Plenarprotokoll 15/173

Deutscher

Stenografischer Bericht

173. Sitzung

Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung ...... 16221 A Tagesordnungspunkt 18: Absetzung des Tagesordnungspunktes 23 und Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- des Zusatztagesordnungspunktes 12 ...... 16221 A nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten , Dr. Michael Meister, Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 16221 A Heinz Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ein modernes Steu- errecht für Deutschland – Konzept 21 (Drucksachen 15/2745, 15/5176) ...... 16230 A Tagesordnungspunkt 17: Dr. Michael Meister (CDU/CSU) ...... 16230 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag , Bundesminister BMF ...... 16236 A der Bundesregierung: Beteiligung deut- Dr. (FDP) ...... 16241 B scher Streitkräfte an der Friedensmis- sion der Vereinten Nationen in Sudan Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ UNMIS (United Nations Mission in Su- DIE GRÜNEN) ...... 16243 B dan) auf Grundlage der Resolution 1590 (2005) des Sicherheitsrats der Ver- Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 16245 A einten Nationen vom 24. März 2005 Gabriele Frechen (SPD) ...... 16246 D (Drucksachen 15/5265, 15/5343, 15/5367) 16221 B (CDU/CSU) ...... 16249 A Brigitte Wimmer (Karlsruhe) (SPD) ...... 16221 D (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) . . . . . 16222 D DIE GRÜNEN) ...... 16250 C Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 16224 A Elke Wülfing (CDU/CSU) ...... 16251 D Ulrich Heinrich (FDP) ...... 16225 A Bernd Scheelen (SPD) ...... 16253 A Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 16226 A

Helmut Rauber (CDU/CSU) ...... 16227 A Tagesordnungspunkt 19: Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 16228 A a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) ...... 16228 D BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Namentliche Abstimmung ...... 16229 D zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention (Drucksachen 15/4833, 15/5363, Ergebnis ...... 16233 D 15/5372, 15/5368) ...... 16254 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

– Zweite und dritte Beratung des von der – zu dem Gesetzentwurf des Bundesra- Bundesregierung eingebrachten Ent- tes: Entwurf eines … Strafrechtsän- wurfs eines Gesetzes zur Stärkung derungsgesetzes – Graffiti-Bekämp- der gesundheitlichen Prävention fungsgesetz – (… StrÄndG) (Drucksache 15/5214, 15/5363, (Drucksachen 15/302, 15/63, 15/404, 15/5372, 15/5368) ...... 16254 D 15/5320) ...... 16268 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des b) Erste Beratung des von den Fraktionen der Ausschusses für Gesundheit und Soziale SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Sicherung NEN eingebrachten Entwurfs eines … – zu dem Antrag der Abgeordneten Strafrechtsänderungsgesetzes – §§ 303, Detlef Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. 304 StGB Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordne- (Drucksache 15/5313) ...... 16268 C ter und der Fraktion der FDP: Präven- tion und Gesundheitsförderung als in Verbindung mit individuelle und gesamtgesellschaft- liche Aufgabe – zu dem Antrag der Abgeordneten Zusatztagesordnungspunkt 11: Annette Widmann-Mauz, Verena Erste Beratung des von den Abgeordneten Butalikakis, Monika Brüning, weite- , Dr. Jürgen Gehb, Daniela rer Abgeordneter und der Fraktion der Raab, weiteren Abgeordneten und der Frak- CDU/CSU: Prävention als gesamtge- tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- sellschaftliche Aufgabe umfassend, nes … Strafrechtsänderungsgesetzes – Graf- innovativ und unbürokratisch ge- fiti-Bekämpfungsgesetz – (… StrÄndG) stalten (Drucksache 15/5317) ...... 16268 D (Drucksachen 15/4671, 15/4830, 15/5363, Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär 15/5372) ...... 16254 D BMJ ...... 16269 A Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 16269 D BMGS ...... 16255 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Verena Butalikakis (CDU/CSU) ...... 16256 D DIE GRÜNEN) ...... 16271 B (BÜNDNIS 90/ Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 16271 D DIE GRÜNEN) ...... 16258 C (BÜNDNIS 90/ Detlef Parr (FDP) ...... 16260 A DIE GRÜNEN) ...... 16271 D Helga Kühn-Mengel (SPD) ...... 16261 C Jörg van Essen (FDP) ...... 16273 B Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 16262 D Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16274 B Götz-Peter Lohmann (SPD) ...... 16264 B Jörg van Essen (FDP) ...... 16275 A Barbara Lanzinger (CDU/CSU) ...... 16266 A Hans-Joachim Hacker (SPD) ...... 16275 B Ursula Heinen (CDU/CSU) ...... 16267 A Daniela Raab (CDU/CSU) ...... 16276 C (SPD) ...... 16278 A Tagesordnungspunkt 20: Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 16279 B a) Bericht des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung (CDU/CSU) ...... 16280 B – zu dem Gesetzentwurf der Abgeordne- ten Dr. Norbert Röttgen, Cajus Julius Zusatztagesordnungspunkt 14: Caesar, Dr. Wolfgang Götzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Antrag der Abgeordneten Jürgen Koppelin, CDU/CSU: Entwurf eines Gesetzes Dr. , , weiterer zur Änderung des Strafgesetzbuches Abgeordneter und der Fraktion der FDP: – Graffiti-Bekämpfungsgesetz – Keine deutsche Beteiligung an MEADS (Drucksache 15/5336) ...... 16281 D – zu dem Gesetzentwurf der Abgeordne- ten Jörg van Essen, , Otto Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16282 A Fricke, weiterer Abgeordneter und der (Köln) (BÜNDNIS 90/ Fraktion der FDP: Entwurf eines Ge- DIE GRÜNEN) ...... 16283 B setzes zum verbesserten Schutz des Eigentums Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) ...... 16284 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 III

Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16284 B Anlage 2 (CDU/CSU) ...... 16286 B Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Beteiligung (BÜNDNIS 90/ deutscher Streitkräfte an der Friedensmission DIE GRÜNEN) ...... 16287 C der Vereinten Nationen in Sudan UNMIS (FDP) ...... 16287 D (United Nations Mission in Sudan) auf Grundlage der Resolution 1590 (2005) des Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 16288 D Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Jürgen Herrmann (CDU/CSU) ...... 16289 C 24. März 2005 (Tagesordnungspunkt 17) Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16290 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 16293 C Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16293 C Nächste Sitzung ...... 16291 C Verena Wohlleben (SPD) ...... 16293 D

Anlage 1 Anlage 3 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 16293 A Amtliche Mitteilung ...... 16294 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16221

(A) (C) Redetext

173. Sitzung

Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. : Lothar Mark Die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche Ihnen allen ei- nen guten Morgen und uns einen erfolgreichen Tag. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Jürgen Koppelin Tagesordnung um die Beratung eines Antrags zu erwei- Über die Beschlussempfehlung zu diesem Antrag tern, nämlich um die Beratung des Antrags der FDP- werden wir später namentlich abstimmen. Fraktion „Keine deutsche Beteiligung an MEADS“ auf der Drucksache 15/5336. Dafür soll der Tagesordnungs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die punkt 23 in Verbindung mit Zusatzpunkt 12 abgesetzt Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Auch werden. dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so be- Außerdem sollen die Anträge betreffend die Nutzung schlossen. der Kyritz-Ruppiner Heide auf den Drucksachen 15/4792, Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der (B) 15/4956 und 15/5047 nachträglich dem Ausschuss für Kollegin Brigitte Wimmer für die SPD-Fraktion das (D) Wirtschaft und Arbeit sowie dem Ausschuss für Ver- Wort. braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Mit- beratung überwiesen werden. (Beifall bei der SPD) Darf ich Ihr Einverständnis mit den gerade vorgetra- genen Veränderungen feststellen? – Das sieht so aus. Brigitte Wimmer (Karlsruhe) (SPD): Dann bedanke ich mich dafür herzlich. Es fängt gut an. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf: Nach jahrelangen Vermittlungsversuchen der internatio- nalen Gemeinschaft unterzeichneten die sudanesische a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Regierung und die Südsudanesische Volksbefreiungsbe- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- wegung, SPLM/A, am 9. Januar 2005 in Nairobi einen schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Friedensvertrag. Mit diesem Friedensvertrag wurde der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Frie- jahrzehntelange schreckliche Bürgerkrieg zwischen der densmission der Vereinten Nationen in Sudan sudanesischen Regierung und den Rebellen formell be- UNMIS (United Nations Mission in Sudan) auf endet. Dieser mehr als 20-jährige Krieg hat circa Grundlage der Resolution 1590 (2005) des 2 Millionen Menschen das Leben gekostet und Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 4 Millionen Menschen zu Binnenvertriebenen bzw. 24. März 2005 Flüchtlingen gemacht. – Drucksachen 15/5265, 15/5343 – Das Friedensabkommen zwischen sudanesischer Re- gierung und SPLM/A sieht vor, dass die sudanesischen Berichterstattung: Streitkräfte innerhalb von zweieinhalb Jahren aus dem Abgeordnete (Wiesloch) Gebiet des Südsudans abziehen. Die SPLM/A hat sich Dr. Andreas Schockenhoff verpflichtet, innerhalb eines Jahres aus den Gebieten der Nubaberge und des Südlichen Blauen Nils abzuziehen. Dr. Außerdem müssen die zahlreichen Milizenverbände in- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) nerhalb eines Jahres entweder entwaffnet oder in die su- gemäß § 96 der Geschäftsordnung danesische Armee oder in die SPLM/A eingegliedert werden. Nach einer sechsjährigen Übergangsperiode, die – Drucksache 15/5367 – im Juli 2005 beginnen soll, ist für 2011 ein Referendum Berichterstattung: der Bevölkerung des Südsudans über den Verbleib in ei- Abgeordnete nem Gesamtsudan vorgesehen. 16222 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Brigitte Wimmer (Karlsruhe) (A) Durch den Friedensschluss, für dessen Zustandekom- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist noch ein wei- (C) men wir von Bundestag und Bundesregierung uns immer ter Weg, bis im Sudan tatsächlich Frieden herrscht. Dort eingesetzt haben, besteht ein Ansatz für eine friedliche gibt es fast nichts. Der Süden ist noch nie entwickelt Entwicklung im gesamten Sudan und – was auch wichtig worden. Das wenige, das vorhanden war, ist zerstört, die ist – für die Rückkehr der Flüchtlinge und Binnenvertrie- Siedlungen ebenso wie Brunnen und Brücken. Es gibt benen. kaum sauberes Trinkwasser, keine Schulen und keine Kliniken. Arbeitsgeräte für die Landwirtschaft fehlen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Was es allerdings überreichlich gibt, sind Minen. Nie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mand weiß ganz genau, wo sie liegen. Daher drängt das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge darauf, dass die Die Umsetzung des Friedensabkommens wird in ho- Flüchtlinge langsam zurückkehren. Außerdem hat der hem Maße davon abhängen, wie die Unterstützung der UNO-Generalsekretär darauf hingewiesen, dass inner- internationalen Gemeinschaft gelingt. Von der Präsenz halb der nächsten zwei Wochen 2 Millionen Menschen einer internationalen Friedenstruppe erhoffen wir uns im Südsudan auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. insbesondere eine positive Wirkung auf die im Sudan bestehenden anderen Konflikte. Es ist gut, dass auf der Geberkonferenz in Oslo mehr als 2 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe zugesagt Wir diskutieren heute über die Entsendung deutscher wurden. Auch wir beteiligen uns an dieser Hilfe. Ich un- Soldatinnen und Soldaten in den Südsudan, nicht aber terstütze aber ausdrücklich die Aussagen von Frau – das unterstreiche ich ausdrücklich – nach Darfur. Al- Staatsministerin Müller und von Frau Wieczorek-Zeul, lerdings vergessen wir auch die Menschen in Darfur, die dass wir diese Mittel nicht der Regierung in Khartoum, unter einer schrecklichen Situation, einer schrecklichen sondern Hilfsorganisationen zukommen lassen. Bedrohung und schrecklicher Gewalt leiden müssen, heute Morgen nicht. (Dr. [FDP]: Ja!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des Solange in Khartoum eine solche Politik betrieben wird, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der wie es gegenwärtig der Fall ist, können wir dorthin keine CDU/CSU) finanziellen Mittel schicken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Von einem erfolgreichen Friedensprozess im Süd- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sudan kann eine positive Wirkung auf den Konflikt in CDU/CSU und der FDP) Darfur ausgehen. Ich erinnere daran, dass die Bundesre- gierung ihr Engagement im Sudan angesichts der drama- Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem heuti- (B) tischen Situation in Darfur erheblich ausgeweitet hat und gen Beschluss senden wir bis zu 75 Soldatinnen und Sol- (D) sich immer wieder für eine Beendigung des Darfurkon- daten, vor allem als Militärbeobachter, in den Einsatz im flikts und anderer schwelender Konflikte einsetzt. Sudan. Das tun wir in der Hoffnung, dadurch einen Bei- trag zu leisten, den Friedensvertrag abzusichern und mit- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zuhelfen, dass für die Menschen im Sudan nach DIE GRÜNEN) 20 Jahren des Bürgerkriegs eine erfahrbare friedliche Insbesondere hat sie die in Darfur tätige Überwachungs- Entwicklung möglich wird. Wir wissen, dass diese Ent- mission der Afrikanischen Union, AMIS, finanziell, scheidung trotz aller Unterstützung auf dem Prinzip politisch und materiell sowie im Dezember 2004 durch Hoffnung beruht und nicht ohne Risiko ist. einen von der Bundeswehr durchgeführten Transport Ich schließe mit dem herzlichen Wunsch, dass alle zu gambischer Soldaten nach Darfur unterstützt. entsendenden Soldatinnen und Soldaten ihre Arbeit so leisten können, wie es notwendig ist, und dass sie vor al- Auch die Aufgabe von UNMIS ist es, Beratungs- und lem wohlbehalten und gesund wieder zu uns zurückkeh- Unterstützungsleistungen für AMIS zu erbringen, um ren. die Koordinierung zwischen beiden Missionen zu er- leichtern. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird mit der Resolution aufgefordert, bis zum 23. April DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dieses Jahres zu berichten, auf welche Weise dies ge- CDU/CSU und der FDP) schehen kann. Operative Einsätze von UNMIS in Darfur sind nicht vorgesehen. Ich halte es für ausgesprochen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: klug, dass diese Verbindung durch die Resolution der Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Vereinten Nationen und den Antrag der Bundesregierung Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion. hergestellt wird. Das macht einerseits deutlich, dass wir den Friedensvertrag für den Südsudan unterstützen und zum Erfolg führen wollen, und andererseits, dass wir im Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Rahmen von AMIS die Anstrengungen der Afrikani- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und schen Union unterstützen, im Darfurkonflikt selbst Ver- Herren! Mit dem Friedensabkommen von Nairobi vom antwortung zu übernehmen. 9. Januar dieses Jahres wurde der älteste und einer der blutigsten Bürgerkriege in Afrika beendet. Der Vertrag (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwischen der sudanesischen Regierung und der südsuda- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nesischen SPLM/A, der Befreiungsarmee, sieht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16223

Dr. Andreas Schockenhoff (A) verschiedene Stufen vor: Wir haben jetzt einen Waffen- zung des Friedensabkommens unterstützt werden soll, (C) stillstand; der Friedensprozess kann damit erst beginnen. auf das ganze Land erstreckt. Die neue Regierung der In der ersten Phase, die bis Juli geht, sollen die Truppen nationalen Einheit muss auch das Problem in Darfur be- entflochten werden; die Milizen werden entwaffnet und wältigen. Deswegen ist es richtig, dass in dem Mandat teilweise in reguläre Armeeverbände überführt. Wir ha- der Vereinten Nationen und in dem Antrag der Bundes- ben bis jetzt sehr wenig Überblick darüber, wie weit das regierung auch eine Unterstützung für die AMIS-Mis- geschehen ist. Es ist aber Voraussetzung, dass dies bis sion in Darfur explizit genannt wird. Die Bundesregie- zum Juli durchgeführt wird, damit in der sechsjährigen rung hat gesagt, das mandatierte Gebiet sei der gesamte Übergangsphase, die Anfang Juli beginnen soll, eine Re- Sudan und das Einsatzgebiet sei das durch den Nord- gierung der nationalen Einheit gebildet werden kann. Süd-Konflikt betroffene Territorium. Sie hat uns noch Die SPLM/A-Vertreter gehen in die Zentralregierung in einmal versichert, die Obleute des Auswärtigen und des Khartoum. Nach drei Jahren, also nach der Hälfte der Verteidigungsausschusses vorab zu unterrichten, wenn Übergangszeit, sind Wahlen vorgesehen. Es ist erforder- Soldaten außerhalb des Schwerpunktgebietes des UNMIS- lich, sofort mit der Vorbereitung dieser Wahlen zu begin- Einsatzes tätig werden sollen. Gleichzeitig sichert sie nen; denn es wäre ein verheerendes Signal, wenn unter uns zu, dass sie einem solchen Einsatz nicht zustimmen den Augen einer UN-Mission im Sudan in drei Jahren werde, wenn es erhebliche Bedenken im Kreise der Ob- Wahlen stattfänden, deren Legitimität ähnlich zweifel- leute und der Vorsitzenden der Ausschüsse gebe. Wir haft wäre, wie wir es zuletzt in Simbabwe und leider halten das ausdrücklich für richtig und begrüßen diese auch in anderen afrikanischen Staaten erlebt haben. Protokollnotiz. 2011, am Ende der Übergangsfrist – Frau Kollegin Wimmer hat es gesagt –, soll im Süden darüber abge- Die AMIS-Mission, die wir mandatiert haben, hat stimmt werden, ob er im Sudan verbleibt oder einen ei- bisher sehr schwache Ergebnisse gezeigt. Wir haben uns genen Staat bildet. alle gewünscht, dass die Afrikanische Union nicht das gleiche Schicksal erleidet wie vorher die OAU und dass Die Vertragspartner des Nairobier Abkommens haben sie bei Menschenrechtsverletzungen und schweren hu- heute völlig unterschiedliche politische Vorstellungen manitären Katastrophen eingreift. Sie ist dazu bisher nur darüber, was nach 2011 geschehen soll. Der Chef der sehr unzulänglich in der Lage. Im Rahmen des von uns Rebellenorganisation, John Garang, wird Mitglied der erteilten Mandates hat die Bundeswehr bisher einen Regierung in Khartoum. Er wird voraussichtlich auch Transportflug durchgeführt und dabei 196 gambische bei den Wahlen in drei Jahren antreten und könnte sich Soldaten transportiert. Es wird in den nächsten Jahren vorstellen, Staatspräsident eines integren Gesamtsudans auch darauf ankommen, ob die Gemeinschaft der afrika- zu werden. Seine Stellvertreter und die übrige Führungs- nischen Staaten in der Lage ist, Konflikte auf ihrem (B) schicht der SPLM/A erklären aber bis zum heutigen Kontinent mit regionalen Mitteln zu lösen. Auch dabei (D) Tage, dass es das ausschließliche Ziel dieser Übergangs- müssen wir sie unterstützen. frist sein kann, am Ende einen unabhängigen Staat zu haben. Deswegen wird es ganz erheblich darauf ankom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men, wie dieser Prozess in den nächsten Jahren gestaltet neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE wird. Es ist ein Präzedenzfall für Gesamtafrika. In dem GRÜNEN und der FDP) Friedensabkommen steht nämlich, dass in dieser Über- gangszeit die Rebellen im Süden dort die Verantwortung Wir haben ein humanitäres Interesse daran, dass der für die Verwaltung übernehmen. Es kommt jetzt darauf Friedensprozess im Sudan friedlich verläuft. Wir haben an, dass diese Zeit genutzt wird, die Lebensbedingungen aber auch ein Sicherheitsinteresse. Der Sudan liegt am der Menschen zu verbessern. Seeweg zwischen Europa und dem südlichen und östli- chen Asien, also an einer strategisch ganz entscheiden- Das Friedensabkommen ist unter dem Druck der in- den Verkehrsverbindung. Wenn dort ein zerfallener Staat ternationalen Gemeinschaft zustande gekommen. Jetzt entstünde – ähnlich wie in Somalia –, dann hätte das auf muss die internationale Gemeinschaft auch helfen, unsere Versorgungssicherheit, angesichts des Terroris- dass sich die Standards wesentlich verbessern, dass eine musproblems aber auch auf die Gesamtsicherheit der funktionierende Verwaltung aufgebaut wird, dass eine Europäer erhebliche Auswirkungen. Wir wünschen uns funktionierende Justiz entsteht, dass die Infrastruktur deshalb, dass es im Sudan künftig nicht nur eine bilate- verbessert wird, dass die Lebensmittelversorgung der rale Entwicklungszusammenarbeit zwischen den euro- Bevölkerung ohne permanente Nothilfe gewährleistet päischen Staaten und der neuen Regierung im Sudan werden kann. Bei der Geberkonferenz, die kürzlich in gibt, sondern dass auch die Europäische Union dort stär- Oslo stattgefunden hat, hat sich die internationale Ge- ker sichtbar wird. Der jetzt entstehende europäische di- meinschaft auf die Instrumente der hergebrachten plomatische Dienst muss gerade in den Regionen der Finanzhilfe beschränkt. Das wird nicht ausreichen, um Welt, in denen es gesamteuropäische Interessen gibt, den politischen Prozess in den nächsten Jahren erfolg- stärker operativ tätig und sichtbar werden. reich zu begleiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]) Da die neue Regierung für das gesamte Land zustän- Angesichts der Laufzeit des Friedensvertrages ist dort dig ist, ist es logischerweise konsequent, dass sich auch mit einem sehr langen Einsatz zu rechnen. Wir stimmen das Mandat der Vereinten Nationen, mit dem die Umset- der Mandatierung des Einsatzes auf zunächst sechs 16224 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Dr. Andreas Schockenhoff (A) Monate zu und unterstützen die Bundesregierung auch Während unserer Präsidentschaft im Sicherheitsrat ha- (C) bei der politischen Begleitung dieser militärischen Mis- ben wir das Thema Darfur auf die Tagesordnung gesetzt. sion. Wir haben seit langem die Verhängung von Sanktionen gegen Kriegsverbrecher und ein Ende der Straflosigkeit Vielen Dank. durch die Überweisung der Verbrecher an den Internatio- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nalen Strafgerichtshof gefordert. Ende März hat nun der neten der FDP) Sicherheitsrat drei Resolutionen verabschiedet, die un- sere Forderungen aufnehmen. Damit hat sich der Sicher- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: heitsrat handlungsfähig gezeigt. Ich hoffe wirklich, dass es so gelingt, dem Frieden in Darfur näher zu kommen. Das Wort hat nun die Staatsministerin im Auswärti- Auch dort muss die Gewalt beendet werden. Auch dort gen Amt, Kerstin Müller. brauchen wir eine politische Lösung.

Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Amt: sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute über das Mandat zur Entsendung von Bundes- Ich versichere Ihnen noch einmal: Die Bundesregierung wehrsoldaten im Rahmen der Mission der Vereinten Na- wird weiterhin alles dafür tun, damit der internationale tionen UNMIS zu entscheiden. Druck auf die Konfliktparteien nicht nachlässt. Durch UNMIS soll die Einhaltung des am 9. Januar Die UN-Mission UNMIS soll, wie gesagt, das Nai- dieses Jahres in Nairobi beschlossenen Friedensvertra- robi-Friedensabkommen zwischen Nord- und Südsudan ges zwischen Nord- und Südsudan überwacht werden. überwachen und ist daher eine klassische Beobachter- Dieser Friedensvertrag ist in der Tat ein historischer mission. Die VN-Beobachter werden durch eine Schutz- Schritt. Durch ihn wird einer der längsten und blutigsten truppe mit Zwangsbefugnissen geschützt. Darüber hinaus Bürgerkriege Afrikas beendet. Ich bin im Februar im soll die Schutztruppe den Schutz des UN-Personals, der Südsudan gewesen. Man kann nur sagen, dass die Men- vor Ort tätigen Hilfsorganisationen sowie der direkt von schen dort nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges wirklich Gewalt bedrohten Zivilbevölkerung sicherstellen. Die bei null anfangen. Es fehlt an allem: Infrastruktur, Schu- militärische Komponente von UNMIS umfasst circa len und Gesundheitsversorgung. Die Menschen hoffen, 10 000 Soldaten, einschließlich 750 Militärbeobachtern. dass es gelingt, den Frieden zu sichern. Sie erwarten Daneben sollen auch zivile Anteile, einschließlich nach einem so langen Krieg, den sie durchlitten haben, 700 Polizisten, beim Aufbau demokratischer und rechts- (B) die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. staatlicher Strukturen zum Einsatz kommen. (D) Wir haben ein Interesse und eine Verantwortung, die- Der Kabinettsbeschluss vom 13. April dieses Jahres sen Frieden zu stabilisieren. Dazu ist eben nicht nur der sieht eine Entsendung von bis zu 75 deutschen Soldaten Wiederaufbau nötig, sondern auch die Überwachung in die UN-Mission vor. Die deutschen Soldaten sind im des Friedensvertrages durch die Vereinten Nationen. Wesentlichen für die Wahrnehmung von Militärbeobach- Eine Sicherung des Friedens im Südsudan ist nicht nur teraufgaben und die Verwendung in UNMIS-Stäben und wegen der Menschen im Süden wichtig, die einen der -Hauptquartieren vorgesehen. Das operative Einsatzge- schlimmsten Bürgerkriege durchlitten haben, sondern sie biet umfasst den Süden des Sudans, die Hauptstadt ist auch im Hinblick auf die anderen Krisen im Sudan Khartoum sowie die Region um Kassala im Osten. Das entscheidend, vor allem in Darfur. Mandat ist zunächst bis zum 24. September 2005 befris- tet. Ich will das einmal erläutern: Dieses umfassende Friedensabkommen, das viele Bereiche regelt, ist wirk- Ich will sehr deutlich sagen – wir haben das in den lich eine gute Grundlage für eine politische Lösung auch Ausschüssen ausführlich diskutiert –: UNMIS hat keine anderer Krisen im Sudan, vor allen Dingen in Darfur. operativen Befugnisse in Darfur, da diese Region nicht Wenn es also gelingt, diesen Frieden zu sichern, wird Bestandteil des Nord-Süd-Friedensabkommens ist. Mit dies mit Sicherheit eine Signalwirkung auf die anderen der Beobachtung der Lage in Darfur wurde die Afri- Krisen im Sudan haben. Das heißt, die Mission der Ver- kanische Union durch die Resolution 1556 des Si- einten Nationen spielt damit für die Zukunft dieses Lan- cherheitsrates beauftragt. Im Einzelfall können VN- des insgesamt eine wichtige Rolle. Experten von UNMIS zum Zwecke von Beratungs- und Trotz dieses wichtigen Schritts wird es einen Frieden Verbindungsaufgaben bei der Darfur-Mission der AU im gesamten Sudan erst dann geben, wenn auch die an- eingesetzt werden. Das kann auch deutsche Soldaten be- deren Krisen gelöst sind, allen voran die in Darfur. Dort treffen. Deshalb hat die Bundesregierung in den Aus- wird immer noch gemordet und vertrieben, Frauen und schüssen zugesichert: Sollten deutsche Soldaten außer- Mädchen werden vergewaltigt. Die Bundesregierung halb des Schwerpunktgebietes des UNMIS-Einsatzes setzt sich seit langem auf allen Ebenen der internationa- tätig werden, so wird die Bundesregierung die Obleute len Politik für ein Ende der Gewalt in Darfur ein. des Verteidigungs- und Auswärtigen Ausschusses dieses Hauses vorab unterrichten. Sie wird einem solchen Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN satz nicht zustimmen, wenn es im Kreise der Obleute sowie bei Abgeordneten der SPD und der und der Vorsitzenden dieser Ausschüsse erhebliche Be- CDU/CSU) denken gibt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16225

Staatsministerin Kerstin Müller (A) Die internationale Gemeinschaft muss jetzt mithelfen, Grundlage und Voraussetzung für eine Zustimmung zu (C) die durch das Friedensabkommen errungenen Fort- diesem Einsatz. Die FDP unterstützt generell den Antrag schritte abzusichern. Die Präsenz von UNMIS als neu- zur Entsendung von Bundeswehrsoldaten als Beobach- tralem Stabilitätsfaktor ist dabei ein unverzichtbares Ele- ter, spricht sich aber energisch gegen einen Automatis- ment. Ich würde mich sehr freuen, wenn der Antrag der mus aus, der, wie von Ihnen, Herr Bundesverteidigungs- Bundesregierung zur Entsendung deutscher Soldaten im minister Struck, bereits mehrmals angedeutet wurde, in Rahmen von UNMIS die breite Unterstützung dieses einen Kampfeinsatz in Darfur münden könnte. AMIS ist Hauses finden würde und wir damit unseren Beitrag zu eine Mission der Afrikanischen Union. Wir sollten nicht diesem historischen Prozess leisten könnten. über diese Hintertür versuchen, mit einer entsprechen- den Beteiligung eine UN-Mission daraus zu machen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Gesine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lötzsch [fraktionslos]) und bei der SPD) Die AMIS-Mission ist die erste derartige Operation, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die die AU eigenständig mit 3 000 afrikanischen Solda- ten durchführt. Wir sollten der AU die Verantwortung Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Heinrich für lassen. Sie muss diese Mission auch in Zukunft selbst- die FDP-Fraktion. ständig durchführen.

Ulrich Heinrich (FDP): Wir in Deutschland und wir in der Europäischen Union sollten aber bereit sein, auf ausdrückliches Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ersuchen der AU Hilfe in logistischer, beratender und Herren! Nach über 20-jähriger kriegerischer Auseinan- beobachtender Funktion zu gewähren und so unseren dersetzung mit über 2 Millionen Todesopfern und Anteil beizutragen. ebenso vielen Flüchtlingen wurde am 9. Januar 2005 ein Friedensvertrag zwischen den Rebellen im Süden des (Beifall bei der FDP – Brigitte Wimmer Sudans und der Regierung in Khartoum unterzeichnet. [Karlsruhe] [SPD]: Das geschieht doch schon, Herr Kollege!) In unserer heutigen Debatte geht es darum, die Vo- raussetzungen zu schaffen, diesen Friedensvertrag zu si- Ich habe bereits früher immer wieder die Bemühun- chern, unterstützen und umsetzen zu helfen. Die Resolu- gen der AU unterstützt, tion 1590 des UN-Sicherheitsrats vom 24. März dieses Jahres ist die Grundlage dafür. Dabei wird der Entflech- (Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Wir (B) tung der sudanesischen Regierungstruppen und der auch!) (D) südsudanesischen Befreiungsbewegung eine besondere die Probleme Afrikas eigenständig aufzugreifen und zu Bedeutung zukommen. Aber vor allem soll die vollstän- lösen, und die Meinung vertreten, dass nur dann Hilfe dige Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von außen gewährt werden sollte, wenn direkte logisti- ehemaliger Kämpfer erreicht werden, weil dies die Vo- sche oder beratende Unterstützung benötigt wird, raussetzung dafür ist, dass es überhaupt zu der Einhaltung des Friedensvertrags kommt. Ebenso wird der Aufbau (Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Aber einer Zivilpolizei eine der Aufgaben der UNMIS sein. das machen wir doch!) Die Mission soll insgesamt 10 000 Soldaten umfas- nach dem Motto: Afrika den Afrikanern. An diesen sen. Dabei handelt es sich um einen kombinierten Ein- Grundsatz müssen wir uns hier ganz klar halten. satz mit einem Mandat nach Kapitel 6 und Kapitel 7 mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten integrierten Kommandostrukturen aus Beobachter- und der CDU/CSU – Brigitte Wimmer [Karlsruhe] Schutztruppe. In diese Truppe sollen bis zu 75 deutsche [SPD]: Nichts anderes tun wir, Herr Kollege!) Soldaten als Beobachter integriert werden. Leider um- fasst das Mandat auch die Möglichkeit – verschiedene Deshalb möchte ich noch einmal ausdrücklich beto- Redner sind schon darauf eingegangen –, UNMIS-Sol- nen, dass ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten in daten als Beobachter in die Krisenregion Darfur in den Darfur nicht infrage kommt. Westen des Sudans zu entsenden, die derzeit unter der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von der Afrikanischen Union geleiteten Mission AMIS der CDU/CSU) steht. Genau dies kritisieren wir. Dies haben wir auch in den Ausschüssen kritisiert. Dass es zu dieser Protokoll- Dies gilt sowohl für den vorliegenden Beschluss 1590 erklärung gekommen ist, Frau Staatsministerin Müller, des Sicherheitsrates als auch für einen eventuellen zu- ist ganz sicherlich diesem Parlament zu verdanken. künftigen Beschluss, der im Sicherheitsrat gefasst wer- den könnte. Auch dann sind wir gegen einen Kampfein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten satz deutscher Soldaten. Das möchte ich hier ganz klar der CDU/CSU) und deutlich unterstreichen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Bundesregierung Herzlichen Dank. keinen Spielraum hat, das Mandat des UN-Sicherheitsra- tes unterschiedlich auszulegen. Aus diesem Grund war (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten für uns, für die FDP-Fraktion, die Protokollnotiz die der CDU/CSU) 16226 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: truppe der 10 000 Soldaten aus den anderen Nationen (C) Für die Bundesregierung hat nun der Bundesminister gewährleistet. Die deutschen Soldaten in den Stäben, der Verteidigung, Peter Struck, das Wort. Hauptquartieren oder im Experteneinsatz werden natür- lich – das ist üblich – auch mit entsprechender Selbst- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: We- schutzausrüstung ausgestattet. nigstens ein Minister, der selber redet! Wo ist denn eigentlich Joschka?) Wir haben schon über Darfur gesprochen. Die Vor- rednerinnen und Vorredner haben es angesprochen: Die Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: Lage bleibt dort weiterhin dramatisch. Von daher ist es Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und richtig, dass die Vereinten Nationen die Koordinierung Herren! Erlauben Sie mir, zunächst zu einem völlig an- beider Operationen unterstützen wollen. deren Thema etwas zu sagen. Ich war gestern auf einem (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der beiden größten Schiffe der Bundeswehr, dem Ein- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) satzgruppenversorger „Berlin“, der auf der Fahrt in seinen Heimathafen Wilhelmshaven ist und heute um Das Bundestagsmandat zur Unterstützung von 10 Uhr dort anlegen wird. Dieses Schiff war fünf Mo- AMIS – bei uns stand es bisher konkret für Lufttrans- nate im Einsatz, davon zwei am Horn von Afrika und portunterstützung für Truppenverlegung afrikanischer drei vor Banda Aceh. Ich denke, dass ich auch in Ihrem Truppen nach Darfur – endet am 2. Juni. Wir haben im Namen gesprochen habe, als ich gestern den Soldaten Dezember 2004 196 gambische Soldaten transportiert. auf dem Schiff für ihren Einsatz gedankt habe, den sie Andere Staaten der EU haben ebenfalls Transportleistun- für die Bevölkerung in Indonesien geleistet hat. Wir kön- gen erbracht. Gegenwärtig gibt es keine weiteren Trans- nen stolz sein auf das, was unsere Soldatinnen und Sol- portersuche. Durch einen Ausbau von AMIS durch die daten leisten. Afrikanische Union kann sich das jedoch deutlich än- dern. Die Situation in Darfur – Kollegin Wimmer hat das (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ausgeführt – gibt Anlass zur Sorge. Die Truppe der Afri- GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) kanischen Union bedarf afrikanischer Verstärkung. Wir appellieren an alle afrikanischen Staaten, das angestrebte Herr Kollege Heinrich, Sie haben eben davon gespro- Ziel, über 3 000 Soldaten in Darfur zu stationieren, auch chen, ich hätte Kampfeinsätze in Afrika geplant. Ich zu erreichen. wüsste nicht, wo ich das gesagt hätte. Das ist ja auch Un- sinn; darüber reden wir überhaupt nicht. Wir reden jetzt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über den UN-Sicherheitsratsbeschluss und den Kabi- DIE GRÜNEN) nettsbeschluss. Das Kabinett hat beschlossen, bis zu (B) (D) 75 Soldaten für diese Beobachtermission zur Verfü- Wir hoffen, dass sich die Situation im Sommer ändern gung zu stellen. Wir gehen davon aus, dass es im We- wird, dass es also mehr Transportersuche geben wird. Im sentlichen bis zu 50 sein werden. Aber mit Blick auf Mai werde ich daher eine Verlängerung des Mandats für Wechsel müssen wir natürlich eine gewisse Flexibilität AMIS, also Lufttransportunterstützung, vorschlagen. Ich haben; deshalb liegt die Obergrenze bei 75. glaube, wir sind uns einig, dass wir nicht wegsehen dür- fen, wenn auf diesem ohnehin benachteiligten und ge- Diese Soldaten können bei Bedarf auch als Einzel- schundenen Kontinent Menschen verfolgt und ermordet experten für Beratungs- und Verbindungsaufgaben, Herr werden. Heinrich, im Rahmen der Darfur-Mission der Afrika- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nischen Union eingesetzt werden. Wir werden das auch DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der tun. Eine derartige Unterstützung ist natürlich auch im CDU/CSU und der FDP) Mandat der Vereinten Nationen vorgesehen. Sollte dieser Einsatz deutscher Soldaten erforderlich werden, das Das Mandat, das der Bundestag heute beschließen heißt, sollten wir in die Region Darfur, zum Beispiel soll, wird für uns, für meine Bundeswehr nicht einfach nach al-Faschir, gehen, um Verbindungsaufgaben mit zu werden. Mit sechseinhalb Jahren ist ein langer Zeitraum erfüllen, dann werden wir das nicht tun, bevor wir nicht ins Auge gefasst worden. Außerdem ist die Entwicklung die Obleute des Verteidigungsausschusses und des Aus- im Sudan überhaupt nicht vorhersehbar. Der Friedens- wärtigen Ausschusses informiert haben oder wenn es vertrag kann sich als brüchig erweisen. Dem müssen von Ihrer Seite erhebliche Bedenken gibt. Ich werde das wir im Rahmen der Vereinten Nationen entgegenwirken. nicht gegen Ihren Willen tun; das will ich hier deutlich Die internationale Gemeinschaft muss jetzt die Chance festhalten. nutzen, die dieser Friedensvertrag bietet. Ich appelliere deshalb an viele andere europäische Länder, sich noch (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des stärker an UNMIS zu beteiligen, als das bisher geplant BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ ist. CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, das UNMIS-Operations- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) konzept entspricht guten Erfahrungen aus anderen Ein- sätzen der Vereinten Nationen. Die Militärbeobachter Mit bis zu 75 Militärbeobachtern stellen wir von allen sind unbewaffnet. Das war auch im Verteidigungsaus- europäischen Staaten das größte Kontingent. Andere, schuss gerade ein Thema. Ihr Schutz wird durch die mit auch große Nationen jenseits des Atlantiks beteiligen einem robusten Mandat versehenen Kräfte der Schutz- sich an diesem Mandat überhaupt nicht. Es ist erforder- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16227

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) lich, dass andere Länder ihre Bereitschaft erklären, in Ökosysteme und der Artenvielfalt lässt sich nur mit poli- (C) dem Maße zu helfen, wie wir es tun. Dieses Land, dieser tisch und wirtschaftlich stabilen Nationen erreichen. Kontinent hat das verdient. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten richtig!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Trotz all dieser Gründe hat der Westen in den letzten Zum Schluss bedanke ich mich bei allen Fraktionen Jahren weggeschaut, wenn sich grausame Völkermorde des Deutschen Bundestages für die übereinstimmende ereigneten. Der Sudan – das haben mehrere Vorredner Genehmigung dieses Mandats. Die Soldatinnen und Sol- schon betont – ist kein neuer Konfliktherd. Seit 1983 daten, die wir schicken werden – im Wesentlichen wer- herrscht in diesem Land ein Bürgerkrieg, der 2 Millio- den es wohl Soldaten sein –, haben einen Anspruch da- nen Menschen das Leben kostete und 4 Millionen rauf, zu wissen, dass der Deutsche Bundestag diese Menschen zu Flüchtlingen machte. Ausgehandelte Waf- Aufgabe unterstützt. Ich will noch einmal das sagen, was fenstillstandsabkommen wurden immer wieder als ich zu jedem Auslandseinsatz sagen muss: Niemand Durchbruch gefeiert und ebenso oft, wie sie geschlossen weiß, ob alle gesund nach Hause kommen. Wir haben wurden, auch gebrochen. Die Trennungslinie verläuft eine große Verantwortung, wenn wir einen solchen Be- zwischen dem christlichen Süden und dem muslimi- schluss fassen. Deshalb herzlichen Dank an Sie alle, dass schen Norden bzw. – was Darfur anbelangt – zwischen Sie diesen Beschluss mittragen. schwarzafrikanischen und arabischen Bevölkerungs- gruppen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Als der Bürgerkrieg in Somalia 1993 18 amerikani- CDU/CSU und der FDP) sche Soldaten das Leben kostete, hat der damalige ame- rikanische Präsident Bill Clinton der UNO geraten, zu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lernen, Nein zu sagen. Es war diese Kultur der Zurück- Nächster Redner ist der Kollege Helmut Rauber, haltung der Weltgemeinschaft, die Millionen von CDU/CSU-Fraktion. Menschen Tod und Elend brachte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Helmut Rauber (CDU/CSU): Die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachen- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und forschung hat für das letzte Jahr, also für 2004, Herren! Herr Minister Struck, der Beifall von unserer 42 Kriege und bewaffnete Konflikte aufgelistet. Wir als Seite hat gezeigt, dass auch wir uns bei den Soldaten be- Deutsche können weder den Weltpolizisten spielen noch danken, die nicht nur im Indischen Ozean, sondern in al- (B) können wir den Hunger in der Welt, der 850 Millionen (D) len Krisenherden der Welt wesentlich auch zu unserer Menschen quält, alleine besiegen. Wir dürfen aber auch Sicherheit beitragen. nicht wegschauen. Bei AMIS und auch bei dieser Mis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sion leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe. Wir brauchen un- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE ter dem Dach der UNO regionale Sicherungssysteme un- GRÜNEN und der FDP) ter jeweils regionaler Beteiligung. In den letzten Tagen hörte ich oft die Frage: Was sol- Wir stellen – das ist auch schon gesagt worden – bei len unsere Soldaten denn im Sudan? Anders ausge- dieser Mission keine Kampfsoldaten, sondern bis zu drückt: Was geht uns Afrika an, ein Kontinent, auf dem 75 Beobachtungssoldaten, die in erster Linie die Auf- laut einer Studie der Boston University nur 14 der gabe haben, die Konfliktparteien zu trennen. Die Haupt- 53 Länder als demokratisch einzustufen sind, der in Bür- last, wie auch bei der vorangegangenen und parallel lau- gerkrieg und Elend zu versinken droht und wo Korrup- fenden UN-Mission AMIS, trägt nicht der Westen, tion und die organisierte Kriminalität blühen. sondern – trotz aller Unzulänglichkeiten – Afrika. Es sind keine Hurra-Gefühle, mit denen wir diesem Einsatz Das Schicksal Afrikas ist in weiten Teilen auch unser zustimmen. Schicksal. Zonen der Instabilität und der Ordnungslosig- keit sind der Nährboden für den internationalen Terro- Die CDU/CSU hatte sich mit insgesamt 10 Fragen an rismus und die Gewalt an sich. In Afrika entspringende die Bundesregierung gewandt, wobei der Schutz unse- Migrationsströme reichen bis tief nach Europa. Deshalb rer Soldaten und die mögliche medizinische Versor- lautet nicht von ungefähr der Kerngedanke der neuen gung in Notfällen im Vordergrund standen. Es gibt kei- NATO-Strategie, Konflikte auf Distanz zu halten. nen Einsatz, der ungefährlich ist. Der Einsatz aller UN- Soldaten – das können wir bedauern oder auch nicht – Genau um dies geht es auch bei dieser UN-Mission, erfolgt unbewaffnet. Deshalb müssen wir auf den Schutz aber es geht um mehr. Nur ein wirtschaftlich stärkeres der UNMIS vertrauen. Afrika schafft attraktive Absatzmöglichkeiten für un- sere Güter und Dienstleistungen. Nur stabile, auf demo- Dass unsere Soldaten von militärischen Kräften bei- kratischen Grundsätzen beruhende Regierungen erlau- der ehemaliger Konfliktparteien begleitet werden, erhöht ben uns eine vernünftige und auch faire Nutzung der ihre Sicherheit, wiewohl die Bundesregierung selbst ein- Rohstoffe. Im Sudan geht es auch um das Öl, mit allen gesteht, dass unsere Beobachter durchaus zwischen die innerstaatlichen und außerstaatlichen Implikationen. Fronten rivalisierender Gruppen geraten können. Wir ge- Auch der für uns so überlebensnotwendige Schutz der hen aber davon aus – darauf vertrauen wir –, dass 16228 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Helmut Rauber (A) sowohl die militärische wie auch die politische Führung als das Ende des Mordens, Plünderns und Vergewalti- (C) alles tun, die Risiken zu minimieren und notfalls – wenn gens. Die PDS teilt diesen Wunsch; allerdings sehen wir die Gefahr eskaliert – unsere Soldaten bzw. Beobachter auch, dass es ganz klare wirtschaftliche Interessen eini- abzuziehen. ger Länder und Unternehmen gibt, die den Frieden nur als Zwischenstation sehen, um dann – um einmal ein Zur Sicherheit zählt auch ein System von flächende- Wort von Herrn Müntefering zu gebrauchen – wie „Heu- ckenden Sanitätseinrichtungen und flächendeckenden schrecken“ über das Land herzufallen. Regelungen zur Verwundetenevakuierung. Zudem kön- nen unsere Beobachter auf minengeschützte Fahrzeuge Wir sehen die Auswirkungen des Krieges und wir se- zurückgreifen. Unter Berücksichtigung all dieser As- hen die Auswirkungen dieser Heuschreckenschwärme pekte halten wir diesen Einsatz nicht für ungefährlich, und würden uns gern für das kleinere Übel entscheiden. aber unter dem Schutzaspekt für vertretbar. Doch die Bundesregierung macht eine Zustimmung zu dem Mandat für uns unmöglich. Die Bundesregierung ist Ich komme zu meiner Ausgangsfrage zurück: Was in ihrer Beschreibung der Aufgaben der Soldaten zu geht uns Afrika an? Bei Völkermorden mit all ihren ungenau. schrecklichen Begleiterscheinungen wegzuschauen heißt, Partei für die Willkür des Starken zulasten der (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was soll Hilflosen zu ergreifen. Dies ist weder eine christliche das denn?) noch eine humanistische Grundhaltung. Weil wir nicht Die Bundesregierung macht es uns unmöglich, diese wegschauen, sondern vermutlich 50 Militärbeobachter Mission zu kontrollieren. in den Sudan senden – wir hoffen, dass sie alle heil zu- rückkehren –, stimmen wir dem vorliegenden Antrag zu. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Vereinten Nationen sind der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- PDS scheißegal!) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Regierung erklärt zum Beispiel, dass sie, wenn Sol- daten außerhalb des Schwerpunktgebietes des UNMIS- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Einsatzes tätig werden sollen, vorab die Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsaus- Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. schusses unterrichten will. Das klingt nach Geheimnis- krämerei. Die PDS wäre nach diesem Verfahren von je- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): der Kontrolle ausgeschlossen. Das können wir nicht Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- akzeptieren. Die PDS wird sich aus den genannten Grün- (B) ren! Ich bin Abgeordnete der PDS. – Der Friedensver- den der Stimme enthalten. (D) trag vom 9. Januar 2005 zwischen der sudanesischen Regierung und der südsudanesischen Volksbefreiungs- Vielen Dank. bewegung ist ein kleiner Schritt zum Frieden. Nach jahr- (Beifall der Abg. [fraktionslos]) zehntelangem Bürgerkrieg, der 2 Millionen Menschen das Leben gekostet und 4 Millionen zu Binnenvertriebe- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nen bzw. Flüchtlingen gemacht hat, scheint ein Friede in Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist für Sicht. die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Egon Jüttner. Die UNO hat die Bundesregierung gebeten, sich an Danach stimmen wir namentlich ab. Ich bitte bis dahin der UN-Mission im Sudan durch die Entsendung von noch um ein bisschen Konzentration. Stabspersonal und Militärbeobachtern zu beteiligen. Die Bitte schön, Herr Kollege. Bundesregierung will nach Kap. VI der UN-Charta bis zu 75 deutsche Soldaten im Rahmen der Mission (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) UNMIS als Beobachter in den Sudan entsenden. Kern- aufgabe von UNMIS ist es, für zunächst sechs Monate Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): die Implementierung der Friedensvereinbarung von Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Nairobi zu überwachen und das Programm zur Entwaff- ren! Jahrzehntelang hat die Bevölkerung des Sudan unter nung, Demobilisierung und Reintegration ehemaliger dem längsten und wohl blutigsten Bürgerkrieg Afrikas Kämpfer sowie UN-Programme in dieser Region zu un- gelitten. Noch vor einigen Monaten kam es zu Massen- terstützen. vertreibungen und Massentötungen im Westen des Wir als PDS haben uns schon im Jahre 2000 auf unse- Sudan. Noch immer gibt es Morde und Vergewaltigun- rem Parteitag in Münster dafür ausgesprochen, fried- gen. Die Überwachungsmission der Afrikanischen liche Missionen der UNO nach Kap. VI zu unterstüt- Union hat dennoch zu einer leichten Beruhigung der Si- zen. tuation geführt. Deutschland hat mit der Durchführung von Truppentransporten einen wichtigen Beitrag dazu (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) geleistet. Dafür danken wir den Soldaten der Bundes- wehr. Wir haben uns immer gegen UN-mandatierte Militärin- terventionen unter Berufung auf Kap. VII der UN- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Charta ausgesprochen. Die Menschen im Sudan sehnen SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sich nach Frieden und wünschen sich nichts dringlicher und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16229

Dr. Egon Jüttner (A) Ein Lichtblick für die Menschen im Sudan ist der am (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (C) 9. Januar dieses Jahres unterzeichnete Friedensvertrag BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zwischen der sudanesischen Regierung und der südsuda- Auf keinen Fall darf die internationale Gemeinschaft nesischen Volksbefreiungsbewegung. Vertreter der Men- die Versuche der sudanesischen Regierung tolerieren, schenrechts- und Hilfsorganisation „Hoffnungszeichen“, die Stabilisierung und den Wiederaufbau des Südsudans die erst kürzlich im Südsudan waren, berichten, wie jetzt zu verzögern oder gar zu hintertreiben. die Menschen im Süden des Sudan aufatmen und hoffen, dass sich durch das Friedensabkommen ihre Lebenslage (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des verbessert. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 22 Jahre Bürgerkrieg haben tiefe Spuren hinterlas- Nicht nachvollziehbar ist, dass die Regierungspartei im sen. Schulen und Krankenhäuser sind zerstört, sofern sie Norden die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen überhaupt vorhanden waren. Es gibt kaum staatliche geforderte Ahndung der Menschenrechtsverbrechen in Strukturen und nahezu keine Infrastruktur. Gerade jetzt, Darfur als einen Angriff auf den Islam bezeichnet. zu Beginn der Regenzeit, werden befahrbare Pisten zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und unpassierbaren Schlammrinnen. Es gibt kein Eisenbahn- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) netz und kein Gesundheitssystem, das diesen Namen verdient. Blutiger Durchfall ist die Haupttodesursache Wir begrüßen, dass gestern die UN-Menschenrechts- bei Kleinkindern. Frisches Trinkwasser ist Mangelware. kommission beschlossen hat, einen Sonderbericht- Es gibt keine systematische Schulbildung. Nach Anga- erstatter für den Sudan einzusetzen, und die schweren ben des katholischen Bischofs der Diözese Rumbek, Menschenrechtsverletzungen in Darfur, im Westsudan Caesar Mazzolari, liegt im Südsudan die Analphabeten- verurteilt hat. Wir begrüßen die Mission der Vereinten rate der Frauen bei 97 Prozent, die der Männer bei Nationen und wir stimmen zu, dass zur Erfüllung dieses 84 Prozent. Mit Recht haben bereits im vergangenen Auftrags bis zu 75 deutsche Soldaten eingesetzt werden. Jahr sudanesische Bischöfe bei ihrem Besuch in Berlin Die Menschen im Sudan brauchen die Hilfe der interna- Bundestag und Bundesregierung aufgefordert, dringend tionalen Gemeinschaft. zu helfen. Ich danke Ihnen. Die Menschenrechtslage im Sudan ist weiterhin de- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- solat. Im Norden weigert sich Präsident Baschir, Men- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- schenrechtsverletzer an den Internationalen Strafge- ten der SPD und der FDP) richtshof auszuliefern. Im Südsudan agieren sich (B) streitende, von Khartoum mit Waffen versorgte Milizen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (D) die zum Zwecke persönlicher Bereicherung die Bewe- Ich schließe die Aussprache. gungsfreiheit der Zivilbevölkerung einschränken. Sie er- pressen Wegezölle und erheben unrechtmäßig Steuern. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Sie gefährden die Sicherheitslage der Zivilbevölkerung empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf ebenso wie deren Nahrungsmittelselbstversorgung. Drucksache 15/5343 zu dem Antrag der Bundesregie- rung zur Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Frie- Ich fordere deshalb die sudanesische Regierung in densmission der Vereinten Nationen in Sudan. Der Aus- Khartoum auf, nicht erst Anfang 2006, wie im Friedens- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5265 abkommen vorgesehen, sondern schon jetzt die ihr un- anzunehmen. Hierzu ist namentliche Abstimmung ver- terstehenden Milizen zu entwaffnen und in die regulären langt. sudanesischen Streitkräfte zu integrieren. Es kann nicht sein, dass Schusswaffen zur lukrativen Einnahmequelle Ich bitte um ein Signal, ob alle Plätze an den Urnen werden. besetzt sind. – Das sieht so aus. Dann eröffne ich hiermit die namentliche Abstimmung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist offensicht- GRÜNEN und der FDP) lich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung Die Menschen im Sudan wollen und brauchen Frie- und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit den. Sie schöpfen erst wieder Hoffnung, wenn sie sicht- der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim- 1) bar und greifbar erleben und erfahren, wie sich ihre Le- mung wird später bekannt gegeben. bensbedingungen verbessern. Deshalb muss gleichzeitig Ich darf noch darauf hinweisen, dass dem Präsidium die humanitäre Lage der Flüchtlinge und der Binnen- Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge- flüchtlinge sowohl im Norden als auch im Süden des schäftsordnung der Kollegen Jürgen Koppelin und Landes verbessert werden. Im Süden muss mit dem Auf- Wolfgang Börnsen sowie der Kollegin Verena bau und Wiederaufbau infrastruktureller und administra- Wohlleben vorliegen.2) tiver Bereiche begonnen werden. Auch die Defizite bei der Basisgesundheitsversorgung und im Bildungssektor Wir setzen die Beratungen fort. müssen abgebaut werden. Deshalb begrüßen wir die an Bedingungen geknüpften Zusagen, die kürzlich bei der 1) Seite 16233 D Geberkonferenz in Oslo gegeben wurden. 2) Anlage 2 16230 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: nungspflichten. Die Belegsammlungen, die gefordert (C) werden, werden immer dicker. Deshalb muss ein Steuer- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- berater herangezogen werden. Leider sind auch die Steu- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu erberater wegen der ständigen Rechtsänderungen in un- dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Merz, serem Land kaum noch in der Lage, steuerrechtlich Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, weiterer Ab- korrekte Aussagen zu machen. geordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Die Vielzahl der Änderungen führt zu einer weiteren Konzept 21 Verkomplizierung und zu weiterer Unsicherheit. Damit werden Leistung und Motivation in unserem Land letzt- – Drucksachen 15/2745, 15/5176 – endlich massiv behindert. Ich glaube, wir müssen einen Berichterstattung: Kurswechsel einleiten. Wir müssen den Menschen ihre Abgeordnete Gabriele Frechen Freiheit zurückgeben. Wir müssen Leistung honorieren. Peter Rzepka Wir müssen Vertrauen, Verlässlichkeit und Berechenbar- keit in der Steuerpolitik schaffen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Schauen wir uns den Kurs der Regierungskoalition Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der vergangenen Jahre an; ich will auf einige Gesetz- die Debatte über diesen Tagesordnungspunkt nicht mit- gebungsmaßnahmen hinweisen. verfolgen können oder wollen, ihre dringenden Staatsge- Die so genannte Gesellschafterfremdfinanzierung ist spräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen, damit ein erstes treffendes Beispiel dafür, wie man Tatbestände wir für die an der Debatte beteiligten Kolleginnen und unzulänglich regelt. Kollegen die nötige Aufmerksamkeit sicherstellen kön- nen. Ein zweites Stichwort: Man spricht von mehr Investi- tionen und von mehr Leistung in unserem Land, aber die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vorschläge zur Mindestbesteuerung und zur Verschär- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst fung der Abschreibungsregeln sind wahrlich keinerlei der Kollege Dr. Michael Meister für die CDU/CSU- Anreiz für mehr Investitionen am Standort Deutschland. Fraktion. Ein drittes Beispiel: Durch das Kleinunternehmerför- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) derungsgesetz sollte die Unternehmensgründung erleich- (B) tert werden und sollte es einfacher werden, die Start- (D) Dr. Michael Meister (CDU/CSU): phase zu überwinden. Was ist gekommen? – Ein Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Formular „Einnahmenüberschussrechnung“, das heißt Herren! Wir führen diese Debatte über die steuerpoliti- mehr bürokratischer Aufwand, mehr Formalismus. schen Grundsätze in unserem Land im Einsteinjahr. Ich (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Genauso ist es! – darf mit einem Zitat von Albert Einstein beginnen: Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wie wahr!) Um eine Einkommensteuererklärung abzugeben, Ein weiterer Punkt ist die Umsatzsteuer. Wir haben muss man Philosoph sein; die Wirtschaft und die am Wirtschaftskreislauf Tätigen (Bernd Scheelen [SPD]: Oder einen Bier- mit umsatzsteuerlichen Pflichten gesegnet, deren Wir- deckel haben!) kung zweifelhaft ist und die die Finanzverwaltung gar nicht alle kontrollieren kann. Durch Regulierung und es ist zu schwierig für einen Mathematiker. Bürokratie bringen wir den Standort Deutschland nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und voran. der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bin Mathematiker. Auch wenn wir einige Jahrzehnte Oder nehmen wir Ihren Vorschlag einer Steueramnes- später leben, kann ich feststellen: Der Schwierigkeits- tie: Sie sollte Menschen dazu bewegen, in die Legalität grad des Steuerrechts ist leider nicht geringer geworden. zurückzukehren, und Ihrer Erwartung nach 5 Milliarden Deshalb geht es vielen Menschen in unserem Land wie Euro einspielen. Im Ergebnis hat sie nur etwa 20 Prozent Albert Einstein: Sie plagen sich wegen Aufwand und davon eingebracht. Das heißt, diese Maßnahme war er- Schwierigkeit mir ihrer Steuererklärung herum. folglos. Aber es wurden erhebliche Zweifel geschaffen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dass der Gesetzgeber tatsächlich dem Legalitätsprinzip der FDP) folgt und dass der Ehrliche am Ende nicht der Dumme ist. Wir müssen darüber nachdenken, ob eine solche Die Steuerzahler sind die Hauptbetroffenen. Sie sind Steuerpolitik sinnvoll ist. kaum noch in der Lage, ihre Einkommensteuererklärung in angemessener Zeit selbst anzufertigen. Sie verstehen Ein letztes Beispiel: die neu konzipierte Entfernungs- kaum noch den Sinn der sich zum Teil widersprechenden pauschale. An diese Pauschale haben Sie im Jahr 2001 Vorschriften. Durch den Vollzug wird die Komplexität einen Verwaltungserlass geknüpft, der siebeneinhalb weiter gesteigert. Es gibt eine Vielzahl von Aufzeich- DIN-A5-Seiten umfasst. Ich frage mich schon, ob ein Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16231

Dr. Michael Meister (A) normaler Mensch solch umfangreiche Verwaltungsan- die Frage, ob er nun Einkünfte aus selbstständiger Tätig- (C) weisungen zu einer einzelnen Bestimmung überhaupt keit hat oder ob er der Gewerbesteuer unterliegt. An die- zur Kenntnis nehmen und verstehen kann. Ich glaube, ser Frage hängt sich eine Menge von Gerichtsverfahren das geht in die falsche Richtung. Deshalb müssen wir auf. Wir sind der Auffassung: Wenn wir die Einkunftsar- dringend eine Umkehr zu einem einfacheren und dann ten zusammenführen, werden solche Gerichtsprozesse auch als gerechter empfundenen Steuersystem finden. überflüssig. Wir wollen weniger Gerichtsentscheidun- gen; wir wollen mehr Klarheit. Deshalb sagen wir: weni- Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben ger Einkunftsarten, weniger Gerichtsverfahren, weniger das Steuerrecht in Deutschland komplizierter, unüber- Bürokratie! schaubarer, unsystematischer und ungerechter gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sind der Auffassung, dass die Abzugsmöglichkei- Die Menschen in unserem Land verstehen Ihre Gesetze nicht mehr. Sie akzeptieren Ihre Gesetze nicht mehr. ten durch Einschränkung und Pauschalierung auf das notwendige Maß zurückgeführt werden sollen. Diese Deshalb ist auch das Vertrauen in Ihre Steuerpolitik ver- Rücknahme der Abzugsmöglichkeiten, die das Steuer- loren gegangen. Ständig wird von Ihnen als Gesetzgeber – wir erleben das aktuell wieder bei der Frage der recht deutlich vereinfacht, wollen wir im Gegensatz zu Ihnen erreichen. Ich nenne das Beispiel Steuervergünsti- Fonds – in Dispositionen, die bereits getroffen sind, im gungsabbaugesetz: Sie wollten Ausnahmen streichen Nachgang eingegriffen. Das muss ein Ende haben. Deutschland braucht eine Politik, die verlässlich ist und und die Einsparungen einfach als Mehreinnahmen im Haushalt verbuchen, sprich: Steuern erhöhen. Wir sind Vertrauen schafft. Vertrauen ist die Basis von Investi- der Meinung, dass wir die Ausnahmeregelungen zu- tionen, von Leistungsbereitschaft, von Wachstum und neuen Arbeitsplätzen. rückführen und die Einsparungen über den Tarif an die Menschen zurückgeben sollten, um damit zu einem ein- Vertrauen können wir nur gewinnen, wenn wir in der facheren Recht mit einer niedrigeren Belastung zu kom- Steuerpolitik wieder einem klaren Fahrplan folgen. Der men. Weg, den Sie eingeschlagen haben – der Weg der ständi- gen Reparaturen, des kleinen Karos ohne konzeptionel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len Entwurf –, führt in die Irre. Man muss einen Neube- Unser Steuerkonzept ist familienfreundlich. Wir ginn machen. Wir müssen uns entscheiden, endlich schlagen vor, für jeden Menschen in diesem Land einen einmal mit den Reparaturen am alten Auto, das schrott- Grundfreibetrag, ein Existenzminimum, von 8 000 Euro reif ist, aufzuhören, dieses alte, schrottreife Auto auf den einzuführen. Das heißt, wir wollten nicht in die Lebens- Abstellplatz zu bringen und uns einen Neuwagen zu be- (B) disposition der Menschen eingreifen. Eine vierköpfige (D) schaffen. Wir brauchen in der Steuerpolitik in Deutsch- Familie soll 32 000 Euro im Jahr steuerfrei vereinnah- land einen neuen Start. men können. Das ist ein Beitrag zu einer familienfreund- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichen Steuerpolitik. Das ist unser Ansatz, das ist unser Vorschlag. (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Gegen die Erhöhung des Kindergeldes (Joachim Poß [SPD]: Schrott haben nur Sie haben Sie 1999 gestimmt! Sie reden mit ge- überlassen!) spaltener Zunge! Bei Ihnen passt doch nichts – Lieber Herr Kollege Poß, wir sind uns darüber einig, zusammen!) dass wir den Menschen zu einfacheren Steuererklärun- – Lieber Herr Poß, es geht hier nicht um unsystemati- gen verhelfen wollen; aber wir sind uns leider nicht über sche Einzelmaßnahmen, sondern es geht darum, dass wir den Weg, auf dem das geschehen soll, einig. tatsächlich die Basis finden, mit einem einfacheren Wir sind der Meinung, einfachere Steuererklärungen Recht etwas für die Familienförderung zu tun. Wir sagen werden wir nur erreichen, wenn wir auch die zugrunde deshalb: im Bereich der Kinderbetreuung Abzugsmög- liegenden Gesetze vereinfachen. Es ist ein absoluter Irr- lichkeiten in vollem Umfang zulassen! glaube, dem Sie anhängen, wenn Sie behaupten, man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) könne mit einfacheren Steuererklärungen arbeiten, so- lange die Gesetze kompliziert sind. Nein, wir müssen Das ist ein riesiger Schritt voran für die Familien in tiefer gehen: Wir müssen das Recht deutlich vereinfa- Deutschland. Das schlägt die Union Ihnen hier und heute chen. Herr Poß, Ihnen fehlen der Mut und die Kraft vor. Stimmen Sie doch einfach zu, anstatt zu schreien! dazu, die Grundlagen zu reformieren. Dann tun wir gemeinsam etwas für die Familien in Deutschland. Das wäre doch einmal eine Leistung am (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – heutigen Vormittag. Joachim Poß [SPD]: Ich habe doch nur gesagt, dass Sie den Schrott überlassen haben!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen die Einkunftsarten zusammenlegen. Das Aktuell führen wir eine Diskussion über die Frage der ist kein Selbstzweck; denn an die Frage der Einteilung in Senkung des Körperschaftsteuersatzes. Ich halte die sieben Einkunftsarten knüpft sich eine Menge von Tatsache, dass wir diese Frage der Senkung des Körper- Rechtsstreitigkeiten. Ich möchte das an einem Beispiel schaftsteuersatzes mit dem Begriff „Unternehmensteuer- deutlich machen: Nehmen Sie einen EDV-Berater und reform“ etikettieren, für hochgradig anspruchsvoll. Die 16232 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Dr. Michael Meister (A) Veränderung eines Steuertarifs ist noch keine Reform. Aber wir müssen vorangehen. Wir müssen die Diskus- (C) An dieser Stelle springen wir zu kurz. Wir müssen uns sion vorantreiben, um den Standort Deutschland zu stär- dringend fragen: Wie kommen wir auch im Bereich der ken. Unternehmensteuer zu einem einfacheren Recht? Ein weiterer Punkt betrifft die Frage der Rechtsform- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neutralität. Ich möchte auf die aktuelle Debatte dazu NEN]: Dafür haben Sie bis heute keinen einzi- eingehen. Ich frage mich: Inwiefern berücksichtigen Sie gen Vorschlag gemacht!) in Ihrem aktuellen Vorschlag, den Körperschaftsteuer- satz zu senken, eigentlich die Personengesellschaften? Sie brauchen die Kraft und den Mut, Frau Scheel, um zu Selbstverständlich – das erkennen wir an – soll die Ge- sagen: Wir wollen die Gewerbesteuer in die Einkom- werbesteuer zu einem höheren Grad mit der Einkom- men- und Körperschaftsteuer integrieren und damit auf mensteuer verrechnet werden können. Dem widerspre- Substanzbesteuerung verzichten. che ich nicht, auch wenn, wie ich vorhin gesagt habe, das eigentliche Übel Gewerbesteuer mit dem Vorschlag (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nicht angegangen wird. Ich will aber gleich dazusagen: Joachim Poß [SPD]: Das steht nicht in Ihrem Das ist doch angesichts von 20 Prozent Kapital- und Konzept!) 80 Prozent Personengesellschaften kein adäquater Aus- gleich, zumal Sie daran denken müssen, dass es vom Nur so können wir Investitionen begünstigen und Büro- Hebesatz in der einzelnen Kommune abhängt, ob das kratie abbauen. Der Unsinn, dass wir die Einnahmen aus Unternehmen überhaupt einen Vorteil von dieser Maß- der einen Steuer mit denen einer anderen Steuer, nämlich nahme hat. der Einkommensteuer, verrechnen, muss ein Ende ha- ben. Das, was wir da treiben, ist doch hochgradig unsin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nig. Solange Sie nicht die Einsicht haben, von diesem Unsinn Abstand zu nehmen, werden wir es auch nicht Deshalb verlangen wir nach diesem einen Schritt in schaffen, zu einem einfachen Steuerrecht in Deutschland die richtige Richtung – das war ja unsere Anregung; wir zu kommen. Von diesen Vorschlägen findet sich bei Ih- haben die Jobgipfel gefordert – noch in dieser Wahlperi- nen nichts. ode weitere Maßnahmen, um unseren Standort besser zu positionieren. Ich hoffe, dass die Pressemeldungen vom heutigen (Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Jetzt sind Vormittag zutreffen, wonach die Bundesregierung auf Sie wieder in den Büschen!) den unanständigen Griff in die kommunalen Kassen durch eine Anhebung der Gewerbesteuerumlage ver- – Herr Poß, es ist doch aber wichtig, dass wir nicht nur (B) zichtet. Herr Bundesfinanzminister, ich würde mich sehr einseitig die Kapitalgesellschaften im Blick haben. (D) freuen, wenn Sie dies heute früh klarstellten, und in diese Richtung an Sie appellieren. Es kann nicht sein, (Joachim Poß [SPD]: Machen wir ja nicht!) dass den Kommunen virtuelle Einnahmen zugerechnet – Ich weiß nicht, ob Sie sich einmal mit Ihrem Fraktions- werden, obwohl ihnen real etwas entzogen wird. Das vorsitzenden abgesprochen haben, der scheint – nach wäre unanständig. Ich würde mich freuen, wenn wir das dem, was ich den letzten Tagen gehört habe – eine ganz in der Debatte heute Morgen abräumen könnten und die andere Auffassung zu vertreten. Der eine spricht von Debatte darüber dann beendet wäre. Heuschrecken, der andere will die Heuschrecken füttern. Das irritiert mich etwas und ich kann es nicht ganz zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ordnen. Wenn wir über die Unternehmensteuerreform disku- Aber ich will einmal sagen: Unsere Forderung ist, tieren, dann müssen wir uns endlich auch einmal fragen: dass wir zu einer Gleichbehandlung der Personen- und Wie gehen wir mit dem Europarecht um? Wir können Kapitalgesellschaften kommen. Deshalb fordern wir in doch nicht immer defensiv bleiben und warten, was der unserem Reformentwurf die Rechtsformneutralität des Europäische Gerichtshof in Luxemburg entscheidet, um Steuerrechts. Zur aktuellen Frage sagen wir: Wenn wir dann kleinere Nachbesserungsmaßnahmen vorzuneh- eine Entlastung der Kapitalgesellschaften durchführen, men. dann muss es eine entsprechende Leistung für die Perso- nengesellschaften geben. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Auch dazu gibt es keinen einzigen Vor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schlag in Ihrem Antrag!) neten der FDP) Wir brauchen endlich Anstrengungen unter Federfüh- Wir wollen auch eine entsprechende Regelung im rung unserer Bundesregierung, um zu einer gemeinsa- Erbschaftsteuerrecht. Wir sagen: Wenn Familienunter- men Bemessungsgrundlage in Europa zu kommen und nehmen ihr Unternehmen in der nächsten Generation damit eine strategische, offensive Antwort auf die He- weiterführen, dann soll die Erbschaftsteuerschuld zu- rausforderungen des europäischen Binnenmarktes zu nächst einmal gestundet werden. Im Falle der Fortfüh- finden. An dieser Stelle haben Sie uns als Partner. rung des Unternehmens, des Erhalts der Arbeitsplätze und der Weiterführung der wirtschaftlichen Aktivitäten (Joachim Poß [SPD]: Das steht alles nicht in soll die Erbschaftsteuerschuld abgearbeitet werden kön- Ihrem Papier!) nen und letztendlich nach zehn Jahren ganz entfallen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16233

Dr. Michael Meister (A) Wenn wir dies gemeinsam vereinbaren können, dann Wachstumskräfte entwickeln und dann könnten Sie auch (C) sind wir dazu bereit. Herr Poß, ergreifen Sie unsere auf einen gewissen Selbstfinanzierungseffekt vertrauen. Hand. Machen wir das gemeinsam! Dann tun wir tat- Deshalb werbe ich dafür, dass wir das aufgreifen, was sächlich etwas für den Standort Deutschland, für mehr unsere Parteivorsitzenden und Edmund Beschäftigung und für mehr Wachstum. Stoiber im Kanzleramt angeboten haben, nämlich einen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) umfassenden Reformentwurf mit 32 Punkten zu den ver- schiedenen Feldern, um den Standort Deutschland jetzt Ich möchte mich am Ende meiner Rede noch kurz mit besser zu positionieren, und nicht mit einigen wenigen zwei weiteren Argumenten auseinander setzen. Zum ei- isolierten Einzelmaßnahmen den Menschen den Glauben nen geht es mir um die Frage: Was ist das Ergebnis des- geben, hier werde etwas getan, mit dem Ergebnis, dass sen, was Sie bisher als Steuerreform verkauft haben? Sie sie am Ende aufwachen und feststellen: Es hat nicht ge- tun immerzu so, als seien die gesamten Reformen am holfen. Standort Deutschland schon erledigt. Aber haben Ihre Reformen denn zu weniger Arbeitslosen geführt? Wir brauchen mehr. Ihnen fehlt die Kraft zu mehr. 6,5 Millionen sind bei der Bundesagentur für Arbeit ge- (Joachim Poß [SPD]: Unredlich bis zum Geht- meldet. Haben sie zu weniger Unternehmensinsolvenzen nichtmehr!) geführt? Wir haben jährlich knapp 40 000 Unterneh- mensinsolvenzen. Geben Sie sich einen Ruck! Fassen Sie mehr Mut! Ent- wickeln Sie mehr Kraft! Bewegen Sie sich nach vorn (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) (Joachim Poß [SPD]: Kein Satz ist wahrhaf- Haben sie zu mehr sozialversicherungspflichtigen Be- tig!) schäftigungsverhältnissen geführt? Wir verlieren jeden Werktag 1 500 davon. – Deshalb sage ich: Was Sie bis- und halten Sie sich mit Polemik etwas mehr zurück! her als Reform bezeichnen, war nicht das, was wir brau- Vielen Dank. chen. Wir brauchen einen Neuanfang mit Struktur und klarem Fahrplan. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Unwahrhaftigkeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Person!) Eine letzte Bemerkung, und zwar zur Gegenfinanzie- rung, weil Herr Poß diesen Punkt mit Sicherheit anspre- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: chen wird. Solange Sie nur mit Einzelmaßnahmen arbei- Bevor wir die Debatte fortsetzen, kommen wir zum (B) ten, Herr Poß, wobei keine Verzahnung der Steuerpolitik Tagesordnungspunkt 17 zurück. Ich gebe Ihnen das von (D) mit Arbeitsmarkt, Bildung, Innovation, Entbürokratisie- den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte rung und Sozialsystemen stattfindet und wobei auch in- Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Be- nerhalb des Steuersystems nur Einzelmaßnahmen be- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum trachtet werden, bekommen Sie keine wirtschaftliche Antrag der Bundesregierung zur Beteiligung deutscher Dynamik am Standort und müssen seriös und voll ge- Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten Natio- genfinanzieren. Wenn Sie aber einmal einen großen Ent- nen in Sudan bekannt. Abgegebene Stimmen 565. Mit Ja wurf präsentieren würden, der psychologische Wirkung haben gestimmt 552, mit Nein haben gestimmt 3, Ent- entfaltet und dafür sorgt, dass im Lande Aufbruchstim- haltungen gab es 10. Die Beschlussempfehlung und da- mung und Hoffnung generiert werden, dann würden sich mit der Antrag der Bundesregierung sind angenommen.

Endgültiges Ergebnis (Starnberg) Marco Bülow Annette Faße Abgegebene Stimmen: 565; Sören Bartol Elke Ferner davon Sabine Bätzing Dr. Michael Bürsch Gabriele Fograscher Hans Martin Bury ja: 552 Rainer Fornahl Marion Caspers-Merk Gabriele Frechen nein: 3 Dr. Dr. enthalten: 10 Dr. Herta Däubler-Gmelin Lilo Friedrich (Mettmann) Hans-Werner Bertl Iris Gleicke Martin Dörmann Ja Günter Gloser Peter Dreßen Uwe Göllner SPD (Heidelberg) Elvira Drobinski-Weiß Detlef Dzembritzki Renate Gradistanac Dr. Lale Akgün Gerd Friedrich Bollmann Siegmund Ehrmann Angelika Graf (Rosenheim) Ingrid Arndt-Brauer Klaus Brandner Hans Eichel Dieter Grasedieck Martina Eickhoff (Neuruppin) Marga Elser (Hildesheim) Gabriele Groneberg Dr. Hans-Peter Bartels Hans-Günter Bruckmann Petra Ernstberger Achim Großmann Eckhardt Barthel (Berlin) Karin Evers-Meyer Wolfgang Grotthaus 16234 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Karl Hermann Haack Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (C) (Extertal) Wolfgang Spanier Hans-Joachim Hacker Ulrike Mehl Dr. Margrit Spielmann Dr. Maria Böhmer Petra-Evelyne Merkel Jörg-Otto Spiller Klaus Hagemann Ulrike Merten Dr. Ditmar Staffelt Wolfgang Börnsen Alfred Hartenbach (Bönstrup) Michael Hartmann Ursula Mogg Rolf Stöckel Wolfgang Bosbach (Wackernheim) Michael Müller (Düsseldorf) Christoph Strässer Dr. Wolfgang Bötsch Nina Hauer Christian Müller (Zittau) Rita Streb- Klaus Brähmig Gesine Multhaupt Dr. Peter Struck Dr. Reinhold Hemker Franz Müntefering Joachim Stünker Rolf Hempelmann Dr. Rolf Mützenich Jörg Tauss Monika Brüning Dr. Barbara Hendricks Volker Neumann (Bramsche) Dr. Gerald Thalheim Verena Butalikakis Petra Heß Dr. Erika Ober Franz Thönnes Hartmut Büttner Monika Heubaum Holger Ortel Hans-Jürgen Uhl (Schönebeck) Gisela Hilbrecht Heinz Paula Rüdiger Veit Cajus Julius Caesar Gabriele Hiller-Ohm Johannes Pflug Simone Violka Stephan Hilsberg Joachim Poß Jörg Vogelsänger Gerd Höfer Dr. Wilhelm Priesmeier (Pforzheim) Jelena Hoffmann (Chemnitz) Dr. Marlies Volkmer (Wismar) Dr. Hans Georg Wagner Thomas Dörflinger Frank Hofmann (Volkach) Karin Rehbock-Zureich Hedi Wegener Marie-Luise Dött Eike Hovermann Gerold Reichenbach Andreas Weigel Maria Eichhorn Klaas Hübner Dr. Carola Reimann Petra Weis (Stendal) Christel Humme Christel Riemann- Reinhard Weis (Lübeck) Lothar Ibrügger Hanewinckel Gunter Weißgerber Brunhilde Irber Gert Weisskirchen Renate Jäger Reinhold Robbe (Wiesloch) Albrecht Feibel Klaus-Werner Jonas René Röspel Dr. Ernst Ulrich von Johannes Kahrs Dr. Weizsäcker Ingrid Fischbach Karin Roth (Esslingen) Ulrich Kasparick Dr. Hartwig Fischer (Göttingen) Michael Roth (Heringen) Dr. h.c. Susanne Kastner Hildegard Wester Dirk Fischer (Hamburg) Gerhard Rübenkönig Lydia Westrich Axel E. Fischer (Karlsruhe- Hans-Peter Kemper Inge Wettig-Danielmeier Land) (B) Marlene Rupprecht (D) Klaus Kirschner Dr. Dr. (Tuchenbach) Jürgen Wieczorek (Böhlen) Klaus-Peter Flosbach Thomas Sauer Hans-Ulrich Klose Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Hans-Peter Friedrich Anton Schaaf Astrid Klug Dr. Dieter Wiefelspütz (Hof) Dr. Bärbel Kofler Axel Schäfer (Bochum) Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Gudrun Schaich-Walch Erich G. Fritz Dr. Heinz Köhler Engelbert Wistuba Jochen-Konrad Fromme Bernd Scheelen Barbara Wittig Dr. Michael Fuchs Fritz Rudolf Körper Dr. Dr. Hans-Joachim Fuchtel Karin Kortmann Siegfried Scheffler Verena Wohlleben Dr. Jürgen Gehb Rolf Kramer Horst Schild Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Roland Gewalt Ernst Kranz Horst Schmidbauer Heidi Wright Nicolette Kressl (Nürnberg) Georg Girisch Volker Kröning (Aachen) Manfred Helmut Zöllmer Dr. Hans-Ulrich Krüger Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Christoph Zöpel Angelika Krüger-Leißner (Meschede) Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Horst Kubatschka Wilhelm Schmidt (Salzgitter) CDU/CSU Helga Kühn-Mengel Heinz Schmitt (Landau) Josef Göppel Ute Kumpf Peter Götz Dr. Uwe Küster Walter Schöler Ilse Aigner Dr. Wolfgang Götzer Christian Lange (Backnang) Karsten Schönfeld Michael Grosse-Brömer Christine Lehder Fritz Schösser Dietrich Austermann Markus Grübel Waltraud Lehn Wilfried Schreck Dr. Elke Leonhard Dr. Karl-Theodor Freiherr von Eckhart Lewering Gerhard Schröder Günter Baumann und zu Guttenberg Götz-Peter Lohmann Brigitte Schulte (Hameln) Ernst-Reinhard Beck Gabriele Lösekrug-Möller Reinhard Schultz (Reutlingen) Holger Haibach Erika Lotz (Everswinkel) Dr. (Spandau) Dr. Klaus-Jürgen Hedrich Dirk Manzewski Dr. Angelica Schwall-Düren Tobias Marhold Dr. Martin Schwanholz Dr. Ursula Heinen Lothar Mark Siegfried Helias Erika Simm Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16235

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Jürgen Herrmann (Münster) (C) Günter Nooke Annette Widmann-Mauz Rainer Brüderle Ernst Hinsken Dr. Georg Nüßlein Klaus-Peter Willsch Franz Obermeier Robert Hochbaum Werner Wittlich Helga Daub Klaus Hofbauer Melanie Oßwald Dagmar Wöhrl Jörg van Essen Joachim Hörster Rita Pawelski Elke Wülfing Ulrike Flach Hubert Hüppe Dr. Peter Paziorek Wolfgang Zeitlmann Otto Fricke Dr. Ulrich Petzold Wolfgang Zöller Rainer Funke Dr. Egon Jüttner Dr. Willi Zylajew Dr. Wolfgang Gerhardt Bartholomäus Kalb Sibylle Pfeiffer Hans-Michael Goldmann Steffen Kampeter Dr. Friedbert Pflüger BÜNDNIS 90/ Dr. Irmgard Karwatzki DIE GRÜNEN Dr. Christel Happach-Kasan Bernhard Kaster Kerstin Andreae Ulrich Heinrich Siegfried Kauder (Bad (Bremen) Birgit Homburger Dürrheim) Daniela Raab Volker Beck (Köln) Dr. Werner Hoyer (Villingen- Hellmut Königshaus Schwenningen) Hans Raidel Birgitt Bender Gerlinde Kaupa Dr. Harald Leibrecht Helmut Rauber Grietje Bettin Ina Lenke Jürgen Klimke Peter Rauen Alexander Bonde Sabine Leutheusser- Julia Klöckner Christa Reichard (Dresden) Ekin Deligöz Schnarrenberger Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Thea Dückert Markus Löning Manfred Kolbe Hans-Peter Repnik Jutta Dümpe-Krüger Dirk Niebel Norbert Königshofen Franziska Eichstädt-Bohlig Günther Friedrich Nolting Hartmut Koschyk Dr. Hans-Josef Fell Hans-Joachim Otto Thomas Kossendey Joseph Fischer (Frankfurt) (Frankfurt) Rudolf Kraus Franz-Xaver Romer Katrin Göring-Eckardt Eberhard Otto (Godern) Dr. Klaus Rose Detlef Parr Günther Krichbaum Kurt J. Rossmanith Gisela Piltz Dr. Norbert Röttgen Günter Krings Peter Hettlich Dr. Dr. Martina Krogmann (Weiden) Ulrike Höfken Dr. Rainer Stinner Dr. Hermann Kues Peter Rzepka Thilo Hoppe Carl-Ludwig Thiele (Zingst) Anita Schäfer (Saalstadt) Michaele Hustedt Dr. Dieter Thomae Dr. Karl A. Lamers Dr. Wolfgang Schäuble Jutta Krüger-Jacob Jürgen Türk (B) (Heidelberg) Hartmut Schauerte (D) Fritz Kuhn Dr. Dr. Norbert Lammert Dr. Renate Künast Dr. Norbert Schindler Markus Kurth Barbara Lanzinger Georg Schirmbeck Undine Kurth (Quedlinburg) Fraktionslose Abgeordnete Karl-Josef Laumann Angela Schmid Christian Schmidt (Fürth) Dr. Reinhard Loske Werner Lensing Andreas Schmidt (Mülheim) Anna Lührmann Peter Letzgus Dr. Andreas Schockenhoff Jerzy Montag Nein Ursula Lietz Dr. Ole Schröder Kerstin Müller (Köln) Walter Link (Diepholz) Bernhard Schulte-Drüggelte Winfried Nachtwei FDP Christa Nickels Kurt Segner Joachim Günther (Plauen) Dr. Michael Luther Matthias Sehling Klaus Haupt Simone Probst Dorothee Mantel Marion Seib Jürgen Koppelin (Augsburg) (Altötting) Heinz Seiffert Dr. Conny Mayer (Freiburg) Bernd Siebert Christine Scheel Enthalten Dr. Martin Mayer Irmingard Schewe-Gerigk (Siegertsbrunn) Albert Schmidt (Ingolstadt) CDU/CSU Wolfgang Meckelburg (Berlin) Dr. Michael Meister (Emstek) Petra Selg Dr. Angela Merkel Herbert Frankenhauser Ursula Sowa (Hamm) Andreas Storm Susanne Jaffke Rainder Steenblock Doris Meyer (Tapfheim) Matthäus Strebl Lena Strothmann FDP Hans-Christian Ströbele Hans Michelbach Michael Stübgen Marianne Tritz (Bayreuth) Klaus Minkel Dr. Antje Vogel-Sperl Edeltraut Töpfer Dr. Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Gerd Müller Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Ludger Volmer Gudrun Kopp Stefan Müller (Erlangen) Josef Philip Winkler Dr. Hermann Otto Solms Bernward Müller (Gera) Volkmar Uwe Vogel Margareta Wolf (Frankfurt) Hildegard Müller Andrea Astrid Voßhoff Fraktionslose Abgeordnete (Bremen) Gerhard Wächter FDP Henry Nitzsche Marko Wanderwitz Dr. Gesine Lötzsch Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Petra Pau 16236 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Das Wort hat nun für die Bundesregierung der Bun- entwickeln. Man könnte bei einer Staatsneugründung (C) desfinanzminister Hans Eichel. ganz von vorn anfangen. Ich habe dafür viel Sympathie. Das ist aber nicht die Situation, in der wir uns befinden. (Beifall bei der SPD) Das konnte in den Ländern Osteuropas gemacht werden, als dort ein vollständiger Umschwung stattfand. Sie soll- Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: ten ganz vorsichtig sein, weil Sie an der Unüberschau- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und barkeit, die Herr Meister beklagt hat, einen riesigen An- Herren! Herr Meister, positiv finde ich den unpolemi- teil haben; denn Sie waren diejenigen, die für viele schen Ton, den Sie gewählt haben – das will ich aus- Steuersubventionen gekämpft haben. drücklich anmerken –; das unterscheidet Ihren Beitrag ein Stück von dem, was vielleicht Herr Merz an dieser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stelle gesagt hätte. DIE GRÜNEN) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Und Ich weiß, wovon ich rede. Müntefering!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das sehen wir!) Ich will in der Sache entsprechend reagieren. Wenn ich den Versuch unternommen habe, Steuersub- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wunderbar!) ventionen abzubauen, habe ich Ihre Reaktionen gesehen. Der wesentliche Grund für die Komplizierung des Steu- Sie haben allerdings nur ein paar Grundsätze gesagt errechts liegt in den vielen Ausnahmetatbeständen für und über das Konzept 21 zum Steuerrecht, das der De- jede kleine Gruppe. batte heute zugrunde liegt, so gut wie kein Wort verlo- ren. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Was ist denn an der Eigenheimzulage so kompliziert? Das ist (Beifall bei der SPD) doch ganz einfach!) Das hat auch seinen Sinn, glaube ich, verehrter Herr Jede Lobby setzt sich durch, wenn man versucht, diese Meister; denn das Konzept 21 ist der Verschnitt aus Subventionen abzubauen. Ich sage ganz allgemein: Die merzschem intellektuellem Radikalismus – übrigens mit jeweilige Opposition stellt sich immer vor die entspre- gewaltigen Kollateralschäden – chende Lobby und sagt: Da machen wir nicht mit. Wenn die Opposition dann noch eine Mehrheit im Bundesrat (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) hat, verhindert sie jede konsequente Vereinfachung des und bayerischem Pragmatismus von Herrn Faltlhauser. Steuerrechts; das ist leider wahr. (B) Heraus kommt dabei Flickschusterei. Herr Dr. Meister, diese Erfahrung ist wohl allgemei- (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ner Natur: Jeder Finanzminister hat den Versuch, Steuer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) subventionen abzubauen, mit seiner jeweiligen Mehrheit unternommen. Dann hat man festgestellt, wie stark die Insofern darf man über dieses Konzept nicht allzu deut- Lobby ist. lich reden. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist allenfalls Vereinfachung, Herr Meister, ist eine wunderbare eine zusätzliche Belastung! – Heinz Seiffert Sache – welcher Finanzminister wäre nicht dafür? –, [CDU/CSU]: Haben Sie Petersberg verges- schon um Gestaltungsmöglichkeiten auszuschließen, sen?) schon um den Vollzug wesentlich einfacher zu machen; alles richtig. Aber wenn Vereinfachung mit einer we- Für die Opposition – das will ich gar nicht einfach sentlich verschärften Ungerechtigkeit bei der Steuerbe- abtun – ist es eine besondere Versuchung, der Lobby lastung bezahlt wird – deswegen der Hinweis auf die nachzugeben. Kollateralschäden –, was wir bei all den Grundsatzkon- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Haben Sie Pe- zepten feststellen mussten, was auch die Finanzminister tersberg total vergessen?) der Länder einvernehmlich festgestellt haben, dann ist sie nicht in Ordnung. Also: Man muss das zusammen be- Zurzeit geschieht das ganz massiv. trachten. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der größte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lobbyist ist der Kanzler!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieses Vorhaben blockieren Sie jetzt schon seit vielen Wenn Vereinfachung sozusagen mit Unfinanzierbar- Jahren über den Bundesrat. keit bezahlt wird, weil weitere riesige Einnahmeausfälle Ihr Konzept, Herr Dr. Meister, kann in der Tat nicht entstehen, dann ist das ebenfalls ein nicht hinnehmbarer akzeptiert werden. Kollateralschaden und dann taugt das ganze Konzept nichts. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Wahrheit ist – darüber müssen wir uns klar sein; das haben einige der Radikalreformer vielleicht überse- Es stellt gegenüber all den Vorschlägen, die Sie in der hen –: Wir machen Umbau unter Betriebsbedingungen. Vergangenheit auf den Tisch gelegt haben, eine Kompli- Man kann im Elfenbeinturm ein völlig neues Konzept zierung dar und ist noch immer ungerecht. Die Absen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16237

Bundesminister Hans Eichel (A) kung des Eingangssteuersatzes auf 12 Prozent und des Hinzu kommen die Länder Bremen und Berlin. Hessen (C) Spitzensteuersatzes auf 36 Prozent macht die ganze so- zum Beispiel veräußert allein in diesem Jahr für ziale Schieflage deutlich. Sie selbst sagen, Ihr Konzept 850 Millionen Euro Verwaltungsgebäude und Ministe- führe – das bestätige ich – zu einem Einnahmeausfall in rien und mietet sie zurück. Trotzdem ist der hessische Höhe von 10 Milliarden Euro, Haushalt nicht verfassungsgemäß. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ach, Herr (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Ihrer auch Eichel!) nicht!) in den ersten beiden Jahren sogar zu einem Einnah- Baden-Württemberg ist haarscharf an der Verfassungs- meausfall von 15 bis 16 Milliarden Euro. widrigkeit vorbeigeschrammt. Dort werden die Zinsein- nahmen bis zum Jahr 2017 für die stille Einlage in der (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wer zahlt denn Landesbank auf die Jahre 2005 und 2006 vorgezogen, die veranlagte Einkommensteuer? Die Unter- sodass man gerade noch einen verfassungsgemäßen nehmen!) Haushalt vorlegen kann. Hinzu kommt Ihr Kindergeld-Versprechen, das weitere (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Ihre Ge- 17,5 Milliarden Euro kostet. nossen dort fordern doch, mehr Geld auszuge- (Joachim Poß [SPD]: Das haben sie alles nicht ben!) mit eingerechnet!) Bayern behauptet, nächstes Jahr einen Haushalt ohne Wir haben es hier also mit einem Konzept zu tun, das Kredite vorzulegen. Die Wahrheit ist, dass dies durch die nachhaltig 27,5 Milliarden Euro kostet. Meine Damen Verwendung von Privatisierungserlösen und Entnahmen und Herren, Ihre Vorschläge sind nicht von dieser Welt. aus alten Rücklagen, die aus alten Kreditermächtigungen gebildet worden sind, realisiert wird. Das ist allerdings (Beifall bei der SPD) nicht gemeint, wenn in der bayerischen Verfassung von einem ausgeglichenen Haushalt die Rede ist. Dass in Ihrem Gesamtkonzept eine Finanzierungs- lücke in Höhe von 100 Milliarden Euro besteht, hat Ih- Das ist die Lage, in der wir uns in Deutschland gegen- nen vorgerechnet. Mit anderen Worten: wärtig befinden. Ihr Konzept, das hier auf dem Tisch liegt, ist nicht wirk- (Zuruf des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ lichkeitstauglich. Deswegen haben Sie Ihre Vorschläge CSU]) auch nicht im Einzelnen angesprochen. – Seien Sie ganz vorsichtig, Herr Meister; denn hier un- Um es wirklichkeitstauglich zu gestalten, muss man (B) terliegen auch Sie einem Irrtum. In meinen Gesprächen (D) zu allererst fragen: Wie sieht der Finanzrahmen aus? mit den CDU-Finanzministern hört sich das schon ganz Denn die Finanzminister haben festgestellt: Wenn ein anders an. Konzept nicht finanzierbar ist, ist es nicht tauglich. Was heißt das? Ich sage, damit das klar ist, ganz freimütig: Es Unsere Steuerquote ist die zweitniedrigste innerhalb kann nicht so weitergehen, dass wir den Bundeshaushalt der Europäischen Union. Sie liegt ungefähr 3 Prozent nur dadurch verfassungsgemäß gestalten können, dass unter dem langjährigen Mittel der Bundesrepublik wir in großem Umfang Privatisierungserlöse einsetzen. Deutschland. Unsere Abgabenquote liegt auf der Höhe Das wollte ich nicht tun. der Abgabenquote Großbritanniens und unterhalb des Durchschnitts der Mitgliedstaaten der Europäischen (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Sie ma- Union. In der gegenwärtigen Situation können wir weder chen es aber seit vielen Jahren!) den Abbau der Finanzhilfen und die Einschränkungen Ich wollte sie zum Abbau alter Schulden, nicht aber zur im konsumtiven Bereich, die wir massiv vorgenommen Finanzierung laufender Ausgaben verwenden. haben, noch den Abbau von Steuervergünstigungen für einzelne Gruppen, die dadurch etwas verlieren, durch Inzwischen gibt es fünf Länder in Deutschland, die, allgemeine Steuersenkungen gegenfinanzieren, weil die anders als der Bund, bereits in der Vorlage verfassungs- Finanzlage der öffentlichen Haushalte das nicht zulässt. widrige Haushalte haben. Das ist die Wirklichkeit, Herr Dr. Meister. (Zuruf des Abg. Hans Michelbach [CDU/ CSU]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Auf Bayern komme ich noch zu sprechen, Herr Michelbach. – Im reichen Land Hessen, Sie macht alles zur Makulatur, was Sie bisher program- matisch an Versprechungen in diesem Bereich gemacht (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wer war denn da haben. Deswegen sind Ihre Vorschläge nicht wirklich- Ministerpräsident?) keitstauglich. Ich kann Ihnen diesen Vorwurf nicht er- in Niedersachsen und im Saarland wurden verfassungs- sparen. Denn gleichzeitig stellen Sie, insbesondere Herr widrige Haushalte vorgelegt; es müsste Ihnen übrigens Stoiber, sich wieder hin und fordern den Abbau von auffallen, dass in all diesen Länder Ministerpräsidenten Schulden und die Einhaltung der Maastricht-Kriterien. von der CDU regieren. Beide Forderungen sind natürlich richtig. Doch 17,5 Milliarden Euro von den 26 Milliarden Euro an (Zurufe von der CDU/CSU: Ja, ja!) Steuervergünstigungen, die ich seit 2002 zum Abbau 16238 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Bundesminister Hans Eichel (A) vorgeschlagen habe, sind im Blockadegestrüpp des Bun- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Erst die Steuer er- (C) desrates hängen geblieben. Im vorigen Jahr – das kann heben und sie dann wieder nicht erheben! Das man den Statistiken entnehmen – hätten wir, wenn Sie ist sinnvoll!) nicht blockiert hätten oder wenn wir dieses Volumen durch andere Maßnahmen mit gleicher fiskalischer Wir- Darauf komme ich gleich noch einmal zu sprechen, kung ersetzt hätten, die 3-Prozent-Grenze bereits einge- wenn ich auf die Vereinbarung des Jobgipfels eingehe. halten und wir hätten uns manche Debatte sparen kön- Wir haben zudem die Körperschaftsteuersätze gesenkt nen. Also, meine Damen und Herren: Was hier und auf ein zu dem Zeitpunkt – das ist inzwischen schon genehmigt ist und im Bundesrat hängen bleibt, liegt in wieder eine Kleinigkeit anders – international vergleich- Ihrer Verantwortung und nicht in unserer; das muss klar bares Niveau gebracht. zugewiesen werden. Deswegen, meine Damen und Herren: Wer jetzt ein richtiges Konzept will, der muss darauf aufsetzen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Noch ver- Er macht sich selbst was vor!) schlimmbessern oder wie?) Vorgeschlagen habe ich ja jede Menge. Das Problem und dann den Zusammenhang mit der Unternehmensteu- ist – darauf komme ich gleich noch zurück –, wie Sie auf erreform herstellen. Denn der Sachverständigenrat hat so etwas reagieren. ja zu Recht betont, dass wir nur bei der Einkommen- steuer viel gemacht haben. Für weitere Vereinfachungen (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ihr seid halt gut!) – wenn ich sie denn durch den Bundesrat bekäme, Herr Dr. Meister – bin ich jederzeit sofort offen, allerdings Das wird so nicht weitergehen. Herr Dr. Meister, das mit dem Hinweis: Es darf keine soziale Schieflage dabei Problem mit dem von Ihnen vorgelegten Konzept ist entstehen und es muss finanzierbar sein. Wann immer – Sie wissen es selbst; der Sachverständigenrates hat das diese beiden Bedingungen erfüllt sind, gehe ich den richtig gesagt; ich zitiere nur den einen Satz aus seinem Weg – wenn wir ihn denn gemeinsam gehen können. Gutachten –: Im Zentrum steht jetzt – das sagt der Sachverständi- Alles in allem sind die von CDU/CSU und FDP genrat zu Recht –, um unsere internationale Wettbe- vorgelegten Konzepte in der derzeitigen Fassung werbsfähigkeit zu wahren, die Fortsetzung der Unterneh- als Grundlage einer Unternehmenssteuerreform mensteuerreform. Dafür gibt es bei der Bundesregierung nicht geeignet. einen ganz klaren Fahrplan: (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie tun so, als ob (D) es nur in Deutschland Aktiengesellschaften Das ist die zentrale Botschaft. gäbe! Dabei sind es nur 14 Prozent!) Eine Einkommensteuerreform haben wir gemacht, Am Anfang muss eine rechtsformneutrale und finanzie- mit ganz massiven Einschnitten. Auch eine Unterneh- rungsneutrale Unternehmensbesteuerung stehen. Da mensteuerreform haben wir eingeleitet. Deren erste muss man ein bisschen genauer hinsehen, was Sie in Stufe war das Halbeinkünfteverfahren. Dazu kann ich dem Zusammenhang vorschlagen. Der Sachverständi- nur sagen: Ein Glück, dass wir das gemacht haben! genrat kritisiert ja zu Recht: Die Aussagen kommen aber (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist eine Kata- über einige allgemeine Aussagen kaum hinaus. Gesagt strophe!) wird lediglich, dass der Dualismus von progressiver Ein- kommensteuer und Körperschaftsteuer grundsätzlich Denn wenn das Manninen-Urteil des Europäischen Ge- beibehalten wird und beide Seiten mit dem Ziel der Be- richtshofs jetzt noch auf uns durchschlagen würde, dann steuerungs-, Rechtsform- und Finanzierungsneutralität müssten wir bluten ohne Ende. unter Berücksichtigung der europäischen und internatio- nalen Entwicklung aufeinander abgestimmt werden sol- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len. Dies lässt eigentlich alle Fragen offen. NEN]: Ja! Zweistellig!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bin ich froh, dass ich auf Herrn Merz nicht gehört habe, NEN]: Ja! Genau so ist es!) als wir die Unternehmensteuerreform im Jahr 2000 Und das ist auch so, meine Damen und Herren! Sie sind durchgebracht haben! Und Sie müssen auch froh darüber jetzt, auch mit dem Optionsmodell, genau bei dem Vor- sein. schlag angekommen, den ich vor fünfeinhalb Jahren ge- Wir haben für die Personengesellschaften, wie für alle macht habe und den Sie damals abgelehnt haben. privaten Haushalte, die Einkommensteuer massiv ge- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben schon senkt: Eingangssteuersatz von 25,9 auf 15 Prozent, Spit- viele Vorschläge gemacht!) zensteuersatz von 53 auf 42 Prozent und – ganz zentral; was die Personengesellschaften immer gefordert haben, In Wirklichkeit werden wir uns etwas anderes klar ma- was der Mittelstand immer gefordert hat – die Gewerbe- chen müssen: Das reicht gar nicht mehr. Wir sind mit der steuer als Kostenfaktor durch die Anrechnung de facto Art, wie wir in Deutschland die Unternehmen besteuern, beseitigt. auf europäischer Ebene ein Ausnahmefall. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16239

Bundesminister Hans Eichel (A) Das heißt: Wir werden die Rechtsformneutralität nur nen. Das muss möglichst schnell und ohne jeden Verzug, (C) dann erreichen, wenn wir alle Unternehmen unter das aber sorgfältig geschehen, weil es natürlich richtig ist, gleiche Steuerregime stellen, nämlich das Körperschaft- dass man bei den Regelungen im Steuerrecht vorsichtig steuerregime. Das ist die europäische Übung und da- sein muss. Das gilt für alle Beteiligten. Die Zeit dafür rüber werden wir reden müssen. braucht man also. Über den Punkt, den Sie damals noch heftig attackiert Das bedeutet aber keinen Reformstillstand. Herr haben, werden wir Einigkeit erzielen müssen, wenn wir Dr. Meister, Sie haben zu Recht auf Europa hingewie- bei der Unternehmensbesteuerung wirklich vorankom- sen. Das heißt übrigens auch nicht, dass wir darauf war- men wollen. Das wirft eine Reihe von Fragen auf, auch ten, dass etwas kommt. Im Gegenteil: Vor inzwischen hinsichtlich der Gewerbesteuer. Ich will in Richtung fast einem Jahr haben wir die gemeinsame Bemessungs- FDP ausdrücklich sagen: Unser Modell sieht nicht eine grundlage für die Unternehmensbesteuerung in Europa kommunale Selbstverwaltung vor, die allein von Zuwei- auf die Tagesordnung gesetzt. Ich mache mir aber keine sungen abhängig ist. Wir wollen eine kommunale Selbst- Illusionen. Das ist keine Sache, die man in einem Jahr verwaltung mit eigenem Steuerrecht und eigenem He- oder zwei Jahren erreichen kann. Wie Sie wissen, ist in besatzrecht. Das wird man sich bei dieser Gelegenheit Europa beim Steuerrecht Einstimmigkeit erforderlich. wieder sehr genau ansehen müssen. Das haben wir nicht gewollt. Wir wollten in die Verfas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sung den Übergang zur qualifizierten Mehrheit hinein- DIE GRÜNEN – Elke Wülfing [CDU/CSU]: schreiben. Nun ist das aber anders. Zunächst einmal Wir auch!) muss ich zur Kenntnis nehmen, dass mindestens vier eu- ropäische Staaten keine Bereitschaft zeigen, dort mitzu- Wir haben Untersuchungen dazu eingeleitet, ob wir machen. Es handelt sich um Großbritannien, Irland – es den Weg von der Rechtsformneutralität hin zu einer glei- sind also nicht nur neue Mitgliedstaaten –, Malta und die chen Besteuerung aller Arten von Kapitalerträgen gehen Slowakei. Diese haben ganz unterschiedliche Argu- und das von den Arbeitseinkommen trennen sollten. Das mente. Möglicherweise werden wir uns auf eine ver- ist die Dual Income Tax; das ist der Vorschlag des stärkte Zusammenarbeit einigen; das kann sein. Ich Sachverständigenrates. Ich will dies heute nur als Frage hoffe aber, dass wir uns doch noch mit unserem Argu- formulieren, weil ich bei der Beurteilung, ob wir diesen Weg gehen sollten, vorsichtig bin. Wir haben Untersu- ment durchsetzen können, das besagt, dass es insbeson- chungen dazu begonnen. Diese Lösung finden wir in dere für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, Skandinavien. Ich will das jetzt nicht im Einzelnen beur- die in mehreren Ländern Europas tätig sein wollen, ein teilen. Das ist ein kompliziertes Thema. Ich will nur da- unerträglicher Zustand ist, dass sie von Land zu Land (B) rauf hinweisen, dass es ein Pro und ein Kontra gibt. Das mit völlig unterschiedlichen Steuersystemen konfrontiert (D) Kontra ist die Frage, ob das alles als gerecht empfunden werden. wird. Ich sage: Da es die Schweden können, hätte ich da- Ich will noch weitergehen. Ich bin nicht nur für Min- mit keine sehr großen Probleme. deststeuersätze. Ein Element der Begründung unserer (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Vorschläge beim Jobgipfel war, dass es durch die unter- schiedlichen Steuersätze in Europa zu Gewinnverschie- Das Pro könnte darin liegen, dass es uns im europäi- bungen kommt, ohne dass wir sie wirklich nennenswert schen Wettbewerb unter Umständen hilft. Die syntheti- ver- oder behindern können. Wenn ein Unternehmen sche Einkommensteuer ist mit einem großen Problem Standorte in mehreren Ländern hat, verschiebt es die Ge- verbunden. Am Ende hat man nämlich sehr niedrige winne in das Land, in dem die Besteuerung am niedrigs- Spitzensteuersätze mit hohen Einnahmeausfällen und ten ist. Ich glaube, das ist gesamteuropäisch nicht hin- Ungerechtigkeiten, was niemand im Ernst wollen kann. zunehmen. Es wäre gesamteuropäisch vernünftig, nicht Ich glaube, das würde auch der deutschen Tradition der nur eine gemeinsame Bemessungsgrundlage bei der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, wie dies im Unternehmensbesteuerung, sondern auch eine gemein- Grundgesetz steht, widersprechen. Nicht, dass Sie mich same Unternehmensbesteuerung zu haben, wie das in falsch verstehen: Ich sage nicht, dass das verfassungs- Deutschland der Fall ist. Zusätzlich könnte es lokale, re- widrig wäre, aber es würde nicht unserem Verständnis entsprechen. Darüber werden wir reden müssen. Alle gionale bzw. kommunale Steuern geben, was in einigen Vorbereitungen, die notwendig sind, um die Debatte sau- Gebieten auch der Fall ist. Die grundlegende Besteue- ber führen zu können, werden vom Sachverständigenrat rung der Unternehmen in Europa sollte aber einheitlich so getroffen, dass wir Ende des Jahres alle Argumente sein. – Pro und Kontra – auf dem Tisch haben. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergeben sich eine Zum Zeitablauf. Eine solche große neue Stufe der ganze Menge Probleme; ich habe darauf hingewiesen. Unternehmensteuerreform ist bei der notwendigen Anders ausgedrückt: Der Europäische Gerichtshof hebt Sorgfalt nicht in dieser Legislaturperiode zu erreichen. im Prinzip alle Besonderheiten, die beim Außensteuer- Die Finanzminister der Länder haben einstimmig gesagt, recht Grenzen ziehen, etwa bei der Wegzugsbesteue- dass man bei den jetzt gegebenen Grundlagen in dieser rung, auf. Er hat festgelegt: Der gemeinsame Binnen- Wahlperiode keine neue große Steuerreform machen markt bedeutet, dass man nicht mehr zwischen dem kann. Der Sachverständigenrat sagt zu Recht, dass eine unterscheiden kann, was in Deutschland, Frankreich sorgfältigere Erarbeitung nötig ist, um das tun zu kön- oder Belgien gilt. Das ist auch logisch. 16240 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Bundesminister Hans Eichel (A) Das Problem ist, dass dies rückwirkend gilt, sodass bayerischen Seite gesagt worden ist, meine Kalkulation (C) wir als Finanzminister – ich hoffe, dies geschieht im der Einnahmeausfälle bei der Senkung der Körper- Einvernehmen mit der Kommission – versuchen, in die- schaftsteuer von 25 auf 19 Prozent sei zu pessimistisch, ser Situation zweierlei zu erreichen. Auf der einen Seite man müsse nicht von Einnahmeausfällen von 6,2, son- müssen wir selber sehr viel stärker als bisher unser Sys- dern von 5,2 Milliarden ausgehen. Ich habe mir das an- tem daraufhin überprüfen, ob es europatauglich ist. Das gesehen und gesagt, dass auch diese Annahme möglich war ein wesentlicher Grund für den Übergang vom Voll- ist. Aber ich lasse mir dann nicht vorwerfen, meine anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren. Das Rechnung sei unseriös. war richtig so. Ein anderer Punkt ist – das lässt sich sehr schwer fest- Auf der anderen Seite müssen wir auf Folgendes hin- machen –, dass mit der Absenkung des Körperschaft- arbeiten – das Bundesverfassungsgericht hat sich ähnlich steuersatzes auf ein Niveau, das in der Gesamtbesteue- geäußert –: Grundlage unser Rechtsprechung ist, dass rung unter dem unserer westlichen Nachbarn und damit die Kalkulierbarkeit der öffentlichen Haushalte er- auch unter dem Österreichs liegt, auch Auswirkungen halten bleiben muss. Wenn wir Glück haben, haben wir auf das Steuersubstrat verbunden sind. Wissenschaftler für die Umsetzung einige Jahre Zeit. Man wird dann ent- bestätigen uns, dass dies zusammenhängt. Aber ich gebe weder eine nationale Anpassung vornehmen oder, wenn zu, dass es schwierig ist, hier Schätzungen vorzuneh- wir gut sind, eine europäische Regelung erreichen. Das men. Wir werden uns einigen müssen; denn wir alle wis- wäre die richtige Antwort. Auch eine Reihe anderer sen, dass, wenn wir über Steuerrechtsänderungen reden Dinge wie die Verlustverrechnung stehen auf der Tages- und uns fragen, was sie kosten und was sie uns bringen ordnung. Dies spricht übrigens für die Absenkung des werden, wir es in Wirklichkeit nicht mit Mathematik Körperschaftsteuersatzes, damit wir in diesem Zusam- – um auf Einstein zu kommen –, sondern mit Sozialwis- menhang unsere Risiken – ich erinnere hier an den Fall senschaften zu tun haben. Marks & Spencer – verringern. Das ist eine wesentliche Abwehrstrategie. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir haben es mit Sozialdemokraten zu tun!) Nun komme ich zu dem, was auf dem Jobgipfel ver- abredet worden ist. Lassen Sie mich eines vorneweg sa- Mit jeder Steuerrechtsänderung wird zugleich eine Ver- gen: Was ich nicht gut finde, ist, dass ich nicht weiß, wer haltensänderung der Steuerbürger bewirkt, die einge- der Verhandlungsführer ist. Herr Faltlhauser hat mir er- schätzt werden muss. Wenn wir hier vernünftig vorgehen klärt, er habe dafür kein Mandat. Der Bundeskanzler hat wollen, werden wir also miteinander reden müssen. Ich es aber anders verstanden. Dann höre ich wieder, er habe muss dafür aber wissen: Wer ist der Verhandlungspart- ner? Wie ist seine Position? (B) vielleicht doch ein Mandat. Ich weiß nicht, wie ich so (D) verhandeln soll. Darüber hinaus weiß ich nicht, was Sie (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie müssen inhaltlich wollen. Gesetze machen!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wissen Sie denn, Ich habe vorgeschlagen, jetzt in das Verfahren einzu- was Sie wollen?) steigen, damit wir vor dem Sommer fertig werden. Ein Ich komme als Beispiel auf das schöne Thema Erb- Vermittlungsverfahren sollten wir daher vermeiden. Von schaftsteuer zu sprechen. Wir sind uns doch einig, Herr meiner Seite wird jede Art von Gespräch akzeptiert, sei Meister. Aber das, was mir an Unterlagen übergeben es in der Arbeitsgruppe, die jedenfalls aus Sicht des worden ist, ist ein Arbeitsentwurf, der nicht einmal das Bundeskanzler und des Vizekanzlers damals vereinbart bayerische Kabinett passiert hat. Daher frage ich: Ist das war – offenbar sieht das Ihre Seite anders –, sei es jeder nun die Position der B-Länder? Was ist eigentlich mit andere Weg im Rahmen des Verfahrens. Dann können der Gegenfinanzierung? wir zu einer Lösung kommen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dafür muss man Ich habe – das ist mir sehr schwer gefallen – die Ge- Sie fragen! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wer werbesteuerumlage herausgenommen. Das hat meine macht denn die Gesetze?) Seite dieses Hauses nicht gewollt und das hat Ihre Seite dieses Hauses nicht gewollt. Ich will Sie aber auf eines Dazu steht da nämlich nichts. Für die Einbringung muss hinweisen: Das Tableau zeigt, dass die einzigen Gewin- ich doch wenigstens wissen, ob die Bayerische Staatsre- ner der harten Steuerrechtsänderung die Kommunen gierung dahinter steht oder ob das nur ein Referentenent- sind. Nun will ich Ihnen sagen, worüber ich mich ärgere. wurf ist. Wird das von den B-Ländern unterstützt? Was Schauen Sie sich einmal an, was in Deutschland passiert. ist mit der Gegenfinanzierung? Diese Fragen müssen ge- Wir haben in diesem Hause Entscheidungen zur Verbes- klärt werden. serung der kommunalen Finanzausstattung getroffen. Das haben wir gewollt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Was mich auch gewaltig ärgert – das ist nicht in Ord- nung –, ist, dass von Unseriosität die Rede war. Es be- Das stand auch im Zusammenhang mit Hartz IV. stand Einvernehmen darüber, dass wir wenigstens auf Schauen Sie sich einmal an, was gegenwärtig in den technischer Ebene zusammenarbeiten. Das ist gesche- deutschen Ländern passiert. Baden-Württemberg – das hen. Das Fazit war, dass aufgrund von Berechnungen der ist nur der gröbste Fall – kürzt vor diesem Hintergrund Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16241

Bundesminister Hans Eichel (A) den kommunalen Finanzausgleich mit der Begründung, man ein solch kompliziertes Recht vereinfachen kann (C) den Kommunen gehe es so gut und dem Land gehe es so und wie stark wir es vereinfachen müssen, damit uns die schlecht. Deshalb hole sich das Land das Geld wieder Bürger folgen können und wieder Vertrauen in den Staat, zurück. Das sollten wir alle uns als Bundestagsabgeord- auch in den Steuerstaat, fassen. Heute fühlen sie sich nete nicht gefallen lassen. vom Staat übervorteilt und bevormundet. Sie fühlen sich unfähig, diese Vorschriften zu befolgen, weil sie sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ überhaupt nicht mehr verstehen können. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Heinz Da Sie, verehrter Herr Dr. Meister, so unpolemisch Seiffert [CDU/CSU]) gesprochen haben, habe ich das auch gemacht. Das ist auch kein Wunder, wenn sogar die Finanzverwal- (Lachen bei der CDU/CSU) tung sie nicht mehr anwenden kann, wenn die Steuerbe- – Dann können Sie nicht zuhören. – Das ändert aber rater nicht mehr fähig sind, alle Vorschriften richtig zu nichts daran, dass es noch Meinungsdifferenzen gibt. beurteilen, und wenn selbst die Finanzgerichte nicht mehr in der Lage sind, ein endgültiges Urteil zu fällen. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: 25 Minuten re- Dieses Steuerrecht ist obsolet und es muss beseitigt wer- den und nichts sagen!) den. Wir stimmen mit der CDU/CSU-Fraktion in der Wir sollten vielleicht den Versuch unternehmen, uns zu Zielsetzung völlig überein, dass wir ein drastisch verein- einigen. Dann muss ich allerdings wissen, wer verhan- fachtes Steuerrecht brauchen. delt. Ich muss auch Ihre Position kennen. Es geht nicht, Nun haben wir – das muss man hier erklären – unse- nur Nein zu sagen. Sie, die Sie die Mehrheit im Bundes- ren Entwurf im Finanzausschuss zurückgezogen, weil rat haben, müssen auch sagen, was Sie stattdessen wol- wir Änderungsbedarf hatten; denn wir wollten ihn mit len. Das ist der Weg nach vorne, den wir gehen müssen. einem Entwurf zu einer Reform der Unternehmensteuer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verbinden. Der internationale Wettbewerb genauso wie DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs CSU]: Sie haben ein besonderes Verhältnis zur zwingen uns dazu, eine Reform der Unternehmensbe- Polemik!) steuerung durchzuführen. Deswegen wollten wir die Schnittstellen zwischen Einkommensteuer und Körper- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schaftsteuer neu formulieren. Die Zeit dafür wurde uns Wie gut, dass einzelne Meinungsverschiedenheiten nicht zugestanden. Deshalb haben wir unseren Entwurf bleiben, sonst brauchten wir die Debatten nicht. zum Einkommensteuergesetz zurückgezogen. Wir bera- (B) ten jetzt auf unserem Bundesparteitag ein Konzept für (D) Nun hat das Wort der Kollege Dr. Hermann Otto eine Unternehmensteuerreform. Wir werden dies in ei- Solms für die FDP-Fraktion. nem Gesetzestext formulieren, eine Abstimmung und Harmonisierung vornehmen und dann einen Gesamtent- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): wurf für eine Reform der direkten Steuern im Deutschen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Bundestag noch in dieser Legislaturperiode – ich hoffe, Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlass der Ende dieses Jahres – vorlegen. Debatte ist heute das „Konzept 21“ der CDU/CSU-Frak- (Beifall bei der FDP) tion und nicht die Auswirkungen des Jobgipfels, auf die ich aber anschließend eingehen will. Die FDP-Fraktion Das sage ich nur, um Ihnen zu zeigen, dass wir es hatte vor über einem Jahr, im Januar, dem Deutschen ernst meinen, und zwar nicht parteipolitisch einseitig. Bundestag einen Gesetzentwurf für eine neue Einkom- Wir sehen die objektive Notwendigkeit einer grundsätz- mensteuer vorgelegt, weil wir eine grundsätzliche Steu- lichen Reform der Steuern. Dabei sind der Tarif und da- erreform noch in dieser Legislaturperiode ermöglichen mit der Streit um den Tarif in Wirklichkeit das Unwe- wollten. sentlichste. Das Entscheidende ist die systematische Neugestaltung des Steuerrechts. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Leider haben die Regierungsfraktionen dieses Angebot nicht angenommen. Bei aller Unterschiedlichkeit in Ein- Nur so werden wir, zumindest im europäischen Raum, zelheiten hätte man sehr wohl zu einem gemeinsamen die Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen. Es ist eine Konzept kommen können und hätte dann nicht wie- Selbstverständlichkeit, dass wir bei der Reform der derum zwei bis drei Jahre verloren. Ich bedauere außer- Unternehmensteuern darauf achten müssen, dass der eu- ordentlich, dass es diese Bereitschaft nicht gegeben hat. ropäische Binnenmarkt endlich auch im Steuerrecht vollzogen wird. Dadurch sind wir gezwungen, die Wett- (Beifall bei der FDP) bewerbssituation in Europa zu berücksichtigen und die Das Konzept war sehr weitreichend, zumal wenn Sie unterschiedlichen Steuerhöhen so umzugestalten, dass bedenken, dass sich das Einkommensteuergesetz heute Deutschland die Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangt. in der Beck’schen Textsammlung auf über 303 Seiten er- Ich habe das in einer Grafik abgetragen, auf der Sie streckt, während unser neues Einkommensteuergesetz – auch wenn es für Sie jetzt schwer sichtbar ist – an der nur 25 Seiten umfasst. Das zeigt ganz deutlich, wie stark oberen schwarzen Linie erkennen können, dass 16242 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Dr. Hermann Otto Solms (A) Deutschland die Unternehmen, egal welcher Rechts- für, dass Maßnahmen zur Gegenfinanzierung getroffen (C) form, am weitaus höchsten besteuert. werden. Aber diese dürfen natürlich nicht wieder aus- schließlich die Unternehmen treffen; denn dann nützt die (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Steuerentlastung nichts. Die Argumentation mit der Steuerquote oder der durchschnittlichen Besteuerung, Herr Eichel, die immer (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wieder vorgetragen und immer wieder widerlegt wird, NEN]: Und wer soll das dann bezahlen? – Ge- führt an der Realität doch völlig vorbei. Ein Investor, der genruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ überlegt, ob er in Österreich oder in Deutschland inves- CSU]: Die Grünen!) tieren soll, der fragt doch nicht nach der Höhe der Steu- Dass die Verlustzuweisungsfonds schlechter gestellt erquote, sondern nur danach, wie hoch er besteuert wird, bzw. deren Vorteile beseitigt werden, wird von uns wenn er Gewinne erzielt, und ob er seine Verluste mit grundsätzlich unterstützt. Wir wollen das Konzept dann den Gewinnen verrechnen kann. Wenn er in Deutschland natürlich im Detail sehen; das muss man sich genau an- von der Mindeststeuer erfährt – die, ohne Mitwirkung schauen. Aber eine Verschärfung der Mindestbesteue- der FDP, leider von beiden Seiten des Hauses eingeführt rung wird von uns grundsätzlich abgelehnt, weil das ein worden ist –, sagt er: Nein, einen solchen Unsinn mache Weg in die falsche Richtung ist. ich nicht mit; wenn ich nicht einmal meine Verluste der Anlaufphase sofort mit den dann entstehenden Gewin- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen verrechnen kann, dann werde ich in Deutschland der CDU/CSU) nicht investieren. Im Übrigen haben wir im Bereich der Subventionen (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und der finanziellen Zuwendungen einen riesigen NEN]: In anderen Ländern gibt es keine Ver- Spielraum zur Entlastung. Unsere Haushälter haben ja lustvorträge!) ein „Sparbuch“ mit über 400 Einzelvorschlägen entwi- ckelt und im Haushaltsausschuss vorgelegt; es sieht Ein- Wenn die Besteuerung – egal ob sie bei 42 Prozent sparungen mit einem Gesamtvolumen von 12,5 Milliar- einschließlich Soli oder bei 39,5 Prozent durch Körper- den Euro vor. Ich trage Ihnen das hier noch einmal vor, schaftsteuer plus Gewerbesteuer liegt – deutlich höher um Ihnen und auch der Öffentlichkeit deutlich zu ma- ist als in den anderen Ländern – ich nehme als Maßstab chen: Sparen ist möglich. wieder Österreich mit 25 Prozent –, dann sagen die Un- ternehmer: Es macht keinen Sinn, dort zu arbeiten und (Beifall bei der FDP – Christine Scheel zu investieren. Deswegen müssen wir die Steuerbelas- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wäre tung für die Unternehmen auf ein in Europa wettbe- (B) schön, wenn Sie immer dabei gewesen wären (D) werbsfähiges Niveau bringen. Das heißt, wir müssen auf mit Ihren Vorschlägen!) unter 30 Prozent – wohin auch immer, aber auf jeden Fall unter 30 Prozent – kommen. Das bedeutet, wir brau- Es muss gemacht werden; wir müssen mehr sparen. In- chen eine direkte Absenkung. sofern unterstützen wir den Bundesfinanzminister in sei- ner Sorge um den Haushalt. Wir wollen einen stabilitäts- (Beifall bei der FDP) orientierten Haushalt. Wir wollen unseren Beitrag dazu Herr Eichel, wenn jetzt, wie beim Jobgipfel verein- leisten. Wenn die Regierungsseite von den im Haushalts- bart, ein Schritt in die richtige Richtung gemacht wird ausschuss beratenen über 400 Anträgen aber keinen ein- – Senkung der Körperschaftsteuer um 6 Prozent –, dann zigen für unterstützenswert hält, dann scheint schon die unterstützen wir das als FDP. Das heißt allerdings, dass grundsätzliche Bereitschaft zu fehlen, eine vernünftige Sie eine adäquate Entlastung zwingend auch für die Per- Finanzpolitik gestalten zu wollen. sonengesellschaften und Einzelkaufleute brauchen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ute (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kumpf [SPD]: Vielleicht liegt es aber an den Anträgen!) Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Herr Müntefering gegen die großen Unternehmen polemisiert und gleich- Herr Bundesminister Eichel, die Steuerreform ist zeitig nur die großen Unternehmen entlastet werden. grundsätzlich unverzichtbar. Das hat auch der Bundes- Was ist das für ein Widerspruch? präsident in seiner vorzüglichen Rede vor den Vertretern der Arbeitgeberverbände gesagt. Wir brauchen sie. Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Carl- allein wird Deutschland nicht nach vorn bringen. Die Ludwig Thiele [FDP]: Das ist Unsinn!) Verbindung mit anderen Reformen, solchen auf dem Ar- Die Masse der mittelständischen Unternehmen, die ja beitsmarkt, bei den sozialen Sicherungssystemen und im hier die große Zahl der Arbeitsplätze sichert und anbie- Bildungsbereich, ist notwendig. Sie ist aber unverzicht- tet, wird hingegen schlechter behandelt. Das kann nicht bar. Wir müssen uns gemeinsam an diese riesige Auf- Ergebnis eines solchen Schrittes sein. gabe machen, weil einer allein sie gar nicht lösen kann. Wir sind für die Absenkung der Körperschaftsteuer Sich aber immer wieder mit dem Argument der feh- um 6 Prozentpunkte. Wir sind auch für den Reforman- lenden Gegenfinanzierung – Sie behaupten, die Haus- satz bei der Erbschaftsteuer, den wir in unserem Pro- halte könnten das nicht tragen – um das Thema herum- gramm seit zehn Jahren haben und den auch die CDU/ zumogeln, das geht so nicht weiter. Deswegen fand ich CSU in ihrem „Konzept 21“ hat. Wir sind ebenfalls da- es interessant, dass Sie in Ihren Vorschlägen beim Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16243

Dr. Hermann Otto Solms (A) Jobgipfel von einem Selbstfinanzierungseffekt gespro- Deswegen glaube ich, dass Sie in Wirklichkeit selbst (C) chen haben. froh sind, wenn wir Ihren Antrag heute ablehnen. (Hans Eichel, Bundesminister: Falsch! Das hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nichts mit Selbstfinanzierung zu tun!) und bei der SPD – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen denn das erzählt?) – In den Zeitungen ist das aber so dargestellt worden. Ich habe schon gedacht, allmählich komme die SPD zur Ver- Mir wäre es natürlich recht, wenn wir heute darüber nunft. diskutieren könnten, was auf dem Jobgipfel vereinbart Steuern sind natürlich ein dynamisches Element in wurde. Wir haben vorgeschlagen – das wurde auf dem den wirtschaftlichen Zusammenhängen. Eine Selbstfi- Jobgipfel vereinbart –, die Körperschaftsteuersätze von nanzierung kann nach und nach entstehen, wenn man 25 auf 19 Prozent zu senken. Die bessere Gewerbesteu- eine gute Steuerreform macht. Das haben Sie immer eranrechnung bedeutet, dass in Zukunft alle klein- und wieder verneint. Es ist aber so. Die ganze ökonomische mittelständischen Unternehmen, die Personenunterneh- Wissenschaft bestätigt das. Damit wären wir auf einem men sind, bis zu einem Hebesatz von 380 richtigen Weg. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Nein, 360!) Schritte in die richtige Richtung werden von uns un- real nicht mehr mit Gewerbesteuer belastet werden. Au- terstützt. Das heißt aber nicht, dass wir uns um die Ge- ßerdem soll der Betriebsübergang im Mittelstand er- samtreform herummogeln können. Wir brauchen zwin- leichtert werden. Das ist die getroffene Vereinbarung. gend eine grundsätzliche Reform der Steuern und Finanzen. Es wäre gut und wichtig, wenn wir für den Standort Deutschland ein klares Signal geben könnten. Wir müs- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. sen schnell Klarheit schaffen, damit die Unternehmen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Planungssicherheit haben. Sie müssen wissen, dass der positive Effekt für Wachstum und Beschäftigung und die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: damit verbundenen Arbeitsplätze kommt. Diese Verein- Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Scheel, barung darf nicht – das ist das derzeitige Problem – im Bündnis 90/Die Grünen. parteipolitischen Gezerre versanden. (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt die (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wer zerrt denn? Heuschrecke! – Hans Michelbach [CDU/ Ihr zerrt doch untereinander!) (B) CSU]: Sie hat schon die Heuschreckenklei- Die Union hat, unverdrossen wie sie in dieser Frage (D) dung an!) ist, gesagt, dass die Steuersätze gesenkt werden müssten, dass aber für die Finanzierungsvorschläge der Finanz- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): minister zuständig sei. Nur kein Neid, Herr Michelbach. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Startschuss war (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ist doch wahr! Ist der Bierdeckel. Ich weiß noch, wie – jetzt hätte ich bei- der etwa nicht mehr im Amt?) nahe Herrn Solms genannt; er war bei den Vereinfachun- Wenn uns das nicht gefalle, solle er auf andere Vor- gen auch dabei – Herr Merz im Zusammenhang mit dem schläge ausweichen. An der Diskussion um die Finan- Bierdeckel in den Zeitungen gefeiert wurde. zierung würden Sie sich nicht beteiligen. – So geht es (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber nicht mit nicht! dem Bierdeckel!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn man sich nun den Entwurf anschaut, über den wir sowie bei Abgeordneten der SPD) heute reden, stellt man fest: Der Bierdeckel ist weg und Wenn man gemeinsame Absprachen vereinbart, dann hat Herr Merz ist auch weg. man sich gefälligst daran zu halten. Man kann nicht auf (Zurufe von der CDU/CSU) der einen Seite die positiven Punkte für sich reklamieren und sich auf der anderen Seite – wenn es um die schwie- Mit einem riesigen Theaterdonner wurde uns ein ein- rigen Finanzierungsfragen geht – in die Büsche schla- faches und transparentes Steuerkonzept angekündigt, gen. Das ist nicht in Ordnung und dient letztendlich das, wie gesagt, auf einen Bierdeckel passt. nicht unserem Land. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das sind Ta- Frau Merkel hat eine Gegenfinanzierung eingefordert. ten und kein Theater!) Wir können aber nur feststellen, dass es bisher keinen Wir wurden mit einem völlig unausgegorenen, unge- einzigen Finanzierungsvorschlag seitens der Union gibt. rechten und nicht finanzierten Antrag der CDU/CSU- Gestern konnte man unter anderem in der „Welt“ lesen, Fraktion konfrontiert, der am Ende 27,5 Milliarden Euro dass Herr Michael Meister gesagt hat: Wir werden keine neue Schulden bedeuten würde. Vorschläge machen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist alles (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht richtig!) NEN]: Na toll!) 16244 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Christine Scheel (A) Ich sage noch einmal: Wer andere Finanzierungsvor- Herr Meister hat ein paar Luftblasen abgelassen. Nach (C) schläge kritisiert, der muss, wenn er seriös sein will, wie vor fehlen konkrete Aussagen zur Systematik. Aber auch eigene Vorschläge vorlegen. was noch viel schlimmer ist: Für die Unternehmen würde die Realisierung der Vorschläge Ihres Antrages (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Steuersatzerhöhung bedeuten. Denn laut Stellung- und bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: So ist nahme der Professoren Rürup, Wiegard und Spengel in es! Sie sind aber nicht seriös! Ein unseriöser der Sachverständigenanhörung, die wir zu diesem An- Haufen!) trag durchgeführt haben, würden die Unternehmenssteu- Ich kann Sie nur auffordern, sich nicht länger einer in- ersätze zusammengerechnet auf nominell etwa 42 Pro- haltlichen Auseinandersetzung zu verschließen. Denn es zent steigen. Derzeit liegen sie unter 40 Prozent. Die ist notwendig, dass das Geplänkel aufhört, dass kon- Konsequenz wäre: Mit diesen Vorschlägen würde das, struktiv an einer Einigung gearbeitet wird und dass wir was die Bundesregierung auf diesem Gebiet zum Positi- uns unserer gemeinsamen Verantwortung für den Stand- ven für die Unternehmen verändert hat, wieder rückgän- ort Deutschland bewusst sind. gig gemacht werden. Das nennen Sie ein zukunftsfähi- ges Steuerkonzept. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Da sind wir mal gespannt, was Sie hier vorlegen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Nun zu Ihrem Antrag. Sie fordern dort ein einfache- res, gerechteres und leistungsfreundlicheres Steuerrecht. Dieses ist völliger Unsinn und ökonomisch nicht haltbar. Das kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Herr Eichel hat Das können wir alles unterschreiben, Frau Wülfing. eben gesagt, wir wären bei 36 Prozent und das Dem kann ich ebenfalls zustimmen. wäre alles unsozial! Da stimmt doch etwas nicht! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: 97 hättet ihr [SPD]: Das ist der Spitzensteuersatz!) es schon haben können!) Es geht ferner um das Thema EU-Recht-konforme Sie sagen aber leider nicht, wie Sie zu diesem neuen Besteuerung, das mit der aktuellen Rechtsprechung des Steuerrecht kommen wollen. Das ist genau das Grund- Europäischen Gerichtshofs natürlich zunehmend in den problem Ihres Antrages. Fokus der Steuerpolitik kommt. Der Minister hat darauf Sie stellen Eckpunkte auf – so gehen Sie immer vor –, hingewiesen, dass wir Gott sei Dank nicht dem nachge- (B) die völlig unklar sind. Dann sagen Sie, die rot-grüne Re- kommen sind, was Sie damals gefordert haben, als wir (D) gierung bzw. die sie tragenden Fraktionen sollten diese unsere Entscheidung für das Halbeinkünfteverfahren ge- Unklarheiten beseitigen, und fordern uns auf, wir sollten troffen haben. Da haben Sie nicht mitgemacht. Hätten unsere Hausaufgaben machen. wir diese Entscheidung damals nicht getroffen, dann hät- ten wir heute aufgrund der EuGH-Urteile Steuerausfälle (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nein! So ist in zweistelliger Milliardenhöhe in der Bundesrepublik es doch gar nicht!) Deutschland. Das heißt, Sie überlassen uns die Aufgabe, Ihre nebulö- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Die haben wir sen Eckpunkte zu konkretisieren und Ihre Vorschläge in doch! Wir haben doch kaum noch ein Körper- ein Gesetz zu gießen. Aber sobald von uns ein Vorschlag schaftsteueraufkommen in 2002 gehabt!) kommt, springen Sie wieder ins Gebüsch. Da sehen Sie, zu welchem Schaden Ihre Positionen für (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Die Sachverstän- dieses Land führen und welche Probleme Sie uns durch digen fanden das gut!) Ihre milliardenschweren Risiken vor die Füße gekippt hätten, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Bundes- Es ist kein Wunder, dass Sie nur ein Eckpunktepapier in haushalt, sondern auch im Hinblick auf die Länder und Form eines Antrags und eben keinen Gesetzentwurf vor- letztendlich auch die Kommunen. gelegt haben. Damit beweisen Sie nicht ihre Regierungs- fähigkeit. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Nur Auch ist klar zu sagen, dass Ihre Vorschläge zu einer nicht konkret werden!) immensen Lücke in Höhe von 27,5 Milliarden Euro füh- ren. Ihr Konzept ist unfinanzierbar. Sie widersprechen Das „Konzept 21“ soll Zukunftsfähigkeit suggerieren. sich selbst, wenn Sie einerseits immer wieder sagen, wir Ich habe schon gesagt, dass es sehr unklar ist. Ich mache sollten die Maastricht-Kriterien einhalten, das an ein paar Beispielen fest. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Von welchem Alle Welt redet über die Reform der Unternehmens- Antrag reden Sie denn?) besteuerung, nur fast die gesamte Union nicht. dann aber andererseits Vorschläge machen, die zu mehr (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Stimmt doch Schulden in Höhe von 27,5 Milliarden Euro führen. Das nicht!) ist unsolide. Dazu kann man nur sagen: Seien Sie froh, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16245

Christine Scheel (A) dass Sie nicht in die Situation kommen, dieses Konzept Kraft von Marktwirtschaft und Eigenverantwortung er- (C) wirklich umsetzen zu müssen! kannt. Ich fasse zusammen: Der Antrag der Union lässt mehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fragen offen, als er beantwortet: Unternehmensbesteue- neten der FDP) rung – Fehlmeldung! EU-Rechtskonformität – keine Die Unionsfraktion schlägt mit dem vorliegenden An- Vorschläge! Aufkommensneutralität: nicht erreicht! Gott trag eine grundlegende Reform der Steuerstruktur vor, sei Dank können wir den Vorschlag, den Sie gemacht ha- mit der das Steuersystem einfacher, gerechter und leis- ben, heute ablehnen. tungsfreundlicher werden soll. Die Steuersätze sollen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN senkt werden. Im Gegenzug müssen allerdings Subven- und bei der SPD) tionen und Steuervergünstigungen weitgehend abgebaut werden. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das gegenwärtig nicht mehr reformfähige Einkom- Nächster Redner ist der Kollege Peter Rzepka, CDU/ mensteuergesetz ist aufzuheben und durch ein vollstän- CSU-Fraktion. dig neu formuliertes Einkommensteuergesetz zu erset- zen. Die bestehenden Steuerbefreiungen, Freibeträge, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Abzugsbeträge und Ermäßigungen werden weitgehend Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt erklär denen aufgehoben. Jede Person – auch die Kinder; Kollege das mal! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Meister hat schon darauf hingewiesen – erhält einen ein- Aber das ist schwer! Die haben eine geringe heitlichen Grundfreibetrag von 8 000 Euro. Die darüber Auffassungsgabe! – Gegenrufe von der SPD: hinausgehenden Einkünfte werden einem Stufentarif mit Oh!) einem Eingangssteuersatz von 12 Prozent und einem ab 45 000 Euro Jahreseinkommen greifenden Spitzensteu- Peter Rzepka (CDU/CSU): ersatz von 39 Prozent unterworfen. Tarifhöhe und Tarif- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und verlauf werden zur Vermeidung einer kalten Progression Herren! Nach sechs Jahren rot-grüner Bundesregierung jedes zweite Jahr inflationsbereinigt. befindet sich die deutsche Volkswirtschaft in einer Der Dualismus von progressiver Einkommensteuer schweren strukturellen Wachstums- und Beschäftigungs- und proportionaler Körperschaftsteuer wird grundsätz- krise. Zunehmende Armut und zunehmende Arbeitslo- lich beibehalten. Einkommensteuer- und Körperschaft- sigkeit in Deutschland sind das Resultat einer Politik, steuerrecht werden mit dem grundsätzlichen Ziel der der es nicht gelingt, die Rahmenbedingungen unserer (B) Rechtsform- und der Finanzierungsneutralität unter Be- (D) dem verstärkten internationalen Wettbewerb ausgesetz- rücksichtigung der europäischen und der internationalen ten Volkswirtschaft zu verbessern. Entwicklung aufeinander abgestimmt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Steuererklärung und Steuerveranlagung werden durch den Ausbau der elektronischen Datenverarbeitung und Die Menschen in unserem Land erkennen diesen Zu- -übermittlung sowie den Ausbau des Quellenabzugsver- sammenhang. Das Vertrauen in die rot-grüne Politik fahrens radikal vereinfacht. Die Gewerbesteuer wird in sinkt. Im Regierungslager breitet sich Panik aus: Kapita- enger Abstimmung mit den Kommunen durch eine Be- lismuskritik, klassenkämpferisches Getöse, Boykottauf- teiligung an der Einkommen-, Körperschaft- und Um- rufe gegen deutsche Unternehmen aus der Parteizentrale satzsteuer ersetzt. der SPD und Vorschläge zur Senkung der Unternehmen- steuern aus dem Kanzleramt. Während sich der Bundes- Schließlich fordern wir die förmliche Aufhebung des kanzler über eine mangelnde Investitionsbereitschaft be- Vermögensteuergesetzes und die Erleichterung der Un- klagt, redet die stellvertretende SPD-Vorsitzende ternehmensnachfolge bei der Erbschaftsteuer, die ganz Arbeitsplätze kaputt. Ein schlüssiges Konzept sieht an- entfallen soll, wenn der Betrieb mindestens zehn Jahre ders aus. nach Übergabe fortgeführt wird. Die schnell realisierba- ren Teile des neu zu formulierenden Einkommensteuer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gesetzes sollen im Rahmen eines steuerpolitischen So- Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist das End- fortprogramms vorweggenommen werden. zeitchaos!) Wir sind zudem bereit, zusammen mit der Bundesre- Deutschland braucht eine tief greifende Modernisie- gierung in einem ersten Schritt eine Reduzierung der rung der sozialen Marktwirtschaft, die den Regeln des Unternehmensteuerbelastung auf unter 35 Prozent Marktes wieder neue Geltung verschafft: Staatshaushalte einschließlich der Gewerbesteuer umzusetzen. Von einer sanieren, den Arbeitsmarkt deregulieren, Sozialsysteme Steuersenkung dürfen allerdings nicht nur die Kapitalge- an die veränderte Entwicklung anpassen, die Staatsquote sellschaften profitieren. Auch die vielen Personenunter- und die Steuern senken sowie die Bürokratie abbauen. nehmen insbesondere im mittelständischen Bereich sind Viele unserer europäischen Nachbarn – übrigens auch zur Stärkung ihrer Eigenkapitalbasis und ihrer Wettbe- Sozialdemokraten – sind diesen Weg gegangen und ha- werbsfähigkeit auf Entlastungen angewiesen. ben neue Beschäftigung und soziale Sicherheit bewirkt. Nur große Teile der deutschen Sozialdemokratie haben Einen ersten Erfolg haben wir mit unserem Antrag offenbar immer noch nicht die wohlstandsfördernde bereits erreicht: Auch die Bundesregierung hat nunmehr 16246 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Peter Rzepka (A) Handlungsbedarf bei der Unternehmensbesteuerung er- erlassene Gesetze und Urteile des Bundesfinanzhofs (C) kannt und Vorschläge dazu vorgelegt. Bei der Prüfung wieder korrigiert haben. der Vorschläge werden wir uns von den Zielen der Steu- Der Bundesregierung fehlt es an einem steuerpoliti- ervereinfachung und der Verlässlichkeit steuerpoli- schen Leitbild. Das zeigen Ihre Gesetze und Erlasse der tischen Handelns leiten lassen. Außerdem wollen wir letzten Jahre. keine neuen Staatsschulden zulassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Lachen bei der SPD – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passt Auch die gegenwärtige Diskussion innerhalb der SPD jetzt aber nicht zusammen!) lässt keine konstruktive Lösung von Ihrer Seite erwar- ten. Die Vorschläge unserer Fraktion für ein einfaches Herr Finanzminister Eichel, in diesem Punkt war Ihr und gerechtes Steuerrecht liegen auf dem Tisch. Sie sind Konzept von Anfang an unseriös; denn Sie gehen dabei in der Anhörung des Finanzausschusses von vielen von 3,3 Milliarden Euro aus, die aus der Senkung des Experten positiv bewertet worden. Es liegt nun an Ihnen, Körperschaftsteuersatzes durch die Verlagerung von Ge- Herr Bundesfinanzminister, zu handeln. winnen nach Deutschland zusätzliche Steuereinnahmen in unserem Lande generieren. Wir halten diese Größen- Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Sie erken- ordnung für völlig inakzeptabel. nen offenbar nicht, dass vor allem im Einkommensteuer- recht ein wirklicher Neuanfang erforderlich ist. Sie ha- Heute haben Sie uns mitgeteilt, dass Sie – das ist si- ben verschwiegen, dass wir mit den Petersberger cherlich auch richtig – die Gewerbesteuerumlage nicht Beschlüssen, die wir vor Jahren im Deutschen Bundes- erhöhen wollen. Damit fällt eine weitere Gegenfinanzie- tag gefasst haben, schon viel weiter waren und dass Sie rungsmaßnahme weg. mit Ihrer Blockadepolitik diese Fortschritte hin zu einer Vereinfachung des Steuerrechts und zu einer Leistungs- (Joachim Poß [SPD]: Die war nie gegenfinan- förderung verhindert haben. Sie haben des Weiteren ver- ziert! Das hat was mit den Ebenen zu tun!) schwiegen, dass die Sachverständigen uns bestätigt ha- – Für den Bund ist das mit Sicherheit eine Gegenfinan- ben, dass unsere Vorschläge verteilungsgerecht sind und zierungsmaßnahme. dass die Steuerausfälle wesentlich geringer sind, als Sie und Frau Kollegin Scheel behaupten. Sie haben offenbar Insofern sind Sie mit dem Torso Ihres Konzepts heute die Ergebnisse der Expertenanhörung nicht richtig zur letzten Endes auf dem Rückzug. Wir werden sehen, wie Kenntnis genommen. Sie die Finanzierungslücken auffangen wollen. (B) Frau Kollegin Scheel, auch Sie haben in der Öffent- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) lichkeit mit Ihrer Fraktion die Gegenfinanzierung durch Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. den Bundesfinanzminister kritisiert, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber wir hätten heute erwartet, dass Peter Rzepka (CDU/CSU): Sie im Bundestag vorschlagen, wie aus Ihrer Sicht die Dass die Abschaffung der Gewerbesteuer von vielen Gegenfinanzierung aussehen soll. Experten als richtiger Ansatz für die Reform der Unter- nehmensbesteuerung angesehen wird, haben Sie eben- (Beifall bei der CDU/CSU) falls verschwiegen. Lassen Sie uns in diesem Punkt han- Sie machen in der Öffentlichkeit bzw. in der Presse Vor- deln; denn die Abschaffung der Gewerbesteuer durch schläge, von denen wir alle wissen, dass sie mit dem Eu- ihre Integration in die Ertragsteuern wäre ebenfalls ein roparecht nicht vereinbar und deshalb nicht umsetzbar Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts und zu mehr sind. Aber in der Diskussion im Plenum des Bundestags Gerechtigkeit. stellen Sie sich diesen Fragen offensichtlich nicht. Denn Ich danke Ihnen. Ihnen ist bewusst, dass Sie bisher keine umsetzbaren Vorschläge zur Gegenfinanzierung vorgelegt haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der als Steuerchaos bezeichnete Zustand des Steuer- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rechts ist für alle von ihm Betroffenen unerträglich Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen, SPD- geworden. Er ist Ursache für Politik- und Demokratie- Fraktion. verdrossenheit; zudem behindert er das Wirtschafts- (Beifall bei der SPD) wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen, weil es an Vertrauen und Rechtssicherheit fehlt. Vertrauen und Rechtssicherheit sind aber Grundlagen für Investitionen Gabriele Frechen (SPD): und Konsum. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über einen Antrag, der vor wenigen Die Bundesregierung hat das Vertrauen in die Bestän- Tagen Geburtstag hatte. Ein Jahr lang sind die Kollegen digkeit staatlichen Handelns schwer erschüttert. Allein der CDU/CSU-Fraktion durch das Land gezogen, um die in den letzten zwei Jahren hat es 23 Gesetzesänderungen Menschen glauben zu machen, dass ihr Steuerkonzept im steuerlichen Bereich gegeben, die zusätzliche Kom- die große Reform und die große Weisheit ist. Der Vater plizierungen mit sich gebracht und zum Teil kurz vorher des Gedankens ist Ihr ehemaliger Finanzexperte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16247

Gabriele Frechen (A) Friedrich Merz. Das Ganze hieß ursprünglich „Steuerer- Möglichkeiten: Entweder haben die Menschen, die die (C) klärung auf dem Bierdeckel“. Nun wissen auch die Kol- Belastung durch die Schichtarbeit zu tragen haben, netto legen von CDU und CSU, dass ein Bierdeckel eigentlich weniger in der Tasche oder die Bruttoentgelte müssen an den Stammtisch und nicht in den Deutschen Bundes- angehoben werden. Haben Sie bei Ihren Innenministern tag gehört. So haben sie den Bierdeckel zu einem Kon- einmal gefragt, was das nur die Polizei und die Kranken- zept weiterverarbeitet. Viel geholfen hat es aber nicht. häuser kostet? Gehen Sie einmal zu Ihrem Mittelständ- ler, der einen Schichtbetrieb führt, und fragen Sie ihn, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ was für eine Lohnkostenerhöhung und was für einen DIE GRÜNEN) Wettbewerbsverlust das für ihn bedeutet. Bisher haben Die Anhörung hat ganz deutlich gezeigt, dass erhebliche Sie das nicht getan, aber ich. Mängel in Ihrem Konzept versteckt sind. Der „Spiegel“ titelt – nicht zu Unrecht – „Bierdeckels Tod“. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten. Gemeinsam ist uns die Erkenntnis, dass das Steuerrecht vereinfacht Herr Dr. Meister, Sie haben von Familie gesprochen. werden muss. Wir müssen Ausnahmetatbestände strei- Haben Sie den Familien auch gesagt, dass künftig das chen sowie Steuerschlupflöcher und Gesetzeslücken Mutterschaftsgeld besteuert werden soll? Sie sehen die schließen. So viel zur Theorie. Doch leider hört bei der Streichung dieser Ausnahme vor. Haben Sie den Kum- Umsetzung die Gemeinsamkeit weitestgehend auf. Ich pels in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass für Sie die erinnere nur an das Steuervergünstigungsabbaugesetz, Bergmannsprämie und die Abfindungen Subventionen die Abschaffung der Eigenheimzulage und – zuletzt – an sind, die gestrichen werden müssen? Haben Sie den das EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz. Möglichkeiten Pendlern aus der Pfalz, aus dem Sauerland und aus der hatten Sie genug. Aber Sie haben keine genutzt. Immer Eifel, die jeden Tag in die Ballungszentren zur Arbeit wenn es konkret wird, tauchen Sie ab. fahren, gesagt, dass jede Entfernung über 50 Kilometer zum Privatvergnügen degradiert werden soll? Haben Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Studenten gesagt, dass sie künftig nicht nur Studien- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gebühren bezahlen sollen? Übrigens, das lehnen die SPD Gleichzeitig legen Sie ein Konzept vor, das den An- in Nordrhein-Westfalen und auch unser Ministerpräsi- spruch erhebt, einfach und gerecht zu sein. Geht das dent Peer Steinbrück zu Recht strikt ab. denn überhaupt? Kann ein Steuergesetz einfach und (Beifall bei der SPD) gleichzeitig gerecht sein? Ich sage: Objektiv geht das nicht. Jede Vereinfachung ignoriert Lebenssachverhalte. Haben Sie den Studenten auch gesagt, dass die Steuer- (B) Jede Pauschalierung führt zum Verlust von Gerechtig- freiheit von Stipendien abgeschafft werden soll, da sie (D) keit. Deshalb müssen wir uns immer fragen, wie viel eine Subvention darstellt? Ist das Ihre Vorstellung von Vereinfachung wir uns erlauben können, damit unser Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit? Meine Gerechtigkeitsanspruch nicht pervertiert wird. Subjektiv nicht! – darin stimme ich Ihnen zu – ist es durchaus möglich, dass eine Vereinfachung zu einem Gefühl von Gerech- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tigkeit beiträgt. Die Komplexität der Materie und die DIE GRÜNEN) vielen Ausnahmen, die oft nur diejenigen nutzen kön- nen, die sich professioneller Hilfe bedienen, führen zu In Ihrem Konzept regen Sie an, die neuen Medien zu einer gefühlten Ungerechtigkeit. Steuerpflichtige wissen nutzen. Darauf hat gerade auch Herr Rzepka hingewie- nicht, ob sie alle Möglichkeiten in Anspruch genommen sen. Das ist eine Bombenidee; sie kommt nur reichlich haben, und kommen – meistens zu Unrecht, manchmal spät. Vielleicht würde Ihnen ein Besuch in einem nord- aber auch zu Recht – zu dem Ergebnis, dass die Materie rhein-westfälischen Finanzamt einmal gut tun: Dort, im sie aufgrund ihrer Kompliziertheit benachteiligt. Wir roten NRW, könnten Sie sehen, dass nicht nur Elster, stimmen überein, dass es Einzelfallgerechtigkeit im sondern auch die vereinfachte Steuererklärung vom Steuerrecht nicht geben kann. SPD-Landesfinanzminister Jochen Dieckmann bereits erfolgreich umgesetzt werden. Durch das von Ihnen vorgelegte Konzept wird aber die soziale Balance in erhebliche Schieflage gebracht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie alles ab- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – schaffen und niemandem sagen, was eigentlich abge- Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schafft wird? NEN]: Selbst Bayern hat es jetzt übernom- men!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Frau Scheel hat gesagt, dass die Steuern erhöht werden!) Alle 16 Länderfinanzminister kommen in der Bewer- tung des Konzeptes einstimmig zu dem Ergebnis, dass – Frau Wülfing, Sie werden ja gleich noch reden. Wenn Ihr Modell nicht finanzierbar ist. Wir streiten uns in un- Sie etwas zu sagen haben, dann sollten Sie das von die- regelmäßigen Abständen über das 3-Prozent-Kriterium, sem Rednerpult aus tun. das Sie wie eine Monstranz vor sich hertragen. Wie passt Die Steuerfreiheit bei den Sonn- und Feiertagszu- ein Haushaltsloch von 10 Milliarden Euro in diese Dis- schlägen wollen Sie ja ganz besonders gern streichen. kussion? Rechnet man noch das Kopfgeld in der Kran- Und was ist, wenn sie gestrichen wird? Es gibt nur zwei kenversicherung und andere utopische Wahlversprechen 16248 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Gabriele Frechen (A) hinzu, bedeutet das laut Herrn Seehofer ein 100-Milliar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) den-Euro-Haushaltsloch. DIE GRÜNEN) Von einer Gegenfinanzierung gibt es weit und breit In der Anhörung wurde ganz deutlich, dass gerade dieser keine Spur. Punkt fehlt. Die FDP war schlauer. Sie hat ihren Gesetz- entwurf zurückgezogen und gesagt: Wir machen es noch (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist durch- einmal, wenn wir mit der Unternehmensteuer so weit gerechnet!) sind. – Sie aber hatten gehofft, Ihren Antrag bis zum Von uns verlangen Sie, dass die Änderungen in der Kör- Sankt-Nimmerleins-Tag in der Schublade verschwinden perschaftsteuer bis auf den letzten Cent gegenfinanziert lassen zu können oder ihn einfach in der aktuellen De- werden. Das mag daran liegen, dass Sie an uns deutlich batte mit zu verbraten, ohne dass noch einer darüber höhere Ansprüche als an sich selbst stellen. Es kann aber spricht. Den Gefallen tue ich Ihnen nicht. auch daran liegen, dass Sie wieder einmal überhaupt Bei Ihnen passen schlüssiges Handeln und Reden nicht wissen, wo Sie stehen. nicht zusammen. Sie ziehen über die Dörfer und tun so, als ob Sie den Stein der Weisen gefunden hätten. Wenn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es dann darum geht, sich der Diskussion zu stellen, tau- DIE GRÜNEN) chen Sie ab und suchen Nebenkriegsschauplätze. Das Michael Glos hat in der „Financial Times Deutsch- geht nicht. land“ gesagt: (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Wir müssen bei der Senkung der Unternehmens- Was ist jetzt mit dem Vorschlag zur Erbschaft- steuern zumindest zu einer Teil-Gegenfinanzierung steuer?) kommen. – Herr von Stetten, ich habe noch ein schönes Zitat für Sie aus einem Kommentar des Deutschlandfunks: Man müsse das Finanzierungskonzept aber „nicht bis zur letzten Mark“ ausrechnen. Hingegen sagt Volker Oder Angela Merkel und Edmund Stoiber hatten Kauder: einfach nicht damit gerechnet, vom Bundeskanzler beim Wort genommen zu werden. Sollte das der Wir unterstützen eine Unternehmenssteuerreform, Fall sein, muss freilich der Eindruck entstehen, dass aber nur bei hundertprozentiger Gegenfinanzierung. da ein alter Fahrensmann gleich zwei Leichtmatro- Was wollen Sie denn eigentlich? sen vorführte. Und damit dürften die Probleme für die Union im Allgemeinen und Angela Merkel im (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Besonderen erst beginnen. (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Schiff ahoi!) Allein für die Kommunen würde Ihr Modell einen Ich sage: zu Recht. Denn die Menschen wollen verlässli- Rückgang der Einnahmen um 1,5 Milliarden Euro be- che Politikerinnen und Politiker, die auch in schweren deuten. Sie haben schon einmal probiert, die Kommunen Zeiten meinen, was sie sagen, und sagen, was sie tun. zum Anhängsel des Bundes zu machen. Damals hat Ih- nen die CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth gesagt: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was bei der Reform der Gewerbesteuer auf einem gutem DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ Weg war, haben die Länder zu Fall gebracht. Ergänzend CSU]: Deswegen sehnen sich die Menschen so füge ich hinzu: Es waren nicht die SPD-geführten Län- sehr nach der SPD!) der, die es zu Fall gebracht haben. Sie wollen keine Leichtmatrosen und sie wollen keine Beim Thema Erbschaftsteuer ist bei Ihnen ebenfalls Rückwärtsroller, auch nicht in NRW. ein klarer Ja-aber-vielleicht-doch-nicht-Kurs zu erken- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie wollen kein nen. Der bayerische Finanzminister schlägt Änderungen Rot-Grün!) bei der Erbschaftsteuer zur Erleichterung der Unterneh- mensnachfolge vor. Diese kopieren Sie dann eins zu eins Das einzige Konzept, das Sie haben, ist, Konzepte in Ihr Konzept. Als es an die Umsetzung ging, war im von anderen einzufordern. Das ist eindeutig zu wenig. „Handelsblatt“ zu lesen: Sie sind nämlich in die Opposition gewählt und nicht in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Auch die aus Bayern stammende Erbschaftssteuer- änderung trifft auf Widerstand in einigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CDU-Ländern. DIE GRÜNEN) Ist das Taktik oder Unvermögen? Sie wollen im Wartehäuschen die auf dem Jobgipfel be- schlossenen Änderungen bis zum 22. Mai aussitzen. Das Eigentlich sollte diese Lesung bereits in der letzten funktioniert nicht. Das werden wir Ihnen vorhalten. Woche stattfinden. Sie wurde verschoben, um die Ergeb- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kennen Sie nisse aus der Finanzministerkonferenz zur Unterneh- Ihre Wählerumfragen?) mensbesteuerung abzuwarten. Aber einmal ganz im Ernst: Was hat Ihr Konzept mit Unternehmensbesteue- – Ja, nehmen wir die heute veröffentlichte: 1 Prozent Zu- rung zu tun? Doch überhaupt nichts! gewinn bei den Grünen, 1 Prozent Rückgang bei der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16249

Gabriele Frechen (A) CDU. Mühsam nährt sich das Eichhörnchen. – Sie be- politisch fundierte Gesamtkonzepte in der Steuerpolitik (C) kommen Ihre Quittung am 22. Mai in Nordrhein-Westfa- brauchen, damit es wieder mehr Wachstum und Beschäf- len. Rückwärtsroller und Leichtmatrosen wollen die tigung in Deutschland gibt. Wir brauchen jetzt in Menschen da nicht haben. Deutschland einen ganzheitlichen Neubeginn in der Steuerpolitik, einen steuerpolitischen Aufbruch. Das ist Vielen Dank. die Frage der Zeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ (Beifall des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Schiff ahoi!) CSU]) Wir geben mit dem Konzept 21 eine Antwort. Das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Konzept 21, das wir heute zur Schlussabstimmung brin- Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/ gen, ist ein modernes Steuerrecht für Deutschland, ein CSU-Fraktion. wirklicher Befreiungsschlag und eine zielführende Kon- zeption für mehr Wachstum und Beschäftigung. Darum (Beifall bei der CDU/CSU) geht es. Es ist in Deutschland notwendig, Vorfahrt für Arbeit zu erreichen. Hans Michelbach (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Herren! Die politische Lage ist doch eindeutig. Im Vordergrund des Konzepts 21 stehen ganzheitliche (Florian Pronold [SPD]: Leichtmatrose!) Reformen für die Einkommen-, Gewerbe- und Erb- schaftsteuer. Damit wird das Steuerrecht einfacher und Die rot-grüne Bundesregierung hat das Vertrauen der gerechter und Leistung lohnt sich wieder mehr. Unseren Bürger und der Wirtschaft durch mangelnde Stetigkeit Betrieben wird mit dem Erlass der Erbschaftsteuer eine und Berechenbarkeit, durch permanente Nadelstiche ein- Generationenbrücke ermöglicht. Die Steuersätze werden fach verspielt. Sie hat vor allem durch eine Steuerpolitik deutlich gesenkt, damit Investitionen wieder angereizt der Irrungen und Wirrungen jedes Vertrauen, insbeson- werden. Diese Ziele müssen für einen neuen Auf- dere beim Mittelstand, verspielt. schwung in Deutschland vorrangig erreicht werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Den Einwand, Herr Eichel, der hier immer wieder Meine Damen und Herren, wir müssen doch eine wiederholt wurde, Deutschland könne sich keine Steuer- neue Vertrauensbasis für den Standort Deutschland her- gesamtreform leisten, lasse ich nicht gelten. Wenn Sie stellen. von Rot-Grün so weitermachen, dann können wir uns in (B) Deutschland bald gar nichts mehr leisten. Das ist die Si- (D) (Beifall bei der CDU/CSU) tuation. Wir brauchen hier einen gewissen Freiraum. Es ist eine Tatsache, dass Rot-Grün ökonomisch ge- (Beifall bei der CDU/CSU) scheitert ist und nicht mehr die Kraft hat, eine Erfolg versprechende Gesamtkonzeption für Wachstum und Dieser Freiraum ist beim Konzept 21 eingeplant. Nicht Beschäftigung einzubringen. Insbesondere in der Steuer- 27 Milliarden Euro, wie Sie sagen, sondern es sind als politik, Herr Eichel, ist Ihr Stückwerk wirklich offen- Sofortmaßnahme 10 Milliarden Euro vorgesehen, die fi- sichtlich. Sie haben keine ordnungspolitische Linie. Sie nanziert werden müssen. haben kein Gesamtkonzept für eine zielführende Steuer- systematik. (Gabriele Frechen [SPD]: Das ist das Kinder- geld!) (Ortwin Runde [SPD]: Was?) Aber man kann doch nicht so vorgehen, dass man sich Es ist doch eine Tatsache: Die deutsche Steuersystema- jetzt wie Frau Frechen jede einzelne Verbreiterung der tik ist immer noch leistungsfeindlich, intransparent und Bemessungsgrundlage vornimmt; das hat Verhetzungs- vor allem durch einen undurchdringlichen Paragra- potenzial. Dann kommen wir nie zu einer richtigen Steu- phendschungel belastet. Sie haben in fünf Jahren ervereinfachung. Das ist die Situation. 40 Steuergesetze gemacht und damit das deutsche Steuer- recht immer mehr verwüstet, Herr Bundesfinanzminister. (Beifall bei der CDU/CSU – Gabriele Frechen [SPD]: Das ist nicht so einfach! – Lachen des (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie reden Bundesministers Hans Eichel) über das CDU-Konzept, wenn ich es richtig verstehe!) – Ja, Sie lachen, Herr Eichel. Es ist doch das Paradoxe der SPD: Links die Konzerne mit Herrn Müntefering Sie haben insbesondere bei jeder Tarifsenkung Gegen- geißeln, rechts die Konzerne mit Steuernachlässen be- finanzierungsmaßnahmen durchgeführt, die einer Sub- vorteilen. Das ist Ihre Politik. Das muss man deutlich sa- stanzbesteuerung gleichkamen. Damit haben Sie letzten gen. Endes kontraproduktiv gehandelt. Ihre Maßnahmen ha- ben somit eher zu Be- statt zu Entlastungen geführt. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, das alles macht deutlich, Sie selbst haben doch in Ihrem Vorschlag beim Job- dass Steuerchaos, Steuerwirrwarr und Reformstillstand gipfel eine Selbstfinanzierung genannt. Bei uns wollen aufgebrochen werden müssen und wir klare ordnungs- Sie das nicht sehen. Das ist quasi so etwas wie eine 16250 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Hans Michelbach (A) Selbstanzeige, die Sie hier vornehmen. Die Vorschläge, (Peter Dreßen [SPD]: Bla, bla, bla!) (C) die Sie machen, sind in jedem Falle unsolide. Wir unterstützen die Unternehmen aktiv im Wettbewerb. Die Sache mit dem Bierdeckel hat natürlich einen Wir kämpfen dafür, dass die Rahmenbedingungen dank Vorlauf: die Petersberger Beschlüsse. Ich darf noch ein- einer vertrauenswürdigen und berechenbaren Steuerpoli- mal deutlich daran erinnern. Wenn Sie sie nicht blockiert tik wieder stimmen. Stimmen Sie deshalb unserem An- hätten, Herr Eichel, dann hätten wir schon jetzt eine bes- trag zum Konzept 21 zu! Wenn Sie das tun, dann haben sere Steuersystematik, eine Vereinfachung und eine er- wir einen ordentlichen Neubeginn in der Steuersystema- heblich bessere Situation. tik und darauf kommt es an. (Beifall bei der CDU/CSU – Elke Wülfing (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. [CDU/CSU]: Seit 1996!) Dr. Hermann Otto Solms [FDP] – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die größte Dro- Höchste Priorität im Konzept 21 hat für uns hinsicht- hung wäre, dass wir sagen: Wir stimmen zu! lich des Arbeitsmarktes die Generationenbrücke mit der Das würde euch Angst machen ohne Ende!) Erbschaftsteuerreform für die Betriebe, weil damit Ar- beitsplätze gesichert werden. Die Erbschaftsteuer für Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Betriebsvermögen muss bei Fortführung des Unterneh- Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae, mens durch die Erben stufenweise reduziert und nach Bündnis 90/Die Grünen. zehn Jahren vollständig erlassen werden. Dieses Degres- sionsmodell ist der richtige Weg für die Sicherung von Arbeitsplätzen. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Wir haben aber auch für die Unternehmensbesteue- Michelbach, ich fand in Ihrer Rede eine Stelle wirklich rung grundsätzliche Forderungen genannt; Sie müssen entlarvend, nämlich die, an der Sie auf die Rede von das nur sehen. Wir haben fünf Punkte, die die Notwen- Frau Frechen eingegangen sind und gesagt haben: Man digkeit und die Konzeption einer Unternehmensbesteu- kann sich das doch jetzt nicht alles im Detail anschauen; erung wesentlich ergänzen, zum Konzept 21 entwickeln da käme man gar nicht weiter. Natürlich muss man sich lassen. Diese beinhalten den Grundsatz, dass Sie die Ge- die Konsequenzen eines solchen Vorschlags anschauen. werbesteuer anpacken müssen. Wenn Sie die Gewerbe- Die Konsequenzen für Einzelfälle, für einzelne Lebens- steuer nicht anpacken, dann erreichen Sie in Deutsch- situationen, etwa von Studentinnen und Studenten, hat land nie eine Steuervereinfachung und nie eine richtige Frau Frechen deutlich beschrieben. Aber die Konse- Unternehmensbesteuerung. Davor drücken Sie sich, quenzen, die es für die Kommunen hätte, wenn wir ein Zuschlagsmodell beschließen und die Gewerbesteuer (B) Herr Eichel. Sie müssen bei der Gewerbesteuer handeln (D) und eine kommunale Finanzreform anpacken. abschaffen würden, sind noch nicht beschrieben worden. (Beifall bei der CDU/CSU) So wie Sie nicht müde werden, immer wieder zu sa- gen, man müsse die Gewerbesteuer abschaffen Ich sage abschließend noch einmal deutlich: Wir ste- hen zu den auf dem Jobgipfel beschlossenen Steuerver- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) besserungen. Wir von der CDU/CSU wollen die Sen- und durch einen Zuschlag ersetzen, werden wir nicht kung der Körperschaftsteuer von 25 auf 19 Prozent. Wir müde werden, zu sagen: Schauen Sie sich die Ergebnisse wollen insbesondere das Erbschaftsteuerbetriebserhal- der Kommission zur Gemeindefinanzreform an! Da ist tungsmodell, das hier beschlossen wurde. Wir brauchen von allen deutlich gesagt worden, dass die Verteilungs- in Deutschland jetzt diese ersten, kurzfristigen Maßnah- wirkungen – auf der einen Seite die Verteilung zwischen men. Das ist notwendig. Stadt und Land und auf der anderen Seite die Verteilung zwischen Bürgerschaft und Wirtschaft – derart negativ Ich darf Sie bitten, nicht wieder Gegenfinanzierungen sind, vorzuschlagen, die unseriös sind, die wirklichkeitsfremd sind und die letzten Endes zu einer Verschärfung der (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben doch nur Verlustverrechnung durch eine Mindestbesteuerung füh- zwei Modelle geprüft!) ren und damit Liquidität für Investitionen vernichten. dass das Modell nicht gewollt wird, schon gar nicht übri- Das ist die Situation, die es nicht geben darf, weil die gens von Ihren Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern. Betriebe dann eher belastet als entlastet werden. Das ist die Situation, die wir nicht gebrauchen können. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie kapitu- lieren vor der Schwierigkeit der Aufgabe!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch unter Ihnen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: viele gibt, die sagen müssten: Durch ein Zuschlagsmo- dell schaffen wir keine gute Situation für die Kommu- Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. nen. Wir halten Ihren Vorschlag jedenfalls für erkennbar kommunalfeindlich und weisen ihn zurück. Hans Michelbach (CDU/CSU): Vielen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ Ich möchte abschließend Folgendes sagen: Die Union CSU]: Seien Sie ein bisschen kreativ und ma- bleibt in der Steuerpolitik für die Bürger reformbereit. chen Sie mit!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16251

Kerstin Andreae (A) Die Aufgaben, die die Kommunen haben, sind sehr an dem sie planen, ihre Einkommensteuererklärung zu (C) vielfältig. In Deutschland gibt es ein System ausgereifter machen, am liebsten ausfallen ließen; denn das ist ziem- kommunaler Selbstverwaltung. Das ist gut. Das wollen lich aufwendig und sehr kompliziert. wir. Das werden wir auch stärken. Aber richtig ist auch, dass diese kommunale Selbstverwaltung ausreichend fi- Dazu kommen permanente Änderungen im Steuer- nanziert werden muss, und zwar nicht am Gängelband, recht. Ich bin mir sicher: Ihr Modell würde solche Ände- nicht nur über Zuschüsse, sondern durch eine auf die ei- rungen notwendig machen und viele Durchführungsver- gene Wirtschaftskraft bezogene Steuer mit Hebesatz- ordnungen und Anwendungserlasse provozieren, weil recht. Sie sehr stark in die bestehenden Regelungen eingreifen würden. Es würde zu ständigen Änderungen und Ergän- Eines noch, weil das Ganze unter der Überschrift zungen führen. Steuervereinfachung steht: Sie wissen genau, dass ge- rade dieses Modell mit dem Zuschlagsrecht eine ganz Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schlechte Bewertung bekommen hat, was die Vereinfa- Frau Kollegin, ich muss Sie an Ihre Redezeit erin- chung angeht, weil sie nicht administrierbar ist. Was nern. macht man bei einem Handwerksbetrieb mit 30 Ange- stellten, die in unterschiedlichen Kommunen wohnen und für die es unterschiedliche Zuschläge geben müsste? Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer soll das machen? Das ist ein hoher bürokratischer Ich komme zum Schluss. Aufwand. Einfache Konstruktionen lassen nun einmal Raum für (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein!) Auslegungen. Deswegen sollten wir den Umbau unseres Steuersystems zwar zügig, aber sehr sorgfältig angehen. Das hat mit Vereinfachung überhaupt nichts zu tun. Dabei machen wir mit. Aber das Konzept 21 lehnen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ab. und bei der SPD) Vielen Dank. Die Finanzministerkonferenz – das ist schon zwei- oder dreimal angesprochen worden – hat Ihnen ins (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stammbuch geschrieben, dass dieses Modell gar nicht fi- und bei der SPD) nanzierbar ist. Da hat man sich alle Folgen, die Vorteile und die Nachteile, angeschaut und festgestellt, dass es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht finanzierbar ist. Wir haben auch Anhörungen Das Wort hat die Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSU- (B) durchgeführt. Wir haben sehr darauf gedrängt – das weiß Fraktion. (D) ich noch gut –, dass die Anhörung zu diesen Steuermo- dellen am gleichen Tag stattfindet wie die Anhörung zu (Beifall bei der CDU/CSU) den Maastricht-Kriterien und zu der Debatte über den Stabilitäts- und Wachstumspakt. An dem Tag ist deutlich Elke Wülfing (CDU/CSU): geworden: Man kann nicht am Vormittag erklären, es sei Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und total wichtig und auf alle Fälle das allein Entscheidende, Kollegen! Sehr geehrter Herr Finanzminister! Wir soll- dass die 3-Prozent-Grenze eingehalten werde – das wol- ten uns in dieser Debatte wieder einmal darüber klar len wir im Übrigen auch; wir werden immer wieder da- werden, in welcher Situation sich Deutschland befindet. für kämpfen, diese Defizitgrenze einzuhalten –, (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ja!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Tun Sie aber nicht! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Schon Es geht hier nicht um Klein-Klein, sondern darum, dass zum vierten Mal gerissen!) wir in einer schweren strukturellen Krise stecken. Wir haben die höchste Arbeitslosigkeit seit Gründung der und am Nachmittag über Steuermodelle diskutieren, die Bundesrepublik Deutschland. eben mal so mindestens 10 Milliarden Euro – nach Schätzungen sind es sogar bis zu 27 oder 30 Milliarden (Bernd Scheelen [SPD]: Das stimmt überhaupt Euro – kosten. nicht!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wieder nicht Die Anzahl der versicherungspflichtigen Beschäfti- verstanden!) gungsverhältnisse ist gering und geht sehr stark zurück. Leider nimmt auch die Anzahl der produzierenden Be- Das passt nicht zusammen. triebe immer weiter ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Peter Dreßen [SPD]: Lesen Sie mal in der und bei der SPD) Statistik nach!) Noch ein anderer Punkt. Natürlich machen wir mit, Manche Leute sprechen bereits von einer Deindustriali- wenn Steuervereinfachungen durchgeführt werden, die sierung Deutschlands. auch im Bundesrat verabschiedet werden. Auch ich sehe ein – der Bundesfinanzminister hat es vorhin gesagt –, Vor diesem Hintergrund ist diese Debatte, wie sie dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich teile die Ein- vom Finanzminister und von Rot-Grün geführt wird, schätzung, dass heutzutage viele Leute das Wochenende, nicht gerade zielführend. 16252 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Elke Wülfing (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – auch wieder tue. Machen Sie doch einmal wirklich etwas (C) Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Man kann sagen: für die! Machen Sie nicht, was Sie jetzt wieder vorha- extrem kleinkariert!) ben: Zum hunderttausendsten Mal wollen Sie die Kör- perschaftsteuersätze senken Das, was man von Herrn Eichel gehört hat, ist kräftigst zu kritisieren. (Bundesminister Hans Eichel: Wir haben doch beim Jobgipfel etwas verabredet!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!) und die Verlustverrechung für alle wieder verschlech- Er findet, dass all das, was er unternommen hat, in Ord- tern, was vor allem den Mittelstand trifft. Ich will zu al- nung ist; nur, die Opposition legt leider keine Gesetzent- lem anderen nicht viel sagen, aber dazu sage ich Ihnen: würfe vor. Die Verlustverrechnung für den Mittelstand verschlech- tern, das werden wir auf gar keinen Fall mitmachen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding Ich frage mich immer: Wer regiert eigentlich? Wenn Sie [Heidelberg] [SPD]: Und was machen Sie nicht regieren wollen, dann lassen Sie es! jetzt?) (Beifall bei der CDU/CSU – Hans Michelbach Man sollte vielleicht noch einmal betrachten, was Sie [CDU/CSU]: Vom Können gar nicht zu re- mit der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage vorhatten; den!) das ist ja schon eine tolle Sache. Sie denken – nein: Sie Ich finde, dass viele Bereiche, nicht nur der Steuerbe- hoffen; es ist ja viel Hoffnung bei Ihrem Konzept und reich, reformbedürftig sind. Was wir brauchen, ist eine bei dem, was Sie in den Jobgipfel eingebracht haben –, Abkopplung der sozialen Sicherungssysteme vom Ar- dass sich trotz der Senkung des Körperschaftsteuersatzes beitsplatz. Was wir brauchen, ist die Senkung der Staats- dadurch, dass Gewinne, die jetzt im Ausland versteuert quote. Was wir brauchen, ist ein neues Arbeitsrecht. Was werden, möglicherweise im Inland bleiben, das Körper- wir brauchen, ist weniger Bürokratie. Und was wir auch schaftsteueraufkommen erhöht. Auch wir haben zum brauchen, ist ein einfacheres Steuerrecht. Teil diese Hoffnung. Aber selbst wenn das eintritt, haben die Kommunen davon überhaupt nichts. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Und wir brauchen (Bernd Scheelen [SPD]: Ach nein?) eine andere Regierung!) – Nein. Dabei müssen wir das Ziel verfolgen, die Steuersätze zu Ich habe eben die Verschlechterung der Verlustver- (B) senken und die Bemessungsgrundlage zu verbreitern. (D) rechnung angesprochen. Damit bekommen die Kommu- Das steht nicht nur in unserem Steuerkonzept. Ver- nen zwar eine bessere Grundlage bei der Gewerbesteuer. mutlich haben Sie alle die hervorragende Rede unseres Sie rechnen sogar mit 1 Milliarde Mehreinnahmen für Bundespräsidenten Köhler gelesen, der sehr deutlich ge- den Bund; es könnte also sein, dass da ein bisschen mehr sagt hat: hereinkommt. Aber das wollen Sie den Kommunen gleich wieder wegnehmen. Beim Jobgipfel haben Sie Um Wachstum und Beschäftigung nachhaltig zu noch das eine oder andere angekündigt, zum Beispiel ein stärken, brauchen wir auch eine umfassende Steuer- Investitionsprogramm für die Kommunen. Also erst die reform. … Unser Staat hat europaweit … die höchs- Gewerbesteuerumlage abschöpfen, um sie dann von ten Unternehmensteuersätze. Zugleich erzielt oben wieder herunterregnen lassen – und auf das Danke- Deutschland mit diesen Unternehmensteuersätzen schön warten. Danke schön sagen wir dazu nicht; wir im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt europa- machen das nicht mit. weit mit die niedrigsten Steuereinnahmen. Ich bin sehr froh, dass Sie eben gesagt haben, Sie Wo er Recht hat, hat er Recht. Das war eine gute wollten darüber noch einmal nachdenken. Aber ich Rede. Wir sollten uns am Bundespräsidenten orientieren glaube erst, dass Sie daran etwas ändern wollen, wenn und ihm folgen. Sie tatsächlich einen Gesetzentwurf vorlegen; darauf Wir wissen – Herr Eichel, das wissen auch Sie und Ihr warten wir immer noch. Nicht die Opposition macht die Herr Bundeskanzler –, dass es in Deutschland nicht nur Gesetze, sondern die Regierung ist es, die regiert. Wenn Körperschaften gibt. Ich meine die bösen Kapitalisten, die Regierung wirklich eine Vorlage auf den Tisch legt, von denen Herr Müntefering gesprochen hat und deren werden wir das betrachten und beurteilen. Steuersätze Sie jetzt erneut senken; irgendwie passt Ihre Politik nicht zusammen. Aber ich glaube nicht, dass diese Maßnahme einen Wachstumsimpuls bringen wird. Denn was wir wirklich Sie wissen ganz genau, dass 86 Prozent der Unterneh- brauchen, ist selbstverständlich ein Gesamtkonzept so- men in Deutschland Personengesellschaften und Einzel- wohl für den Sozialversicherungsbereich als auch für unternehmer sind, die Einkommensteuer zahlen. den Einkommensteuer- und Unternehmensteuerbereich. Schauen Sie sich unser Steuerkonzept doch bitte darauf- Das ist das Einzige, was wirklich den Wachstumsimpuls hin einmal an! Wer schafft denn die Arbeitsplätze in bringen würde, den wir unbedingt brauchen. Denn wie Deutschland? Das ist doch der Mittelstand, wie Herr zu Anfang gesagt: Deutschland befindet sich in einer Michelbach es eben beschrieben hat und wie ich es jetzt strukturellen Krise; Strukturen müssen aufgebrochen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16253

Elke Wülfing (A) werden. Ich hoffe, dass das jeder in diesem Hause ein- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Spannungsbogen (C) sieht, nicht nur die FDP und die CDU/CSU. reißt schnell ab!) Vielen Dank. Sie geben der Bundesregierung ganz generös ein paar so genannte Gedanken, wie Sie das nennen, mit auf den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weg. Ich will mich nur mit einem beschäftigen. Unter anderem sagen Sie: Das Steuerrecht muss einfach und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gerecht sein. Das klingt super. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ist es auch!) Bernd Scheelen, SPD-Fraktion. Mit „einfach“ und „gerecht“ kann man Bier- bzw. (Beifall bei der SPD) Stammtischreden halten. Was ist aber die Wahrheit? Die Wahrheit ist, dass das gar nicht geht, weil das die Qua- Bernd Scheelen (SPD): dratur des Kreises wäre. Einfach und gerecht geht nicht. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Es geht entweder einfach oder gerecht oder kompliziert legen! Frau Wülfing, der einfache Dreisatz reicht eigent- und gerecht. Das eine geht nur ohne das andere. Einfach lich aus, um nachzurechnen, dass, wenn die Unterneh- und gerecht funktioniert nicht. men mehr im Inland versteuern, auch die Gemeinden etwas davon haben. Das sollen sie auch; das finden wir Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, die Kopf- gut. pauschale. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Stellen Sie sich (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wenn Sie doch einmal vor, die Unternehmen machen gar nur einmal über Ihren Gartenzaun schauen keine Gewinne! Was machen die Gemeinden würden!) dann?) Frau Wülfing, Ihr vermeintliches Highlight in der Ge- Mit uns wird es eine Erhöhung der Umlage nicht geben, sundheitspolitik ist die Kopfpauschale. Sie ist einfach; um das ganz deutlich zu sagen. denn jeder zahlt 169 Euro – super. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ist doch gar nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wahr!) DIE GRÜNEN) Das ist zwar ganz einfach, aber völlig ungerecht, da der Herr Michelbach und andere Kollegen pflegen ein bis- Chefarzt dasselbe wie die Sekretärin zahlt und auch die schen die Legende vom Petersberg: Sie behaupten, hätten Rentner 169 Euro zahlen. Finden Sie das gerecht? (B) wir Ihren Petersberger Beschlüssen damals mit unserer (D) Bundesratsmehrheit zugestimmt, ginge es Deutschland (Beifall bei der SPD) besser. Dazu will ich ein deutliches Wort sagen: Genau das Gegenteil wäre der Fall. Wir haben damals verhin- Sie haben erkannt, dass das so natürlich nicht geht. dert, dass Sie eine Steuersenkung für die Bezieher höhe- Deshalb fangen Sie an, über das Steuersystem mühsam rer Einkommen durch eine Steuererhöhung für die Bezie- einen sozialen Ausgleich herzustellen, der dazu führt, her unterer Einkommen finanzieren. Wir sind nach wie dass 80 Prozent derjenigen, die das zu zahlen haben, vor stolz darauf, das verhindert zu haben. demnächst Anträge auf einen sozialen Ausgleich stellen müssen. Das, was Sie vorschlagen, ist wirklich sehr ein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fach. Sie bestätigen damit: Einfach und gerecht funktio- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – niert nicht. Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Großer Blödsinn!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Der Antrag der Union trägt den Titel „Ein modernes Das behaupten Sie!) Steuerrecht für Deutschland“ – Bindestrich; die Span- Wir brauchen Änderungen im bestehenden Steuerrecht, nung steigt –, „Konzept 21“. Ich muss sagen, Ihre Wort- um Vereinfachungen zu erreichen. Dies muss aber im- kosmetiker haben da ganze Arbeit geleistet, sie waren mer unter Berücksichtigung der Gerechtigkeit gesche- wirklich gut. Da ist ein Spannungsbogen drin. Wenn hen. man sich allerdings die 16 Seiten, die Sie uns vorgelegt haben, anschaut, dann findet man eine zentrale Aussage (Zuruf von der CDU/CSU: Ich denke, das geht darin. nicht!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sagen Sie doch Zur Gewerbesteuer will ich einen Satz sagen. mal, was Sie uns vorschlagen wollen!) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sagen Sie Die zentrale Aussage lautet: Die Bundesregierung wird was zur Steuerprogression!) aufgefordert, ein Konzept vorzulegen. Ihre Vorstellung eines Konzepts ist, dass die Bundesregierung ein Kon- Auch das wird in Ihrem vermeintlichen Konzept ange- zept vorlegen soll. Das ist toll, ganz große Klasse. sprochen. Allerdings gehen Sie dort noch ein Stück wei- ter. Sie geben zu, dass Sie überhaupt kein Konzept ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben; denn in Ihren gemeinsamen Grundsätzen von CDU DIE GRÜNEN – Christine Scheel [BÜND- und CSU schreiben Sie, dass Sie den kommunalen 16254 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Bernd Scheelen (A) Gebietskörperschaften anbieten, gemeinsam einen Er- Deswegen lautet meine Aufforderung: Nehmen Sie (C) satz für die überholte Gewerbesteuer zu erarbeiten. Wo Ihre Verantwortung im Bundesrat endlich wahr und ist denn das Konzept? Wann haben Sie das erarbeitet? stimmen Sie guten Konzepten zu! Sie haben unter 16 Jahre lang Zeit gehabt, das zu tun, aber Sie haben das nicht getan. Vielen Dank. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ blockiert!) DIE GRÜNEN)

Nun sind Sie seit fast sieben Jahren in der Opposition, in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: denen Sie auch Zeit gehabt hätten, gemeinsam mit den Ich schließe die Aussprache. kommunalen Spitzenverbänden etwas zu erarbeiten. Auch das haben Sie nicht getan. Sie haben Ihre Hausauf- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- gaben in dieser Frage nicht gemacht. fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 15/5176 (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben es zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel blockiert!) „Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – Kon- zept 21“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Ganz im Gegenteil: Dadurch, dass Sie mit Ihrer Bundes- Drucksache 15/2745 abzulehnen. Wer stimmt für diese ratsmehrheit das Ergebnis der Kommission, das auf dem Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- Tisch lag und das die Kommunen – es hatte die Zustim- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen mung aller 14 000 Gemeinden – und die kommunalen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der Spitzenverbände wollten, blockiert haben, haben Sie FDP angenommen. verhindert, dass eine anständige Gemeindefinanzreform in Kraft tritt. Den Kommunen, den Städten und den Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: Kreisen in Deutschland ginge es deutlich besser, wenn a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Sie diese Gemeindefinanzreform im Bundesrat nicht nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE blockiert hätten. GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zes zur Stärkung der gesundheitlichen Präven- DIE GRÜNEN) tion Herr Rzepka, Sie haben vorhin gesagt, in der Anhö- – Drucksache 15/4833 – rung hätten Ihnen viele Experten zugestimmt. (Erste Beratung 158. Sitzung) (B) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist wahr!) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (D) Ich erinnere mich, dass die Anhörung speziell in diesem gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Punkt ein Desaster für Sie war. zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Überhaupt nicht! – – Drucksache 15/5214 – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Gar nicht wahr!) (Erste Beratung 169. Sitzung) Ich brauche Ihnen nur kurz aus der Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände zu Ihrem Vorschlag vor- aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit und Soziale Siche- zulesen, der so ähnlich wie der BDI-Vorschlag – „Weg rung (13. Ausschuss) mit der Gewerbesteuer“; stattdessen soll es Zuschläge zu anderen Steuerarten geben – lautet. Die kommunalen – Drucksachen 15/5363, 15/5372 – Spitzenverbände sagen, ohne eine bessere Alternative stehen sie fest zur Gewerbesteuer. Gleichzeitig sagen sie, Berichterstattung: dass Ihre Vorschläge eben keine Alternative sind. Es gibt Abgeordneter Detlef Parr zurzeit kein Konzept, durch das die Gewerbesteuer in ir- bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- gendeiner Form ersetzt werden könnte. Deswegen sind schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung wir froh und stolz darauf, dass wir die Gewerbesteuer – Drucksache 15/5368 – (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Noch komplizier- ter machen!) Berichterstattung: Abgeordnete Waltraud Lehn vor Ihrem Zugriff haben retten können. Dr. Michael Luther Sie haben gemerkt, dass die Gewerbesteuereinnah- Anna Lührmann men im letzten und in diesem Jahr deutlich gestiegen Otto Fricke sind. Das ist der Erfolg des Kompromisses, den wir mit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ihnen eingehen mussten. Wir haben noch wesentlich richts des Ausschusses für Gesundheit und So- mehr gewollt, aber wir sind schon froh, dass sich die Ge- ziale Sicherung (13. Ausschuss) werbesteuereinnahmen im Moment gut entwickeln. Wir hoffen, dass die Kommunen die Aussicht darauf haben, – zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, auch mit Ihrer Zustimmung endlich ein anständiges Re- Dr. Dieter Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb, wei- formkonzept zu erhalten. terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16255

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Prävention und Gesundheitsförderung als nen deswegen eigenverantwortlich über ihre Mittel und (C) individuelle und gesamtgesellschaftliche auch über ihre Präventionsziele selbst entscheiden. Das Aufgabe ist von uns so gewollt, weil derjenige, der die Mittel auf- bringt, auch über die Verwendung der Mittel entscheiden – zu dem Antrag der Abgeordneten Annette muss. Widmann-Mauz, Verena Butalikakis, Monika Brüning, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tion der CDU/CSU Als Drittes wurde bemängelt, dass die Prävention Prävention als gesamtgesellschaftliche Auf- nicht allein Aufgabe der Sozialversicherungen sei. Dies gabe umfassend, innovativ und unbürokra- ist richtig; diese Auffassung teile ich. Aber ich bitte da- tisch gestalten rum, zur Kenntnis zu nehmen, was vom Bund inzwi- – Drucksachen 15/4671, 15/4830, 15/5363, schen alles an Präventionsmaßnahmen finanziert und ge- 15/5372 – fördert wird. Das ist nicht wenig. Allein im Haushalt des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Siche- Berichterstattung: rung wurden 2004 mehr als 40 Millionen Euro für Zwe- Abgeordneter Detlef Parr cke der Prävention im engeren Sinne ausgegeben, das heißt für gesundheitliche Aufklärung, Präventionspro- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für jekte, Präventionsforschung und für einzelne Modellvor- die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich haben. Rechnet man die Aktivitäten anderer Ressorts höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. hinzu, dann verdoppelt sich diese Summe des Bundes, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- also 80 Millionen Euro allein für die Prävention im en- mentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk. geren Sinne. Darin sind die Mittel der Länder und Kom- munen noch gar nicht eingerechnet. Ich frage: Ist das Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der nichts? Warum wird darüber nicht öffentlich geredet? Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: Warum tun wir so, als seien dies ausschließlich Mittel Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Sozialversicherungen? In diese Bereiche fließen Prävention und Gesundheitsförderung werden mit dem nicht unerhebliche Mengen an Steuermitteln. vorliegenden Gesetzentwurf in unserer Gesellschaft fest (Detlef Parr [FDP]: Das hat aber mit dem verankert. Gesetz gar nichts zu tun!) (Detlef Parr [FDP]: Das ist ein Trugschluss!) Ich denke, dass mit diesem Gesetz eine sinnvolle (B) Über das Ziel herrscht Einigkeit. Doch wie so oft, wenn Schnittstelle geschaffen wird. In diesem Gesetz – es er- (D) es ums Geld geht und wenn es konkret wird, enden dann höht die Urteilskraft, wenn man sich sachkundig macht – die Gemeinsamkeiten. ist das erste Mal die Aufgabenbeschreibung der BZgA und ihre Abgrenzung von der neuen Stiftung gelungen. In den Beratungen und Anhörungen zum Gesetzent- Damit wird es zu Synergieeffekten kommen und Dop- wurf der Bundesregierung und der Fraktionen wurde im- pelarbeit wird vermieden. Das war überfällig. Das findet mer wieder kritisiert, die geplante Stiftung Prävention sich in dem Gesetz wieder. und Gesundheitsförderung sei zu bürokratisch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Detlef Parr [FDP]: Zu Recht!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser Vorwurf – Herr Kollege Parr, wie könnte es an- Es ist aber notwendig, zu sagen: Wir geben nicht nur ders sein: wenn man genau hinschaut und sich sachkun- Geld aus, sondern wir wollen mit diesem Gesetz die Prä- dig macht, kommt man zu einem anderen Ergebnis – ist vention als eigenständige vierte Säule im Gesundheits- falsch. wesen verankern. Deshalb verändern wir die Strukturen. (Detlef Parr [FDP]: Dann haben Sie das Kon- Es wird zum Beispiel in Zukunft eine eigene Evaluie- strukt noch nicht durchschaut!) rung und Berichterstattung beim Robert Koch-Institut geben. Die Bundesministerien haben sich auf der letzten Die Stiftung wird nur einen kleinen Arbeitsstab, einen Kabinettssitzung zu einer gemeinsamen Präventionsstra- hauptamtlichen Geschäftsführer und einen ehrenamtli- tegie der Bundesregierung verständigt, in der dargelegt chen Vorstand haben. Ihre Arbeit soll ausdrücklich auf wurde, welches Ministerium in Zukunft welche Aufga- den vorhandenen Strukturen in den Ländern aufbauen. ben erfüllt. Das heißt, Prävention wird zu einem Quer- Sie agiert mit klaren Vorgaben. Von einem Übermaß an schnittsthema, das alle Ministerien umfasst. Dies ist Bürokratie also keine Spur. überfällig. Der zweite Kritikpunkt war, der Entwurf sei nicht (Erika Lotz [SPD]: Und das ist gut so!) verfassungsgemäß. Dieser Vorwurf, auch wenn er stän- dig wiederholt wird, wird dadurch nicht richtiger. Hier Wir zeigen auch deshalb Flagge, um gegenüber den hat ein Gutachten der beiden Verfassungsressorts – da- Sozialversicherungen deutlich zu machen, dass es nicht rüber bin ich sehr froh – für Sicherheit gesorgt. Klar ist, allein ihre Aufgabe ist und wir uns nicht aus der Finan- dass die Zweckbindung der Beiträge der Versicherten zierung zurückziehen. Wir bekennen uns im Gegenteil vollständig gewahrt wird. Die Sozialversicherungen ha- klar zur Aufgabe der Prävention. Aber die Sozialversi- ben in der Stiftung eine strukturelle Mehrheit und kön- cherungen müssen dies auch tun. Ich habe wenig 16256 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) Verständnis für die Diskussion, die in der Öffentlichkeit Ziele erreicht werden. Wir werden auch dafür sorgen, (C) stattfindet. Wenn man sich überlegt, dass die gesetz- dass die vielen guten Projekte, die es bereits gibt, zu ei- lichen Krankenversicherungen 140 Milliarden Euro für nem Ganzen zusammengefügt werden. Wir haben viele die Bereiche kurative Medizin, Rehabilitation, Pflege einzelne Projekte, aber die haben wir nicht koordiniert, und alles, was damit verbunden ist, ausgeben und jetzt sie sind nicht unter einem Dach und sie werden vor al- diskutiert wird, ob die geforderten 180 Millionen Euro lem nicht systematisch evaluiert. Deswegen ist dies eigentlich zu viel seien, dann muss man zu dem Schluss überfällig. kommen, dass die Debatte in eine völlig falsche Rich- tung geht. Ein Blick über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zeigt, dass andere Länder mit der Stiftungs- Es ist überfällig, dass wir umsteuern und dass die idee gut zurande kommen. Es gibt eine Stiftung in der Mittel für die Prävention ausgeschöpft werden. Wenn Schweiz und es gibt eine Stiftung für Prävention in die Kassen das alleine getan hätten und es Synergien ge- Österreich. Beide Länder machen mit dieser Organisa- geben hätte, wäre es gut gewesen. Aber wir wissen doch tionsform derzeit sehr gute Erfahrungen. Wir haben alle, dass die Mittel in der Vergangenheit nicht ausge- diese Erfahrungen in der Gesetzgebung berücksichtigt. schöpft wurden. Wir wissen auch, dass dort, wo die Prä- vention besonders wichtig wäre, nämlich in den sozialen Wenn man es mit der Prävention ernst meint, dann Brennpunkten, bei Kindern und Jugendlichen, bei älte- muss jetzt gehandelt werden. Stellen Sie deswegen Ihre ren Arbeitnehmern und älteren Menschen allgemein, die Bedenken ein Stück weit zurück! Lassen Sie uns begin- Individualprävention gar nicht ankam. Sie wurde viel- nen! Jeder weiß, dass wir uns mehr Mittel und mehr In- mehr überwiegend von Frauen zwischen 35 und 50 Jah- stitutionen wünschen, die mitmachen, ob das die priva- ren aus der Mittelschicht genutzt. Es ist gut so, dass die ten Versicherer oder andere öffentliche Einrichtungen mitmachen, aber das kann es doch nicht alleine sein. Die sind oder auch private Zustiftungen, die das Gesetz aus- Prävention muss dort angeboten werden, wo die Men- drücklich ermöglicht. Der Startschuss für die Prävention schen die Prävention wirklich brauchen. in einer älter werdenden Gesellschaft muss jetzt erfol- gen. Deswegen bitte ich Sie darum, sich dieser wichtigen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Birgitt Aufgabe nicht weiterhin zu verweigern. Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vielen Dank. Ich glaube, dass wir aus diesem Grunde die Verant- wortung der Sozialversicherungsträger einfordern müs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen. Ich glaube auch, dass es richtig ist, mit einem ersten DIE GRÜNEN) wichtigen Schritt zu beginnen. Es ist aber wie immer in (B) der Bundesrepublik Deutschland: Alle sind sich über das (D) Ziel einig, aber dann kommt die ganze Reihe der Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: denkenträger, der Verhinderer und der Blockierer. Jeder Das Wort hat die Kollegin Verena Butalikakis, CDU/ sagt, warum es so nicht geht, warum es jetzt nicht geht, CSU-Fraktion. dass die Mittel zu hoch sind und dass das Ganze organi- satorisch in eine falsche Richtung geht. Verena Butalikakis (CDU/CSU): (Erika Lotz [SPD]: Wir sagen, wie es geht!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Dem Krümelmonster in der ‚Sesamstraße‘ wird eine Ich will an der Stelle ausdrücklich sagen, dass diejeni- Obstdiät verordnet.“ So lautete die Ankündigung im gen, die sich jetzt zu Wort melden, einbezogen waren, Fernsehen vor ungefähr drei Tagen, die ich zufällig und zwar sowohl die Sozialversicherungsträger als auch hörte. „Na endlich!“, dachte ich in Erinnerung an die an- die Länder. Es wäre sehr schön, wenn man bei dem ein- strengenden Erklärungsversuche meinen Kindern gegen- mal Verabredeten bliebe, auch wenn das im Moment über, dass wirklich nur das Krümelmonster so viele nicht in die politische Strategie passt. Ich hoffe sehr, dass Kekse in sich hineinstopfen darf. sich die Fachminister in dem Punkte durchsetzen und nicht die Ministerpräsidenten, die im Moment nur eine Hintergrund dieser Meldung war dann tatsächlich die Blockadepolitik gegen diese Bundesregierung betreiben Erklärung, dass das Krümelmonster durch das viele (Erika Lotz [SPD]: Nur Wahlkampf!) Essen – oder Fressen – von Obst in dieser Bildungssen- dung für kleine Kinder ein Vorbildverhalten für und die Zustimmung zu den wirklich wichtigen Maßnah- gesunde Ernährung bieten soll. Richtig, kann man da men verweigern. Deswegen müssen wir die Einhaltung nur sagen. Ich glaube, wir sind uns über die Fraktionen des Verabredeten deutlich einfordern. hinweg einig: je früher Gesundheitserziehung, desto besser. Wenn das Kind dann nicht nur in der beliebten (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Birgitt Fernsehsendung, sondern auch in der Familie und in der Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Kita erfährt, wie man sich richtig ernährt, wenn das Für uns besteht der entscheidende Gewinn der Stif- Gelernte in der Schule verstärkt wird, dann ist der tung darin, dass wir endlich grundlegende Präventions- Grundstein für ein gesundheitsbewusstes Verhalten im ziele für die Bundesrepublik Deutschland haben werden. Erwachsenenalter gelegt und Prävention kann in Eigen- Wir werden Dachkampagnen haben und wir werden verantwortung wahrgenommen werden. Das Verhalten Qualitätsstandards entwickeln. Es soll nicht nur etwas ist gelernt worden – die Wunschzielvorstellung von Prä- gemacht werden, sondern auch überprüft werden, ob die vention. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16257

Verena Butalikakis (A) Bei den Erwachsenen sieht das Lernen heute aller- Es kann nicht sein, dass – die Staatssekretärin hat es ge- (C) dings anders aus. Die Aussage „Krankheiten vorzubeu- rade noch einmal wiederholt – nur einige Sozialversiche- gen und zu verhindern ist besser, als Krankheiten zu hei- rungsträger zur Zahlung verpflichtet werden, andere So- len“ erhält in Umfragen hundertprozentige Zustimmung. zialversicherungsträger sowie Bund und Länder nicht Auf die Frage: „Was ist wichtig für die Gesundheit?“ beteiligt sind. stehen laut einer Umfrage von Allensbach die Antworten „Bewegung, Sport“, „Ernährung“ und „Vorsorgeunter- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: suchungen“ weit oben in der Rangfolge. Sagen Sie das mal dem Herrn Hundt!) Doch obwohl der Präventionsgedanke in den letzten Beim Einsatz von Beitragsmitteln der Versicherten ist anderthalb Jahrzehnten erfreulicherweise mehr Raum die Verfügungs- und Entscheidungshoheit des jeweiligen gewonnen hat und auch das Angebot an Präventions- Sozialversicherungsträgers unabdingbar. maßnahmen unterschiedlichster Art stark angewachsen Prävention als neue, vierte Säule im Gesundheits- ist, die Diskrepanz zwischen dem Kennen und Benen- wesen umfasst für uns nicht nur die Primär-, sondern nen von Schlagworten, dem Wissen, auf der einen Seite auch die Sekundär- und Tertiärprävention. Notwendig ist und dem Handeln für die eigene Gesundheit auf der sind transparente Organisationsstrukturen, die gerin- anderen Seite nach wie vor zu groß. Nur 25 Prozent der Befragten in der oben genannten Untersuchung erklären, gen bürokratischen Aufwand und geringe Verwaltungs- dass sie gesundheitsbewusst leben und ihre Ernährung kosten garantieren. und Lebensweise darauf ausrichten, gesund und fit zu Bei der ersten Lesung im Bundestag im Februar die- bleiben. ses Jahres wurden unsere Einwände und Forderungen Das ist der Sachstand zum Thema Prävention. Wir ha- von Ihnen, Frau Ministerin – Sie sind anwesend, haben ben ein Umsetzungsproblem. Dabei sind sich Wissen- aber nicht geredet, was uns etwas verwundert hat; viel- schaftler und Gesundheitspolitiker aller Parteien seit vie- leicht empfinden Sie nach dem ganzen Gesetzgebungs- len Jahren einig: Für eine wirkliche Stärkung muss ein verfahren keine große Liebe mehr für dieses Gesetz –, neuer Ansatz umgesetzt werden. Prävention wird die beiseite gewischt mit den Worten: „Machen Sie mit, an- vierte Säule des Gesundheitswesens; wir haben es ge- statt mies zu machen.“ Voll des Lobes für den eigenen rade gehört: ein Paradigmenwechsel. Prävention wird Gesetzentwurf gipfelten Ihre Aussagen dann in folgen- eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Prävention den Worten: braucht eine gesicherte Finanzierungsgrundlage. Angesichts der zahlreichen Partner, die an den Be- Inhaltlich gehören dazu: eine Begrifflichkeit für Prä- ratungen beteiligt waren, vention, eine abgestimmte Strukturgebung, gemeinsame – die CDU/CSU-Fraktion war es nicht – (B) Präventionsziele und Kontrollen für die Zielerreichung. (D) Außerdem brauchen wir für diesen neuen Ansatz eine ist der vorliegende Gesetzentwurf das, was wir mo- gesetzliche Grundlage. mentan mit Zustimmung aller – der Sozialversiche- Die Vorteile einer gestärkten Prävention auf einer gu- rungsträger, aber auch der Länder – auf den Weg ten, neuen gesetzlichen Grundlage liegen angesichts der bringen können. demographischen Entwicklung und absehbarer Kosten- Wollen wir diese Aussage, am besten anhand von Zi- steigerungen auf der Hand. Wenn mehr Menschen sich taten, einmal überprüfen. bewusst gesundheitsbewusst verhalten, wird die Lebens- qualität des Einzelnen gesteigert und längerfristig erge- Mit der Zustimmung der Sozialversicherungsträger? ben sich Einsparungen in den sozialen Sicherungssyste- In der Anhörung am 9. März stellte sich die Sachlage et- men. was anders dar. Für den Verband der Deutschen Renten- versicherungsträger stellte Dr. Reimann unter anderem Ich gehe davon aus, dass über die von mir umrissene fest – ich zitiere –: Zielbeschreibung Einigkeit im Haus herrscht. Ich will sie für die CDU/CSU-Fraktion noch einmal ausdrücklich An diesen beiden Punkten – Finanzierung und Zu- bestätigen. Was wir noch brauchen, ist ein Gesetz, das ständigkeiten – sehen wir erheblichen Nachbesse- diese Anforderungen auch umsetzt. Im Rahmen des rungsbedarf an dem vorliegenden Gesetz. Gesundheitskompromisses 2003 wurde die Vorlage ei- nes Präventionsgesetzes, die dann ein Jahr zu spät kam, Für die gesetzliche Krankenversicherung äußerte sich verabredet. Dieser Gesetzentwurf erfüllt den – zugege- Herr Stuppardt von der IKK wie folgt: benermaßen sehr hohen – Anspruch nicht. Ich sage aus- Wir haben drücklich: leider nicht. … bezogen auf diesen Gesetzentwurf eine umfas- Die CDU/CSU-Fraktion hatte deshalb parallel zu dem sende Stellungnahme in Richtung Klarstellungs- Gesetzentwurf einen Antrag eingebracht, der im Einzel- und Ergänzungsbedarf abgegeben … Es kann auch nen den notwendigen Änderungsbedarf belegte und eine einiges in diesem Gesetz gestrichen werden, weil es grundlegende Überarbeitung einforderte. Ich will kurz letztendlich verfassungsrechtlich nicht trägt. Dafür die Einzelpunkte nennen: haben wir das Gutachten in Auftrag gegeben. Wir Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe muss brauchen eine gründliche Überarbeitung … auch eine gemeinsame Finanzierung haben. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Hört! (Beifall bei der CDU/CSU) Hört!) 16258 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Verena Butalikakis (A) Der Bundesrat tagte am 18. März. Mit der Zustim- Ich danke Ihnen. (C) mung der Länder? Ich zitiere aus der Bundesratsdrucksa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. che 97/05: Detlef Parr [FDP] – Erika Lotz [SPD]: Das Der Gesetzentwurf weist Überregulierungen auf, sind doch Ausreden, die Sie gebrauchen!) die nicht mit dem Ziel des Bürokratieabbaus über- einstimmen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Gesetz- Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/ entwurf einer Überarbeitung bedarf, um im Sinne Die Grünen. der vorgenannten Ausführungen einfachere und transparentere Organisationsstrukturen auf Bundes- ebene zu schaffen, die den bürokratischen Aufwand Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verringern. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigent- lich sind sich alle einig. Frau Ministerin, ich stelle fest, der vorliegende Ge- setzentwurf hat weder die Zustimmung der Sozialversi- (Detlef Parr [FDP]: So ist es!) cherungen noch die der Länder. Eigentlich finden alle, dass Prävention gut und wichtig (Beifall bei der CDU/CSU) ist. Eigentlich finden alle, dass wir für die Prävention eine rechtliche Grundlage brauchen. Eigentlich finden Das heißt, Ihre Aussage in der ersten Lesung war alle – Sie, Frau Butalikakis, haben sich vorhin das Motto schlichtweg falsch. ausdrücklich zu Eigen gemacht –, dass Vorbeugen besser Darüber hinaus haben in der Anhörung alle 39 Sach- ist als Heilen. Eigentlich wissen alle, dass in der Präven- verständigen weiteren Änderungsbedarf sehr deutlich tion eine der größten Wirtschaftlichkeitsreserven unseres gemacht. Hauptkritikpunkte waren die Finanzierung, die Gesundheitswesens schlummert. Das könnte ja genü- Organisationsstrukturen und der hohe Bürokratieauf- gend Gemeinsamkeit sein, um ein Gesetz gemeinsam wand. Das sind genau die Kritikpunkte, die wir von der auf den Weg zu bringen. CDU/CSU-Fraktion auch vorgetragen haben. Alles (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Leider Miesmacher? Nein, wahrscheinlich zeigt das nur, dass nicht!) Teile dieses Gesetzes einfach „mies“ sind. Aber auch bei diesem Gesetz ist es so: Wenn es konkret (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wird, fliegen plötzlich die Fetzen. Welche Schlussfolgerungen hat die rot-grüne Regie- Woran liegt das eigentlich? Wenn es wirklich unter- (B) rungskoalition aus all den Änderungsanforderungen und schiedliche fachliche Perspektiven wären, dann könnte (D) Überarbeitungswünschen gezogen? – Gar keine! Wie man darüber diskutieren. Aber ich fürchte, es liegt vor sagte der Kollege Lohmann im Ausschuss, als er die allem an den unterschiedlichen Interessen der beteiligten neuen Änderungsanträge der Regierungskoalition vor- Akteure, die allzu oft mit dem konkreten Gesetzespro- stellte? – „Das sind alles redaktionelle Änderungen.“ So- jekt gar nichts zu tun haben. In der aktuellen Diskussion mit steht das Gesetz heute inhaltlich unverändert zur Ab- über das Präventionsgesetz reden zu viele pro domo, stimmung. verfolgen ihre eigenen Interessen und lediglich ihre urei- (Erika Lotz [SPD]: Klarstellungen!) gensten Anliegen. Auch das vorliegende Gutachten zu verfassungsrecht- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lichen Fragen, von der gesetzlichen Krankenversiche- und bei der SPD) rung in Auftrag gegeben, ist mit einer Kurzstellung- Wie ist die Situation? Die Krankenkassen rufen den nahme aus dem Bundesministerium des Innern für Systembruch aus, weil von den rund 130 Milliarden entkräftet erklärt worden. Euro, die sie im Jahr in medizinische Leistungen inves- Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion tieren, künftig rund 100 Millionen Euro – das ist weni- wird den Gesetzentwurf ablehnen. ger als 1 Promille – in eine Bundespräventionsstiftung und in Präventionsmaßnahmen in Kindergärten, Schulen Und weil die Staatssekretärin eben gesagt hat: Lassen und Nachbarschaften fließen sollen. Durch diese Auf- Sie uns anfangen, und weil ich genau weiß, dass gleich lage fühlen sie sich in ihrer Selbstverwaltungsautonomie – wie in der ersten Lesung – die Sätze folgen werden: beschnitten und unerträglich bevormundet. Wir müssen den ersten Schritt in die richtige Richtung machen, möchte ich zum Abschluss kurz etwas bemer- Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bun- ken: Zur Stärkung von Prävention kennen wir nicht nur desärztekammer monieren, dass die Ärzteschaft in dem die Richtung, wir kennen das Ziel. Ich habe das eingangs Gesetz nicht hinreichend berücksichtigt werde ausgeführt. Wir sind uns einig über die grundlegenden (Detlef Parr [FDP]: Das ist doch richtig so!) Punkte – über die Wissenschaftler und Gesundheitspoli- tiker sich seit vielen Jahren einig sind. Und wir haben und übersehen dabei, lieber Kollege Parr, auch gar nicht mehr die Zeit, nur einen kleinen ersten (Detlef Parr [FDP]: Jetzt bin ich gespannt!) Schritt zu tun. Wir brauchen einen großen Schritt, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Dieses große Ziel ist dass Primärprävention keine alleinige Domäne der Ärz- das richtige Gesetz, und das fehlt leider. teschaft ist. Hier geht es um die Zusammenarbeit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16259

Birgitt Bender (A) verschiedener Berufsgruppen. Im Zentrum stehen aber ventionsgesetz nehmen wir diesen Faden wieder auf. Ein (C) vor allem die Bürgerinnen und Bürger. Schwerpunkt wird auf die Förderung von Präventions- maßnahmen gelegt, die in Wohnquartieren, Schulen, Es sind die Länder – genauer die unionsdominierte Kindergärten und in anderen Bereichen des Alltagsle- Mehrheit im Bundesrat –, deren Verhalten man sich ganz bens ansetzen. Mit diesem Lebensweltbezug können wir besonders genau anschauen muss. Ich bin der Meinung, auch Menschen erreichen, die sich ansonsten nicht an sie haben einen Preis verdient. Ich werde noch sagen, Präventionsmaßnahmen beteiligen würden. Das heißt, welchen. Prävention und Gesundheitsförderung werden aus der Die Länder haben zunächst in monatelangen Ver- vielfach kritisierten Mittelschichtorientierung herausge- handlungen diesen Gesetzentwurf mit der Bundesregie- führt und tatsächlich zu einem Angebot für die ganze rung ausgearbeitet. Jetzt sind sie dagegen. Dieselben Bevölkerung. Länder hatten vor Beginn der Verhandlungen noch den Es gibt einzelne Regelungen in diesem Gesetzent- Aufbau von 16 Landespräventionsstiftungen gefordert. wurf, mit denen auch wir nicht vollständig einverstanden Jetzt plötzlich monieren sie den Aufbau einer einzigen sind. Stiftung und bezeichnen ihn als unerträglichen Ausdruck des allerschlimmsten Bürokratismus. Das hat offensicht- (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Ach! Hört! lich nichts mit der Sache zu tun. Ich würde sagen, die Hört!) Bundesländer haben den Präventionspreis in Blech ver- Es gibt Dinge, die fehlen, und es gibt Dinge, die man dient. hätte besser machen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Jetzt kommt und bei der SPD) der berühmte erste Schritt!) Der vorliegende Gesetzentwurf ist wichtig. Es wäre Es fehlt, Frau Kollegin Butalikakis, die Aufnahme der wünschenswert, dass wir ihn gemeinsam verabschieden; Bundesagentur für Arbeit in den Kreis der Präventions- denn damit schaffen wir das Fundament einer modernen träger. Ich bedauere das sehr; aber wir müssen zur und bedarfsgerechten Präventionspolitik. Er beendet die Kenntnis nehmen, dass dies am Widerstand des Verwal- Zersplitterung, die bisher die Organisations- und Finan- tungsrats der BA gescheitert ist. Sie wissen ja, wer dort zierungsstrukturen der Prävention kennzeichnet. Die die handelnden Personen sind. drei Hauptträger der Prävention, die Krankenkassen, die Unfallkassen und die Rentenkassen, bestehen aus meh- Auch ärgern wir uns darüber, dass zwar die private reren Hundert Einzelorganisationen. Wir wissen alle, Krankenversicherung von den Präventionsanstrengun- (B) dass heute jede der vielen Krankenkassen, Berufsgenos- gen der Sozialversicherungsträger und der öffentlichen (D) senschaften und Rentenversicherungsanstalten für sich Hand profitiert, sich aber selber geweigert hat, sich an entscheidet, welche Finanzmittel sie an welchem Ort in der vorgesehenen Stiftung zu beteiligen. Wir müssen se- welches Präventionsprojekt steckt. Es gibt eben keine hen, dass es verfassungsrechtliche Grenzen gibt. Wir Gemeinsamkeit. Damit wird Wirksamkeit verschenkt. können die PKV leider nicht dazu verpflichten, hier mit- zumachen, und werden insofern mit dieser Lücke vor- Deswegen brauchen wir stabile und transparente läufig leben müssen. Finanzierungsstrukturen sowie einen trägerübergrei- fenden Ansatz. Das leistet dieser Gesetzentwurf; denn Auch die gesetzlichen Vorkehrungen, die verhindern durch ihn werden die Sozialversicherungsträger, der sollen, dass die Länder ihre Präventionsanstrengungen Bund und die Länder verpflichtet, eng miteinander zu- auf Kosten der Sozialversicherungsträger zurückfahren, sammenzuarbeiten, und die notwendigen Kooperations- hätten wir gerne durchaus etwas strikter gefasst; das will strukturen geschaffen. Vor allem gibt der Gesetzentwurf ich deutlich sagen. – auch das ist wichtig – den Präventionsanstrengungen eine Richtung, weil nationale Ziele festgelegt werden (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: Ja, das hät- und sich alle Anstrengungen an diesen Zielen zu orien- ten Sie machen können!) tieren haben. Aber, Frau Kollegin Butalikakis, auch hier stoßen wir an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfassungsrechtliche Grenzen dessen, was der Bund sowie bei Abgeordneten der SPD) den Ländern vorschreiben darf. Dieses Phänomen – ich sage nur: Föderalismusdiskussion – dürfte Ihnen durch- Nicht zu vergessen: Die soziale Lage ist der entschei- aus nicht unbekannt sein. Ich nehme an, Sie wollen das dende Risikofaktor für ein Mehr an Gesundheit oder ein auch gar nicht ändern. Mehr an Krankheit. Menschen am unteren Ende der Ein- kommensleiter haben ein doppelt so hohes Risiko zu er- Aber trotz aller Einwände, die ich im Rahmen der Ge- kranken und eine um sieben Jahre kürzere Lebenserwar- samtbewertung dieses Gesetzentwurfs genannt habe, fin- tung als Menschen an ihrem obersten Ende. Kurz gesagt: den wir: Er schafft eine verlässliche und transparente Armut macht krank. Finanzierung. Er schafft dringend notwendige Koopera- tionsstrukturen zwischen den Trägern. Er sorgt mit Prä- Wir haben deswegen bereits bei der Gesundheitsre- ventionszielen, Qualitätssicherung und regelmäßiger Be- form 2000 den Krankenkassen die Verpflichtung aufer- richterstattung für eine neue Qualität der Prävention. Mit legt, bei präventiven Anstrengungen auch etwas zum der vorgesehenen Stiftung wird der Prävention ein Ort Abbau der sozialen Ungleichheit zu tun. Mit dem Prä- gegeben, von dem aus sich das alles entfalten kann. Das 16260 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Birgitt Bender (A) heißt, der vorliegende Entwurf leistet alles Notwendige. Die Kommentierung des Gesetzes durch den ehemali- (C) Jetzt bräuchten wir nur noch Akteure, gen Staatssekretär Karl Jung in der Anhörung zu dem Gesetzentwurf sagt viel. Ich zitiere: (Detlef Parr [FDP]: Handeln ist angesagt!) Die Zielsetzung und die Absicht des Gesetzgebers die mehr im Auge haben als ihre eigenen Interessen. – Stärkung der Prävention, Entwicklung einer vier- Danke schön. ten Säule der gesundheitlichen Versorgung, Para- digmenwechsel in der Gesundheitspolitik – sind zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßen, aber leider werden diese höheren Ziele und bei der SPD) mit dem Gesetzentwurf nicht erreicht. Der Gesetz- entwurf ist nicht in der Lage, das, was im Vorfeld in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den Eckpunktepapieren zum Teil theoretisch entwi- ckelt worden war ... sachgerecht und wirksam um- Das Wort hat der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion. zusetzen.

Detlef Parr (FDP): (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unüber- hörbar kritische Stimmen bei der Anhörung, mahnende Wir stehen bei diesem wichtigen Thema vor einem Zuschriften der Krankenkassen, juristische Äußerungen Scherbenhaufen. Auch wenn das Gesetz – in welcher zur Verfassungswidrigkeit, die Ablehnung des Gesetz- Form auch immer – tatsächlich in Kraft treten sollte, entwurfs durch den Bundesrat, der Diskussionsverlauf bleibe ich bei meiner Aussage: Der geringe Output, der im Fachausschuss mit Bedenken aus den eigenen von dem Präventionsgesetz für die Bürgerinnen und Reihen – all das hält die Bundesregierung und Rot-Grün Bürger zu erwarten ist, rechtfertigt nicht den hohen Mit- in diesem Hause nicht davon ab, heute ihren Entwurf teleinsatz. Das ist staatlich verordnete Unwirtschaftlich- eines Präventionsgesetzes durchzupeitschen. „Augen zu keit. und durch“ ist aber ein schlechtes Motto auf dem Weg zu (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ursula einem richtigen Ziel. Heinen [CDU/CSU]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Was sind die Gründe dafür? Erstens leidet die Stiftung der CDU/CSU) unter Bürokratie und Gigantomanie – auch wenn uns die Wir alle wollen die Prävention in den Köpfen mög- Frau Staatssekretärin etwas anderes glauben machen lichst vieler Menschen verankern. Wir wollen beste- will –; dieser Manie ist mancher ministerielle Schreib- (B) hende Programme verbessern und neue entwickeln, um tischtäter verfallen. Viele Eigeninitiativen von Präven- (D) die Gesundheit zu fördern und chronischen Krankheiten tionsträgern werden dieser Krankheit zum Opfer fallen. vorzubeugen. Das alles wollen wir so effizient wie mög- Zweitens haben schon viele Kassen die gesamten lich gestalten. 2,56 Euro pro Versicherten in Präventionsprojekte inves- Das Thema müsste eigentlich ein Selbstläufer sein. Es tiert. Wenn ihnen jetzt, wie geplant, Geld entzogen wird, vereint eine große Zahl von Befürwortern. Ich kenne drohen bestehende Präventionsangebote nicht mehr fort- keinen, der sich nicht verbal zur Prävention bekennt. Es geführt zu werden. ist deshalb nicht nachvollziehbar, wie die rot-grüne Bun- Drittens werden die Länder – Frau Kollegin Bender desregierung den heute abschließend zu beratenden Ge- hat schon darauf hingewiesen, dass der Gesetzentwurf in setzentwurf so ins Abseits manövrieren kann. diesem Punkt eine Schwachstelle aufweist – über kurz Schon der Verlauf der Vorbereitungen war merk- oder lang die bisher aus dem Haushalt aufgewandten würdig. Nach der Gesundheitsreform geschah zunächst Mittel durch Mittel aus den Sozialversicherungen erset- außer großen Ankündigungen monatelang nichts. Dann zen. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat dies in einigte sich eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe auf Eck- der Anhörung für den Bereich Gewalt- und Suchtpräven- punkte, die schon erahnen ließen, in welche Richtung ein tion in Schulen und Kindergärten sehr gut herausgear- groß angelegtes Präventionsgesetz gehen würde, näm- beitet. Sie befürchtet zu Recht, dass sich die Kommunen lich in Richtung Bürokratie, Überreglementierung und zulasten der Sozialversicherungen zurückziehen werden. vor allen Dingen Geldverteilung. Schließlich war schon Was dem Gesetzentwurf fehlt – sofern ein solches Ge- der Kompromiss mit den Ländern mit Blick auf die Ent- setz überhaupt notwendig ist –, sind klare Zielvorgaben lastung knapper Kassen mit anderer Leute Geld erkauft für erfolgreiche und notwendige Präventionsaktivitäten. worden. Gut, dass der Bundesrat – bis jetzt zumindest – Es fehlt eine klare Abgrenzung, inwieweit Prävention in nicht käuflich ist! die Eigenverantwortung der Menschen gestellt werden kann und wann unterstützende Maßnahmen durch Dritte Die Vorlage des Gesetzentwurfs zog sich dann mona- notwendig werden. telang hin, weil die Ressortabstimmung alles andere als reibungslos verlief und es nicht versäumt wurde, der Öf- Des Weiteren fehlt eine klare Zuweisung von Zustän- fentlichkeit deutlich zu machen, dass sich der eine oder digkeiten und Kompetenzen in allen Bereichen der Prä- andere gerne von dem Entwurf distanziert hätte. Ich bin vention – nicht nur der Primär-, sondern auch der Sekun- gespannt, wie Ministerin Künast in diesem Zusammen- där- und Tertiärprävention. Deswegen, Frau Kollegin hang überzeugt werden kann. Bender, hat die FDP kein Verständnis dafür, dass zum Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16261

Detlef Parr (A) Beispiel die Ärzteschaft mit ihren Kompetenzen und ih- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) rer zentralen Rolle als direkter Ansprechpartner für die Patienten so gut wie keine gestaltende Rolle spielt. Helga Kühn-Mengel (SPD): Es fehlt auch die Zielvorgabe, wann Prävention eine Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und wann sie von legen! Frau Kollegin Butalikakis, es war durchaus inte- den Sozialversicherungen zu übernehmen ist. Zudem ressant, Ihnen zuzuhören. Sie haben die Ministerin kriti- fehlen die Beschreibung von konkreten Handlungsfel- siert, weil sie hier nicht gesprochen hat. Wir wollen aber dern und die Ausformung von Leistungsansprüchen. ganz deutlich festhalten: Wenn eine Gesundheitsministe- Last, but not least fehlt ein klares Bekenntnis dazu, ge- rin die Prävention befördert hat, dann ist es Frau Ulla gen die Impfmüdigkeit vorzugehen, die in unserer Ge- Schmidt. sellschaft ein Problem darstellt. (Beifall bei der SPD) Wir führen diese Diskussion nicht zur Stunde null. Wir wissen heute schon viel über Prävention und deren Wenn sie den gesamten Prozess mit der Implementie- Chancen für unsere Gesellschaft. Wir wissen um den rung des runden Tisches und mit der Errichtung des Handlungsbedarf und die strukturellen Defizite sowie „Deutschen Forums Prävention und Gesundheitsförde- um die Notwendigkeit einer klareren Zielführung, einer rung“ nicht so gut gestaltet hätte, wenn nicht ein Forum besseren Evaluierung und einer Bündelung aller Kräfte. für Kommunikation und Information in diesem Bereich Es wäre schön gewesen, wenn ein Gesetz dies und einen von ihr installiert worden wäre, dann wären wir nicht so konkreten Weg für die Realisierung aufgezeigt hätte. weit. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- Nun werden der mühsame Aufbau einer Stiftung und der tion, Sie blicken doch auf eine verhältnismäßig lange Beginn ihrer komplizierten Arbeit abgewartet. So wird Regierungszeit zurück. Ich kann mich nicht erinnern, weiter wertvolle Zeit vertan. dass Sie ein großes Präventionsgesetz auf den Weg ge- bracht haben. Nehmen wir den Kinder- und Jugendbereich als Beispiel. Ob falsche Ernährung, mangelnde Bewegung, (Peter Dreßen [SPD]: Abgeschafft!) Sucht und Drogen, unsere Kinder und Jugendlichen sind heute einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzt. Präven- – Ich komme darauf zu sprechen. – Im Gegenteil: Sie ha- tive Maßnahmen in den so genannten Lebenswelten ben das bisschen Prävention, das es gab, gekappt. Erst Schule, Sportvereine und Wohnumfeld sind zentrale wir haben nach unserem Regierungsantritt 1998 die Prä- Zielbereiche, die heute schon als Handlungsfelder kon- vention wieder gestärkt und in der Folgezeit ausgebaut. kret benennbar sind. Warum tut man es nicht? Warum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) wird hier nicht schneller gehandelt? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) Schulen brauchen Rahmenbedingungen, um sich in Ich war dabei, als der von Ihnen angesprochene ihrer Gesamtheit präventiv auszurichten, ja Prävention Gesundheitskompromiss beschlossen wurde. Ich hatte vielleicht sogar zum besonderen Schulprofil zu machen, die Ehre, diesen Bereich ein Stück weit mitzugestalten was die Infrastruktur anbelangt: die verwendeten Mate- und zu betreuen. Ich weiß daher, dass große Überein- rialien, die Bewegungsmöglichkeiten, die Verantwor- stimmung darüber bestand, ein Präventionsgesetz auf tung für gesunde Ernährung und für die Früherkennung den Weg zu bringen. Das hat sich aber im Laufe der Zeit gesundheitlicher Störungen, die Lehrer als Vorbilder, die verändert. Meine Hypothese ist, dass das mehr mit anste- inhaltliche Ausgestaltung des Schulunterrichts und die henden Wahlen und Blockaden zu tun hat als mit einer Einbeziehung der Eltern. Doch wir befinden uns weiter- Änderung der sachlichen Inhalte. Die Gesundheits- und hin in der Situation, dass beim Schulsport – statt ihn zu Sozialminister und -ministerinnen der Länder haben ein stärken – gekürzt wird, die Zahl der Nichtschwimmer solches Gesetz unterstützt. Das wissen alle Gutinfor- unter den Kindern bedenklich hoch ist und die Qualität mierten, die hier sitzen. des Sportunterrichts im Elementarbereich zu wünschen übrig lässt. Ein Gesetz – das gilt erst recht für den vorlie- Ich möchte noch einen Blick zurückwerfen. Zwischen genden Entwurf – wird daran nichts ändern. Vielmehr 1997 und 2000 hatten die Krankenkassen keine Mög- müssen auf der Landesebene und vor allem auf der kom- lichkeit mehr, eigenständige Maßnahmen der Primärprä- munalen Ebene in Zusammenarbeit mit den Krankenkas- vention und der betrieblichen Gesundheitsförderung sen und anderen Institutionen aus eigener Kraft neue An- durchzuführen. Wie ich schon sagte, haben wir nach stöße zu gesundheitsbewusster Lebensführung gegeben Amtsantritt diese falsche Weichenstellung korrigiert und werden. den Krankenkassen die Möglichkeit gegeben, auf die- Dazu trägt dieser Gesetzentwurf viel zu wenig bei. sem Gebiet aktiv zu werden. Deshalb lehnen wir ihn ab. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Außerdem haben wir die Selbsthilfeförderung ge- der CDU/CSU) setzlich verankert. Das ist erstmals geschehen. Sie haben Recht: Bei der Umsetzung ist vieles nicht optimal gelau- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fen. Aber es war richtig, die Weichen in Richtung mehr Das Wort hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPD- Beteiligung – das ist ein wichtiges Glied in der Versor- Fraktion. gungskette – und in Richtung Stärkung der Prävention 16262 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Helga Kühn-Mengel (A) zu stellen. Diese Politik wird mit der Verabschiedung (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Die (C) dieses Gesetzes fortgesetzt. Begeisterung schlägt um sich!) Es ist richtig: Heute findet hier ein Perspektivwech- Vieles von dem, was wir heute machen, ist seit lan- sel statt. Wir rücken mit diesem Gesetz die Gesundheit gem bekannt. Diese Regierung hat Prävention und Ge- und weniger die Krankheiten unserer Bürger und Bürge- sundheitsförderung kontinuierlich gestärkt. Wie ich rinnen ins Blickfeld. Wir sorgen mit diesem Gesetz da- schon erwähnt habe, hat die Ministerin mit dem Deut- für, dass die Menschen zukünftig mehr für den Erhalt schen Forum Prävention und Gesundheitsförderung und für die Verbesserung ihrer Gesundheit tun können. eine wichtige Plattform für Erkenntnisse geschaffen. Sie erhalten Unterstützung im unmittelbaren Lebensum- Jetzt geht es an die Umsetzung dieses Gesetzes. Dass feld. Die Qualität der Gesundheitsförderung und der Prä- sich durch die von uns heute getätigten Investitionen in ventionsangebote wird gestärkt. Es ist ganz wichtig, dass einigen Jahren der allgemeine Gesundheitszustand ver- es Wirksamkeitsnachweise gibt. Die Pflicht, solche bessert haben wird, müssen wir als Chance sehen. Ich Nachweise zu erbringen, verankern wir in immer mehr kann nur auf das verweisen, was die Ministerin immer Gesetzen. Die Art und Weise, wie behandelt, und das, wieder sagt: Das ist eine Antwort auf die mit der demo- was gefördert wird, müssen einer Evaluation unterzogen graphischen Entwicklung verbundenen Fragen. werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dieses Gesetz verpflichtet zu einer Gesundheitsbe- DIE GRÜNEN) richterstattung. Das ist wichtig; denn eine Gesund- Die Stärken dieses Gesetzes sind, dass Präventions- heitsberichterstattung gibt darüber Auskunft, um welche ziele auf die unmittelbare Umgebung der Menschen he- Zielgruppen wir uns zu kümmern haben. Außerdem trägt runtergebrochen werden, dass geschlechtsspezifische sie zur Bewertbarkeit von Vorgängen bei. Auch dies ist und lebenslagenspezifische Aspekte ausdrücklich betont ganz wichtig. werden und dass nicht nur die Träger der Sozialversiche- Durch die Möglichkeit von Zustiftungen an die neu rungssysteme im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ste- zu gründende Bundesstiftung erleichtern wir es privaten hen, sondern dass auch wichtige andere Partner und Kooperationspartnern, sich an Prävention und Gesund- Partnerinnen bei der Umsetzung des Gesetzes helfen sol- heitsförderung aktiv zu beteiligen. Das ist ebenfalls ein len: Wohlfahrtsverbände, Selbsthilfeorganisationen und ganz wichtiger Gesichtspunkt. der öffentliche Gesundheitsdienst. Geben Sie vor diesem Hintergrund mit Ihrer Stimme Wir tun vor allem etwas für die Menschen. Sie sind in diesem Gesetz eine Chance, mit Leben gefüllt zu wer- Ihren Reden vergleichsweise wenig erwähnt worden. Sie (B) den. Durch die Inanspruchnahme der Kenntnisse derer, (D) haben von den Sozialsystemen und von Strukturmängeln die bereits auf diesem Feld arbeiten, kann es gelingen, gesprochen. Worauf es aber vor allem ankommt, ist, dass Prävention und Gesundheitsförderung stärker zu veran- wir die Menschen erreichen. Deswegen werden in die- kern. sem Gesetz die Lebenswelten, der Settingansatz, die Arbeit in Kindergärten, in Schulen, im Stadtteil und am Ich danke Ihnen. Arbeitsplatz betont. Das ist ein bedeutsamer Baustein in diesem neuen Präventionsprogramm. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vor diesem Hintergrund kann man nur sagen, dass die Vorteile dieses Gesetzes auf der Hand liegen: Wir haben Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Menschen im Blick; wir holen sie dort ab, wo sie le- ben. Wir kümmern uns mit diesem Gesetz zum ersten Das Wort hat die Kollegin Annette Widmann-Mauz, Mal verstärkt um diejenigen, die am unteren Ende der CDU/CSU-Fraktion. Gesundheitsskala leben. Das untere Fünftel macht uns nämlich große Sorgen. Wie schon gesagt wurde, werden Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): diese Menschen von den häufig mittelschichtorientierten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Präventionsprogrammen nicht erreicht. Der in diesem gen! Bei der Debatte heute Morgen habe ich fast Mitleid Gesetz enthaltene Settingansatz, also der lebensweltori- mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitions- entierte Ansatz, gibt die Gelegenheit, an diesem Punkt fraktionen bekommen. anzuknüpfen. (Peter Dreßen [SPD]: Ach Gott! – Markus Die Menschen am unteren Ende der Gesundheitsskala Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das leben nach dem statistischen Durchschnitt fünf bis sieben wollen wir nicht!) Jahre kürzer als andere; diese Zahl ist schon seit den 80er-Jahren, also schon lange, bekannt. Mit diesem Ge- – Wirklich. – Jegliche Kritik an der Ministerin, die vor- setz tragen wir dieser Erkenntnis Rechnung. Das gilt im getragen wird, wird als Majestätsbeleidigung aufgefasst. Übrigen auch für unser Gesundheitsmodernisierungs- Es ist erstaunlich, mit welcher Unschuldsmiene Sie gesetz, das viele entsprechende Bausteine wie die Patien- heute Morgen den Ländern wirklich unmoralische Ange- tenbeteiligung und die Verbesserung von Qualität – den- bote gemacht haben. ken Sie nur an die strukturierten Behandlungsprogramme und an die Leitlinienarbeit – enthält. (Detlef Parr [FDP]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16263

Annette Widmann-Mauz (A) Sie haben so getan, als ob Sie kein Wässerchen trüben nanzierung der Stiftung wieder einmal nicht. Sie zahlen (C) könnten. In Wirklichkeit haben Sie jedoch mit dem keinen einzigen Euro. Geldbeutel gelockt und den Ländern einen Vertrag zulas- ten Dritter aufzwingen wollen. Sie sagen – das hat die Staatssekretärin heute Morgen wieder gemacht –: Wir machen ja so viel, die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zentrale für gesundheitliche Aufklärung im Bund und der öffentliche Gesundheitsdienst in den Ländern. Gott sei Dank ist von den Ländern bemerkt worden, dass ein gutes Ziel noch nicht jedes Mittel heiligt. Gut ge- (Peter Dreßen [SPD]: Das stimmt doch auch!) meint ist eben, wie immer bei Ihnen, nicht gut gemacht. Aber wenn wir Sie fragen, ob Sie bereit sind, diese Mit- Eine zukunftsweisende Idee ist ein weiteres Mal von die- tel festzuschreiben, zu benennen, wie viel es ist, und die- ser Regierung miserabel umgesetzt worden. ses Geld dann auch gegenüber Angriffen zu sichern, ist (Zuruf von der SPD: Wie hätten Sie es denn von Ihnen nichts zu hören. Dazu sind Sie nicht bereit. gerne?) Deshalb ist das Argument berechtigt, dass die Gefahr be- steht, dass Sie hier Ihre öffentlichen Haushalte zulasten Wir haben ja gemeinsam eine Anhörung durchge- der Beitragszahler sanieren wollen. führt. Ich habe schon viele Anhörungen in meiner Parla- mentszeit hinter mich gebracht, aber ich habe noch nie Ein gibt ein weiteres Argument, weshalb die Auswir- erlebt, dass ein Gesetzentwurf so vernichtend von den kungen dieses Gesetzes überhaupt nicht bedacht sind. Expertinnen und Experten, von den Sachverständigen, Ich will nur einmal darauf hinweisen, dass die Arbeitslo- beurteilt wurde. senversicherung hier überhaupt nicht beteiligt ist. Auf Nachfrage hieß es, dieses Versicherungssystem sei so (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) belastet, dass man ihm das auf keinen Fall zumuten könne. Wenn ich die neuesten Prognosen – heute wieder Ob die Spitzenverbände der Krankenkassen, die Renten- in der „Süddeutschen Zeitung“ – lese, komme ich zu versicherungsträger, die Arbeitgeberverbände, die Ge- dem Schluss, dass die Rentenversicherung mindestens werkschaften, ja sogar die Sozialverbände – sie alle ha- genauso belastet ist. Aber was beim einen gilt, ist beim ben ihn einhellig abgelehnt. Selbst Kollegen aus der anderen nicht von Relevanz. SPD-Fraktion mussten im Ausschuss schon ihre grund- sätzlichen und ausdrücklichen Bedenken zu Protokoll Schauen wir uns aber einmal die Rentenversicherung geben, nur damit sie sich noch einigermaßen im Spiegel an. Es besteht die große Gefahr, dass die medizinische anschauen konnten. Ich sage Ihnen ganz bewusst: Selbst Rehabilitation in der Rentenversicherung nicht mehr aus der politischen Leitung des Bundesministeriums für gesichert ist, (B) (D) Gesundheit und Soziale Sicherung hört man solche Sätze (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie: Das Beste, was zu diesem Gesetzentwurf zu sagen NEN]: Stimmt doch gar nicht!) ist, ist, einfach nichts zu sagen. weil die Mittel für die Primärprävention herhalten müs- (Beifall der Abg. Ursula Heinen [CDU/CSU]) sen. Sie muss aus Reha-Geldern bestritten werden. Des- Meine Damen, meine Herren, warum ist das so? Die- halb stehen diese Mittel der Tertiärprävention nicht mehr ses Gesetz hat schwerste Konstruktionsfehler. Eine ge- zur Verfügung. Was behauptet die Frau Staatssekretärin? samtgesellschaftliche Aufgabe – das ist Prävention un- Sie sagt: Die Mittel sind gar nicht abgerufen worden. bestrittenermaßen – kann eben nicht nur von einem Teil Also können wir noch locker Geld für die Primärpräven- der Gesellschaft finanziert werden. Wieder einmal ma- tion aufbringen. – Aber alle Experten auch der Renten- chen Sie einen Vorschlag, bei dem der Lastesel der Na- versicherungsträger sagen Ihnen, dass der Bedarf an- tion die Beitragszahler in der Krankenversicherung, der steigt. Die Anträge sind nur wegen der aktuellen Rentenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung konjunkturellen und wirtschaftspolitisch schwierigen und der Unfallversicherung sind. Diese dürfen bei Ihnen Lage zurückgestellt. Sie sind nur aufgeschoben. wieder einmal allein die Zeche bezahlen. Obwohl die Durch die Hartzreformen und den neuen Empfänger- Krankenkassenbeiträge bisher nur marginal gesunken kreis von Arbeitslosengeld II gibt es neue Anspruchsbe- sind, belasten Sie wiederum diese Gruppe. Die Rentne- rechtigte auf Reha-Maßnahmen. 100 Millionen Euro rinnen und Rentner in unserem Land bekommen wieder Mehrbedarf für medizinische Rehabilitation wird allein einmal eine Nullrunde verpasst und werden sogar weni- für diese Gruppe erwartet. Wie können Sie dann an die- ger in den Taschen haben. Dennoch werden die Beitrags- ser Stelle eine solche Regelung vorschlagen? Wir sagen: zahler belastet. Auch die Pflegebedürftigen, die weiter Ernährungsberatung für Kinder ist gut, aber sie darf auf eine Dynamisierung der Leistungen warten, und die nicht zulasten der medizinischen Rehabilitation von Ar- Demenzkranken, die überhaupt auf eine Berücksichti- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehen. gung warten, belasten Sie wieder. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was Sie sagen, ist unerträglich!) Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die funktio- nierende und bewährte Präventionsinfrastruktur in un- Obwohl Prävention alle angeht und nach dem Willen serem Land zerschlagen wird; denn es bleibt nicht dabei, von Rot-Grün alle aus der Bevölkerung Leistungen er- dass diejenigen, die bereits heute gute Arbeit geleistet halten sollen, beteiligen sich Bund und Länder an der Fi- haben, in Zukunft dafür honoriert werden. Warum ist das 16264 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Annette Widmann-Mauz (A) so? 2,70 Euro pro Versicherten für Primärprävention eine Gegenstimme, zu der ich nichts mehr sagen will. Es (C) sind per Gesetz vorgeschrieben. Es gibt Krankenkassen gab also eine klare Mehrheit für diesen Gesetzentwurf. – das ist unbestritten –, die dieses Geld für Primärprä- vention nicht ausgeben. Aber es gibt andere Kassen, die Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben natürlich, wie sogar mehr zahlen als die geforderten 2,70 Euro. Doch schon öfter – das ist Ihr gutes Recht –, die kritischen jetzt wird gesagt, dass nur noch 40 Prozent des Geldes Stimmen aus der Anhörung angeführt. Es gab aber auch zur Verfügung stehen und damit die gleiche Infrastruktur andere Stimmen, finanziert werden soll. Das funktioniert nicht. Sie bestra- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sehr fen so diejenigen, die schon seit langem Engagement wenige!) zeigen. Das kann doch nicht gewollt sein. zum Beispiel die der Vertreter des Sports, aber nicht nur (Beifall von der CDU/CSU – Detlef Parr die. Ich könnte noch ein paar andere Namen nennen; [FDP]: Das versteht man sogar, wenn man aber gut. Ich hatte, wie gesagt, die Hoffnung, dass es Mengenlehre gelernt hat!) heute zu einem anderen Abstimmungsverhalten kommt Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas zu dem als dem, das sich jetzt andeutet. Gefälligkeitsgutachten, das Sie sich jetzt noch vom Jus- Ich möchte einen Aspekt etwas vertiefen. Wir alle tiz- und vom Innenministerium haben anfertigen lassen, wissen – darüber herrscht, glaube ich, auch Einmütig- (Peter Dreßen [SPD]: Was ist das den für eine keit –: Gesundheit muss ständig erworben und aktiv auf- Wortwahl?) rechterhalten werden. Manchmal wird der Eindruck ver- mittelt, das Gesundheitsmodell in der Bundesrepublik weil die Argumente derart bedrückend waren, sagen. Deutschland sei einfach nicht mehr leistungsfähig. Das Hier sind wichtige Aspekte überhaupt nicht behandelt ist nicht so. Unser Gesundheitsmodell ist nach wie vor worden. Der Grundsatz der Zweckbindung, der Beitrags- leistungsfähig und auch erfolgreich. Nur – ich habe das, mittel bleibt weiterhin verletzt. Es gäbe noch vieles zu glaube ich, in der ersten Lesung schon einmal gesagt –: sagen. Es hat eben seine Grenzen. Eine dieser Grenzen ist, dass Dieser Gesetzentwurf ist nicht umfassend, weil die es in Sachen Prävention zurzeit einfach nicht ausrei- Störung der Primärprävention ausschließliches Ziel ist. chend ist. Er ist nicht sachgerecht, weil bestehende Maßnahmen Brauchen wir ein Präventionsgesetz? und Strukturen gefährdet sind. Er ist ungerecht, weil sich nur Beitragszahler – nicht die gesamte Gesellschaft – be- (Erika Lotz [SPD]: Aber ja!) teiligen. Er ist viel zu bürokratisch, weil eine Vielzahl (B) neuer Gremien geschaffen wird. Zudem ist er verfas- Ja, wir brauchen ein Präventionsgesetz. Bislang sind die (D) sungsrechtlich höchst fragwürdig. Regelungen zur Prävention in mehreren Sozialgesetzbü- chern verstreut. Durch die vorgesehene Bündelung in ei- Meine Damen, meine Herren, wir haben heute die nem Gesetz – das ist ein wesentlicher Vorteil – gewinnt Chance, ein weiteres schlechtes Gesetz zu verhindern. die Prävention endlich einen Stellenwert, den sie bislang (Peter Dreßen [SPD]: Das ist eine Unterstel- nicht hatte. lung!) (Detlef Parr [FDP]: Wenn es dabei geblieben Nutzen Sie diese Chance! Ein schlechtes Gesetz weniger wäre, wäre es gut!) hilft unserem Land und nutzt auch der Prävention. Wir brauchen also ein Präventionsgesetz. Das ist auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Hauptgrund dafür, dass man dafür stimmen müsste. neten der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Götz-Peter Kann gesundheitsförderndes Leben von oben ver- Lohmann, SPD-Fraktion. ordnet werden? Ich habe vor kurzem ein Interview mei- nes geschätzten Kollegen Zöller gelesen, in dem er ge- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Birgitt fragt wurde: Möchten Sie, dass der Präventionsgedanke Bender [BÜNDNISS/90 DIE GRÜNEN]) von oben verordnet wird? – Wenn ich mich richtig erin- nere, hat er darauf geantwortet – ich zitiere jetzt viel- Götz-Peter Lohmann (SPD): leicht nicht wortgetreu, aber inhaltlich wird es stimmen, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Kollege Zöller –: Ich möchte Prävention für mich nicht legen! Ich hatte eigentlich doch noch die Hoffnung, dass verordnet haben. – Darin stimme ich mit Ihnen überein. es heute zu einer ähnlichen Abstimmung kommt, wie es Auch ich möchte Prävention nicht verordnet haben. sie zum Beispiel – ich sehe gerade den Kollegen Aber es gibt einen Unterschied. Nicht nur deshalb, Riegert – im Sportausschuss gegeben hat. Damit will ich weil wir früher aktive Leichtathleten waren, wissen wir nicht sagen, dass wir dort die klügeren oder faireren Ab- beide, was zu einer gesunden Lebensführung gehört. Wir geordneten sind. Da war das Abstimmungsverhalten je- bewegen uns ein bisschen, wir ernähren uns vernünftig. denfalls wie folgt: Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion haben sich enthalten und es gab nur (Unruhe) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16265

Götz-Peter Lohmann (A) – Man sieht an unserer Statur, dass wir unterschiedliche Wir alle wissen, dass in reichen Ländern wie (C) Disziplinen betrieben haben, aber aktiv waren wir Deutschland die Gesundheit der Bevölkerung von drei beide. – Das Problem ist, Kollege Zöller: Die meisten ziemlich stabilen Megatrends abhängt: Erstens. Das heu- Menschen sind nicht von sich aus daran interessiert, wie tige Krankheits- und Sterbegeschehen wird in industria- wir, gesund zu leben. Viele Mitmenschen muss man ge- lisierten Ländern zu circa drei Vierteln von chronischen, legentlich zu ihrem Glück zwingen, indem man ihnen überwiegend degenerativ verlaufenden Krankheiten be- Prävention verordnet. stimmt. Ich möchte als Vergleich anführen – ich weiß, Ver- Zweitens. Heute sterben die meisten Menschen in den gleiche hinken immer – die Pflicht, sich im Auto anzu- Industriegesellschaften an Herz-Kreislauf-Krankheiten gurten. Sie wissen, welch unsägliche Diskussionen es und Krebserkrankungen. Zum Tragen kommen dabei darüber gegeben hat. Dann hat man bemerkt, dass viele komplexe Faktoren wie Stress und Lebensstil. Vor allem schwerwiegende Unfallfolgen vermieden werden. So psychosomatische Erkrankungen nehmen an Bedeutung richtig meckert jetzt niemand mehr. Obwohl es also hef- zu. tige Widerstände gab, hat man erkannt, dass diese ver- Drittens. Im Bevölkerungsdurchschnitt nimmt die Le- ordnete Prävention, nämlich um schwere Unfallfolgen benserwartung pro Jahrzehnt um etwas mehr als ein Jahr zu verhindern, durchaus etwas Wertvolles ist. So ähnlich zu. Die älter werdende Population wird dabei im Durch- sehe ich das auch bei dem Gedanken der Prävention im schnitt immer gesünder älter. Die heute 75-Jährigen sind Gesundheitsbereich. im Durchschnitt etwa so gesund wie die 70-Jährigen von vor circa zehn Jahren. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Nun komme ich auf einen Aspekt zu sprechen, der mir sehr wichtig ist und der für mich persönlich den ei- Noch ein Gedanke vorab. Viele Kolleginnen und Kol- gentlichen Kern des Präventionsgesetzes darstellt: Diese legen haben betont, dass bei den Krankenkassen schon von mir erwähnten kontinuierlich anfallenden Gesund- jetzt viel gute Arbeit geleistet wird, das sehe ich heitsgewinne sind stabil ungleich verteilt. Die sozial be- genauso. Das ist aber regional sehr unterschiedlich. dingte Ungleichheit der Gesundheitschancen, die ge- Manche Kassen arbeiten vorbildlich, manche nicht. In legentlich schon erwähnt wurde, ist auch in reichen manchen Bundesländern gibt es schon etwas Institu- Ländern groß und nimmt zu. tionalisiertes, einen Präventionsrat oder etwas Ähnli- ches. Dafür gibt es sehr gute Beispiele, sowohl auf Län- Wenn man zum Beispiel die deutsche Bevölkerung derebene als auch auf kommunaler Ebene. Deswegen ist nach den Merkmalen Ausbildung, Stellung im Beruf und (B) der Vorwurf, dass da erst alles neu geschaffen werden Einkommen in fünf Gruppen unterteilt, zeigt sich, dass (D) muss, absurd. Menschen aus dem untersten Quintil in jedem Lebensal- ter im Durchschnitt ein ungefähr doppelt so hohes Risiko Wie gesagt, die Krankenkassen erreichen heutzutage tragen, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben, – die Wissenschaftler streiten sich darüber – im Bereich wie Menschen aus dem obersten Fünftel. Das entspricht der Präventation 1, 2, maximal 3 Prozent ihrer Versi- circa sieben Jahren. Etwas Ähnliches hinsichtlich des cherten. Frau Kollegin, Sie haben gesagt, dass es Unterschieds in der durchschnittlichen Lebenserwartung 1,6 Prozent sind. zwischen dem obersten und dem untersten Fünftel hat auch die Kollegin Kühn-Mengel erwähnt. (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: 2,6 Prozent!) Hieraus lassen sich zwei Jahrhundertherausforderun- gen ableiten. Damit meine ich nicht, dass wir ein Jahr- – Gut. Ich habe gesagt: 1 bis 3 Prozent. – Ich frage mich: hundert Zeit haben, um sie zu bewältigen, sondern, dass Machen die Krankenkassen etwas falsch – wir sind uns sie in kürzester Zeit erledigt werden müssen; andernfalls ja einig, dass dieser Prozentsatz relativ gering ist – oder werden wir in diesem Jahrhundert ein echtes Problem muss man daraus den Schluss ziehen, dass Prävention haben. Wenn wir dieses Problem in den Griff bekommen die meisten Menschen nicht interessiert? wollen, müssen wir zwei Aspekte berücksichtigen. Ich denke, es gibt einfach zu wenige Angebote, die Erstens. Die integrierte Versorgung muss durchge- die Risikogruppen direkt ansprechen. Daher sollten wir setzt werden, wobei alle Gesundheitspolitiker wissen: – Kollegin Kühn-Mengel hat darauf hingewiesen – auf Im Kern geht es um den evidenzbasierten Abbau von die Personen, die Gesundheitsförderung dringend benö- Über-, Unter- und Fehlversorgung. tigen, zugehen. Dazu möchte ich etwas sagen. Ich habe Zweitens. Die zweite Jahrhundertherausforderung ist vor kurzem gelesen, dass es im Moment viele so ge- der Ausbau der primären Prävention, also des bevöl- nannte Komm-Angebote gibt: So werden zum Beispiel kerungsbezogenen Managements von Gesundheitsrisi- Aushänge oder Flyer gemacht. Entweder kommen die ken vor ihrem Eintritt. Leute oder sie kommen nicht. Meist nehmen nur die Ge- sundheitsbewussten und die Gesunden das Angebot Die Gesundheitspolitiker der Koalition sind davon wahr; das wurde an dieser Stelle schon mehrfach er- überzeugt, dass es notwendig ist, damit nun zu beginnen. wähnt. Die Zielgruppen, die wir eigentlich ansprechen Auch wenn dieser Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung wollen, erreichen wir nicht. Dies muss durch andere Me- der Prävention nicht gerade ein Jahrhundertvorbildge- thoden geschehen. setz ist, überwiegen die positiven Aspekte. Wir müssen 16266 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Götz-Peter Lohmann (A) endlich ein Bundesgesetz verabschieden. Es geht um zweifelhafte Beitragsfinanzierung schaffen, Gelder ver- (C) mehr als um die Summe der Einzelmaßnahmen. Endlich schieben und eine Stiftung errichten. Die Menschen ha- können die Risikogruppen erreicht werden. Es geht um ben es – ich sage es ganz deutlich – schlichtweg satt, den Einsatz im Lebensumfeld, in den so genannten Le- wieder ein neues Gesetz zu bekommen, welches nicht benswelten. Allein dieser Gedanke berechtigt dazu, zu das bringt, was sie und wir wollen, nämlich mehr Prä- sagen: Wir müssen beginnen. Lasst uns diesen Entwurf vention und mehr Eigenverantwortung. eines Gesetzes zur Stärkung der Prävention auf Bundes- ebene in die Praxis umsetzen! Ich denke, das ist sehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wichtig und in unser aller Interesse. Die Menschen haben es satt, dass mit diesem Gesetz Herzlichen Dank. weitere Hürden und ein weiteres Mehr an Bürokratie auf sie zukommen – ohne ein erkennbares Mehr an Präven- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNISSES 90/ tion, ohne eine stärkere und wirksamere Gesundheitsför- DIE GRÜNEN) derung. Alle wollen ein Gesetz, welches erkennbar und nachweislich der breiten Masse der Bevölkerung Ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sundheitsförderung und Vorsorge ermöglicht, ein Ge- Nächste Rednerin ist die Kollegin Barbara Lanzinger, setz, welches in den Lebenswelten der Bevölkerung CDU/CSU-Fraktion. greift, vor allem in der Familie, um das Üben, das Trai- nieren von individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten (Beifall bei der CDU/CSU) von klein auf zu erlernen. Das geht mit diesem Gesetz nicht. Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto nen und Kollegen! Rot-Grün und die CDU/CSU-Frak- Solms) tion sind sich wahrscheinlich beim Inhalt dieses Gesetz- Wenn ein Präventionsgesetz Erfolg haben soll, dann entwurfs einig, keinesfalls aber bei der Umsetzung muss es so gestrickt sein, dass Gesundheitsförderung dieses Inhaltes. Der Entwurf eines Gesetzes zur Stär- und Prävention gelebt, erlebt und umgesetzt werden kung der gesundheitlichen Prävention ist mitnichten der können. Wir brauchen klare, saubere, durchschaubare große Wurf. Er reiht sich leider ein in eine Vielzahl von Entscheidungen. Die Menschen wollen klare, saubere, rot-grünen Gesetzen: kompliziert, praxisfern, bürokra- durchschaubare Antworten vom Gesetzgeber. Die Kas- tisch und realitätsfern. sen, die Leistungserbringer, die Länder, die Kommunen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – wollen klare, saubere, durchschaubare und durchführ- (B) Detlef Parr [FDP]: Gut beschrieben! – Erika bare Regelungen, keine komplexen Gebilde und Ver- (D) Lotz [SPD]: Jetzt übertreiben Sie aber!) schlimmerungen; die Kollegin Widmann-Mauz hat es ja schon erklärt. Der Gesetzentwurf ist so nicht brauchbar, um Prävention nachhaltig zu stärken. Der Gesetzentwurf ist so nicht (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Perfekt sogar!) brauchbar, um mehr Gesundheitsbewusstsein in den Wissen Sie, der Gesundheitsausschuss lädt zu einer Köpfen der Menschen zu verankern, um die Bürgerinnen Anhörung ein. Verbände und Institutionen werden be- und Bürger für mehr Eigenverantwortung zu sensibili- fragt, wir wollen deren Stellungnahmen zum rot-grünen sieren, was Sie ja auch beschrieben haben. Er ist nicht Gesetzentwurf hören. Bis heute hagelt es von allen Sei- brauchbar für ein Mehr an Umdenken in Richtung be- ten vernichtende Kritik. Was aber macht Rot-Grün? wusstes Leben, gesunde Ernährung, körperliche und Nichts. Sie legen einen Gesetzentwurf – ohne nachweis- geistige Aktivitäten und das Achten auf ein seelisches liche Veränderungen vor. Das kann doch nicht sein. Die Gleichgewicht, sprich: ein Lernen, im Gleichklang zu le- Ablehnung dieses Gesetzentwurfs hat nichts mit Wahlen ben. zu tun, sondern nur mit der vernichtenden Kritik, die in Die Menschen draußen wollen ganz einfache und der Anhörung deutlich wurde. klare Regelungen, einfache, klare Hilfestellungen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Angebote. Prävention wird mit diesem Gesetzentwurf weiterhin ein Stiefkind in Deutschland bleiben. Wenn Ersparen wir uns in Zukunft also diese Anhörungen. wir Prävention und Gesundheitsförderung politisch Es sind doch offensichtlich Schauveranstaltungen für die wirklich ernst nehmen und tatsächlich etwas erreichen rot-grüne Regierungskoalition, da an dem Gesetz nichts wollen – ich rate nur, das sollten wir tun –, dann müssen geändert und an dem komplizierten Regelwerk festge- wir die Menschen abholen und da erreichen, wo sie ste- halten werden soll, in welchem Gelder lediglich sinnlos hen. Das Überstülpen eines Regelwerks, eines bürokrati- verschoben werden. Ich habe schon bei meiner letzten schen Etwas, das Schaffen neuer, teilweise unnützer Rede gesagt: Schiebst du das Geld zu oft hin und her, Strukturen, wird keinen Erfolg haben. macht es dir die Taschen leer. Das ist ein alter Spruch, der nach wie vor gilt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Erika Lotz [SPD]: Rauchverbot an Schulen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die Menschen Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Gesetzesinhalt zu mehr Vorsorgeuntersuchungen gehen und freiwillig nicht so wichtig ist. Wichtig sind für Rot-Grün die Über- mehr für ihre Gesundheit tun werden, nur weil Sie eine schriften. Sie wollen punkten und das Thema besetzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16267

Barbara Lanzinger (A) Prävention ist aber viel zu wichtig, um mit dem vor- und zum Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung (C) liegenden Gesetzentwurf verheizt zu werden. Wir ma- und Landwirtschaft? chen da nicht mit. Dafür sind der CDU/CSU-Fraktion die Themen Prävention und Gesundheitsvorsorge zu (Detlef Parr [FDP]: Sehr gute Frage! Absolut unerbaulich! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ wichtig. Prävention darf nicht das Verschieben von Kas- CSU]: Legitime Frage!) sen- und Sozialversicherungsgeldern in ein Regelwerk bedeuten, mit dem die Gefahr eines Kappens bisheriger Ich glaube, dass dieses Verhältnis nicht allzu gut ist oder Maßnahmen verbunden wäre. dass Sie dazu neigen, Doppelstrukturen aufzubauen bzw. sich in ziemlich vielen Bereichen herumzutummeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Prävention ist und darf auch nicht allein eine Frage der Geldverteilung sein. Es muss eine gesamtgesellschaftli- Das darf ich am Beispiel des Themas Ernährung che Aufgabe sein und darf nicht allein auf die gesetzli- kurz aufschlüsseln. Allein das Verbraucherschutzminis- chen Krankenkassen und Sozialversicherungssysteme terium hat im letzten Jahr mit einer Plattform für Ernäh- dezimiert werden. rung und Bewegung – PR-wirksam und teuer vermark- tet – 9 Millionen Euro für Ernährungsaufklärung und für Kolleginnen und Kollegen, Prävention bedeutet einen einen Wettbewerb zur Prävention von Übergewicht zur Bewusstseinswandel, eine Änderung der Lebenseinstel- Verfügung gestellt. Das Bundesgesundheitsministerium lung, ein Wachrütteln. Es wird höchste Zeit. Fangen Sie hat noch mal 1,6 Millionen Euro draufgesattelt. Gemäß an, aber bitte nicht mit diesem Gesetz! Ihrem Änderungsantrag sollen nun auch Leistungen der Danke schön. Stressbewältigung und Ernährung in den Lebenswelten mit aufgenommen werden. Das macht für mich das (Beifall bei der CDU/CSU) Chaos in diesem kleinen Bereich Ernährung fast perfekt. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Wie die Verzahnung mit den künastschen Program- hat die Kollegin Ursula Heinen von der CDU/CSU-Frak- men aussehen soll, haben Sie bisher noch nicht erläutert; tion das Wort. wir haben von Ihnen überhaupt noch nichts dazu gehört. Durch mangelnde Koordination entstehen Doppelstruk- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) turen. Wer tummelt sich denn alles auf diesem Themen- feld? Ich nenne zum Beispiel das Deutsche Forum für Ursula Heinen (CDU/CSU): Prävention und Gesundheitsförderung, das von Ihnen fe- (B) derführend begleitet wird. Wir haben die „Plattform Er- (D) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! nährung und Bewegung“ von Frau Künast. Wir haben Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich das runde Tische vom Bundesministerium für Familie, vorliegende Gesetz, das wir heute abschließend beraten, Senioren, Frauen und Jugend. Wir haben neuerdings das anschaut, dann stellt man fest: Es kreißt der Berg und Projekt „Qualitätssicherung in Beratung und ambulanter heraus kommt eine Maus, eine klitzekleine Maus Therapie von Frauen und Mädchen mit Essstörungen“ (Detlef Parr [FDP]: Mäuschen!) vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ich frage noch einmal: Wer ist in dieser Re- – ein Mäuschen. gierung für welches Thema zuständig? Es ist schon enttäuschend, wie Sie mit diesem wirk- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. lich wichtigen Thema Prävention umgehen. Wir alle hier Detlef Parr [FDP] – Annette Widmann-Mauz sind uns doch einig, dass Prävention ein wichtiges [CDU/CSU]: Alle und keiner!) Thema ist. Wir sind sehr verwundert und enttäuscht da- rüber, dass Sie unsere zentrale Forderung, einen ganz- Wir meinen, es wird allerhöchste Zeit, dass Sie sich heitlichen Ansatz zu verfolgen, nicht aufgenommen ha- untereinander darüber klar werden, wie Sie Ihre Aufga- ben. benverteilung sehen, wer welches Thema behandelt und wer wie viel Geld für welches Thema ausgibt. Mir bleibt (Beifall bei der CDU/CSU) ein fahler Nachgeschmack – auch meine Kollegin Lanzinger hat es eben erwähnt –: Sie lieben die Über- Sie wissen doch selbst, worum es geht. Sie definieren in schriften und die PR-wirksamen Aktivitäten. Ihrem Gesetz ja sogar, dass es primäre, sekundäre und tertiäre Prävention gibt. Wenn Sie sogar wissen, dass es (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist das gibt, warum verfolgen Sie diese Ziele dann nicht ins- es! Und das sollen die Beitragszahler bezah- gesamt? Warum konzentrieren Sie sich nur auf die pri- len!) märe Prävention und machen nicht mehr? Wir meinen, Ich bin enttäuscht, dass nun auch die Gesundheitsminis- dass Sie hier noch erheblich nachbessern müssen. terin diesen Ansatz von Frau Künast übernommen hat, Die Absprache zwischen den einzelnen Ministerien nämlich nur PR ohne Wirkung und Effekt zum Schaden zu diesem Thema macht mich ein wenig stutzig. Wenn der Menschen. die Ministerin noch da wäre, würde ich sie fragen, aber Recht herzlichen Dank. ich kann natürlich auch Frau Caspers-Merk als Staatsse- kretärin fragen: Wie ist Ihr Verhältnis zu Frau Künast (Beifall bei der CDU/CSU) 16268 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – zu dem Gesetzentwurf der Abgeordneten (C) Ich schließe die Aussprache. Dr. Norbert Röttgen, Cajus Julius Caesar, Dr. Wolfgang Götzer, weiterer Abgeordneter und Wir kommen zur Abstimmung über den von den der Fraktion der CDU/CSU Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der gesund- Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des heitlichen Prävention auf Drucksache 15/4833. Der Aus- Strafgesetzbuches – Graffiti-Bekämpfungsge- schuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt setz – unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 15/5363, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- – zu dem Gesetzentwurf der Abgeordneten Jörg sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- van Essen, Rainer Funke, Otto Fricke, weiterer entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Abgeordneter und der Fraktion der FDP das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Schutz des Eigentums Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen. – zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates Dritte Beratung Entwurf eines … Strafrechtsänderungsge- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem setzes – Graffiti-Bekämpfungsgesetz – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – (… StrÄndG) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf – Drucksachen 15/302, 15/63, 15/404, 15/5320 – ist mit dem gleichen Stimmergebnis angenommen. Berichterstattung: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) schusses für Gesundheit und Soziale Sicherung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD auf Drucksache 15/5214 zur Stärkung der gesundheitli- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- chen Prävention. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 brachten Entwurfs eines … Strafrechtsände- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5363, rungsgesetzes – §§ 303, 304 StGB den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – – Drucksache 15/5313 – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim- (B) mig angenommen. Überweisungsvorschlag: (D) Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfeh- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit lungen des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Si- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend cherung auf Drucksache 15/5363 fort. Der Ausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf ZP 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten Drucksache 15/4671 mit dem Titel „Prävention und Ge- Wolfgang Bosbach, Dr. Jürgen Gehb, Daniela sundheitsförderung als individuelle und gesamtgesell- Raab, weiteren Abgeordneten und der Fraktion schaftliche Aufgabe“. Wer stimmt für diese Beschluss- der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines … empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Strafrechtsänderungsgesetzes – Graffiti- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- Bekämpfungsgesetz – (… StrÄndG) tionsfraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion – Drucksache 15/5317 – und Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen. Überweisungsvorschlag: Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Rechtsausschuss (f) der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit der CDU/CSU auf Drucksache 15/4830 mit dem Titel Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe umfas- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen send, innovativ und unbürokratisch gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Ich bitte die Kollegen, die an der Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen. Aber da es Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b so- Freitagnachmittag ist und viele nach Hause wollen, soll- wie Zusatzpunkt 11 auf: ten wir bald anfangen. 20 a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts- ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär ordnung Alfred Hartenbach. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16269

(A) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Herr Kollege Ströbele, ich kann mir nicht vorstellen, (C) desministerin der Justiz: dass die Plakatankleber mit Industriekleber arbeiten, der Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! nicht mehr abgeht. Wir möchten auch, dass zum Beispiel Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des gesell- die Sternsinger ihre Kreidezeichen an Häusern anbrin- schaftlichen Geschreis über die Graffiti in den letzten gen können, auch wenn die Besitzer nicht zu Hause sind. Jahren und auch noch Wochen bin ich erstaunt über das Der Unionsentwurf verfehlt dies. Wir möchten, dass riesige Interesse, die wirklichen Graffitischmierer, also diejenigen, die die (Otto Fricke [FDP]: Auf der Regierungsbank!) Häuser verunstalten, bestraft werden. Allerdings muss die Bevölkerung auch wissen – ich sagte es bereits –, das hier im Deutschen Bundestag herrscht, dass es sich hierbei nur um einen Baustein handelt. Das, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) was wir jetzt brauchen, ist mehr. Wir brauchen jetzt vor allen Dingen Präventionsmaßnahmen. Dazu hat der vor allen Dingen bei denen, die den Mund am weitesten Antigraffitikongress, der hier in Berlin stattgefunden hat aufgerissen haben. – ich gehe davon aus, dass Sie alle da gewesen sind –, (Beifall des Abg. Jerzy Montag [BÜND- deutliche Hinweise gegeben. Die Vertreter aus Däne- NIS 90/DIE GRÜNEN]) mark, Norwegen und Finnland sowie aus den Vereinig- ten Staaten haben über gute Erfolge berichtet. Diese Dabei sind Graffiti kein Kavaliersdelikt. Länder fangen aber bereits in den Schulen an, deutlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zu machen, dass Graffiti nicht nur ein Späßchen sind, sondern dass sie strafbar sind und dass bereits auf Kinder Es ist wirklich wichtig, dass wir mit allen zu Gebote ste- und Jugendliche Schadenersatzforderungen zukommen henden Mitteln dagegen vorgehen. Allerdings muss man können. auch wissen, dass das Strafrecht nur ein Baustein ist. Es ist auch deutlich geworden, dass dort, wo Anti- (Zuruf von der FDP: Sehr richtig, aber ein graffitieinheiten der Polizei funktionieren und wo es Er- wichtiger!) mittlungsgruppen gibt, Graffiti weniger geworden sind. Der Entwurf der Koalition schließt eine, wie ich glaube, Es ist auch deutlich geworden, dass da, wo die Gemein- nur vermeintlich minimale Lücke in diesem Strafrecht. den dafür sorgen, dass Graffiti möglichst schnell besei- tigt werden, weniger Graffiti sind, weil damit der Erfolg, Wir haben uns dazu aus vier Gründen entschlossen: den ein Graffitisprayer will, nämlich die öffentliche Auf- Erstens. Wir möchten, dass die Menschen, die sich über merksamkeit, ausbleibt. Es kommt auch auf eine enge die Graffitischmierereien aufregen, sehen, dass etwas Zusammenarbeit zwischen Polizei, kommunaler Verwal- (B) geschieht. Zweitens. Wir möchten, dass die Justiz Ver- tung und auch den Hauseigentümern an. (D) fahren zügiger erledigen kann und nicht durch breit angelegte Gutachten erst feststellen muss, ob eine All dies, meine Damen und Herren von der Opposi- Substanzverletzung vorliegt. Drittens. Wir möchten, tion, ist Aufgabe der Gemeinden und der Länder. Wir dass unbedarfte Gemüter, die aufgrund der mannigfalti- haben das Unsere getan, um deutlich zu machen: Wir gen Chöre, insbesondere aus dem Lager der CDU, den übernehmen unseren Teil der Verantwortung, nämlich Eindruck gewonnen haben, es passiere ihnen gar nichts, den strafrechtlichen. Ich bin sehr gespannt, ob die Bun- weil die CDU/CSU immer sagt, dass nichts geschehe, desländer, vor allem die, die hier einen eigenen Entwurf eingebracht haben, nun auch bereit sind, das Ihre dazu zu (Helga Daub [FDP]: So war es auch!) tun. Ich werde künftig, wenn das nicht funktionieren weil die Justiz nicht in der Lage sei, etwas zu machen, sollte, sagen, auf welchem Spielfeld der Ball liegt, näm- wissen, dass dem nicht so ist. Ich weiß aus Gesprächen lich bei den Bundesländern. Ich gehe davon aus, dass wir mit jungen Leuten, dass diesen nicht bewusst war, dass denen nunmehr sehr deutlich zeigen können, dass sie das Anbringen von Graffiti strafbar ist. Wir müssen aber noch einiges zu tun haben. deutlich machen, dass das in der Tat strafbar ist. Nun Danke schön. hoffe ich, Herr Dr. Gehb, dass Sie, auch nach der Presse- erklärung, die Sie herausgegeben haben, mitmachen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deutlich machen, dass das strafbar ist. DIE GRÜNEN) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Danke für den Hinweis! Das war mir bisher nicht klar!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von Wir nehmen im Gegensatz zu anderen eine gewisse der CDU/CSU-Fraktion. Einschränkung vor; denn wir möchten viertens, dass die wirklich üblen Graffitischmierer erwischt werden, aber (Beifall bei der CDU/CSU) nicht alle Handlungen, durch die das äußere Erschei- nungsbild erheblich verändert wird, strafbar sind. Des- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): wegen nehmen wir die vorübergehenden Beeinträchti- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Otto gungen heraus. Um vorübergehende Beeinträchtigungen Schily ist in die Luft gegangen – aber nicht tatsächlich, kann es sich zum Beispiel handeln, wenn Wäsche auf ei- mit einem Hubschrauber, um Graffitischmierer dingfest nem Balkon großflächig aufgehängt wird oder wenn je- zu machen, was nach der gegenwärtigen Gesetzeslage mand ein Plakat anklebt. Das ist nur vorübergehend. auch nicht viel nützen würde, weil das ja in vielen Fällen 16270 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Dr. Jürgen Gehb (A) gar nicht strafbar ist, sondern wohl eher im übertragenen Der Entwurf sieht vor, die Vorschriften der §§ 303 (C) Sinne, wie das berühmte HB-Männchen aus der Wer- und 304 StGB jeweils um eine weitere Tathandlung bung. Wahrscheinlich kann er nicht mehr ertragen, dass zu ergänzen ... nahezu sämtliche Gesetze aus dem Bereich von Recht Mein Blick fällt gerade auf Sie, Herr Montag: Sie wa- und Ordnung wie auch die zum Thema Graffiti von sei- ren es, der vor kurzem im „Tagesspiegel“ gesagt hat, es nen eigenen Koalitionären torpediert werden. gebe in der Rechtsprechung eine Grauzone, die beseitigt Sie brauchen sich nicht zu wundern, Herr Hartenbach, werden müsse. dass der Saal nicht mehr voll ist. Ich glaube, wir sind, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- was die Zahl der Gesetzentwürfe und Befassungen mit NEN]: Richtig!) diesem Thema betrifft, inzwischen im zweistelligen Be- reich angelangt. Es ist schon bezeichnend, dass wir das Es ist schön, dass Ihnen das nach fünf Jahren einfällt. Thema zum zweiten Mal nur über das Vehikel des § 62 Wie sieht denn jetzt die Überlegung aus? Sie kommen Abs. 2 der Geschäftsordnung haben auf die Tagesord- mit einer fundamentalen Differenzierung gegenüber dem nung setzen lassen können. Unionsentwurf, in dem wir sagen: „nicht nur unerhebli- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir kommen chen Veränderung ... gegen den Willen des Eigentümers mit einem Gesetzentwurf, Herr Gehb!) oder sonst Berechtigten“. Das ersetzen Sie – dafür haben Sie fünf Jahre gebraucht – durch das Synonym „unbe- – Ja, nun kommen Sie heute mit einem eigenen Gesetz- fugt“. Was für ein Erkenntnisgewinn! entwurf. Meine Damen und Herren, das ist der inzwischen Man muss sich nach dem, was Sie, Herr Hartenbach, klassische Fall, bei dem Sie nach jahrelangem Torpedie- eben gesagt haben, nicht wundern. Herr Ströbele fehlt ren plötzlich unsere Ideen übernehmen, semantisch ei- heute. nen kleinen Unterschied hineinbringen und sich hinter- her den Erfolg an den Hut heften. Das ist vielleicht ein (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE PR-Gag. Wissen Sie noch, Herr Ströbele, dass Sie am GRÜNEN]: Was? Hier bin ich!) 31. Januar 2003, als ich schon einmal zu dem Thema ge- – Da ist er ja! Herr Ströbele, Sie haben sich ja immer als redet habe – das war übrigens die siebte Runde; da stan- Schutzpatron der Schmierfinken aufgespielt. den wir vor den Landtagswahlen in Hessen und Nieder- sachsen –, gesagt haben: Das Einbringen dieses (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Gesetzentwurfes ist doch sicherlich ein PR-Gag. – Herr der FDP) Kollege Hartenbach, befinden wir uns jetzt vielleicht (B) auch wieder in der Zeit vor einer Wahl in irgendeinem (D) Solange Graffiti von einflussreichen Politikern der Ko- Bundesland? Ist das der Grund, warum Sie jetzt plötzlich alition als Kavaliersdelikt angesehen werden und jeder, all das machen wollen? der sich darüber aufregt, als Saubermann belächelt wird, darf man sich nicht wundern, dass jegliches Handeln der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Union torpediert worden ist. Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir sind immer vor Wahlen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Das reiht sich lückenlos in die Phalanx Ihres bisheri- gen Verhaltens ein. Im Jahre 2001 hat der Bundeskanzler Zu dem Gesetzentwurf von Rot-Grün: Betrachtet man in einer berühmten Boulevardzeitung Beifall heischend die Äußerungen rot-grüner Vertreter in den Jahren der gesagt: Wer kleine Mädchen umbringt, muss wegge- Blockade genauer, so kann man über diese geradezu bis sperrt werden, und zwar für immer. Daraufhin haben wir zur Selbstverleugnung reichende Wandlungsfähigkeit einen Antrag zur Einführung der so genannten nach- nur staunen. Ich will einmal ein paar Kostproben geben: träglichen Sicherungsverwahrung eingebracht. Was mussten wir uns alles anhören, insbesondere vom Praktisch alle einen oft erheblichen Schaden her- Rechtsgelehrten Beck. vorrufenden Graffitisprühereien, die die Öffentlich- keit zu Recht verärgern, sind schon heute durch den (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Der ist doch Sachbeschädigungstatbestand des Strafgesetzbu- gar nicht Rechtsgelehrter!) ches erfasst. ... Ich halte also fest: Die derzeitige Fassung des § 303 des Strafgesetzbuches ist ausrei- Er hat gesagt, das verstoße gegen die Verfassung, gegen chend und angemessen. das Rückwirkungsverbot und gegen was weiß ich sonst noch alles. So Kollege Bachmaier in der Plenardebatte vom Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass un- 23. März 2000. Jetzt haben wir 2005. sere Auffassung – wie so häufig – richtig ist. Flugs ha- Insofern gibt es keine wirkliche Regelungslücke, ben Sie die nachträgliche Sicherungsverwahrung in das die jetzt geschlossen werden muss. Bundesgesetzblatt gebracht. Heute tingeln Sie damit durch die Lande, gehen damit hausieren, kokettieren da- So Kollege Olaf Scholz. Und so geht das immer weiter. mit und hoffen, dass es Ihnen an den Hut gesteckt wird. Demgegenüber heißt es in dem heute für die erste Le- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sung vorgelegten Gesetzentwurf von SPD und Grünen: NEN]: Herr Kollege, zum Thema!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16271

Dr. Jürgen Gehb (A) – Das ist zum Thema. Es geht um das Grundmuster, wie Damit erreichen Sie das Gegenteil von dem, was Sie (C) Sie mit Gesetzentwürfen der Union umgehen. vorgeben, erreichen zu wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja unglaub- Sie springen spät auf das Schiff auf und sagen dann: Wir lich! Was für ein Rechtsverständnis haben sind es gewesen. Sie?) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich habe Ihnen das in meinen Reden immer wieder ge- NEN]: Das Gesetz ist vom gleichen Tag!) sagt. Ich halte auch jetzt sowohl Ihre Initiative als auch die der Koalition für ein falsches Signal an die Szene. Es Das können wir Ihnen wahrlich nicht durchgehen lassen. ist ein falsches Signal zum falschen Zeitpunkt. Uns liegen fünf Entwürfe und zwei Berichte nach Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich glaube, § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung vor. Heute, nach meh- dass dieses Gesetz es den Gerichten nicht einfacher reren Jahren, sind Sie zu der Erkenntnis gekommen, dass macht. Vielleicht geben Sie den Gerichten Steine statt die Verwendung des Begriffs „unbefugt“ gegenüber der Brot. Die Entscheidung, gerade im Bereich des Plakat- Formulierung „gegen den Willen“ eine Revolution des klebens, ist jetzt häufig sehr schwierig. Deshalb wende Tatbestandes der Sachbeschädigung bedeutet. Darüber ich mich nach wie vor dagegen. Ich betone jedoch im- könnte man eigentlich nur schmunzeln, wenn es nicht so mer wieder: Die Grünen und auch ich waren nicht gegen traurig wäre. neue Gesetze, weil wir es gut finden, wenn zerstört wird, Sie lehnen die Gesetzentwürfe der Opposition – da- wenn in U-Bahnen, S-Bahnen, Eisenbahnen und Häu- rauf muss ich noch hinweisen – geradezu reflexartig ab, sern Zerstörungen angerichtet werden, sondern weil wir um nach Monaten oder Jahren doch einzulenken und bisher immer Bedenken hatten, ob das das richtige Mit- womöglich sogar den Eindruck zu erwecken, dass Sie tel ist. Das richtige Mittel ist es auch nicht dadurch ge- das Thema selbst entdeckt hätten. Vorausschauende worden, indem Sie dieses Thema immer wieder aufge- Rechtspolitik und an den Sicherheitsinteressen der Be- bracht haben und heute mit einer gewissen Süffisanz die völkerung orientierte Verbrechensbekämpfung sieht an- Anzahl Ihrer Interventionen – es waren sieben – beziffert ders aus. Das muss ich Ihnen an einem Freitagnachmit- haben. tag mit ins Wochenende geben. (Jörg van Essen [FDP]: Drei Minuten sind Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. überschritten!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bin nach wie vor der Meinung, dass mit dieser Maßnahme das Graffitiunwesen nicht beseitigt wird und (B) dass sich die vorliegenden Gesetze nicht gegen die so (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: genannten harten Sprayer – deren Taten sind heute schon Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem strafbar –, sondern gegen die Verursacher von ver- Kollegen Ströbele. gleichsweise harmlosen Veränderungen des Erschei- (Zuruf von der CDU/CSU: Schutzpatron!) nungsbildes richten. Deshalb kann ich Ihre Vorschläge nicht billigen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Gehb, Sie haben mich angesprochen Zur Erwiderung, Herr Kollege Gehb. und zum Schutzpatron gemacht. Das ist zu viel Ehre. Das stimmt nicht. Ich kann nur feststellen, dass nach der Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Hysterie, die während und nach dem „Nofitti“-Kongress in Berlin verbreitet wurde – Sie persönlich und Ihre Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Freunde aus der Union haben sie kräftig geschürt –, und Dies ist ein etwas seltener Moment: Der Beitrag des dem nächtlichen, stundenlangen Hubschraubereinsatz in Herrn Ströbele macht nicht nur mich, sondern auch fast Berlin alle anderen sprachlos. Er hat für sich selbst gesprochen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist ja auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) richtig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: so viele neue Graffiti gesprayt wurden, wie noch nie zu- Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag vom Bünd- vor. nis 90/ Die Grünen. (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Das zeigt doch die kriminelle Energie, die dahinter- (Jörg van Essen [FDP]: Jetzt bin ich einmal steht!) gespannt, was die Meinung der Grünen ist! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Das heißt: Mit Ihren immer neuen Anträgen, mit Ih- pharisäerhafte Variante!) ren Redebeiträgen und der Verbreitung von Hysterie hei- zen Sie zum Graffitisprayen geradezu an. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist er- DIE GRÜNEN und der SPD) staunlich: Wir haben schon viele Male im Plenum über 16272 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Jerzy Montag (A) dieses Thema geredet. Dieses Thema verdient eine sach- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wer schaukelt (C) liche, ruhige und angemessene Behandlung. denn das Beispiel mit dem Toten auf? Schau- kel-Schorsch!) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dann hat sich Herr Ströbele gemeldet!) Die eine Seite veranstaltet einen großen „Nofitti“- Kongress in Berlin. Die Sprühergemeinde glaubt, sie Trotzdem können es alle Beteiligten offensichtlich nicht müsse darauf mit einer großen Sprühaktion antworten. lassen, die ganze Debatte unglaublich zu überzeichnen Der BGS weiß nichts Besseres, als Hubschrauber auf- und zu emotionalisieren. Es wäre sicherlich interessant, steigen zu lassen und stundenlang über Wohnviertel zu einmal darüber nachzudenken, was eigentlich dahinter- kreisen, als sei die gesamte Hauptstadt unseres Landes steckt. ein einziges Bahngelände, um zum Schluss einige Fest- nahmen von Menschen zu machen, die der Sachbeschä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN digung verdächtigt werden. Ich bitte alle Seiten – viel- sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans- leicht können wir heute damit beginnen –, die Joachim Hacker [SPD]: So ist es!) Diskussion in sachlicher Weise auf das zu begrenzen, Ich will Ihnen Folgendes sagen: Ich fände es gut, was wirklich notwendig ist und was wir als Bundes- wenn wir am heutigen Tag zu einer Versachlichung der gesetzgeber tun können. Ich will auf eine Rede des Kol- Debatte über dieses Thema kommen könnten. legen Olaf Scholz vom 1. Juli 2004 hier im Plenum zu- rückkommen. Auch da ging es um Sachbeschädigung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ und Graffitibekämpfung. Seinerzeit hat er ausgeführt, DIE GRÜNEN und der SPD) dass es im Strafrecht – besser gesagt: in der Auslegung der Strafrechtsnormen – nur in ganz wenigen Fällen eine Dazu gehört aus meiner Sicht, erst einmal Folgendes kleine Lücke gibt, die es zu schließen gilt. Ich habe festzustellen: Am 21. April 2005 hat die Presse berich- mich – dankenswerterweise haben Sie meine Äußerung tet, dass bei einem Polizeieinsatz zur Verfolgung von im „Tagesspiegel“ dazu schon zitiert, Herr Kollege Graffitisprayern ein Mensch zu Tode gekommen ist. Ich Gehb – dem angeschlossen. kenne die Umstände dieses Vorfalls nicht. Sie werden von den Berliner Behörden aufgeklärt werden müssen. Es ist so: Die allermeisten Graffitisprüher werden Aber auch hier muss gelten: Jeder Tote ist einer zu viel. überhaupt nicht erwischt. Mir liegen dazu Zahlen aus Graffitischmierereien gehörten bisher und werden auch München, wo es sogar eine Sondereinsatzgruppe der Po- in Zukunft zur Kleinkriminalität gehören. lizei dazu gibt, vor: Die Aufklärungsquote – nicht die Überführungs- oder Verurteilungsquote – liegt bei (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist ein 30 Prozent. Das ist sehr niedrig. Da können wir als Bun- (D) (B) Beitrag zur „Versachlichung“! Diese Hyste- desgesetzgeber sowieso nichts tun. Es ist Aufgabe der rie!) Länder, sich um diese Sache zu kümmern. Ich glaube, dass es angebracht ist, mit Blick auf den (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Sie dür- Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darüber zu reden, fen nicht die Arbeit der Polizei diffamieren, ob Einsätze sinnvoll sind, die dazu führen, dass Men- wie Sie es vorhin getan haben!) schen bei der Aufdeckung von Sachbeschädigung zu – Das Polizeirecht ist immer noch Ländersache und nicht Tode kommen. Bundessache. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Gesetzentwurf, den wir jetzt eingebracht haben, sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. und alle Ihre Vorentwürfe werden nicht zur Aufklärung Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] – Dr. Jürgen beitragen; denn auch Sie schlagen nicht vor, jede Nacht Gehb [CDU/CSU]: Das ist ja gar nicht so ge- vor jedes Haus in Deutschland einen Polizeibeamten zu wesen!) stellen. Das Gleiche – lassen Sie mich auch das bitte sagen – (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist doch trifft zu für den Einsatz von Bundesgrenzschutzhub- gar nicht vorgesehen!) schraubern und Wärmelichtkameras. Bleiben Sie doch auf dem Teppich in dieser Debatte! So (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- geht es nicht. tionslos] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Schily!) (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Den Einsatz dieser Mittel zur Bekämpfung, zur Verfol- In der Praxis hat sich in einigen wenigen Fällen, in gung und zur Aufdeckung von Kleinkriminalität wie denen es an der Täterschaft eigentlich überhaupt nichts Sachbeschädigung finde ich nicht verhältnismäßig. zu deuteln gibt, herausgestellt, dass es Beweisschwierig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keiten gibt, weil eine wirklich wissenschaftliche Debatte sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- um die Frage geführt werden muss, ob es in Fällen des los]) Auftrags auf eine Sache, also zum Beispiel Graffiti, bei einer hypothetischen oder tatsächlichen Entfernung zu Das zeigt mir auch, in welcher gesellschaftlichen Situa- einer Substanzverletzung kommt. Ich nenne Ihnen deut- tion des gegenseitigen Aufschaukelns wir uns befinden. lich und klar meine Position – dies ist auch die Position Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16273

Jerzy Montag (A) der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Ko- ges Ergebnis hatten: Wir haben eine Strafbarkeitslücke. (C) alition –: Die Sache lohnt den Streit nicht. Diese Fälle, in In all diesen Anhörungen ist genauso klar geworden, dass denen es um diese Beweisprobleme geht, können wir diese Strafbarkeitslücke dazu führt, dass von den Staats- bundesgesetzlich lösen. anwaltschaften und den Gerichten viele Verfahren gegen Graffitisprayer eingestellt worden sind. Das Ergebnis Deswegen haben wir folgenden Vorschlag gemacht: war, dass die Sprayer natürlich das Gefühl hatten: Das ist Da, wo das äußere Erscheinungsbild einer Sache dauer- ja gar nicht so schlimm; das ist eine Bagatelle. haft, also nicht nur vorübergehend, und erheblich, also nicht nur unerheblich, verändert wird, wollen wir den Wer selbst Eigentümer eines Hauses ist und in einer Gerichten in Zukunft die Möglichkeit geben, die zurzeit Stadt wohnt, in der Graffitisprayer aktiv sind, weiß, wel- immer wieder entstehende Sachverständigenauseinan- che Auswirkungen das hat. dersetzung zu verhindern. Nicht mehr und nicht weniger Weil der Kollege Montag so getan hat, als handele es (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das hätte man sich bei Graffiti um eine Bagatelle, als sei das alles gar auch schon vor sechs Jahren machen können! nicht so schlimm, will ich eine Zahl anführen: In der Nicht mehr und nicht weniger!) Bundesrepublik Deutschland entsteht dadurch pro Jahr ein Schaden in Höhe von 500 Millionen Euro. wird mit diesem Gesetz erreicht. Der Vorschlag, den wir gemacht haben, unterscheidet (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist aber sich im Übrigen von allen anderen Vorschlägen, die die doch jetzt schon strafbar!) übrigen Fraktionen dieses Hauses hier eingebracht ha- Dieses Geld fehlt dann in den städtischen Kassen, um ben. Sie von der Union haben doch in Ihrem Gesetzent- Jugendbetreuung und andere Aufgaben finanzieren zu wurf von Verunstaltung gesprochen. können. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist schon (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lange nicht mehr aktuell, Junge! Das ist schon lange nicht mehr in der Diskussion!) Von daher ist ein klares Signal notwendig, dass wir nicht bereit sind, Graffitisprayereien hinzunehmen. – Es gibt keinen anderen von Ihnen. – Auch Sie, meine Damen und Herren Kollegen von der FDP, haben davon Was der Kollege Montag hier als Popanz aufgebaut gesprochen, dass es um eine Verunstaltung gehen muss. hat, hat mich ebenfalls fassungslos gemacht. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wir sind doch (Daniela Raab [CDU/CSU]: Jawohl!) schon weiter gewesen, Herr Kollege!) Es haben doch Berichterstattergespräche stattgefunden. (B) (D) Das lehnen wir ab. Wir hatten doch eine Formulierung gefunden, der die Kollegen aus der SPD zugestimmt haben. Diese Formu- Ich glaube, wir haben den besten Entwurf von allen lierung findet sich jetzt in dem von Ihnen eingebrachten eingebracht. Wir werden in den Verhandlungen im Gesetzentwurf wieder. Rechtsausschuss sehen, wie wir mit den Gesetzentwür- fen, die auf dem Tisch liegen, fertig werden. Wir hätten seinerzeit zugestimmt. Insofern hätten Sie längst zu einer Regelung kommen können. Dass Sie jetzt Danke schön. so tun, als hätten Sie eine bessere Formulierung gefun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, ist schon etwas unverfroren, Herr Kollege Montag. und bei der SPD) Darüber wundere ich mich sehr. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der Sie haben zu einer sachlichen Debatte aufgerufen. Ich FDP-Fraktion. finde es nicht richtig, dass Sie so getan haben, als ob die Strafverfolgung eines Jugendlichen in Berlin zu einem Todesfall geführt hätte. Jörg van Essen (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ganz falsch!) Man ist manchmal wirklich fassungslos. Wer die Rede Nach meiner Kenntnis des Falles hat der Jugendliche das des Kollegen Montag und davor die Kurzintervention von ihm selbst angebrachte Graffiti zu fotografieren ver- des Kollegen Ströbele gehört hat, muss dies wirklich sucht und dabei einen Zug übersehen. sein. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) NEN]: Das ist ein anderer Fall! – Hans- Es ist jetzt sechs Jahre her – ich unterstreiche noch Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einmal: sechs Jahre –, dass wir als FDP-Bundestagsfrak- NEN]: Das ist der zweite Tote!) tion den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Dadurch ist es zu dem Todesfall gekommen. Graffiti in den Bundestag eingebracht haben. Die CDU/ CSU hat kurze Zeit später einen ähnlichen Gesetzentwurf Aber selbst wenn es so wäre wie von Ihnen geschil- eingebracht. Ich weiß gar nicht, wie viele Anhörungen dert, so gilt doch – darin sind wir uns wohl einig –, dass wir durchgeführt haben, die alle ein klares und eindeuti- jeder Tote zu viel ist. 16274 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Jörg van Essen (A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ gen sehe ich mich herausgefordert, auf Ihre Ausführun- (C) DIE GRÜNEN]: Ja eben!) gen kurz zu erwidern. Deshalb muss klar sein, dass die Jugendlichen erst gar Kommen wir zuerst zu dem Todesfall in Berlin. Ich nicht in die Versuchung kommen. Das muss die Bot- habe nicht den von Ihnen angesprochenen Fall gemeint, schaft sein. Dazu gehört auch eine klare strafrechtliche bei dem ein Jugendlicher beim Fotografieren eines selbst Antwort. gefertigten Graffiti zu Tode gekommen ist, sondern mich (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der auf den am 21. April 2005 von Reuters mit folgendem CDU/CSU) Wortlaut gemeldeten Fall bezogen: Der Berliner Polizeisprecher bestätigte, dass im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zuge der Fahndung nach Graffitisprayern ein Herr Kollege van Essen, erlauben Sie eine Zwischen- Mensch getötet wurde. Am Donnerstagabend sei frage des Kollegen Montag? ein Motorradfahrer von einem Streifenwagen er- fasst worden. Die Polizisten seien unterwegs zu ei- Jörg van Essen (FDP): nem Einsatzort gewesen, wo Sprayer am Werk ge- Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. – Aber es wesen sein sollen. sind auch viele andere Maßnahmen notwendig. Ich for- Ich habe mich über diese Meldung hinaus auch da- dere die Gemeinden auf, schnellstmöglich für die Besei- nach erkundigt, ob sich der Motorradfahrer nach dem tigung von Graffiti zu sorgen; denn das hat sich in vielen jetzigen Ermittlungsstand falsch verhalten hat. Das ist Fällen als wirksam erwiesen. Das wirksamste Mittel da- nicht der Fall. Er ist ordnungsgemäß nach den Regeln bei ist übrigens, wenn die Graffitisprayer selber die Be- der Straßenverkehrsordnung gefahren, wobei ihn der seitigung übernehmen müssen. Streifenwagen, offensichtlich im Verfolgungseifer, er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fasst hat. Dann merken sie nämlich, welchen Aufwand das erfor- (Daniela Raab [CDU/CSU]: Was hat das damit dert. Das wäre sicherlich ein wichtiges Signal. zu tun?) Ein weiteres Signal sollte darin bestehen, dass die Ich finde es durchaus sinnvoll, das im Hinblick auf das Schulen ihrer Verantwortung gerecht werden. Aber die Bedauern darüber, dass es bei der Ermittlung einer Sach- wichtigste Verantwortung kommt uns selber zu. Das beschädigung zu einem Todesfall gekommen ist, im Par- Thema darf nicht schöngeredet werden. Wir haben eben lament zu erwähnen. (B) wieder erlebt, dass Herr Ströbele es heruntergespielt und (D) Graffiti in die Nähe von Kunst gerückt hat. Jeder, der ei- Zweiter Punkt. Sie haben mich persönlich angegriffen nen verschmierten S-Bahn-Wagen durch Berlin fahren und mir vorgeworfen, die Sachbeschädigungen durch sieht, weiß doch, dass das nichts mit Kunst zu tun hat. Graffiti zu bagatellisieren. Sie haben dies mit einem an- Das Gegenteil davon ist der Fall; es sind nämlich blanke geblichen Schadensumfang in Höhe von jährlich Schmierereien. Zu unserer Verantwortung gehört auch, 500 Millionen Euro begründet. Ich sage Ihnen: Dieser dass wir das im Bundestag klar aussprechen. Betrag ist durch nichts bewiesen oder glaubhaft ge- macht. Die Antwort auf die Frage – als Rechtspolitiker Ich habe die herzliche Bitte, dass wir die heutige De- batte nutzen, um endlich zu einem Ergebnis zu kommen. sollten wir uns darüber eigentlich einig sein –, ob wir ei- Nach sechs Jahren muss endlich das Strafgesetzbuch er- nen Tatbestand als Kleinkriminalität, leichte, mittel- gänzt werden. Wir sind offen für die von der Bundesre- schwere oder schwere Kriminalität qualifizieren, hängt gierung vorgeschlagene Formulierung. nicht davon ab, welcher tatsächliche Schaden oder wel- cher Gesamtschaden durch eine Straftat entsteht. Sonst Meines Erachtens muss dieses Gesetzgebungsvorha- müssten Sie doch auch den Ladendiebstahl zur ben noch vor der parlamentarischen Sommerpause ver- Schwerstkriminalität rechnen. abschiedet werden, damit endlich ein klares Signal er- geht: Graffiti darf in Deutschland nicht erlaubt sein und (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das macht wir tun alles, um Graffiti zu verhindern. doch keiner!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es bleibt die Tatsache, dass die Vorschläge aller Frak- tionen keine Strafrahmenverschärfung als Ergänzung des Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sachbeschädigungsvorwurfs vorsehen und dass es sich Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen um eine Straftat handelt, die mit einer Höchststrafe bis zu Jerzy Montag das Wort. Ich weise aber gleich darauf hin, einem Jahr geahndet wird. Deswegen war es sachlich dass dies aufgrund der fortgeschrittenen Zeit die letzte völlig richtig, als ich gesagt habe: Es ist und bleibt Sach- Kurzintervention ist, die ich jetzt zulasse. – Bitte schön. beschädigung, Kleinkriminalität. Dementsprechend soll- ten wir die Debatte führen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege van Essen, Sie haben mich in Ihrem kur- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zen Beitrag zweimal persönlich angesprochen. Deswe- Das Wort zur Erwiderung hat Herr van Essen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16275

(A) Jörg van Essen (FDP): sieren. Das alles macht das breite Spektrum dieser De- (C) Herr Kollege Montag, Sie haben vorhin in der De- batte aus. batte für Sachlichkeit geworben. Ich kritisiere Sie nach- drücklich; denn Ihre angebliche Richtigstellung zeigt Ich denke, wir sollten heute in erster Linie über den deutlich, dass bei Ihnen der Wille zur Versachlichung Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen diskutieren. Ich nicht vorhanden ist. lade Sie zur Zusammenarbeit im Ausschuss ein – Herr van Essen, soweit es Ihre Aussagen zur Prävention an- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geht, bin ich mir sicher, dass das möglich ist –, damit wir Wer eine Einsatzfahrt, bei der etwas passiert – hier ein schnell zu einem Ergebnis kommen. Das wollen wir; schlimmer Verkehrsunfall –, einem Delikt zurechnet, der denn wir wollen die Debatte zu einem Ende bringen. Wir vertritt eine so unglaubliche Meinung, dass mich das haben nun ein gutes Angebot unterbreitet. Ich denke, wirklich sprachlos macht. dieses Angebot kann dieses Haus annehmen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Er ist übermü- Wir alle sind uns doch darüber einig, wie Graffiti zu det! Anders ist das nicht zu entschuldigen!) bewerten sind. Graffiti sind überall. Als ich 1989 mit über 40 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben nach Sie wissen, dass eine Diskussion in der Berliner Poli- Hamburg kam, war ich über das, was ich gesehen habe, zei über die schnellen Einsatzfahrzeuge und die Fähig- schon etwas erschüttert: beschmierte S-Bahnen, be- keiten der Polizisten, diese zu beherrschen, die Folge des schmierte Bahnsteige usw. Graffiti sind ein Ärgernis für angesprochenen Unfalls gewesen ist und nicht die Frage, alle: Privatpersonen, Verkehrsbetriebe, die öffentliche ob Graffiti bekämpft werden soll oder nicht. Wer im Hand. Bundestag sachlich diskutieren will, der sollte das deut- lich machen. Jeder mag für sich beurteilen, ob das Kunst ist oder ob das Farbschmierereien sind. Wir sind jetzt hier gefordert, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Frage, ob vor Gericht der Beweis geführt werden Zweite Bemerkung, zur Schadenshöhe: Es handelt muss, dass es sich um eine Substanzverletzung handelt sich möglicherweise um ein Delikt der einfachen Krimi- oder nicht – es handelt sich dabei um eine Grauzone; nalität. Trotzdem warne ich vor einer Bagatellisierung, Herr Montag hat darüber gesprochen –, klar zu beant- und zwar aufgrund der immensen Schäden. Sie kennen worten. Damit helfen wir den Gerichten, und das in einer doch beispielsweise die nachweisbaren Zahlen der Deut- Zeit, wo sie oft überfordert sind. Damit helfen wir auch schen Bahn. Wir können uns zwar darüber streiten, ob den Geschädigten. Darüber hinaus wenden wir uns auch die Höhe der Gesamtschäden bei 498 Millionen Euro an diejenigen, die meinen, das Eigentum anderer mit ei- oder bei 502 Millionen Euro liegt. Tatsache ist aber, dass gener Kunst oder mit dem, was sie darunter auch immer (B) (D) viele Gemeinden in Deutschland wegen der hohen Auf- verstehen, beschmieren zu dürfen. Diesen Menschen wendungen für die Entfernung von Graffiti beispiels- muss deutlich gesagt werden: Der Gesetzgeber duldet weise Jugendheime nicht mehr unterhalten können. Des- das nicht. Deswegen ergänzen wir §§ 303 und 304 des halb ist das auch ein Thema für den Deutschen Strafgesetzbuches. Ich denke, das ist ein deutliches Zei- Bundestag und mit Sicherheit keine Bagatelle, über die chen. man hinweggehen sollte. Ich will über die Höhe der Schäden nicht ausführlich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sprechen. Hier war davon die Rede, die Höhe der Schä- den liege bei 500 Millionen Euro pro Jahr. In den Unter- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lagen, die ich habe, ist die Rede von 200 Millionen Euro Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker bis 250 Millionen Euro. Es ist müßig, hier Zahlen herun- von der SPD-Fraktion. terzubeten. Selbst wenn es richtig ist, dass der Schaden- betrag bei 250 Millionen Euro liegt: Ich meine, dass die entsprechenden Tatbestände im weitesten Sinne schon Hans-Joachim Hacker (SPD): jetzt vom geltenden Strafrecht erfasst werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr van Essen, es ist schön, dass sich die FDP für die Ich komme auf das Problem der Substanzverletzung Kommunen und die dortigen Jugendheime so einsetzt. zurück. Dieser Gesetzentwurf soll eine Grauzone besei- Lassen Sie uns gemeinsam eine entsprechende Politik tigen. Künftig soll es nicht mehr so sein, dass Verkehrs- gestalten. betriebe, die angehalten sind, Graffiti innerhalb einer be- stimmten Frist von den Zügen zu entfernen, drei, vier Wir sollten nun, nach den Zwischenkontroversen, oder acht Monate nach der Straftat vor Gericht eine Sub- zum Gesetzentwurf zurückkommen. Ich möchte darauf stanzverletzung belegen müssen, sofern es überhaupt ge- hinweisen, dass wir den Bereich des Strafrechtes und lungen ist, den Straftäter zu ergreifen. Dass sie dazu gar den Bereich des Zivilrechtes, bei dem es um die Durch- nicht in der Lage sind, ist doch Realität. Wer mit Ver- setzbarkeit von Schadenersatzforderungen geht, nicht kehrsbetrieben gesprochen hat, der weiß doch, wo die durcheinander werfen sollten. Das wird in der Debatte Probleme liegen. Diese Probleme wollen wir jetzt lösen. oft getan, wenn der Eindruck erweckt wird, dass mit ei- Wir sind uns nämlich völlig einig: Graffiti sind keine Ba- nem deutlichen Zeichen des Strafrechts der geschädigte gatelle. Bürger oder die geschädigte öffentliche Hand, beispiels- weise Kommunen und Verkehrsunternehmen, in die Die zivilrechtlichen Regelungen in Bezug auf Graf- Lage versetzt werden, Schadenersatzansprüche zu reali- fiti greifen schon jetzt – auch das sollte man noch einmal 16276 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Hans-Joachim Hacker (A) sagen –, selbst dann, wenn der Strafrechtstatbestand Meine letzte Botschaft lautet: Wir reagieren mit die- (C) nicht erfüllt war. Selbst wenn strafrechtlich keine Reak- sem Gesetzentwurf angemessen und rechtsstaatlich auf tion möglich war, konnte, wenn an ein Haus oder an ein einen Zustand, Verkehrsmittel Graffiti gesprüht wurde, der geschädigte (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber Bürger oder der Verkehrsbetrieb natürlich Schadener- sechs Jahre zu spät!) satzforderungen geltend machen. Wir als Gesetzgeber wollen aber auch im strafrechtlichen Bereich ein Zei- den wir alle nicht gut finden. Ich finde, das ist eine gute chen setzen. Auf die Rechtsprechung des Bundesge- Botschaft, die vom heutigen Tage an die Kommunen und richtshofs – sie hat die Substanzverletzung zur Voraus- die Verbände geht, die sich zu Recht lange Zeit darüber setzung erklärt – wollen wir durch eine entsprechende beklagt haben, dass hier eine Grauzone nicht beseitigt Regelung in den genannten §§ 303 und 304 des Strafge- worden ist. Lassen Sie uns mit dieser guten Botschaft in setzbuches reagieren. den Wahlkreis gehen, Herr Gehb. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Unfug!) (Lachen des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU]) – Herr Gehb, ich weiß nicht, warum Sie sich hier heute so aufregen. Diskutieren Sie mit uns im Rechtsausschuss und bringen Sie gute Vorschläge. Vielleicht können wir dann noch et- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Eines Tages was ergänzen. betonieren Sie noch die Nordseeküste und sa- gen, das sei aus Umweltschutzgründen gesche- Vielen Dank. hen! Was Sie hier erzählen, das ist unvorstell- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bar!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Herr Gehb, bleiben Sie einmal schön ruhig! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da kann man Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Raab von der nicht ruhig bleiben! Da muss man ja Baldrian CDU/CSU-Fraktion. getrunken haben, um das zu ertragen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. – Herr Gehb, bleiben Sie einmal schön ruhig! Jörg van Essen [FDP]) Herr Präsident, fragen Sie Herrn Gehb bitte, ob er eine Frage hat. Daniela Raab (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen (B) (D) und Kollegen! Graffiti und kein Ende, möchte man Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: meinen, wenn man sich die Chronologie des rot-grünen Herr Kollege, reden Sie weiter. Eiertanzes in den vergangenen Jahren anschaut: März 2002: fünfte Beratung zum Thema Graffiti im Hans-Joachim Hacker (SPD): Deutschen Bundestag. Herr Gehb, das mit dem Baldrian war treffend; Sie sollten das einmal versuchen. 20. Dezember 2002: Es findet die Plenardebatte zur ersten Lesung des von der Fraktion der FDP mal wieder Die Strafverschärfung oder die Schließung einer eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesser- Rechtslücke – wie immer man das bezeichnen mag – be- ten Schutz des Eigentums statt. deuten für die Verfolgung von Graffitisprayern einen Fortschritt. Für uns ist die Prävention in den Kommu- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Warum diese nen ein ganz wichtiges Anliegen. In den Kommunen alten Kamellen?) muss darauf hingewirkt werden, dass sich alle Bürger – Das werden Sie gleich hören, Herr Hacker. Gedulden dafür verantwortlich fühlen, dass Graffitisprayer ange- Sie sich. Ich habe noch sechs Minuten. zeigt werden. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Aufklärungsquote in einigen Städten größer ist, als es (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Regen hier dargestellt wurde. Diese Quote mag von Ort zu Ort Sie sich nicht auf, Herr Hacker! Baldrian!) verschieden sein. Von der Schweriner Kriminalpolizei 7. Januar 2003: Auch die CDU/CSU bringt einen ei- wurden mir andere Zahlen genannt. Auch hierbei gilt: Es genen Gesetzentwurf zur Graffitibekämpfung ein. ist müßig, darüber zu diskutieren. Wir wollen eine Grau- zone beseitigen. 5. Februar 2003: Nun folgt der Bundesrat mit einem eigenen Entwurf. Herr Gehb – regen Sie sich bitte nicht erneut auf –, 21. Mai 2003: öffentliche Anhörung zum Thema ich finde, wir machen einen guten Vorschlag. Sie haben Graffitibekämpfung. Sie beschäftigt sich von „Verunstalten“ gesprochen. Wir benutzen eine Defi- nition, die in das Strafrecht passt. Wir wollen den Ge- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Grimms richten nicht erneut einen Interpretationsspielraum ge- Märchen!) ben. Ich würde deshalb vorschlagen: Schließen Sie sich – seien Sie doch einmal ruhig – einfach unserem Gesetzentwurf an, dann kommen wir schnell zu einem Ergebnis. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16277

Daniela Raab (A) mit der Frage, ob es einer Strafverschärfung zur besseren Über die Sommerpause war dann jedoch die nieder- (C) Verfolgung von Graffitisprühern bedarf. Dabei war nur sächsische CDU-Landtagsfraktion nicht untätig. Sie einer der auch von Ihnen eingeladenen Experten, Herr bringt am 6. September 2004 zusammen mit der FDP ei- Hacker, der Meinung, dass es keiner Strafverschärfung nen Antrag mit folgendem Titel ein: „Graffiti-Schmiere- bedürfe. reien konsequent bestrafen – Rot-grüne Bundesregie- rung verzögert die Verabschiedung eines Graffiti- (Jörg van Essen [FDP]: Das war der von den Bekämpfungsgesetzes“. Grünen!) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das war doch – Keine Überraschung, dass das der von den Grünen ein- Propaganda!) geladene war. – Klare Präferenz erfuhr der Entwurf des Dieser Antrag war anscheinend so überzeugend, dass so- Bundesrates, der bekanntlich darauf abstellt, dass die gar die SPD-Landtagsfraktion im niedersächsischen Schmiererei gegen den Willen des Berechtigten erfolgt. Rechtsausschuss zugestimmt hat und dafür lediglich die Damit wird endlich die Rechtsklarheit geschaffen, die Bedingung stellte, dass der Titel geändert wird. Das teure Gutachten und juristische Auslegungen überflüssig könnten Sie sich zum Vorbild nehmen. macht. Jetzt kommt der entscheidende Punkt, Herr Hacker: Die Unionsfraktion hat darauf eindeutig und Weiter geht es in der Chronologie. Wir kommen jetzt mehrfach auch im Rechtsausschuss signalisiert, zuguns- zu den ganz aktuellen Daten. Aber an dem bisher Gesag- ten der Bundesratsvariante auf den eigenen Entwurf ten sehen Sie schon, wie lange es gedauert hat, um allein verzichten zu wollen. durch diese Legislaturperiode zu kommen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb Anlässlich des ersten internationalen Anti-Graffiti- [CDU/CSU]: So ist das, damit das einmal klar Kongresses in Berlin fällt dann die Erleuchtung vom rot- ist!) grünen Himmel und trifft zunächst Bundesinnenminister Schily; das ist schon erwähnt worden. Er möchte er- 25. Juni 2003: Berichterstattergespräch mit den Her- tappte Sprayer mit Hubschraubern und Infrarotkameras ren Bachmaier, van Essen, Ströbele und meiner Wenig- verfolgen. Wir haben gerade gehört, das hätte nichts ge- keit. bracht. Denn selbst wenn wir sie gefasst hätten, hätten wir mangels gesetzlicher Regelung keine strafrechtliche (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Ich Verurteilung erreichen können. war auch dabei!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In diesem Berichterstattergespräch gab uns zumindest Die zweite Erleuchtung vom rot-grünen Himmel trifft die SPD-Seite – Herr Hacker, Sie waren leider nicht da- dann die Koalition in der letzten Woche. Man wedelt (B) bei, sonst wüssten Sie es besser – (D) verheißungsvoll mit einem Gesetzentwurf, der die „un- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ich wäre gerne befugte nicht nur unerhebliche und nicht nur vorüberge- gekommen!) hende Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache“ unter Strafe stellt. Da möchte man gratulieren. zu erkennen, dass man einer Gesetzesänderung nicht im Wege stehe, jedoch an der koalitionsinternen Blockade (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Danke!) durch die Grünen scheitere. Aber Sie hätten auf jeden Fall einen Orden für das Finden von Synonymen, wenn es denn einen gäbe, ver- (Dirk Niebel [FDP]: Herr Ströbele!) dient. Außerdem wurde uns im Sommer 2003 vom Justiz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/ ministerium baldmöglichst ein eigener Gesetzentwurf CSU – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Da gibt angekündigt, dessen Wortlaut sich – man höre und es einen gravierenden Unterscheid, Frau Kol- staune – an dem Bundesratsentwurf orientieren solle. legin! Den habe ich Ihnen schon erklärt!) Man sagt ja immer, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber während der Wartezeit auf diesen im Sommer 2003 an- – Den suche ich immer noch verzweifelt, Herr Hacker. gekündigten Entwurf hätte man locker versauern kön- Sie werden ihn uns in den Berichterstattergesprächen si- nen. cherlich konsequent erklären können. Ihr „unbefugt“ entspricht eindeutig unserem „gegen den Willen des Es geht weiter mit dem 15. Januar 2004, also über ein Eigentümers oder sonst Berechtigten“. Das ist das erste halbes Jahr später: erste Geschäftsordnungsdebatte zum Synonym, auch wenn Sie in Ihrer Begründung wirklich Antrag gemäß § 62 Abs. 2 wegen Untätigkeit. Sie ha- krampfhaft und an den Haaren herbeigezogen versu- ben die Beratung des Entwurfs ein halbes Jahr ver- chen, das Gegenteil zu behaupten. schleppt, den Bundestag hingehalten und nichts getan. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wer hat hier 11. Februar 2004: Der Kollege van Essen und ich er- einen Krampf?) bitten beim Kollegen Bachmaier schriftlich ein erneutes Damit nicht genug. Sie versuchen jetzt auch noch, der Berichterstattergespräch. Überraschenderweise erfolgt geneigten Öffentlichkeit zu verkaufen, die Verschärfung auch darauf keine Reaktion. der Graffitibekämpfung hätten Sie erfunden. 1. Juli 2004: zweite Geschäftsordnungsdebatte wegen (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist der Untätigkeit. Gipfel der Unverfrorenheit!) 16278 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Daniela Raab (A) Wahrscheinlich drehen Sie irgendwann den Spieß um (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) (C) und behaupten, wir hätten Sie während der letzten sechs Jahre an der Umsetzung gehindert. Aber Spaß beiseite. Der Bundesrat und auch die Oppositionsfraktionen for- Es drängt sich einem wirklich die Frage auf, warum so mulieren allerdings in ihren Entwürfen, dass die Verun- viel Zeit vergehen musste und warum Sie nicht längst staltung einer Sache gegen den Willen des Eigentümers mit uns zusammen die Bundesratsvariante verwirklicht oder Befugten unter Strafe zu stellen ist. haben, wie es uns oftmals durch den Herrn Parlamentari- schen Staatssekretär und auch Ihre Kollegen angekün- (Daniela Raab [CDU/CSU]: Auch das habe digt worden ist. ich vorher ausführlich erörtert!) (Jörg van Essen [FDP]: Da waren auch SPD- Der Begriff der Verunstaltung ist subjektiv und bezieht Länder dabei!) sich auf Ästhetik; er ist nicht oder nur schwer objektiv zu fassen. Auch damit wäre das Ziel, das Erfordernis der Aber vielleicht haben Sie einfach nur auf die zeitliche Erstellung teurer Gutachten und der Einbeziehung von Nähe zum 22. Mai dieses Jahres gewartet. Sachverständigen zu umgehen, nicht erreicht. Deshalb Vielen Dank. schlagen wir eine andere Formulierung vor: Das Er- scheinungsbild einer Sache muss erheblich und nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vorübergehend verändert werden, damit die entsprechen- den Paragraphen greifen. Diese Erheblichkeitsgrenze Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: scheint mir von entscheidender Bedeutung zu sein. Ich hoffe, dass wir über diese Formulierung in den Beratun- Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von gen Einigkeit erzielen werden. der SPD-Fraktion. Hauptproblem bleibt aber, die Täter zu fassen und Gabriele Fograscher (SPD): dingfest zu machen. Volkstümlich heißt es bei uns: Die Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nürnberger hängen keinen, es sei denn, sie hätten Wir debattieren – das ist richtig – zum wiederholten ihn. – Beim Graffitiunwesen gibt es eben nur diese nied- Male über die effektive Bekämpfung von Graffiti an pri- rige Aufklärungsquote von circa 30 Prozent. Deshalb vaten und öffentlichen Gebäuden. Ich glaube schon, dass muss natürlich weiterhin darüber nachgedacht werden, die vorliegenden Vorschläge eine gute Grundlage sind, wie die Strafverfolgung in diesem Bereich zu verbessern um sachlich und weniger emotional darüber zur diskutie- ist, auch unter verhältnismäßigem Einsatz der Bundes- ren und dann schließlich zu einer Einigung zu kommen. polizei. (B) Graffiti sind ein Ärgernis. Sie sind kein Kavaliersde- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Bundespoli- (D) likt. Sie beeinträchtigen das Erscheinungsbild unserer zei? Bundeswehr oder was?) Städte und ihre Beseitigung verursacht enorme Kosten für private Eigentümer und die öffentliche Hand. Schät- – So heißt der Bundesgrenzschutz, nachdem wir das in zungen, wonach ein Schaden von mehreren hundert dieser Woche beschlossen haben. Millionen Euro jährlich entsteht, belegen, dass es sich wirklich nicht um eine Kleinigkeit oder Bagatelle han- Für die meisten jungen Sprayer ist es eine sportliche delt. Herausforderung, an möglichst exponierten Plätzen zu sprayen und dann den Strafverfolgern zu entwischen. Umstritten aber bleibt, ob dieses gesellschaftlich un- Dieses Problem werden wir auch mit der Änderung des erwünschte Phänomen allein mit dem Strafrecht wirk- Strafrechts nicht lösen können. Abschreckung, Kon- sam bekämpft werden kann. Durch die jetzige Formulie- trolle, Polizeipräsenz, Ermittlungsarbeit, das ist die eine rung der §§ 303 und 304 StGB können bereits jetzt Seite. Die Ursachen des Problems werden wir nicht be- zahlreiche Sachverhalte der Sachbeschädigung durch kämpfen können, wenn wir nicht auch präventiv im Be- Graffiti erfasst werden. Doch der Nachweis der Sub- reich von Erziehung und Kultur eine entsprechende Ju- stanzverletzung – der Staatssekretär hat darauf hinge- gendpolitik angehen. wiesen –, den diese Strafvorschriften fordern, ist schwie- rig zu führen und kann oft nur durch teure Gutachten Graffiti gehören zu einer Jugendkultur in einer nachgewiesen werden. Die hohen Kosten sind ein Grund Szene, die mit Appellen und Strafandrohungen nur dafür, dass circa 10 Prozent aller Verfahren eingestellt schwer erreichbar ist. Je mutiger eine Aktion ist, desto werden. angesehener oder cooler ist der Sprayer in der Szene. Es besteht Konsens zwischen den Fraktionen – ich (Dirk Niebel [FDP]: Gehen Sie doch einmal glaube, das auch noch nach dieser aufgeregten Debatte vom Blickwinkel der Eigentümer aus!) feststellen zu können –, das Strafgesetzbuch so zu än- dern, dass diese Gerichtsverfahren gegen gefasste Graf- Ohne mehr Jugendarbeit, ohne mehr Projekte der Kin- fitisprayer schneller und kostengünstiger geführt werden der- und Jugendhilfe, ohne sinnvolle Angebote für ju- können. gendliche Zielgruppen wird es nicht gelingen, das Graffitiunwesen erfolgreich zurückzudrängen. Der Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen jetzt vorlegen, basiert auf einem Entwurf aus dem Bundesrat (Beifall des Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD] von 2003. sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16279

Gabriele Fograscher (A) Wenn die Kommunen mehr in Jugendarbeit investieren Scherz. Doch Herr Schily glaubt wirklich, dass das eine (C) würden, müssten sie vielleicht weniger in die Reparatur gute Strategie ist. Das ist in Anbetracht der Straftat nicht von Schäden investieren. nur unverhältnismäßig; das ist hysterisch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]) – Wir sind in Berlin leider nicht für die Polizei zustän- dig, Herr Kollege. Aber das kann sich ja irgendwann ein- Das Fehlen von Freiräumen zur Gestaltung des eigenen mal ändern. Danke für den Hinweis. Umfelds ist mit ursächlich für die Vielzahl von Graffiti. (Rainer Funke [FDP]: Aber Sie sind in der (Dirk Niebel [FDP]: Stellen Sie doch Ihr eige- Koalition!) nes Haus als Freiraum zur Verfügung!) Der Law-and-Order-Mann Schily hat jedes Maß ver- Es gibt erfolgreiche Projekte. Zu nennen ist zum Bei- loren. Für ihn geht es nicht nur um die Lösung des Pro- spiel das Programm „Soziale Stadt“, bei dem die Wohn- blems; für ihn geht es darum, dass er vom Law-and- bevölkerung in sozialen Brennpunkten in die Gestaltung Order-Mann Beckstein nicht überholt wird. des wohnlichen und sozialen Umfelds einbezogen wird. Auch der in dieser Woche von den Koalitionsfraktionen Mit der vorgesehenen Gesetzesänderung haben Sie, vorgelegte Antrag, in dem mehr kinder- und jugendpoli- liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, tische Projekte gefordert werden, um jungen Menschen jedes Maß verloren, finde ich, obwohl Sie in Ihren Rede- bildungspolitische Alternativen und Alternativen der beiträgen hier versucht haben, einen anderen Eindruck Freizeitgestaltung zu bieten, ist ein richtiger Ansatz. Nur zu erwecken. wenn Jugendliche in die Gestaltung ihres Lebensumfelds (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) einbezogen werden, gehen Vandalismus und Sprayerei nachweislich zurück. In Ihrer Änderung des Strafgesetzbuches geht es nicht mehr nur – wenn Sie den Text lesen, werden Sie das fest- Ich wünsche mir, dass wir neben den Strafrechtsände- stellen – um die Beschädigung und Zerstörung von Häu- rungen gerade auch diese präventiven Maßnahmen serwänden. Vielmehr soll es demnach schon strafbar verstärken. Nur dann – davon bin ich überzeugt – wer- sein, wenn das Erscheinungsbild gegen den Willen des den wir der Ursachen des Problems Herr werden und Ju- Eigentümers verändert wird. gendliche davor bewahren, eine kriminelle Karriere ein- zuschlagen, die ihr ganzes Leben belasten kann. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ja! Auch dann, wenn mir jemand Mona Lisa auf mein Haus Herzlichen Dank. (B) sprüht, obwohl es schön aussieht!) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Diese Gesetzesänderung muss zwangsläufig dazu führen, dass – um es Ihnen anschaulich darzustellen – das Lied „Der Lindenbaum“ von Wilhelm Müller und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Franz Schubert nicht mehr gespielt werden dürfte. Ich Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. zitiere: Am Brunnen vor dem Tore Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): da steht ein Lindenbaum. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Ich träumt in seinem Schatten ren! Ich bin Abgeordnete der PDS. so manchen süßen Traum. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das wussten Ich schnitt in seine Rinde wir noch nicht!) so manches liebe Wort. Es gibt wohl nur wenige Menschen über 40 Jahre, die Meine Damen und Herren, das wäre nach Ihrem Gesetz- Graffiti an Häuserwänden wirklich schön finden, und es entwurf verboten; denn Ihrem Gesetzentwurf zufolge gibt Jugendliche, die Graffiti toll finden. Hier besteht wäre das die Beschädigung einer Sache, die die Sache also ein Generationskonflikt, nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend ver- ändert. (Daniela Raab [CDU/CSU]: Ach so!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit dem wir uns auseinander setzen müssen. NEN]: Das ist schon jetzt Beschädigung! – Welche Strategien sind da im Angebot? Die Berliner Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist doch Polizei – davon wurde hier schon gesprochen – hat vor schon jetzt strafbar! So ein Unsinn!) wenigen Tagen einen Graffitisprayer mit einem Polizei- Als Mitglied des Haushaltsausschusses will ich auch auto verfolgt und dabei einen unschuldigen 22-jährigen auf das erforderliche Geld zu sprechen kommen. In Ih- Motorradfahrer gerammt, der kurz nach dem Unfall ver- rem Gesetzentwurf wird darauf verwiesen, dass die ho- starb. Ist das etwa eine verhältnismäßige Strategie? hen Kosten für Gutachten durch diese Gesetzesänderung Bundesminister Schily will mithilfe von Helikoptern, in Zukunft nicht mehr anfallen werden. Gleichzeitig aber die mit Wärmebildkameras ausgestattet sind, Graffiti- werden Hubschrauber und Wärmekameras eingesetzt, sprayer jagen. Erst hielt ich das für einen schlechten um Graffitisprayer zu verfolgen. 16280 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Dr. Gesine Lötzsch (A) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das sind doch (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Sachen, die gar nicht zusammengehören, Frau NEN]: Oh, ganz schlecht! „Bild“-Zeitung! – Kollegin!) Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: „Bild“-Leser, vereinigt Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis Schily mit euch!) seinen Hubschraubern und Wärmekameras aufsteigen und Liebespaare im Wald beobachten wird, um festzu- hinzuweisen, in dem steht, dass der Vorsitzende des Ver- stellen, ob sie Bäume mit kleinen Herzen versehen und eins „nofitti“, Herr Hennig, seit Wochen Morddrohun- ihr Erscheinungsbild dadurch nicht unerheblich verän- gen erhält und mittlerweile Polizeischutz bekommt. So dern. weit zur angeblichen Friedfertigkeit der Graffitiszene. In dieser Frage kann ich Ihre Meinung wirklich nicht teilen. (Lachen im ganzen Hause – Dr. Uwe Küster [SPD]: Bei welchem Ereignis will Frau (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lötzsch nicht beobachtet werden? – Hans- neten der FDP) Joachim Hacker [SPD]: Das ist doch platt!) All dem ist eine von der Koalition zu verantwortende Wir werden gegen diese Gesetzesänderung stimmen; Hängepartie vorausgegangen, die bei den Betroffenen, denn die derzeitige Gesetzeslage ist ausreichend. Meine den Ländern und Gemeinden nur noch Kopfschütteln Damen und Herren – das sage ich an alle Fraktionen die- auslöst. Ich werde ein paar Aspekte der Beratungen von ses Hauses –, manchmal hilft es schon, wenn Eltern und Bundestag und Bundesrat hervorheben. Am Kinder gemeinsam putzen. Dafür gibt es übrigens ein 16. März 1999 wurde ein Gesetzentwurf der CDU/CSU- schönes altes Wort: Subbotnik. Fraktion im Bundestag von Rot-Grün abgelehnt. Am Vielen Dank. 19. März 1999 wurde ein Gesetzentwurf des Bundesra- tes, initiiert vom Land Berlin – Initiator war übrigens der (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – SPD-Justizsenator Körting –, im Bundestag von Rot- Hans-Joachim Hacker [SPD]: Die PDS will Grün abgelehnt. Am 10. November 2001 wurde erneut also weiterhin Graffiti! Das ist ja interessant!) ein Gesetzentwurf des Bundesrates im Bundestag von Rot-Grün abgelehnt. Am 20. Dezember 2002 hat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schließlich der dritte Gesetzentwurf des Bundesrates die Das Wort hat jetzt der Kollege Roland Gewalt von der Zustimmung aller Bundesländer mit Ausnahme von CDU/CSU-Fraktion. Schleswig-Holstein – das dürfte sich mit dem 27. April dieses Jahres erübrigen – gefunden. Die Beratung dieses (Beifall bei der CDU/CSU) Gesetzentwurfes wird hier im Hause seit zweieinhalb (B) Jahren von Rot-Grün blockiert. Meine Damen und Her- (D) Roland Gewalt (CDU/CSU): ren von der SPD-Fraktion, wenn Sie noch nach Ursa- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Art. 76 chen der Politikverdrossenheit in unserem Lande su- des Grundgesetzes ist eine angemessene Frist zur Be- chen, dann ist das wirklich ein Paradebeispiel. ratung von Gesetzesvorlagen des Bundesrates im Bun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- destag vorgeschrieben. Vor fast zweieinhalb Jahren neten der FDP) beschloss der Bundesrat fast einstimmig die Tatbe- standsänderung der §§ 303 und 304 des Strafgesetz- Am Dienstag letzter Woche dann ließ die Koalition buches, das so genannte Graffitibekämpfungsgesetz. weißen Rauch aufsteigen. Wer hoffte, dass sich Rot- Der Umfang dieses Gesetzentwurfes, den ich mir einmal Grün jetzt endlich bewegte, wurde allerdings bitter ent- genau angeschaut habe, beträgt genau fünf Zeilen. Ich täuscht. glaube, selbst die SPD-Fraktion muss einräumen, dass ein Zeitraum von zweieinhalb Jahren angesichts der (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Na, na!) Überschaubarkeit dieses Gesetzentwurfes kaum noch als Ein Formulierungsvorschlag wurde präsentiert, bei dem angemessen bezeichnet werden kann. man wirklich in jedem Wort das Gezerre hinter den Ku- Erst nachdem der Berliner Verein „nofitti“ bzw. sein lissen der rot-grünen Koalition erahnen kann. sehr engagierter Vorsitzender Karl Hennig vor zwei Wo- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Die Abgewo- chen in Berlin einen interessanten und, Herr Ströbele, genheit!) vor allem sehr erfolgreichen Antigraffitikongress organi- siert hat, Ich frage Sie: Warum um Himmels willen sind Sie nicht der Empfehlung der Bundesregierung aus der letzten (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Woche gefolgt, dem fachlich fundierten und wohl abge- GRÜNEN]: Woran wollen Sie den Erfolg denn wogenen Gesetzentwurf des Bundesrates – so, wie er messen? Meinen Sie, weil danach weniger ge- uns vorliegt – zuzustimmen? sprüht wurde?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – fühlte sich Rot-Grün offensichtlich bemüßigt, sich die- Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ses Problems anzunehmen. Herr Kollege Montag, da Sie Nicht zustimmungsfähig!) den sehr bedauerlichen Unfall mit dem Motorradfahrer erwähnt haben, gestatten Sie mir bitte, auf einen Bericht, Mit der Formulierung „wer ... das Erscheinungsbild ... der heute in der „Bild“-Zeitung erschienen ist, nicht nur vorübergehend verändert“ haben Sie, offenbar Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16281

Roland Gewalt (A) um die Zustimmung der Grünen zu bekommen, eine (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was hat das mit (C) Rolle rückwärts gemacht. der Formulierung zu tun?) Ich habe mich bei Fachleuten in Berlin umgehört, un- Der Schaden ist ganz erheblich: ter anderem beim Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin. Es besteht hier die ganz konkrete Gefahr, dass (Hans-Joachim Hacker [SPD]: D’accord! Ja, die Rechtsprechung erneut eine Bestrafung wegen und?) Sachbeschädigung ablehnt, wenn die Graffiti nur ober- Die Deutsche Bahn beziffert den Schaden in ihrem Be- flächlich, das heißt entfernbar – und damit „nur vo- reich für das Jahr 2004 auf über 50 Millionen Euro. rübergehend“ im Sinne Ihres Gesetzentwurfes –, aufge- Wenn Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, der bracht sind. Damit stünden wir genau da, wo wir jetzt von Fachleuten in Berlin – von Staatsanwälten in Berlin, schon stehen. Herr Kollege Hacker – als nicht hilfreich angesehen (Beifall des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ wird, CSU]) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das Gesetz ma- So war das mit Sicherheit nicht gedacht, meine Damen chen wir hier und nicht in der „BZ“!) und Herren. dann ist das genau das Problem, über das wir hier reden. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie kennen die Rechtsprechung gar nicht! – Jerzy Montag Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege! die Substanzverletzung!) Ersparen Sie uns eine monatelange Beratung über Roland Gewalt (CDU/CSU): Ihre nicht sehr hilfreiche Gesetzeskreation und stimmen Nur mit einer klaren Grenzziehung, vor allem im Sie endlich dem zu, was Ihre eigenen Justizminister ge- strafrechtlichen Bereich, kann diesem Treiben ein Ende meinsam mit unseren Justizministern im Bundesrat vor- bereitet werden. Deshalb habe ich gehofft, dass Sie dem geschlagen haben! Die Berliner Justizsenatorin Karin Gesetzentwurf des Bundesrates hier zustimmen. Dazu Schubert – bekanntermaßen Mitglied der SPD – hat, sind Sie offensichtlich nicht bereit; Sie vollführen hier nachdem Rot-Grün den Gesetzentwurf in der letzten einen Eiertanz. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das Woche vorgestellt hat, in der „BZ“ am Sonntag völlig den Bürgerinnen und Bürgern draußen erklären wollen. richtig klargestellt, dass die Gesetzesänderung jede Form von unerlaubt angebrachten Graffiti strafbar machen Vielen Dank. (B) (D) muss; insofern stimme ich der Justizsenatorin voll zu. Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müsste Sie, meine Damen und Herren von der SPD- neten der FDP) Fraktion, eigentlich nachdenklich stimmen, dass Sie mit dem Entwurf, den Sie hier vorlegen, deutlich hinter dem bleiben, was Ihre eigenen Justizminister aus den Län- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dern gefordert haben. Ich schließe die Aussprache. Die Zeit drängt, meine Damen und Herren. In der Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Graffitiszene scheint mehr und mehr durchzusickern, wurfs auf Drucksache 15/5317 zu Zusatzpunkt 11 an die dass es den Strafverfolgungsbehörden besonders schwer in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- fällt, eine Sachbeschädigung nachzuweisen, wenn man schlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/5313 zu auf Glas- oder Metallflächen sprüht. Nur so ist es zu er- Tagesordnungspunkt 20 b soll an dieselben Ausschüsse klären, dass in den letzten Jahren in Berlin im Bereich überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? – der Zuständigkeit des Bundesgrenzschutzes – an Eisen- Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so bahnzügen und an S-Bahn-Zügen – die Zahl der beschlossen. Graffitischmierereien deutlich zugenommen hat: im letz- Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf: ten Jahr um 17 Prozent, Herr Ströbele. Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Koppelin, Dr. Andreas Pinkwart, Otto Fricke, GRÜNEN]: Alles strafbar! – Hans-Joachim weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Hacker [SPD]: Das wird mindestens mit dem Gesetzentwurf erfasst!) Keine deutsche Beteiligung an MEADS Allein bei einem Treffen der Graffitiszene in Berlin im – Drucksache 15/5336 – letzten Monat wurde innerhalb von 48 Stunden bei der Berliner S-Bahn eine Fläche von 975 Quadratmetern be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sprüht; das entspricht einer Zuglänge von über Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die 400 Metern. FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- derspruch. Dann ist so beschlossen. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was hat das mit dem Gesetzentwurf zu tun?) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Jürgen Koppelin von der FDP-Frak- – Der Schaden ist erheblich, Herr Kollege Hacker. tion das Wort. 16282 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP – Winfried Nachtwei (C) DIE GRÜNEN] verlässt den Plenarsaal – Zu- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht ihm ruf von der FDP: Herr Ströbele, bleiben Sie nur um die Sache, sonst nichts! So wahr mir doch noch ein bisschen!) der heilige Opportunismus helfe! – Rainer Arnold [SPD]: Nur deshalb!) Jürgen Koppelin (FDP): Nach unserer Auffassung ist das Projekt MEADS mi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! litärisch umstritten. So ist zum Beispiel ein großräumi- Kollege Ströbele, bleiben Sie ruhig hier, damit Sie gleich ger Schutz eines Territoriums, wie zum Beispiel mit den Farbe bekennen können. „Patriot“-Raketen, mit MEADS nicht möglich. Herr Kollege Nachtwei, Sie haben sich ja mit der Thematik Ich will vorab sagen: Der Verteidigungsminister hat beschäftigt. Man muss sich fragen, weshalb ein bedroh- sich heute bei mir entschuldigt, weil er einen wichtigen tes Land, wie Israel mit „Patriot“-Raketen zufrieden ist Termin hat. Diese Entschuldigung wird selbstverständ- – so sehen wir das jedenfalls – und MEADS überhaupt lich angenommen. Ich finde es aber schade, dass bei ei- nicht will. nem so wichtigen Projekt, über das wir diskutieren – es geht um viele Milliarden Euro –, kein Vertreter des (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Die haben jetzt Finanzministeriums anwesend ist. Das hätte heute zu- ein „Arrow“-System!) mindest anders sein können. Die FDP kann auch nicht erkennen, dass es bei den (Beifall bei der FDP — Zuruf von der FDP: Auslandseinsätzen der Bundeswehr in den letzten zehn Unglaublich!) Jahren einen besseren Schutz für unsere Soldaten gege- ben hätte, wenn wir MEADS bereits gehabt hätten. Mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen gegen die Stimmen der FDP hat der Haushaltsausschuss (Rainer Arnold [SPD]: Warum waren Sie in des Bundestages am Mittwoch den Einstieg in das Rake- der Vergangenheit dann dafür?) tenabwehrsystem MEADS beschlossen. – Herr Kollege, hören Sie doch einfach zu. Ich weiß, (Markus Löning [FDP]: Wofür brauchen wir dass Ihre Argumente wackelig sind. das eigentlich?) Wir waren immer dabei, wenn es um den Schutz un- 855 Millionen Euro an Entwicklungskosten sind für die- serer deutschen Soldaten im Ausland ging. Das ist obers- ses Raketenabwehrsystem geplant. Bei der Beschaffung tes Gebot; das ist ganz klar. Die haushaltpolitischen muss damit gerechnet werden, dass es noch einmal zu Risiken dieser Beschaffungsmaßnahme sind aber so (B) Kosten zwischen 4 und 7 Milliarden Euro kommen wird. groß, dass die FDP diesen Antrag heute gestellt hat, um (D) die Bundesregierung aufzufordern, keine vertraglichen (Dirk Niebel [FDP]: Herr Montag, bleiben Sie Bindungen für eine deutsche Beteiligung an MEADS auch noch ein bisschen hier! Das ist eine wich- einzugehen. tige Sache!) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Gesine Die genaue Zahl kann man nicht nennen; denn auch das Lötzsch [fraktionslos]) Verteidigungs- und das Finanzministerium waren nicht in der Lage, zu sagen, was MEADS am Ende kosten Wer die Vorlagen des Bundesverteidigungsministers für wird, wenn es angeschafft wird. diese Beschaffungsmaßnahme und die Stellungnahme des Rechnungshofes ernsthaft liest, der kann der Vorlage (Rainer Arnold [SPD]: Warum waren Sie denn aus Überzeugung nicht zustimmen. erst dafür?) Nachdem einige Abgeordnete der Grünen die glei- Nach Auffassung der FDP steht das haushaltspolitische chen Bedenken wie die FDP öffentlich vorgetragen ha- Risiko der Beschaffung in keinem Verhältnis zu einem ben, wundern wir uns sehr, dass nicht die Abgeordneten eventuellen Gewinn an Sicherheit. der Grünen, die sich mit der Materie befasst haben, die Entscheidung der Grünen-Fraktion herbeigeführt haben, Das Bundesfinanzministerium räumt ein, dass mit der sondern dass der Parteirat der Grünen die Beschaffung Anschaffung von MEADS der zur Verfügung stehende von MEADS empfohlen hat. finanzielle Handlungsspielraum im Verteidigungshaus- halt in den kommenden Jahren eingeschränkt wird. Der (Markus Löning [FDP]: Pfui!) Bundesrechnungshof hat erhebliche Bedenken vorgetra- gen und Zweifel an der Notwendigkeit der Beschaffung Ich habe erhebliche Zweifel daran, dass sich die Mitglie- von MEADS angemeldet. Diese Bedenken des Bundes- der des Parteirats der Grünen, wie zum Beispiel Herr rechnungshofs wurden nicht ausgeräumt. Volker Beck, der jetzt gerade erscheint, Herr Jürgen Trittin, Frau Künast, Herr Fritz Kuhn, Frau Claudia Wir sind der Auffassung, dass bei einem militärischen Roth, die ja bei jedem Thema dabei ist, und Frau Bärbel Beschaffungsprojekt, das auf jeden Fall mehr als Höhn aus Nordrhein-Westfalen, inhaltlich jemals mit 4 Milliarden Euro kosten wird, die Entscheidung nicht dem Raketenabwehrsystem MEADS beschäftigt haben. allein im Haushaltsausschuss getroffen werden sollte, Diese Personen empfehlen nun die Beschaffung eines sondern hier im Deutschen Bundestag. Deswegen haben zweifelhaften Raketenabwehrsystems, das voraussicht- wir diesen Antrag kurzfristig für heute hier eingebracht. lich 4 bis 7 Milliarden Euro kosten wird. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16283

Jürgen Koppelin (A) Wenn man sich die Medienberichte anschaut – das der Position, die wir inhaltlich vertreten haben, auch an- (C) will ich nicht verkennen –, scheint MEADS tatsächlich ders sehen kann. Ich finde jedoch keine Silbe von einem eine sehr gefährliche Waffe zu sein; denn sowohl Herr Vertreter der FDP, der an diesem Vorhaben auch nur den Bütikofer als auch Frau Claudia Roth erklärten – wörtli- leisesten Zweifel anmeldet. Ich habe ebenso gehört, dass ches Zitat –, dass die Koalition quasi gesprengt werden dies in allen anderen Gesprächen sowie den Sitzungen würde, wenn man MEADS nicht anschaffte. Das scheint des Haushalts- und Verteidigungsausschusses ähnlich ja eine sehr gefährliche Waffe zu sein. Was sind Sie ei- gewesen sein soll. gentlich für eine Koalition, dass die Ablehnung eines Waffensystems die Koalition bereits zu Fall bringen Ich frage mich daher, ob dieser Meinungswandel würde? Wenn Sie schon so weit sind, dann kann ich nur nicht ein billiges Wahlkampfmanöver ist oder ob Sie sagen: Hören Sie mit dieser Koalition lieber gleich auf. vielleicht tatsächlich ein Erleuchtungserlebnis hatten, von dem wir alle nichts wissen. In dem Falle sind wir (Beifall bei der FDP) sehr gespannt, wann und wo das war und wie es stattge- funden hat. Nun kommen die Grünen und präsentieren ein Alibi. Sie sagen: Dafür wird PARS 3 eingestellt. Jürgen Koppelin (FDP): (Helga Daub [FDP]: Kuhhandel!) Herr Kollege Beck, ich kann Ihnen eindeutig bestäti- Entschuldigung, was für ein Witz ist das? Seit Monaten gen – das wissen auch Ihre Kollegen und Kolleginnen wissen wir – heute haben wir das im Rechnungsprü- aus dem Haushaltsausschuss, mit denen ich darüber ge- fungsausschuss übrigens entschieden –, dass alle Frak- sprochen habe –, dass die FDP schon seit längerer Zeit – tionen PARS 3 nicht mehr wollen, weil es ein altes Sys- sogar auf unserer Klausurtagung hier in Berlin – eine tem ist, das noch aus der Zeit des Kalten Krieges Diskussion über dieses System geführt hat und dass all stammt. Wir haben heute im Rechnungsprüfungsaus- unsere Vorlagen, fraktionsintern erarbeitet, unsere ableh- schuss einmütig gesagt, dass wir das nicht mehr haben nende Haltung zu MEADS deutlich machten. wollen. Der Bericht des Rechnungshofs lag da aber (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE schon lange vor. Es ist also nichts, was man den Grünen GRÜNEN]: Warum haben Sie das nicht deut- zugebilligt hat, sondern alle Parteien waren seit Monaten lich gemacht?) der Auffassung, dass wir PARS 3 einstellen sollten. – Herr Beck, bitte haben Sie noch etwas Geduld. Ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gebe allerdings zu, dass es ein Fehler von uns war, dass Herr Kollege Koppelin, erlauben Sie eine Zwischen- wir unsere Ablehnung nicht öffentlich vorgetragen ha- (B) frage des Kollegen Beck? ben. Aber wir haben einfach nicht damit gerechnet, dass (D) die Grünen umfallen. Jürgen Koppelin (FDP): (Beifall bei der FDP) Selbstverständlich. Wir haben gedacht, dass dieses Thema nicht akut werden würde, weil sich die Grünen vor der Wahl in NRW Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: durchsetzen würden. Sie jedoch sind einfach einge- Bitte schön, Herr Beck. knickt. Sie sind doch – ich bin noch bei der Beantwortung Ih- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rer Frage, Herr Kollege Beck – Mitglied des Parteirates. Sehr geehrter Kollege Koppelin, da Sie hier so spöt- Sagen Sie doch einmal, wie die Entscheidung bei Ihnen telnd argumentieren, – im Parteirat gewesen ist; das können Sie in einer Kurzin- tervention machen. Frau Claudia Roth, die sich hier Jürgen Koppelin (FDP): vorne immer mit dem entsprechenden Gesicht hinstellt Überhaupt nicht. Das waren nur Tatsachen. und alles bezweifelt, ist also plötzlich für eine solche Be- waffnung. Das kann ich mir weder bei ihr noch bei Frau Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Höhn vorstellen. – habe ich eine Nachfrage zu Ihrer Meinungsbildung. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Der Partei- Ich möchte gerne wissen, wann das Damaskus-Erlebnis vorsitzende der Grünen, Herr Bütikofer, hat erklärt, die der FDP beim Thema MEADS stattfand, bei dem Sie Grünen hätten bei der Zustimmung zu MEADS starke sich vom Saulus zum Paulus gewandelt haben. Bauchschmerzen. Mir liegt ein Kurzprotokoll der 45. Sitzung des Ver- (Helga Daub [FDP]: Koliken!) teidigungsausschusses vor. Das habe ich eben bei Herrn Beck nicht erkannt. Aber (Dirk Niebel [FDP]: Vorsicht! Geschlossener Herrn Bütikofer kann geholfen werden. Die Fraktion Ausschuss!) von Bündnis 90/Die Grünen braucht heute nur dem An- Darin wird von den Berichterstattern umfangreich darge- trag der FDP zustimmen. Dass die CDU/CSU der Koali- legt, dass dieses System nun kommt und warum man es tion über diese Hürde helfen will, hat mit politischen As- braucht. Ich finde darin Ausführungen des Kollegen pekten zu tun, die sie selber verantworten muss. Die Winfried Nachtwei, warum man MEADS ganz im Sinne FDP wird MEADS auf jeden Fall ablehnen. 16284 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Jürgen Koppelin (A) (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Bei Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): (C) den Grünen muss man immer damit rechnen, In dem Bericht des Bundesrechnungshofes wird dass sie umfallen!) MEADS nicht abgelehnt, sondern er enthält Feststellun- gen, zu denen wiederum die Bundesregierung – wie bei Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: jedem anderen Rüstungsprojekt auch – Stellung nimmt. Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels von Im Übrigen sind wir in der Berichterstattergruppe – Herr der SPD-Fraktion. Nolting, Sie gehörten ihr schließlich an – zu dem einhel- ligen Ergebnis gekommen, dass wir bei diesem in der Tat nicht billigen Rüstungsvorhaben den Bundesrechnungs- Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): hof an unserer Seite haben wollen, damit er eine konti- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nuierliche Kostenkontrolle gewährleistet, wie das inzwi- Herren! Die FDP sieht dringenden Bedarf, dass wir schen auch bei anderen Rüstungsprojekten Gegenstand heute im Plenum darüber abstimmen, ob sich Deutsch- unserer Diskussionen gewesen ist, beispielsweise beim land an der Entwicklung des bodengebundenen Luft- A400M und auch beim Eurofighter. abwehrsystems MEADS beteiligen soll. (Jürgen Koppelin [FDP]: Sie wollten wissen, Dass es Ihnen in erster Linie nicht um MEADS und ab wann wir dagegen waren!) die angeblich unübersehbaren finanziellen Risiken die- ses Vorhabens geht, ist mehr als offensichtlich. Sie wol- – Gut, in diesem Fall bestand die Zwischenfrage aus len populistisch einen Keil zwischen Rot und Grün trei- Antworten. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie aufgeklärt ben und sich als Wahrer parlamentarischer Transparenz haben, wann auf die neueste Linie eingeschwenkt wurde. inszenieren. Das können Sie gerne versuchen, aber das Sie sind in dieser Beziehung ja traditionell sehr beweg- wird Ihnen nicht gelingen. lich und flexibel. (Beifall des Abg. Rainer Arnold [SPD]) Tatsache ist – ob es der FDP passt oder nicht –: Vor- gestern hat der Haushaltsausschuss mit deutlicher Richtig ist, dass sich unser Koalitionspartner nicht Mehrheit und gegen die Stimmen der FDP einen zustim- immer leicht getan hat, diesem Rüstungsprojekt zuzu- menden Beschluss zur deutschen Beteiligung an der Ent- stimmen. Auch uns hat die Debatte der Grünen in den wicklung des Rüstungsvorhabens MEADS gefasst. Der vergangenen Wochen nicht immer erfreut. Aber letztlich Verteidigungsausschuss hat vorgestern ebenfalls grünes haben wir uns auf eine gemeinsame Position verständigt. Licht gegeben. Damit sind die Entscheidungen dort ge- Im Gegensatz zu den jüngsten Verrenkungen der FDP in fallen, wo sie nach den Regeln dieses Hauses hingehö- dieser Frage war der Meinungsbildungsprozess in den ren. (B) Koalitionsfraktionen öffentlich und nachvollziehbar. Zu (D) welchem Zeitpunkt hingegen die FDP beschlossen hat, Wenn es der FDP wichtig ist, können wir natürlich zum Thema MEADS auf Konfrontationskurs zu gehen, gern heute hier noch einmal die Entscheidungen der bleibt mir schleierhaft. Fachausschüsse bestätigen, auch wenn diese Übung ei- gentlich überflüssig ist. Ich meine, wir sollten nicht dazu (Rainer Arnold [SPD]: Gestern!) übergehen, künftig über jedes Einzelprojekt des Verteidi- In den Beratungen des Verteidigungsausschusses war gungshaushaltes im Plenum abzustimmen. Wir beschlie- jedenfalls lange Zeit nicht erkennbar, dass die FDP die- ßen hier im Plenum über das Budget, über den Gesamt- ses neue Luftabwehrsystem für überflüssig und unfinan- haushalt, auch über den Einzelplan 14, und wir zierbar hält. beschließen in den Fachausschüssen über konkrete Rüs- tungsverträge. Ein kleines bisschen Arbeit muss dann (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die FDP soll einmal auch noch die Regierung machen. So soll es bleiben. zur Beichte gehen!) Gegen das Ansinnen der FDP spricht im Übrigen auch, dass gerade bei diesem Vorhaben, um das es heute Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: geht, die bisherige Mitwirkung des Parlaments und sei- Herr Kollege Bartels, erlauben Sie eine Zwischen- ner Gremien geradezu vorbildlich war. Kein Argument frage des Kollegen Koppelin? dafür oder dagegen, das nicht zur Sprache kam – von Ih- nen allerdings nicht. Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Gerne. (Jürgen Koppelin [FDP]: Stimmt doch gar nicht!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vielleicht nutzen Sie deshalb jetzt die Gelegenheit, in al- Bitte schön. ler Öffentlichkeit zu sagen, warum Sie plötzlich umge- fallen sind. Jürgen Koppelin (FDP): Regelmäßig waren der Haushaltsausschuss und der Herr Kollege, ich kann Ihnen den genauen Zeitpunkt Verteidigungsausschuss mit MEADS befasst. 1996 stand sagen, wann sich die FDP zum ersten Mal kritisch zu der Einstieg in die so genannte Definitionsphase auf der MEADS geäußert hat, nämlich als der Bericht des Bun- Tagesordnung. 2001 setzte der Haushaltsausschuss wei- desrechnungshofes vorlag, in dem MEADS abgelehnt tere Studien zur Reduzierung des technischen und finan- wurde. ziellen Risikos durch, eine sehr souveräne parlamentari- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16285

Dr. Hans-Peter Bartels (A) sche Entscheidung. Vor einem möglichen Einstieg in die Hauptkampfrichtung aufstellen muss, kann MEADS (C) Entwicklung, so der damalige Beschluss, muss in weite- – auch das ist neu und ein wesentlicher technischer Fort- ren Untersuchungen dargelegt werden, dass MEADS schritt – jederzeit Ziele aus jeder Richtung erfassen und technisch funktionieren kann und finanziell machbar ist. zerstören. Auch sehr schnell sich nähernde Raketen sol- Ausdrücklich behielt sich der Ausschuss damals vor, len direkt getroffen werden, um durch die enorme nach Abschluss der Risikominimierungsphase erneut Zusammenprallenergie selbst Gefechtsköpfe mit A-, B- über die Fortsetzung des Programms zu entscheiden. oder C-Waffen sicher auszuschalten – anders als „Patriot“. Darüber hinaus wird MEADS mit dem neuen (Jürgen Koppelin [FDP]: Und finanziell mach- Bundeswehr-Airbus in jedes Einsatzgebiet verlegbar bar!) sein – anders als „Patriot“. – Genau, auch das ist Gegenstand dieser Untersuchun- Diese sehr anspruchsvolle Technik stellt das Maxi- gen gewesen. mum dessen dar, was ab dem Jahr 2014 deutschen und Der Verteidigungsausschuss hat dann das positive Er- verbündeten Truppen in Einsätze mitgegeben werden gebnis des so genannten Risk Reduction Efforts nicht kann. einfach zur Kenntnis genommen, sondern im November 2003 eigens eine Berichterstattergruppe eingesetzt, die (Zuruf von der FDP: Es wäre schön, wenn es sich knapp ein Jahr lang intensiv mit allen Aspekten von das Optimum wäre!) MEADS befasst hat. Luftwaffe, Industrie, Ministerium, Unsere Soldaten haben einen Anspruch darauf, dass wir Kritiker und der Rechnungshof kamen zu Wort. Im Ab- ihnen die modernste Technik mitgeben, wenn sie gefähr- schlussbericht dieses parlamentarischen Gremiums wird liche Aufgaben in internationalen Einsätzen überneh- ausdrücklich der Einstieg in die Entwicklung des Sys- men. tems empfohlen. Der Verteidigungsausschuss ist dieser Empfehlung gefolgt. (Beifall bei der SPD) Die FDP sollte akzeptieren, dass sie in den Aus- Tatsache ist, dass für keinen künftigen Einsatz der schussberatungen für ihre allerneuste Position keine Bundeswehr Luftbedrohungen durch Flugzeuge oder Mehrheit gefunden hat. Aber darum scheint es hier gar Raketen ausgeschlossen werden können, selbst extreme nicht zu gehen. Das zeigt schon der arg knappe Wortlaut Bedrohungen nicht. Der politische Kampf um die Nicht- des FDP-Antrags. Sie reduzieren ein komplexes Thema verbreitung und Abrüstung von Massenvernichtungs- auf zehn dürre Zeilen. Deutschland soll sich nicht betei- waffen und Trägermitteln ist längst noch nicht gewon- ligen, weil das Vorhaben teuer ist. Mehr an Begründung nen. Die Zahl der Staaten, auch in der Dritten Welt, die gibt es nicht. Kein Wort zur militärischen Notwendig- über beides verfügen oder danach streben, ist in den letz- (B) (D) keit, kein Wort zur rüstungspolitischen Dimension, kein ten Jahren nicht wirklich kleiner geworden. Deshalb Wort zum transatlantischen Aspekt von MEADS. Das ist wird MEADS als Sicherheitsvorsorge für unsere eigenen sehr dünn. Soldaten, aber auch die unserer Verbündeten gebraucht. Immerhin, auf den Internetseiten der FDP erklärt uns Vielleicht würde MEADS auch ohne deutsche und der Kollege Koppelin, weshalb wir MEADS nicht brau- italienische Beteiligung von den Amerikanern entwi- chen. Schon jetzt verfüge Deutschland, so ist dort nach- ckelt und beschafft. Aber über die erweiterten Fähigkei- zulesen, mit dem Flugabwehrsystem „Patriot“ über die ten zur Luftabwehr gegebenenfalls als Europäer auch Fähigkeit, ballistische Raketen wirksam zu bekämpfen. eigenständig verfügen zu können, das entspricht heute Hätten die Planer im Ministerium das doch bloß eher ge- den Erfahrungen und dem Anspruch der gemeinsamen wusst! Weil es offenbar doch mehr Aufklärungsbedarf europäischen Sicherheitspolitik. Wer im Zweifel nicht gibt als angenommen, will ich gern ein paar Worte dazu selbst handlungsfähig ist, wird den allein Handlungsfä- sagen, warum wir MEADS brauchen und weshalb die higen mit guten Ratschlägen wenig beeindrucken. Des- bisherigen „Patriot“-Fähigkeiten eben nicht ausreichen. halb ist MEADS ein substanzieller deutscher Beitrag zu größerer europäischer Bewegungsfreiheit. Ausgangspunkt für die Entscheidung, ein neues Sys- tem zu entwickeln und später zu beschaffen, war die Es ist darüber hinaus das derzeit wichtigste und bei- Frage, welche Ausrüstung die deutschen FlaRak-Ge- nahe einzige deutsch-amerikanische Rüstungsvorhaben. schwader für ihre künftigen Aufgaben im Rahmen von Gerade deshalb wundert mich, dass die FDP nun den NATO, EU und UNO und für die Landesverteidigung Ausstieg fordert und in Kauf nimmt, unsere amerikani- brauchen. Die Bundesregierung setzt mit der Unterstüt- schen Partner vor den Kopf zu stoßen. zung einer breiten Mehrheit in diesem Hause auf das Vor knapp zwei Monaten ließ uns Ihr Fraktionsvorsit- trinationale Entwicklungsprojekt MEADS, an dem zender, Wolfgang Gerhardt, in einem Interview mit der neben Deutschland auch die USA und Italien beteiligt „FAZ“-Sonntagszeitung noch wissen, die FDP müsse sind. außenpolitisch die europäisch und „transatlantisch ver- MEADS wird in der Lage sein, nicht nur ballistische lässlichste Partei“ sein. Raketen wirksam zu bekämpfen, sondern Luftbedrohun- (Dirk Niebel [FDP]: Das heißt aber nicht, dass gen jeder Art, von Drohnen und Marschflugkörpern über man jeden Mist mitmachen muss!) Hubschrauber und Flugzeuge bis hin zu größeren Kurz- streckenraketen. Das ist neu. Im Unterschied zum alten Man beachte den Superlativ! Das scheint nun nicht mehr „Patriot“-System, das Radar und Startgeräte stets in zu gelten. 16286 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Dr. Hans-Peter Bartels (A) Und wie verträgt sich die plötzlich so entschiedene (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das (C) Ablehnung der Beteiligung Deutschlands am transatlan- sind Krisenpräventionsmittel für interne Kri- tischen MEADS-Projekt mit den „Zehn liberalen Leit- sen in der Koalition!) sätzen zum transatlantischen Verhältnis“, beschlossen Es sind also keine Gelder eingespart worden und die Re- auf dem letzten FDP-Bundesparteitag im Juni des ver- duzierung des Minenbestandes wäre ohnehin erfolgt. gangenen Jahres? Dort ist in Leitsatz 5 zu lesen – ich zitiere –: Die Frage ist, ob das, was Sie als Kompensation aus- zuhandeln versucht haben, sinnvoll war. Im Kern geht es Transatlantische Rüstungskooperation ist ein Ga- wirklich nur darum, dass Sie Ihrer Basis nicht vermitteln rant für die Zukunft des Bündnisses. konnten, dass Sie gegenüber dem, was Sie früher gesagt Sehr richtig. Aber welche Projekte könnten gemeint haben, letztendlich einen Schwenk gemacht haben. Das sein, wenn Sie bei MEADS gar nicht mehr dabei sein ist der Kern der Debatte, die wir heute führen. wollen? Auch die FDP ist umgeschwenkt. Das wissen wir schon. Es hat eine interfraktionelle Arbeitsgruppe gege- Was den heute abzustimmenden Antrag angeht, sei ben, die sich einmütig für dieses Projekt ausgesprochen Ihnen klar gesagt: Wir stehen zu unserem Votum in den hat. Ausschüssen und zu unseren Vereinbarungen mit den Verbündeten. Sie werden für Ihren Antrag in diesem (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Hause keine Mehrheit finden. GRÜNEN]: Hört! Hört!) Schönen Dank. Letztendlich ist die Frage, wieso wir heute, quasi im Nachklapp noch einmal darüber sprechen müssen. Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schlacht in der Öffentlichkeit war wirklich beachtlich. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gab seitenlange Gutachten. (Jürgen Koppelin [FDP]: Kennst du den Bun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: deshaushalt?) Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner von der CDU/ – Ich kenne den Bundeshaushalt. Dazu sage ich selbst- CSU-Fraktion. verständlich noch etwas. Es gibt auch einen Bericht des Bundesrechnungshofes, den ich ebenso wie die Stellung- (Beifall bei der CDU/CSU) nahmen der Bundesregierung dazu gelesen habe. Natür- lich kann man abwägen. Es ist auch keine Frage, dass es (B) Ilse Aigner (CDU/CSU): Probleme im Haushalt gibt. Letztendlich bleibt aber im- (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- mer die Abwägung, ob ein solches System notwendig ist nen und Kollegen! Man kann zu Recht fragen, warum oder nicht. wir heute noch einmal das Thema MEADS aufgreifen. Der Kollege Bartels hat ausführlich ausgeführt – ich Die FDP hat ihren Antrag gestellt, obwohl in den Fach- glaube, ich brauche das nicht zu wiederholen –, wo, im ausschüssen wie üblich die Abstimmungen erfolgt sind, Vergleich zum bisherigen System Patriot, Quanten- und zwar nach längeren Debatten. sprünge zu sehen sind. Zu einer Gesamtablösung wird es Der eigentliche Grund ist natürlich nachvollziehbar: erst ab 2025 kommen. Die Einführung findet ab 2012 Die FDP will den Finger in die Wunde der Grünen le- statt. Es handelt sich also um einen langen Zeitraum. Ir- gen, gendwann muss man aber anfangen. Die Entwicklungs- zeiträume sind nun einmal so, wie sie sind. (Beifall des Abg. Christian Schmidt [Fürth] Der Zeitablauf hat auch mir – das sage ich als Haus- [CDU/CSU]) hälterin – nicht gefallen. Wenn mir seit September ein weil die Grünen in ihrer generellen Ausrichtung, was bilateral zwischen den Partnernationen USA und Italien Verteidigungspolitik betrifft, jetzt vollkommen anders gezeichneter Vertrag vorliegt, ich die Vorlagen dem handeln, als sie wahrscheinlich handeln würden, wenn Haushaltsausschuss aber erst 14 Tage vor der Beratung sie in der Opposition sitzen würden. – in der knappest möglichen Frist – zuleite, dann finde ich das angesichts des Beschaffungsvolumens nicht in Insofern kann ich das nachvollziehen und finde es Ordnung. Diese Kritik an dem Ministerium möchte ich auch gerechtfertigt. Denn Sie haben sich dementspre- doch anbringen. Ich wünsche mir – das haben wir schon chend mit der Entscheidung schwer getan und mit ein mehrfach angesprochen –, dass die Vorlagen, die man paar Kompensationen versucht, das Ihrer Basis wenigs- durcharbeiten soll und muss, zeitnah vorgelegt werden. tens ansatzweise zu vermitteln. Eine von diesen Kom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) pensationen wurde schon vom Kollegen Koppelin ange- sprochen, nämlich das Aufgeben von Pars-3-Long- Die Qualität des neuen Systems ist – das wurde Range, also der Bewaffnung für den Tiger. Man kann zu schon gesagt – die 360-Grad-Rundumeinsatzfähigkeit. Recht darüber spekulieren, ob das wirklich eine Kom- Die Einsatzfähigkeit liegt damit nicht mehr nur in der pensation ist oder nicht. Eine weitere ist, dass Sie noch Hauptzielrichtung. Für meine Begriffe ist das auch des- 10 Millionen Euro für die Krisenprävention ausgehan- halb sehr wichtig, weil sich die Bedrohungslage geän- delt haben. dert hat. Es gibt keine Hauptzielrichtung mehr, wo man Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16287

Ilse Aigner (A) das bisherige System hundertprozentig einsetzen konnte. wir uns unterhalten, wenn wir eine neue Bundesregie- (C) Das gilt insbesondere für die Auslandseinsätze, in die rung haben. immer mehr unserer Soldaten gehen. Nebenbei bemerkt: Ich könnte mir vorstellen, dass das etwas anders aus- Herzlichen Dank. schauen würde, wenn die Grünen in der Opposition wä- (Beifall bei der CDU/CSU) ren. Dass diese Auslandseinsätze eine Belastung der Bundeswehr darstellen, sei nur nebenbei bemerkt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der zweite wesentliche Punkt ist, dass das System Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei vom luftverladbar ist. Das ist ein wesentlicher Punkt, um den Bündnis 90/Die Grünen. Schutz der Soldaten im Auslandseinsatz gewährleisten zu können. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ergänzend erwähne ich die transatlantischen Bünd- Bundeswehr hat von der Politik den Auftrag erhalten, nisse und die Frage des Technologietransfers. Der Tech- die internationale Krisenbewältigung im Rahmen des nologietransfer bedeutet auch für unsere Seite einen Pro- Systems der Vereinten Nationen heute und auch in Zu- fit. Wir können unsere Technologiefähigkeit dadurch kunft zu unterstützen. Wir haben heute Morgen der Bun- nicht nur behalten, sondern auch ausbauen. deswehr einen weiteren konkreten Auftrag gegeben, Stichwort „Radartechnologie“. In Deutschland sind nämlich die Unterstützung der großen UN-Mission im wir auf diesem Gebiet sicherlich führend und sollten das südlichen Sudan. Es ist selbstverständlich, dass die von auch bleiben. Letztendlich geht es auch darum – das uns entsandten Soldatinnen und Soldaten für die Erfül- sollte man nicht verschweigen –, Arbeitsplätze in diesem lung dieses Auftrags angemessen ausgestattet werden. Bereich in Deutschland zu erhalten. In diesem Zusam- Das schließt den bestmöglichen Schutz dieser Soldaten menhang sei es mir erlaubt, zu erwähnen, dass ich von ein. Dazu gehört in kritischeren Einsätzen sicherlich Gewerkschaftsvertretern, schwerpunktmäßig von Verdi, auch die Luftverteidigung. Emails erhalten habe, in denen sie sich über dieses Pro- Das taktische Luftverteidigungssystem MEADS soll jekt beschweren. Das halte ich für etwas seltsam. ab 2015 das bisherige Luftverteidigungssystem „Patriot“ ergänzen und schließlich ersetzen. Es soll Schutz gegen (Dirk Niebel [FDP]: Haben die nicht einen ein bestimmtes Spektrum von Luftbedrohung bieten. grünen Vorsitzenden bei Verdi?) In der Rüstungsbeschaffung- und -entwicklung ist Ich hoffe, dass die Betriebsratsmitglieder der entspre- (B) in der Vergangenheit das so genannte Systemnachfolge- (D) chenden Firma auch solche Emails bekommen, damit sie denken vorherrschend gewesen. Es reicht heutzutage wissen, wie ihre Kollegen in den genannten Bereichen aber ganz und gar nicht mehr aus, nur etwas Neues zu für sie werben oder eben nicht für sie werben. entwickeln, wenn ein vorhandenes System immer älter wird. Man muss vielmehr vier Schlüsselfragen beant- Über die Zahlen kann man lange streiten. Für meine worten. Begriffe wird mit polemischen Zahlen um sich gewor- fen: 10 Millionen Euro pro Arbeitsplatz – bezogen auf Erstens. Ist ein solches Vorhaben angesichts der wahr- welchen Zeitraum, pro Jahr, pro Monat, pro hundert scheinlicheren Bedrohungen und vorhandenen Fähigkei- Jahre? Keine Ahnung. Das ist auf jeden Fall nicht sehr ten militärisch notwendig? solide berechnet. Ich meine, dass man in diesem Bereich solide argumentieren sollte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Natürlich stimme ich mit dem Kollegen Jürgen Herr Kollege Nachwei, darf ich Sie fragen, ob Sie Koppelin überein, dass die Gesamtlage des Haushaltes eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel zulassen? kritisch ist. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Das hat die jetzige Bundesregierung zu verantworten. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass der Verteidigungsetat, belastet durch eine globale Ja, bitte schön. Minderausgabe, eine fallende Tendenz hat, ist keine Frage. Für uns wird es eine Verpflichtung sein, auf die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Einhaltung der Kosten zu schauen. Deshalb bin ich sehr Bitte schön, Herr Niebel. dafür, das Kostenmanagement genau zu kontrollieren. Parteiübergreifend haben wir mit der Mehrheit des Hau- ses im Haushaltsausschuss einen Antrag verabschiedet, Dirk Niebel (FDP): der auf eine Kontrolle des Kostenmanagements abzielt. Vielen Dank, Herr Kollege Nachtwei. – Sie haben ge- Im Haushaltsauschuss ist mit Vorgaben gearbeitet wor- rade die Einsätze der Bundeswehr in verschiedenen Re- den. Das halte ich für richtig. gionen der Welt angesprochen und darauf hingewiesen, dass das Luftverteidigungssystem MEADS die bisherige Wenn es in den nächsten Jahren zu einer Beschaffung Luftverteidigung ab 2015 ablösen soll. Stimmen Sie mir kommt, werden wir mit der Finanzierung Probleme ha- zu, dass bei keinem einzigen Auslandseinsatz der Bun- ben, weil zeitgleich andere Großvorhaben anstehen. Das deswehr derzeit „Patriot“-Raketensysteme im Einsatz brauchen wir nicht zu verschweigen. Darüber werden sind? 16288 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

Dirk Niebel (A) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Drittens. Es war eine nützliche Nebenwirkung – das (C) Darauf kommt er jetzt gleich! Warten Sie mal ist auch von Friedensforschern festgestellt worden –, ein bisschen!) dass wir seit langem wieder einmal eine umfassendere öffentliche Debatte über ein Rüstungsprojekt geführt ha- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben, angesichts der wir merken: Wir brauchen wirklich Ich habe gerade in meiner ersten Schlüsselfrage die eine umfassende sicherheitspolitische Debatte, weil viel wahrscheinlicheren Bedrohungen angesprochen. Bei den zu wenig Klarheit und Einigkeit darüber besteht, wofür bisherigen Stabilisierungseinsätzen ist es in der Tat so, die Bundeswehr eingesetzt werden soll und was sie leis- dass solche Systeme nie im Einsatz waren. Wir brauch- ten kann und was nicht. ten sie auch nicht. Als Antwort auf diese Schlüsselfrage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sage ich, dass wir der Auffassung sind, dass wir auch bei und bei der FDP) künftigen Stabilisierungseinsätzen ein solches System gegen eine solche Art von Bedrohungen am wenigsten Die Grünen haben gekämpft. Wir waren dabei nicht brauchen. Wir brauchen eher Systeme gegen die Bedro- erfolgreich. Die FDP hatte im Verteidigungsausschuss hung zum Beispiel durch Mörser. und in der Öffentlichkeit viele Möglichkeiten zur Kritik. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Jürgen Koppelin [FDP]: Sie auch!) SES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe es selbst erlebt. Sie schwieg nicht nur, sondern Zweitens. Ist ein solches Vorhaben angesichts der signalisierte – zumindest die Verteidigungspolitiker – bis technischen und finanziellen Risiken beherrschbar? vor kurzem Zustimmung. Drittens. Ist es vorrangig angesichts anderer schmerz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hafter Finanzierungslücken im Investitions- und Perso- und bei der SPD) nalhaushalt der Bundeswehr? Wenn Sie sich jetzt auf den letzten Metern groß als Rüs- Viertens. Ist es berechtigt im Hinblick auf eine umfas- tungskritiker aufblasen, dann ist die Absicht durchsich- sende und vorbeugende Sicherheitspolitik, die auf aus- tig. gewogene politisch-diplomatische, zivile, polizeiliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – und militärische Fähigkeiten angewiesen ist? Widerspruch bei der FDP) Hierzu äußerten wir seit geraumer Zeit – Sie haben es Offenkundig geht es Ihnen nicht um die Sache, sondern alle gehört – deutliche Bedenken. In meiner Antwort auf einzig und allein um parteipolitischen Profit. Wir wis- die Zwischenfrage habe ich zu erkennen gegeben, dass sen: Das ist leider oft üblich. Aber bei Ihnen mischt sich (B) (D) sie nur in Teilbereichen, aber nicht in allen wesentlichen in diese Parteitaktik ein Gipfel an Heuchelei und Verlo- Punkten ausgeräumt sind. genheit. (Jürgen Koppelin [FDP]: Aha!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP) Diese Bedenken stießen auf viel Zuspruch. Bemer- kenswerterweise gab es entsprechende Stimmen nicht Ich denke, auch bei der Union wächst die Erleichte- nur aus dem Bereich der unabhängigen Forschung, son- rung darüber, dass der sicherheitspolitische Sprecher ei- dern auch von etlichen sehr einsatzerfahrenen hohen Of- ner solchen Fraktion nicht zum Wehrbeauftragten ge- fizieren. Gleichzeitig mussten wir sehr nüchtern feststel- wählt wurde. len, dass wir uns mit unseren Argumenten nicht durchsetzen konnten. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir konnten uns nicht beim Verteidigungsminister und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Und durchsetzen, der sich in dieser Frage gegenüber der trotzdem hätten wir zusammen mit den Grü- NATO in einem Bereich schon etwas deutlicher festge- nen eine Mehrheit! – Jürgen Koppelin [FDP]: legt hatte, in dem die Bundesrepublik traditionell beson- Jetzt könnten wir ablehnen!) dere Beiträge im Bündnis leistet. Diese Tatsache kann man nicht beiseite wischen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir konnten uns mit unseren Argumenten auch nicht Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. bei unserem größeren Koalitionspartner durchsetzen. Diese Vorgänge passieren innerhalb von Koalitionen im- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): mer wieder. Weil man aber in einer Koalition gemeinsam agieren will und muss, haben wir in dieser Situation trotz Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- unserer Bedenken zugestimmt. ren! Wir als PDS begrüßen die Initiative der FDP, die Debatte um das Luftabwehrsystem MEADS hier in das Es bleibt aber Folgendes: Plenum des Bundestages und damit in die Öffentlichkeit zu bringen. Erstens. Die haushalterische Kontrolle wird in den nächsten Jahren streng fortgesetzt. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Zweitens. Diese Entscheidung ist kein Präjudiz für Ebenso wie die FDP lehnen wir die deutsche Beteiligung eine Beschaffung. an einem völlig überflüssigen Rüstungsprojekt ab. Der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16289

Dr. Gesine Lötzsch (A) Kalte Krieg ist schon seit 15 Jahren beendet. Bundes- Leider müssen die Schülerinnen und Schüler auf der (C) wehr, US-Armee und etliche in diesem Haus scheinen Tribüne jetzt gehen. Ich sage ihnen aber noch: Derje- das aber nicht wahrhaben zu wollen. Während bei sozial- nige, der hier immer sehr heftig dazwischenruft und aus- politischen Diskussionen ständig erklärt wird, dass die weislich des Protokolls von heute seine Worte in einem Staatskasse leer sei, soll hier ein Projekt beschlossen Zwischenruf mit „Scheiße“ garniert hat, ist ein Lehrer. werden, dessen finanzielle Auswirkungen noch völlig Ich hoffe, Sie haben andere Lehrer! unübersehbar sind. Die Bundesrepublik Deutschland würde sich über viele Jahre und weit über die Legislatur- Vielen Dank. periode hinaus binden. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Hier bin ich bei einem Punkt, den ich der SPD beson- ders übel nehme. In der Diskussion im Haushaltsaus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schuss insistierte der Staatssekretär von der SPD, dass Das Wort hat der Kollege Jürgen Herrmann von der hier nur etwas fortgesetzt werde, was schon die CDU/ CDU/CSU-Fraktion. CSU-FDP-Koalition begonnen habe. Haben Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, denn die Regierung Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Kohl abgelöst, um deren Politik fortzusetzen? Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Zuruf von der CDU/CSU: Der Versuch ist ge- Herren! Die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Bodenge- scheitert!) bundene Luftverteidigung“ hatten im Vorfeld der par- lamentarischen Beratungen die Gelegenheit, sich mit Den Wählern haben Sie etwas anderes gesagt. den Szenarien der künftigen bodengebundenen Luftver- Gestern haben wir über neue Maßnahmen für die Ver- teidigung zu beschäftigen. Diese interfraktionelle Ar- kehrsinfrastruktur beraten. Ich habe Ihnen vorgerechnet, beitsgruppe wurde auf Beschluss des Verteidigungsaus- dass Minister Stolpe mit 2 Milliarden Euro 60 000 Arbeits- schusses eingerichtet, um dem Parlament eine möglichst plätze sichern will. Das sind pro Arbeitsplatz rund sachgerechte Entscheidungsfindung zu erleichtern. 30 000 Euro. Das ist ein gutes Verhältnis. Bei dem neuen Unbeeinflusst von allen äußeren Einflüssen haben wir Luftabwehrsystem MEADS sollen mit 2,85 Milliarden uns mit dem gesamten Spektrum der Szenarien ausgie- Euro lediglich 450 Arbeitsplätze gesichert werden. Das big beschäftigt. Das Ergebnis haben wir dokumentiert heißt, für einen Arbeitsplatz werden rund 7 Millionen und anhand eines Abschlussberichts allen Kollegen zur Euro gebraucht. Auf Ihre Frage von vorhin, Frau Aigner, Verfügung gestellt. Das Ergebnis war eine eindeutige möchte ich antworten: Das bezieht sich natürlich auf die Empfehlung für das System MEADS, die von Vertretern Gesamtdauer der Maßnahme. (B) aller Parteien angenommen und unterstützt wurde. Die- (D) (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Wie lange ist die?) sen Umstand betone ich an dieser Stelle besonders, da er nicht die Regel ist. Das ist, wie ich finde, ein krasses Missverhältnis. Daher ist es für mich heute unverständlich, dass die Außerdem sollen – das wissen Sie alle – die Verträge ungerechtfertigte Kritik am Arbeitsergebnis nicht umge- nach amerikanischem Recht geschlossen werden. Die hend nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts US-amerikanischen Partner wollen sich nicht in die tech- geübt wurde. Die Kritik kam erst Monate später auf, als nologischen Karten schauen lassen. Auch technologie- die entscheidende Abstimmungsphase näher rückte. politisch wird Deutschland nicht davon profitieren. Interessierte Kreise haben ohne die erforderliche Diffe- Sollte es uns nicht zu denken geben, dass Frankreich renzierung und ohne Rücksicht auf jegliche wissen- schon vor einiger Zeit aus diesem Projekt ausgestiegen schaftliche Methodik eine Diskussion entfacht, die of- ist? fensichtlich das Projekt MEADS nur zum Vorwand Abschließend noch ein Wort zu den Grünen: Sie ha- nahm, um ganz andere politische Ziele zu verfolgen. ben im Ausschuss erklärt – Herr Nachtwei hat das hier Als Vertreter der Union waren wir immer darum be- zwar mit anderen Worten, aber von der Sache her ge- müht, eine sachliche Diskussion zu führen und in dieser nauso dargestellt –, dass Sie dem Luftabwehrsystem außen- und sicherheitspolitisch besonders relevanten MEADS nicht aus fachpolitischen, sondern aus koali- Frage alle parteitaktischen Überlegungen hinter den not- tionspolitischen Gründen zustimmen werden. Was ist wendigen Konsens über die Gestaltung der erforderli- von Ihren friedenspolitischen Zielen, die Sie so gerne chen Außen- und Sicherheitspolitik zurückzustellen. vor sich hertragen, übrig geblieben? Umso mehr verwundert es mich, dass wir heute erneut (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] so- eine längst geführte Diskussion wiederholen. Der dieser wie bei der FDP – Jürgen Koppelin [FDP]: Studie zugrunde liegende Sachverhalt – die Notwendig- Frau Claudia Roth!) keit einer integrierten bodengebundenen Luftverteidi- gung im Rahmen eines europäischen und transatlanti- Hätten Sie Ihre Seele zumindest an dieser Stelle nicht ein schen Gesamtkonzepts – ist weiterhin unverändert. bisschen teurer verkaufen sollen? Wir als PDS im Bundestag stimmen dem Antrag der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: FDP zu und hoffen, dass es noch gelingen wird, dieses Herr Kollege Herrmann, erlauben Sie eine Zwischen- teure und verantwortungslose Projekt zu stoppen. frage des Kollegen Koppelin? 16290 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

(A) Jürgen Herrmann (CDU/CSU): legte Sicherheitspolitik eine notwendige Voraussetzung (C) Bitte. für erfolgreiche humanitäre Einsätze. (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Koppelin. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt daher konsequent die notwendigen sicherheitspolitischen Rahmenbedin- gungen für die konkreten Hilfsmaßnahmen in den Jürgen Koppelin (FDP): Brennpunkten der Welt und ist auch bereit, die Konse- Herr Kollege, sind Sie wirklich der Auffassung, dass quenzen, die sich aus dem Projekt ergeben, mitzutragen. man einem Rüstungsprojekt zustimmen kann, zu dem der Bundesfinanzminister und der Bundesverteidigungs- Ich komme auf die Zahlen zurück, die ich schon im minister bis heute nicht angeben können, welche Kosten Zwiegespräch mit Herrn Koppelin genannt habe. Das bei seiner Umsetzung anfallen werden? Wenn Sie sich Gesamtvolumen der Entwicklung beträgt circa 3,4 Mil- damit beschäftigt haben – davon gehe ich aus –, dann liarden Dollar. Der deutsche Industrieanteil hieran ent- wissen Sie sicherlich, dass das Finanzministerium bzw. spricht nach heutigem Stand 850 Millionen Euro. Hinzu das Verteidigungsministerium die gesamten zu erwarten- käme der deutsche Anteil an der Produktion. Für die von den Kosten einschließlich der Entwicklungskosten auf Deutschland anvisierten zwölf Feuereinheiten entsprä- 4 Milliarden bzw. 3,8 Milliarden Euro beziffern. Andere che dies nach heutigem Stand und den Berechnungen Experten sprechen von 10 Milliarden bis 12 Milliar- des Bundesverteidigungsministeriums einem Betrag in den Euro. Lassen Sie uns von 7 Milliarden Euro ausge- Höhe von etwas über 2,8 Milliarden Euro. hen; denn derzeit weiß es niemand genau. Können Sie davon ausgehen, dass das Vorhaben solide ist? Neben der sicherheits- und außenpolitischen Dimen- sion wird das Projekt MEADS allein in der Entwick- lungsphase mehrere Hundert Hightecharbeitsplätze in Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Deutschland mittel- und langfristig sichern. Kernkompe- Ich kann Ihre Zahlen nicht bestätigen. Sie wissen, tenzen in den Bereichen „Systemtechnik“ und „Radar- dass die zu erwartenden Kosten heute noch nicht ab- technologie“ bleiben in Deutschland erhalten. In der an- schließend berechnet werden können. Die Angaben dazu schließenden Produktionsphase werden noch mehr differieren in der Tat erheblich. Entscheidend ist – die Arbeitsplätze geschaffen und auch langfristig gesichert. Kollegin Aigner hat es eben bereits angesprochen –, dass Controllingmechanismen eingebaut werden sollen, da- Mit MEADS wird eine neue Qualität der transatlan- mit die vorgesehenen Ausgaben nicht überschritten wer- tischen Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Basis (B) den. erreicht. Das Thema Technologietransfer wurde – Frau (D) Aigner hat das schon angesprochen – durch das BMVg (Jürgen Koppelin [FDP]: Welche Summe wol- erfolgreich gestaltet. Dies hilft der deutschen Industrie, len Sie nicht überschreiten?) den technologischen Anschluss an die USA zu halten – Das wird sich auch daran festmachen, wie viele Feuer- und die zukünftige Generation von Luftverteidigungs- einheiten wir zum Beispiel anschaffen. Zurzeit sind systemen mitzugestalten. Eine weitere Verzögerung der – darauf werde ich gleich näher eingehen – zwölf Feuer- MEADS-Entscheidung oder gar ein Verzicht auf dieses einheiten geplant. Wenn wir von der alten Konstruktion System hätte fatale Signalwirkung für die transatlanti- mit 24 Feuereinheiten wie bei „Patriot“ ausgehen, dann schen Wirtschaftsbeziehungen und das politische Ver- kämen wir mit diesen Mitteln sicherlich nicht aus. hältnis zwischen Deutschland und Amerika insgesamt. Der Schutz unserer Bevölkerung und der Soldaten darf Auch unabhängige Wissenschaftler wie Professor nicht – wie in den zurückliegenden Wochen geschehen – Karl Kaiser haben die Bedeutung des Systems MEADS durch wahlkampftaktische Fragen, die Frage nach Lis- für die transatlantischen Beziehungen und die Rolle der tenplätzen für die nahende Bundestagswahl oder persön- Bundesrepublik Deutschland in der NATO in vielfälti- liche Empfindlichkeiten einzelner aufs Spiel gesetzt gen Stellungnahmen befürwortet und herausgestellt. Der werden. Schutz unserer Bevölkerung und unserer Soldaten bei Auslandseinsätzen wird mit dem System MEADS erheb- Aufgrund der in der Arbeitsgruppe „bodengebundene lich gesteigert. Luftverteidigung“ parteiübergreifend und einstimmig er- zielten Ergebnisse und der Informationen aus dem Bun- Ich erspare mir an dieser Stelle die ausführliche Er- desverteidigungsministerium fordere ich Sie auf, die im läuterung der systemimmanenten Vorteile wie den Haushalts- und im Verteidigungsausschuss getroffene 360-Grad-Schutz, die Luftverlastbarkeit oder die Plug- Entscheidung zu unterstützen. Vielleicht ist es symbol- and-Fight-Fähigkeit, da dies ausreichend diskutiert und trächtig, dass wir am heutigen Tag dieses Thema als letz- auch eben vom Kollegen Bartels ausführlich erläutert ten Tagesordnungspunkt aufgegriffen haben. Ich hoffe, wurde. dass wir gleich die Akte MEADS im positiven Sinne Sicherheit ist im privaten wie im staatlichen Bereich schließen, damit wir endlich in die Entwicklungsphase nicht umsonst zu haben. Daher unterstützt die CDU/ einsteigen können. CSU-Fraktion die notwendigen Ausgaben zum Schutz Herzlichen Dank. der Bevölkerung und unserer Soldaten im Einsatz. Nicht zuletzt ist eine strategisch und bündnisorientiert ange- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16291

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Stimmen der FDP und der beiden fraktionslosen Abge- (C) Ich schließe die Aussprache. ordneten abgelehnt. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der ordnung. Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5336 mit dem Titel Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- „Keine deutsche Beteiligung an MEADS“. Wer stimmt destages auf Mittwoch, den 11. Mai 2005, 13 Uhr, ein. für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions- Die Sitzung ist geschlossen. fraktionen und der Fraktion der CDU/CSU gegen die (Schluss: 14.58 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005 16293

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Friedensmission der Vereinten Nationen in Su- dan UNMIS (United Nations Mission in Sudan) Liste der entschuldigten Abgeordneten auf Grundlage der Resolution 1590 (2005) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 24. März 2005 (Tagesordnungspunkt 17) entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Da es Dominke, Vera CDU/CSU 22.04.2005 sich nach Aussagen der Bundesregierung bei der deut- schen Beteiligung an der UNMIS-Mission um eine un- Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 22.04.2005 bewaffnete VN-Beobachtermission handelt und da die DIE GRÜNEN Bundesregierung zugesichert hat, bei der Entsendung von Soldaten in die Bürgerkriegsregion Darfur (West- Grill, Kurt-Dieter CDU/CSU 22.04.2005 sudan) den Bundestag zu informieren und ein neues Mandat zu beantragen, stimme ich dem Einsatz unter Gröhe, Hermann CDU/CSU 22.04.2005 diesen Voraussetzungen zu. Heller, Uda Carmen CDU/CSU 22.04.2005 Freia Jürgen Koppelin (FDP): Im Mandatsantrag der Bundesregierung wird das Mandatsgebiet nur unzurei- Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 22.04.2005 chend beschrieben. Eine Ausweitung des Einsatzes von Klaus W. Bundeswehrangehörigen auf weitere Teile des Sudans, neben dem Südsudan, ist nicht auszuschließen. Weiter- Marschewski CDU/CSU 22.04.2005 hin ist aufgrund der Auftragsbeschreibung davon auszu- (Recklinghausen), gehen, dass die Einsatzdauer nicht benannt werden kann Erwin und der Einsatz deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit Pieper, Cornelia FDP 22.04.2005 erheblich länger als geplant sein wird. Dr. Pinkwart, Andreas FDP 22.04.2005 Es ist politisch unverantwortlich, dass Bundesaußen- minister Fischer diplomatische Vertretungen der Bun- (B) Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 22.04.2005 desrepublik Deutschland in Afrika geschlossen, Afrika (D) in nicht zu verantwortender Weise vernachlässigt hat Rühe, Volker CDU/CSU 22.04.2005 und nun dringend deutsche Soldaten nach Afrika schi- cken möchte. Scharping, Rudolf SPD 22.04.2005 Ich verkenne nicht die Gründe, die endlich zum Han- Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 90/ 22.04.2005 deln in der Republik Sudan zwingen. Allerdings wäre es DIE GRÜNEN ebenso notwendig, dass die europäischen Staaten mit dem gleichen Engagement sich dem Problem der Aids- Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 22.04.2005 seuche in Afrika annehmen, die ebenfalls inzwischen zu einem Massensterben geführt hat. Straubinger, Max CDU/CSU 22.04.2005 Ich werde dem Antrag der Bundesregierung nicht zu- Teuchner, Jella SPD 22.04.2005 stimmen. Ich treffe diese Entscheidung auch besonders Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 22.04.2005 in Verantwortung gegenüber den Angehörigen der Bun- DIE GRÜNEN deswehr.

Vogel, Volkmar Uwe CDU/CSU 22.04.2005 Verena Wohlleben (SPD): Ich werde dem Antrag der Bundesregierung heute zustimmen, weil ich den Ein- Weiß (Groß-Gerau), CDU/CSU 22.04.2005 satz der Bundeswehr im Rahmen der VN-Friedensmis- Gerald sion UNMIS als einen wichtigen Beitrag zu einer dauer- Wicklein, Andrea SPD 22.04.2005 haften Stabilisierung der Lage im Sudan grundsätzlich befürworte. Er ist sichtbares Zeichen für das starke poli- Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 22.04.2005 tische Engagement Deutschlands für den Frieden in der Region. Ich habe jedoch große Bedenken, dass die einsatzbe- Anlage 2 dingten Zusatzausgaben für die Beteiligung an der Mis- Erklärungen nach § 31 GO sion UNMIS aus dem Etat des Einzelplans 14 und nicht aus dem des Einzelplans 60 erwirtschaftet werden sol- zur namentlichen Abstimmung über den An- len. Dabei geht es mir nicht um diese spezielle Mission trag: Beteiligung deutscher Streitkräfte an der und die durch sie entstehenden relativ geringen Kosten, 16294 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. April 2005

(A) sondern grundsätzlich um die Belastung des Einzel- Auswärtiger Ausschuss (C) plans 14 mit Zusatzausgaben durch weitere internatio- Drucksache 15/4911 Nr. 2.2 nale Einsätze. Denn diese Zusatzausgaben sind unter Drucksache 15/4911 Nr. 2.3 anderem mit dafür verantwortlich, dass die Beschaf- Drucksache 15/4911 Nr. 2.4 Drucksache 15/4911 Nr. 2.5 fung von dringend benötigtem Material für den Schutz Drucksache 15/4911 Nr. 2.6 der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz immer häufi- Drucksache 15/4911 Nr. 2.7 ger verschoben werden muss. So hat sich beispiels- Drucksache 15/4911 Nr. 2.8 weise die Beschaffung von Allschutz-Transport-Fahr- Drucksache 15/4911 Nr. 2.13 Drucksache 15/4911 Nr. 2.29 zeugen DINGO 2 im Rahmen des einsatzbedingten Drucksache 15/4969 Nr. 1.10 Sofortbedarfs um ein Jahr verzögert, weil keine Mittel zur Verfügung standen. Der Schutz der Soldatinnen und Soldaten und ihre Ausstattung mit dem dazu notwendi- Innenausschuss gen Material sollte meines Erachtens jedoch absoluten Drucksache 15/4705 Nr. 2.2 Vorrang haben.

Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Anlage 3 Drucksache 15/4969 Nr. 1.17 Amtliche Mitteilung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Union mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Drucksache 15/3546 Nr. 2.11 Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Drucksache 15/3779 Nr. 1.79 Drucksache 15/3779 Nr. 1.86 Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Drucksache 15/4213 Nr. 2.23 tung abgesehen hat. Drucksache 15/4969 Nr. 1.7

(B) (D)

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