Deutschland über alles ...“, aber auch über den Sinn oder Unsinn, ausgerechnet dieses Lied als Natio- In diesem erstaunlichen Schreiben – immerhin erfolgte nalhymne überhaupt zu bestimmen. In manchen Fällen keine Anzeige wegen Verunglimpfung der National- gar wird die Justiz gegen jene Kritiker bemüht, die dieses hymne – heißt es, das Deutschlandlied sei eben Lied „verunglimpfen“. „Ausdruck eines alle Deutschen verbindenden, ganz na- türlichen Patriotismus.“ Nach immer wieder aufflammenden Diskussionen über rechtskonservative Kultusminister, die an den Schulen Und schon drohender: nicht nur das Deutschlandlied mit seiner dritten Strophe, „Mit einem undifferenzierten Verdikt über das ganze Lied sondern auch mit der ersten Strophe „Deutschland, aber wird an einem Fundament des demokratisch- Deutschland über alles ... “ singen lassen wollten, hat die republikanischen Konsens gerüttelt.“ Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) (Brief vom 4. Juli 1989, Geschäftszeichen VI 1-111.091 II, Dr. zunächst vehement gegen die erste Strophe Stellung Schiffer) bezogen. Nun ja! Die GEW jedenfalls hat auf ihrem Bundeskon- Mit Unterstützung des Hauptvorstandes der GEW er- gress wenige Monate später die Diskussion über das schien im Mai 1989 die kleine Broschüre „Argumente ganze Deutschlandlied beschlossen – auch wenn das gegen das Deutschlandlied“. Der Vorsitzende der GEW Damoklesschwert des „natürlichen Patriotismus“ über Dieter Wunder erklärte dort in einem Vorwort zu den uns schwebt. Gezielt heißt es in diesem Beschluss, dass Versuchen in Hessen, die erste Strophe dieses Liedes in sich die kritische Diskussion Schulen einzuführen: „nicht nur auf die erste Strophe beziehen (darf), die of- fensichtlich reaktionär und imperialistisch ist.“ „Auch wer sich gefühlsmäßig bei der Haydn’schen Melo- die und dem Text Hoffmann von Fallerslebens mit der „Angesichts der Geschichte des Deutschlandliedes und traditionellen Hymne glaubt identifizieren zu können, soll- seiner Verwendung als Hymne des Deutschen Reiches te 1989 nüchtern prüfen, was die erste Strophe tatsäch- in der Zeit des Faschismus neben dem Horst-Wessel- lich bedeutet. Lied hält der Gewerkschaftstag eine Diskussion in Schu- len und Hochschulen darüber für notwendig, ob nicht das Denn man mag es drehen und wenden, wie man will, Deutschlandlied als Ganzes als Nationalhymne verwor- diese Strophe ist Ausdruck eines überschwänglichen fen werden muss.“ (und damit gefährlichen) Nationalgefühls. Die Ergänzung des „Deutschland, Deutschland über alles ... “ durch geo- In der von Klaus Müller, Vorsitzender der GEW- graphische Angaben weist auf ein großes Deutschland Hessen formulierten Begründung für diesen Antrag jenseits aller historischen Grenzen hin, ist also nur natio- heißt es: nalistisch-imperialistisch zu deuten. „Die Gewerkschaften wissen um die Bedeutung einer Auch ohne den Missbrauch durch das nationalsozialisti- gründlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Ge- sche Deutsche Reich müsste uns vor dieser Strophe schichte. Eine solche rationale Auseinandersetzung ist grauen. Und wer, wie vielfach beliebt, die geographi- ein wesentliches Element in der Abwehr von Ausländer- schen Angaben der ersten Strophe als bedeutungslos feindlichkeit, neu aufkommenden Antisemitismus und abtut und diese erste Strophe positiv deutet: Welche Er- Rechtsradikalismus... klärung kann er eigentlich für dieses „Deutschland über alles“ angeben? Die Nation und ihr Lebensraum werden Vielfach ist in Vergessenheit geraten, dass das Deutsch- sicherlich weiterhin eine gewisse Bedeutung für das poli- landlied erst nach mehrjährigen Auseinandersetzungen tische, kulturelle und gesellschaftliche Leben in Europa durch einen schlichten Briefwechsel zwischen dem da- und der Welt haben. maligen Bundespräsidenten Heuss und Bundeskanzler Adenauer 1952 zur Nationalhymne erklärt worden ist. Aber gibt es irgend einen Grund, sie „Über alles“ zu stel- Vorausgegangen war der Versuch von Theodor Heuss, len? Hat die Nation etwa mehr Rechte als der einzelne? ein Gedicht des Schriftstellers Rudolf Alexander Schrö- Steht die Nation jenseits der Religion? Hat die Nation ir- der zur Nationalhymne zu machen. gend einen Vorrang vor den Grundrechten des Grund- gesetzes? Die deutsche Erfahrung der Jahre 1933 bis Die Tatsache, dass sich schließlich doch das Deutsch- 1945 kann nur eine sein: Die Würde des Menschen ist landlied gegen den ursprünglichen Willen von Heuss als unantastbar. Daran hat sich alles andere auszurichten.“ Nationalhymne durchgesetzt hat, kann nicht anders be- wertet werden als ein typisches Beispiel dafür, wie in der (Dieter Wunder, zitiert nach der Broschüre der GEW-Hessen Restaurationsperiode nach 1945 viele Traditionslinien „Argumente gegen das Deutschlandlied“, Frankfurt/Main, 1989) der deutschen Geschichte fortgeführt wurden, die besser Im Juli erreichte die GEW ein Brief aus dem Bundesin- unterbrochen worden wären. nenministerium, Abteilung Verfassung, Strafrecht und

3 Eine kritische Bewertung des Deutschlandliedes als Na- Muster „jede Nation hat ihre Nationalhymne; das ist nun tionalhymne soll sich nicht nur auf die erste und zweite einmal Ausdruck eines gesunden Volks- und National- Strophe beziehen, sondern muss auch die dritte Strophe empfindens“ ist eine kritische Auseinandersetzung mit einbeziehen, die vielfach – auch von Kritikern der ersten dem Deutschlandlied nicht einfach. Eine kritische Aufar- Strophe – als Nationalhymne gefordert oder doch zumin- beitung des Deutschlandliedes als Nationalhymne in dest nicht problematisiert wird. Verbindung mit der deutschen Geschichte ist offensicht- lich unendlich schwierig, weil sie mit vielen individuellen und nationalen Verdrängungen verbunden ist. Die öffentliche und kritische Auseinandersetzung mit dem Deutschlandlied als Nationalhymne ist ein Beitrag in der rationalen Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte.“ Die vorliegende Broschüre versucht umfassender als bisher die Debatten über das Deutschlandlied kritisch zusammenzufassen und zu bewerten, um vor der zu- nehmenden Gefahr des deutschen Nationalismus zu warnen. Es erscheint realistisch auf absehbare Zeit von einem klaren „Sieg“ des Deutschlandliedes auszugehen. Beet- hoven und Schillers „Freude schöner Götterfunke“ – einst ein Kompromiss einer noch gesamtdeutsch Sport treibenden Olympiamannschaft in Tokio und Rom 1960 und 1964 – hat in der Riege der Bundespolitiker keine Chance, von Brechts „Kinderhymne“ 1949/50 ganz abgesehen. Und Bechers DDR-Hymne steht ebenfalls nicht zur Debatte. Tatsache also ist: das Deutschlandlied bleibt. Es steht fester denn je. Seine Anhänger und Befürworter scheinen in der Offen- sive. Doch wir, die Gegner dieses Liedes haben die bes- seren Argumente. Die „Argumente gegen das Deutschlandlied“ sollen, wo immer es zu Diskussionen über dieses furchtbare Lied kommt, helfen gegen den deutschen Nationalismus vor- Eine kritische öffentliche Debatte über das Deutschland- zugehen. lied geht von folgenden Feststellungen und Bewertungen aus: Denn so fest und übermächtig auch die „Deutschlän- der“ scheinen, ihre Begründungen und Argumente sind 1. Das Deutschlandlied war neben dem Horst-Wessel- Lied die Nationalhymne des deutschen Reichs in der Zeit brüchig und hohl, die gesamte wirkliche Entwicklung in des Faschismus. Damit hat das Lied einen Makel an Deutschland birgt mehr Brüche und Krisen in sich, als sich, der durch keinerlei nachträgliche Interpretationen die Bonner Politikerprominenz ahnt. einzelner Strophen oder Zeilen weggewischt werden kann. Es kann für keinen Gegner der Nazi-Diktatur ange- Die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, aber sichts dieser Tatsache ein ungezwungenes Verhältnis auch Lehrerinnen und Lehrer erleben täglich, dass die zum Deutschlandlied als Nationalhymne geben. nationalistisch gewendete Losung „Wir sind e i n Volk“ Dies unterscheidet das Deutschlandlied grundsätzlich nicht der Realität des Alltages entspricht. In den Fabri- von anderen europäischen Nationalhymnen, die z. T. e- ken, auch in den Büros, in den Schulen und den Hoch- benfalls nationalistische, kriegerische und auch – aus schulen leben und arbeiten in Deutschland Menschen heutiger Sicht – pompös kitschige Teile enthalten. verschiedenster Nationalitäten. 2. Die erste Strophe des Deutschlandliedes transportiert Die Solidarität „der da unten“ gegen „die da oben“ ist großdeutsche und imperialistische Bestrebungen. Selbst das oberste Gebot jedes wirklichen gewerkschaftlichen im Zeitraum der Entstehung des Liedes 1841 liegen nicht alle in der ersten Strophe genannten Grenzflüsse des Kampfes, eine Solidarität, die nicht Nationalität „über deutschen Bundes; so lag z. B. die Memel deutlich au- alles“ stellt, – im Gegenteil – , sondern in jeder Ausei- ßerhalb dieser Grenzen. nandersetzung mehr wächst, wächst im Bewusstsein, 3. Die 2. Strophe ist nicht nur kultureller Kitsch. Sie trans- dass die nationalistische Ideologie und Politik des „Spal- portiert auch frauenfeindliche Vorurteile. te und herrsche!“ eben „denen da oben“ dient. Angesichts der populistischen Gegenkritik nach dem

4 1. Ein Lied, das von den Opfern der NS-Diktatur nicht gesungen werden kann

Es gibt ein typisch deutsches Sprichwort: Wo man singt, wegung und beim ersten großen sogenannten „Juden- da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine boykott“ im April 1933 ertönte. Und es erklang bei der Lieder. Ein deutsches Sprichwort, ebenso dumm wie „Reichskristallnacht“, wie die NS-Presse das Novem- völlig unzutreffend, wie Marcel Reich-Ranicki einmal zu berpogrom von 1938 verniedlichend nannte. Es wurde Recht feststellte. gesungen, als deutsche Wehrmachtstruppen mit wehen- den Fahnen in anderen Ländern einmarschierten, es Man kann mit vielen rationalen Argumenten über das begleitete die von mitorganisierte systema- Deutschlandlied, seinen Text, seine Melodie, seine Ge- tische Massenvernichtung des angeblich „unwerten Le- schichte streiten. Das ist die eine, vielleicht sogar un- bens“, der sogenannten Euthanasie. Es wurde lauter und wichtigere Seite der Sache. Lieder haben eine bestimmte lauter zu Kriegsbeginn und im Kriegsverlauf, und es war Wirkung, erzeugen bestimmte Gefühle, bei verschiede- allgegenwärtig bei den industriellen Massenmorden an nen Menschen allerdings eben sehr unterschiedliche. sechs Millionen Juden und 500 000 Sinti und Roma. Hierfür ein erstes typisches Beispiel: Am 2. Juli 1954 Die Opfer und Gegner des NS-Regimes reagieren daher wurde die Bundesrepublik-Deutschland Fußballwelt- anders, als die bewussten oder unbewussten Mitläufer meister in Bern, die Melodie des Deutschlandliedes wird der NSDAP, von den sogenannten aktiven „Nationalso- gespielt: zialisten“ selbst ganz abgesehen. Auch das lässt sich „Den Deutschen aber bricht das Lied aus der Brust, un- dokumentieren. widerstehlich. soweit ihnen die Tränen der Freude nicht die Stimme im Hals ersticken, singen sie alle, alle ohne Als 1952 Theodor Heuss Adenauer nachgab und das Ausnahme, das Deutschlandlied. Niemand, auch nicht Deutschlandlied zur Nationalhymne erklärte, reagierte ein einziger, ist dabei der von ‘Einigkeit und Recht und aus den Reihen der Gewerkschaften Klaus Peter Schulz Freiheit’ singt. Spontan, wie aus einem einzigen Munde in den Gewerkschaftlichen Monatsheften (Nr. 6/1952) kommend, erklingt es ‚Deutschland, Deutschland über al- mit einem heftigen emotionalen und persönlichen Pro- les in der Welt’.“ test. (Bunte Illustrierte Nr. 15, 1954) Klaus Peter Schulz, der mit der Arbeiterbewegung ver- So ist das auch heute vielfach noch mit der Melodie des bunden, die NS-Zeit erlebt hatte, schreibt: Deutschlandliedes. Sind größere Menschenmengen zu- sammen, etwa bei Sportveranstaltungen, dann wird von „Gewisse Gefühlsmomente mögen für das Deutschland- lied sprechen; stärkere, gewichtigere, viel tiefer im Sittli- Jugendlichen bezeichnenderweise zur Melodie ganz chen fundierte Gefühlsmomente sprechen, ja schreien gewiss die erste Zeile der ersten Strophe „abgerufen“, dagegen.“ mitgesungen oder je nach Alkoholspiegel mitgegrölt, Schulz schreibt: und das, obwohl diese Jugendlichen ja nicht die NS-Zeit erlebt haben. „All die eifrigen Verteidiger des Deutschlandliedes, die so häufig darauf hinweisen, wie wertvoll und gut gemeint Wenn man tiefer in diesen psychologisch wirkenden der Text unserer Nationalhymne sei, und wie sehr wir Mechanismus eindringt weiß man, dass Assoziationen doch gerade jetzt „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zu durch Melodien von sehr großer Kraft sind; das unserem Glück gebrauchten, zielen mit ihren Argumen- Deutschlandlied mit seiner Melodie war eben untrenn- ten am Wesentlichen vorbei.“ bar mit dem deutschen Nationalismus und schließlich Die eigentlichen Gründe der Ablehnung des Deutsch- mit dem NS-Regime verbunden. landliedes liegen nämlich in der Wirkung auf einen gro- ßen Teil der Menschen: „dass der unpolitische deutsche Michel endlich wieder seine Ruhe hat: Nichts anders wird ihn so sehr wie das Deutschlandlied in seiner Überzeugung bekräftigen, die Geschichte der letzten zwanzig Jahre ( also der NS-Zeit, AdV) sei eigentlich nichts anderes gewesen als ein blö- der, ungeschickter und niederträchtiger Zufall, an dem keiner, aber auch keiner von uns nur den geringsten An- teil habe!“ Sein Haupteinwand ist: „dass die Entscheidung zugunsten des Deutschlandlie- des unserem Volk die Illusion einer Kontinuität der deut- schen Geschichte vorspiegelt, die tatsächlich nicht vor- handen ist.“ Das Deutschlandlied ist das Lied (gemeinsam mit dem Horst-Wessel-Lied), das von 1933 bis 1945 zur Aufput- Dies ist in der Tat ein springender Punkt. Um welche schung und Brutalisierung der großen Mehrheit der Illusion geht es, genauer genommen. Es soll die Illusion Deutschen diente. Es ist das Lied, das bei der Errichtung einer Kontinuität, einer hauptsächlich großartigen, des KZ Dachau, bei der Zerschlagung der Arbeiterbe- glücklichen deutschen Geschichte erzeugt, die NS-Zeit als „kleine Ausnahme“, „nur 12 Jahre“, verniedlicht

5 werden. Das ist die Wirkung des Deutschlandliedes, das soll sie sein und das ist sie tatsächlich. In Wirklichkeit ist das Deutschlandlied Ausdruck einer ungebrochenen, aber eben negativen Kontinuität der deutschen Ge- schichte, nämlich der Geschichte des aggressiven deut- schen Nationalismus. Wenn innerhalb der Gewerkschaften heute das Deutsch- landlied zunehmend auf Kritik, Ablehnung, Widerwillen und Ekel stößt, dann sollte bewusst sein, dass gerade aus den Reihen der Gewerkschaft eine der ersten massiven Kritiken des Deutschlandliedes kam. Als in Israel zum erstenmal die deutsche Nationalhymne in Zusammenhang mit dem Besuch des Bundespräsi- denten in den Medien übertragen wurde, schrieb aus Haifa einer der Überlebenden des Völkermordes: „...dass diese Nationalhymne nolens volens bei allen Verfolgten des Naziregimes die Erinnerung an die Schre- ckensherrschaft heraufbeschwört, Unbehagen auslöst, sogar Abscheu erregt...“ Und er führte weiter aus, dass diese oder jene logische Argumentation so oder so nichts daran ändern könne, dass „dieses Liedgut immer mit Nazideutschland in Ver- bindung gebracht“ würde für jene, die das Terrorregime überlebt haben. Und er fügt hinzu: „Es liegt in der Macht der Musik, Gefühle stark aufwallen zu lassen.“ (Leserbrief in: Tribüne Nr. 98, S. 202) Das ist in der Tat der Kern des Problems. Jene, die aus der Arbeiterbewegung, aus dem bürgerli- chen Widerstand kommend die Konzentrationslager überlebt hatten, jene die aus den Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Chelmno, Sobibor und Belzec sich retten konnten und den Geruch der täglich verbrannten Leichen des Völkermordes nicht vergessen haben – sie alle verbinden dasselbe Grauen mit dem Sie wurden wieder ins Abseits gedrängt, als die, „die ganzen Deutschlandlied wie Josef Stern aus Haifa. nicht mitsingen“, als „Undeutsche“, Nestbeschmutzer, Kameradenschweine. Die Solidarität mit diesem Menschen, das Nachdenken über ihre Gefühle, der Respekt vor den Opfern und Das Deutschlandlied hatte und hat von vornherein die Gegnern des NS-Regimes – das war eigentlich die erste Funktion „auszugrenzen“. Und zwar jene, für die das und unmittelbare Forderung im „Nachkriegsdeutsch- Singen und auch das Anhören des Deutschlandlandlie- land“. des auf Grund ihrer eigenen Erfahrung emotional uner- träglich war und ist. Allein die Frage des „Deutschlandliedes“ als National- hymne aufzuwerfen – im genauen Wissen darüber, was Es wurde das Lied jener viel beschworenen Mehrheit, dieses Lied „nolens volens bei allen Verfolgten des NS- die entweder selbst schuldhaft in das NS-System einge- Regimes“ an Erinnerungen heraufbeschwört – das war bunden war oder sich konsequent weigerte und weigert ein direkter Faustschlag in das Gesicht der Verfolgten über die NS-Zeit, seine Ursachen und Folgen überhaupt des Naziregimes. Und er hat getroffen. nachzudenken Das Deutschlandlied war von vornherein gegen alle Das Deutschlandlied war nie das Lied der Opfer und lügnerischen Beteuerungen nicht das Lied „aller Deut- Gegner, das Lied der Verfolgten des NS-Regimes. schen“. Die Befürworter des Deutschlandliedes wissen das und Ein bestimmter Teil der Bevölkerung, – zugegeben, ein sprechen das auch immer offener aus. zahlenmäßig kleiner Prozentsatz – ,war beim Singen So heißt es in einem in 600.000 Exemplare verteilten dieses Liedes von vornherein ausgeschlossen. Es war der Heftchen des Hessischen Kultusministers , an die Schü- Teil der Bevölkerung, der am eigenen Leib erfahren lerinnen und Schüler gerichtet : hatte, wozu Nationalismus und Irrationalität in der NS- „Viele eurer Eltern und Großeltern konnten das Deutsch- Zeit geführt haben. landlied nach dem Krieg, als Adenauer und Heuss es wieder als Hymne Deutschlands einsetzten, nicht mehr

6 hören. Selbst die bei offiziellen Feierlichkeiten zu singen- der heutigen Generation, ihres Verhältnisses zur Wahr- de dritte Strophe, also die von „Einigkeit und Recht und heit, ihre verantwortliche oder unverantwortliche Hal- Freiheit“, ließ viele Ältere zunächst nur zaghaft mitsum- tung zur Geschichte. men oder singen, verbanden sie doch mit der Melodie immer die Erinnerung an braune Diktatur und Krieg. Heu- Und wenn der Großvater bei der Waffen-SS war und te ist dies anders. Die jüngere Generation hat nicht die seinen Enkel dann nach 45 auf dem Schoß genommen schlimmen Erfahrungen gemacht wie ihre Eltern und und zu Weihnachten mit Geschenken überhäuft hat, Großeltern. Ihr Verhältnis zu unserer Hymne ist unbelas- teter.“ und der Enkel beides weiß, dann ist das auch ein Zu- sammenhang, der kompliziert ist, und der nicht wegge- (Schule in Hessen Nr. 2/89, Leitartikel „Deutschland, dein Lied“) logen werden darf. Erfahrungen, Erlebnisse, Einstellun- Der erste Satz stimmt , zumindest teilweise, – hoffent- gen werden weiter gegeben, auf verschiedene Weise, lich – für die Eltern und Großeltern, die die NS-Zeit ehrlich, verlogen, bewusst, unbewusst, direkt, indirekt. miterlebt haben und aus Deutschland kommen. Er Dieses Grundproblem zeigt sich auch an einem anderen stimmt gewiss für die Eltern und Großeltern der Kinder Beispiel. Als die jüdischen Partisanen in Polen den aus Jugoslawien, Griechenland und anderer von NS- Kampf gegen das NS-Regime aufnahmen, wussten sie, Deutschland überfallenen Ländern (aber das hatte der dass sich die „Morgensonne“ auch verspäten kann, dass Hessische Kultusminister gar nicht im Auge, denn die die Probleme der Naziherrschaft nicht in einer Genera- Kinder der „Gastarbeiterfamilien“, wie das grässliche tion zu lösen sind und dass die Erfahrungen und Lieder Wort lautet – seit wann lässt man Gäste arbeiten? –, sind als Parole weitergegeben werden von „dor zu dor“, von ganz offensichtlich eh aus den „Deutschlandlied- Generation zu Generation. Überlegungen“ des Herrn Minister ausgegrenzt). Das bekam der Hessische Kultusminister zu spüren, als Der springende Punkt ist hier der mit einem ganz be- er kurz nach seinem Erlass über das Deutschlandlied in stimmten Tonfall vorgetragenen Satz: „Heute ist das der Synagoge in Frankfurt/Main zur Pogromnacht 1938 anders. “ Dieser Satz hat es in sich. Hinter diesen vier sprechen wollte. Worten steckt ein ganzes Programm. Es heißt : Schluss- strich ziehen! Hinter diesem Programm, das an die Unkenntnis der Jugendlichen appelliert, steht: Jene, die die eintätowierte Nummer auf dem Unterarm haben, sind vergessen, nicht mehr wichtig ... , die leben eh nur noch ein paar Jahre, die „deutsche Jugend“ ist „unbelasteter“ und diese wenigen, diese paar, die trotz Nummer im Unterarm alles Überlebt haben, die sind „belasteter“, ja eine Last, die endlich beiseite geschoben werden kann und soll. Die „Gnade der späten Geburt“! Man spürt das ungeduldige Warten darauf, dass endlich die letzten tot sind, die noch solche „gelasteten“ Gefühle haben. Aber diese böse Rechnung, dieser demagogische Appell an die Jugend, darf nicht aufgehen. Es geht ganz und gar nicht darum, jene die zur Zeit Hitlers gar nicht geboren In einem Flugblatt von einigen jüngeren Mitgliedern der waren, in irgendeiner Form für diese Zeit „schuldig“ zu Jüdischen Gemeinde in Frankfurt/M mit dem Titel: sprechen. Das tut auch niemand, das wird nur atmo- „Wer Deutschland, Deutschland über alles propagiert, sphärisch immer und immer wieder den Kritikern der darf nicht zum Gedenken an die Ermordeten sprechen“, Philosophie von der „ Gnade der späten Geburt“ unter- hieß es : stellt. „War für viele Deutsche die Nationalhymne Ausdruck na- Es geht darum, dass die junge Generation die gesamte tionalsozialistischer Stärke und Macht, so bedeutete sie heutige Lage, in der sie selber hineinwächst, und für die für das jüdische Volk Verfolgung, Angst und Tod.“ sie die Verantwortung hat, nur im Zusammenhang mit In einem Gespräch über diese Aktion gegen den der Geschichte verstehen und meistern kann. Denn kein deutsch-nationalen Kultusminister Wagner am 9. No- einziges heutiges Problem ist ohne Zusammenhang mit vember 1989 vor der Synagoge sagte Miriam Korn, Mit- der Geschichte. Die lügnerische Behandlung der Ge- verfasserin dieses Flugblattes: schichte, das Wegdrücken der Tatsache, dass die Er- „Für die Opfer – und auch für ihre Kinder – kommen mit mordung von Millionen von Menschen durch den NS- den Klängen und dem Text des Deutschlandliedes die Staat mit der Zustimmung oder Duldung sehr großer Grauen der Nazizeit, des Völkermordes wieder hoch. Es Teile der deutschen Bevölkerung, die in ihrer großen wird kaum einen Jude geben, der die heutige Deutsche Mehrheit zur Zeit der Siege der NSDAP und dann der Nationalhymne befürwortet, schon gar nicht die erste deutschen Wehrmacht hinter dem NS-Regime stand, Strophe.“ durchgeführt wurde, – das alles ist die Verantwortung (Zitiert nach Die Brücke, Nr. 52/89, S. 26)

7 Das Deutschlandlied steht unter aller Kritik, es ist von ter Weise, als Symbol des Nationalismus nun im „großen vornherein und in jeder Hinsicht durch die Grauen der Deutschland“ eine ganze Fülle von Mechanismen, die NS-Zeit mit dieser Zeit unlösbar verknüpft. den Nationalismus so gefährlich machen. Aber es muss dennoch Gegenstand der Kritik sein. Denn in diesem Lied kristallisiert sich in bemerkenswer-

2. „Das muss man aus der Zeit heraus verstehen“: Zur Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalismus und des Deutschlandliedes

Die Nationalhymnen verschiedenster Länder haben ja Die Französische Revolution 1789 mit ihrer Verkün- oft eine lange Geschichte. Die älteste Hymne (von Hol- dung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde land) und die Hymne von England und Frankreich kön- bald gestoppt. Unter Napoleon, der sich zum Kaiser nen auf mehrere Hundert Jahre zurückblicken! machte, marschierten französische Truppen auch in Und nicht ohne Stolz vermerken unsere Anhänger des Deutschland ein. Das in mehr als drei Dutzend Klein- Deutschlandliedes, dass dieses Lied 1991 runde 150 staaten zersplitterte Deutschland entdeckte nun seiner- Jahre alt ist. Den Kritikern des Deutschlandliedes wird seits im Kampf gegen Napoleon die Nation als Parole. oft genug entgegengeschleudert: „Das muss man ge- Es entstand eine deutsch-nationale auf die Einheit schichtlich sehen, aus der Zeit heraus verstehen!“ Da- Deutschlands abzielende, zumindest teilweise demokra- mals ... ! Und schon fühlen sie sich als Sieger. Klar geht tische Bewegung, die sich gegen die mittelalterlichen es meist darum, mit diesem Manöver von der aktuellen Zustände, die Fürstentümer und den staatlichen Despo- Wirkung dieses Liedes abzulenken. Aber es lohnt sich tismus richtete. Nun war eine Besonderheit dieser Be- dennoch, diese von reaktionärer Seite betriebene Her- wegung gegen Napoleon, dass von vornherein in ausforderung einmal anzunehmen und die Entstehungs- Deutschland der Kampf gegen diese Fremdherrschaft geschichte des Deutschlandliedes, die geschichtliche von großen Teilen mit häufig reaktionären Ideen geführt Situation 1841 und die Person des Autors, Herrn Hoff- wurde. Vor allem sollten die Ideale der Französischen mann von Fallersleben genauer zu betrachten! Das Revolution, die Ideen der Aufklärung bekämpft werden, wird – nehmen wir es vorweg – nicht gut ausgehen für nicht so sehr die Fremdherrschaft Napoleons. Unter die deutsch-nationalistische Seite! Bezug auf die Kreuzzüge des Mittelalters wurde mit „christlich-germanischen“ Parolen pauschal gegen „die Das Argument, „das war damals eben so, das musst du Franzosen“ ins Feld gezogen. Richtiges und Falsches, aus der Zeit heraus verstehen“ (sie meinen immer ent- Fortschrittliches und Reaktionäres wurde oft heillos schuldigend) drehen wir um! Weil keinesfalls einfach verknüpft. vom heutigen Standpunkt aus ein Urteil über eine ver- gangene Zeitspanne erlaubt ist, kann und soll aus dem Die Bewegung gegen Napoleon hatte ein doppeltes Ge- wirklichen Verständnis der damaligen Zeit heraus alles sicht, sie zeigte den „Januskopf“. Reaktionäre auch aus der Anfangszeit des Nationalismus In dieser Zeitspanne sammelte sich zunächst alles unter aufgedeckt und kritisiert werden. Vom damaligen Stand- dem schwarz-rot-goldenen Banner. Es bildeten sich punkt aus, d. h. vom Standpunkt der damals schon wirk- jedoch immer deutlicher zwei Strömungen heraus: Jene lich fortschrittlichen demokratischen Kräfte. von Heinrich Heine und Ludwig Börne repräsentierte Heinrich Heine und Ludwig Börne und nicht Herr fortschrittlich-demokratische Bewegung, die sich weiger- Hoffmann (der keinesfalls adelig war, sondern wohl im te, gegen die Ideale der Aufklärung und der französi- Anflug von Hochstapelei sich den Zusatz „von Fallers- schen Revolution zu Felde zu ziehen, und eine offen leben“ selber gab – Bescheidenheit war ihm fremd) wer- reaktionäre gegen „das Fremde“ gerichtete Strömung, den auch zu Wort kommen, damit die Dinge und auch die sich vor allem in den Burschenschaften, und bei den das Deutschlandlied tatsächlich „aus der damaligen Zeit Turnern und Turnvater Jahn manifestierte. heraus“ verstanden werden können! 1818 stieß Hoffmann von Fallersleben zur Bonner Bur- Um die Motive und Erläuterungen, den Streit um die schenschaft. Ein Jahr vorher war auf dem deutsch- Auslegung von „Deutschland, Deutschland über alles“ nationalen Wartburg-Fest eine große Bücherverbren- richtig einordnen zu können, müssen in der Tat die da- nung vorgenommen worden ... ein Vorgang, der bei maligen Entwicklungsbedingungen, unter denen 1841 Heinrich Heine großes Entsetzen hervorrief. Die ganze das Deutschlandlied entstand, knapp charakterisiert Problematik des „Deutschtümlertums“ war damit deut- werden. lich geworden. In der damaligen Zeit der fürstlichen Despotie wurden beide Strömungen von den Fürsten Zur Entstehungszeit des Deutschlandliedes verfolgt. Auch Hoffmann von Fallersleben verlor 1830 seine Professur. Hoffmann von Fallersleben lebte und wirkte in einer Das Deutschlandlied dichtete er 1841 bei einem Besuch politisch bewegten Zeit. Denn die bürgerliche Revoluti- auf Helgoland. In dieser Zeit war er noch zwischen bei- on in Frankreich hatte auch ihre Wirkung auf Deutsch- den Strömungen angesiedelt, aber durchaus mit massiver land. Schlagseite zu den deutschtümlerischen Burschen-

8 schaftstendenzen jener Zeit. Hoffmann von Fallersleben Jahre eingewandert), aber es waren eben Juden, „Hebrä- polemisierte teilweise direkt gegen Leute wie Heine, er“, keine Germanen! Diese Auffassung verband sich ächtete sie als angebliche „Kosmopoliten“ und warf mit dem traditionellen christlich motivierten Antijudais- ihnen ihren „Traum von einer allgemeinen Weltbürger- mus und so entstand bei den christlich-germanisch ori- lichkeit“ vor. (H. v. Fallersleben, Gesammelte Werke, entierten Burschenschaften ein aggressiver Antisemitis- Band II, S. 187) In einem Brief aus dem Jahre 1848 be- mus! Auf dem Wartburgfest wurden dann eben nicht tonte er gegenüber Leuten wie Heine, seine eigene Lyrik nur Bücher und Symbole der Fürstenherrschaft ver- habe sich „allen Beziehungen auf das Ausland von jeher brannt. ferngehalten (Band III, S. 97) und sei eben „rein Franz Mehring beschreibt die damalige Lage so: deutsch“. „Der von Heine später so unermüdlich verspottete Maß- Die ganze reaktionäre Richtung innerhalb der „schwarz- mann (...) machte den Vorschlag, einige Schriften zu rot-goldenen“ Burschenschaften kann recht genau an verbrennen, die der patriotischen Jugend widerwärtig der Wartburgfeier deutlich gemacht werden. waren, wie einst Luther die Bannbulle des Papstes ver- brannt hatte. Es war eine Nachäfferei, wie sie nur Jahn ersinnen konnte, von dem auch das Verzeichnis der Die Wartburgfeier Schriften herrührte, die verbrannt werden sollten: kunter- bunt durcheinander der Code Napoleon (...), einige Pre- Die Wartburgfeier ist ein sehr klares Beispiel, wie der ßerzeugnisse, die sich gegen das Turnen oder für das Kampf gegen Napoleon und die deutschen Fürsten, die Judentum aussprächen...“ in über 30 Kleinstaaten regierten, von reaktionären, also (Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 6, 1980, nach rückwärts gerichteten Anschauungen bestimmt S. 379) wurde. Unter diesen Büchern befand sich auch das des jüdi- In diesem Kampf für die deutsche Einheit – die längst schen Autors Saul Ascher, dessen Buch „Germanoma- eine wirtschaftliche Notwendigkeit geworden war – nie“ auf einer wohl von Turnvater Jahn ausgearbeiteten wurde von den Burschenschaftlern ganz bewusst an das Liste der Bücher stand. alte kaiserliche Deutschland angeknüpft. Man ging be- Saul Ascher kommentierte die Verbrennung seiner reits von einem „1000 jährigen Reich“ aus, sang Loblie- Schrift „Germanomanie“ wie folgt: der auf Kaiser „Rotbart“ Barbarossa, und ging zurück zu Hermann, dem Cherusker, der in den Tälern des Teuto- „Um das Feuer der Begeisterung zu erhalten, muss Brennstoff gesammelt werden, und in dem Häuflein Ju- burger Waldes eine römische Armee des Kaisers Augus- den wollten unsere Germanomanen das erste Bündel tus geschlagen haben soll. Es ging also um germanische Reiser zur Verbreitung der Flamme des Fanatismus hin- Tradition. einlegen... „O bleibt echt deutsch und gut, So verbrannten sie z. B. die Schrift: die Germanomanie; ihr stammt aus Hermanns Blut“ etwa weil ich darin behaupte, dass jeder Mensch ebenso organisiert wie der Deutsche ist; dass das Christentum wurde geflügeltes Wort. keine deutsche Religion ist, dass Deutschland nicht vor- Die Problematik dieser reaktionären Grundauffassung zugsweise den Urdeutschen zum Wohnsitz...“ ist – knapp angerissen – die: (Saul Ascher, Die Wartburgfeier, Leipzig 1818, S. 13) Erstens waren die Herrschaftsgebiete der alten „deut- Die 450 Studenten in der Wartburg 1817 verbrannten schen“ Kaiser nun in keiner Weise mit dem für das 19. dieses Buch mit den Worten: Jahrhundert in Frage kommenden Gebiet zu verglei- „Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Juden- chen. Je nach Kriegsglück, Koalitionen und Kombinati- tum und wollen über unser Volkstum und Deutschtum onen waren die „deutschen“ Kaiser Herren über Skan- schmähen uns spotten.“ dinavien, Ungarn, Polen usw. Der Rückgriff auf die (Saul Ascher, zitiert nach Ludger Heid, „Wenn Deutschland er- „alten deutschen Kaiser“ beinhaltete indirekt auch die wacht...“, in: Tribüne Nr. 114, S. 112) Forderung nach Wiederherstellung der damaligen – 1820 schrieb Heinrich Heine zu diesen Vorgängen auf beliebig zu variierenden – großen Herrschaftsgebieten! dem Wartburgfest: Expansionistische Elemente waren von vornherein in „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher ver- diesen „Rückgriffen“ enthalten. brennt, verbrennt man am Ende Menschen.“ Zweitens bot die geschichtlich unhaltbare Konstruktion Und weiter: eines angeblich „1000“ – oder gar 2000 – jährigen Ge- „Auf der Wartburg hingegen herrschte jener unbe- schichte einer deutschen Nation (die in Wirklichkeit im schränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glau- 19. Jahrhundert erst zusammenhängende Gestalt an- be greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als nahm) mit dem Slogan „ihr stammt von Hermanns Hass des Fremden und dessen Glaube nur in der Un- Blut“, die Möglichkeit auch innerhalb Deutschlands eine vernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Gruppe „blutsmäßig“ aus dem Kreis der Deutschen Besseres zu erfinden wusste, als Bücher zu verbrennen!“ auszuschließen, da sie ja als „Nichteuropäer“ aus Paläs- (H. Heine, Werke Band 4, Frankfurt/Main 1968, S. 415) tina (bzw. aus Indien die Sinti) eingewandert waren: Die Heinrich Heine analysierte, dass unter der unzweifelhaft Juden! Das lag zwar auch schon über Jahrhunderte, ja richtigen Losung „Für die Einheit Deutschlands“, eben über tausend Jahre zurück (die Sinti waren vor 400 – 500 jene Deutschtümler, die es zum Fremdenhass, zum Ras-

9 sismus, zur Bücherverbrennung, zu Mord und Totschlag Bereits in der Entstehungsperiode des Deutschlandliedes kommen lassen werden, die wirklichen Demokraten gab es also schon einen aggressiven Nationalismus, der überfluten werden, denn ihnen stehen mit an seiner Wiege stand. Nicht jeder, der für die „Ei- „jene mächtigen Formel zu Gebote, womit man den ro- nigkeit Deutschlands“ eintrat, war frei von nationalisti- hen Pöbel beschwört, die Worte „Vaterland, Deutsch- scher Überheblichkeit, Fremdenhass und Schlimmerem. land, Glauben der Väter“ usw. elektrisieren die unklaren Volksmassen noch immer weit sicherer als die Worte: Die Wartburgfeier war nur extremer Ausdruck dieser ‚Menschheit, Weltbürgertum, Vernunft der Söhne, Wahr- reaktionären Strömung in Deutschland. Die FR vom 28. heit’...“ (Ebd., S. 417) 12. 1989 meldet, dass in der DDR Professoren und Stu- denten gerade diese Tradition wiederbeleben und erneut „Wartburgfeste“ feiern wollen. Angeblich sei, so wört- lich, das Wartburgfest „ein Symbol der guten Tradition des deutschen Volkes“ gewesen. Nicht gemeldet wurde in der FR, ob sich diese Professoren und Studenten aus Jena schon überlegt haben, ob und welche Bücher jüdi- scher Schriftsteller sie verbrennen.

Das Umfeld von Hoffmann von Fallersleben: E. M. Arndt und Jahn

Zwei Namen prägen die Zeit, in der Hoffmann von Fallersleben in und um die Burschenschaften aktiv wur- de. Ernst Moritz Arndt und Turnvater Jahn! Sie können ohne Zweifel als Ideologen, führende Männer der Zeit- spanne von 1817–1848 angesehen werden! Aber keines- falls nur vom heutigem Standpunkt aus, auch aus der Sicht der damaligen Zeit waren es – vorsichtig ausge- drückt – hochumstrittene Figuren! Ernst Moritz Arndt war im Jahre 1813 im Stabe des Reichsfreiherrn Stein für „Propaganda“ zuständig. Sein bekanntestes Gedicht: „Was ist des Teutschen Vaterland?“ Ob Schweiz und Tirol, Österreich – immer folgt der „Slogan“, dass es Saul Ascher (1767–1822), Buchhändler und nicht ausreicht, „sein Vaterland muss größer sein“: Schriftsteller, wandte sich in zahlreichen Veröffent- lichungen gegen antijüdische und deutschtümelnde So weit die deutsche Zunge klingt Schriften. „Germanomanie“ (1815) war die Antwort und Gott im Himmel Lieder singt, auf einen Aufsatz des Historikers Friedrich Rühs das soll es sein! „Über die Ansprüche der Juden auf das deutsche das, wackrer Deutscher, nenne dein! (...) Bürgerrecht“. Darin hatte Rühs geschrieben: „Ge- Das ist des Teutschen Vaterland, lingt es nicht, die Juden zur Taufe zu bewegen, wo Zorn vertilgt den welschen Tand, dann bleibt nur eins; sie gewaltsam auszurotten.“ wo jeder Franzmann heißet Feind wo jeder teutsche heißet Freund - Heinrich Heine beschreibt sehr anschaulich, welcher das soll es sein! aggressive Nationalismus von vornherein in bestimmten Das ganze Teutschland soll es sein!“ Kreisen steckte, die mit Enthusiasmus die erste Strophe des Deutschlandliedes als ihr Leitmotiv betrachteten: In diesem Gedicht werden auch die Holländer, die er als Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der „Marsen“ bezeichnet, miteinbezogen. Welt. In „Ludwig Börne, eine Denkschrift“, schildert Die Vorstellung, dass Deutschland identisch sei mit dem Heine bereits erschreckend genau, was die Wart- deutschen Sprachgebiet, ist hier Leitlinie, falsche Leitli- burg’schen Deutsch-Nationalen, die „Altdeutschen“, die nie. Denn Deutsche lebten ja nicht nur im eigenen Land, zackigen Burschenschaftler zu tun gedenken, wenn sondern auch – oft weit vorgeschobene Minderheiten – „Deutschland über alles in der Welt“ Geltung habe: in anderen Ländern, deren Bevölkerung in ihrer großen „Im Bierkeller zu Göttingen musste ich einst bewundern, Mehrheit nicht deutsch war und nicht deutsch sprach. mit welcher Gründlichkeit meine altdeutschen Freunde Das ... „muss größer sein“, war eben schon expansionis- die Proskriptionslisten anfertigten, für den Tag, wo sie zur Herrschaft gelangen würden. Wer nur im 7. Glied von tisch in alle Himmelsrichtungen. Bis heute hat sich zu- einem Franzosen, Juden oder Slawen abstammte , ward dem die Vorstellung gehalten, dass „soweit die deutsche zum Exil verurteilt. Wer nur im mindesten etwas gegen Zunge klingt“ (eine sehr merkwürdige Wortkombinati- Jahn oder überhaupt gegen altdeutsche Lächerlichkeiten on), es sich doch im Grunde um „Deutsche“ handelt. geschrieben hatte, konnte sich auf den Tod gefasst ma- Darauf wird bei der Haltung zu Österreich zurückzu- chen...“ kommen sein. (Ebd. S. 415, 416)

10 Aber – unlogisch bis zum Gehtnichtmehr – die deutsche sich 1813 bei Jahn schon wie folgt an: Zunge, die hat bei Arndt doch nicht jeder, der deutsch „Deutschland (...) kann einst der Begründer des ewigen spricht. Das militante Deutschländertum hat eben nicht Friedens in Europa, der Schutzengel der Menschheit nur die Sprache als Kriterium, sondern den „germani- sein...“ schen Stamm“, „Hermanns Blut“. Daraus resultierte der (Jahn, Das deutsche Volk, 1813, Werke Band 1, S. 146) bösartige Antisemitismus dieser Zeitspanne. Der Schriftsteller W. Jordan im „Weckruf“ 1845 (Nr. 5, Ernst Moritz Arndt schrieb 1814: S. 35) schrieb dann noch offener: „Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in „Ihr vierzig Millionen, wenn ihr wolltet, die Welt müsste diese Staaten hinein, und darum will ich nicht , dass sie zittern vor eurer Macht!“ auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie Die Ansichten Jahns und Arndts sind nicht erst heute, ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germa- nach der NS-Zeit, unerträglich für jeden demokratisch- nischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen humanistisch orientierten Menschen. Auch damals, aus Bestandteilen rein zu erhalten wünsche.“ der damaligen Zeit heraus, war klar, wie bösartig solche Gleichzeitig setzte Arndt sein Akzent vor allem gegen Thesen und eine solche Sprache in der Tat waren. Denn die sogenannten Ostjuden und führte weiter aus, dass immer wieder kam es in dieser Zeitspanne auch zu pog- die Juden aus ganz Europa nach Deutschland romartigen Zwischenfällen und Überfällen auf die jüdi- sche Bevölkerung, die so genannten „Hepp-Hepp“- „hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Über- Unruhen. Die wirklichen Demokraten standen damals schwemmung vorzüglich von Osten her, nämlich aus Po- an der Seite der jüdischen Bevölkerung. len droht...“ Übrigens: Nicht nur rechtskonservative Kultusminister (E. M. Arndt, Ein Blick aus der Zeit auf die Zeit, 1814, abge- der BRD loben Jahn und Arndt, verschweigen deren druckt in: Ludger von Westphalen, Geschichte des Antisemitis- mus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, S. 15 f) bösartigen Nationalismus und Antisemitismus oder entschuldigen ihn „aus der Zeit heraus“, – nein auch in Klar ist auch, dass die Zeit vorbei ist, in der Juden sich der DDR gibt es, (gab es) in Ost-Berlin einen „Jahn- taufen lassen können und dann keine Juden mehr sind. Platz“. Der völkische Antisemitismus – biologistisch, rassisti- sche mit Beispielen aus der Tier- und Pflanzenwelt illust- Da störte es offenbar nicht weiter, dass schon Franz riert – handelt nach der Devise „Jud bleibt Jud!“ Und Mehring, einer der theoretischen Väter der Arbeiterbe- zudem, wer sich mit Juden einlässt, wird sofort zum wegung unmissverständlich in seiner Abhandlung „Zur „Judengenossen“ gestempelt! Geschichte Preußens“ geschrieben hatte: „Jahn predigte den dümmsten Franzosenhass“ (Werke Band VI, So schrieb Arndt 1848: S. 375 ff). „Juden und Judengenossen, getaufte und ungetaufte, arbeiten unermüdlich und auf allen äußersten, radikalen Den üblen Nationalisten und Judenhasser Ernst Moritz Linken mitsitzend an der Zersetzung und Auflösung des- Arndt finden wir bei Albert Norden, einem wichtigen sen, worin uns Deutschen bisher unser Menschliches Theoretiker der SED, schon 1952 in einer Reihe mit und Heiliges eingefasst schien, an der Auflösung der Va- Kommunisten wie Liebknecht und Thälmann. (A. Nor- terlandsliebe und Gottesfurcht.“ den, Um die Nation, Berlin 1952, S. 261) Dort – und in (Zitiert nach K. Dede, Die missbrauchte Hymne, S. 61) vielen anderen Dokumenten der SED heißt es dann, E. Turnvater Jahns bösartige Deutschtümelei benutzte M. Arndt sei ein „unermüdlicher Prediger und Dichter schon den biologistischen, rassistischen Ansatz bei der der nationalen Freiheit“ gewesen (ebd., S. 39). Definition seines „Deutschen Volkstums“. In seiner so Da wundert es auch nicht, wenn sogar in einer Anmer- betitelten Schrift von 1806 schrieb er: kung der Marx-Engels-Werke, Band 21, Engels ein we- „Mischlinge von Tieren haben keine echte Fortpflan- nig revidiert wird. Die Polemik von Engels in seiner zungskraft und ebenso wenig Blendlingsvölker ein eige- Schrift „Die Rolle der Gewalt in der Geschichte gegen nes volkstümliches Fortleben (...) das Immer-wieder- den „nebelhaften Drang wartburgfestlicher Burschen- überpropfen taugt nicht in der Baumschule und in der schafter“ , und seine Feststellung, dass es dort auf der Völkerzucht noch weit weniger.“ Wartburg „um die romantische Kaiserherrlichkeit des (F. L. Jahn, Deutsches Volkstum, zitiert nach: Meyers Volksbü- Mittelalters“ ging (MEW 21, S. 410), sowie seine bösen, cher 1896, S. 32f) aber treffenden Bemerkungen über die erste Strophe des Deutsche nur mit Deutschen ... die Vorläufer der Nürn- Deutschlandliedes, passten nicht in das nationalistische berger Rassengesetze haben in Jahns Fortpflanzungsvor- Konzept. So kommt die Kommission der SED in An- stellungen aus der Baumschule ihre ideologischen Vor- merkung 373 (S. 602) zu einer bloß positiven Einschät- läufer. zung des Wartburgfestes und krönt dies noch mit einer „Turnwüterich Jahn“, wie er von kritischen Zeitgenos- positiven Einstellung zum Deutschlandlied. Es heißt in sen (etwa Karl Marx) genannt wurde, war bei dem Fort- Anmerkung 373, direkt auf den Spott Engels eingehend, pflanzungsprogramm im „Deutschen Volkstum“ sehr Hoffmann von Fallersleben habe das Lied „Deutsch- engherzig, umso großzügiger wurde er, wenn es um die land, Deutschland über alles ... “besorgt über die Zer- weltweite Rolle Deutschlands ging. Die angebliche, auf splitterung Deutschlands, 1841,“ geschaffen. Und wei- die ganze Welt bezogene Mission Deutschlands hörte ter: „Später wurde es als Nationalhymne eines chauvinis-

11 tischen Deutschlands missbraucht. “ (MEW 21, S. 602) Sie ist gestreift zebräisch; Später? Die SED-Kommission hat also 1962 geradezu Auch deiner Stimme näselnder Laut Klingt ziemlich ägyptisch-hebräisch. Engels auf den Kopf gestellt. ... Wir alle sind Esel ! I-A! I-A! Heinrich Heine als „Zeitzeuge“ Wir sind keine Pferdeknechte. Fort mit den Rossen ! Es lebe ,hurrah ! Einige Gedichte von Heinrich Heine, in kurzen Auszü- Der König vom Eselsgeschlechte! gen zitiert, zeigen dass damals ein heftiger Kampf gegen So sprach der Patriot. Im Saal das „Deutschländertum“ geführt wurde. Es gilt wirklich Die Esel Beifall rufen. Sie waren alle national, dieses „Deutschländertum“ aus der damaligen Zeit her- Und stampften mit den Hufen ... “ aus zu verstehen und zu kritisieren, und nicht einfach von unserem heutigen Standpunkt aus. Daher kommt (Band I, S. 271) der Stimme Heinrich Heines besondere Bedeutung zu. Zusammenfassend resümiert Heine: Er schrieb 1848 in „Deutschland, ein Wintermärchen“: „Fatal ist mir das Lumpenpack, „Auch deine Fahne gefällt mir nicht mehr, Das, um die Herzen zu rühren, Die altdeutschen Narren verdarben Den Patriotismus trägt zur Schau Mir schon in der Burschenschaft die Lust Mit allen seinen Geschwüren...“ An den schwarz-rot-goldenen Farben. “ (Band I, S. 479) (H. Heine, Werke, Band I, Frankfurt/Main 1968, S. 461) * * * Er schrieb in: „Michel nach dem März“ Liest man ein wenig in den Quellen selbst nach, studiert „Doch als die schwarz-rot-goldene Fahn, die Dokumente der damaligen Zeit, dann wird eins ganz Der altgermanische Plunder, klar: Aufs Neu erschien, da schwand mein Wahn Und die süßen Märchenwunder. Diese ganze Zeitspanne zwischen 1814 und 1848 ist Ich kannte die Farben in diesem Panier nicht umsonst und nicht zufällig zentrale Fundquelle für Und ihre Vorbedeutung: die Nazis gewesen. Hier sind in der Tat „vom deutschen Von deutscher Freiheit brachten sie mir Gruß“ angefangen ... die propagandistischen Versatzstü- Die schlimmste Hiobszeitung. Schon sah ich den Arndt, den Vater Jahn - cke von Goebbels und seinen Leuten zusammengesucht Die Helden aus andern Zeiten und ums Vielfache verstärkt worden. Aus ihren Gräbern wieder nahn Die „Treue zum heiligen deutschen Reich“ (vom Dich- Und für den Kaiser streiten. “ ter Schenkendorf 1814 geschrieben) wurde beschworen, (Band I, S. 274) das Leiblied der SS „wenn alle untreu werden“ stammt In einem anderen Gedicht, „Die Wahlesel“ prangert aus dieser Zeit, und „der alte Barbarossa“ wurden von Heinrich Heine den dümmlichen Antisemitismus an! den eben gar nicht so fortschrittlichen Burschenschaften „Das Komitee der Esel ward besungen, – jener Barbarossa, nach dem das NS-Regime Von Alt-Langohren regieret; seinen Plan des Überfall auf die Sowjetunion „Plan Bar- Sie hatten die Köpfe mit einer Kokard, barossa“ tauften. Die schwarz-rot-golden, verzieret. ... Ja, Turnvater Jahn, E. Moritz Arndt und unser Hoff- Als einer jedoch die Kandidatur mann von Fallersleben waren „Schwarz-Rot-Goldene“. Des Rosses empfahl, mit Zeter Doch das ist keinesfalls eine Gewähr für wirkliche de- Ein Alt-Langohr in die Rede ihm fuhr, mokratische Gesinnung, wie wir gezeigt haben. Das Und schrie: Du bist ein Verräter! Problem gibt es bis heute. Du bist ein Verräter, es fließt in dir kein Tropfen vom Eselsblute; Du bist kein Esel, ich glaube schier, Dich warf eine welsche Stute. Du stammst vom Zebra vielleicht, die Haut

12 3. Das Märchen vom untadeligen Herrn Hoffmann von Fallersleben

Auch Theodor Heuss vermerkte in dem vielzitierten „Deutsch zu sein in jeder Richtung Briefwechsel mit Adenauer, in dem 1952 schließlich das fordert jetzt das Vaterland: Aus dem Leben, aus der Dichtung Deutschlandlied zur Nationalhymne erklärt wurde, dass Sei das Fremde ganz verbannt! Hoffman von Fallersleben ein „Schwarz-Rot-Goldener“ ... war! Er meinte damit : ein Demokrat war. Schaffet ab die fremden Worte Die Bedeutung aber auch! Ein Blick auf heute hilft vielleicht, eine skeptischere Rein soll sein an jedem Ort Einschätzung zu erlangen: Wer ist heute nicht alles ein Deutsche Sitt und deutscher Brauch „Schwarz-Rot-Goldener“! ... Drum allaf! Fluch und Vernichtung So oder so kann es nur nützlich sein, die 6, 7 Bände des Allem diesem fremden Tand!“ Herrn Hoffmann von Fallerleben einmal durchzulesen. (Werke Band IV, S. 341) Was da allerdings zutage tritt, – das muss ernst genom- men werden. Was für eine merkwürdige Art „Republikaner“ Hoff- mann von Fallersleben war, zeigt sich auch in seiner Der Sinn des 1841 geschriebene Deutschlandlied, die reaktionären Träumerei vom Kaiserreich. Bedeutung von „Deutschland, Deutschland über alles“, so wie es der Dichter selbst verstanden hat, wird rasch Am 1. Dezember 1837 dichtet er unter dem Titel „Im um einiges klarer! Jahre 1812“: „Wenn der Kaiser doch erstände! Nationalismus, Fremdenhass und Ach! er schläft zu lange Zeit: reaktionäre Träumerei vom Kaiserreich Unsre Knechtschaft hat kein Ende Und kein End hat unser Leid. (...) Beim Lesen der Gedichte des Hoffmann von Fallersle- Kaiser Friedrich, auf! erwache! ben schlägt uns zunächst ein Fremdenhass, schlecht Mit dem heil’gen Reichspanier verbrämt mit einer angeblichen „Liebe“ zu Deutschland Kommt zu der gerechten Rache! Gott der Herr er ist mit dir.“ entgegen, der peinlich berührt oder lächerlich wirkt, solange er sich nur gegen Fremdwörter richtet, denen er (Werke Band IV, S. 5) „Fluch und Vernichtung“ wünscht. Solche obrigkeitshörigen Gedichte widmete er nicht nur Die Sache wird ernster, wenn sich zeigt, dass die altdeut- dem vergangenen Kaiser, sondern seine „Hofgedichte“ schen Phantasien „Ach wenn der Kaiser doch erstünde“ bezogen sich auch auf lebende Monarchen, und von mit Lobliedern auf Kaiser Wilhelm und Moltke sich in Demokratie, Herrschaft des Volkes ist da nicht viel zu einen bösen Franzosenhass integrieren. Heraus kommt sehen. dann der „Hass gegen dies verworfene Franzosenge- Hoffmann von Fallersleben dichtete untertänigst: schlecht, diese Scheusale der Menschheit“, und es endet „Wir sind bereit für Ihn hienieden in Kriegsgedichten für Bismarck. Ein echter, demokrati- Zu jeder Zeit , in Krieg und Frieden, scher „Republikaner“ war dieser Hoffmann von Fallers- in Freud und Schmerz leben jedenfalls nicht. ein Mann, ein Herz Hoch lebe! Hoch Beginnen wir mit den eher harmlosen, peinlichen Passa- der uns regiert und uns regierte gen: Hoch lebe Friedrich Wilhelm der Vierte!“ „Nur in Deutschland, da will ich ewig leben.“ (Gesammelte Werke, Band VI, S. 20 f, 10.11.1840) So schrieb Hoffmann von Fallersleben 1824 (Werke Eng mit diesem Monarchismus verbunden war auch der Band III, S. 234), was den Spott von Marx und Engels in Militarismus bei Hoffmann von Fallersleben. So dichtete ihrer Frühschrift „Deutsche Ideologie“ (MEW 3, S. 169) er etwa: hervorrief, über dieses „wackere Verslein, des wackeren „Krieg ist Leben, Leben ist Krieg (...) Hoffmann von Fallersleben“. Wir gewohnt zu jeder Zeit Krieg und Streit Lasst uns gewöhnen an Krieg, an Tod und Sieg! Das Gedicht „Nur in Deutschland ist man froh, fröhlich Lustig voran sind nur wir“ (20. September 1855, Werke Band III, Mann für Mann“ S. 253 f) ist auch Ausdruck einer penetranten Selbstbe- (Zitiert nach: A. H. Hoffmann von Fallersleben in seinen Liedern, weihräucherung, aber über solche kindischen Verse Maximilian-Gesellschaft 1941, S. 63) können auch Nichtdeutsche gewiss noch fröhlich la- Dass Hoffmann von Fallersleben ein äußerst merkwür- chen. diger „Demokrat“ war kommt auch in folgendem Ge- Der Bannstrahl dem Fremdwort gegenüber hört sich so dicht zum Ausdruck: an: „Der König von Preußen als deutscher Kaiser Unter der Überschrift „Die Fremdherrschaft“ vom 28. Wofür jetzt alle Deutschen leben, Juni 1843 dichtete Herr Hoffmann von Fallersleben: Wonach sie sich sehnen und eifrig streben, Es wird dereinst auf Erden

13 Zur vollen Wahrheit werden. deutschen Dichters, der nur ein paar Jahr älter war und Der König, der sich eben jetzt auch ein paar bessere Gedichte geschrieben hat als Hoff- Die Königskron auf Haupt gesetzt, mann von Fallersleben. Der muss die deutsche Kaiserkrone einst hinterlassen seinem Sohne. Goethe, der gewiss auch kein stürmischer Revolutionär Drum lasst uns jetzt das Glas erheben: in seiner Zeit war und trotz seiner überragenden dichte- Der König als deutscher Kaiser soll leben!“ rischen Leistung nicht kritiklos verherrlicht werden soll- (Werke Band VI, S. 201, 18. Oktober 1861) te, Goethe jedenfalls hatte zum Thema Franzosenhass Noch eine Probe seines ach so „demokratischen“ den „Deutschtümlern“ á la Jahn, Arndt, Fallersleben Grundtenors ist das Gedicht für den Generalfeldmar- seine klare Haltung entgegengesetzt. schall Graf Moltke, dass er am 8. Oktober 1873 dichtete: Als Goethe vorgeworfen wurde, dass er während der „Wem gilt am heutigen Tage Befreiungskriege keine Hofgesänge gegen die Franzosen Des Dankes Sang und Wort? geschrieben habe, antwortete er: Ein Held ist heute geboren Gott hat ihn auserkoren „Wie hätte ich nun Lieder des Hasses schreiben können zu Deutschlands Segenshort ohne Hass! Und unter uns: Ich hasste die Franzosen Das bist du, edler Moltke! nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir sie los wurden. Dank dir viel tausendmal! Wie hätte ich auch, dem nur Kultur und Barbarei Dinge Du kriegserfahrener Denker, von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu Du sicherer Schlachtenlenker, den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen Du glücklicher General!“ großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte! Über- (Werke Band VI, S. 290) haupt ist es mit dem Nationalhass ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer Dass das alles auch nicht gerade Ausdruck hoher Dicht- am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine kunst ist, merkt man von Gedicht zu Gedicht deutlicher. Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewisser- Nicht die schlechten Gedichte sind Zufall, die wenigen maßen über den Nationen steht und man ein Glück oder akzeptablen sind die Glückstreffer, die Mehrheit uner- ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eignen begegnet.“ träglich. (Goethe an Eckermann , am 10. März 1830) Auch Kaiser Wilhelm blieb 1871 nicht verschont. Hoff- mann von Fallersleben schuf kurz nach dem 18. Januar Herr Hoffmann von Fallersleben befindet sich laut Goe- 1871 folgendes Lobgedicht: the auf einer der „untersten Stufen der Kultur“. Und in diesem Punkt hat Goethe allemal recht. Das zeigt sich „Wer ist es, der vom Vaterland den schönsten Dank empfing? auch gerade bei Hoffmann von Fallerslebens Antisemi- vor Frankreichs Hauptstadt siegreich stand tismus! und heim als Kaiser ging? Du edles Deutschland, freue Dich, Der Antisemitismus bei Hoffmann von Fallersleben dein König, hoch und ritterlich, dein Wilhelm, dein Kaiser Wilhelm ist’s!“ Hitler und die NS-Propagandisten waren große Lobhud- (Zitiert nach Gerstenberg, 1916, S. 78) ler von Hoffmann von Fallersleben. Diese große Be- wunderung für den Dichter des Deutschlandliedes hat Auch über dies Gedicht hinaus geht zweifellos der bei einen tieferen Grund nicht nur in dem oben bewiesenen Nationalisten nie ganz zu vermeidende Hass gegen an- Nationalismus, sondern gerade auch im Antisemitismus dere Völker, konkret gegen die Franzosen. von Hoffmann von Fallersleben, der in der NS-Zeit Im Kriegsjahr 1870 schrieb er am 27. August an Adolf genüsslich zitiert wurde: Strümpell: „Standen doch die Juden Heine und Börne dem ‘Jungen „Die gewaltige Zeit verschlingt alles Persönliche, alles Deutschland’ vor, und sie verfemten mit fanatischem was Liebe und Gemütlichkeit heißt und ist, und lässt uns Hass alles Volkstümliche, weil es der Verherdung der nur den Hass übrig, den Hass gegen dies verworfene Völker zur Weltjudenrepublik im Wege ist. Sie (Heine und Franzosengeschlecht, diese Scheusale der Menschheit, Börne AdV) werden ihm (H. v. Fallersleben, AdV. ) auch diese tollen Hunde, diese grande nation de l’infamie et nicht verziehen haben, dass er in den ‘Unpolitischen Lie- de la bassese. dern’ sein Wissen um die wirtschaftliche Beherrschung Gott gebe und Er gibt es, dass wir aus diesem schweren der Völker durch Israel unumwunden ausgesprochen Kampfe glorreich hervorgehen und der Menschheit den hat: großen Dienst erweisen, dass mein, unser aller ‘Des deutschen Kaisers Kammerknechte ‘Deutschland über alles’ zur Wahrheit wird.“ sind jetzt Europas Kammerherrn. (Hoffmann von Fallersleben, An meine Freunde, S. 323) Am Himmel aller Erdenmächte, Bei solchen Hasstiraden gegen die Idee der Völkerver- o Israel, wie glänzt dein Stern’ “ ständigung Hoffmann von Fallersleben als Vorbild her- (Ernst Hauck, Das Deutschlandlied, 1941, S. 45) auszustellen, ja ihn als Ideal für heute darzustellen, das In der Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer geht wirklich nicht, wenn die Kategorie Demokratie Deutschlands „Geschichte in Wissenschaft und Unter- ernst genommen werden soll. richt“ erschien 1962 in Heft 10 ein Artikel von Fritz Das gilt es festzuhalten – nicht einfach vom heutigen Sandmann „Das Deutschlandlied und der Nationalis- Standpunkt aus, sondern sogar vom Standpunkt eines mus“. In lässig lockerem Ton, gar mit dieser oder jenen „kritischen“ Bemerkung gegen extremen Nationalismus,

14 wird hier für das Deutschlandlied als „Ausdruck echter Solchermaßen eingestellt, behauptet Sandmann natür- Vaterlandsliebe“ plädiert. lich, die Nazis hätten einen ganz falschen Hoffmann von Und – daher wird dieser Aufsatz überhaupt hier erwähnt Fallersleben konstruiert: – es wird in sehr bezeichnender Weise die existierende „ein angeblich antisemitischer und antichristlicher Dichter.“ antijüdische Gesinnung bei Hoffmann von Fallersleben (Sandmann, ebd, S. 653) bagatellisiert. Hier sieht man, wie jemand, der es besser weiß, bewusst Sandmann analysiert die Gedichte, stellt fest, dass der Spuren verwischt. Hat Sandmann eben noch festgestellt, Dichter Sklaverei verflucht und verspottet und fährt dass „die Juden“ durchgehechelt“ wurden – was durch- fort: aus stimmt – stellt er sich nun hin und behauptet, das „Damit verbindet sich gesellschaftliche Satire (...) Pfaf- wäre eine Erfindung der Nazis gewesen, der Hoffmann fen, Juden, stehende Heere und Steuern werden durch- von Fallersleben wäre gar nicht antisemitisch. gehechelt.“ Damit diese Verdrehung der Tatsachen für den deut- (Sandmann, ebenda., S. 643) schen BRD-Nationalisten auch glaubhaft klingt, wird die So steht es da, ohne weiteren Kommentar. So war halt 2000 Jahre alte Methode verwendet, eine wahre Aussage angeblich das Leben und die „tiefe Wurzel“ laut Sand- und eine Lüge in einen Satz zu packen, um der Lüge den mann für dieses Durchhecheln ist eben die „Liebe zum Schein von Wahrheit zu verschaffen. deutschen Vaterland“ und da geht’s halt auch gegen die In der Tat war Hoffmann von Fallersleben kein „anti- „Juden“. christlicher Dichter“, jede kriegerische Aktion wurde mit „Gott“ begrüßt und begründet. Aber er war in der Tat und nicht angeblich „antisemitisch“, das ist keine Erfin- dung der Nazis gewesen, das ist nachweisbar. Denn die Nazis haben selbstverständlich die Gelegenheit genutzt, die antisemitischen Passagen bei Hoffmann von Fallers- leben in den Vordergrund zu stellen. Auch ein anderer Lobhudler des Hoffmann von Fallers- leben, Hans Tümmler, in seiner Schrift „Deutschland, Deutschland über alles“ bestreitet, dass Herr Hoffmann durchaus antisemitisch war. Tümmler spricht einfach von „angeblich antisemitisch“ (S. 14), so als ob in die- sem Punkt die NS-Propaganda einfach Fallersleben falsch zitiert hätten. Das hatten die NS-Ideologen gar nicht nötig. Dabei geht es um mehr als um gehässige Ausfälle gegen Heinrich Heine, der große „Konkurrent“ des kleinen Dichters Hoffmann. Und um mehr als um das von dem NS-Schreiber Hauck zitierte Gedicht. Angesichts der hartnäckigen Vertuschung des Antisemi- tismus – einer Vertuschung, die bei gelehrten Professo- ren wie Sandmann nicht einfach mit Unwissenheit ent- schuldigt werden kann, hier wird bewusst die Wahrheit gefälscht, – ist es unumgänglich, wenigstens einige der bösesten antisemitischen Spottgedichte anzuführen, um zu beweisen, dass Herr Hoffmann von Fallersleben schon damals gewiss keinen Vorbildcharakter hatte – ganz zu schweigen davon, wie es möglich ist, dass heute nach Auschwitz, Treblinka und Majdanek ein solcher antisemitischer Hetzer fast einhellig in der bundesdeut- schen Öffentlichkeit verehrt wird. Nehmen wir zunächst die Ausfälle gegen Heine. Fallers- leben polemisierte gegen Heine, der konvertiert war, in gehässiger Weise in eindeutigen Anspielungen nach dem Motto „Jud bleibt Jud“: „Herrlich schöne Dichtergabe lieh Jehova dir zu Pfande und du hast mit ihr gewuchert freventlich zu deiner Schande. Ja du schwärmtest für das hohe, für das Schöne nur zum Scheine, Deutsche Nationalzeitung Nr. 38/1991, S. 2

15 koscher war für deine Seele „Ich kenn’ ein Volk im deutschen Land, doch zuletzt nur das Gemeine.“ Das macht von sich ein groß Geschrei (...) (Zitiert nach Helmut Maier, „Von der Maas bis an die Memel?“, Ich kenn’ ein Volk, das sich allein Winterlingen, o.J., S. 10) Vom lieben Gott begnadet hält,...“ Diese Anspielungen „koscher“, „Jehova“ waren eindeu- Und in diesem Stil sechs Strophen, eine gehässiger und tig genug, der Hinweis auf „Wucher“ musste auch dem gemeiner als die andere. (Werke Band IV, S. 230 f), eine letzten klarmachen, dass Fallersleben sich hier der anti- Fundgrube für die heutigen antisemitisch operierenden jüdischen Stereotypen bedient, die allerorts in immer Neonazis. größerem Umfang gehandelt wurden. Nicht allein vom heutigen Standpunkt aus, also nach den Aber bei – gutwillig ausgelegt – bösen Ausfällen gegen Erfahrungen mit den NS-Verbrechen gegen die jüdische einen Kollegen bleibt es nicht. Bevölkerung, ist dieser Antisemitismus unerträglich. Nein, auch schon zur damaligen Zeit, als Hoffmann von In obskuren Gedichten wie „Der ewige Jude spricht“ Fallersleben das Deutschlandlied schrieb, war für viele (Werke Band VI, S. 155 f) kommt seine antijüdische Zeitgenossen dieser Antisemitismus klar zu erkennen. Gesinnung zum Ausdruck. Im Gedicht „Israel“ („ewig Und der Antisemitismus wurde auch angeprangert, und soll dein Beten dauern / und um Israel dein Trauern / zwar nicht nur von Leuten wie Heine und Börne. denn es hebt nie wieder an“;. Werke Band IV, S. 47) wird deutlich, dass Hoffmann von Fallersleben in seiner Es kam in Deutschland 1819, 1830, 1834 , ja bis zum antijüdischen Grundeinstellung auch an den christlichen März 1848 im Odenwald zu antisemitischen Ausfällen, Antijudaismus anknüpfte. den sogenannten Hepp-Hepp-Unruhen. (Der Hetzruf war „Hepp, Hepp... Jud verreck“) Die wirklich fort- Im Gedicht „Das neue Jerusalem!“ verspottet er die schrittlichen „48er“ nahmen energisch gegen dies Ju- gläubigen Juden. (7. Januar 1841, Werke Band IV, denhetze Stellung. Dies zeigte sich auch in der Erklärung S. 170 f) Wenn Hoffmann von Fallersleben gegen einiger in diesem Punkt fortschrittlicher Abgeordneter Heuchler und Pfaffen vom Leder zieht, so endet sein der zweiten Badischen Kammer. Gedicht mit dem antijudaistischen Vorwurf, diese Leute seien wie die Juden, die Jesus’ Kreuzigung gefordert Dort heißt es: hätten: „Mit tiefem Schmerz (...) vernehmen wir, dass das leuch- „Ihr riefet wie die Juden weiland tende Panier der Freiheit besudelt werden will durch Und lauter nur: ha, kreuzigt ihn!“ schmähliche Exzesse (...). durch die blinde Zerstörungs- wut und Gefährdung der Personen und des Eigentums (20 Mai 1840, Werke Band IV, S 206) . . unsere Mitbürger mosaischen Glaubens... In seinem Gedicht „Emancipation“ vom 27. April 1840 Nur Diener der Reaktion oder von ihnen irregeleitete ver- kommen seine gängigen antisemitischen Klischees deut- mögen zu Judenverfolgungen die Hand zu bieten, wie lich zum Ausdruck: sie nie ein freies Land, wohl aber der Despotismus könn- te.“ „Du raubtest unter unsern Füßen Uns unser deutsches Vaterland: (Karl Mathy, Nachlass, Leipzig 1898, S. 1240. Zitiert nach Eleno- re Sterling, Judenhass, Frankfurt/M. 1969, S. 165 f) Ist das dein Leiden? das dein Büßen? Das deines offnen Grabes Rand? * * * O Israel, von Gott gekehret, Hast du dich selbst zum Gott gemacht, Hoffman von Fallersleben schrieb das Lied: „Deutsch- Und bist, durch diesen Gott belehret, land, Deutschland über alles“ 1841, sieben Jahre vor der Auf Wucher, Lug und Trug bedacht. „Revolution und Konterrevolution“ von 1848. Doch die Willst du von diesem Gott nicht lassen, Behauptungen, dieses Lied wäre sozusagen ein Kind der Nie öffne Deutschland dir sein Ohr! Willst du nicht deine Knechtschaft hassen revolutionär-demokratischen Bewegung, stimmt in dop- Nie ziehst du durch der Freiheit Thor.“ pelter Hinsicht nicht. (Werke Band IV, S. 207, 208) Das Betrifft erstens den Autor, der wie wir schon gese- Hier geht er schon einen Schritt weiter, der „Wucher, hen haben, keineswegs ein konsequenter aufrechter Lug und Trug“ werden als Eigenschaften der Juden Demokrat und Humanist seiner Zeit war! benannt. Der „Raub des deutschen Vaterlandes“ als Dies kann auch biographisch auf sein Engagement nach These leitet über zum nächsten Thema: Die Juden als 1870 für Bismarck-Deutschland und seine reservierte Herren der Welt. Diese antijudaistische Stereotype findet Haltung gegenüber dem Parlament in der Paulskirche sich auch im Gedicht „Von Gottes Gnaden, 27. Juni gezeigt werden. Birgit Lermen schrieb auf diese Frage 1841, einem weiteren Spottgedicht auf die Juden, in dem eingehend korrekt über Hoffman von Fallersleben: es in den ersten zwei Zeilen heißt: „Er beobachtete selbst die Achtundvierziger Revolution „Sie haben sich von Gottes Gnaden aus der Distanz und schlug die Wahl in das Parlament zu Herren dieser Welt gemacht“ der Paulskirche aus, weil er sich immer noch eine Ver- söhnung mit Preußen und eine Rückkehr auf seinen (Werke Band IV, S. 208) Lehrstuhl erhoffte ... . Hoffmann begrüßt diese Einigung Ein antijüdisches Spottgedicht schrieb er am 7. April in Zeilen wie 1842 (nach der Melodie „Im Kreise froher kluger Ze- Und endlich ward beschieden cher“) mit dem Titel „Das Lied von Sandomir“: mir diese große Zeit,

16 ein einig Reich voll Frieden, ßische Militär und die Fabrikbesitzer. voll Glück und Herrlichkeit“ Nein, die Behauptung das „Deutschlandlied“ wäre ein (Birgit Lermen, Unverdrossen für Europa, Baden-Baden 1988, S. 17. Das Gedicht ist enthalten in: Hoffmann von Fallersleben, Kind der revolutionär-demokratischen Bewegung ist Gedichte und Lieder, Hamburg 1974, S. 46) falsch. Dies lässt sich auch deutlich zeigen, wenn in den Bekanntlich war von „Glück und Herrlichkeit“ für die folgenden Jahrzehnten die Wirkung dieses Liedes analy- Arbeiterbewegung und die demokratische Bewegung siert wird! unter Bismarck nicht zu sehen: Durch die Sozialistenge- setze gab es ein „einig Reich voll Frieden“ für das preu-

4. Die Wirkung des Deutschlandliedes

Obwohl Hoffman von Fallersleben ein populärer Dich- dann soweit. Zum erstenmal wurde „Deutschland, ter war, obwohl er seines Amtes in Breslau enthoben Deutschland über alles“ bei einem staatlichen Akt offi- wurde (somit als Opfer des damaligen „Berufsverbotes“ ziell angestimmt und zwar am 9. August 1890 aus Anlas noch populärer wurde), obwohl er die bekannte Melodie des Anschlusses Helgolands an Deutschland (Helgoland Haydns, das „Kaiserquartett“ (der ursprüngliche Text war in kolonialistischer Manier gegen Sansibar mit Eng- dazu lautete: „Gott erhalte Franz, den Kaiser“; gemeint land „getauscht“ worden). war Kaiser Franz, der letzte Kaiser des Heiligen Römi- schen Reiches Deutscher Nation) benutzte, obwohl er den bekannten Slogan „Deutschland über alles“ als erste Zeile verwendete – obwohl dies alles der Fall war, übte das Lied auf die demokratische Bewegung so gut wie keinen Einfluss aus.

Zunächst: Maculatur!

Das Deutschlandlied war in keiner Weise ein echtes, populäres Volkslied und konnte sich Jahrzehnte nicht durchsetzen. So spielte es in der Revolution von 1848 gar keine Rolle, wurde von der revolutionär- demokratischen Bewegung dieser Zeit sogar mit Verach- tung gestraft. Dies ist keine bösartige Unterstellung. Hier sei als glaubwürdiger Zeitzeuge Herr Hoffmann von Fallerleben selbst zitiert. Noch 1871 bemerkte er traurig: „ ‚Deutschland, Deutschland über alles!’ O wie sang ich es so oft (...). Doch mein Deutschland über alles, kam und ward Maculatur.“ (Gesammelte Werke, Band VI, S. 271) Ja, es war Maculatur. Auch nach der von der Obrigkeit Nachdem das „Lied der Deutschen“ sowieso nicht das mit Blut und Eisen durchgesetzten Reichsvereinigung Fanal einer demokratischen Bewegung zur Einigung (ohne Österreich) durch preußische Vorherrschaft, kon- Deutschlands von unten geworden war, vereinnahmt es zentriert in der Person Bismarcks – in einer Zeit also, als endgültig reaktionäre, deutsch-nationalen und militaristi- Schwarz-Rot-Gold überholt war, die demokratische schen Kreise. Bewegung darniederlag und Sozialistengesetze beschlos- Der erste Weltkrieg und die Langemark-Legende sen wurden, und auch als die schwarz-weiß-rote Fahne zur Nationalflagge wurde – waren die Versuche von In der Zeit des Ersten Weltkrieges setzte sich das Hoffmann von Fallersleben, sein Lied durchzusetzen, Deutschlandlied auf den Schlachtfeldern zum Kriegsge- zunächst vergeblich. sang durch, so hieß es. Die Oberste Heeresleitung teilte Außer als Kriegsgesang im Krieg mit Frankreich (1870) am 10.11.1914 mit: als ein Lied unter vielen anderen, wurde das „Lied der „Westlich Langemarck in Flandern brachen junge Re- Deutschen“ keinesfalls in der Bevölkerung als das Lied gimenter unter dem Gesang „Deutschland, Deutschland über alles“ gegen die erste Linie der feindlichen Stellun- bekannt. gen vor und nahmen sie.“ Erst nach dem Tod des Dichters wurde es vor allem in den Reihen der kritiklosen Bismarck-Verehrer und der (Zitiert u.a. bei U. Ragozat, Die Nationalhymnen der Welt, S. 60) Antisemiten nach und nach populärer. 1885 wurde es Offensichtlich eine Propagandalüge, die Hitler in „Mein zum Geburtstag von Altkanzler Bismarck von einem Kampf“ als „Bluttaufe des Deutschlandliedes“ aufgriff. Kriegerverein angestimmt. Die Deutsche Reformpartei Von einer Reihe von Teilnehmern dieses Angriffs wurde mit klar antisemitischer Ausrichtung bemächtigte sich dies alles als Legende entlarvt (Klaus Dede hat in seinem dieses Liedes als „Bekenntnislied“. Erst 1890 war es

17 Buch: Die missbrauchte Hymne auf 20 Seiten eine Fülle Wie in glücklichen Tagen so auch heute und für immer in von Literatur zu diesem Thema ausgewertet und kommt schwerer Not und bedrängter Stunde rufen wir hinaus: zu dem Schluss: „Niemand hat bei dem Sturm auf Lan- Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der gemarck das Deutschlandlied gesungen“). Welt! (Anhaltendes stürmisches Bravo und Händeklat- schen)“ So oder so, sei es in Langemarck oder am anderen Ort (Stenographischer Bericht von der 39. Sitzung der Deutschen gewesen, gesungen wurde das Deutschlandlied im ersten Nationalversammlung am 12. Mai 1919, Berlin 1920, S. 1111) Weltkrieg ganz bestimmt im chauvinistischen Taumel, 1922 erklärte sich der Reichspräsident der Weimarer als Art Droge, als Mittel der Volksverhetzung. Von „Ly- Republik F. Ebert (SPD) in Koalition mit den gegenre- rik“ gewiss keine Spur. volutionären nationalistischen Kräften bereit, das Christoph Stölzl, Direktor des schon in der Konzeption Deutschlandlied als Nationalhymne zu verkünden und umstrittenen Deutschen Historischen Museums, erklärte festzulegen. Das Heeresverordnungsblatt Nr. 47 vom zu diesem Zeitabschnitt in seiner Rede vor Bundeskanz- 23. 9. 1922, unterzeichnet von Reichspräsident Friedrich ler Helmut Kohl und anderen Gästen, nachdem ihm das Ebert (SPD) und Reichswehrminister Dr. Geßler, legt Original des Deutschlandliedes übergeben worden war: im Detail fest, wie dieses am 11. August 1922 als Natio- „Da ist dann die verzweifelt-patriotische Hochstimmung nalhymne beschlossene Deutschlandlied abzuspielen sei, des Ersten Weltkrieges, wo das Lied zum erstenmal nämlich in Es-Dur und bei „80 Schritt in der Minute“. ganz weit verbreitet wird, wo seine erste Strophe dem Kriegstod einer ganzen Generation scheinbaren Sinn Dass innerhalb der eigenen Partei, der SPD, die Ent- verleihen soll.“ scheidung von Reichspräsident Ebert keineswegs nur (Siehe die Rede von C. Stölzl in: Das Parlament, Nr. 46/47, 14.– auf Zustimmung stieß, erwähnte Ebert in seiner Rede 21. November 1987) auf der Kundgebung vom 11. 8. 1922, auf der er öffent- Das zweibändige Bertelsmann-Lexikon stellte S. 881 lich das „Lied der Deutschen“ zur Nationalhymne pro- realistisch zum Deutschlandlied fest, es „setzte sich all- klamiert hatte. mählich nach 1870, besonders dann 1914/1918 durch“. Dort sagte er, an die eigene Partei gerichtet: So marschierten denn auch nach den ersten Stürmen der „Leider (...) fehlt es, wie auch sämtliche anderen Vater- Revolution im November 1918 die gegenrevolutionären landslieder, im sozialistischen ‘Jugendliederbuch’“ und nationalistischen Freikorps unter den Klängen des (Zitiert nach U. Ragozat, ebenda, S. 61. ) Deutschlandliedes. Im März 1920 „rückte unter dem Trotz der Klagen von Ebert findet sich das Deutsch- Gesang von „Deutschland, Deutschland über alles“, die landlied selbst 1929 noch nicht im „Sozialistischen Ju- Brigade Ehrhardt mit flatternder Marinefahne durch das gendliederbuch“, (Arbeiterjugend Verlag, hrsg. von A. Brandenburger Tor in Berlin ein“ (E. Volkmann, Revo- Albrecht) lution über Deutschland, 1930, S. 301). Die tiefe Enttäuschung und Abneigung gegen dies Art Das Deutschlandlied in der Weimarer Republik von nationalistischem Abgleiten der Parteiführung der Sozialdemokratie spiegelte sich bei Intellektuellen wie Der erste Weltkrieg ging für Deutschland verloren. Der Kurt Tucholsky wider, der gegen diese Ebert- deutsche Nationalismus aber wurde nicht besiegt, er Reichswehr-Nationalhymne einen besondern, 230 Seiten erhielt Auftrieb. Am 12. Mai 1919 gab die Nationalver- starken Bild-Text-Band mit dem satirisch gemeinten sammlung ihrem Protest gegen die Friedensbedingen Titel „Deutschland, Deutschland über alles“ verfasste. von Versailles Ausdruck, in dem sie „Deutschland, Mit Vorliebe wird von deutsch-nationaler Seite darauf Deutschland über alles“ anstimmte. In der 39. Sitzung verwiesen, dass ja „selbst die SPD und Ebert“ für das am selben Tag bei der Verhandlung der verfassungsge- Deutschlandlied gewesen wären! Das ist eine Antwort benden Deutschen Nationalversammlung schloss der wert. Präsident dieser Nationalversammlung Fehrenbach, mit der Nationalhymne die Sitzung und erklärte das „über Denn das Deutschlandlied war vor dem Ersten Welt- alles“ mit jener „Gemütlichkeit“, hinter der rasch die krieg von der Sozialdemokratie entschieden abgelehnt Aggression hervorblitzte. worden. Noch 1912 hatte die internationale Sozialde- mokratie gegen den herannahenden Ersten Weltkrieg „Aber auch in Zukunft werden deutsche Frauen Kinder einmütig das Basler Manifest der Sozialistischen Interna- gebären, und die Kinder, die in harter Fron aufwachsen, werden imstande sein, nicht nur die Hand zur Faust zu tionale verkündet, unter keinen Umständen die Kriegs- ballen, sie werden mit dem Willen erzogen werden, die politik der jeweiligen eigenen Regierung mitzutragen Sklavenketten zu brechen und die Schmach abzuwa- oder zu unterstützen. schen, die unserem deutschen Antlitz zugefügt werden will. (Anhaltender stürmischer Beifall und Händeklatschen.) Der Ersten Weltkrieg mit dem Slogan des Kaisers: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenn nur noch Deut- Meine Damen und Herren, wie in glücklichen Tagen, so jetzt in dieser ersten Stunde bekennen wir uns zu unse- sche“ (am 31.7.1914 auf dem Balkon des Berliner rem vaterländischen Hymnus. Er ist missdeutet worden. Schlosses, wiederholt in seiner Thronrede am 4.8.1914 Man hat gesagt, es sei ein Überhebung gegenüber den im Reichstag) hat bei dem allergrößten Teil der Parla- andern Völkern. Nein, das ist es nicht. Er ist nur der Aus- mentarier der SPD gewirkt. Gemäß der Devise „Recht druck unseren innigen, gemütstiefen Liebe zu unserer oder Unrecht – mein Vaterland“ wurden Kriegskredite Heimat... bewilligt. Nur Karl Liebknecht, damals noch SPD,

18 stimmte bei der zweiten Abstimmung über Kriegskredite als einziger Abgeordnete dagegen. Friedrich Ebert stellte zusammen mit der Reichswehr nach dem Krieg nicht nur „Ruhe und Ordnung“ wieder her (eine Prozedur, die Karl Liebknecht und Rosa Lu- xemburg nicht überlebten). In diesem Zusammenhang proklamierte er zusammen mit der Reichswehr das Deutschlandlied als National- hymne – auch als Zugeständnis, als eine Art Bonbon, an die rechten Kräfte. Das Deutschlandlied wurde in der Weimarer Republik weder im Parlament behandelt noch in der Verfassung noch in einem Gesetz festgeschrieben. Das gehört zur merkwürdigen Geschichte des Deutsch- landliedes. Dass also ausgerechnet ein SPD-Mann wie F. Ebert für das Deutschlandlied eintrat, spricht – offen gesagt – nicht für das Deutschlandlied, sondern gegen den SPD- Mann Ebert. Der Zeitgenosse von Hoffmann von Fallersleben, Franz Grillparzer, schrieb: „Von Humanität durch Nationa- lität zur Bestialität“ Damit charakterisierte er vorahnend schon die Gefahren einer Entwicklung von der französischen Aufklärung bis hin zum reaktionären deutschen Nationalismus, der in der Nazi-Barbarei seine Explosion fand.

Die weiteste Verbreitung fand das Deutschlandlied in der NS-Zeit

Die umfangreichste Forschungsarbeit über das Deutsch- landlied hat ein H. Gerstenberg geleistet, der schon 1916 ein Buch dazu veröffentlichte, dann seine größere Arbeit 1933 für das NS-Regime veröffentlichte. Dieses prona- zistische Buch ist sozusagen der „Klassiker“ unter all den vielen Abhandlungen, die es über das Deutschland- lied gibt. Ungeniert wurde dieses Buch zunächst 1989 in einem an die Presse verteilten Manuskript als „Handreichungen des Hessischen Kultusministers zum Deutschlandlied“ unter den Literaturempfehlung angegeben. Erst auf Protest, auf Druck also, wurde dann in der gedruckten Broschüre auf diesen „Literaturhinweis“ verzichtet. Richtiger wäre sicher gewesen, klar Stellung zu beziehen und dieses Nazi-Buch auch als Nazi-Buch zu bezeich- nen. Dieser H. Gerstenberg schreibt in seinem 1933 erschie- nenen Buch folgendes : „Und jetzt, seit dem Anbeginn des Jahres 1933, hat die nationale Bewegung mit naturhafter Kraft, wie in den Au- gusttagen des Jahres 1914, eingesetzt, um die deutsche Gesamtlage nach achtzehn Jahren schwerster äußerer und innerer Kämpfe zu entwirren und die Volkswerdung im dritten Reich durchzusetzen. Diese jüngste Revoluti- on, die sich mit Recht „national“ nennt, hat sturmflutartig alle Widerstände überrannt und zermalmt. (...)

19 Begeisterter als jemals seit den ersten Monaten des Kapitel der deutschen Sozialdemokratie ausdrücklich als Weltkrieges braust heute Hoffmanns „Lied der Deut- nicht zu kritisieren bezeichnet, gleichzeitig aber offen- schen“ als nationales Bekenntnislied himmelwärts. (...) sichtlich das Ziel verfolgte, die Sozialdemokratie „zu Als am 17. Mai vor dem Reichstag und der blamieren“, zeigt deutlich, wie nicht mit Argumenten, Welt das deutsche Friedensbekenntnis staatsmännisch sondern mit Demagogie gearbeitet wird. weise und kraftvoll ablegt, da stimmt der Reichstag ein- Zurück zum Deutschlandlied in der NS-Zeit. mütig das Deutschlandlied an.“ (Gerstenberg, 1933, S. 97 f) Ob nach der Niederschlagung des Röhm-Putschs im Juli 1934, oder nach dem Überfall auf Polen am 1. Septem- In der Tat, Göring und seine Nazis stimmten das ber 1939 – der Reichstag bestätigte sich als NS- Deutschlandlied an und auch die anderen Abgeordneten Gesangsverein mit dem Deutschlandlied auf den Lippen. sangen mit. Bei dieser Reichstagssitzung waren die meis- ten Sozialdemokraten noch anwesend (die Kommunis- Hier und da hieß es ,um die dritte Strophe aufzuwerten, ten, aber auch einige Sozialdemokraten waren schon in die „Nazis wären ja nur für die erste Strophe“ gewesen. den Gestapo-Kellern, sofern sie verhaftet werden konn- „Während der NS-Zeit wurde das Singen der dritten Stro- ten) und einige – das ist wahr und keine böse Verleum- phe von Hitler verboten.“ dung – sangen es wirklich gemeinsam mit den NSDAP- (Begleittext des Schulliederbuches: Hamburger Musikant, 1952, Abgeordneten, den Deutsch-Nationalen und dem Zent- zitiert nach: . Hrsg. : Franz Pöggeler, Politik im Schulbuch, Bun- rum „einmütig“ mit! deszentrale für politische Bildung, Band 231, S. 221) Als der besonders reaktionäre Ministerpräsident Hes- Tatsache ist jedoch, dass etwa im „Liederbuch der sens, Herr Wallmann, im Hessischen Landtag dafür NSDAP“ 1934, S. 81 und 82 alle drei Strophen des eintrat, dass an Hessens Schulen auch die 1. Strophe des Deutschlandliedes abgedruckt sind, ebenso in einer Rei- Deutschlandliedes als Teil der Nationalhymne gelernt he von anderen NS-Liederbüchern, die nach 1933 er- wird, führte er ausgerechnet diese Tatsache als Argu- schienen sind. ment dafür an, dass auch die SPD-Abgeordneten heute Nein, die Nazis hatten wirklich keine Angst vor dem das Deutschlandlied ruhig singen könnten. ganzen Text des Deutschlandlied. Walter Wallmann sagte: Auch die dritte Strophe wurde „gegen Versailles“ als „Unter denjenigen, die damals – am 17. Mai 1933; ich kri- Recht und Freiheit – nicht für den Einzelnen, nein – tisiere es nicht – aufgestanden sind und die deutsche „für das deutsche Vaterland“ betont. Auch die kam Nationalhymne gesungen haben, befanden sich die Mit- ihnen gerade Recht, galt es doch unter der Losung der glieder des SPD-Reichtagsfraktion“ Einigkeit als ersten Schritt Österreich „Heim ins Reich (Protokoll, Hessischer Landtag, 12. Wahlperiode, 89. Sitzung, zu holen“! 12. Oktober 1989, S. 5000) Die „Würde“ und das langsame Tempo des Deutsch- Im darauf folgenden Tumult ertönte dann nach diesem landliedes wurde von dem NS-Regime ausdrücklich mit Protokoll Bericht der ironische Zwischenruf : Gesetzen und Verordnungen festgelegt. „Weil Göring das Deutschlandlied angestimmt hat, hat es an Bedeutung nicht verloren! Das ist sehr gut!“ Bereits am 19. Mai 1933 wurde das Gesetz „zum Schutz der nationalen Symbole“ erlassen: (Ebenda , S. 5001) „Es ist verboten, die Symbole der deutschen Geschichte, Es kam zum Eklat über dieses nur demagogisch zu nen- des deutschen Staates und der nationalen Erhebung in nende Manöver von Herrn Wallmann – es bleibt die Deutschland öffentlich in einer Weise zu verwenden, die Tatsache, dass am 17. Mai 1933 die anwesenden Reich- geeignet ist, das Empfinden von der Würde dieser Sym- tagsabgeordneten der SPD Hitlers Regierungserklärung bole zu verletzen.“ zur Außenpolitik zustimmten und dass einige „Deutsch- (Reichsgesetzblatt Nr. 52/1933 vom 20. Mai 1934) land, Deutschland über alles“ sangen. Was waren aus der Das Reichsministerium des Inneren erließ dazu laut Sicht der damaligen SPD-Abgeordneten die Gründe „Reichsministerialblatt vom 16. Februar 1934 Richtlinien dafür. wie folgt: Wie aus einem Bericht (der dem Autor vorliegt) von Es ist Josef Felder, Mitglied des Reichstages bis 22. Juni 1933 „Für unzulässig zu erklären, wenn die künstlerische Ges- (SPD) hervorgeht, glaubten die SPD-Abgeordneten taltung oder die Vorführung minderwertig ist, oder wenn einer sofortigen Verhaftung durch Zustimmung für die die Vorführung unter Umständen erfolgt, die der Würde Erklärung der Hitler-Regierung zur Außenpolitik zu des Symbols nicht entsprechen, z. B. das Spielen der entgehen. Die SPD Abgeordnete Pfülf, die eine Zu- Nationalhymne in Potpouris oder traditioneller Armee- stimmung ablehnte, reiste vorher ab und unternahm märsche zum Tanz.“ einen Freitodversuch. Laut den Angaben von Josef Fel- (Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. der war es übrigens auch nicht ganz so, wie in den Nazi- Goebbels, 12. Februar 1933) Protokoll von Wallmann zitiert wurde. Felder schreibt in Verbunden mit dem immer größer werdenden Einfluss seinem Bericht: „auch einige der SPD-Abgeordneten der NSDAP auf die Bevölkerung, trat das Deutschland- sangen bedrückt (...) mit“. lied einen wahren Siegszug an. Dass jedenfalls Wallmann dieses gewiss nicht rühmliche Denn ein Hauptelement der NS-Demagogie bestand

20 eben im Nationalismus, in der Erzeugung der Mentalität „Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt von der angeblichen Überlegenheit des „deutschen Men- genesen“, stammt aus E. Geibels Gedicht „Deutsch- schens“, der Größe des Deutschen Reiches, das nun, lands Beruf“ im Band „Heroldsrufe“ 1871 und wurde endlich erwacht, alle anderen Länder übertreffen wird. von Kaiser Wilhelm II. immer wieder benutzt. So wurden auch alte nationalkonservative Kräfte mit „Deutschland erwache“ gar wird auf Eberhard Wassen- dem Slogan „Das alte und das neue Deutschland geben berger 1647 zurückgeführt (in seiner Schrift „Ermah- sich die Hand“ (und dem Bild des Handschlags zwi- nung an die Deutschen“) usw. schen Hindenburg und Hitler) mit Hilfe des Nationalis- Fest steht: Der Siegeszug des Deutschlandliedes durch mus an die zum Teil zunächst als „pöbelhaft“ einge- Deutschland erfolgte nicht in der Weimarer Republik, schätzte NSDAP gebunden. sondern in der Nazi-Zeit. Auch der Rundfunk , die Das Deutschlandlied, die Sammlung und Propagierung „Volksempfänger“ spielte hier eine große Rolle. aller reaktionären Sprüche aus der Geschichte des deut- Die Urheberrechte für die Idee, penetrant jeden Abend schen Nationalismus spielte bei der Festlegung der Lo- und jeden Abend das Deutschlandlied zum Sendeschluss sungen in der Propaganda eine erhebliche Rolle. zu spielen, stammt vom Reichspropagandaminister Eigentlich nichts haben die NS-Propagandisten selber Goebbels, der das den Rundfunkanstalten 1933 verord- erfunden, eigentlich alles aus der großen Schatzkammer nete, wie H. Gerstenberg in seinem Buch „Deutschland, der deutsch-nationalen Reaktion übernommen: Deutschland über alles!“ (1933, S. 98) voll Freude ver- Der Slogan „Deutschland, Deutschland über alles“ merkte. stammte zuerst von Walter von der Vogelweide, wurde Mit dem Ende des Nazi-Regimes 1945 endet aber nicht dann übernommen von Collins („Österreich über al- die Geschichte des Deutschlandliedes. Dass wir heute les“), Arndt, H. von Fallersleben usw. noch, nun auch im Fernsehen, bei ARD und ZDF am „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los ... “ stammt Schluss jedes Fernsehtages jedes Mal täglich die Natio- von Theodor Körner (aus dem Gedicht „Männer und nalhymne serviert bekommen, ist nur der alltägliche Buben“ 1813) Ausdruck davon, dass sich zunächst in der Bundesrepu- blik das Deutschlandlied trotz aller Auseinandersetzun- „Sieg Heil“ war an Turnvater Jahn angelehnt. gen als Nationalhymne durchgesetzt hat, genauer, „Die Juden sind unser Unglück“ stammte von dem zu durchgesetzt wurde. seiner Zeit angesehen Historiker Treitschke.

5. Die Wiedereinführung des Deutschlandliedes in das öffentliche Leben der Bundesrepublik

Direkt nach dem 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation Nr. 1, 29. Oktober 1945). Vorausgegangen war das Ver- der deutschen Wehrmacht, wären wohl nur überzeugte bot des Deutschlandliedes durch das Gesetz Nr. 154, 1h, Nazis auf die Idee gekommen, das Lied „Deutschland, der amerikanischen Militärregierung am 14.7.1945. Deutschland, über alles“ zu singen. Es heißt dort : Die Öffentlichkeit in Deutschland erfuhr nicht nur von „Das Singen oder Spielen irgendwelcher militärischer den Vernichtungslagern in Polen, sondern wurde auch oder nationalsozialistischer Lieder oder Musik oder deut- scher oder nationalsozialistischer Nationalhymne durch von den Alliierten mit den Leichenbergen von Bergen- Organisationen, Personengruppen oder Einzelpersonen Belsen, Dachau und Ravensbrück konfrontiert. In Ber- in der Öffentlichkeit oder in Anwesenheit oder innerhalb gen-Belsen und anderen Orten wurde die deutsche Be- einer Personengruppe oder Versammlung wird hiermit völkerung durch die Konzentrationslager geführt, die verboten und für gesetzwidrig erklärt.“ Filme über diese Konfrontation gingen durch die Wo- Die britische Militärregierung schloss sich am 18. August chenschauen der damaligen Zeit. 1945 an. So wie nach dem 9. November 1938 kein einziger Deut- Es war klar, dass das Deutschlandlied bis zur Gründung scher sagen konnte, er habe von Pogromen gegen die der BRD verboten war (am 16. Dezember 1949 hob der jüdische Bevölkerung „nichts gewusst“, so konnte nun, Alliierte Kontrollrat Ziffer 1h) des Gesetzes 154 der nach dem 8. Mai 1945 niemand mehr so tun, als wären amerikanischen Militärregierung auch formal auf). die NS-Verbrechen Erfindungen der „Feindpropagan- da“. Nachdem die Bundesrepublik 1949 gegründet und der gewählt war, begann die Auseinandersetzung „Deutschland über alles“, wozu hatte die dahinterste- um die Wiedereinführung des Deutschlandliedes. hende Geisteshaltung geführt ! Die Staaten der Anti-Hitler-Koalition bildeten den Alli- Der erste Anlauf 1949 scheiterte ierten Kontrollrat, der mit dem Gesetz Nummer 1 (Auf- hebung von Nazi-Gesetzen) unter 1 d) auch das „Gesetz Am 9. August 1949 bereits setzte sich der CDU-Politiker zum Schutz der nationalen Symbole vom 19. Mai 1933“ Dr. A. Finck (später rheinland-pfälzischer Kultusminis- aufhob (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland ter) in einem Leitartikel der Zeitung „Rheinpfalz“ für

21 das Deutschlandlied als Bundeshymne ein. geblieben (siehe hierzu Franz Pöggeler, Politik im Wenig später schon kam es im ersten Deutschen Bun- Schulbuch, S. 221 bzw. den Text und die Melodie des destag am 29. September 1949 zum Antrag von 12 Bun- Liedes „Hymne an Deutschland“, S. 522). destagsabgeordneten, die weit recht anzusiedeln sind – Heuss ließ es Silvester 1950 über den Rundfunk aussen- unter ihnen Adolf von Thadden, späterer Vorsitzender den. der NPD in der Zeit ihrer Wahlerfolge 1967. Allerdings, der Dichter dieses Gedichtes „Land des Wortführer der Abgeordnetengruppe war der evangeli- Glaubens, deutsches Land“ war auch nicht frei von sche Pfarrer Ott, ehemals Nazi in der Tschechoslowakei Nationalismus. Zumindest in der Zeit des 1. Weltkrieges unter dem NS-Führer Henlein, in SA- und NS- schrieb er Gedichte wie folgendes: Stundenbund aktiv, nun Führer der „Notgemeinschaft „Heilig Vaterland in Gefahren, Freikorps Henlein“ (dies recherchierte U. Enzensberger deine Söhne stehen, dich zu wahren in seinem Artikel „Auferstanden über alles“, erschienen von Gefahr umringt, heilig Vaterland in Transatlantik Nr. 10/1981). schau von Waffen blinkt jede Hand. (...) Eh der Fremde Dir deine Krone raubt Mit diesem Antrag „der Abgeordneten Dr. Ott und Deutschland, fallen wir Haupt bei Haupt.“ Genossen“ (so tatsächlich die Überschrift der Bundes- tagdrucksache Nr. 67) sollte erreicht werden, dass ge- Günther Grass nannte dieses Gedicht das „Ungedicht“, setzlich das Deutschlandlied „in seiner ursprünglichen, das zum „Angsttraum einer jungen Generation wurde“ unveränderten Form als Bundeshymne für die Bundes- (siehe hierzu auch K. Dede, Die missbrauchte Hymne, republik Deutschland“ verankert werden sollte. In der S. 125 f). Begründung des Antrages hieß es: Aber diese Tatsache war ganz gewiss nicht der Grund, „Der Text von Heinrich Hoffmann von Fallersleben ist dass der Vorschlag von Bundespräsident Heuss sehr nicht überheblich (...), sondern entspringt einem natürli- kühl aufgenommen wurde. Die Leute, natürlich nicht chen selbstverständlichen Volksbewusstsein.“ alle, aber offensichtlich doch die große Mehrheit, woll- Dieser Antrag konnte sich nicht durchsetzen. Es passier- ten eben „ihr“ gewohntes Deutschlandlied. Und bei te folgendes: allem Ansehen, dass Heuss in Teilen der Bevölkerung hatte, die Gegner des Nazi-Regimes hatten keinesfalls Ein paar Tage später wurde dieser Antrag vom Deut- vergessen, dass Theodor Heuss am 23. März 1933 als schen Bundestag an den „Ausschuss für Rechtswesen Abgeordneter der deutschen Staatspartei dem sogenann- und Verfassungsrecht“ überwiesen: ten „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und „Ich stelle den interfraktionellen Antrag zur Aussprache. Reich“, dem Ermächtigungsgesetz, zugestimmt hatte. Wird das Wort gewünscht? – Ich stelle fest: Das ist nicht (Siehe die Broschüre, „Theodor Heuss“, Karl-Hermann- der Fall “ . Flach-Stiftung e.V., 1984, S. 16) (zitiert nach: Transatlantik Nr. 10/81) So stand Heuss nicht sehr stabil zwischen den Befür- Am 7.11.1949 wurde bekannt, dass der Rechtsausschuss wortern des Deutschlandliedes, der großen Mehrheit des Bundestages der BRD keinen Entschluss über die und den engagierten Gegnern der NS-Ideologie, die Nationalhymne fassen wollte, um ihn eventuell dem überwiegend auch Gegner des Nationalismus und des Bundespräsident Heuss zu überlassen. Deutschlandliedes waren und eine kleine Minderheit Theodor Heuss schrieb dann am 27. September 1950 bildeten. Und Heuss gab nach... der stärkeren Seite. einen Brief an den Komponisten Carl Orff: „Viele Versuche bedrängen mich, das Hoffmann’sche Adenauer (CDU) und Schumacher (SPD) Deutschlandlied wieder zu wählen, aber ich war von An- setzten das Deutschlandlied durch beginn dazu entschlossen, es nicht zu tun, denn die ers- te Strophe passt nicht mehr in die geschichtliche Land- Adenauer wollte das Deutschlandlied als Nationalhymne schaft, die zweite ist trivial und immer trivial gewesen, die und forcierte die öffentliche Debatte dadurch, dass er dritte allein für sich zu wenig.“ am 18. April 1950 bei einer Kundgebung im westlichen „Die mannigfaltigen Versuche, auf die Haydn’sche Melo- Sektor von Berlin das Deutschlandlied anstimmte und die einen neuen Text zu stülpen, halte ich für aussichts- die Versammlung zum Mitsingen aufforderte. los. Ich glaube, die Deutschen genug zu kennen, um zu wissen, dass dann die ‘loyalen’ Patrioten den sogenann- Der SPD-Vorstand verließ fast vollständig empört den ten amtlichen Text, die ‘militanten’ Patrioten oder die sich Saal – der Oberbürgermeister Ernst Reuter (SPD) aller- dafür halten, den Hoffmann’schen Text singen, und wir dings blieb und sang mit (siehe U. Ragozat, S. 63). Der kommen aus dem ewigen Sängerwettstreit der stärkeren Vorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, schloss sich Stimmen nicht heraus.“ der Front jener an, die die Ideen von Theodor Heuss (zitiert nach: Transatlantik Nr. 10/81) ablehnten und sich für das Deutschlandlied einsetzten. Theodor Heuss schlug ein neues Lied vor: Ein Gedicht So berichtete die Süddeutsche Zeitung vom 8.5.1987. von Rudolf Alexander Schröder, vertont von Hermann Frau Renger, damals Mitarbeiterin von Kurt Schuma- Reutter, mit dem Titel „Hymne an Deutschland“. In cher erwähnte in einer Sendung des Fernsehens am 17. diesem Text war nicht von „deutschen Frauen, deut- Juni 1980, dass Schumacher sich bereits am 27.12.1949 schem Wein“ die Rede, auch nicht von der Maas und gegenüber Heuss für das Deutschlandlied als National- der Memel. Das Gedicht war weitgehend unbekannt hymne stark gemacht habe.

22 Adenauer drängte weiter und schrieb an Heuss, er solle endlich zu einer Entscheidung kommen. In dieser Zeit wurde auch die bis heute existierende „Hoffmann von Fallersleben-Gesellschaft“ aktiv, verteil- te 1951 eine Broschüre für das Deutschlandlied als Gan- zes. In dieser Gesellschaft engagierten sich Menschen wie der NS-Schriftsteller Hans Grimm („Volk ohne Raum“) und der Vizepräsident der NS-Reichsmusik- kammer Furtwängler, die in den Organen dieser Gesell- schaft ungeniert schreiben als wäre nichts gewesen (diese

23 Gesellschaft wurde am 5.2.1936 gegründet, 1945 aufge- formaljuristisch gesehen durchaus nicht falsch – dieses löst und 1948 wieder neu aktiviert). rechtsextremistische Gegröle der erste Strophe nicht Heuss gab schließlich dem immer größer werdenden strafbar sei. (FR, 8.1.88) Druck von verschiedensten Seiten nach. Ernüchtert stellte Heuss fest: Der Streit in der Bundesrepublik: Was eigentlich ist die Nationalhymne? „Wenn ich also der Bitte der Bundesregierung nach- komme, so geschieht das in der Anerkennung des Tat- Ab 1952 gab es ein ständiges Hin und Her in der Öf- bestandes.“ fentlichkeit und dann auch in den Schulen, was denn (Brief von Heuss vom 2.5.52 in: Bulletin des Presse- und Infor- nun eigentlich die Nationalhymne sei. Dass dazu auch mationsamtes der Bundesregierung, 6.5.52, Nr. 51, S. 537 ff) die erste Strophe laut Briefwechsel Adenauer-Heuss Die Bundesregierung veröffentliche diesen Brief von gehört, konnten viele nicht glauben. Rechtere Kräfte Theodor Heuss und die vorangegangen Schreiben von beriefen sich auf den Briefwechsel mit der Formulierung Adenauer mit der Vorbemerkung: „Das Deutschlandlied ist Nationalhymne“ und drängten „Das Deutschlandlied. Durch einen schlichten Briefwech- auf den Gesang der ersten Strophe. Ihr Problem war sel zwischen dem Bundespräsidenten und Bundeskanz- aber der Zusatz, dass bei staatlichen Anlässen eben nur ler Dr. Adenauer ist das Deutschlandlied wieder als Nati- die dritte Strophe gesungen werden soll. onalhymne anerkannt worden.“ (Erklärung der Bundesregierung, a.a.O., S. 539) Die Stuttgarter Nachrichten schrieben bereits am 6.5.52: Gleichzeitig ist in dieser Vorbemerkung auch jene Pas- „Es sei zu erwarten, so meint man in Bonn, dass sich rasch die Gepflogenheiten durchsetzen werden, sämtli- sage über die dritte Strophe enthalten, die heute wieder che Strophen oder die erste und dritte Strophe des Gegenstand der Debatte ist: Deutschlandliedes zu singen.“ „Die deutsche Politik orientiert sich nicht mehr an einem (zitiert nach Seifert: Das ganze Deutschlandlied..., a.a.O., S. 20) Nationalismus, der einer vergangenen und der Epoche angehört zu der Katastrophe des Jahres 1945 mit beige- Bundesminister Seebohm sang als erster prominenter tragen hat. (...) Deshalb soll auch bei staatlichen Veran- Bundespolitiker am 19. August 1951 die erste Strophe staltungen die dritte Strophe des Deutschlandliedes ge- des Deutschlandliedes „Deutschland, Deutschland über sungen werden.“ alles“, und zwar bei der 125 Jahr-Feier des Männerge- (Erklärung der Bundesregierung, a.a.O., S. 539) sangvereins in Fallersleben, einem Vorort von Wolfs- burg (zitiert bei Seifert, S. 14). Ob das stimmt, dass „die deutsche Politik sich nicht mehr an einem Nationalismus“ orientiert, sei dahinge- Das Deutschlandlied wurde per Erlass nach 1952 auch stellt! Als Anspruch jedenfalls wurde diese Absage an sehr rasch in die Schulen getragen, und zwar mit allen den deutschen Nationalismus schriftlich fixiert. drei Strophen in Hessen (Amtsblatt 1953, S. 375 und dann 1955, S. 161). In NRW dauerte es bis zur Veröf- Auch die dritte Strophe hatte jetzt ja durch den Aufruf fentlichung im Amtsblatt vom 23. Juni 1956, S. 91. In zur „Einigkeit“ einen hochaktuellen Hintergrund erhal- Bayern war der erste Erlass dazu vom 2. April 1953, ten. Die Losung der Einigkeit hatte 1952 eine ganz an- Amtsblatt S. 159, in West-Berlin regelt dies der Erlass dere Bedeutung als 1841 . Sie wurde nun von Adenauer vom 2. November 1953, in Rheinland Pfalz der vom 27. verwendet als Aufruf zur Wiedervereinigung der u.a. August 1953, Amtsblatt S. 183. In Schleswig-Holstein infolge des Bruchs des Bündnisses der „Anti-Hitler- bereits ein Erlass am 28. August 1952, Amtsblatt S. 128 Koalition“ entstandenen Spaltung Deutschlands. und schließlich in Baden-Württemberg am 9. Februar So oder so, die durchaus nicht nur taktisch, sondern 1964, Amtsblatt S. 71. auch mit einer Absage an den Nationalismus begründete Wesentlich später, nämlich am 23. 11. 1978 gab es zu Abwertung der ersten Strophe wurde einfach nicht oder diesem Thema einen Beschluss der Kultusministerkon- kaum zur Kenntnis genommen. Die Befürworter der ferenz. Unter dem Titel „Die Deutsche Frage im Unter- ersten Strophe nutzen nun die Halbheit des ganzen Vor- richt“ hieß es dort : ganges aus. Sie stellten – sachlich gesehen nicht zu Un- recht – fest, dass es im ersten Satz der Begründung der „Die Schüler sollen die Melodie des Deutschlandliedes Bundesregierung ja heiße, dass „das Deutschlandlied“ und den Text der dritte Strophe kennen. Die Geschichte wieder als Nationalhymne anerkannt worden sei. Denn der deutschen Nationalhymne soll ihnen in altersgemä- ßer Form erklärt werden.“ die Tatsache, dass bei „staatlichen Veranstaltungen“ nur (zitiert nach: R. Grix / W Knöll, Flagge und Hymne, Frank- die dritte Strophe gesungen werden solle, bedeute ja, furt/Main 1982, S. 61) dass ansonsten die erste Strophe erlaubt sei. Ministerialdirigent Dr. Lechner im Bundesministerium Als die rechtsextreme Wiking-Jugend zur Jahreswende des Inneren erklärte in „Parlament und Regierung“ 1987/88 das Deutschlandlied mit seiner ersten Strophe (1958, S. 270), dass „das Deutschlandlied als Ganzes grölte, schritt die bayerische Polizei – es war so, man Bundeshymne“ sei. glaubt es kaum – ein, um dies zu unterbinden, da es verboten sei, wie ein Polizeisprecher feststellte! Dem Auf die Frage des MdB Oswald Kohut am 22. Oktober widersprach nicht nur sofort die FAZ (4.1.88), sondern 1964: „Betrachtet die Bundesregierung alle drei Strophen auch der bayerische Innenminister, der feststellte, dass – des Deutschlandliedes oder nur die dritte Strophe als deutsche Nationalhymne ?“ gab es die folgende Antwort

24 des damaligen Bundesinnenministers Höcherl: die Verteilung der restlichen 970 Exemplare erst mal „...ich darf wegen ihrer Frage auf den Briefwechsel verzichtet. (Heuss-Adenauer) verweisen, der im Bulletin vom 6. Mai Im Mai 1978 gab es in West-Berlin von Stadtrat Rössler 1952, S. 537 veröffentlicht ist. Danach ist das Deutsch- landlied als Nationalhymne anerkannt. Bei staatlichen einen erneuten Vorstoß. Er forderte in seinem Schulbe- Veranstaltungen soll nur die dritte Strophe gesungen zirk die Grundschullehrer auf, die drei Strophen des werden. Das ist auch jetzt noch die Auffassung der Bun- Deutschlandliedes gleichrangig zu behandeln. Der dama- desregierung und die Rechtslage.“ lige Abgeordnete Lummer, der sich später zur Zahlung (Verhandlungen des deutschen Bundestages, Bonn 1964, von Geldern an Neonazis aus der CDU-Kasse bekannte, S. 7016) kritisierte seinen Parteifreund taktisch, der habe nicht Zu den Ungereimtheiten gehörte dabei auch, dass z. B. das nötige Gespür, „was im Moment richtig und mög- aus dem Bundespräsidialamt 1965 auf Anfragen zuerst lich ist“ (zitiert nach: Das Lied der Deutschen, Coburger die Erklärung kam, dass bei Feierlichkeiten von Schulen Convent 1981, S. 70). und Vereinen alle drei Strophen gesungen werden dürf- Und so ging es weiter. Im März 1985 wurde in Baden- ten, – und schon 24 Stunden später die „Berichtigung“ : Württemberg – zum Ausschneiden – in der kostenlos bei Entlassungsfeiern dürfe nur die dritte, im Unterricht verteilten Zeitschrift des Kultusministers „Die Schul- jedoch alle drei Strophen gesungen werden“ (siehe Uwe zeit“ das Deutschlandlied in voller Länge abgedruckt. Greve, Kleine Geschichte des Deutschlandliedes, Ham- 1986 kam es dann erneut durch den inzwischen zum burg 1982, S. 18). Kultusminister von Baden-Württemberg aufgestiegenen 1974 teilte das Bundespräsidialamt auf Anfrage einer Gerhard Meyer-Vorfelder (CDU) zum Eklat. Auf par- rechtsgerichteten studentischen Korporation mit, lamentarische Anfrage einer SPD-Abgeordneten, ob es rechtens sei, wenn in der vierten Klasse einer Grund- „dass die deutsche Nationalhymne aus allen drei Stro- phen des Deutschlandliedes besteht“. schule die erste Strophe des Deutschlandliedes auswen- dig gelernt und gesungen werde, wurde ihr nassforsch (Brief des Bundespräsidialamtes vom 28. 5. 74, Az. I/1-3211, un- terzeichnet von Dr. Wemmer, hier zitiert nach der Broschüre des ein „gestörtes Verhältnis zur Nationalhymne“ unterstellt Coburger Convents „Das Lied der Deutschen“, S. 47) (taz, 15.7.86). Des weiteren wurde vom Kultusminister 1976 antwortete das Bundespräsidialamt auf eine erneute bestätigt, dass dies zulässig sei (siehe Tribüne Nr. 99/86, Anfrage einer rechtsgerichteten Burschenschaft: S. 30 f). „Selbstverständlich ist es nicht verboten, die ersten bei- Selbst der prominente deutsch-französische Politologe den Strophen zu singen.“ Alfred Grosser schaltete sich aus Paris ein und betonte, (Brief des Bundespräsidialamtes vom 7. Juli 1976, Dr. Wemmer, dass die erste Strophe des Deutschlandliedes Az. I/2-3211, Ebd., S. 48) „die Eroberungsgelüste der Deutschen unter Hitler rep- Hier wird bereits sichtbar, wie sich die Akzente und räsentierte.“ Interpretationen verschoben haben, wie die Halbheiten (Süddeutsche Zeitung, 14.7.86) der Entscheidung von 1952 ausgenutzt werden. Hinzu worauf Golo Mann zwei Tage später die erste Strophe kommt, dass im Bundestag ja der Antrag auf Einführung verteidigte und sie als „zarte Lyrik“ wertete (Süddeut- des Deutschlandliedes als Nationalhymne 1949 eindeutig sche Zeitung 16.7.86). In der Bild-Zeitung nahmen eine nicht durchgekommen war. Es gibt weder im Grundge- Reihe prominenter CDU/CSU-Politiker partei für die setz noch in sonst einem Gesetz eine Festlegung, was erste Strophe des Deutschlandliedes, allen voran der nun die Nationalhymne genau ist. Das Deutschlandlied damalige Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU): hat keine gesetzliche Grundlage! Und so ging es dann „Selbstverständlich ist das Deutschlandlied als Ganzes weiter. unsere Nationalhymne.“ In den siebziger Jahren zeigte sich die Tendenz zur erste (Bild, 17.7.86) Strophe so: Der CDU-Abgeordnete W. Böhm produ- Die Bild-Zeitung veröffentlichte 1986 Umfrageergebnis- zierte 1976 70.000 Schallplatten mit allen drei Strophen. se, nach denen nur 10 Prozent der Befragten für die In voller Länge, also von der Maas bis an die Memel. dritte Strophe allein als Nationalhymne waren, während 250.000 weitere Exemplare sollten 1984 gemeinsam mit die große Mehrheit ausdrücklich alle drei Strophen ha- einer „Konservativen Aktion“ um Gerhard Löwenthal ben wollte (Bild-Zeitung 30.7.86). herum dann folgen (Spiegel 3/84). Auch in der sogenannten „Elefantenrunde“ am 22.1.87, Am 22. März 1978 berichtete die Süddeutsche Zeitung vor den Bundestagswahlen 1987, spielte das Deutsch- vom Treffen des unseligen Ex-NS-Marinerichters Fil- landlied eine Rolle. Als die Vertreterin der Grünen auf binger (seinerzeit hatte er die Todesstrafe für einen Mat- die unglaublichen Vorkommnisse des Jahres 1986 an- rosen verhängt, der sich dem NS-Regime verweigerte, spielte, und die Wahlwerbung von CDU und SPD mit dann war er Landesvater von Baden-Württemberg), mit Deutschland-Hymne und wehender Fahne kritisierte, dem rechtslastigen Sänger Heino vor dem Stuttgarter erklärte Helmut Kohl wörtlich: „Wer gegen das Landtag. Heino hatte alle drei Strophen gesungen und Deutschlandlied ist, will eine andere Republik.“ von 1.000 Schallplatten zunächst dreißig mit Filbinger zusammen an die Schülerinnen und Schüler einer vierten Im Streit um das Absingen der ersten Strophe in den Klasse verteilt. Angesichts diverser Proteste wurde auf Schulen in Baden-Württemberg forderte die Gewerk-

25 schaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) von Richard ten sich wegen § 90a StGB, mit der Frage der „Verun- von Weizsäcker in seiner Funktion als Bundespräsident glimpfung der Nationalhymne“ zu beschäftigen. ein klärendes Wort. Das Bundespräsidialamt antwortete Was die bisherige Rechtssprechung angeht, so hat das laut Frankfurter Rundschau vom 24.4.86 nicht direkt, da Bundesverfassungsgericht mit dem Beschluss vom dies „originäre Aufgaben der Länder betreffende Fra- 7.3.1990 kurz und bündig festgestellt: gen“ seien. „Als staatliches Symbol geschützt ist nur die dritte Stro- Entsprechend der Kulturhoheit der Länder, wurde in phe des Deutschlandliedes. (...) Da bei staatlichen An- den Schulen in dieser Frage verschieden vorgegangen. In lässen jedoch nur die dritte Strophe des Deutschlandlie- Hessen, von 1949–1987 sozialdemokratisch regiert, hieß des gesungen wird, (...) kann sich der Schutz des staatli- es in einem Erlass des sozialdemokratischen Kultusmi- chen Symbols von vornherein nur auf diese Strophe be- ziehen. nisters vom 5.11.1953 eindeutig und militärisch knapp: Bezüglich der Interpretation des Briefwechsels Heuss- „Ich ordne daher an, dass die Schülerinnen und Schüler aller Schulen mit den drei Strophen des Deutschlandlie- Adenauer heißt es : des vertraut gemacht werden. Text und Melodie sind im „Der Briefwechsel zwischen dem Bundeskanzler Ade- Unterricht zu üben.“ nauer und dem Bundespräsidenten Heuss aus dem Jah- (Amtsblatt 1953, S. 375, Zeichen III-071/1-53) re 1952 (...) ist nicht eindeutig. Ihm ist nicht ausdrücklich zu entnehmen, dass dieses Lied nur mit seiner dritten Offensichtlich als Reaktion auf Empörung über diesen Strophe zur Hymne erklärt werden sollte. Eindeutig ist Erlass wurde zwei Jahre später am 10.6.1955 erstmals jedoch darin festgelegt worden, dass bei staatlichen Ver- festgestellt: anstaltungen die dritte Strophe gesungen werden solle.“ „Die dritte Strophe des Deutschlandliedes ist die Natio- (Zitiert nach: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Heft 6/1990, S. 276 f) nalhymne.“ Aber es wurde auch hinzugefügt, dass Vorangegangen war eine juristisch gesehen nicht uninte- ressante Polemik in der Neuen Juristischen Wochenzeit- „die anderen Strophen des Deutschlandliedes (...) be- schrift (NJW). Ein Dr. Markus Hellenthal war entsetzt, kannt sein sollen.“ dass zwei seiner Kollegen akribisch nachgewiesen haben, (Amtsblatt 1955, S. 161, Zeichen III-071/1-55) dass es um die Nationalhymne aus juristischer Sicht sehr In diesem Erlass, der jenen von 1953 ausdrücklich auf- schlecht steht, weil sie eben keine gesetzliche Grundlage hob, werden allerdings auch die bekannten vier Grenz- habe. flüsse und die Passage „Deutschland, Deutschland über Er versucht dagegen nun seinerseits nachzuweisen, dass alles“ ausdrücklich verteidigt („Grenzen des Deutschen doch das Deutsche Reich nie aufgehört habe zu existie- Bundes“ schwebten „dem Dichter vor“) und nur der ren, dass die Alliierten zwar die Nationalhymne zunächst Missbrauch der ersten Strophe beklagt. verboten, dann aber doch wieder erlaubt hätten, so dass In einem weiteren Erlass vom 23.12.1976 wurden die wie bei anderen Vorgängen auch nun doch das Recht obigen Rechtfertigungssätze gestrichen, wiederum die des Deutschen Reiches für die BRD gelte, also auch das dritte Strophe zur Nationalhymne erklärt und lediglich Deutschlandlied Nationalhymne sei, wie Ebert 1922 hinzugefügt: „Spätestens im 6. Schuljahr sollen den bestimmt habe. Schülern Text und Melodie der Nationalhymne bekannt Der Briefwechsel zwischen Adenauer und Heuss sei nur sein.“ (Amtsblatt 1977, S. 11, Zeichen IV B-820/100) eine „Wiedererweckung“ (NJW 1988, Heft 21, S. 1295) 1989 ging das Spiel weiter, der CDU-Kultusminister gewesen. Peinlich in dieser Juristerei ist für diesen Dr. Wagner erklärte eindeutig, dass die Nationalhymne eben der Jura, dass selbst in der Weimarer Republik nur F. aus drei Strophen besteht und änderte wiederum keines- Ebert die Nationalhymne verkündet hatte, und nur der falls eindeutig den Erlass. Wieder kam es zu heftigsten Reichswehrminister einen entsprechenden Erlass für die Reaktionen, in deren Verlauf der Ministerpräsident von Wehrmacht herausgegeben hat. Hessen Wallmann ausdrücklich die erste Strophe vertei- Hattenhauer erklärt in seiner Broschüre „Deutsche Na- digte. tionalsymbole“, (München 1984, S. 60), dass auch Ebert Eine Broschüre des Hessischen Kultusministers zum das Deutschlandlied als Nationalhymne nur proklamiert Deutschlandlied „Handreichung“ kam heraus, die GEW hat, aber seine Reichsregierung und das Parlament der protestierte und erstellte ihrerseits Material gegen das Weimarer Republik diese „unverbindliche Proklamation Deutschlandlied. ohne Rechtsgeltungsanspruch“, wie er formuliert, nie durchgesetzt habe. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1990 Also, das mit der „Weiterexistenz des Deutschen Rei- ches“ hilft auch nicht weiter. Fast sensationell war angesichts dieser ganzen Streiterei- en der Versuch des Bundesverfassungsgerichtes, nun Juristisch gesehen verlängert sich nur der Streit darüber, eindeutig die dritte Strophe zur Nationalhymne zu erklä- warum zwar für die Flagge im Grundgesetz eine Festle- ren. gung existiert, für die Hymne aber angeblich ein Brief- wechsel ausreichend sein soll, um festzulegen, welche Hintergrund war jedoch nicht einfach der Streit der Strophen die Nationalhymne umfasst, die es gegen „Ver- Politiker , sondern eine ganze Reihe von Gerichten hat- unglimpfungen“ zu schützen gelte.

26 Unter der Überschrift „Keine Hymne ohne Gesetz“ Was nun? Professor Maunz meint, dass es eine Nummer hatten kurz zuvor die Rechtsanwälte Klaus Hümmerich drunter, nämlich ein Erlass des Bundespräsidenten auch und Klaus Beucher Stück für Stück nachgewiesen, was tue, obwohl er gleichzeitig Probleme sieht: Herrn Dr. Hellenthal so in Rage versetzt hat: „Ein Erlass hat freilich geringere Bindungswirkung als ein „Die BRD hat keine Nationalhymne. Es fehlt an der Gesetz. Insbesondere kann man ihm keine Bindungswir- rechtswirksamen Setzung eines solchen Staatssymbols. kung gegenüber der Allgemeinheit (den Bürgern) zuer- Kurioserweise stellt aber § 90a Nr. 2 StGB jede ‚Verun- kennen; die Rechte und Pflichten der Bürger können glimpfung der Nationalhymne’ unter Strafe. Dieser Straf- stets nur durch Gesetze begründet werden (Artikel 20 tatbestand läuft in Ermangelung eines wirksamen Kreati- des Grundgesetztes).“ onsaktes für das ‚Lied der Deutschen’ als eines staatli- (Ebenda) chen Symbols ins Leere, solange der Gesetzgeber kein Gesetz über eine Nationalhymne verabschiedet.“ Eben! möchte man ausrufen. Wo gibt es denn das , dass (NJW, Heft 51/1987, S. 3227) an Stelle eines Gesetzes eine Einzelperson oder auch zwei, wer immer er oder sie sind, bestimmen. Aber es Die Argumentation ist eigentlich ganz einfach : Da Bun- kommt noch toller. Herr Maunz in seiner genauen Art desflagge und Nationalhymne eigentlich doch den „glei- zerpflückt selber voll und ganz die Nationalhymne, die chen Symbolwert“ haben, sei ganz und gar nicht einzu- er doch so gern vor kabarettistischen Einlagen schützen sehen, dass das eine im Grundgesetz geregelt ist, das möchte. andere aber nicht. Denn nicht einmal einen Erlass, der eh nur für Behör- Ein Gesetz habe Geltung für alle Bürger, aber ein „Er- den und Dienststellen bindend ist, gibt es für das gelieb- lass“ oder ähnliches, ein Briefwechsel zwischen Bundes- te Deutschlandlied: präsident und Bundeskanzler könne „bei allem Respekt“ vor der Rolle dieser Ämter in einer parlamentarischen „Bedenken bestehen allerdings gegen die Form der Aus- übung der Befugnisse des Bundespräsidenten. Ein Er- Republik nicht ein Gesetz mit „Außenwirkung“ (sprich: lass im Rechtssinn ist nämlich nicht ergangen und nicht für alle Bürger verbindlich und nicht nur für Behörden) verkündet worden. Ein Antwortschreiben des Bundes- ersetzten. präsidenten auf ein Schreiben des Bundeskanzlers kann nicht als ein Erlass des Bundespräsidenten angesehen Diese Argumentation hat juristisch gesehen wohl Hand werden. und Fuß und dient konkret noch dazu einen Kritiker Man wird daher annehmen müssen, dass die Bindungs- dieses Deutschlandliedes vor Strafe zu schützen. wirkung politischer Art ist und auf dem Ansehen der bei- Hintergrund dieser aktuelleren Auseinandersetzung ist den Persönlichkeiten beruht, die in einem brieflichen Ge- dankenaustausch getreten waren, dass aber eine Bin- der Kommentar zum Grundgesetz, Neuauflage Mün- dungswirkung rechtlicher Natur fehlt.“ chen 1990, von Prof. Maunz, der von der Deutschen Nationalzeitung, aber auch anderen Organen gerne als (Artikel 22, S. 12) „Autorität“ auf dem Gebiet des juristischen Schutzes Das ist natürlich schon eine rechte „Verunglimpfung“ des Deutschlandliedes zitiert wird. der ganzen Angelegenheit durch einen sehr genau, aber eben nicht bis zum Schluss logisch arbeitenden Profes- In diesem Kommentar vertritt Professor Maunz, dass sor, der mit Strafandrohung und Gefängnis geschützt der besagte Briefwechsel eindeutig beinhaltet, dass alle sehen will, was als Gesetz, ja , Gott bewahre, auch als drei Strophen also auch die erste Strophe Nationalhym- Erlass nicht einmal festgelegt wurde. ne sei. Er schreibt : „Nach dem Wortlaut des Briefwechsels zwischen Bun- Einige Fälle von „Verunglimpfung“, deskanzler und Bundespräsidenten sollten ersichtlich al- die die Gerichte beschäftigen le drei Strophen das Nationallied bilden. (...) Auch das Nationallied genießt den Schutz des Strafrechts wie die anderen Symbole des Bundes. (...) Es darf daher z.B. Für die strafrechtliche Verfolgung sogenannter „Ve- nicht in kabarettistischen Aufführungen oder in ähnlicher runglimpfer“ ist der ganze in weiten Strecken humoris- Weise missbraucht oder verhöhnt werden.“ tisch anmutende Streit der Juristen allerdings durchaus (Artikel 22, S. 12) relevant. Ohne einen vollständigen Überblick geben zu können, soll hier auf einige durch die Presse bekannten Das passte vielen Freunden von „Deutschland über Fälle eingegangen werden. alles“ so recht und rechts ins Konzept. Übersehen hat- ten sie jedoch – und das entbehrt nicht einer gewissen 1985 verurteilte das Landgericht Baden-Baden den Ver- Komik – ,lange Zeit, dass der Professor in seiner ihm fasser eines Gedichtbandes, in dem auch eine Parodie und auch anderen Deutschen eigenen konsequenten Art auf das Deutschlandlied enthalten war, laut FR vom 9. 5. der Pflichterfüllung penetrant auf das juristisch eigentli- 84 zu 500.000 DM Geldstrafe (Az. 3 NS 47-84). che Problem aufmerksam gemacht hatte, so dass nun ein Es ging um folgendes Gedicht: „linker“ Anwalt die „Lücke“ bloßlegen konnte. Dieser Professor Maunz nämlich hatte der Wahrheit „Deutschland , Deutschland über alles, über alles in der Welt, entsprechend festgestellt : wenn es nur genug Raketen in den USA bestellt. „In der BRD ist weder im Grundgesetzt noch in einem Vom Maßkrug bis zum Messwein einfachen Gesetz ein Nationallied festgelegt.“ der Arbeitslose kriegt kein Geld. (Ebenda, S. 11)

27 Deutschland, Deutschland, über alles, ein Idiot, wer für dich fällt. Und wenn es wieder erklingt, das dreimal verfluchte Lied von Deutschland, so schaut sie euch an, die es singen.“ (Zitiert nach NJW 1985, Heft 40, S. 2431) Im September 1986 wurden von der Nürnberger Stadt- teilzeitung „Der Plärrer“ 2.000 Exemplare beschlag- nahmt, ebenfalls wegen § 90a. Der „Verunglimpfer“, der Redakteur Busch-Heuer wurde in zweiter Instanz zu vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und legte Revision ein (Süddeutsche Zeitung, 8.5.87). Der Text , um den es in einem anderen Fall ging, begann mit „Deutschland, Deutschland, over allos, auf der Stra- ße liegt das Geld, wenn es gegen Los Cravallos gnaden- los zusammenhält“. Der Redakteur der Kölner „Stadtrevue“ war angeklagt, aber die Richterin plädierte für die Einstellung des Ver- fahrens, weil eben nicht klar sei, was nun eigentlich die Nationalhymne sei (Die Zeit, 22.5.87, S. 23). Mit Sicherheit wird auch nach dem Urteil des Bundes- verfassungsgerichts die ganze Auseinandersetzung wei- tergehen. Denn auch die dritte Strophe bietet Anlas zum

28 Spott, etwa die Komposition mit dem Titel „Eigentum und Recht und Freiheit“, die bisher noch nicht die Ge- richte beschäftigt hat. Im Mittelpunkt der inhaltlichen Debatten über das Deutschlandlied stand zunächst immer die Frage, wie der Dichter das „Deutschland über alles...“ gemeint habe, wie es wirke, welcher Bezug zur NS-Zeit entstehe! Auch über die Rolle nationaler Symbole überhaupt, die Rolle der Melodie Haydns wurde und wird heftig disku- tiert. Diese Diskussionen, einschließlich des Versuches in der DDR eine andere Hymne einzuführen, – ein Versuch der gescheitert ist, wie die DDR selbst – soll nun Punkt für Punkt dargestellt werden.

6. Wurde der Text des Deutschlandliedes lediglich „von den Nazis missbraucht“?

Dieser angebliche „Missbrauch“ ist das Credo aller Ver- Die Analyse der ersten Strophe wird zeigen: Die Nazis teidiger und Anhänger des Deutschlandliedes. Mit der haben das Lied, insbesondere den Text der ersten Stro- Ideologie des NS-Regimes habe das nichts, aber auch phe lediglich hervorragend genutzt. gar nichts zu tun. Dieses Argument muss geprüft wer- den. Die erste Strophe: „Deutschland über alles“ Denn gewiss gibt es manches Lied, das älter als die NS- oder auch „Das erste Volk auf Erden“ Zeit ist und diese auch überdauert hat, aber von den NS- Diese erste Strophe lautet: Propagandisten lediglich missbraucht wurde, mit der „Deutschland, Deutschland über alles, Nazi-Ideologie nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte über alles in der Welt, (ein Beispiel dafür wäre H. Heines „Loreley“, die von wenn es stets zu Schutz und Trutze den Nazis einfach übernommen und als „Dichter unbe- brüderlich zusammenhält. kannt“ vorgestellt wurde). Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt.“ Aber warum konnten die Nazis gerade das Deutschland- lied so gut „missbrauchen“? Gab es nicht doch eine Eigentlich ist dieser Text seinem Sinn nach ganz eindeu- Tradition, auf die Nazis aufbauen konnte, die ihnen ins tig, sofort verständlich. Deutschland – geeint – soll über Konzept passte? alles in der Welt sein! Das versteht jeder! Das ist Klar- text! Das ist überheblich, nationalistisch! Hoffmann von Fallersleben war sicherlich kein Nazi, konnte es in seiner Zeit nicht sein, aus der heraus er ja Und so wurde das Lied aufgefasst und so wurde es ge- analysiert wurde. Aber der Dichter und der Text des sungen! Aber wehe, wenn ein Kritiker diese erste Zeile Deutschlandliedes waren eben gewiss nicht Symbol der ersten Strophe aufs Korn nimmt. fortschrittlich-demokratischer Traditionen. Gerade der Gegenüber dem eindeutigen „über alles“ ist der Streit Inhalt des Deutschlandliedes gehört zu der Tradition des der Germanisten nebensächlich, wie denn „Schutz und rückschrittlichen, reaktionären, nicht am Humanismus Trutz“ aufzufassen sei. Das Wörterbuch der Gebrüder eines Lessing, eines Beethoven angelehnten deutsch- Grimm interpretiert es im Sinne von Verteidigung und nationalistischen Erbes. Angriff. Andere bestreiten dies energisch, fürchten eine Insofern gehört es zu den Lebenslügen der bundesre- „Entlarvung“ des Hoffmann von Fallersleben und be- publikanischen Öffentlichkeit zu behaupten, die „Nazis teuern, die Brüder Grimm hätten sich angeblich geirrt, hätten das Deutschlandlied nur missbraucht“! Das ist es ginge ausschließlich um „Verteidigung“. Nur so sei eine sehr bequeme Lesart: das NS-Regime ist weg, also „Schutz und Trutz“ zu erklären. Dieser Streit ist wirklich gibt es kein Problem mehr mit dem Text. zweitrangig.

29 Viel wichtiger ist, was passiert, wenn das „ über alles“ nung des Deutschen Bundes nicht kannte. In der NS- angegriffen wird. Zeit hieß es zu der Grenzfluss-Passage, dass Hoffmann Zwei Dinge werden jedem Kritiker entgegengeschleu- von Fallersleben eben nicht nur „reichsdeutsch“, son- dert, mit einer Dummschlauheit, die seinesgleichen dern „volksdeutsch“ gedacht habe („Der Dichter fühlt sucht: und wirkt nicht reichsdeutsch, sondern volksdeutsch, ja letztlich weltdeutsch“, schrieb Heinrich Gerstenberg im Erstens, wird erwidert, ging es ja nur um „über alles“ im August 1933, in „Deutschland über alles“). Es wäre Sinne der Überwindung der Kleinstaaterei, das wäre der Hoffmann von Fallersleben auch um die deutschen Kern! Minderheiten in anderen Ländern gegangen. Wir wissen, Und zweitens gehe es um den „natürlichen Patriotis- dass es dem NS-Regime darüber hinaus auch um die mus“, „sein Land über alles zu lieben“ wie das Kind Länder selbst ging. Ihnen war sehr wohl bewusst, dass seine Mutter! die Memel 1841 nicht Grenzfluss des Deutschen Bundes war. Daher war es so ungemein praktisch, nicht einfach Im Original hört sich dies dann so an: von „reichsdeutsch“ zu sprechen, sondern von allen „...dass Deutschland sich über die anderen Länder erhe- Deutschen auf der Welt. Das Grenzproblem ist man be – ist, gemessen an der ursprünglichen Intention des dann los. Liedes, ein Missverständnis. Deutschland über alles hieß 1841 Deutschland über Sachsen, über Baden, über Aus Mainz erfahren wir, dass Hoffmann von Fallersle- Preußen und über Holstein und keineswegs Deutschland ben ja alles ganz anders gemeint hätte: über Frankreich, Russland oder England.“ „Die Nennung der Gewässer ist eine bloße Stilfigur (Sy- (Kurzke, Hymnen und Lieder der Deutschen, Mainz 1990, S. 42) nekdoche oder pars pro toto);von Etsch und Belt wird im gleichen Sinne gesprochen wie man vom Scheitel bis zur Sohle sagt, wenn man den ganzen Menschen meint.“ (Kurzke, Hymnen und Lieder, a.a.O., S. 43) Über 40 Jahre später bei einem CDU Kultusminister gibt es folgende Darstellung, die in 660.000 Exemplare an alle Schülerinnen und Schüler in Hessen verteilt wur- den: „Brauchen wir eigentlich eine Hymne? Und wofür? Beide Fragen führen zurück zur Geschichte Deutsch- lands und beantworten sich aus ihr; heute so sehr wie damals, 1841, als der „Deutsche Bund“ Europas zersplit- terte, zerstrittene, schwache Mitte bildete. „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ reichte damals der Deutsche Bund, ein, modern ausgedrückt, Europakarte von 1990 „Staatenbund“, der alles andere als ein einiges National- gebilde war. Daraus begründet sich der Wunsch nach „Deutschland, Im hessischen Schulerlass von 1955 (unter einem SPD- Deutschland über alles“, wie es in der ersten Strophe Kultusminister) findet sich die Rechtfertigung der ersten unserer Nationalhymne heißt, nämlich aus dem Wunsch Zeile der ersten Strophe wie folgt: heraus, an der Stelle der kleinstaatlichen Zersplitterung ein Staatengebilde zu haben, das vereint und einig ist. „Der Dichter hat jedenfalls nicht sagen wollen, dass Deutschland über alle Völker zu erheben sei. Es ist nicht So gesehen war der Ruf der Hymne lebendiger Bestand- seine Schuld, dass das Lied später im nationalimperialis- teil des Denkens der Menschen. Damals. tischen Sinne missbraucht worden ist.“ Und heute? Heute ist Deutschland ebenfalls zersplittert. Der Passus „Deutschland über alles“ soll angeblich nur Vier Teile hat der Zweite Weltkrieg hinterlassen: Die un- ter polnischer und sowjetischer Verwaltung stehenden dazu gedient haben, das nach dem Wiener Kongress in Ostgebiete, die heutige DDR, Berlin und unseren Teil über drei Dutzend staatliche Gebilde zerrissene Deutschlands, die Bundesrepublik. Wir haben als Hymne Deutschland des „Deutschen Bundes“ zu einigen. das gesamte Deutschlandlied.“ So heißt es sinngemäß immer und immer wieder, fast (zitiert aus: Deutschland, Deine Hymne, Schule in Hessen, 2/89) stereotyp in allen Rechtfertigungen der ersten Strophe; Besonders interessant ist die Behauptung, mit dem sie müsse eben „aus der Zeit heraus“ verstanden und „Ruf“ der Hymne „Deutschland, Deutschland über erklärt werden. Und weiter: alles“ soll nur die Einheit von angeblich „vier Teilen“ „Mit der Formulierung ‚von der Maas bis an die Memel, Deutschlands angestrebt werden! Offener kann kaum von der Etsch bis an den Belt’ schwebte dem Dichter die Oder-Neiße-Grenze angegriffen und die polnische keineswegs eine imperialistische Zielsetzung vor, son- und sowjetische Bevölkerung mit dem „Ruf“ der ersten dern nur die Grenzen des damaligen Deutschen Bun- Zeile bedroht werden! des.“ (Amtsblatt 1955, S. 161, Zeichen III-071/1-55) Lassen wir die Behauptung von den „vier Teilen“ hier erst einmal so revanchistisch stehen wie sie ist! Auch in So der Hessische Kultusminister 1955 in seinem Schul- Bezug auf die angeblich 1841 existierenden Grenzen des erlass. Womit bewiesen wäre, dass er die reale Ausdeh- Deutschen Bundes wird ja nicht die Wahrheit gesagt.

30 Die Memel war 1841 kein Grenzfluss. des Liedes um keine Antwort verlegen. Auch Golo Mann, der geistig zunehmend im extrem- Golo Mann griff auf, was schon immer, seit dieses Lied rechten Lager einzuordnen ist, hält nicht allzu viel von angegriffen wurde behauptet wurde: Es handle sich um der Wahrheit über die Memel 1841, dafür aber mehr von „zarte Lyrik“, man liebe Deutschland über alles so wie der Verharmlosung der heutigen Revanchisten. Er man seine Frau über alles liebe. Oder wie die Broschüre schreibt in der Broschüre des Hessischen Kultusminis- des Hessischen Kultusministers ergänzt, das Kind die ters zum Text des Deutschlandlied: Mutter. „Unvermeidlich enthält auch sie ein paar veraltete Stel- Nun reimt sich aber in der ersten Strophe recht handfest len, wie könnte es nach demnächst einhundertfünfzig auf „Welt“ nach Etsch und Memel der Belt. Es geht also Jahren anders sein. Dies gilt vor allem für die Grenzen nicht um Lyrik und Liebe, sondern um Geographie. Und des vom Dichter erträumten geeinigten Vaterlandes: zwar um geographische Angaben, die selbst bei großzü- Von der Maas bis an die Memel gigster Auslegung des Gebietes des Deutschen Bundes Von der Etsch bis an den Belt ... 1841 – als dieses Lied entstand – nur als Aufforderung zu Grenzverschiebung, zur Expansion verstanden wer- den können. Ein Blick auf eine Geschichtskarte der damaligen Zeit müsste da eigentlich genügen. Dennoch hält sich hartnäckig die Unwahrheit. Wenn Golo Mann von „zarter Lyrik“ spricht und dieses Deutschland meint mit seiner eigenen Frau vergleichen zu müssen (zur Meinung Golo Manns zu „Frau und Wein und anderen Dingen“ wird noch später einiges zu sagen sein), so geht ein stark rechts gerichteter Theolo- ge, Helmut Thielicke noch weiter und vergleicht die singenden Deutschen mit Kindern und Deutschland mit seiner Mutter! In seinem Aufsatz „Brauchen wir Leitbil- der?“ heißt es u.a.: „Wenn ein Kind zu seiner Mutter sagt: ‚Du bist die Aller- schönste auf der Welt’, dann ist die derart idealisierte Mutter ein Bild, das dem Ereignis der Liebe entstammt. Als neuerdings in einigen Ländern die Sitte aufkam, nicht Ich will das noch an einem anderen, sehr viel delikateren bloß die letzte Strophe zu singen, wie Konrad Adenauer Beispiel zeigen. Ich tue das, obwohl ich damit wunde und Theodor Heuss gewünscht hatten, sondern auch die Stellen berühre und gleichsam mitten in unbewältigte beiden ersten, meinte ein an sich ausgezeichneter fran- Neurosen hineinlange. (...) Das Lied ‚Deutschland, zösischer Germanist und Deutschlandkenner, hier ma- Deutschland über alles’ (...) war in seinem ursprüngli- che sich neuer Imperialismus bemerkbar. Unbegreiflicher chen Sinne sicher ein Lied, das genau der Liebeserklä- Irrtum! Die vom Dichter erträumten Grenzen eines geein- rung des Kindes gegenüber seiner Mutter analog war: ten Deutschland waren jene des „Deutschen Bundes“, ‚Du bist das allerschönste Land mit deinen Burgen, Flüs- den es damals, 1841, gab und zu dem , um nur ein Bei- sen und Wäldern; in der ganzen Welt geht mir nichts ü- spiel zu nennen, auch das österreichische Südtirol mit ber dich’. Es ist die Liebeserklärung ans Vaterland, das dem Oberlauf der Etsch gehörte. Dass das heute und so wohl jeder Bewohner jedes Landes ausspricht. In die- schon seit siebzig Jahren nicht mehr so ist, dass der Ge- sem Satz eine objektive Aussage über Rangstufen der danke an eine Rückeroberung Südtirols grotesker Ana- Völker und über die Spitzenstellung des eigenen Volkes chronismus wäre, weiß jeder, welcher die erste Strophe sehen zu wollen, wäre ebenso läppisch, wie wenn man singt. “ dem Kinde unterstellte, dass seinem Bekenntnis ‚Du bist die Schönste’ der Charakter einer Diagnose zukäme, die Dass das gerade jene nicht wissen, die heute die erste sich auf exakte Testvergleiche seiner Mutter mit anderen Strophe grölen, etwa die Wiking-Jugend, wie Golo Mann Frauen gründete.“ als FAZ-Leser genau weiß oder wissen müssten, gehört (Helmut Thielicke, Theologie und Zeitgenossenschaft, Tübingen zum ABC des jährlichen Verfassungsschutzberichts. 1967, S. 299 f) Jede Nummer der „Nationalzeitung“ mit 100.000 Lesern Hier handelt es sich um einen äußerst bedenklichen schreit es hinaus, dass Österreich und West-Polen an- Kunstgriff. Die „Liebe zum Vaterland“ wird gleichge- geblich „Deutsch“ seien, und mehr Bonner Politiker als setzt mit der Liebe des Kindes zur Mutter, also zum wir alle glauben oder wahrhaben wollen: Aus „Taktik“, biologisch angelegten quasi „archetypischen Verhalten“, aus politisch-aktuellen Überlegungen anerkennen sie die hochstilisiert. Das Wort „natürlich“, „natürlicher Patrio- heutigen Grenzen, träumen aber durchaus von den „vier tismus“ (Bundesinnenministerium) soll als Wunderwaffe Grenzflüssen“ als einem angeblich historischem Recht. alles erklären (früher hieß es „gesunder Patriotismus“, Nur um die Überwindung der Kleinstaaterei soll es ge- „gesundes Volksempfinden“). gangen sein bei diesem „Über alles“ ? Wer soll das glau- „Natürlich“, soll das heißen, ohne Denken? So wie das ben? Kleinkind, der blind Verliebte? Oder geht es um den Warum heißt es dann „über alles in der Welt“, statt Instinkt, wie z. B. in der Natur das Ferkel an der Mutter- „über alle Kleinstaaterei“? Auch hier sind die Verteidiger sau hängt?

31 Ist da nicht eher der Appell an die biologischen Instinkte eignet. angesprochen, an das Tier im Menschen, das im gnaden- Hitler erklärte zum Deutschlandlied: losen Kampf ums Dasein dahin getrieben wird – da sich nur der Stärkere durchsetzt – die Nummer eins, „über „So ist denn auch gerade das Lied, das uns Deutschen alle anderen“ zu werden? am heiligsten erscheint, ein großes Lied der Sehnsucht. Viele, in anderen Völkern, verstehen es nicht. Sie wollen Und steht bei der Liebe des Mannes zu Frau, des Kindes gerade in jenem Lied etwas Imperialistisches erblicken, zu seinen Eltern immerhin noch die Möglichkeit der das doch von ihrem Imperialismus am weitesten entfernt ist. Denn welche schönere Hymne für ein Volk kann es Nächstenliebe im Raum, so steckt hinter dem „Deutsch- geben als jene, die ein Bekenntnis ist, sein Heil und sein land über alles“ die nackte Selbstliebe. Warum ? Weil Glück in seinem Volk zu suchen und sein Volk über alles dieses Passage im Kern ein Eigenlob enthält, denn wenn zu stellen, was es auf dieser Erde gibt.“ „Deutschland über alles“ gilt, dann gilt auch der einzelne (Adolf Hitler in Breslau 1937, zitiert nach: Ernst Hauck, Das Deutsche „über alles“, denn er ist ja ein Teil von Deutschlandlied, 1941, S. 59) Deutschland. Indem er Deutschland hochlobt, lobt er Das „über alles“ nichts mit Überheblichkeit zu tun hat sich selbst. Eigenlob stinkt, um diesmal ein treffendes ist unwahr, es stimmt nicht nur bei Hitler nicht, es deutsches Sprichwort zu zitieren. Es geht nicht um „Ly- stimmt überhaupt nicht, nach allen Richtungen hin, wie rik“ und „Liebe“, es geht um Egozentrik im nationalen man es auch dreht und wendet. Gewand. Walter Jens schrieb in der Zeit (Nr. 39/1986) zu dem Menschen, die den Vorstellungen etwa des Bundesin- Begriff „über alles“: nenministeriums vom „natürlichen Patriotismus“ so oder anderes entgegentreten, werden sofort und un- „Deutschland, Deutschland, über alles: Das kann, wie die Forschung längst bewiesen hat, nichts anderes heißen barmherzig als „unnatürlich“ ausgegrenzt – eine fürch- als: Deutschland ist mehr, ist größer, ist mächtiger als al- terliche Logik, vor allem vor dem Hintergrund der deut- les, sofern es seine politische Einheit gewinnt.“ schen Geschichte! Der Kreis schließt sich. Abschließend soll die Analyse Der angeblich so „natürliche Patriotismus“ des „über von Enzensberger zitiert werden, der mit der Methode alles“ wurde in Deutschland nicht nur von den NSDAP- der Semantik vorgeht und so argumentiert: Ideologen bewusst geschürt und genutzt, er wurde seit „Bekanntlich kann in der deutschen Sprache „über“ den seiner Existenz von Kaisern und Reichskanzlern ge- Akkusativ und den Dativ regieren. Während der Dativ ei- schürt und genutzt, um sich über andere Völker zu er- nen passiven Zustand beschreibt, beschreibt der Akku- heben! sativ einen Vorgang. Das lässt sich schon an den Vorläufern des „über alles“ Da in unserem Fall „über“ den Akkusativ regiert, muss (immer und immer wieder verwendet) zeigen. Angefan- Deutschland etwas sein, mit dem ein nicht genannter Tä- ter etwas tut, und zwar stellt er Deutschland über alles. gen hat dies „über alles“ wohl Walter von der Vogelwei- Er stellt, er liebt es nicht, andernfalls wäre der folgende de, der 1205 schon dichtete: Wenn-Satz unsinnig: „tiuschiu zuht gat vor in allen“ Ich liebe Deutschland über alles, wenn es brüderlich zu- („deutsche Zucht geht über alles“) sammenhält. Sonst nicht? Das wäre ja Blödsinn. Der Collin schrieb 1809 „Österreich über alles“, Arndt 1813 Sinn ist versteckt, aber ganz eindeutig: Wenn Deutsch- „Teutschland über alles, wenn es nur will“ usw. und es land zusammenhält, können wir es über die ganze Welt erheben.“ folgten Dutzende von Plagiaten bis schließlich 1841 Hoffmann von Fallersleben dies „über alles“ aufgriff. (Transatlantik Nr. 10/81) Was meint nun der Dichter Hoffmann von Fallersleben? Gerade zu seiner Zeit existierte ja die Vorstellung einer Vielleicht konnte er nicht richtig deutsch und hat Dativ besonderen Berufung Deutschlands für die Welt! Das und Akkusativ verwechselt, so unsympathisch wäre da ja hört sich bei Jahn dann so an: nun nicht. Oder er liebte Deutschland wirklich nicht, „Deutschland, wenn es einig mit sich, als Deutsches solange es zersplittert war! Gemeinwesen, seine ungeheuren, nie gebrauchten Kräf- te entwickelt, kann einst der Begründer des ewigen Frie- Kurzum: Wie „Deutschland, Deutschland über alles“ zu dens in Europa, der Schutzengel der Menschheit sein!“ verstehen sei, soll Hoffmann von Fallersleben selber (Jahn, Werke Bd. I, S. 146, zitiert nach Gerstenberg 1933, S. 36) beantworten. Und er gibt Antwort. Er dichtete: Von Hölderlin stammt das Bild vom „Herzen Europas“. „Mein Vaterland betrachtend, Arndt greift es auf: Zerstücklung stets verachtend, Fiel mir ganz lebhaft ein, „Ihr seid das Herz unseres Weltteils; wenn das Herz er- Was Teutschland ist und sollte, mattet, so erkranken alle Glieder.“ Wenn jeder Teutsche wollte, (Arndt, Geist der Zeit, Ausgewählte Werke Band 10, Leipzig vor allen Nationen sein. 1809, S. 7, bzw. 108, zitiert nach Gerstenberg 1933, S. 36) Wir können, uns vereinend, Mehr seiend als nur scheinend, Es geht bei diesen Vorstellungen nicht um „Vaterlands- Vom Feind dann anerkannt, liebe“. Diese Deutung ist nicht deswegen falsch, weil Das erste Volk auf Erden Hitler sie verwendet hat; nein, Hitler hat sie verwendet, Ganz zweifelsohne werden, weil sie sich so glänzend zum Betrug und Selbstbetrug Wenn’s ernst uns wär’ ums Vaterland.“ (Werke Band IV, S. 238)

32 „Das erste Volk auf Erden“ – deutlicher geht es nicht. Strophe des Deutschlandliedes: Der Dichter selbst löst den Streit, wie sein „über alles“ „Und singt er von deutschen Frauen, deutschem Wein zu interpretieren sei: „vor allen Nationen sein“. und deutschem Sang, dann ist ihm bekannt, dass dies alles sehr gute Dinge sind, aber nicht besser als anders- Herumreden gilt nicht, hier liegt der Schlüssel: Das Lied, wo. Sie sollen ja auch nur ihren „guten alten Klang“ be- die erst Strophe war von Anfang an chauvinistisch, ü- wahren.“ berheblich. Es ging darum „das erste Volk auf Erden“ (Golo Mann, März 1989) zu werden. „Alles sehr gute Dinge“ ... so sieht ein „deutscher Die immer wieder ins Lächerliche gezogene englische Mann“ die deutsche Frau ... eben eine der verschiedenen Übersetzung „first of nations“ (Siehe etwa bei Hermann Genussmittel neben Wein und anderen „guten Dingen“. Kurzke, „Hymnen und Lieder der Deutschen“, S. 45) ist also der Intention des Hoffmann von Fallersleben nach, Es kann nur begrüßt werden, dass die Hälfte dieses doch gar nicht so falsch. deutschen Volkes, um die es hier geht, es mehr und mehr satt hat, von solchen Männern wie Golo Mann Genau deswegen ist es absurd, einfach so zu tun, als und Hoffmann von Fallersleben in einer Reihe mit Wein wäre die erste Strophe „missbraucht“ worden. Nein, sie und Sang gestellt zu werden, dass mehr und mehr wurde gebraucht. Die erste Strophe passte haargenau in durchschaut wird, dass hinter dem scheinheiligen kit- das Konzept der Nazis, formulierte ein großdeutsches, schigem Lob für die deutschen Frauen einfach Männ- expansives und überhebliches Geschichtsbewusstsein, lichkeitswahn, die Mentalität der „Nutzung“ der Frau war das knapp formulierte Programm des „Heute steht. (ge)hört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt ... “, „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in Luise F. Pusch analysierte die frauenfeindliche Grund- der Welt“!! haltung vor allem der zweiten Strophe: „Lied der Deutschen, heißt das Deutschlandlied ur- „Deutsche Frauen ... Deutscher Wein“ sprünglich. Die zweite Strophe macht unmissverständlich klar, wer das eigentlich ist, „die Deutschen“, wem es so- Karl Jaspers, ganz gewiss kein Linker, sondern gutbür- zusagen in die schon immer sangesfreudige Kehle ge- gerlicher konservativer Schriftsteller, schrieb zur zweiten schrieben wurde: dem deutschen Mann.“ Strophe des Deutschlandliedes: Und sie schlussfolgert: „ ‚Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein „Unsere Nationalhymne ist von A bis Z eine Hymne für und deutscher Sang’. einen Männergesangsverein.“ Welche Gemütlichkeit! Kann heute ein Deutscher in sol- (Luise F. Pusch, Alle Menschen werden Schwestern, Feministi- cher Ausdrucksweise sprechen, ohne zu lachen? Ist das sche Sprachkritik, Frankfurt/M. 1990) heute nicht für jeden unverdorbenen Geschmack einfach Der Petitionsausschuss des Bundestages lehnt eine Reihe Kitsch? Und dieser ist Nationalhymne der Bundesrepu- blik?“ von Vorschlägen zur Änderung des Textes des Deutsch- landliedes ab, wie die „Frankfurter Rundschau“ vom 19. (Karl Jaspers, Denkwege, Zürich 1983, S. 98 f) Juli 1990 berichtete. Was steckt für eine Haltung hinter diesem Frauen-Lob So bleibt es also bei Vaterland statt dem vorgeschlage- von Hoffmann von Fallersleben, das sich anlehnt an nen „Heimatland“ und statt „deutsche Frauen, deutsche Walter von der Vogelweide und seinen Übertreibungen. Treue“ heißt es auch nicht „deutsche Menschen, deut- Er lobte nicht nur die „deutsche Zucht“ vor allen ande- sche Treue“. ren, sondern auch die deutschen Frauen. Über sie sagt er unter Hinweis auf seine Reisen in andere Länder, dass Warum wurden die Änderungswünsche der Bürgerinnen sie „besser sint danne ander frouwen“ – , dass sie besser und Bürger abgelehnt? Warum? Na klar, weil’s immer sind als andere Frauen. schon so war! Ebenso peinlich ist das Gedicht von Hoffmann von In München erschien 1986 von Elke Reisenbichler eine Fallersleben „An die deutschen Frauen“ vom 14. No- böse Broschüre für das Deutschlandlied, die nicht davor vember 1840: halt macht, Nazipropaganda positiv einzuschätzen. In „Ihr kennt noch frohe deutsche Weise, dieser Broschüre, die nur mit einigen kleinen kosmeti- Noch deutsche Zucht und Sittsamkeit.“ schen Abgrenzungen von der Nazi-Zeit taktiert, wird (Fallersleben, Gesammelte Werke Band IV, S. 103) genüsslich der Nazi-Propagandist Ernst Hauck mit sei- ner Broschüre „Das Deutschlandlied“ zitiert, um we- Nun wird schon klarer, welche Haltung hinter dem Lob nigstens etwas zur Rechtfertigung der furchtbaren zwei- steckt. Er betrifft die Zucht und Sittsamkeit der Frauen. ten Strophe anführen zu können : Und wenn die Frauen nicht so sind, wie sich der „Lo- ber“ das vorstellt? Was dann? Das solches Lob doch „Und wenn Hoffmann als zweiten Strophe dichtete: ‚Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und auch ein gerüttelt Maß von Aggressivität in sich birgt, deutscher Sang’, so sind, um Ernst Hauck aus seinem enthüllte unfreiwillig ein glühender Lobpreiser des Büchlein über unser Deutschlandlied zu zitieren, Deutschlandliedes, der schon wiederholt zitierte Golo ‚mit dieser Würdigung der deutschen Frau über ein Jahr- Mann. Er schrieb in seinem Vorwort für die Broschüre tausend christlicher Demütigungen hinweg wieder Fäden des Hessischen Kultusministeriums über die zweite geknüpft zur germanischen Weibeswertung!’

33 Diese Strophe ist Ausdruck der Achtung des deutschen hat in sich eine böse Aggressivität im Namen der Macht Wesens in der Treue, in der Geselligkeit, im Gesang ... “ des Reiches. (Elke Reisenbichler, 1986 [!!!], S. 35) Zunächst klingt es als stolze Großartigkeit: „Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Deutschen Unterpfand“. So schreibt Frau Elke Reisenbichler und begeistert sich Analysieren wir, was darin liegt: für „germanische Weibeswertung“, was immer das sein mag. Dass sie das „deutsche Wesen“ ungeniert benutzt, Erstens: Die Reihenfolge, zugleich die Rangordnung des Wesentlichen, ist entscheidend: Einigkeit und Recht und zeigt, dass sie dem Neonazi-Umfeld von NPD bis Freiheit. Einigkeit als Einheit Deutschlands an die Spitze Schönhuber nicht allzu fern zu stehen scheint, und sie gestellt, bedeutet: Zuerst Einheit, das Recht kommt hin- wohl nur aus Tarnungsgründen den NS-Schreiber terher, und nach dem Recht kommt noch die Freiheit. Hauck mitten im Satz abbricht, was wir nicht tun wollen. Während für ein politisches, das heißt republikanisches Bei Hauck heißt es nämlich weiter: und demokratisches Denken die Sache umgekehrt liegt: Erst die Freiheit, aus ihr das Recht und dann schließlich „...wieder Fäden zur germanischen Weibeswertung ge- die Einheit. knüpft, in Übereinstimmung mit dem Wort des Führers, wonach wir das germanische Ideal auf unser Fahnen ge- Die falsche Reihenfolge in der Hymne hat die Grundge- schrieben.“ sinnung ausgesprochen. (Ernst Hauck, Das Deutschlandlied, Dortmund 1941, S. 36) Zweitens: Wenn die Einheit, statt unter Bedingungen ge- stellt zu sein, zum Absoluten wird, so ist die Folge: Die Heil Hitler, Frau Reisenbichler, ist wohl doch Ihnen Einheit der Macht als Macht hat unter allen Umständen gegenüber nicht unbedingt der falsche Gruß! den Vorrang. Auf Freiheit muss im Konfliktsfall verzichtet werden, das heißt praktisch: Der Freiheit des Bürgers Zur „unanfechtbaren“ dritten Strophe wird die Kontrolle der Staatsführung entzogen. Es ist nicht mehr sein Staat.“ In der Debatte über die Wiedereinführung des Deutsch- (Karl Jaspers, Denkwege, Zürich 1983, S. 98 f) landliedes schrieb der Kultusminister Herr Finck im Einigkeit und Recht und Freiheit im Deutschlandlied August 1949: sind eben nicht für den einzelnen Bürger gedacht, ent- „...die Franzosen haben bei ihrer großen Revolution den sprechen nicht den idealen bürgerlich-demokratischer Neubau ihres Staates unter das Dreigestirn ‚Freiheit, Freiheitsideale – nein, dies alles gibt es nur pauschal „für Gleichheit, Brüderlichkeit’ gestellt. Wir gründen unser das deutsche Vaterland“. Das war ja auch der Grund, neues Deutschland auf ‚Einigkeit und Recht und Frei- warum die NS-Ideologen sogar mit dieser dritten Stro- heit’...“ phe operieren, sie gebrauchen konnten in ihrer Propa- (zitiert bei: Enzensberger, Auferstanden über alles, Transatlantik Nr. 10/81) ganda: Dieser Gegensatz ist hochinteressant. Es handelt sich „Einigkeit“ als Losung, um Österreich einzuverleiben, also um ein deutschen Anti-Programm, das sich gegen und um die Gebiete im Osten, in denen deutsche Min- die Ideale der Französischen Revolution richtet. derheiten wohnten, sich einzuverleiben. Und das „Recht auf Selbstbestimmung“ als demagogisch eingesetztes, Der schon zitierte Gerstenberg bringt dies auf folgenden nur für Deutsche akzeptables Recht, eben nur „für das Nenner deutsche Vaterland“, um so das Saargebiet „heim ins „Das Deutschlandlied wandelt den Sinn der allgemeinen Reich“ zu holen. Und die „Freiheit für das deutsche Menschenrechte, die die Französische Revolution ver- Vaterland“, als Parole, um sich von den „Fesseln“ des kündet, ins Nationale ab“ Versailler Vertrages zu befreien, die „Freiheit“ aufzurüs- (Gerstenberger 1933, S. 66) ten, die alten Rüstungsbeschränkungen abzuwerfen und Was soll das heißen? Das kann nur heißen, dass diese so weiter und so fort. Menschenrechte eben nicht für alle Menschen gelten, Da eben die Losungen von Recht und Freiheit nur für sondern nur für deutsche Menschen, nur für das deut- das Land als Ganzes gelten, kommt es sehr darauf an, sche Vaterland! wer die Macht in diesem Land hat. Mit bürgerlich- Gerstenberg hat insofern wirklich recht, er trifft den demokratischen Freiheiten hat dieser „deutsche Drei- Nagel auf den Kopf. Aber eine solche „Abwandlung der klang“ jedenfalls ganz und gar nichts zu tun. Menschenrechte“ ins Nationale ist eben nichts Positives, wie Gerstenberg meint, sondern der Weg hin zur Philo- Das Deutschlandlied ist ein Ganzes sophie des NS-Regimes! Von vornherein war klar, dass der Versuch der Zerstü- Das war der Weg, die universellen Ideale der Menschen- ckelung in Strophe drei einerseits und Strophe eins und rechte abzulehnen. Die wohl schärfste Kritik eines pro- zwei andererseits nur ein Provisorium darstellt, und zwar minenten nun gewiss nicht des „Linksradikalismus“ als Übergang zur Rehabilitierung des ganzen Liedes. verdächtigen Deutschen an dem deutschen „Dreiklang“ der dritten Strophe des Deutschlandliedes stammt aus Völlig zu Recht schrieb 1954 bereits der couragierte der Feder von Karl Jaspers, der nach der Kritik an Pfarrer Karl Handrich, über die „deutschen Wein und deutschen Frauen“ weiter aus- „scheinbar so unanfechtbare dritte Strophe des Deutsch- führt: landliedes (...) , deren isolierter Gebrauch übrigens ein Eingeständnis der Peinlichkeit der beiden ersten Stro- „Doch diese verlogene biedermeierliche Gemütlichkeit phen bildet und trotzdem nicht von Dauer sein konnte,

34 wie die Praxis zeigte. ten, mit der Beseitigung der Blüte sei auch die Wurzel ausgerissen?“ Ihr Gesang musste unweigerlich zur Rehabilitierung und Benutzung der anderen Strophen zurückführen.“ (Die Stimme der Gemeinde 1952, Nr. 7, S. 146 f) (Karl Handrich, Deutschland über alles in der Welt?, in: Die In der Tat geht es darum, und ging es damals darum, die Stimme der Gemeinden, April 1954) Wurzeln, die schließlich zum Nazi-Regime führten auf Diese Kritik von April 1954 erschien in „Die Stimme möglichst allen Gebieten auszureißen. der Gemeinde“ (eine „Zeitschrift zum kirchlichen Le- Doch das ist gar nicht so einfach. Das oft nur zum Ab- ben, zur Politik, Wirtschaft und Kultur“, herausgegeben wiegeln benutzte Argument, dass ja das „Kind nicht mit u. a. von Martin Niemöller) als offener Brief an einen dem Bade ausgeschüttet“ werden dürfe, hat es in sich, Kultusminister, der den Sohn von Pfarrer Karl Handrich hat durchaus seine Berechtigung. per Erlass dazu bringen wollte, das Deutschlandlied zu singen. Das gilt insbesondere, wenn die „Fans“ des Deutsch- landliedes, schon mehr oder minder schwer angeschla- Handrich schrieb aus seiner Sicht: gen bei der Debatte über den Text und den Dichter nun „Gemäß dem Evangelium von Jesus Christus predige ich das Thema rasch wechseln und auf die Frage der Melo- meiner Gemeinde und lehre ich meine eigenen und die die und die Frage des Komponisten zu sprechen kom- mir zur Unterweisung anvertrauten Kinder, dass wir zu- erst Christen und Menschen und dann erst Deutsche men. sind: Das Lied „Deutschland über alles in der Welt“ steht Denn einer der Wurzeln der „Autorität“ der National- dazu im Widerspruch und darum kann ich sein Erlernen hymne ist gewiss die Melodie von Haydn. und Singen nicht verantworten. “ Das entscheidende zum Thema „Melodie“ wurde schon Pfarrer Handrich, der seine Ablehnung mit der Kom- gesagt: Die Gefühle, die Assoziationen, die mit einer promittierung begründet, „die diesem Lied in der jüngs- Melodie geweckt werden, sind ausschlaggebend. In die- ten dunklen Vergangenheit unseres deutschen Volkes ser Beziehung, allerdings nur in dieser Beziehung, spielt widerfuhr“, kritisiert gerade auch den Inhalt des Liedes es gar keine Rolle, was für eine Melodie von was für als „christlich und menschlich unhaltbar und untragbar“. einem Komponisten dem Text des Deutschlandliedes Er fordert als Gebot der Stunde eine „Umkehr in eine unterlegt wurde. neue Geisteshaltung“ und analysiert die Folgen der Ein- führung des Deutschlandliedes als Nationalhymne. Sie Aber – in anderer Hinsicht, in zweiter Linie, ist es auch bedeute eben nicht: nicht so, dass die Auswahl der Melodie Haydns zufällig „Sinnesänderung, sondern es kommt im Gegenteil darin war, keine Bedeutung und keine Funktion hat. eine Gesinnung zum Vorschein, welche die Wurzel zu Daher ist, von einer richtigen Bestimmung des Stellen- jener Giftpflanze bildete, die sich dann im Dritten Reich werts der Frage ausgehend, es durchaus ergänzend nötig, zu schrecklicher Blüte entfaltete. Wer könnte bei einiger Kenntnis der heutigen Volksstimmung ... und angesichts auf die Melodie und den Komponisten genauer einzuge- dessen, was in Massenversammlungen und in einer ge- hen. wissen Massenpresse ans Tageslicht kommt, behaup-

7. Die Funktion der Melodie des Deutschlandliedes

Bei der Debatte über das Deutschlandlied spielt die liedes in verschiedene Arten der Nationalhymne der Melodie von Haydn eine große Rolle. Auch dort, wo der Welt (Revolutionshymnen, Königs- und Kaiserhymnen, Text durchaus kritisch gesehen wird, sticht das „Argu- Heimathymnen) überhaupt. ment“, dass die Melodie doch „unübertroffen“ sei. Wie war die damalige Situation, als die Melodie des Haydn war und ist selbstverständlich ein großer Kom- Deutschlandliedes entstand ? ponisten. Dies bedeutet ja nun nicht, dass man jeden als Napoleons Truppen rücken 1797 auf Wien zu ... auf unmusikalischen Dummbeutel hinstellen muss, der es Geheiß des Präsidenten der Niederösterreichischen wagt an seinem Werk einiges zu kritisieren, und das Landesregierung, des Grafen Franz Saurau verfasst der Attribut „unübertroffen“ in Frage zu stellen (abgesehen Theologe und Dichter Lorenz Leopold Haschka als Art davon, dass ja eigentlich auch nicht einzusehen ist, dass „Gegenhymne ... “ gegen die französische Nationalhym- jeder den gleichen Geschmack haben muss). ne „Gott erhalte Franz den Kaiser“. Für diesen Text Gerade die Melodie Haydns, die Hoffmann von Fallers- komponierte Haydn die Melodie, die er später erweiterte leben für das Deutschlandlied ausgewählt hat, fasziniert zum Variationssatz des C-DUR Streicherquartetts („Kai- durch ihren hochinteressanten und durchaus brisanten ser-Quartett“) (op. 76,3). Das Lied wurde zum ersten Hintergrund, der dazu zwingt, sogar die Grundhaltung Mal am 12. Februar 1797 im Wiener Hoftheater gesun- eines Haydn, was die „Hymne der Deutschen“ angeht, gen, als der Monarch die Ehrenloge betrat. eindeutig in Frage zu stellen! Dem Kaiser Franz II. , dem letzten Kaiser des „Heiligen Das gilt sowohl für den aktuellen politischen Rahmen Römischen Reiches Deutscher Nation“ und nicht dem der Entstehung des Deutschlandliedes, als auch für die Volk ist bewusst diese Melodie von „Papa Haydn“ ge- Einordnung dieses Typs der Melodie des Deutschland- widmet.

35 „Völlig unwichtig, die Melodie ist schön“ – mag man- dahingestellt. Die polnische Nationalhymne zumindest cher einwenden. Doch so einfach ist es durchaus nicht, erinnert an die „Mazurka“, einer der beiden wichtigsten will man das Argument der Anhänger des Deutschland- Tänze in Polen. liedes ernst nehmen, dass es ja gerade um Traditionen, Was nun die Melodie des Deutschlandliedes angeht, um die Bewahrung einer alten „deutschen“ Erbes geht, gehört sie eindeutig zur ersten Kategorie, zu den rück- wenn ganz nachdrücklich auf die „unübertroffene Melo- wärts gewandten großen „majestätischen“ Harmonie die“ Haydns verwiesen wird! ausstrahlenden Hymnen an den Herrscher, unter dessen Obhut das „gemeine Volk“ sich angeblich wohlig und Zum Traditionszusammenhang sicher fühlen kann und ihm ein langes Leben wünscht – der Melodie Haydns bis er sein (!) Volk in den nächsten Krieg schickt! Dann ist auch die Frage erlaubt, um was für eine Tradi- Diese Interpretation mag nicht jeder teilen, sie hat ge- tion in welchem geschichtlichen Zusammenhang sie wiss auch eine persönliche Note, soll zum Nachdenken steht. gegenüber der Art von Musik anregen, die großartig scheint, aber „eingelullt“ hat und zum „Einlullen“ ge- Und da gibt es nur eine ganz klare Antwort: schrieben wurde! Diese Melodie muss im Zusammenhang mit der reakti- Von den Befürwortern des Deutschlandliedes und seiner onären monarchistischen Tradition gesehen werden. Sie Melodie wird der konservative, monarchische, obrig- ist eine bewusste Huldigung des „letzten Kaisers“, keitstreue Charakter dieser Melodie jedenfalls ganz be- knüpft die Fäden zum „1000 jährigen Reich“ des Mittel- wusst herausgestellt. alters und nicht zu einer fortschrittlichen und auch ge- gen den Kaiser gerichteten Volksbewegung! So schreibt H. Kurzke in „Hymen und Lieder der Deut- schen“ (Mainz 1990): Das soll hier nicht Haydn vorgeworfen und über seine Biographie nicht geurteilt werden . Es handelt sich ledig- „Auf dem Weg über die Melodie schwingt sogar das Gott lich um eine Tatsachenfeststellung, an die Adresse jener erhalte Franz den Kaiser noch mit, werden Restbestände der jahrhundertalten monarchistischen Prägung des gerichtet, die bei der Auswahl gerade dieser Melodie in deutschen Volkes aktiviert.“ Verzückung geraten und ganz schnell das vorher ge- nannte Argument fallen lassen, das Deutschlandlied (a.a.O., S. 46) stehe angeblich in „demokratisch-republikanischer“ Bei Hattenhauer, der den Gegensatz zur Melodie der Tradition! französischen Nationalhymne herausarbeitet, heißt es: In Hinblick auf den Text wurde diese Behauptung schon „Haydns Melodie stand in ihrer getragenen Bewegung widerlegt. ganz im Gegensatz zu den vom Rhein herandrängenden Tönen. Gottvertrauen und Zuversicht, Königsverehrung Umso mehr ist eine solche Behauptung absurd in Bezug und Opferbereitschaft schwangen mit, auch Sorge um auf die „Kaiser Franz“ gewidmete Melodie des Deutsch- die Zukunft des Reiches und Hoffnung auf die wunderba- landliedes, die – wie gesagt – den bewussten Bezug zum re Hilfe Gottes.“ alten Kaiserreich herstellt, zum „1000 jährigen Reich“, (Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, München 1984, das 1843 in einer pompösen Feier verherrlicht wurde. S. 44 f) Unabhängig von dieser Wertung ist es jedoch eine unbe- Im Begleittext des Erstdruckes „des Liedes der Deut- streitbar Tatsache, dass die Melodie Haydns sowohl von schen“ heißt es dann eben auch ausdrücklich: Haydn selbst, als auch von Hoffmann von Fallersleben „Melodie nach Joseph Haydn: „Gott erhalte Franz den bewusst in der Tradition des mittelalterlichen „1000 Kaiser, unsern guten Kaiser Franz“! jährigen Reichs“ gestellt wurde! Das alles war bewusst von Hoffmann von Fallersleben Diese Tatsache wird auch heute von den Befürwortern so und nicht anders entschieden! Gerade diesen Zu- des Deutschlandliedes hervorgehoben. Ulrich Ragozat sammenhang, diese Tradition wollte er betonen und hat schreibt dazu: er betont. Dies sei ein wenig auch aus der Sicht der Mu- sikwissenschaft untermauert. „Es ist zu berücksichtigen, dass es sich bei Kaiser Franz, dem durch die Textworte der Hymnenmelodie gehuldigt Was überhaupt Nationalhymnen angeht, so werden sie wurde, um den letzten „deutschen“ Kaiser des Heiligen von der Musikwissenschaft in drei große Kategorien Römischen Reiches Deutscher Nation handelt. (...) Somit eingeteilt, in wurde die Hymne von Haydn durchaus nicht auf Öster- reich beschränkt gesehen.“ a) Dynastie und Kaiserlieder (Gott erhalte Franz den (Ebenda, S. 57) Kaiser, Gott segne den König) In der Tat. Gerade die letzte Andeutung ist wohl wahr. b) in Revolutionshymnen (Frankreich) Ob das aber gerade heute und positiv „zu berücksichti- c) in Heimathymnen (Hymne der Tschechoslowakei, gen“ sei, das ist ja gerade die Frage, die eindeutig negativ Hymne Österreich nach 1945) zu beantworten ist Die Melodien der revolutionär orientierten Hymnen „Papa Haydn“ war der Lehrer von Beethoven, eines mögen an Signale erinnern, wieweit die Melodien einzel- großen in Bonn geborenen Komponisten. 1960 und ner Nationalhymnen Nationalcharakter ausdrücken, sei 1964, in Rom und in Tokio erklang Beethovens Hymne

36 „Freude schöner Götterfunken“ für die gemeinsame „Die schönste Nationalhymne, Mannschaft von Sportlern aus der DDR und der BRD. die je ein Volk besessen hat“ ? Der Verleger Klaus Piper hat in einer Umfrage in der In der 1951 erschienen Broschüre „Um die National- Zeit (Nr. 25/90) vorgeschlagen „Freude schöner Götter- hymne“ (herausgegeben von der 1936 gegründeten (!), funken“ als Hymne zu nehmen. Seine Begründung: stolz ihre 15 jährige Arbeit feiernden Hoffmann von „Schillers Text und die herrliche Musik führen uns aus Fallersleben-Gesellschaft) schreibt Furtwängler, eben nationaler Beschränktheit ins Licht einer Menschheitszu- jener Furtwängler, der Vizepräsident der NS- kunft.“ Reichsmusikkammer war, folgendes: Hintergrund von Beethovens – nicht einlullenderer, „Ich betone aber mit großem Nachdruck, dass die Melo- sondern aufrüttelnder Melodie war es, die begeisternden die vom Musikstandpunkt aus sicherlich mit Abstand die demokratischen humanistischen an alle Menschen der schönste Nationalhymne darstellt, die jemals ein Volk Welt gerichtete Inhalte der Französischen Revolution zu besessen hat.“ vermitteln. (1804 über den neuen Monarchen „Kaiser Na also, entfährt es einem – die beste Hymne haben also Napoleon“ zutiefst empört, strich Beethoven seine die Deutschen! Widmung „für Napoleon“ aus der „Eroica“) Bei Ulrich Ragozat heißt es ähnlich in seinem Buch „Die Beethoven hielt – zunächst – trotz und gegen Napoleon Nationalhymnen der Welt“ in typisch deutscher Über- an den Idealen der Französischen Revolution fest und heblichkeit: komponierte 1823 die 9. Symphonie in d-Moll mit Schil- lers Schlusschor „An die Freude“! „Damit ist die deutsche Nationalhymne in ihrem kunstvol- lem musikalischen Aufbau das einzige Staatslied, das Beethoven schrieb eine Variante des „Über alles“, die von einem weltweit als Klassiker anerkannten Komponis- unserer Obernationalen freilich nicht ins Konzept passt ten stammt“. „Freiheit über alles lieben, Wohltun, wo man kann! (a.a.O., S. 56) Wahrheit nie, auch sogar dem Thron nicht verleugnen“ Die dümmlich-arrogante und sachlich einfach falsche Freiheit über alles, oder Deutschland über alles, an den Behauptung wird vielfach nachgeplappert. Auch in ei- Idealen der Menschenrechte anknüpfen oder an den nem kürzlich erst neuen Artikel von Peter Wapnewski idealen des „Kaiser Franz“ – das war historisch gesehen (Zeit-Magazin Nr. 53, 29.12.89) steht diese falsche Be- die Wahl zwischen Beethoven und Haydn. Hoffmann hauptung, dort heißt es zum Deutschlandlied: von Fallersleben und die Deutsch-Nationalen überhaupt „die einzige der vielen Nationalhymnen auf dieser Welt, haben sich klar für Haydn entschieden. die das Werk eines großen Komponisten ist“. Unbeschadet einer legitimen Diskussion über National- Schon in der nächsten Nummer wurde dies in einem hymnen überhaupt, ist es doch sehr entlarvend, wie die Leserbrief an die Zeit als falsch kritisiert, da die Hymne Beethoven-Hymne abgekanzelt, als „ungeeignet“, ja als Österreichs der Melodie nach von Mozart ist. Ein im Grunde „undeutsch“ abgelehnt wird, die Haydn- Schweizer schrieb dies korrigierend. Melodie jedoch als „unübertroffen“ hochgelobt wird. Die Wahrheit ist, dass die Melodie der österreichischen Hansen bemerkt zur Beethoven-Hymne mit Schillertext: Nationalhymne in der Tat auf die von Mozart 1791 kurz „Nur ist sie eigentlich alles andere als ein Nationallied, vor seinem Tod entstandenen Freimaurerkantate zu- sondern im Sinne ihrer beiden Schöpfer eine Hymne der rückgeht! ganzen Menschheit.“ Es ist nicht anzunehmen, dass die Autoren von Büchern (Hansen, Heil Dir im Siegerkranz, Hamburg 1978, S. 77) und Artikeln zum Thema Nationalhymne dies nicht Und damit ist die Sache für einen Nationalisten wie wissen oder gar Mozart nicht als weltweit anerkannten Hansen eh erledigt. Klassiker behandelt sehen wollen! Sie wollen vermutlich auch ihr Publikum nicht bewusst belügen. So sollten sie Dass „Kaiser Franz“ den Lobpreiser Haydn dem Be- auch nicht ohne Rechtschutzversicherung und klare wunderer der Ideale der Französischen Revolution Beweise als Lügner und Betrüger bezeichnet werden. Beethoven vorgezogen hätte, ist eindeutig. Denn es gibt eine andere Möglichkeit, die womöglich Das zeigt, dass auch die heutigen Anhänger des noch katastrophaler, zumindest in politischer Hinsicht Deutschlandliedes nur eine ganz bestimmte Linie der ist, aber wenigstens die Ursache dieser Unwahrheit auf- „Bewahrung der Tradition“ huldigen – eben der mittelal- hellt : terlichen, reaktionären Linie, der nach rückwärts gerich- Österreich wird als Teil der deutschen Nation behandelt teten. Dahinter steht, dass die sich erst im 19. Jahrhun- und gehandelt, und da kommen Haydn und Hoffmann dert wirklich bildende deutsche Nation Stück für Stück von Fallersleben gerade recht. zurückverlegt werden soll ... bis zu Karl dem Großen, dem „1000 jährigem Reich“, bis zu den „teuschen Ur- wäldern“ der Germanen, bis zu „Hermanns Blut“.

37 Stern versehen, noch im KZ Auschwitz eine theoreti- Wie Österreich von Anhängern des Deutschlandlie- sche Arbeit gegen den deutschen Chauvinismus verfass- des zum Teil der „deutschen Nation“ erklärt wird te, wurde nach einer Flucht aus dem Lager Auschwitz in Warschau von der Gestapo 1944 ermordet. In dem Buch „Deutsche Nationalsymbole“ von Hans Der Einmarsch der Nazis in Österreich bedeutete die Hattenhauer (München 1984) wird gleich im Vorwort erste direkte Einverleibung einer anderen Nation ins unverfroren Österreich als dritter deutscher Staat gese- „großdeutsche Reich“. Es war eben nicht eine „inner- hen: Über die „Lage unserer Nation“ heißt es unverfro- deutsche“ Angelegenheit, wie international auch korrek- ren: „Sie besteht heute aus zwei, wenn nicht sogar drei terweise in den Verhandlungen und Dokumenten von Staaten“. Jalta, Teheran und Potsdam von den Mitgliedern der Damit jeder weiß, um was es geht, führt er aus: Anti-Hitler-Koalition eindeutig festgestellt worden war. „Unter diesen Umständen wird der Leser es nicht als Dort wurde ausdrücklich die Eigenständigkeit Öster- Ausdruck schlecht verhehlter Herrschsucht auffassen, reichs als Nation betont und garantiert. wenn hier auch auf die Symbole (...) in Österreich hinge- wiesen worden ist“. Der Slogan von Fallersleben, „Kein Österreich, kein Preußen mehr, ein einzig Deutschland groß und hehr“, (a.a.O., S 7) . (GW IV, S. 292), war um 1848 herum nicht unberech- Diese Lesart ist weiter verbreitet, als allgemein bekannt tigt. ist. Auch Joschka Fischer von den Grünen, der sich Der Nachsatz jedoch: „ein freies Deutschland, Gott selbst sicher eher als fortschrittlich einschätzt, behaupte- bescher“ zeigt, dass kaum drei Zeilen dieses Hoffmann te unverfroren in einem Gespräch in der FR vom 7.2.90, von Fallersleben zitiert werden können, ohne dass man dass Österreich ein Teil der deutschen „Kulturnation“ damit rechnen muss, dass „Gott“ oder „Kaiser“ etwas sei! Er erklärte, ihm seien: bescheren sollen. „zwei, mit Österreich zusammen drei, Demokratien in ei- ner Kulturnation eng verbunden, am liebsten.“ Anders jedoch musste die Haltung zu Österreich nach dem Krieg Preußens 1866 gegen Österreich und nach Das sind nicht theoretische Kleinigkeiten. Hier existiert dem Krieg 1870 gegen Frankreich aus beurteilt werden. ein sehr ernster historischer Hintergrund – die Einver- leibung Österreichs durch die Nazis 1938! Doch auch jetzt noch wiederholte Hoffmann von Fal- lersleben – als Lobpreiser der Bismarckschen mit eiser- In der Tat war vor dem Krieg 1866, etwa 1848, in der ner Faust betriebenen Einheit Deutschlands von oben – Phase der Herausbildung eines auch ökonomisch sich seine Forderung „kein Österreich, kein Preußen mehr“ einigenden Deutschlands die Möglichkeit angelegt, etwa unter klarer Ausnutzung der Prämisse, dass Haydn eben bei einer siegreichen demokratischen Revolution 1848 in eigentlich sein Lied für das damalige Österreich gedich- Frankfurt, Berlin und Wien, in den Städten und in den tet hatte, für einen Kaiser des „Heiligen Römischen ländlichen Gebieten eine „nichtpreußische“ Lösung Reiches Deutscher Nation“. durchzusetzen, die als „großdeutsche Lösung“ bekannt ist! Am 12. August 1870 schrieb H. von Fallersleben an T. Ebeling: Aber die Revolution 1848 scheiterte und 1866 war diese Möglichkeit durch den Krieg Preußen – Österreich fak- „Die Haydnsche Melodie ist nicht übertroffen worden und tisch beendet. So bildeten sich geschichtlich bedingt im das ist mir lieb: Es muss eine Melodie von einem Ende Deutschlands bis zum anderen gesungen werden“. Laufe der Jahre und Jahrzehnte trotz gleicher Sprache getrennte Nationen heraus, die deutsche Nation und die (Briefe: An meine Freunde“, 1907, S. 322) österreichische Nation! „So weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt! Wann genau diese getrennte Entwicklung endgültig Das soll es sein! Das soll es sein! abgeschlossen war, mag hier dahingestellt sein und den Das, wack’rer Deutscher, nenne dein“! Debatten der Historiker überlassen bleiben. Bedingt Dies dichtete, wie schon zitiert eben E. M. Arndt! durch die Tatsache, dass es bei dieser Frage fließende Übergänge gab, kam es immer und immer wieder bis in Die Vorstellungen, die die geschichtlich eigenständigen die Arbeiterbewegung hinein, ja bis zur Einverleibung Wege Deutschlands und Österreichs ignorierten, be- Österreichs durch Nazi-Deutschland noch zu Diskussi- günstigte all die Träume und Pläne nach einem „An- on über diese Frage, obwohl zwei Nationen längst Reali- schluss“ Österreichs an Deutschland schon vor der NS- tät waren. Zeit. Es bedurfte selbst in Österreich – darauf wies der Wie- Der Wiener Professor Rudolf Munch dichtete zu Pfings- ner Publizist Hermann Langbein in seinem Buch ten 1929 für die Wiener Tagung des Allgemeinen Deut- „...nicht wie die Schafe zur Schlachtbank“ (Frankfurt/M. schen Lehrerinnenvereins für die sogenannte „An- 1980, S. 65) hin – einer großen theoretischen Arbeit des schlussstrophe“ Kommunisten Dr. Alfred Klahr, seinen eigenen Mit- „in den Schoß des Mutterlandes kämpfer (gerade auch aus Deutschland) zu erklären, eine kehre Österreich zurück, nur im Bund der Bruderstämme eigenständige österreichische Nation herausgebildet hat. winkt uns Freiheit, blüht uns Glück! Dr. Alfred Klahr, der von den Nazis mit dem gelben Auch vom Donaustrand erschall es

38 wie ein Schwur zum Himmelszelt: dem Untertitel „Unsere Nationalhymne unter anderem Deutschland, Deutschland über alles von Silesia Clausthal, Salzburger zu Salzburg. Interes- über alles in der Welt“. sant, nicht wahr ? (zitiert nach: K. Dede, Die missbrauchte Hymne, Oldenburg 1989, S. 162) Die Debatte über das Deutschlandlied muss das alles mit einbeziehen. In der weiter oben zitierten Broschüre des Hessischen Kultusministeriums von 1989 heißt es – ohne jede Ab- Denn auch und gerade mit Hilfe der Ideologie des grenzung, bar jeder Grenzziehung, es ginge um Deutschland-Liedes, versuchen die reaktionären groß- „das Recht der Deutschen, sich in ihrem Sprach- und deutschen Kräfte hier (wie vereinzelt, aber erstarkend Kulturraum als geeintes Volk politisch selbst konstituie- auch in Österreich) die Nation Österreich als Teil ren zu können“ Deutschlands zu bezeichnen und zu behandeln! (a.a.O., S. 10) Der 1990 fast schwankungsfreie Wechselkurs von 1:7 und natürlich wird ergänzt mit Hilfe des Liedes von E. zwischen DM und Schilling lässt böse Zungen ja eh M. Arndt schon von einem wirtschaftlichen sprechen, – und so falsch ist diese Ansicht in mancherlei Hinsicht „soweit die deutsche Zunge klingt“ gar nicht. (a.a.O., S. 26) Dieser Aspekt ist auch insofern in aktuellen Diskussio- Dieser „Sprach- und Kulturraum“ ist ein wachsweicher, nen zu beachten, als Herr Kohl als Bundeskanzler der dehnbarer Begriff. Und „soweit die deutsche Zunge BRD im Wahlkampf in Österreich Herrn Waldheim, klingt“ ohnehin! einen seinesgleichen, direkt favorisierte, sich also für Damit hat man viele Möglichkeiten, vor allem mit vor- berechtigt hielt, dort in den Wahlkampf einzugreifen geschobenen deutschen Minderheiten in Osteuropa, die und öffentlich Waldheims Vorstellung von „soldatischer immer schon als Vorwand dienten, Grenzen zu ändern – Pflichterfüllung“ zu unterstützte, indem er ihn mit „gro- von der so eigentlich nur logisch erscheinenden Mög- ßer Patriot“ betitelte. lichkeit der Einverleibung Österreichs ganz abgesehen. Damit war gleichsam ideologisch von Herrn Kohl klar- „Es hat Symbolwert, dass die Melodie unserer National- gestellt, dass auch Österreich zum „Vaterland“ gehörte. hymne die des „Kaiserquartetts“ (Gott erhalte Franz, den Die Proteste sowohl gegen solch provokative Einmi- Kaiser) vom Österreicher Joseph Haydn stammt.“ schung als auch die indirekte Rechtfertigung der Anne- heißt es in der weit verbreiteten, auch an Schulen ver- xion Österreichs von 1938 durch die Ernennung des schickten Broschüre „Das Lied der Deutschen“ des Herrn Waldheims zum „Patrioten“ kamen bezeichnen- rechtsgerichteten Coburger Convents der Landsmann- derweise nicht von jenen, die so gerne das Deutschland- schaften und Turnerschaften an deutschen Hochschu- lied singen. len. Es ist klar, worin diese Leute den „Symbolwert“ sehen. Zusammengestellt wurde diese Broschüre mit

8. Zu einigen Mechanismen des Nationalismus

In Bezug auf die eindeutige Festlegung der Melodie des Berichts einer Zeitung aus dem Jahre 1954. In der Bun- Deutschlandliedes durch Hoffmann von Fallersleben ten Illustrierte 15/1954 hieß es nach dem Sieg bei der schreibt Dr. Abraham sehr treffend: Fußballweltmeisterschaft 1954: „Es war wie ein Gebet „Dass Hoffmann von Fallersleben mit der Haydnschen Kaisermelodie eine (...) gute Wahl getroffen hat, (...) dul- In Bern erklang das Deutschlandlied nicht als breitspuri- det keinen Zweifel.“ ger Triumphgesang. Es war wie eine Weihe, wie ein Ge- bet nach einem einmaligen Sieg. Es war wie eine Abkehr (Dr. Abraham, Das politische Moment im unpolitischen Lied, in: Das politische Lied, Bonn 1967, S. 87) von jeglichem Hurrapatriotismus, hin zu den eigentlichen, dauernden Werten unseres Volkes, die tief in seinem Dr. Abraham analysierte, warum diese Melodie Haydns Herzen verwurzelt sind. (...) so gut passte. Denn diese Melodie brachte Freilich zeigt sich immer wieder die Unmöglichkeit, nur „in das Lied jenen irrationalen, halb religiös, halb vater- die dritte Strophe zu singen und die erste und zweite fal- ländisch gefärbten Sinnhintergrund ein, der ein Lied erst len zu lassen. (...) zur Hymne macht“. Man steht wie betäubt! Neun Jahre nach einem beispiel- (Ebenda,S. 87) los verlorenen Krieg erklingt das Deutschlandlied bei ei- ner gewaltigen Sportveranstaltung im Ausland! (...) Und das ist ja der entscheidende Grund, warum es so schwer ist, ernsthaft über ein solches Lied mit dessen Ist dieses Lied nicht geweiht und geheiligt durch ein Meer von bitteren Tränen, durch Ströme von kostbarem Anhänger zu debattieren. in seinem Zeichen vergossenen Blut? Mit diesem Lied auf den Lippen stürmte einst Deutschlands akademische „Es war wie ein Gebet“ Jugend an einem grau verhangenen Novembertag 1914 bei Langemarck in die tödlichen Feuergarben der engli- Illustrieren wir die These Dr. Abrahams anhand eines schen Maschinengewehre. Dieses Lied trug auch die Ju- gend des Zweiten Weltkrieges im Herzen, als sie auf die

39 Schlachtfelder in West und Ost, in Süd und Nord geführt 10) „Der Mond ist aufgegangen“ wurde von den Machthabern eines gottverlassenen poli- tischen Systems.“ Vor fast hundert Jahren hieß es in einer Schrift „Beiträge (Bunte Illustrierte 15/54) zur Erziehung der deutschen Jugend mit besonderer Berücksichtigung der Pflege der Liebe zu Fürst und Es sei dahingestellt, ob der Burda-Verlag 1954 mehr alte Vaterland, Kaiser und Reich für Schule und Haus“, be- NS-Schreiber als Journalisten untergebracht hat als an- arbeitet von E. Hartmann, , Karlsruhe 1900: dere Verlage, deren Stil jedenfalls kommt hier deutlich durch und bestätigt Dr. Abrahams These. Deutlich „Das deutsche Lied ist mit dem ganzen Wesen des Vol- kes innig verwachsen; seine Wurzel ist in der deutschen sichtbar wird auch, welche Funktion die Nationalhymne Gemütlichkeit, in deutscher Geselligkeit und Gesanges- hat. lust zu finden. Die Kenntnis des deutschen Wesens ge- „...ohne Umweg über den Verstand“ winnt man nicht nur aus Darstellungen der Kämpfe Deutschlands, sondern auch aus denen der deutschen Ulrich Günter schrieb in einer Broschüre der Bundes- Dichtung und Musik.“ zentrale für Politische Bildung in seiner Fürsprache für (zitiert nach Dede, a.a.O., S. 48) das Deutschlandlied als Nationalhymne: Insofern ist übrigens die zweite Strophe „deutsche Frau- „Ein Symbol, auch ein Staatssymbol, soll emotional wir- en, deutscher Wein“ ganz und gar nicht untypisch, un- ken, soll das Gefühl unmittelbar ansprechen ohne Um- passend, sondern ein wichtiger Bestandteil jener „Ge- weg über den Verstand. Bei der Nationalhymne ist das in mütlichkeit“, die der deutsche Nationalismus seit 90 verstärktem Maße der Fall.“ Jahren, ja seit 150 Jahren als ein Punkt des „deutschen (Zur pädagogischen Dimension der deutschen Nationalhymne, Wesens“ markiert. in: Das Politische Lied, Bonn 1967, S. 75) „...ohne Umweg über den Verstand“, das sollte als Die tausendjährige Traditionslinie der Kernsatz der Motive markiert werden, mit denen die Befürworter solcher Nationalsymbole wie das Deutsch- Neben der Hymne zeigen sich die Mechanismen des landlied ihre Meinung darlegen. Ein Satz, der für sich Nationalismus parallel dazu besonders deutlich am spricht und mehr aussagt als lange Abhandlungen. Wappen. Völlig ohne jeden „Umweg über den In einem Vorwort zu einer „Wappenmappe der Bundes- Verstand“ wird hier akzeptiert, dass an einer ganz reak- zentrale für politische Bildung“ von Wilhelm von Stern- tionäre Tradition festgehalten wird. Dieses Raubtier im burg „Staatssymbole gehören immer zu den heimlichen Wappen, der Adler, verkörpert die Lebenslüge von der Verführern“ heißt es : tausend Jahre alten Deutschen Nation und ist in Wirk- lichkeit das Symbol von über tausend Jahren Raubkriege „Der Rausch, die Weigerung, der Vernunft zu folgen, wird auch durch das Hissen der Nationalflagge oder das der Kaiser und Könige nach außen und Ausplünderung gemeinsame Absingen der Hymne erzeugt. Staatsmän- des eigenen jeweiligen Untertanen-Volkes. ner oder Parteiführer, die suggerieren wollen, dass Stolz kommt bei den Nationalisten auf: Der Adler ist Selbstbewusstsein und historische Identität von der Nut- zung und Darstellung staatlicher Symbole abhängt, ha- nicht tot zu kriegen: ben – gelinde ausgedrückt – nichts aus der Geschichte „Der Adler als Sinnbild deutscher Staatlichkeit hat von al- gelernt.“ len deutschen Symbolen die älteste Tradition. Karl der (Frankfurter Rundschau, 17.3.87) Große ließ nach seiner Kaiserkrönung im Jahre 800 auf seiner Pfalz in Aachen einen ehernen Adler anbringen. Wen wundert es, dass dieses in Auftrag gegebene Vor- Der Adler – aus dem antiken Rom entlehnt – gehörte wort unter skandalösen Umständen abgelehnt wurde? fortan zur Repräsentation von Kaiser und Reich. Nach 1400 wurde der zweiköpfige Doppeladler zum Reichs- Nun muss festgestellt werden, dass nach 1945 außer der symbol und verkörpere das Römische Reich deutscher Nationalhymne als „Weihelied“ kein direkt politisch Nation bis zu seiner Auflösung im Jahre 1806. Das motiviertes Lied bei der Bevölkerung über die 10% Paulskirchenparlament übernahm 1848 den Doppeladler. Marke hinausgekommen ist. Das „unpolitische“ Lied Das deutsche Kaiserreich wählte 1871 den rechtssehen- spielte immer schon eine größere , wenn nicht entschei- den einköpfigen Adler als Symbol. Für die Weimarer Re- dende Rolle, selbst in der Nazi-Zeit. Denn es funktio- publik galt die Bekanntmachung des Reichspräsidenten niert von vornherein „ohne Umweg über den Verstand“. Friedrich Ebert vom 11. November 1919, in der er das neue Wappen, das wiederum der einköpfige Adler war, Eine Umfrage vor einigen Jahren ergab, was heute der präzise beschrieb. Im Hitlerreich wurde der Adler mit Deutschen liebste Lieder sind. Hier die ersten zehn: dem Symbol des Nationalsozialismus, dem Hakenkreuz, verbunden. Für die BRD gilt die von Bundespräsident, 1) „Kein schöner Land in dieser Zeit“ Bundeskanzler und Bundesinnenminister unterzeichnete 2) „Wenn die bunten Fahnen wehen“ Bekanntmachung vom 20. Januar 1950, die sich an die 3) „Im schönsten Wiesengrunde“ von Friedrich Ebert anlehnt.“ 4) „Das Wandern ist des Müllers Lust“ (E. Kuhn, Nationale Symbole der Deutschen, herausgegeben 5) „Wir lagen vor Madagaskar“ vom „Bund der Vertriebenen“, Bonn 1989, S. 14) 6) „Im Wald und auf der Heide“ Knapp zusammengefasst wird hier die Ideologie der 7) „Sah ein Knab ein Röslein stehn“ ungebrochenen Kontinuität deutscher Geschichte, ge- 8) „Auf auf zum fröhlichen Jagen“ nauer gesagt, deutscher Herrscher, vorgestellt. Heinrich 9) „Es ist ein Ros entsprungen“ Heine sah diesen Vogel und schrieb:

40 Aber dieser Adler als Symbol der reaktionären Traditio- nen in der Geschichte Deutschlands und seiner Vorläu- fer dient auch noch als Quelle der drei Farben: Schwarz– Rot–Gold. Um diese Fahnen gibt es auch eine Fülle von hochwis- senschaftlich aussehenden Abhandlungen, ob nun diese Farben auf dem Adlerwappen schon vorhanden gewe- sen wären (Schwarzer Adler, gelbe Krallen, rote Zunge, oder rote Kralle mit goldenem Rand usw.) oder nicht, ob erst die Jahns im Kampf gegen Napoleon (Lützows wilde, verwegene Jagd, goldene Knöpfe, rote Aufschlä- ge, schwarze Uniform) diese Fahne geschaffen haben, etc. Obwohl sich bei diesem Adler keinen geniert, genieren sich bei der Fahne Schwarz-Rot-Gold einige, den Zu- sammenhang zur Monarchie zuzugeben. Angeblich sei diese Farbe das Produkt der demokratischen Revolution 1848. Das ist in mancher Hinsicht, etwa in Hinblick auf die Verbreitung, so falsch nicht, aber das schließt ange- sichts der auch mittelalterlich beeinflussten Ideologie der Burschenschaftler eben nicht aus, dass ausgerechnet diese Farben gewählt wurden, um die Tradition des Mit- telalters zu betonen. Bei all diesen Spekulationen gibt es jedoch klare Tatsa- chen über das, was 1848 in den Köpfen jener vor sich ging, die am 9. März 1848 den „Bundesbeschluss über Wappen und Farben des Deutschen Bundes“ fassten. Dort werden Wappen und Farben klar in einen inneren Zusammenhang gestellt, um beide als Symbol der „tau- sendjährigen Einheit“ zu verwenden. Es heißt in diesem amtlichen Dokument: „Die Bundesversammlung erklärt den alten deutschen Reichsadler mit der Umschrift „Deutscher Bund“ und die Farben des ehemaligen Reichspaniers – schwarz, roth, gold – zu Wappen und Farben des Deutschen Bundes.“ In der Begründung für diesen Bundesbeschluss heißt es zunächst zum Wappen, dass es „geschichtliches Symbol der tausendjährigen Einheit der verschiedenen deut- schen Stämme“ sei. Und zu den Farben heißt es an- schließend: „Eben so werden die Bundesfarben der deutschen Vor- zeit zu entnehmen seyn, wo das deutsche Reichspanier schwarz, roth und golden war.“ (zitiert nach: Grix / Knöll, Flaggen und Hymne, a.a.O., S. 20) Auf dem Hambacher Fest wurde ausdrücklich der Zu- sammenhang mit Kaiser Barbarossa beschworen und folgendes Gedicht vorgetragen : „Fahnen, schwarz und rot und golden (...) Deutschlands alte stolze Farben „Zu Aachen, auf dem Posthausschild, Einst dem Rotbart vorgetragen“ Sah ich den Vogel wieder, (Zitiert nach: Busch, Schwarz-Rot-Gold, Offenbach 1952, S. 32) Der mir so tief verhasst! Voll Gift Schaut er auf mich nieder. Auch der Dichter Freiligrath schrieb in seinem sehr Du hässlicher Vogel, wirst Du einst populären Gedicht „Schwarz, Rot, Gold“: Mir in die Hände fallen, „Das ist das alte Reichspanier, So rupfe ich Dir die Federn aus das sind die alten Farben Und hacke dir ab die Krallen“ Darunter haun und holen wir (Heine, Deutschland, ein Wintermärchen, Werke Band I, Frank- uns bald wohl junge Narben“ furt/Main 1968, S. 429 f) (Werke in einem Band, Berlin 1980, S. 118)

41 Das alles sollte bewusst sein, wenn die Ideologen der Selbstbewusstsein auf Grund eigener Leistung, sondern deutschen Geschichte frei von Fakten und Tatsachen nur über den Rückgriff auf das große anonyme nationale die Farben Schwarz Rot Gold so darstellen, als hätten Sammelsurium. sie einen wirklichen Bruch mit der mittelalterlichen Ge- Das braucht er! Und er identifiziert sich gemäß der nati- schichte und seiner Symbole beinhaltet. Das war eindeu- onalistischen Schiene dann vor allem mit den Großen, tig nicht der Fall. Nur nebenbei soll erwähnt werden, den großen Herrschern, Dichtern, Musikern! dass im sogenannten Flaggenstreit „Schwarz-Weiß-Rot gegen Schwarz-Rot-Gold“ beide Seiten sich heftig dar- Der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer auf beriefen, dass doch nachweislich jeweils ihre Far- schrieb 1945: benkombination die des tausendjährigen Reiches seien. „Dass ich zum Beispiel Österreicher bin, ist mir auch mit Das Verbot der Schwarz-Rot-Goldenen Flagge durch einer Fülle widerwärtigen Individuen gemeinsam, so die Preußen hat zu dem Mythos beigetragen, das diese dass ich es mir verbieten möchte, lediglich mit Hilfe jenes Flagge eine konsequent demokratische Tradition hätte. Begriffes bestimmt zu werden“ Aber warum soll auch die Flagge viel besser sein als das Denn daran könnten nur jene interessiert sein, Wappen? „die Grund haben, vor sich selbst auf der Flucht zu sein und in einem begrifflichen Sammellager Unterschlupf zu Die „großen Deutschen“ suchen, wo Werte ausgeteilt werden, die sich jeder leicht anheften kann...“ Die Betonung der 150 Jahre Deutschlandlied, die Beto- (zitiert nach einem Leserbrief in: Die Zeit, Nr. 12/89) nung des „großen Deutschen“ Hoffmann von Fallersle- Das ist sehr treffend beobachtet, denn das unbestreitba- ben, ja die generellen Mechanismen überhaupt, den re existierende nationale Moment wird in den Vorder- Stolz auf „große Deutsche“, also auf die Taten anderer grund geschoben, um die eigentlichen Widersprüche zu zu produzieren, war lange vor der NS-Zeit gang und vertuschen. gäbe, wurde aber von der Nazi-Propaganda mit kon- Ganz anders und eben nicht damit zu vergleichen ver- zentrierten staatlichen Mitteln perfektioniert. steht sich das Prinzip der gewerkschaftlichen Solidarität. Adolf Hitler schrieb in „Mein Kampf“: Denn diese Gemeinsamkeit beruht auf einer bewussten „Auch in der Wissenschaft hat der völkische Staat ein Entscheidung der Beteiligten etwa bei einem Kampf, bei Hilfsmittel zu erblicken zur Förderung des Nationalstol- einem Streik mit gemeinsamen Zielen. Diese Solidarität zes. (...) Die Bewunderung jeder großen Tat muss umge- enthält zwar auch Emotionen, kann aber keineswegs gossen werden in Stolz auf den glücklichen Vollbringer „ohne Umweg über den Verstand“ durchgesetzt werden. derselben als Angehörigen des eigenen Volke. (...) Aus der Unzahl all der großen Namen der deutschen Ge- Die gewerkschaftliche Solidarität erfordert möglichst viel schichte aber sind die größten herauszugreifen und der Verstand – und damit ist man oft kurzfristig im Nach- Jugend in so eindringlicher Weise vorzuführen, dass sie teil. Auch die gemeinsame Diskussion, Erörterung und zu Säulen eines unerschütterlichen Nationalgefühls wer- Debatte sind ein Wesensmerkmal der richtig verstande- den. Planmäßig ist der Lehrstoff nach diesen Gesichts- punkten aufzubauen, planmäßig die Erziehung so zu nen gewerkschaftlichen Solidarität. gestalten, dass der junge Mensch beim Verlassen seiner Der Mechanismus des herrschenden Nationalismus Schule nicht ein halber Pazifist, Demokrat oder sonst dagegen beruht auf der blinden Identifizierung mit der was ist, sondern ein ganzer Deutscher.“ ganzen Geschichte des „Vaterlandes“. Selbst wenn not- (Hitler, Mein Kampf, München 1937, S. 473 f) gedrungen zugegeben wird, dass dies oder das „nicht so Dieser hier von Hitler nicht erfundene, sondern nur gut“ in der Geschichte Deutschlands war : Es wird baga- kaltblütig übernommenen Mechanismus führt auch da- tellisiert und verdrängt („nur 12 Jahre“), denn der natio- zu, dass Kritik an nationalen Symbolen (dazu gehört nalistisch beeinflusste Mensch zieht ja den Großteil nicht nur die Hymne, das Wappen, die Flagge, sondern seines eigenen Selbstbewusstseins aus diesem „Deutsch- auch die „Ahnenreihe“ der „großen Deutschen „ sofort sein“, so dass er jede Aufdeckung der Verbrechen in der als persönlicher Angriff aufgefasst wird. Diese Mentali- Geschichte Deutschlands als Teil der Schwächung seines tät, dieser Mechanismus des im Einzelnen verankerten Selbstbewusstseins begreift. Daher rührt auch die uner- Nationalismus wurde vor über 100 Jahren schon aufge- hörte Aggressivität, ganz persönlich, bei den Nationalis- deckt und aufs Korn genommen. ten gegenüber jenen, die die Verbrechen in der Ge- In Ungarn wurde mit folgendem Vers dagegen polemi- schichte Deutschlands bezeugen. siert: Die Verbrechen in der Geschichte Deutschlands werden „Was ist des Deutschen Vaterland? von den Nationalisten nicht an und für sich als Verbre- Wo’s Pulver einer einst erfand chen empfunden, nein sie werden nur deswegen als und heute noch jeder denkt dabei, schlimm empfunden, weil sie den „Ruhm Deutschlands“ dass er der Miterfinder sei!“ beschmutzen. Und daher rührt auch der Wunsch nicht Minderwertigkeitskomplexe und Größenwahn, der arme darüber zu sprechen. Und so erklärt sich auch teilweise immer betrogene, angeblich so gutmütige und gemütli- die Aggressivität gegenüber allen, die diese Verbrechen che deutsche Michel, die Rechtschaffenheit in Person, aufdecken, daran erinnern und nicht vergessen wollen. der aber, wenn er losschlägt alles vernichtet, was sich Die Überlebenden des Völkermordes aber, und auch ihm in den Weg stellt – dieser Menschentyp hat kein ihre Kinder sind eine lebendige Erinnerung an diese

42 „dem Ruhm Deutschlands“ abträglichen Verbrechen. növer. Allein ihre Existenz , selbst wenn sie kein Wort über die NS-Verbrechen sagen, „provoziert“ sozusagen die Erin- Berechtigte Ängste der Opfer des NS-Regimes nerung, die verdrängt werden will. Seit November 1989, seit der ganzen sich überschla- Der harte, treffende Satz: „Die Deutschen (Nationa- genden Entwicklung in Deutschland, wird in der Presse listen) werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“ ab und an das Thema angeschnitten, es gebe da doch drückt genau diesen Aspekt aus. noch einige „ewig Gestrige“, die gar Angst vor der Die Mentalität: „Recht oder Unrecht – mein Land“ Wiedervereinigung Deutschlands hätten. So titelte die FAZ am 14. Februar 1990 in dicken Let- „Recht oder Unrecht – mein Land“. Dieser Wahlspruch tern: „Jiddische Ängste vor der Einigung Deutsch- (des Nationalismus aller Länder) hat in keinem Land der lands“. Was soll das sein, „jüdische Ängste“? Damit Welt zu solchen Verbrechen geführt, wie in Deutsch- auch gleich jeder sieht, dass das auf jeden Fall nichts land. „Normales“ sein kann, textet der Verfasser Günther Gegen diesen Wahlspruch kämpften schon Börne und Gillessen gleich weiter die Unterzeile: „Alte Bilder ver- Heines. In ihrer Tradition wurde von den Linken gegen decken die Realität einer deutschen Demokratie“. Das den Kriegstaumel im 1. Weltkrieg angekämpft, in dieser ist gekonnt! Tradition wurde während der Nazi-Zeit der Nationalis- mus bekämpft. Unter anderen Bedingungen hat diese Tradition auch heute seine Bedeutung, denn die Mentali- tät „Recht oder Unrecht, mein Vaterland“ ist nicht tot! Ludwig Börne schrieb : „Welchen Jammer hat nicht die Liebe des Vaterlandes schon der Menschheit verursacht! Wie viel hat diese lüg- nerische Tugend nicht an wilder Wut aller anerkannten Laster übertroffen. Ist der Egoismus eines Landes weni- ger ein Laster als der eines Menschen? Hört die Gerech- tigkeit auf, eine Tugend zu sein, sobald man sie gegen ein fremdes Volk ausübt? Eine schöne Ehre, die uns verbietet, uns gegen unser Vaterland zu erklären, wenn die Gerechtigkeit ihm nicht zur Seite steht“. (zitiert nach: Ludwig Börne, Marcuse, Zürich 1980, S. 186)

„Aber die Anderen haben doch auch...“

Es klingt wie das nach einem Eingeständnis eines klei- nen Fehlers, aus dem man sich sofort herausredet wie ein kleines Kinde, dass doch „die anderen auch“ dies oder jenes getan hätten. Meist wird dieses „die anderen haben doch auch ... “ konkretisiert am Beispiel der Fran- zosen und ihres „Nationalismus“, ihre Hymne. Nun, da lässt sich entgegnen, dass an der Wiege der französi- schen Nationalhymne immerhin die welterschütternde bürgerliche Revolution in Frankreich stand. Oder auch, dass es das Lied der Résistance war. Doch solche Argumente greifen womöglich doch zu kurz. Denn in der Tat war dies Lied auch im Ersten Weltkrieg eine Hymne, die zigtausend junge Franzosen in den Tod trieb. Und sie war das Lied jener französi- schen Soldaten, die in Vietnam und Algerien Kolonial- krieg führten. Diese Hymne wurde wirklich missbraucht. Der Nationalismus ist auch in Frankreich übel, ebenso in England und das ist keine große Neuigkeit. Die Probleme fortschrittlicher, gewerkschaftlicher Be- wegungen in anderen Ländern mit „ihrer“ Hymne, sind Hier wird suggeriert, dass „jüdische Ängste“ mit der gewiss interessant. Die Berufung auf deren Nationalis- Realität eben nichts zu tun haben. Und dahinter steckt, mus aber, die das Ziel hat, hier bei uns die Auseinander- dass die bösen Erfahrungen mit dem NS-Regime nicht setzung mit dem Nationalismus abzuschwächen oder den Blick geschärft, sondern eher zur Blindheit geführt lächerlich zu machen, ist nichts als ein Ablenkungsma- hatten: „Alte Bilder verdecken“ eben das Heute. So werden die Opfer des Völkermordes, die überlebt ha-

43 ben, abgekanzelt. So werden heute Vorurteile gegen neigt, mehr zu tun, als auf ihre Art die Vergangenheit des „jüdische Ängste“ und dabei natürlich gegen „die Ju- Dritten Reichs, wie es damals hieß, zu bewältigen. den“ geschürt, eine Prise „Verständnis“ und ein Pfund In diesen Tagen, da die Deutschen gleichzeitig für ihre kaltes Wasser drüber und diese Methode der Demago- Industrieprodukte die Weltmarkte eroberten und daheim gie funktioniert. nicht ohne eine gewisse Ausgeglichenheit mit der Bewäl- tigung befasst waren, verdichteten sich unsere – oder Im September 1990 haben über 40 ehemalige Partisa- vielleicht darf ich zurückhaltend nur sagen: meine Res- nen, jüdische Partisanen, in Jerusalem vor der Gedenk- sentiments. stätte Yad Vashem nicht nur gegen die Giftgaslieferun- Ich war Zeuge, wie die deutschen Politiker, von denen gen deutscher Firmen an den Irak protestiert, sondern sich, wenn ich recht unterrichtet war, nur wenige im Wi- auch gegen die durch die Vereinigung Deutschlands derstandskampf ausgezeichnet hatten, eiligst und enthu- siastisch den Anschluss an Europa suchten: Sie knüpf- entstehenden Gefahren. Die Angst vor dem erstarkten, ten mühelos das neue an jenes andere Europa, dessen großen Deutschland bei den Überlebenden des Völker- Neuordnung Hitler in seinem Sinne bereits zwischen mordes, die real existierende Angst, ist nicht das Hirnge- 1940 und 1944 erfolgreich begonnen hatte. Es war auf spinst von Psychopathen, die halt „über Auschwitz ver- einmal ein guter Boden für Ressentiments, da brauchten rückt geworden sind“, und vor lauter „alten Bildern“ nicht erst in den deutschen Kleinstädten jüdische Fried- höfe und Mahnmale für Widerstandskampfer geschändet keinen Sinn mehr für die heutige Realität haben. Im werden, Es genügten Gespräche wie eines, das ich mit Gegenteil, diejenigen, die Auschwitz erlebt und überlebt einem süddeutschen Kaufmann 1958 beim Frühstuck im haben, kennen auch die Vorgeschichte der NS-Zeit vor Hotel geführt hatte, Der Mann versuchte mich, nicht ohne allem die Gefahr des raschen, mehr oder minder uner- vorherige höfliche Erkundigung, ob ich Israelit sei, zu ü- warteten Umschlagens von bloß nationalistischem Tau- berzeugen, dass es Rassenhass in seinem Land nicht mehr gebe, Das deutsche Volk trage dem jüdischen mel zur offen erklärten NS-Diktatur, zu Raubkrieg und nichts nach; als Beweis nannte er die großzügige Wie- Völkermord. Die Überlebenden des Völkermordes sind, dergutmachungspolitik der Regierung, wie sie übrigens wie Hermann Langbein, Sekretär des Comité internatio- auch von dem jungen Staat Israel voll gewürdigt werde. nal des camps formulierte, „Seismographen“, sehr sen- Ich fühlte mich miserabel vor dem Mann, dessen Gemüt sible Beobachter der aktuellen Entwicklung. im Gleichen war. (...) Die wir geglaubt hatten, der Sieg von 1945 sei wenigstens zu einem geringen Tell auch Jean Amery, Mitglied der Résistance in Belgien, als jüdi- unserer gewesen, wurden genötigt, ihn zurückzunehmen. scher Häftling außer in Buchenwald, Bergen-Belsen und Die Deutschen trugen den Widerstandskämpfern und anderen KZ auch Häftling in Auschwitz-Monowitz, Juden nichts mehr nach. Wie durften diese da Sühnefor- hatte einiges zu sagen über Deutschland. Und über die derungen stellen?“ Versuche, die Warnungen oder auch nur die Beobach- (Jean Amery, Jenseits von Schuld und Sühne, Stuttgart 1980, S 107 ff) tungen jener, die mit der Nummer auf dem Unterarm . aus den Lagern kamen, als Äußerungen von halb oder Weiter heißt es: ganz „Verrückten“, die am „KZ-Syndrom“ litten, abzu- „Nur ganz verstockter, moralisch verdammenswerter und stempeln. Er schrieb über Deutschland: geschichtlich schon abgeurteilter Hass klammere sich an eine Vergangenheit, die offensichtlich nichts anderes war „Zum ersten Mal stutzte ich 1948 bei der Durchfahrt als ein Betriebsunfall der deutschen Geschichte und an durch Deutschland im Eisenbahnzug. Ein Zeitungsblatt der das deutsche Volk in seiner Breite und Tiefe kein An- der amerikanischen Besatzungsmacht fiel mir da in die teil hatte. Hand, und ich überflog einen Leserbrief, in dem es ano- nym an die Adresse der Gls hieß: ‚Macht euch nur nicht Ich selber aber, zu meiner Seelennot, gehörte zur miss- so dicke bei uns – Deutschland wird wieder groß und billigten Minderheit derer, die da nachtrugen. Hartnäckig mächtig werden. Schnürt euer Ränzlein, ihr Gauner.’ Der trug ich Deutschland seine zwölf Jahre Hitler nach, trug offenbar teils von Goebbels, teils von Eichendorff inspi- sie hinein in das industrielle Idyll des neuen Europas und rierte Briefschreiber konnte damals so wenig wie ich ah- die majestätischen Hallen des Abendlandes (ebenda: S. nen, dass es diesem Deutschland in der Tat bestimmt 86). Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als war, großartigste Macht-Wiederauferstehung zu feiern. die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wort- Ich stutzte nur, weil es so einen Korrespondenten über- verstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Be- haupt gab und weil ich eine deutsche Stimme vernahm, triebspanne wird schließlich erscheinen, dass immerhin die anders klang als ich meinte, dass ihr auf lange Zeit manche von uns überlebten. hin zu klingen auferlegt sei: Nach Zerknirschung. Von Ich fahre durch das blühende Land, und es wird mir im- Zerknirschung war dann in den kommenden Jahren im- mer weniger wohl dabei ... Ein stolzes Volk, Ein stolzes mer weniger die Rede. Der Paria Deutschland wurde erst Volk, immer noch, Der Stolz ist ein wenig in die Breite aufgenommen in die Gemeinschaft der Volker, danach gegangen, das sei zugegeben. Er presst sich nicht mehr hofierte man ihn, schließlich musste man ganz emotions- in mahlenden Kiefern heraus, sondern glänzt in der Zu- frei im Mächtespiel mit ihm rechnen. friedenheit des guten Gewissens und der begreiflichen Man kann billigerweise von niemandem verlangen, dass Freude, es wieder einmal geschafft zu haben. Er beruft er unter diesen Umständen – Umständen eines beispiel- sich nicht mehr auf die heroische Waffentat, sondern auf losen wirtschaftlichen, industriellen, auch militärischen die in der Welt einzig dastehende Produktivität. Aber es Aufstiegs – sich weiter die Haare raufe und an die Brust ist der Stolz von einst, und es ist auf unserer Seite die schlage. Die Deutschen, die sich selbst durchaus als Op- Ohnmacht von damals.“ fervolk verstanden, da sie doch nicht nur die Winter vor (Ebenda, S 110) Leningrad und Stalingrad hatten überstehen müssen, . . nicht nur die Bombardements ihrer Städte, nicht nur das An anderer Stelle heißt es: Urteil von Nürnberg, sondern auch die Zerstückelung ih- res Landes, sie waren allzu begreiflicherweise nicht ge- „Es konnte ja sein, dass ich krank bin, denn objektive

44 Wissenschaftlichkeit hat aus der Beobachtung von uns heißt es dann. Als ob der Antisemitismus nicht ganz und Opfern in schönster Detailliertheit bereits den Begriff des gar unabhängig sogar von der Existenz von Juden wäre. ‚KZ-Syndroms’ gewonnen. Wir alle seien, so lese ich in Wenn nichtjüdische Stimmen sich gegen das imperialis- einem kürzlich erschienenen Buch über >Spatschaden nach politischer Verfolgung< nicht nur körperlich, son- tische Deutschland innerhalb Deutschlands erhoben, so dern auch psychisch versehrt ... wie die Stimme von Brecht, so wurden und werden sie schnell zu Judengenossen oder zur „Judensau“ erklärt. Wir sind, so heißt es, ‚verbogen’. Das lässt mich flüchtig an meine unter der Folter hinterm Rücken hochgedreh- So stand es 1990 auf dem Grab von Brecht, nachts von ten Arme denken.“ Neonazis draufgeschmiert. (Ebenda, S. 127). Tucholsky schrieb seinerzeit, dass in der Weimarer „Bin ich vielleicht psychisch krank und laboriere ich nicht Republik das Deutschlandlied „leider mit sehr viel an einem unheilbaren Leiden, nur an Hysterie? Die Fra- Recht“ zur Nationalhymne geworden ist. Er meinte, es ge ist bloß rhetorisch, ich weiß, was mich bedrängt ist entsprach halt doch dem Geist der Zeit. keine Neurose, sondern die genau reflektierte Realität. Es waren keine hysterischen Halluzinationen, als ich das Es war zu befürchten, dass das Lied „Deutschland über „Verrecke“ hörte und im Vorbeigehen vernahm, wie die alles“, mit seiner dritten Strophe – laut den Verhand- Leute meinten, es müsse doch wohl eine verdächtige lungen über den Einigungsvertrag, wie die Bild-Zeitung Bewandtnis haben mit den Juden, denn andernfalls wür- vom 1. August 1990 meldete, mit „gutem Recht“ die de man kaum so streng mit ihnen verfahren ... ich muss Nationalhymne bleibt: Von einer, wie Tucholsky schon wohl zu dem Ergebnis kommen, dass nicht ich gestört damals sagte, „von allen guten Geistern verlassenen bin oder gestört war, sondern dass die Neurose auf Sei- ten des geschichtlichen Geschehens liegt... Republik zu ihrer Nationalhymne erkoren“. Das Lied scheint eben auch heute dem Zeitgeist zu entsprechen. Der Antisemitismus, der mich als einen Juden erzeugt hat, mag ein Wahn sein, das steht hier nicht zur Debatte. Ja, die Mehrheit der Deutschen müsste erst einmal be- Jedenfalls aber ist er, Wahn oder nicht, ein geschichtli- weisen, dass sie sich wirklich geändert hat. Und da langt ches und soziales Faktum: ich war nun einmal wirklich in es selbstverständlich keinesfalls, nicht mehr dieses Auschwitz und nicht in Himmlers Imagination. Und Wirk- lichkeit ist er noch immer, das können nur völlig Sozial- furchtbare Lied zu singen. Aber ein kleiner Schritt in und Geschichtsblindheit ableugnen, Er ist es in seinen die richtige Richtung wäre es – vielleicht. Kernländern, Österreich und Deutschland, wo die Nazi- kriegsverbrecher nicht oder zu lächerlich geringen Frei- Als am 9. und 10. November 1989, ein Jahrestag des heitsstrafen verurteilt wurden, von denen sie meist kaum Pogroms gegen die jüdische Bevölkerung in Deutsch- ein Drittel absitzen.“ land 1938, auch die Mauer fiel, und Kohl, Vogel und (Ebenda, S. 149 f) Momper vor Tausenden in Berlin das Deutschlandlied jämmerlich grölten und krächzten, und Tausende sie Wenn in Deutschland heute ein Politiker wie Stoiber auspfiffen und auslachten, da blitzte so einen Augen- von „durchrasst“ reden darf, ohne um seinen Posten blick die Möglichkeit durch, als wäre das Deutschland- fürchten zu müssen, wenn Wirtschaftsminister Hauss- lied nun doch endlich der Lächerlichkeit preisgegeben. mann eine „reinrassige Marktwirtschaft“ fordert und Weit gefehlt. Es erklang wieder und wieder im Bundes- Theo Waigel die DM als „unsere schärfste Waffe“ be- tag. Auch und angeblich „spontan“ wie es in der zeichnet und Kohl in Karl-Marx-Stadt vom Podium aus „Frankfurter Rundschau“ vom 21. September 1990 den Bürgern zuruft: „Wollt ihr unsern Wohlstand“ (zi- hieß, als der Bundestag dem „Einigungsvertrag“ zuge- tiert nach L. Heid, in: Tribüne, Nr. 114, S. 112 ff) und stimmt hatte. als Zeitraum, für die jetzt die Vereinigung Deutschlands geschaffen würde, die Zahl „tausend Jahre“ beschwort So wird auch in den nächsten Jahren das Deutschland- (taz, 1.8.90), und all dies geschieht, ohne dass ein Sturm lied Begleitmusik des deutschen Nationalismus bleiben der Entrüstung durch die Lande jagt, dann sind das böse – nach der so genannten „Vereinigung Deutschlands“, Zeichen für das Überleben einer Ideologie und einer wie davor in der BRD, wie davor in der NS-Zeit, wie Sprache, die ungeachtet aller politischen Änderungen vorher in der Weimarer Republik, wie damals im Ersten offensichtlich weitaus vollständiger intakt ist, als man- Weltkrieg, wie damals im Krieg gegen Frankreich cher ahnt. 1870/71, wie bei Hoffmann von Fallersleben, der woll- te, dass das deutsche Volk „das erste Volk auf Erden“ Hitler schrieb in „Mein Kampf“: werde. „So ist der Jude heute der große Hetzer zur restlosen Zerstörung Deutschlands. Wo immer wir in der Welt An- Aber die Gegner einer solchen Entwicklung wer- griffe gegen Deutschland lesen, sind Juden ihre Fabri- den, innerlich verbunden mit der fortschrittlichen kanten.“ Tradition des Kampfes gegen den Nationalismus in (München 1937, S. 702 f) Deutschland, langsam, aber doch über Rückschläge hinweg nicht nachlassen. Es bleibt zu hoffen und Hitler lügt wie immer, so auch hier. Aber auch diese daran zu arbeiten, dass gerade auch innerhalb der Lüge wirkt nach und soll zudem jüdische kritische Gewerkschaften die Tradition dieses Kampfes ge- Stimmen auch heute wieder zum Verstummen bringen. gen den deutschen Nationalismus an Kraft und „Wenn Juden etwas gegen den deutschen Nationalismus Einfluss gewinnt. Und das möglichst bald. sagen, dann schürt das ja nur den Antisemitismus“,

45 Literaturhinweise zum Thema „Deutschlandlied“ Die umfangreichste Arbeit über das Deutschlandlied verfasste H. Gerstenberg 1933 in der Nazi-Zeit und im Nazi-Geist mit dem Titel „Deutschland, Deutschland, über alles!“ Aus dieser ausführlich, ja akribisch-historische Quellen zitierenden Nazi-Schrift beziehen die meisten der nachfolgenden Befürworter des Deutschlandliedes wiederum ihr Material und oft genug ihre falschen Schlussfolgerungen. Denn das natio- nalistische und nationalsozialistische Gedankengut dieses Machwerkes wird nicht analysiert und kritisiert. Unter den bisher erschienenen kritischen Texten muss der spritzige Aufsatz von Enzensberger „Auferstanden über alles“ hervorgehoben werden. Auch das umfangreiche Werk von Klaus Dede „Die missbrauchte Hymne“ (der Titel ist nicht tref- fend gewählt, da Dede selbst nachweist, dass diese Hymne von den Nazis gut genutzt, nicht aber „missbraucht“ wurde) leis- tet eine gekonnte Analyse vieler um das Deutschlandlied herum angesiedelter nationalistischer Gedichte und Lieder.

1. Eindeutige NS-Literatur Hermann Kurzke, Hymnen und Lieder Klaus Dede, Von der Meuse bis an den Heinrich Gerstenberg, Deutschland über der Deutschen, Mainz 1990. Njemen… In: „Konkret“, Heft 6/1988. alles!, München 1933. Helmut Lamprecht, Deutschland, Ulrich Enzensberger, Auferstanden über Kurt Eggers, A. H. Hoffmann von Fallers- Deutschland, Politische Gedichte vom alles, Berlin 1986. leben, 1941. Vormärz bis zur Gegenwart, Bremen Lost Hermand, Zersungenes Erbe. In: 1969. Ernst Hauck, Das Deutschland-Lied, „Basis Jahrbuch für deutsche Gegen- Dortmund 1941. Birgit Lermen, „...des Glückes Unter- wartsliteratur“, Heft 7/1977. pfand“ – Versuch einer Deutung des Karl Handrich, Deutschland über alles in Wilhelm Marquardt, Hoffmann von Fal- Deutschlandliedes. In: „Unverdrossen für lersleben, Hamburg 1942. der Welt? In: „Die Stimme der Gemein- Europa“, Festschrift für Kai Uwe von de“, Heft 7/1954, Rudolf Alexander Moißl, Das Lied der Hassel, Baden-Baden 1988. Deutschen, 1941. Helmut Maier, Von der Maas bis an die Theodor Neef, Hoffmann von Fallersle- Memel? Eine Republik ohne rechtsver- Adolf Moll, Deutschland, Deutschland, ben als vaterländischer und politischer bindliche Nationalhymne, Winterlingen, über alles, Leipzig/Wien 1940. Dichter, Münster 1912. o.J. 2. Nationalistische oder nationalis- Max Preiß,. Hoffmann von Fallersleben Margret Ott, Dieter Holterhoff, Deutsch- tisch beeinflusste Materialien und sein Deutschlandlied. In: Jahrbuch land, Deutschland über alles? In: „Betrifft des Freien Deutschen Hochstifts 1926, Ulrich Allwardt (Redaktion), Einigkeit Erziehung“, Mai 1984. Frankfurt a.M. 1926. und Recht und Freiheit. Hrsg. : Bundes- Klaus Peter Schulz, „Deutschland zentrale für politische Bildung, Bonn Ulrich Ragozat, Die Nationalhymnen der Deutschland über alles“. In: „Gewerk- 1985. Welt. Bin kultur-geschichtliches Lexikon, schaftliche Monatshefte“, Heft 6/ 1952. Freiburg/Basel/Wien o. J. Rudolf Buchner, Der Durchbruch des Kurt Tucholsky, Deutschland, Deutsch- modernen Nationalismus in Deutschland, Elke Reisenbichler, Das Deutschlandlied, land über alles (Faksimile des Originals in: „Festgabe Harold Steinacker“, Mün- München 1986. von 1929), Reinbek 1974. chen 1955. Fritz Sandmann, Das Deutschlandlied und der Nationalismus, In: „Geschichte 4. Hoffmann von Fallersleben Otto Busch, 125 Jahre – „Deutschland, im Original Deutschland über alles“, München 1967. in Wissenschaft und Unterricht“, Heft 10/1962. Gesammelte Werke, Band I-VI, Berlin Helmut Fechner, Das Lied der Deut- 1890-1893. schen, Hrsg. Coburger Convent, Bonn Gerhardt Seiffert, Das ganze Deutsch- 1981. landlied ist unsere Nationalhymne, Hrsg. : „Briefe an meine Freunde“, Hrsg. von Hoffmann von Fallersleben-Gesellschaft H. Gerstenberg, Berlin 1901. Rolf Grix, Wilhelm Knoll, Flagge und 1964. Hymne, Frankfurt a. M. 1982. 5. Juristisches Material zum Manfred Sieveritts, Lied-Song-Chanson, Uwe Greve, Einigkeit und Recht und Deutschlandlied Band 2. Thema: Nationalhymnen, Wies- Freiheit, Hamburg 1982. baden 1984. Dr. Markus Hellenthal, Kein Gesetzes- Ulrich Günther, Zur pädagogischen Di- vorbehalt für die Nationalhymne. In: Flans Sturm, Unser Hoffmann von Fal- mension der deutschen Nationalhymne. Neue Juristische Wochenschrift (NJW), lersleben, Die Vaterlandslieder, Kriegs- Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heft 21/1988. und Soldatengesange des Dichters, Frank- politische Bildung, Heft 16. furt a.M. 1918. Prof. Dr. Klaus Hümmerich, Klaus Beu- Hans Jürgen Hansen, Heil Dir im Sieger- cher, Keine Hymne ohne Gesetz. In: Hans Tümmler, Deutschland, Deutsch- kranz. Die Hymnen der Deutschen, Ol- NJW, Heft 51/1987. land über alles, Köln/Wien 1979. denburg/Hamburg 1978. Verunglimpfung des Deutschlandliedes. Deutschland, Dein Lied. In: Schule in Hans Hattenhauer, Deutsche National- Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Hessen, Hrsg. : Hessisches Kultusministe- symbole, München 1984. vom 7.3.1990. In: „Neue Zeitschrift für rium, Heft 2/1989, Wiesbaden. Strafrecht“, Heft 6/1990. Friedrich Klausmeier, Deutschland, Die Nationalhymne, Handreichung für Deutschland über alles? In: „Musik und Verunglimpfung des Staates. In: NJW, die Besprechung an den Schulen im Lan- Bildung“, Heft 9/1987. Heft 40/1985. de Hessen, mit einem Vorwort von Golo Guido Knopp, Ekkehard Kuhn, Das Lied Mann. Hrsg.: Hessisches Kultusministeri- Theodor Maunz u. a. , Grundgesetz, der Deutschen, Berlin/Frankfurt a.M. um, Wiesbaden 1989. Kommentar, München, 1990. 1988. Eine Fülle von kleinen Artikeln zum Ekkehard Kuhn, Nationale Symbole der 3. Kritiken des Deutschlandliedes Thema Deutschlandlied aus der Tages- Deutschen. Hrsg. vom Bund der Vertrie- Klaus Dede, Die missbrauchte Hymne, presse wurde nur dort vermerkt, wo aus benen, Heft 7, Bonn 1989. Oldenburg 1989. diesen Artikeln direkt zitiert wird.

46 Der Text des Deutschlandliedes

Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt, wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammen hält. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.

Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang, sollen in der Welt behalten ihren alten schönen Klang. Uns zu edler Tat begeistern unser ganzes Leben lang. Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang.

Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland, danach laßt uns alle streben brüderlich mit Herz und Hand. Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand. Blüh' im Glanze dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland!

Aus: DER WAHRE JACOB, 9. Oktober 1900 FUNDSTÜCKE ZUM DEUTSCHEN NATIONALISMUS UND ZUR DEUTSCHEN NATIONALHYMNE

„Fatal ist mir das Lumpenpack, das, um die Herzen zu rühren, Den Patriotismus trägt zur Schau mit allen seinen Geschwüren. “

(Heinrich Heine)

Hitler erklärte zum Deutschlandlied: „So ist denn auch gerade das Lied, das uns Deutschen am heiligsten erscheint, ein großes Lied der Sehnsucht. Viele, in anderen Völkern, verstehen es nicht. Sie wollen gerade in jenem Lied etwas imperialistisches erblicken, das doch von ihrem Imperialismus am weitesten entfernt ist. Denn welche schönere Hymne für ein Volk kann es geben als jene, die ein Bekenntnis ist, sein Heil und sein Glück in seinem Volk zu suchen und sein Volk über alles zu stellen, was es auf dieser Erde gibt. “

(Adolf Hitler in Breslau 1937)

Am 2. Juli 1954 wurde die Bundesrepublik Deutschland Fußballwelt- meister in Bern, die Melodie des Deutschlandliedes wird gespielt: „Den Deutschen aber bricht das Lied aus der Brust, unwiderstehlich. Soweit ihnen die Tränen der Freude nicht die Stimme im Hals ersticken, singen sie alle, alle ohne Ausnahme, das Deutschlandlied. Niemand, auch nicht ein einziger, ist dabei der von ‚Einigkeit und Recht und Freiheit’ singt. Spontan, wie aus einem einzigen Munde kommend, erklingt es ‚Deutschland, Deutschland über alles in der Welt’. “

(Bunte Illustrierte 1954, Nr. 15)

„Wo der Nationalismus explodiert, ist der Antisemitismus nicht weit“ Beim Fußballspiel Dresden-Cottbus entrollen am 5.12.2005 nazistische Jugendliche ein Transparent gegen Dynamo Dresden: „Juden“. Das D in „Juden“ wurde ersetzt durch das Emblem von Dynamo Dresden, flankiert von zwei Davidsternen mit den Buchstaben DD für Dynamo Dresden. Beschimpfungen der gegnerischen Mannschaft und Fans als „Juden“ sind in einem deutschen Fußballstadion kein Einzelfall, diesmal geschah es jedoch während einer DSF-Live-Übertragung, für jeden am Fernseher klar ersichtlich.

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