Wolf Scheller »Die Quelle der Tränen«

Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld und sein Werk

In seinem neuen Roman »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen« erzählt Aharon Ap- pelfeld von einem jüdischen Jungen namens Erwin, der immer wieder schläft und aus sei- nen Träumen nur mit Mühe erwachen kann. Er dämmert die meiste Zeit vor sich hin, Vater und Mutter, Verwandte und Freunde, Nachbarn und Lehrer – sie alle begegnen ihm im Schlaf. Fast könnte man – wäre der Titel nicht schon vergeben – ihn als »Schlafes Bruder« bezeichnen. Aber Erwin ist ein jüdisches Kind, das aus der grünen, heimatlichen Bukowina stammt und im Krieg alles verloren hat, die Mutter, den Vater, die Verwandten und Freunde – und eben auch seine Heimat. Dass er das Ghetto überlebte, sich vor der Ermordung in die Wälder zu den Partisanen flüchtete, 1946 über ein Flüchtlingslager bei Neapel in einer aben- teuerlichen Schiffspassage nach Palästina gelangte – das alles entspricht im Großen und Ganzen der Biographie des Autors, der auch in diesem jüngsten Werk seinem Alter Ego die Stimme des Erzählers leiht. Freilich wäre es abwegig, einen Schriftsteller auf das biogra- phische Emblem seiner Romanfiguren zu reduzieren. Dennoch gehört es erkennbar zum Er- zählmuster des nunmehr 80-jährigen Autors, das Handlungsgeschehen in seinen Romanen so miteinander zu verknüpfen, dass man ständig das Gefühl hat, alten Bekannten zu begeg- nen. Und doch schlägt das neue Buch neue Töne an. Sein Protagonist findet in Palästina zu einem neuen Selbst. Er erlebt eine éducation sentimentale mit allen Schmerzen, aber auch Glückserfahrungen, die weit über das hinausgehen, was uns Aharon Appelfeld bereits vor zwölf Jahren in seinem autobiographischen Roman »Geschichte eines Lebens« anvertraut hat. Damals endete die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers nach sechsjährigem Kampf ums Überleben in der Ungewissheit des Vorläufigen mit der Überfahrt nach Palästina. Der Junge war gerade einmal 14 Jahre alt, hatte alles verloren, konnte kein Hebräisch – und musste sein Leben wieder von vorn beginnen. Von dieser Wiedergeburt handelt nun der neue Roman, von der Erziehung im Kibbuz, die der zionistischen Vorstellung eines »neuen Judentums« folgt, von dem Einfluss der Lehrer, von dem Idealismus der jungen Heranwachsenden, die sich am Verteidigungskampf gegen die Feindseligkeiten der arabischen Nachbarn beteiligen. Bei diesen Kampfhandlungen wird Erwin schwer verletzt. Erst nach mehreren Operationen und langwierigem Hospitalaufenthalt gelingt es den Ärzten, die Beine des mittlerweile 17/18-Jährigen zu retten. Aber mit dem selbstständigen Gehen und Laufen wird es noch lange dauern. Und immer, wenn die Bedrückung und das Elend der Erinnerung zu stark wer- den, flüchtet sich Erwin in Schlaf und Traum. In den Elementen des Unterbewusstseins lebt er seine Erinnerungen aus und bewahrt, was er in Wahrheit verloren hat. Parallel dazu lernt er Hebräisch, liest die Bibel und knüpft an die jüdische Tradition seiner Vorfahren an, mit deren Orthodoxie sein Vater im Grunde nichts mehr anzufangen wusste. Aber es ist der

1) Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Rowohlt-Verlag, Berlin 2012, 288 S., 19,95 Euro. 161

Vater, der dem Sohn die Neigung zur Literatur und Schriftstellerei vererbt hat. Wie sich der Junge die jüdische Identität seiner Vorfahren aneignet und wie Appelfeld sie in seiner un- prätentiösen Sprache ins Wort setzt, geht weit über die introspektive Dimension hinaus: »In jener Nacht empfand ich große Einsamkeit. Ich hatte das Gefühl, als habe die Trennung von meinen Eltern, die im Krieg begonnen hatte, nie aufgehört, auch nicht nach der Befreiung und auf dem Weg hierher, und finde erst an diesem Ort ihr bitteres Ende. Das war meine Schuld, das wusste ich. Ich hatte mich nicht genug bemüht, die Wärme ihrer Worte zu be- wahren. … Ich sah schwere Beine vor mir, Beine, die sich neben mir den Weg entlang schleppten, Füße, die schwer und geschwollen waren vom Laufen. Ich wusste, dass den Menschen das Laufen zugesetzt hatte, trotzdem trugen sie mich weiter, als hätten sie ver- einbart, mich an einen sicheren Ort zu bringen.« Ja, es sind auch Schuldgefühle, die den Überlebenden der Shoa bis ans Ende seiner Tage verfolgen. Imre Kertèsz, der Nobelpreisträger, hat dies eindrucksvoll bestätigt. Auch Primo Levi und viele andere. »Für den Überlebenden,« so schrieb Appelfeld vor einigen Jahren in einem Essay, »war die chronologische Erinnerung wie eine Boje, an die er sich mit aller Kraft klammerte. Jede Ausschmückung galt – und gilt immer noch – als unangebracht, dem Ernst des Gegenstandes nicht angemessen. Oft hört man: Wenn es um den Holocaust geht, darf man nicht mit Worten oder formalen Mitteln spielen, sondern muss die Dinge erzäh- len, wie sie waren, so genau wie möglich. Jedes fiktionale Element, das ganz offensichtlich nicht der konkreten Erinnerung entstammt, ist verboten.« An diese Maxime hat sich Ap- pelfeld gehalten. Er weiß aber auch, dass die Erinnerung an die Shoa inzwischen nahezu ohne die Überlebenden auskommen muss. Aber er gehört zu jenen, die als Kind den Holo- caust überlebten – und deren Erinnerung nunmehr in den Vordergrund rückt. In seinem Er- innerungsbuch »Blumen der Finsternis« schildert Appelfeld aus der Perspektive des jüdi- schen Jungen Hugo Mansfeld aus der Bukowina einmal mehr den Verlust der Kindheit, die Vernichtung des Elternlandes, das Ende der Geborgenheit. Hugo ist eines jener gejagten Kinder, die in Appelfelds Büchern immer wieder vorkommen und an deren Schicksal der Autor die Geschichte seines Lebens erzählt. Hugo Mansfeld entgeht der Deportation vom Ghetto ins Lager nur durch die Energie seiner Mutter, die ihn im letzten Moment bei einer Jugendfreundin – Mariana – unterbringt, die den Jungen in einer Abstellkammer versteckt. Mariana arbeitet als Prostituierte in einem Bordell. Aus seinem Versteck kann der Junge das Eine oder Andere mitbekommen. Er sitzt wie gelähmt in dem winzigen Raum und wartet auf die Rückkehr der Mutter, die er zum letzten Mal gesehen hat, wie sie sich einen Weg durch das Dickicht bahnt und in der Dunkelheit verschwindet. Apathisch überlässt sich Hugo dem Schlaf. In den Jahren, die er in der Obhut von Mariana verbringt, wandelt sich deren Fürsorge mit der Zeit in eine Art erotisierende Zuneigung, die in ihren Nuancen vom Autor behutsam beschrieben wird und jegliche Anzüglichkeit vermeidet. Liebe in Zeiten der Finsternis. Mariana, die ihr Bett meistens mit den deutschen Soldaten teilt, wird am Ende mit den anderen Frauen des Bordells wegen Kollaboration mit den Deutschen von den sowjetischen Truppen zum Tode verurteilt. Als sie abtransportiert werden, sehnt sich Hugos ganzer Körper danach zu weinen. »Aber die Quelle der Tränen war versiegt«, heißt es im Buch. »Ich habe alles in seine Seele gelegt, was ich hatte«, sagt Mariana, als sie Hugo im Traum erscheint. Und an die Flüchtlinge gewandt, deren Bilder in Hugos Träume einsi- ckern: »Vermutlich werden manche Menschen nicht gutheißen, was ich ihm beigebracht habe, aber seid unbesorgt, ich habe ihn mit viel Glauben ausgerüstet, er weiß jetzt, dass Gott in allen Dingen ist, auch wenn euch das nur wenig bedeutet. Der Widerstand gegen Gott ist so stark, sogar ein bisschen Glaube verlangt dem Menschen eine große Anstrengung ab. 162

Deshalb sage ich euch, Hugo hat sich gewiss nur äußerlich verändert. Ihr werdet noch stau- nen.« Aharon Appelfeld, der aus dem Ort in der Nähe von Czernowitz stammt, wuchs in einem gutbürgerlichen Haushalt auf. Die Großeltern sprachen noch Jiddisch, die Eltern Deutsch, die Nachbarn meistens Ukrainisch. Die Amtssprache aber war Rumänisch. Ghet- to, Vertreibung, Monate in Auschwitz, schließlich die Flucht und eine Wanderung durch Europa unter abenteuerlichen Bedingungen bestimmten seine Jugend. Seine Mutter wurde vor seinen Augen von rumänischen Antisemiten erschossen und er mit seinem Vater in ein Lager in Transnistrien, damals östlichster Teil von Rumänien, verschleppt. Man trennt ihn von seinem Vater, den er erst zwanzig Jahre später wiedersehen wird, und es gelingt ihm zu fliehen, sich in den Wäldern versteckt zu halten. Als Gelegenheitsarbeiter wird er später auf verschiedenen Bauernhöfen beschäftigt. Er gibt sich als Ukrainer aus (»Ich war blond und blauäugig.«). 1944 schließt er sich den westwärts vorrückenden Truppen der Roten Armee als Küchenjunge an. Als der inzwischen 14-Jährige nach kommt, ist er stumm. Er hat keine Schule besucht, Hebräisch nicht gelernt. Er muss die Hochschulreife erwerben und studiert an der Hebräischen Universität in . Die ersten Gedichte und Erzählungen entstehen. Die Verzweiflung gebiert den Schriftsteller, der 1971 mit dem Roman »Die Haut und das Hemd« debütiert. Er erfindet sich Stellvertreter wie etwa Paul im Roman, der durch die Gewalt der Verhältnisse von allem getrennt wird, das er liebt. Oder Bruno, der in »Zeit der Wunder« mit seiner Mutter im Zug sitzt und per Lautsprecherdurchsage aufgefordert wird, sich als Ausländer und Nichtchrist registrieren zu lassen. In Appelfelds frühen Roma- nen herrschen Angst, Kälte und Verzweiflung. So auch in der Geschichte von der KZ-Über- lebenden Tzili, die im gleichnamigen Roman vor ihren mörderischen Verfolgern flieht und dabei die Erinnerungen an die Gräuel des Lagers heraufbeschwört. Oder in »Die Eismine« von 1997, wo sich in jeder Körperzelle der Flüchtlinge die Erinnerung an die Schrecken der Verfolgung festgesetzt hat. Die »Quelle der Tränen«, die bei Hugo Mansfeld versiegt ist, er- fährt ihre Umsetzung in der Welt der Sprache. So erinnert sich Hugo an den Rat seines Va- ters: »Die Sprache ist ein Instrument der Gedanken, man muss sich klar und präzise aus- drücken … Seltsam, schoss es ihm durch den Kopf, auch eine einfache Sprache kann bunt sein.« In dieser Poetik rekonstruiert Appelfeld seine Kinderwelt und bewahrt sich dabei die Skepsis gegenüber der Vorstellung einer Einmaligkeit des eigenen Schicksals, bis nur noch so etwas wie die Essenz der Erinnerung bleibt: »Niemand würde mir glauben, wenn ich die Tatsachen der Wahrheit entsprechend beschrieben hätte.« Und: »Ein tiefes Erlebnis lässt sich leicht verfälschen.« Appelfeld misstraut den Worten, und das begann bereits im Krieg, als er Kind war. »Ich floh aus dem Lager und kam zu Kriminellen, sie haben mich adoptiert. Sie waren sehr gut zu mir. Die Normalen waren schlecht, die Kriminellen gut. Das ist auch ein Paradox. Und von ihnen habe ich viel gelernt. Einfache, konkrete Sätze.« So wurde die Bibel, das Alte Testament zu seinem ersten Lehrer beim Schreiben. Er betrachtete die Bibel als religiöses Buch, aber nicht als ein Lehrbuch. Appelfeld ist ein Autor, der aufgrund seiner Genesis beständig mit der Erinnerung kämpft. Er will keine Rache, keine Abrechnung, er ist kein zorniger Schriftsteller, kein Mo- ralist. »Ich war in einer Situation, in der mein Schicksal klar war. Du bist Jude und zum Tode verurteilt. Und der Tod kann von den Deutschen kommen, den Ukrainern oder Russen. Weil jüdisches Blut in deinen Adern fließt. Du kannst nichts dagegen tun, du kannst konvertieren oder deine Gewohnheiten ändern, gut, aber nicht dein Blut. Ich lebte jahrelang mit diesem Todesurteil. Ich war ein Kind, aber das wusste ich.« So Aharon Appelfeld gegenüber der »Berliner Zeitung«. 164 Wolf Scheller

Appelfeld gehört zu den wenigen Schriftstellern, die die Literatur über die Shoa erst ge- schaffen haben. Er sieht sich dabei als jemand, der über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft schreibt, indem er alle drei Zeiten zusammenbindet. Seine Werke haben den Holocaust zum Thema, ohne ihn explizit zu beschreiben. So veröffentlichte er 1989 in Israel seinen Roman »Katerina«, die Liebesgeschichte eines ruthenischen Mädchens zu den Juden und ihrem Glauben. Katerina sucht gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Weg aus der Enge, der Demütigung und der Gewalt ihres ukrainischen Bauerndorfes. »Mein Name ist Katerina und ich bin achtzig Jahre alt.« So beginnt sie ihre Aufzeichnungen. Sie blickt aus dem einzigen Fenster ihrer Hütte auf den glitzernden Fluss Pruth. Und sie erinnert sich daran, wie sie damals als junges Mädchen in die Stadt zog. Anfangs noch gegen ihren Wil- len, später aber mit großer Hingabe lässt sie sich vom Geist des Judentums ergreifen. Als Kind war ihr beigebracht worden, dass Juden der Inbegriff des Fremden und Feigen seien. Doch jetzt als Hausmädchen erlebt sie die Menschen in ihrer neuen Umgebung ganz an- ders. Die strenggläubige Jüdin Rosa rettet die 17-Jährige vor dem Absturz in die Gosse. Die assimilierte Pianistin Henny wird zu einer weiteren Nothelferin. Schließlich aber gerät Ka- terina an Samuel, der seinen Fatalismus im Alkohol ertränkt. Von ihm wird Katerina schwanger. »Ich spielte ihm nichts vor, er gefiel mir. Er besaß die Sanftmut eines Men- schen, der gelitten hatte, ohne darüber bitter zu werden. Das übermäßige Trinken sah man ihm zwar an, aber sein Gesicht war nicht erloschen, man konnte es mit einem Wort erhel- len. Nach der Arbeit saßen wir stundenlang zusammen. Sami war kein großer Redner. Er vergrub sich in sich selbst, und es war schwer, ein Wort aus ihm herauszubringen. Erst nach zwei Gläsern fing er an zu sprechen, sogar zu erzählen.« Katerina bleibt über lange Stre- cken fasziniert von der jüdischen Sprache, Tradition und Religion. Das Glück, das sie als Hausmädchen bei den Juden findet, hält freilich nie lange an. Die Schicksalsschläge häu- fen sich. Mal sind es Pogrome, mal ist es die Straße, der sie sich ausliefert. Innerlich ist sie zerrissen zwischen Herkunft und Neigung, Gemeinschaft und Einsamkeit. In dieser Ohn- macht wächst ihr Hass auf ihre Umgebung. Sie beginnt mit dem Trinken, geht von einer Kneipe zur anderen. Ihr einziges Glück ist der kleine Benjamin, und ausgerechnet er wird von einem zwielichtigen Kerl aus dem Dorf umgebracht. In ihrer Not wehrt sich Katerina mit einer Grausamkeit, die Ihresgleichen sucht. Für die bestialische Ermordung des Mör- ders ihres Kindes landet Katerina im Gefängnis. Die Jahre, die sie hier in einer von Sinn- losigkeit und Brutalität bestimmten Umgebung absitzt, kann sie nur mit Hilfe des jüdischen Glaubens ertragen. »Nachts drängten sich feurige Flammen in meine Träume und ver- brannten mein Fleisch. Ich war dem Tod nahe, doch immer wieder fand ich einen Ausweg, der mich rettete. Das Gefängnis ist schließlich kein verschlossener Waggon. Oft genug ver- langte es mich in jenem langen Sommer danach, die Fesseln von meinen Händen zu lösen, eine Gefangene zu packen und sie heftig zu schütteln. Sie erniedrigten sich vor den Aufse- herinnen wie Sklavinnen, und das alles für einen Schluck Wodka, ein bisschen Puder oder Kölnischwasser.« Der Roman »Katerina« behandelt das Thema der Assimilation, das bei Aharon Appelfeld eine bedeutende Rolle spielt. Es ist eine Art Parabel, die hier erzählt wird und die nach ihrem ersten Erscheinen in Israel auch Kritik hervorrief. Denn bereits in seiner Frühzeit als Autor hat sich Appelfeld wiederholt gegen Assimilation, Zionismus und Orthodoxie gewehrt, deren religiösen Machtanspruch er bis heute ablehnt. So gesehen ist die gleichnishafte Ge- schichte des Bauernmädchens Katerina auch ein Thesenroman, der die nicht berechenbare Irrationalität des Antisemitismus gegen die aufgeklärte Ethik des Judentums stellt. Aus dem Fenster ihres Gefängnisses hat Katerina irgendwann die Deportationszüge vorbeirollen »Die Quelle der Tränen« 165 sehen. Als sie schließlich freikommt und zur Osterzeit in ihr Dorf zurückkehrt, stellt sie stau- nend fest: »Alles ist noch wie früher, nur die Menschen sind nicht mehr da.« Zugegeben: Es ist nicht leicht, Aharon Appelfeld einer bestimmten religiösen oder philo- sophischen Richtung zuzuordnen. Er ist der letzte noch lebende jüdische Schriftsteller aus Czernowitz, der den Holocaust in den Wäldern überlebt hat. Der Untergang der ostjüdischen Kultur, die das Schicksal von Millionen Menschen jahrhundertelang geprägt hat und ihre Heimat war, ist sein großes Thema. In seinem Roman »Elternland« aus dem Jahr 2007 hat Appelfeld seiner ostjüdischen Heimat ein Denkmal gesetzt, zugleich aber auch eine bittere Bilanz über das Fortleben des Judenhasses gezogen. Die Handlung spielt im Israel einer nicht näher bestimmten Jetztzeit und in einem »ewigen« Polen nach 1989. Ein israelischer Kaufmann – Jakob Fein – trifft in einem südpolnischen Gasthaus auf eine Gruppe antisemi- tisch pöbelnder Bauern. In seiner Phantasie ruft er ein Geschwader der israelischen Luft- waffe zu Hilfe. Den trinkenden Männern im Gasthaus ist Fein jedenfalls unheimlich. Er ist der erste Jude, der nach Schidowze, etwa 50 Kilometer von Krakau entfernt, zurückkommt und möglicherweise seinen Besitz zurückfordert. Jedenfalls fürchten das die Einheimischen. Das Dorf liegt am Fluss Schrinez, an dessen Ufer die Juden Jahrhunderte lang zu Hause waren und gebetet haben, bis sie im Krieg fast alle ermordet wurden. Jakob Fein macht im Laufe seiner Erkundungen die Erfahrung, dass es eine Selbstbefreiung für Seinesgleichen in diesem Land nicht geben kann. Zu stark ist der nach wie vor tiefsitzende Antisemitismus und christliche Antijudaismus. Alle Vorwurfs-Klischees begegnen ihm: Die Juden als Gottes- mörder, als dekadente Intellektuelle, als verkommene Triebtäter und kapitalistische Aus- beuter. Aber warum lässt sich ein Israeli überhaupt auf eine solche Recherche im »Eltern- land« ein? Er ist ein Sohn von Überlebenden. Die Eltern haben ihm so gut wie nichts von seiner Herkunft erzählt. Vielleicht wollten sie ihn nicht mit ihren Erinnerungen belasten. Seiner Frau gegenüber bezeichnet Jakob die Reise als eine »Laune des Herzens«. Nur seine Mutter hatte ihn gewarnt: »In Schidowze sind nur noch die, die sich über unser Unglück ge- freut haben.« Das Haus des Großvaters gehört inzwischen einem Kommunisten, die Grab- steine von Jakobs Vorfahren wurden für das Pflaster vor dem Rathaus benutzt. Jakob Fein hatte sich ursprünglich für das Leid, das seiner Familie zugefügt worden war, nicht interes- siert. Er ist Familienvater, Geschäftsmann und Hauptmann der israelischen Armee. Als sein Vater stirbt, beginnt die Mutter von früher erzählen, und bei Jakob stellt sich die Erkenntnis ein, dass es ihm im Grunde nie gelungen ist, in seiner Existenz tiefere Wurzeln zu schlagen. Gegen den Rat seiner Familie reist er nach Polen in das Dorf seiner Vorfahren. Er trifft auf einem Gehöft Magda, die seine Großeltern verehrt hat. Die sich entwickelnde Liebesge- schichte wird für Jakob »die hellste Zeit seines Lebens« und Magda zum »Tor zur Erinne- rung«. Auch in »Elternland« wirkt manches wie in einem Märchen. Jedenfalls verzichtet Appelfeld konsequent auf Logik oder Urteil. Das Buch ist eine Parabel vom ewigen Antise- mitismus. »Nimm einen ruhigen, höflichen Menschen. Sag ihm, dass ein Jude etwas bei ihm kaufen will, und sofort erwacht in ihm das Raubtier«, sagt ihm eine alte Dorfbewohnerin. Und Jakob, der ausgezogen war, um den Sinn seines Daseins zu finden, sagt sich angesichts des unverhohlenen Antisemitismus, dem er auf Schritt und Tritt begegnet: »Ich habe keine Angst. Unsere Armee ist mittlerweile sogar in der Lage, auch einem einzelnen Juden zu Hilfe zu kommen. Ihr Arm reicht überallhin.« Der Judenhass lebt. Und Appelfeld gelingt in »Elternland«, einen Knoten zu schnüren zwischen einer Gegenwart, die an der Zukunft zweifelt, und einer Vergangenheit, die nicht vergehen kann. »Elternland« ist aber auch ein Roman über Israel, dessen erste Nachkriegs- generation keinerlei Schwäche zeigen durfte und mit dem Schweigen der Eltern zu kämpfen 166 Wolf Scheller hatte. Jakob Fein kehrt nach Israel als ein anderer Mensch zurück. In der Beziehung zu Magda hat er für sich neue Lebenswut, eine neue Vitalität entdeckt, die ihm sein bisheriges Leben in nicht gegeben hat. Man lernt in diesem Roman auch Einiges über das Ver- hältnis des Autors zur israelischen Gesellschaft. Die Frühzeit des israelischen Staates hatte er als »Jahre der Vielrederei«, voller Ideologie und Anpassungsdruck erlebt. Aus Erwin wurde Aharon. Aber ein »neuer Jude« wurde er deswegen nicht. Stattdessen sagt Appellfeld: »Ich bin der alte Jude.« In der »Geschichte seines Lebens« heißt es: »In den späten fünfzi- ger Jahren gab ich meinen Wunsch auf, ein israelischer Schriftsteller zu werden. Stattdessen bemühte ich mich, das zu sein, was ich war: ein Emigrant, ein Flüchtling, ein Mensch, der das Kind der Kriegsjahre in sich trug, dem das Reden schwer fiel und der mit einem Mini- mum von Wörtern auskommen wollte.« Appelfeld betrachtet das Schweigen der Überle- benden aus der Perspektive ihrer Kinder. In »Elternland« wird dem jungen Jakob Fein erst in Polen, in Schidowze, bewusst, dass das Schweigen der Eltern keine ärgerliche Passivität war, sondern aus dem Verlust ihrer Heimat herrührte. Im Buch heißt es: »Erst nach ihrem Tod begriff er, dass ihre Welt letztendlich größer gewesen war als seine.« Auffallend ist bei Appelfeld die Eigenheit, dass er immer wieder in der langen Kette sei- ner inzwischen mehr als 40 Bücher zu seinen wesentlichen Interessen und Motiven zurück- kehrt. Seine Helden sind die Kinder, meist Einzelkinder wie er selbst eines war. Otto, Bruno, Paul, Jakob oder Erwin – sie wandern durch seine Romane wie durch einen Märchenwald. Sie sind diejenigen, die das Handeln der Erwachsenen beobachten, dessen Folgen vielfach sensibel voraussehen können. Aber irgendwann wird dieser Märchenwald aufgebrochen, geht das Bild vom inneren Frieden endgültig verloren – und lässt nur noch die Erinnerung zurück. So beginnt Appelfelds Roman »Bis der Tag anbricht«, der erst mit zwölfjähriger Ver- spätung auch in Deutschland erschien. Wir sehen Blanka, eine junge Jüdin, auf der Flucht aus dem Gefängnis ihrer Ehe. Mit ihrem vierjährigen Sohn Otto fährt sie zu Beginn des vo- rigen Jahrhunderts mit dem Zug kreuz und quer durch Österreich-Ungarn. Mehrfach unter- brechen Mutter und Sohn die Fahrt und mieten sich für kurze Zeit in Dörfern ein – und zie- hen dann irgendwann weiter. In ruhelosen Nächten versucht Blanka die Geschichte ihres trostlosen Lebens niederzuschreiben, die ihr Sohn eines Tages lesen soll. Das idyllische Pa- norama der Landschaft, das vom Autor ausgebreitet wird, hat von Beginn an etwas Trügeri- sches. Denn das, was wir über das Schicksal der jungen Frau erfahren, ist so trostlos wie ihr Versuch, dem Horror ihres Daseins zu entkommen. Es beginnt mit der Geschichte ihrer jüdischen Eltern, die mit dem alten Glauben nichts mehr anfangen können und ihre Tochter taufen lassen. Die Mutter ist sterbenskrank und ver- teidigt ihre Taufe gegenüber der älteren Verwandtschaft, von der sie sich sagen lassen muss, dass ein »jüdisches Mädchen, das der Tora Schande bereitet«, nicht lange zu leben habe. Blanka, die das Sterben der Mutter nicht mehr mit ansehen kann, heiratet überstürzt einen antisemitischen Jüngling, der bei all seiner Kraftmeierei die Schule schmeißt und sich dem Suff ergibt. Damit beginnt Blankas Unglück. Sie hatte vergeblich gehofft, dass durch ihre Taufe das Leid der Mutter gemildert werden könnte, durch die Ehe mit dem Antisemiten Adolf Hammer (der Name ist nicht gerade glücklich gewählt) nicht nur die Eltern verraten, sondern sich auch von den eigenen Wurzeln abgeschnitten. Der blonde Adolf misshandelt, missbraucht sie, setzt sie auf jede Weise herab – und nimmt noch ein dörfliches Dienstmäd- chen ins Haus, das er als eine Art Zweitfrau benutzt. Die Ehe wird für Blanka zu einer ein- zigen Hölle, und in ihrer Hilflosigkeit befreit sie sich von ihrem brutalen Mann, indem sie ihn mit der Axt erschlägt. Blanka begegnet uns als eine jüngere Schwester von Appelfelds Romanfigur Katerina, die ebenfalls aus Not und Verzweiflung zur Mörderin wird. Doch »Die Quelle der Tränen« 167

Blanka, die in Krisensituationen gerne einen Satz ihrer Mutter zitiert, – »Das Glück wohnt nicht immer dort, wo wir es vermuten.« – erlebt ihren Niedergang wie in einer Art Trance, in einem anderen Zustand. Sie wehrt sich nicht, als man ihr die Handschellen anlegt. Sie wirkt wie verzaubert: »Mit meinem Vater«, sinniert sie, »bin ich früher fast jede Woche ins Café ›Am Eck‹ gegangen. Es ist ein wunderbares Café, und sie haben einen ausgezeichne- ten Käsekuchen. Wenn ich mich jetzt nach etwas sehne, dann ist es eine Tasse Kaffee und ihr Käsekuchen. Das ist alles. Mehr nicht.« Aharon Appelfeld, der bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2001 hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Beerscheba gelehrt hat, hat für sein umfangreiches Oeuvre zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Es geht ihm darum, den Glauben der Väter und Vorväter in ihrem eigenen Rhythmus darzustellen. Deswegen leben die meisten seiner Ro- manfiguren noch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als die fortschreitende Assimila- tion die jüdische Identität, ihren Gemeinsinn bedrohte. Heute sieht er Israels Sicherheit als eine äußerst fragile Größe: »Wir sind knapp sechs Millionen Israelis inmitten von 250 Mil- lionen Arabern. Israel ist auch ein Ghetto, ein bewaffnetes Ghetto.«

Der arabische Frühling welkt: Hatte die Hoffnung auf einen politischen Neuanfang die Ägypter massenweise auf die Straße gebracht, scheint nach dem Sturz von Präsident Husni Mubarak vieles beim Alten geblieben zu sein. Das bekommen gerade ausländische Nichtregierungsorganisationen wie die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung zu spüren. Nach Razzien in verschiedenen Büros der Stiftung will die ägyptische Justiz einen Pro- zess unter anderem wegen angeblicher Aktivitäten zur Destabilisierung der allgemeinen Sicherheit eröffnen. Insgesamt sollen bislang 43 Mitarbeiter ausländischer Organisatio- nen vor Gericht gestellt werden. Die Anklagewelle ist offenbar eine Reaktion darauf, dass die Nichtregierungsorganisationen sich auch als Anlaufstelle für Fragen zu demo- kratischen Strukturen etabliert haben. Gerade Bürgerrechtler oder Journalisten haben diese Möglichkeit gerne in Anspruch genommen.