Repositorium für die Medienwissenschaft

Donald Crafton Zeichentrick-Schauspieler 2013 https://doi.org/10.25969/mediarep/442

Veröffentlichungsversion / published version Zeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Crafton, Donald: Zeichentrick-Schauspieler. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Jg. 22 (2013), Nr. 2, S. 151–173. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/442.

Erstmalig hier erschienen / Initial publication here: https://www.montage-av.de/pdf/222_2013/222_2013_Donald_Crafton_Zeichentrick-Schauspieler.pdf

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Donald Crafton

Ich möchte mich in diesem Aufsatz mit einer Frage auseinandersetzen, die manchen Lesern trivial oder gar unsinnig erscheinen mag: Gibt es in Zeichentrickfilmen schauspielerische Darbietungen? Und hieran anschließend: Sind solche Trickfiguren Schauspieler? Skeptikern, die beide Fragen ohne zu zögern und ihrer Intuition folgend mit «nein» beantworten, sei dies verziehen. Ich hoffe jedoch, sie nicht nur davon überzeugen zu können, dass der Animationsfilm zu den darstellenden Künsten gehört, sondern auch davon, dass seine dramatis personae Dar- steller sind. Eine der erfolgreichsten Zeichentrickfiguren aller Zeiten war Betty Boop, ein Geschöpf des Fleischer-Studios aus den 1930er Jahren. Ob man sie mag oder nicht, man wird kaum bestreiten können, dass Betty eine ausgeprägte Persönlichkeit hat. Ihre Filme üben einen unwider- stehlichen Reiz aus, ganz besonders die der Jahre vor 1934, bevor der Production Code in Kraft trat. Es ist schwer, auf diese gezeichnete Fi- gur nicht wie auf ein quicklebendiges weibliches Wesen zu reagieren, trotz ihres übergroßen Kopfes, ihrer Pausbacken und des absurd klei- nen Kussmündchens. Wenn sie spielt, ist sie geschmeidig und redselig, und sie weiß, wie es in der Welt zugeht. Und doch verkörpert sie die Unschuld der «kleinen Ladenmädchen». Man würde sie gerne besser kennenlernen, mit ihr befreundet sein, vielleicht sogar mehr. Eine klei- ne Olympia.

* Der vorliegende Artikel basiert auf dem ersten Kapitel von Donald Craftons Buch Shadow of a Mouse: Performance, Belief, and World-Making in Animation [(c) 2013, by the Regents of the University of California. Eine Veröffentlichung der University of California Press]. Die Redaktion dankt dem Verlag für die freundliche Genehmi- gung zur Übersetzung. 152 montage AV 22 /2 / 2013

Für den Animator, Drehbuchautor und Regisseur Brad Bird (The Incredibles [Die Unglaublichen], USA 2004; Ratatouille, USA 2007) ist es eine ausgemachte Sache, dass Zeichentrickfiguren Rollen verkörpern. «Was typischerweise in Diskussionen über das Animati- onskino übersehen wird, ist die Tatsache, dass man dort schauspieleri- sche Auftritte zu sehen bekommt, die einem der Animator darbietet», so schreibt er (Bird 2000, vi). Trickfiguren (ob Betty oder Mr. Incre- dible) sind Darsteller, die starke Gefühle ausdrücken können, und die Zuschauer reagieren auf ihr Spiel.

Wenn eine Trickfigur uns zum Lachen oder Weinen bringt, wenn wir Angst, Ärger, Mitgefühl oder eine Million anderer Emotionen empfinden, so ist dies zum größten Teil Resultat der Arbeit der Animatoren, dieser oft vergessenen Künstler, die viel von sich selbst in die Gestaltung jener unver- gesslichen Momente legen (ibid.).

Diese Überlegungen sind leicht zu verstehen, doch die Auftritte der Animationsfiguren sind alles andere als einfach. Die Stars des Trick- films rivalisieren mit menschlichen Stars hinsichtlich ihrer Berühmt- heit und der Begeisterung ihrer Fans. Wie die menschlichen Lein- wandgrößen evozieren auch sie ein Gefühl lebendiger Präsenz, sowohl während als auch nach dem Filmerlebnis. Die Kulissen, Landschaften und Bühnen, die sie bevölkern, sind fiktionale Welten, an deren Exis- tenz wir gerne glauben, auch wenn wir wissen, dass es sich um Fanta- siegebilde handelt. Zugegeben, dass wir Trickfilmgestalten wie Betty, Mickey Mouse, Popeye oder Homer Simpson so umstandslos als Darsteller anerkennen sollen, ist kontraintuitiv. Doch obwohl für sie nichts zu abwegig oder zu unnatürlich ist, erscheinen sie genauso plausibel und normal wie andere Schauspieler. Nur sind sie eben Animationsfiguren. Sobald ich sie sehe, erfasst mich die Freude des Wiedererkennens und ich spüre ihre Präsenz. Sie sind einerseits Zeichnungen, andrerseits jedoch Film- und Fernsehstars, und diese Dissonanz ist grundlegend. Doch wie ist es überhaupt möglich, dass unbelebte Zeichnungen und Objekte zu handeln vermögen und etwas vorführen können?

Zunächst ist festzuhalten, dass Brad Birds Bemerkungen sich auf zwei verschiedene Aspekte des Darstellens beziehen. Das Verhalten, das Tun, die Expressivität der Darsteller sowie das dramatische Geschehen, der Erzählfluss, die Intrige und das Ambiente konstituieren die Darstellung innerhalb der Animation. Es handelt sich dabei um all das, was wir bei der Zeichentrick-Schauspieler 153

Vorführung zu sehen bekommen. Betty tritt innerhalb der Animation auf, wenn sie sich bewegt, handelt und Hula-Hoop tanzt. Diese Darstel- lung ist hauptsächlich audiovisuell, die Aufführung eines Ereignisses in einer in sich geschlossenen diegetischen Welt. Im Animationsfilm be- ginnt die Performanz, sobald sich die Zeichnungen, Knetfiguren oder was auch immer bewegen. Bird verweist auf die emotionalen Reaktionen der Zuschauer, wel- che die Performanz der Figuren gewissermaßen in Echtzeit erleben, während sie den Film sehen. Doch er nennt auch die Arbeit der Anima- toren selbst, also das Darstellen der Animation. Es handelt sich um einen sich kontinuierlich entfaltenden Prozess, der schon beginnt, bevor der Film aufgenommen wird, und auch nach der ersten Vorstellung noch anhält. Was nämlich auf der Leinwand geschieht, ist noch nicht alles. Ich möchte daher Birds Definition präzisieren, indem ich von einem kondi- tionalen Darstellen spreche, das nur unter der Bedingung wirksam wird, dass der Film vollendet und den Zuschauern gezeigt wird. Hinsichtlich der Trickfilm-Stars bemerkte Alexander Sesonske zu Recht:

[...] [W]eder diese lebhaften Figuren noch ihre Handlungen hat es jemals gegeben, bevor sie auf die Leinwand projiziert wurden. Ihre Welt existiert nur im Jetzt, im Moment der Vorführung, und wenn wir fragen, ob diese Welt sich in irgendeiner Hinsicht von unserer Wirklichkeit unterscheidet, so ist die Antwort: «Ja, in jeder.» [...] Hier gibt es keine Vergangenheit, in der die Ereignisse tatsächlich oder auch nur angeblich stattgefunden haben – auch nicht zu der Zeit, als die Zeichnungen hergestellt und fotografiert wurden. Die Welt, die ich [...] auf der Leinwand sehe, gab es damals noch gar nicht. Sie existiert nur jetzt, während ich sie sehe. Aber ich kann sie nicht betreten, nicht zu den animierten Wesen gelangen, denn die Wahrnehmung ist unser einziger Zugang zu ihrem Raum (Sesonske zit. in Cavell 1979, 167f).

In Birds Konzept des Darstellens ist eine grundlegende Ironie, ein doppeltes Verständnis enthalten, und für die traditionelle Schauspie- lertheorie des Theaters ist ja in der Tat die dramatische Ironie Basis jeder Darstellung. Im Spiel sind die Schauspieler nicht sie selbst, sondern Figuren, an deren Existenz man glaubt. Doch der Bühnen-Hamlet ei- ner studentischen Aufführung ist ja zugleich der Schauspielschüler von nebenan. In einem zeitweiligen ästhetischen Vergessen stellen sich die Zuschauer vor, dass sie die Charaktere sehen und nicht die Schauspie- ler, deren Körper hinter ihrer Rolle verschwinden. Das ist zwar wider- sprüchlich, aber weder verwirrend noch beängstigend. Die Zuschauer sind gewissermaßen an zwei Orten zugleich, innerhalb und außerhalb 154 montage AV 22 /2 / 2013

der Fiktion. Wir sehen, dass Betty Boop sich verhält wie ein reales menschliches Wesen und uns verzaubert. Wir wissen aber auch, dass sie anders ist als eine reale Schauspielerin, obwohl ihr selbst nicht bewusst zu sein scheint, dass sie kein Mensch ist. Disneys Animatoren haben Mickey Mouse und andere Figuren oft wie wirkliche Lebewesen beschrieben. Ein Memo aus dem Jahr 1935 stellt eine Frage, die das Studio damals beschäftigte: «Was macht ei- gentlich eine Persönlichkeit aus?» Ein Abteilungsleiter, dessen Name nicht überliefert ist, kam zu dem Schluss, dass Tiere und Gegenstände vermenschlicht werden müssen, um zu Persönlichkeiten zu werden, und zwar nicht nur in physischer, sondern auch in mentaler Hinsicht. Er klingt fast wie der sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein, der das Studio damals besucht hatte, wenn er bemerkt: «Ein unvergesslicher Schock entsteht aus der Verbindung des Fantastischen und Unmöglichen mit dem Glaubhaften.»1 Offensichtlich rang man mit dem Problem, den Figuren Glaubwürdigkeit zu verleihen, ohne dass sie ihren Zeichen- trick-Charme verloren. Der vielleicht erstaunlichste Aspekt der Beobachtungen Birds be- trifft die persönliche Anteilnahme der Zuschauer, also ihr sowohl psy- chisches als auch ethisches Sich-Einlassen auf die Darstellung. Auf wel- che Weise fließen die Gefühle der Animatoren in die Gestaltung ein, so dass man sie später nachvollziehen und ihrerseits empfinden kann? Was Bird beschreibt, scheint auf den ersten Blick in den Bereich des Darstellens zu fallen – aber ist dem tatsächlich so? Ein Handbuch der Performance Studies bietet die folgende Definiti- on an: «Ein dargestelltes Ereignis bedarf eines Darstellers, eines Texts, eines Publikums und eines Kontexts. Die Grundlage einer jeden Defi- nition des Darstellers ist der menschliche Darsteller, dessen Werkzeug sein Körper ist» (Stern/Henderson 1993, 16). Einer anderen Defini- tion zufolge ist die Darstellung «eine Tätigkeit, die von einem Indivi- duum oder einer Gruppe von und für ein anderes Individuum oder eine Gruppe ausgeübt wird» (Schechner 2006, 22). Ein weiterer Perfor- mance-Experte überlegt, was das Wesen der darstellenden Künste aus- macht: «Eine Antwort würde wohl beinhalten, dass diese Kunstformen die physische Anwesenheit von entsprechend ausgebildeten oder er- fahrenen Menschen erfordern und die Darstellung darin besteht, dass sie ihre Fähigkeiten vorführen» (Carlson 2004, 2f). Verflixt!

1 «What Makes and Breaks Personality: Measured by the Impression of a Spectator», Studios Memorandum, 13. September 1935 (Herv. i. O.). Zeichentrick-Schauspieler 155

Eine Festlegung darauf, dass das Darstellen einen menschlichen Kör- per voraussetzt, der sich im selben Raum befindet wie das Publikum, erstickt schon im Keim die Möglichkeit, dass Trickcharaktere, die aus Zeichnungen, Objekten, Knete oder Pixeln bestehen, wie Schauspieler auftreten. Und doch präsentiert sich Betty Boop wie eine menschliche Schauspielerin. Ganz gewiss führt sie uns, dem Publikum, «Texte» vor, und dies in einem spezifischen Raum und einer spezifischen Zeit, in einem Kontext. Niemand kann leugnen, dass sie über darstellerische Fähigkeiten verfügt und ihren Körper als Werkzeug einsetzt. Schade nur, dass sie ein Toon ist, um die treffende Bezeichnung für die Zei- chentrick-Figuren in ? (Falsches Spiel mit Roger Rabbit, Robert Zemeckis, USA 1988) zu verwenden.2 Sind Toons Menschen? Nein, denn sie haben keinen biologischen Körper, sind nicht von unserer Welt, wir können sie weder anfassen noch mit ihnen interagieren; und in vielen Fällen haben sie gar keine menschliche Gestalt. Sie sind fiktional, wie Kapitän Ahab, der Protago- nist von Herman Melvilles klassischem Roman Moby Dick von 1891. Ja, wenn ‹menschlich› eine Metapher, eine Haltung, eine Vorstellung oder eine kognitive Kategorie meint, deren Abgrenzung von Defini- tionen abhängt sowie von den Funktionen, die wir als ‹menschlich› anerkennen. Natürlich ist Ahab ein Mensch und der Wal nicht. Doch im Roman wird Moby Dick, als Ahabs Gegenspieler, so wahrgenom- men, als habe er menschliche Empfindungen und Verhaltensweisen. Als Leser rechnen wir den fiktionalen Ahab ohne weiteres zu den Men- schen, anthropomorphisieren aber auch den rachsüchtigen Wal, wenn wir ihm Attribute wie Boshaftigkeit oder Blutdurst zuschreiben, oder auch schon, wenn wir akzeptieren, dass er einen Namen trägt. Hieraus können wir schließen, dass die Gleichsetzung von ‹Kör- per› und ‹physischem Menschsein› zu eng gefasst ist. Toons wie Do- nald Duck, der mehr Mensch ist als Ente, oder auch unsere Haustie- re, die vielen von uns eher wie Personen vorkommen, verfügen über eine ausgemachte Persönlichkeit und das Potenzial, etwas vorzuführen, auch wenn sie biologisch keine Menschen sind. Wenn wir bewegte Li- nien, farbige Formen, Knetklumpen, Sandhaufen, mit Fell überzoge- ne Puppen und sogar simple geometrische Figuren auf der Leinwand als Trickfilm-Körper sehen, die etwas schauspielerisch darstellen, dann

2 Der Begriff Toon als Bezeichnung der im Zeichentrickfilm Auftretenden entstammt der Vorlage für den Film Who Censored Roger Rabbit von Gary K. Wolf (New York: St. Martin’s Press 1981). Die Darstellung dieser marginalisierten und abgesondert lebenden Wesen in Roman wie Film spielt auch auf die Rassentrennung an. Vgl. Ohmer 1988. 156 montage AV 22 /2 / 2013

wissen wir, dass sie keine Lebewesen sind und keine menschliche Ge- stalt besitzen. Und dennoch sind sie Teil unserer Lebenswelt.3 Der Auftritt im Animationsfilm entspricht dem Auftritt im Real- film. Die Trickfilmdarstellung ereignet sich im tatsächlichen Raum/ Zeit-Gefüge der Vorführung, doch das konditionale Darstellen der Ani- mation ist ein mehrschichtiges Phänomen, in dem Imagination und Material in einem gemeinsamen Raum zusammentreffen, der von den Animatoren sozusagen geschrieben und von den Zuschauern gelesen wird. Ich möchte diese Zone der Fantasie und Faszination das Tooniver- sum nennen. Paradoxerweise werden wir hineingesogen und gleichzei- tig daraus ausgeschlossen, weil es seine Konstruiertheit so nachdrück- lich zur Schau stellt und damit seine Existenz sowohl manifestiert als auch verleugnet. Kein einzelner Bestandteil des Systems (Trickfilm- studios, Vertrieb und Publikum) hat die alleinige Kontrolle über diese Leinwandwelt, die anderen ephemeren Bereichen in Kunst und Kultur ähnelt, so dem Theater, der Literatur und anderen auditiven oder visu- ellen Erfahrungen. Das Tooniversum ist eine kollaborative Konstruktion, da es von den Filmemachern, den Toons und den Zuschauern gemein- sam zum Leben erweckt und bewohnt wird. Obwohl jeder Form der Animation dramatische Ironie zugrunde liegt, gibt es doch unterschiedliche künstlerische Herangehensweisen. Bird ist ein Vertreter der Richtung, die ich verkörperndes Spiel [embodied acting] nennen möchte.* Diesen Ansatz, der rasch ältere Stilformen ver- drängte, soll Disney erfunden haben. Dabei übte auch die Lehre Sta- nislawskis großen Einfluss aus, die in den 1950er Jahren auf der Bühne und im Film als the Method bekannt wurde. Das verkörpernde Spiel

3 David Surman betont, dass derartige theoretische Welten auf grundlegenden Wirk- lichkeiten aufbauen: «In der ‹Welt› eines Romans, eines Films oder einer Aufführung zu sein verweist auf eine Erfahrung, die starke Ähnlichkeit mit der Erfahrung unserer wirklichen Welt aufweist; eine Erfahrung, die immersiv und allumfassend ist, ohne re- flexive Brechungen, die den ganzheitlichen Effekt zerstören würden. Eine fiktionale Welt ist somit einerseits ein realistischer Diskurs, denn es geht um die Konstruktion eines natürlich scheinenden Raums, welche die Voraussetzung darstellt für all die be- merkenswerten Dinge, die dort geschehen, dessen Konstruiertheit aber vom Rezipi- enten verleugnet wird. Gleichzeitig jedoch kann man über die Ränder dieser Welt hinausschauen und feststellen, dass sich auch außerhalb der verkapselten, eigentlichen Erzählung etwas im noch umfassenderen ‹Handlungsraum› ereignet» (2006, 154). * [Anm.d.Ü.:] «Embodied acting» lässt sich schwer übersetzen. Da «embodied» in der deutschen Stanislawski-Ausgabe mit «verkörpernd» wiedergegeben wird, ist es sinn- voll, bei diesem Ausdruck zu bleiben, auch wenn er nicht hinreichend auf den Un- terschied zum «schematischen Spiel» verweist. Bei Stanislawski geht es darum, dass die Schauspieler die Gefühle, die ihre Rolle erfordert, in sich selbst hervorrufen, so dass die inneren Vorgänge sich im Äußeren spiegeln. Es ist kein mimetisches oder Zeichentrick-Schauspieler 157 ist bis heute im Animationsfilm dominant. Birds eigene Werke sind ein wichtiges Beispiel dafür. Einen anderen Ansatz bildet das schema- tische Spiel [figurative acting], dessen Repräsentanten zum Beispiel Felix the Cat, die MGM-Figuren Tom und Jerry oder die Charaktere der Ice-Age-Filme (Denis Leary/John Leguizamo u.a., USA 2002–2012) sind. Heute findet man das schematische Spiel in japanischen anime, in Trickfilm-Serien im Fernsehen wieBeavis and Butthead, The Sim- psons oder South Park sowie in zahlreichen Online-Produktionen.

Das schematische Spiel: Lustige Zeichnungen Schematisches Darstellen ist extrovertiert. Die Figuren sind erkennbar Typen, die ein beschränktes Repertoire an leicht verständlichen mi- misch-gestischen Ausdrucksformen vorführen. Von einem Film zum nächsten bieten sie immer wieder ihre charakteristischen Bewegungen und Gags dar. Sie lösen bisweilen Überraschungen und Schockeffek- te, meist jedoch Gelächter aus, während sie die von witzigen Situati- onen geprägte Handlung vorantreiben. Wir freuen uns an ihnen wie an Clowns oder Slapstick-Figuren mit ihrem je eigenen und zugleich vertrauten Stil. James Naremore (1988, 17) würde wohl zustimmen, dass das schematisches Spiel «ostensiv» ist – die Darsteller präsentieren Charaktere, indem sie sich zur Schau stellen. Auch in formaler Hin- sicht handelt es sich um regelrechte Darbietungen, denn die Figuren wenden sich oft frontal zum Publikum hin und führen ihr Können vor, gerade so, als gäben sie eine Nummer zum Besten oder tanzten in einer Revue. Zeichentrickfiguren drücken Gedanken und Emotio- nen durch konventionelle Gesten oder Verformungen des Körpers aus, zum Beispiel durch Strecken oder Stauchen. Manchmal tun sie so, als befänden sie sich tatsächlich vor einem Publikum, indem sie zur ‹Ka- mera› hin Zeichen geben, sprechen oder singen. Diese Darstellungs- weise erinnert die Zuschauer an die Konstruiertheit der Toons und arbeitet somit gegen Identifikation und Empathie mit ihnen an, dem erklärten Ziel des verkörpernden Spiels. Die Dynamik der schemati- schen Darstellung resultiert geradezu aus dieser Anti-Identifikations- ästhetik. Von Brecht beeinflusste Schauspieltheoretiker oder Filmtheo-

auf Konvention beruhendes Verhalten, sondern eine tatsächliche Entwicklung von Gefühl, indem die Schauspieler sich an eigene Lebenssituationen erinnern oder sich vorstellen, ähnliche Situationen selbst zu erleben. Im Animationsfilm liegen die Din- ge natürlich anders, weil die Zeichentrickfiguren nichts aus sich selbst entwickeln, sondern aus der Erfahrung ihrer Animatoren gespeist sind. Vgl. auch die Fußnote 5 weiter unten. 158 montage AV 22 /2 / 2013

retiker, die sich an Eisenstein und Bresson orientieren, plädieren für ei- nen Darstellungsstil, der in dieser Weise extrovertiert ist. Insbesondere Eisenstein war begeistert von der reflexiven und beweglichen Darstel- lungsweise in den Trickfilmen und schwärmte von dem «protoplasma- tischen» Schwarzweiß-Mickey, der immer in Bewegung ist und sein Aussehen verändert wie eine Amöbe:

[H]ier bewegt sich ein gezeichnetes Wesen, das eine bestimmte Form und ein bestimmtes Antlitz erlangt hat, wie Protoplasma, das noch keine stabi- le Form besitzt und jede, ja alle Formen der animalischen Existenz auf der Stufenleiter der Entwicklung annehmen kann (Eisenstein 2011, 15).

In den 1930er Jahren waren Mickey Mouse, Betty Boop, Popeye, und Farmer Al Falfa die bekanntesten Animationsdarsteller. Bosko, von Hugh Harman und Rudolf Ising für Schlesinger erschaffen, und der von Rudolf Lantz für Universal entworfene Oswald vervollständigten das Feld. Alle wurden durch ihr schematisches Spiel zu Trickfilmstars. Auch Disney pflegte diese Tradition, bevor er sich dann dagegen wand- te. Die meisten Darbietungen in solchen Filmen ähneln Gags, wie man sie auch in Comic Strips, Slapstickfilmen oder live auf der Vaudeville- Bühne sehen konnte. Bei dieser Form der Darstellung sind Empathie und Emotion weniger wichtig als Direktheit, Überraschung, visuelle Gags und schlagfertige Antworten. Während es gerade um die Kör- perlichkeit der Darsteller ging, hielten es wohl weder die Animatoren noch das Publikum für nötig, dabei ins Innere der Toons vorzudringen. Nicht, dass das Spiel im schematischen Modus bar aller Emotio- nalität wäre – doch die Ausdrucksmittel, die hier eingesetzt werden, sind schlicht andere. Betty Boop bietet zum Beispiel eine interessan- te Mischung von schematischem und verkörperndem Stil. Sie besitzt zwar keinen ausgearbeiteten Charakter, hat jedoch Individualität, ei- nen persönlichen Hintergrund und durchaus auch Handlungsmacht. Selbst sehr konventionelle Darstellungen können ja noch Gefüh- le durch maskenhafte Mimik oder Gestik vermitteln. Als Zuschauer kann ich Betty ohne weiteres dem Typus der koketten jungen Frau zuordnen, wie ihn etwa Colleen Moore, Clara Bow, Marilyn Monroe, Cameron Diaz und Reese Witherspoon repräsentieren, oder dem Ty- pus des Showgirls wie Lady Gaga. Bettys Spiel enthält allerdings nur wenige Züge des verkörpernden Stils: Ihre Bewegungen, ihre Gestik und Mimik sind vielmehr formelhaft, sie besitzt keine Innerlichkeit, und wir fühlen uns nicht in ihr Denken ein. Vielleicht sind wir uns auch bewusst, dass sie ein Markenprodukt ist. Doch ihre Auftritte ver- Zeichentrick-Schauspieler 159 mitteln uns das Gefühl, es mit einem außergewöhnlichen Individuum zu tun zu haben. Bettys Status als Star ergibt sich zum Teil daraus, dass sie zusammen mit Hollywood-Größen wie Maurice Chevalier auftritt. Sie wird zu einer ‹Star-Erscheinung›, indem sie das Charisma des Berühmtseins in ihr Tooniversum importiert. Ihre Persönlichkeit ist eine Mischung aus verschiedenen Details, die sie sich angeeignet hat: eher eine Ansamm- lung erborgter Charakterzüge als der komplexe Ausdruck innerer An- triebskräfte und Motive. Als Figur fehlt ihr ein innerer Kern von Emo- tion und Ausdruckskraft. Sie ist das Produkt der Ausbildung innerhalb des Studios, in dem erfahrene Animatoren die Neulinge in die Stan- dardpraktiken einführten und so Darstellungsformeln weitergaben, die vermittels pantomimischer Gesten, wie sie schon seit hundert Jahren auf der Bühne und in der Malerei verwendet wurden, Charakterzüge zum Ausdruck brachten. Wie im Bühnenmelodram wechseln die Dar- steller von einer Pose zur nächsten und kommunizieren ihre Gedan- ken durch bewährte Mimik und Gestik. Die Zuschauer erfassen die Bedeutung teils intuitiv, teils weil sie die Konventionen kennen. Der Name, der im Zusammenhang dieser formelhaften Herange- hensweise am häufigsten fällt, ist der von François Delsarte (1811– 1871). Es gab viele Versionen seines so genannten Ausdruckssystems in Form von Anleitungen für Sänger, Schauspieler oder Redner.4 Die Illustrationen in diesen Büchern verbanden konventionelle Posen und Gesten mit festen Bedeutungen und stellten ein leicht verfügbares Repertoire an Körper- und Gesichtsausdrücken zur Verfügung. Für Künstler jeglicher Provenienz, aber auch für Stummfilmregisseure wie D.W. Griffith waren Delsartes Posen normativ. Im Zuge der Indust- rialisierung der Trickfilmstudios sorgten «mouth charts» der Toon-Fi- guren sowie Modellblätter, auf denen charakteristische Körperhaltun- gen und Minenspiele katalogisiert waren, für Klarheit und Konsistenz der Darstellung, auch wenn verschiedene Animatoren am Werk waren (vgl. Langer 1991, 9). Statt Zugang zur Psyche der Figur zu geben oder ihre moralische Haltung anzudeuten, arbeitet der schematische Stil mit Wiederho- lung und Bildsymbolik auf der Ebene der Erzählung. Die Zuschauer erwarteten und schätzten die wiederkehrenden, vertrauten Elemen- te und hatten ihren Spaß daran. Die Wiederholungen illustrieren auf reflexive Weise den in diesem Zusammenhang zentralen Begriff der Wieder-Darstellung [re-performance]. Zu diesem Begriff hat mich eine

4 Vgl. die Illustrationen in Stebbins 1887 sowie Brewster/Jacobs 1997, 81f. 160 montage AV 22 /2 / 2013

Bemerkung Richard Schechners inspiriert, der jede Darstellung als «wiedererwecktes Verhalten» [restored behavior] versteht. In seiner Un- tersuchung sozialer Praktiken und Rituale, zu denen auch öffentliche Aufführungen wie Theaterstücke, Performance-Kunst und Filme ge- hören, zieht er eine filmische Analogie heran:

Wiedererwecktes Verhalten ist lebendiges Verhalten, mit dem man ähnlich umgeht wie ein Filmregisseur, wenn er seine Aufnahmen montiert. Die Verhaltenselemente können immer wieder neu angeordnet und neu zu- sammengestellt werden. Sie haben sich von den (sozialen, psychologischen, technischen) Systemen gelöst, denen sie entstammen, und führen nun ein Eigenleben. Die ursprüngliche «Wahrheit» oder «Quelle» solcher Verhal- tensmuster mag unbekannt oder verloren gegangen sein, sie mag nicht be- rücksichtigt oder gar dementiert werden – selbst wenn man sie in anderen Zusammenhängen beachtet und respektiert (Schechner 1987, 35).

Schechners Beobachtung, dass die Verhaltensmuster sich verselbstän- digt haben und willkürlich geworden sind, ist für die schematische Darstellungsweise von großem Belang. Die ständige Wiederkehr be- stimmter Muster hat im Trickfilm eine eigene Relevanz als Wieder- holung in und für sich selbst, unabhängig davon, ob sie die Erzählung vorantreiben. Es sind «Arrangements», also Materialien, die aus ihrem normalen Zusammenhang herausgelöst sind und nun ein früheres Ver- halten oder eine frühere Darstellung zu neuen Zwecken wieder aufle- gen. Dabei betont man ihr Arrangiertsein durch die Kadrierung, durch Markierungen oder auf andere Weise, so dass sie eine spezifische Be- deutung gewinnen (vgl. Schechner 1987, 52). Die Wieder-Darstellung ist bereits in den technischen Grundlagen des Zeichentrickfilms verankert. Die Verwendung der Rotoskopie, ei- ner von den Fleischer-Brüdern patentierten Technik, Realfilmaufnah- men auf cels für Animationsfilme zu übertragen, ist ein anderes Beispiel für ‹wieder-dargestelltes Verhalten› im Sinne Schechners. Eine Form der Darstellung wird in eine andere übertragen, wie Betty Boop’s Rise to Fame (Dave Fleischer, USA 1934) illustriert (Abb. 1): Bet- ty stellt hier erneut die Hula-Szene dar/her, die sie bereits in Betty Boop’s Bamboo Isle (Dave Fleischer, USA 1932) dargeboten hatte. Der Film von 1932 beginnt mit Filmaufnahmen der Tänzerin Miri bei einem Auftritt der Royal-Samoans-Truppe. In einem per Rotoskopie- Verfahren hergestellten Segment übernimmt Betty die Bewegungen der Tänzerin. Die Filmszenen mit Miri und dann Betty sind also medi- ale Wiederauflagen von Miris Bühnennummer, die ihrerseits einen ri- Zeichentrick-Schauspieler 161

1 Betty Boop’s Rise to Fame (Dave Fleischer, USA 1934) tuellen Tanz als Spektakel (und damit als eine Art Enteignung) wieder- darstellt, der für die Ureinwohner Hawaiis religiöse Bedeutung hatte. Gleichzeitig schminkt sich Betty dunkel, um Miri zu ähneln, die- se also wieder-darzustellen, wodurch ihr Tanz auch zu einer Rassen- Maskerade wird. Diese Form der Körperdarstellung nennt David Gra- ver Gruppen-Repräsentanz, und sie ist eindeutig schematisch. Es handelt sich dabei um Körperidentitäten, die von Faktoren abhängen, welche dem Schauspieler äußerlich sind, zum Beispiel mit «Rasse, Klasse oder Geschlecht» zu tun haben, und durch sozio-historische kulturelle Dis- kurse konstruiert werden» (Graver 1997, 226). Bei den vielen Auftrit- ten schwarzgeschminkter Figuren im klassischen Trickfilm wird der Schauspieler-Toon zu einer Rassen-Hieroglyphe, wenn er sich, sei es als Schwarzer oder als Nicht-Schwarzer, als ein ‹Anderer› verkleidet. Bettys Typisierung als Repräsentantin verschiedener weiblicher Aus- prägungen wurde bereits erwähnt. Dabei, so Graver, «ersetzt der sozio- historische Körper die Figur, und solche Aufführungen sind wiederum maßgeblich daran beteiligt, die sozio-historischen Körper zu definie- ren, die sie zur Schau stellen» (ibid., 229). Der Körper, um den es hier geht, ist sogar aus Schichten rotoskopisch wiedererweckten Verhaltens gebildet (vgl. Bouldin 2000, 50ff). Auch die Genreeigenschaften des klassischen Zeichentrickfilms las- sen sich aus dem Konzept der Wieder-Darstellung ableiten. Schechner 162 montage AV 22 /2 / 2013

schreibt, wiedererwecktes Verhalten könne, analog dem unaufhörli- chen Wiederkäuen von Geschichten, Quellen und Aktionen von ei- nem Trickfilm zum anderen

[...] bearbeitet, gespeichert und wieder aufgerufen werden, man kann da- mit spielen, es umwandeln, übermitteln und transformieren. [...] Darstel- lung im Sinne wiedererweckten Verhaltens bedeutet, dass es sich niemals zum ersten, sondern immer schon zum zweiten bis x-ten Mal ereignet: Es ist ein Verhalten zweiter Ordnung (Schechner 2006, 28f).

Die ineinander verschachtelten Darstellungen in Betty Boop’s Rise to Fame belegen, dass es sich nicht um beliebige Szenen handelt, son- dern um rekursive Ereignisse, die nachgestellt werden, um etwas Neu- es entstehen zu lassen. Weil die Wieder-Darstellung per Definition die Wiederaufnahme zweiter Ordnung von vorgängigen Darstellungen ist, gehört sie in den Bereich des Schematischen, wobei sich die einzelnen Komponenten der Konstruktion mehr oder weniger deutlich unterscheiden lassen. Darum schließt das wieder-dargestellte Verhalten das konditionale Darstellen der Animatoren und das den Film betrachtende Publikum immer schon mit ein. Der schematische Stil legt eine Lektüre der Filme nahe, die aufzeigt, wie der Unterbau des industriellen Systems konstitutiv ist für ihre Ma- terialität. Ähnliches gilt für das Wiederaufgreifen sozialer Strukturen und Haltungen wie Patriarchat, Familie und Geschlechteridentität. Der klassische Trickfilm im schematischen Modus behandelte Frau- en als, nun ja, Figuren. Offensichtlich versuchte Disney diesem Sche- matismus zu entrinnen, indem er für Snow White and the Seven Dwarfs (David Hand et al., USA 1937) eine individuelle, expressi- ve Heldin schuf (ironischerweise stammte der ursprüngliche Entwurf von Grim Netwick, dem Schöpfer von Betty Boop). Die spätere Wie- deraufnahme dieses Typus jugendlicher Protagonistinnen ließen dann aber durch Umgestaltung, Überzeichnung und aggressives Marketing gerade das ultimative schematische Weiblichkeitsstereotyp entstehen: die «Disney-Prinzessin». Zeichentrick-Schauspieler 163

Verkörperndes Spiel: Geschichten mit Herz Verkörpernde Animation ist nach innen gerichtet. Es geht dabei um die Philosophie und Praxis der Erschaffung fantasievoll gestalteter Wesen, die über Individualität, Tiefe und innere Komplexität verfü- gen.5 Don Graham, der Gründer der Animationsschule im Disney- Studio, berichtet, dass es ursprünglich, also während der Periode des schematischen Stils im Stummfilm und frühen Tonfilm, darum ging, beim Publikum durch Handlungs- und Toneffekte Lacher auszulösen. Graham zufolge war Minnie in The Barn Dance (Walt Disney, USA 1929) die erste Figur, die so etwas wie Persönlichkeit besaß: «Wie so viele Mädchen war Minnie früh entwickelt und schon weiter als Mi- ckey. In The Barn Dance begann sie bereits zu flirten» (Graham 1955, 34ff). Mickey zog bald darauf in The Plowboy (Ub Iwerks/Walt Dis- ney, USA 1929) nach, dem ersten Film, in dem er «keine Maus mehr war, sondern zu einer Person wurde» (ibid., 44ff). Die Geschichte, wie man in den Silly Symphonies mit dem ver- körpernden Stil herumexperimentierte, wird immer wieder erzählt. Sie beginnt mit den individualisierten Figuren in The Three Little Pigs (Die drei kleinen Schweinchen, /Walt Disney, USA 1933). «Walt wollte, dass die Trickfiguren für das Publikum glaubhaft sind», berichtet der Zeichner . «Die Zuschauer sollten vom Schicksal der Figuren berührt werden und an sie glauben wie an wirkliche Wesen, statt sie nur als lustige Zeichnungen zu betrachten».6 Um 1934 begannen Disneys Mitarbeiter damit, das neue Konzept umzusetzen. Die damaligen Supervising Animators Frank Thomas und Ollie Johnston erinnern sich: «Manche Mitarbeiter des Studios nah- men Schauspielunterricht, um sich Einblick in die Arbeitsweise auf dem Theater zu verschaffen» (Thomas/Johnston 1984, 324f). Dieser Unterricht dürfte meistens traditionell an Delsarte ausgerichtet ge- wesen sein. Doch gibt es auch eine Vielzahl von Zeugnissen, die den wachsenden Einfluss der Vorträge und Schriften Konstantin Sergeje-

5 Ich verwende den Begriff «Verkörperung» [embodiment] in dem eher unspezifischen Sinn, in dem er von Stanislawski und seinen Schülern, auch jenen bei Disney, ge- braucht wurde. Eine damit verbundene Verwendungsweise leitet sich von der Phi- losophie Maurice Merleau-Pontys ab, insbesondere von dem Entwurf eines Kör- per-Subjekts in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1966 [1945]). Kritische Theoretiker wie Vivian Sobchak, Steven Shaviro, Pierre Bourdieu oder Mark B.N. Hansen analysieren mit diesem Konzept sozial geprägte oder mediale Gesten, jedoch ohne den Animationsfilm speziell in den Blick zu nehmen. 6 So Jackson in einem Interview mit Steve Hulett in Ghez 2008, 63. 164 montage AV 22 /2 / 2013

witsch Stanislawskis (1863–1938) belegen. Als sein Ansatz unter den Trendsettern in Hollywood Fuß fasste, ließen sich auch einige Anima- toren davon inspirieren und nutzten seine Lehre als Leitfaden für den verkörpernden Stil.7 Stanislawskis Methode, die zur Ausbildung von Bühnenschauspielern entwickelt worden war, legt den Nachdruck da- rauf, die Rolle zu ‹leben›; die Figur wird verkörpert, indem man sie von innen heraus aufbaut. «Ein Schauspieler muss seine Rolle im Innern erleben und seine Erfahrung nach außen hin verkörpern» (Stanislaw- ski 1989, 17). Heraufbeschworen vermittels Techniken, die er mit Be- griffen wie «Verkörperung», «Einfühlung», «Übergang», «Aneignung», «Verschmelzung» bezeichnet, wird die Figur zu einem Epiphänomen, zu einem transzendenten, phantasmagorischen Wesen (vgl. Stanislaws- ki 1948, 210). Für den Zuschauer verschiebt sich die Aufmerksamkeit vom Schauspieler als physischer Person auf der Bühne oder Leinwand hin zur ‹zum Leben erweckten› Figur, was sich dann in griffigen For- mulierungen wie «Meryl Streep ist Margaret Thatcher» niederschlägt. Der Animator Vlad «Bill» Tytla beschäftigte sich zum Beispiel mit dem 1933 veröffentlichten Buch von Richard Boleslavsky, Acting: The First Six Lessons. Boleslawsky hatte bei Stanislawski an der Moskauer Kunsthochschule studiert und unterrichtete «das System» in der von ihm 1923 in New York gegründeten Schule. Die berühmtesten Ab- solventen waren Lee Strasberg und Stella Adler, die später ihrerseits Schauspielschulen in New York eröffneten und dort die von ihnen so genannte Method lehrten. Boleslavsky wiederum arbeitete in den 1930er Jahren als Regisseur in Hollywood. Dies fällt genau in die Zeit, zu der Walt Disney wöchentliche Abendseminare einführte (1936), um die Entwicklung der Snow White-Figuren vorzubereiten. Michael Barrier beschreibt diese Sit- zungen wie folgt: «Die Arbeit [...] ähnelte einer Stanislawski-Probe. Disney und seinen Autoren ging es zunächst darum, dass die Kör- persprache stimmte; die Ausarbeitung der Dialoge kam später» (Bar- rier 2003, 205). Liest man die Sitzungsprotokolle zu Snow White, so gleicht die Arbeit am Drehbuch eher der Inszenierung eines Theater- stücks als seiner Formulierung. Barrier kommentiert Tytlas Animation der Figur Grumpy so:

7 Die Spezialisten sind über einige Nuancen in Stanislawskis Theorie uneinig. Die Herausgeber eines kürzlich erschienenen Sammelbands erklären: «Einige der inte- ressantesten Unstimmigkeiten zwischen den Beiträgen ergeben sich aus dem un- terschiedlichen Verständnis [der Theorien] Stanislawskis, Kuleschows und Brechts» (Baron/Carson/Tomasulo 2004, 10). Baron und Carnicke (2008, 25f) zeigen, dass Stanislawskis «System» für vielerlei Interpretationen offen war. Zeichentrick-Schauspieler 165

Das Spiel war das einer Trickfilmfigur, und Tytla zeigte, dass man noch weit über das hinausgehen konnte, was Boleslavsky und Stanislawski im Sinn hatten, und zwar nicht nur aufgrund der Herstellungsbedingungen von Animation. Ein Method-Schauspieler sollte Gedanken und Gefühlsregungen der Figur durch Körper und Gesicht ausdrücken; er durfte sich nicht auf den Dialog beschränken (ibid., 223).

Animator Marc Davis erinnert sich: «Wir haben zusammen das Spiel von [Charles] Laughton [in dem von Boleslavsky inszenierten Film Les Misérables von 1935] analysiert. Wir lasen alle Stanislawski» (zit. in Barrier 2008, 154). In den Memoiren von Frank Thomas und Ol- lie Johnston (1984) wird in den zahlreichen Bezugnahmen auf das Spiel der Trickfilmfiguren immer wieder auf Stanislawskis Verkörpe- rungskonzept von innen nach außen rekurriert, auch wenn sein Name unerwähnt bleibt. Diese Herangehensweise steht in deutlichem Ge- gensatz zum bisherigen schematischen Stil. So berichten Thomas und Johnston von der Entwurfsarbeit für die Schneewittchen-Zwerge:

Es schien noch gar nicht lange her, dass man leichtgewichtige Mickeys und Minnies auf spindeldürren Beinchen zeichnete, wie sie ihre harmlosen Be- ziehungen austrugen. Hin und wieder gab es erste Anzeichen dessen, was bald folgen sollte, so in Elmer Elephant [Wilfred Jackson, USA 1936] und [Der Vetter vom Lande, Wilfred Jackson, USA 1936], in denen es eine ungewöhnliche Figur gab, die auf das Geschehen mit starken Gefühlsregungen reagierte. Doch ansonsten war nun alles neu, und es schien, als habe sich der Wandel über Nacht vollzogen. Wir saßen gebannt da, wenn Walt von den sieben kleinen Männchen erzählte, so dass sie zu Fleisch und Blut wurden, als wären sie Menschen wie wir; und ob- wohl sie in ihrer Fantasiewelt mit sehr seltsamen Problemen konfrontiert waren, konnten wir sie begreifen und ihre Gefühle nachempfinden (Tho- mas/Johnston 1984, 245).

Die Protokolle dieser Drehbuch-Konferenzen aus den 1930er Jahren dokumentieren, dass sich die Zeichner die Techniken des verkörpern- den Spiels zueigen machten, indem sie ihre eigenen Gedanken, Ge- fühle und Emotionen in die Gestaltung der Figuren einbrachten, statt einfach die vertrauten grafischen Schablonen zu verwenden (wie in den frühen Mickey-Mouse-Filmen). So wissen wir, dass geplant war, die Donald-Duck-Figur mit individualisierten Verhaltensweisen à la Stanislawski zu versehen, die sich dann von Film zu Film weiterent- wickeln sollten. Das Memo zur Persönlichkeit der Figuren unterstrich, 166 montage AV 22 /2 / 2013

dass Donald in Orphan’s Benefit (Die Kindervorstellung, Burt Gillett, USA 1934) und The Band Concert (Mickys Platzkonzert, Wilfred Jackson, USA 1935) eine «unvergessliche Mischung physischer (Gang, Haltung, Kampfstellung, Stimme) und charakterlicher Eigen- schaften (Dünkel, Arroganz, Hartnäckigkeit, Rachsucht) aufweisen sollte, mit allgemeinen und individuellen, menschlichen und tierischen Zügen». «Alle Phasen von Ducks Konflikt mit den Waisenkindern und Mickeys Orchester sind sorgfältig motiviert; alle physischen Verhal- tensweisen und Gesten offenbaren Zug um Zug Ducks Charakter mit in jedem Film neuen Nuancen und individuellen Noten.»8 Diese No- tizen richteten sich an eine neue Gattung von Zeichnern, die character animators, deren Aufgabe nicht nur im Zeichnen bestand, sondern auch darin, die schauspielerische Grundlage für die Darstellung im Rahmen eines immer stärker industrialisierten Produktionsprozesses zu liefern. Die ein Inneres verkörpernden Wesen sind den extrovertiert-schema- tischen, deren Äußeres einem bekannten Typus oder einem Attribut entspricht, jedoch nicht diametral entgegengesetzt. Auch sind sie ih- nen weder überlegen, noch stellen sie eine höhere Entwicklungsstufe dar, ungeachtet aller Behauptungen der Disney-Animatoren. Es han- delte sich schlicht um eine andere Herangehensweise. Die Disney-Mitarbeiter versuchten sich vom schematischen Stil ih- rer früheren Arbeiten und denen ihrer Konkurrenten zu lösen. David Hand erklärte den jungen Animatoren:

In der Vergangenheit haben wir uns sehr an Standardlösungen orientiert. Das Gehen wurde immer auf die gleiche Weise dargestellt. Hier haben die Handlungsanalyse-Klassen von Don [Graham] etwas verändert, jedenfalls für mich. Vor ein paar Jahren gab es nur zwei Arten des Gehens, den nor- malen Gang und den von [Kater] Felix. Dann haben wir neu nachgedacht, und jetzt erfinden wir für jede Figur einen eigenen Gang.9

Der frühere Stil wurde in Pinocchio (Ben Sharpsteen/, USA 1940) parodiert als der Fuchs, der «ehrenwerte John», eine Reihe von übertriebenen Gebärden à la Delsarte produziert, um den naiven Pinocchio davon zu überzeugen, dass er Schauspieler werden sollte. Graham beharrte darauf, dass ein Animator eine Figur verstehen muss, bevor er sie zeichnen kann. Das Verstehen der Gefühle, Motive

8 Beide Zitate aus dem Memo «What Makes and Breaks Personality», 1. 9 David Hand, «Action Analysis: Director’s Relationship to the Picture and to the Ani- mator», Walt Disney Studios Protokoll, 26. Februar 1936, 1. Zeichentrick-Schauspieler 167 und Emotionen löst wiederum Empathie aus. Wenn dies erfolgreich umgesetzt wurde, konnten die Animatoren den paradoxen Eindruck von Realismus in Kombination mit Fantasiewesen vermitteln. In Be- zug auf (Die fliegende Maus, David Hand, USA 1934) schrieb er:

Die Figuren waren immer noch gezeichnet, ihre Proportionen weit ent- fernt von wirklichen, gewachsenen Formen, doch ihr Verhalten wirkte sehr echt. [...] Ein brillanter Pantomime kann überzeugend suggerieren, er sei ein fliegender Vogel oder ein schwimmender Fisch. Physisch ähnelt er we- der einem Vogel noch einem Fisch, doch was er tut, ist überzeugend und scheint authentisch. Dasselbe gilt für alle Zeichentrickfiguren: Ihr Tun und ihre physischen Proportionen entsprechen zwar nicht der Wirklichkeit, doch man kann sie so darstellen, dass sie real wirken.10

Verkörpernde Darsteller verfügen sowohl über ein individuelles In- nenleben wie über ein eigenes Äußeres. Nach dieser vollständigen Fi- gur, wie David Graver sie beschreibt,

hält das westliche Publikum vor allem Ausschau und wendet sich ihr mit der größten Aufmerksamkeit zu. Da die Figur sowohl ihr Inneres wie ihr Äußeres bereitwillig zur Schau stellt, sieht man ihr sehr gerne zu. Ein sol- cher Körper kann in Gemälden ebenso gut wie in Filmen, Romanen oder auf der Bühne auftreten (Graver 1997, 223).

Als The Flying Mouse entstand, hatte sich Disney unübersehbar zum verkörpernden Stil bekehrt. Die gezeichnete Maus, der Protagonist, ähnelt im Gegensatz zu Mickey tatsächlich einer Maus, wirkt dreidi- mensional und weniger wie eine Comic-Figur. (Mickeys berühmte Ohren sind zweidimensional und bleiben immer gleich, auch wenn er den Kopf bewegt.) Die kleine Maus sehnt sich danach zu fliegen. Eine (zynische) Fee erfüllt ihr den Wunsch, doch gibt sie ihr Fledermausflü- gel. Der faustische Pakt führt dazu, dass die Maus nicht nur aus der Ge- meinschaft der Fledermäuse und Vögel ausgeschlossen wird, sondern auch aus der eigenen Mäusefamilie. Die vom Studio erarbeitete Ana- lyse zeigt, dass die Dynamik der Erzählung hier der Figur entspringt:

Flying Mouse entwickelt die Ausgangssituation und ihre Konsequenzen aus der primären Charaktereigenschaft [der Maus], dem blinden und un-

10 Zitiert ibid., 16f. 168 montage AV 22 /2 / 2013

bedingten Wunsch, wie ein Vogel zu fliegen. Die katastrophale Folge der schließlich erworbenen Flügel [bewirkt] die totale Isolation, und die üble Gesellschaft der Fledermäuse ist das logische und unvermeidliche Resultat der Haupteigenschaft der Maus.11

Im Tooniversum hat sich die Trickfilmfigur mit ihren Freunden und Feinden eingerichtet. Impliziert ist, dass die fiktionale Welt sich auch ins Off erstreckt. Außerdem werfen die Figuren glaubhafte Schatten, die sie in ihrer physischen Umgebung verankern. In The Flying Mouse sprechen sie Dialoge, die ganz natürlich klingen, sie schauen einander an, aber wenden sich oder den Blick nie hin zum Publikum. Durch sei- ne menschlich wirkende Mimik, seinen Körperausdruck und die Mög- lichkeit, seine Gedanken zu belauschen, wissen die Zuschauer um die Gefühle, Motive und Reaktionen des Protagonisten. Wenn die Maus ihre aus Blättern gefertigten Flügel ausprobiert, in einer Pfütze landet und von den Geschwistern ausgelacht wird, fühlen wir den Schmerz, die Blamage, die aufkeimende Idee, den Entschluss – alles innerhalb weniger Sekunden. Graham lehrt, dass Timing und Deutlichkeit solcher kommunikativen Momente unbedingt zur Konzeption des Animati- onsfilm gehören: «Gesten im Trickfilm ereignen sich nicht von selbst, sie werden gezielt gezeichnet». Auch Begriffe wie «Bühne» und «Insze- nierung», die einen dreidimensionalen Raum implizieren, prägen die Diskussionen im Studio. Graham fährt fort: «Zuerst muss jede [Geste] deutlich inszeniert und dem Publikum präsentiert werden. Wenn eine Geste, wie raffiniert sie auch sein mag, nicht verständlich ist, so kann die gesamte Szene, ja vielleicht gar der ganze Film scheitern» (1955, 27). So hat sich im Animationsfilm eine affektive, aus dem Innern kommende, transzendente Körpertechnik des Schauspiels herausgebildet. Mit der Zeit verschmolz für Walt Disney das verkörpernde Spiel mit der Erzählweise: «Ich suche nach Geschichten mit Herz», sagte er Bob Thomas:

Die Geschichte muss einfach sein, mit Figuren, für die das Publikum et- was empfindet, die von Grund auf interessant sind. [...] Alles muss beim Erzählen mit menschlicher Erfahrung zu tun haben (Disney zit. in Thomas 1958, 22).

Betrachtet man die Disney-Kurzfilme aus den 1930er Jahren, so wird deutlich, dass der oft gerühmte allseitige Durchbruch des Studios hin

11 «What Makes and Breaks Personality», 4. Zeichentrick-Schauspieler 169 zur Natürlichkeit unter anderem darauf beruhte, dass die Animato- ren sich bemühten, die zu entwickelnden Figuren von innen heraus zu präsentieren, die passenden Bewegungen und den geeigneten Aus- druck zu finden und schließlich diese Innerlichkeit in den Zeichnun- gen hervortreten zu lassen. Der gedankliche Prozess, so Graham (1955, 12), ist die wichtigste Motivationskraft; die Handlungen der Figuren müssen ihrem Denken und Fühlen entspringen. Man kennt die vielen Anekdoten und lustigen Fotos von Animatoren, die auf übertriebene Weise füreinander Rollen mimen oder sich selbst im Spiegel studieren, um die Eigenheiten ihrer Mimik auf ihre Toons zu übertragen. Gra- ham berichtet, dass Walt Disney den Zeichnern jeden einzelnen Part in Snow White vorspielte (ibid., 58). Das verkörpernde Spiel innerhalb einer kohärenten fiktionalen Welt ist entscheidend für das Verständnis der Trickfilmarbeit bei Dis- ney. Die Motivation dafür liegt auf der Hand: Produktdifferenzierung gegenüber den Konkurrenten, insbesondere dem Fleischer-Studio, und die Übernahme der Produktionsprinzipien Hollywoods in den 1930er Jahren, von den Erzählstrukturen über das Starsystem bis zum Schauspielstil. Und nebenbei natürlich: mehr Profit. In der heutigen Ausbildung zum Animator ist der verkörpernde Stil, das Verständnis der Figuren als eine Art Stanislawski-Schauspieler, zur Routine geworden. Man zeichnet Bewegungen, die Gefühle zum Ausdruck bringen. Ed Hooks erklärt seinen Studierenden:

Menschen können Emotionen nachempfinden. Schauspieler spielen in ers- ter Linie für das Publikum, und auch ihr werdet Animationsfilme für ein Publikum machen. Ziel des Animators ist es, Gefühle durch die Illusion von Bewegung auf die Leinwand zu bringen. Alles, was die Figur von Au- genblick zu Augenblick tut, ist von höchster Bedeutung. Für die empathi- sche Verbindung mit dem Publikum bedarf es der Emotion: Es geht darum, was die Figur fühlt, wenn sie etwas tut. Empathie ist für ein dynamisches Spiel so wesentlich wie Sauerstoff für Wasser (Hooks 2000, 16).

Und bei Bird heißt es:

Wenn das Publikum die Gesichter unserer besten Animatoren sehen könn- te, während sie eine gefühlsgeladene Szene zeichnen, würden sie bei ih- nen das gleiche konzentrierte Engagement erkennen wie bei den besten Schauspielern. Der Unterschied besteht darin, dass ein Animator in diesem Zustand verharrt und oft wochenlang an einem Gefühlsausdruck arbeitet, 170 montage AV 22 /2 / 2013

den die Figur dann in ein paar Sekunden auf der Leinwand vermittelt (Bird 2000, vi–vii).

Die Disney-Animatoren folgten Stanislawskis Ideen und versuchten, den vormals schematischen Hieroglyphen menschliche Gedanken, Be- wegungen und Gefühle zu verleihen. Sie betrachteten, vereinfacht ge- sagt, die aus dem Innern entwickelte Verkörperungsmethode als Dogma. Die filmischen, kinästhetischen Körper sind zwar immateriell, aber dennoch real. Wir glauben an diese Wesen, auch wenn unser Glau- be weder dauerhaft noch besonders stark ist. Sie sind wie imaginäre Spielkameraden, die wir für wirklich halten, auch wenn wir im In- nersten wissen, dass das nicht stimmt. So ähnlich existieren auch der Weihnachtsmann, der Osterhase, Mickey Mouse oder Bugs Bunny. Das ist auch der entscheidende Punkt der Anekdote von Chuck Jones im Gespräch mit einem Kind: «Der Sechsjährige protestierte, als ich ihm als Schöpfer von Bugs Bunny vorgestellt wurde. ‹Das ist nicht wahr! Er zeichnet nur Bilder von Bugs Bunny›». Jones bestätigt diese Auffassung vom Toon als einem wieder-dargestellten Körper, an den man glaubt: «Der Junge hatte völlig Recht, und ich kann mir keinen schöneren Be- ruf denken als den, Bilder einer so wunderbaren Figur zu zeichnen».12 Die meisten von uns verlassen sich allerdings auf den sogenannten ‹ge- sunden Menschenverstand›, den man befragen kann, ob etwas wirklich ist oder nicht. Dabei gibt es einen Näherungswert: Etwas kann sehr, sehr nahe an der Wirklichkeit sein, jedoch ohne dass man absolut sicher sein könnte. Es ist wirklich, steht aber im Schatten des Zweifels. Die tiefe Ironie bei Disneys Streben nach emotionaler Tiefe und Kraft besteht nun darin, dass die Figuren zwar von Generationen von Kinobesuchern geliebt wurden, kommerziell erfolgreich und für die Industrie prägend waren; dass aber trotzdem seine Kampagne für den verkörpernden Stil in ästhetischer Hinsicht eher als nobler Fehlschlag erscheint. Disney scheint nicht erkannt zu haben, dass Figuren nicht nur dann lebendig werden, wenn man die verkörpernde Animation perfektioniert, oder dass Persönlichkeit auf der Leinwand nicht nur durch präzises Zeichnen entsteht. Es ist nämlich unerheblich, ob die Trickfilmfigur ein knuddeliges Säugetier, ein Reptil oder eine Amphi- bie ist, die Zuschauer können sich auch ungeachtet des Kuschelfaktors in eine Figur einfühlen oder ungeachtet dessen, ob es sich um eine Zeichnung, die fotografische Wiedergabe einer Aufführung oder ein verzerrtes Video handelt.

12 Chuck Jones in einem Interview mit Jo Jürgens, zit. n. Furniss 2005, 184. Zeichentrick-Schauspieler 171

Der schematische Stil gedieh und gedeiht weiterhin, und er kon- kurriert und übertrifft bisweilen den verkörpernden Stil. Letztlich ist es das Erleben des Zuschauers, das darüber entscheidet, ob es zu einer Identifikation oder Verbundenheit mit der Figur kommt oder nicht. Natürlich erleichtern die genau aufeinander abgestimmten Bewegun- gen von beispielsweise Geppetto, wenn er die Holzpuppe des Jun- gen schnitzt, oder die Beziehung zwischen der großen und der klei- nen Schreibtischlampe in Luxo jr. (Die kleine Lampe, John Lasseter, USA 1986) den Zugang des Zuschauers zu diesen Animationswelten. Doch andererseits konnten Filmfans auch die frühe schematische Mic- key Mouse, Betty Boop, den einfach gezeichneten Mr. Magoo und viel später auch die South-Park-Kids und heutige Flash-Animatio- nen von Amateuren anthropomorphisieren, sich mit ihnen anfreunden und mental in ihre Welt eintreten. Der Grund hierfür liegt in unserer Fähigkeit, alles und jedes zu beseelen: Man denke an Kinder, die mit Stöckchen als Puppen spielen, oder an die Tom-Hanks-Figur in Cast Away (Verschollen, Robert Zemeckis, USA 2000), die sich mit ei- nem Volleyball namens Wilson anfreundet. Abendfüllende Animationsfilme im schematischen Stil gibt es nach wie vor. Les Triplettes de Belleville (Das grosse Rennen von Belleville, Sylvain Chomet, F/B u.a. 2003) basiert beispielsweise ebenso auf dem Wiedererkennen von Karikaturen und Stereotypen (fette Amerikaner, obsessive Mütter, Sportverrückte) wie auf verkör- pernden Darstellungen. Zirkuläres und eingeübtes Verhalten machen die Individualität des Hundes der Familie aus, der nach Eisenbahnfahr- plan bellt und geradezu ein Emblem schematischer Darstellung sein könnte. Doch niemand würde behaupten, dass es solchen Figuren an einer spezifischen und einnehmenden Persönlichkeit fehlt. Selbst die Bewegungen in abstrakten Animationsfilmen wieBego- ne Dull Care (Evelyn Lambart/Norman McLaren, CAN 1949), der aus direkt auf den Filmstreifen aufgetragenen Linien und Farben be- steht, lösen Gefühle aus und fordern zu einer empathischen Betrach- tungsweise auf. Es ist begreiflich, dass am Vorrang des menschlichen Körpers festgehalten wird, wenn «Performanz» definiert werden soll; doch gilt es auch zu verstehen, dass es sich dabei um eine kulturell er- worbene, anthropozentrische Praxis handelt, eine Haltung, die vom Animationsfilm untergraben und ständig widerlegt wird.

Aus dem Amerikanischen von Frank Kessler 172 montage AV 22 /2 / 2013

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