Valčuha & Sokolov

Freitag, 24.03.17 — 20 Uhr Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal JURAJ VAL Č UHA VITO ŽURAJ (*1979) Dirigent Stand up VALeRIY SOKOLOV für großes Orchester Violine (Urauff ührung, Auft ragswerk des NDR) Entstehung: 2016 – 17 | Dauer: ca. 12 Min.

bÉLA bARTÓK (1881 – 1945) Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 Sz 112 Entstehung: 1937 – 38 | Urauff ührung: Amsterdam, 24. April 1939 | Dauer: ca. 38 Min. I. Allegro non troppo II. Andante tranquillo III. Allegro molto

P a u s e

nDR eLbpHILHARmOnIe SeRGeJ pROKOfJeW (1891 – 1953) ORCHeSTeR Sinfonie Nr. 3 c­Moll op. 44 Entstehung: 1928 | Urauff ührung: Paris, 17. Mai 1929 | Dauer: ca. 35 Min. I. Moderato II. Andante III. Allegro agitato IV. Andante mosso – Allegro agitato

Ende des Konzerts gegen 22.15 Uhr

Einführungsveranstaltung mit Julius Heile um 19 Uhr im Großen Saal der Elbphilharmonie

Eine Aufzeichnung des Konzerts wird am 08.05.2017 um 20 Uhr auf NDR Kultur gesendet. VITO ŽURAJ VITO ŽURAJ Stand up Stand up

Als politischer Komponist möchte Žuraj aber nicht verstanden werden. Der Punkt ist ihm wichtig. „Ich Sapere aude – glaube nicht an politische Werke“, betont er im Ge­ spräch. Dafür glaubt Žuraj an musikalische Struktu­ ren und Assoziationen. Zu den düsteren Akkorden der tiefen Blechbläser am Anfang des Stückes habe Habe Mut ihn die Film­musik zu „Citizen Kane“ inspiriert, und auch der trotzige Anfang von Beethovens „Coriolan“- Žuraj übe r SICH S ELBST Der Name Vito Žuraj ist in der zeitgenössischen Musik­ Ouvertüre habe für manche Gesten in „Stand up“ szene längst ein Begriff. Žuraj ist Preisträger renom­ Pate gestanden. Am deutlichsten ist vielleicht das Der K omponist z um We rk

Als Kind versuchte ich, nach mierter Kompositionspreise, zuletzt erhielt er den Vorbild des Scherzos aus Prokofjews Dritter Sinfonie. Gehör die Musik am Klavier Claudio-Abbado-Preis der Berliner Philharmoniker, Die erregte Streicherfigur, mit der Prokofjew sein Zuerst spottend, danach wütend nachzuspielen, die ich im Radio Spitzenensembles geben bei ihm Stücke in Auftrag Scherzo eröffnet, hat Žuraj für sein Stück adaptiert. und schließlich übertönend – hörte. Dies war meine erste und spielen seine Musik. Und sein besonderer Spleen Im Grundton, so sagt der Kompo­nist, sei „Stand up“ so reagiert das Orchester symbo­ Be­gegnung mit Musik. Als nächs­ lisch auf jedes der drei Pauken­ tes Instrument empfahl mir mein hat sich auch schon herumgesprochen: „Top-spin“, eindeutig ein „dramatisches Werk“. soli in der Mitte des Werks. Diese Vater, Violon­cello zu lernen. „Changeover“ oder „Deuce“ heißen einige seiner Wer­ Soli erklingen nicht in einem Meine Spielfreude an diesem ke. Der slowenische Komponist ist Tennisfan und hat Die Protagonisten des Dramas sind schnell identifi­ edlen Ton, sondern in einem eher Instrument war begrenzt und schwätzerischen. Die Bezeich­ entsprechend wack­lig war meine sich von dieser Leidenschaft zu vielen seiner Stücke ziert. Am Anfang des Stückes steht eine in bis zu 50 nung Pauke ist vom mittelhoch­ Intonation. Nach dem Kompo­ inspirieren lassen. So schien denn alles klar und vor­ Einzelstimmen hoch komplex aufgefächerte Streicher­ deutschen Begriff „pûke“ sitionsstudium in Ljubljana und aussehbar, als im Vorfeld zu lesen war, auch sein neues gruppe. Sie bietet das Bild einer wild bewegten Masse. (= brüllen) abgeleitet. Auf Eng­ einem Aufbaustudium in Dresden lisch hat dieses Wort einen völlig absolvierte ich an der Hoch­ Stück für das NDR Elbphilharmonie Orchester solle Dem steht zunächst ein geschlossener Block aus Blä­ anderen Beiklang (= sich über­ schule für Musik Karlsruhe das einen Titel aus der Welt des Tennis tragen. Doch es sern gegenüber. Aus diesen Elementen entfaltet Žuraj geben). Tatsächlich verdreht es Solistenexamen Komposition kam anders. „Stand up“ heißt Žurajs jüngstes Werk, sein Hördrama. Die auffälligste Rolle nimmt im Laufe einem den Magen, wenn man bei Prof. Rihm und einen Master sich Äußerungen von den Rache- of Arts in Musikinformatik. Ich und im Gespräch mit dem Komponisten erfährt man des Stückes die Pauke ein. Als Partner im sprichwört­ und Machtbesessenen auf brauch­te jetzt noch 268 Zeichen, sehr bald, dass ihn noch ganz andere Dinge umtreiben li­chen Duo von „Pauken und Trompeten“ kündigte Spitzenpositionen anhört, seien um meine Preise und Stipendien als die Leidenschaft für den weißen Sport. Vor allem sie seit jeher Bedeutsames an. Žuraj sieht für den Pau­ dies echte Personen oder fiktive zu nennen, weitere 203 für die wie Coriolan und Charles An­gabe der wichtigsten Festival­ die aktuelle Nachrichtenlage habe ihn während der kisten drei große Soli vor, die er mit „demagogischen Fosters Kane. „Stand up“ steht uraufführungen etc. Aber wertes Komposition beeinflusst, erzählt Žuraj. Sich häufende Reden“ vergleicht. Drei Möglichkeiten der Antwort für Widerstand. Publikum, wie anders würden Sie meine Musik hören und be­ Meldungen über „populistische Parolen“, die „Vorah­ gebe es auf solche Reden, meint der Komponist, man werten, je nachdem, ob hier ein nung unangenehmer Zeiten“ und ein „Gefühl, dass könne sie mit Lachen, mit Zorn oder mit Widerstand glänzender Biografietext steht unsere Werte ins Wanken geraten“, hätten ihn wäh­ beantwor­ten. Das Orchester antwortet drei Mal auf oder ich einfach schrei­be, dass ich aus Rače komme, einem rend der Komposition bewegt. Die ursprüngliche die Tiraden des Paukisten – und um dessen Töne kleinen ostslowenischen Dorf, Tennis-Idee war bald überholt. Nun ist „Stand up“ klanglich abzudecken, vereint sich bei der letzten mein Vater Imker ist, ich gern also ein musikalisches Plädoyer für poli­tisches Rück­ Antwort fast der gesamte Streicherapparat in einer Tennis spiele? grat geworden. Mit „sich einsetzen für etwas“ ließe homogenen Klangfläche. sich der Titel, der mit Sport rein gar nichts mehr zu tun hat, sinngemäß übersetzen. Ilja Stephan

4 5 BÉLA BARTÓK BÉLA BARTÓK Violinkonzert Nr. 2 Violinkonzert Nr. 2

Vierteltöne zu hören, die für die Ohren eines jeden, der mit Musik von Monteverdi bis Mahler aufgewach­ Ein avantgardistischer sen ist, schmerzlich verstimmt klingen müssen.

Rein äußerlich betrachtet ist Bartóks Zweites Violin­ Klassiker konzert ein mustergültig klassisches Konzert mit drei Sätzen in der Abfolge schnell-langsam-schnell. So machte man das seit Vivaldis Zeiten. Doch inner­ halb dieses klassischen Rahmens zog Bartók alle Béla Bartók (vorne) mit dem Gefällige Musik? Es beginnt so hübsch: In den ersten Takten von Béla Register; die Musik spannt den Bogen von simplem Geiger Zoltán Székely Bartóks Zweitem Violinkonzert zupft die Harfe im Folklorismus bis zu kühner Avantgarde, ohne dass

Die ganze Sache strebt danach, gleichmäßigen Viertelrhythmus reine H-Dur-Dreiklän­ man je einen Bruch empfinden würde. Alles davon ist Béla Bartók zu gefallen, scharfe Rhythmen ge. Nach sechs Takten Vorlauf tritt die Violine mit dem echter Bartók. Und schaut man näher hin, so ist auch und Dissonanzen waren wenig ersten Thema hinzu. Gebaut ist es aus Quarten und der formale Aufbau des Stückes weitaus origineller verstörend und hinterließen Béla Bartók wurde am 25. März häufig einen guten Eindruck. Sekunden, vertraute Intervalle, die harmonische Welt als es auf den ersten Blick erscheint. Den Auftrag zu 1881 in Nagyszentmiklós, Un­ „Selbst mir hat das gefallen“, ist noch heil. Doch der Satz wird dichter, irritierende seinem Violinkonzert erhielt der Komponist von dem garn (heute Sinnicolau Mare, Rumänien) geboren. Seine konnte man in der Konzertpause Nebennoten schleichen sich ein, die Violine zieht das befreundeten Geiger Zoltán Székely. Seit Anfang der hören. In neun von zehn Fällen musikalische Grundausbildung ist Zustimmung dieser Art ein Tempo an. Nach 42 Takten, auf dem ersten Fortissimo- 1920er-Jahre waren Székely und der Pianist Bartók erhielt er von seiner Mutter. Zeichen für die Schwäche des Höhepunkt, sind wir bereits mittendrin in der total Duopartner. Bartók hatte für sein Violinkonzert ei­ Nach dem Abitur 1899 besuchte Komponisten. er die Meisterklassen für Kla­ chromatischen Tonwelt des Béla Bartók. Einmal kurz gentlich einen einzigen Satz in Form von Variationen vier und Komposition an der Rezensent in „De Telegraaf“ meldet sich die heile Welt des Anfangs noch zurück, schreiben wollen, Székely aber bestand auf einem Budapester Musikhochschule. nach der Premiere von Bartóks „tranquillo“ (ruhig) schreibt der Komponist hier vor, „richtigen“, dreisätzigen Konzert. Und der Komponist Seit 1905 widmete sich Bartók gemeinsam mit dem Freund Zweitem Violinkonzert mit dann geht es „risoluto“ weiter. Das zweite Thema die­ fand einen Weg, es beiden recht zu machen. Das Zen­ Zoltán Székely und dem Con­ Zoltán Kodály der Volkslied­ certgebouworkest Amsterdam ses rhapsodischen, von starken Tempowechseln ge­ trum des Werkes bildet das „Andante tranquillo“ mit forschung. Er unternahm For­ unter Willem Mengelberg prägten Satzes wagt schon einen Flirt mit der neusten einer Reihe von Variationen über ein Thema, das in schungsreisen durch Ungarn, Rumänien, Transsilvanien, kompositorischen Errungenschaft der Zeit: Es ist ein unschuldigstem G-Dur beginnt. Die beiden Außen­ die Slowakei, die Türkei und Zwölftonthema, das zuerst von der Violine vorgestellt sätze, so verschieden ihr Charakter ist, erweisen sich Nordafrika. Die Ergebnisse wird. Darauf lässt Bartók die zwölf Töne im Orchester bei näherem Hinsehen als Varianten voneinander. dieser Forschungen prägten Bartóks Stil und Denken als unisono ausbuchstabieren, die Violine wiederholt ihr Bartók nutzte dasselbe Material, um eine völlig neue Komponist. In den Jahren 1920 zwölftöniges Statement, und das Orchester bekräftigt Musik daraus zu schaffen. Das erste Thema des Fina­ bis 1940 unternahm Bartók es erneut – es scheint, als wolle der Komponist seine les, das wieder von der Violine vorgestellt wird, be­ als Pianist zahlreiche Konzert­ reisen. 1940 emigrierte er in Hörer mit der Nase auf die besondere Bedeutung ginnt exakt mit denselben Noten, mit denen das erste die USA, dort betätigte er sich dieser Stelle stoßen. Doch damit ist der Kühnheiten Thema des ersten Satzes so harmlos begonnen hatte. wissenschaftlich an der Co­ noch lange nicht genug. Kurz bevor die Violine zum Und auch das Zwölftonthema sowie seine Bestätigun­ lumbia University New York. Am 26. September 1945 starb Schaulaufen in der Solo-Kadenz antritt, sprengt Bartók gen durch das Orchester, das unisono zwölf Töne er im Alter von 64 Jahren in den Rahmen des altvertrauten, wohltemperierten abzählt, kehren im dritten Satz wieder. Es ist dieselbe New York an Leukämie. Tonsystems. In der Stimme des Solisten sind nun musikalische Substanz, in eine neue Form gebracht.

6 7 BÉLA BARTÓK SERGEJ P ROKOFJEW Violinkonzert Nr. 2 Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44

Tonale Zwölftonmusik Wenn ein „Klassiker“ zu sein bedeutet, dass ein Künst­ ler die starken, widerstrebenden Tendenzen seiner Zeit aufnehmen, verarbeiten und ins Werk setzen Dämonische Klänge Bartók versuchte herauszufin­ den, wie gut ich das Konzert kann, dann verdient Béla Bartók den Ehrentitel eines aufgefasst hatte und fragte mich Klassikers des 20. Jahrhunderts. Sein Zweites Violin­ speziell nach einer Passage im ersten Satz. „Es ist recht chro­ konzert war von Anfang an ausgesprochen populär. matisch“, gab ich zur Antwort. Das Publikum liebte diese Musik – nicht zuletzt, weil Sergej Prokofjews Künstlerpersönlichkeit hatte viele „Ja, chromatisch“, sagte er. der Stargeiger Yehudi Menuhin sich des Werkes an­ Facetten; in verwirrender Widersprüchlichkeit exis­ Aber dann wies er mich auf den Punkt hin, um den es ihm ging: nahm und es zunächst in den Konzertsälen der USA tierten sie nebeneinander. Im Jahre 1917, während in „Siehst Du, wie oft das kommt?“ durchsetzte. Wie ein genauerer Blick unter die Ober­ St. Petersburg die Revolution sich ankündigte, schüt­ Es kommt sehr oft, (…) nie ganz fläche dieser Musik zeigt, blieb Bartók aller populären telte er einerseits seine heiter-parodistische „Sympho­ identisch. „Nun, ich wollte Schönberg zeigen, dass man alle Aspekte zum Trotz voll auf der Höhe seines Anspruchs. nie classique“ aus dem Ärmel. So kennt man diesen zwölf Töne benutzen und trotz­ Bevor er mit der Komposition begann, hatte er sich Komponisten: spöttisch und ein virtuoser Stilist. dem tonal bleiben kann (…), die Partituren der Violinkonzerte von Alban Berg, Doch schon kurz nach dieser Liebeserklärung an die und jede dieser wiederholten Sequenzen würde einem Zwölf­ Kurt Weill und Karol Szymanowski senden lassen. Klassiker entstand ein Werk, das verschiedener gar Sergej Prokofjew töner Material für eine ganze Dass er sich auch mit Schönbergs Reihentechnik aus­ nicht sein könnte: die Kantate „Es sind ihrer sieben“ Oper bieten.“ einandergesetzt hatte, führt der Komponist geradezu auf Worte des symbolistischen Dichters Konstantin

Erinnerungen von Yehudi demonstrativ vor. So ist das Violinkonzert das Werk Balmont, der sich dazu von uralten akkadischen Prokofjew hat in­ Menuhin an ein Gespräch mit eines ästhetisch – wie politisch – hellwachen Zeitge­ Beschwörungsformeln gegen böse Dämonen hatte mitten der tausend Bartók in New York 1943 nossen. Es entstand in einer Zeit, in der am Horizont inspirieren lassen. Die Musik zu diesem Exorzismus des Alten Europa immer dunklere Wolken aufzogen klingt noch heute, 100 Jahre nach ihrer Entstehung, Pariser Einflüsse und Bartók seine einzige Rettung in der Emigration bestürzend avantgardistisch. Prokofjews Flirt mit seine Originalität sah. „Es ist die immanente Gefahr, dass sich auch dem Dämonischen zieht sich wie eine Linie durch Ungarn diesem Räuber- und Mördersystem ergibt. das Werk dieses Künstlers, der doch ein durch und bewahrt … Die Frage ist nur, wann, wie? Ich hätte eigentlich die durch urbaner Mensch war, stets elegant gekleidet, Der Skythe hat süd­ Pflicht auszuwandern.“ So schrieb er 1938 kurz nach stolzer Besitzer schneller Autos und so rational wie dem „Anschluss“ Österreichs und während der Arbeit ein meisterlicher Schachspieler nur sein kann. lichere Gegenden an seinem Konzert. Sein in Wien ansässiger Verlag aufgesucht und Universal Edition war für Bartók zum „Naziverlag“ Den Anfang dieser Linie „dämonischer“ Werke bei geworden. Als der Verlag im April 1938 von ihm eine Prokofjew machen die „Diabolischen Suggestionen“ ist menschlicher Taufurkunde – also faktisch einen Ariernachweis – op. 4 von 1908, ihren Höhepunkt erreicht sie sicher in geworden. verlangte, kam es zum Eklat. Im Jahr 1940, kurz nach der Oper „Der feurige Engel“ aus den Jahren 1919 bis Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wagte Bartók den 1927. Prokofjews Dritte Sinfonie beruht auf themati­ Pressestimmen nach der lange geplanten „Sprung ins Ungewisse aus dem ge­ schem Material aus dieser Oper – der Komponist selbst Uraufführung von Prokofjews Dritter Sinfonie am 17. Mai wussten Unerträglichen“ und emigrierte in die USA. verglich seine Sinfonie mit den Paraphrasen, die 1929 in Paris Franz Liszt zu den bekanntesten Melodien großer Ilja Stephan Opern geschrieben hatte. Die Vorlage für die Oper

8 9 SERGEJ P ROKOFJEW Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44

Zitate z um We rk „Der feurige Engel“, deren Libretto der Komponist selbst verfasste, bildet ein gleichnamiger Roman des

Die Hauptthemen des „Feurigen Symbolisten Valerij Brjussow. Die Handlung spielt Engels“ wurden als sinfonische in Deutschland im Übergang vom Spätmittelalter Musik entworfen, lange bevor zum Humanismus. Magie, Aberglaube und sexuelle ich mit der Komposition der Oper begann, und als ich sie später Obsessionen sind die zentralen Themen; Faust und für meine Dritte Sinfonie nutzte, Mephistopheles – beide echte Scharlatane – haben kehrten sie nur in ihr ursprüng­ einen Gastauftritt, und am Ende erwartet die Protago­ liches Element zurück, ohne dass ihr kurzer Aufenthalt in der Oper, nistin Renata der lodernde Scheiterhaufen. Passend so sehe ich das, ihnen den ge­ zum Sujet zog sich der Weltstädte gewöhnte St. Peters­ ringsten Makel zugefügt hätte. burger und Wahl-Pariser für die Komposition seiner

Sergej Prokofjew Oper in einen deutschen Herrgottswinkel zurück – von 1921 bis 1923 lebte Prokofjew im Örtchen Ettal im Unterammergau. Doch wie alle symbolistischen Die Dritte Sinfonie wurde zu einem Werk, dem sich von allen Werke kann (und muss) man Brjussows „Der feurige im Ausland entstandenen Engel“ auf mehreren Ebenen lesen. Das 1908 erschie­ Werken Prokofjews kaum etwas nene Werk wird vielfach auch als Schlüsselroman Ebenbürtiges an Ausdrucks­ kraft, emotionaler Tiefe und über die ruinöse Dreiecksbeziehung zwischen Brjussow Leidenschaft der Empfindung selbst, seinem Dichterkollegen Andrej Bely und der zur Seite stellen lässt. Femme fatale Nina Petrowskaja gedeutet – und würde

Natalja P. Sawkina, 1981 somit eher auf die von kühnen künstlerischen und sozialen Utopien aufgeheizte Atmosphäre des St. Petersburg von Prokofjews Jugend verweisen.

Erfolg war Prokofjew mit seiner Opernfassung des „Feurigen Engels“ nicht beschieden. Nachdem er die Oper mehrfach umgearbeitet hatte und alle Auffüh­ rungspläne sich zerschlagen hatten, entschied er sich schließlich, Elemente der Oper für seine Dritte Sin­ fonie zu verwenden. Prokofjew hat die Bedeutung dieser Entscheidung immer heruntergespielt und die Eigenständigkeit beider Werke betont. Und tatsäch­

Bild rechts: lich ist seine Dritte keine „Nacherzählung“ der Oper Seite aus Prokofjews eigenhän­ oder der Romanvorlage. Das thematische Material diger Partitur der Oper „Der entnahm der Komponist verschiedenen Akten der feurige Engel“, aus der er The­ men und Motive für seine Dritte Oper und ordnete es neu an. Doch die emotionale Sinfonie wiederverwendete Atmosphäre des „Feurigen Engels“ ist geblieben.

10 SERGEJ P ROKOFJEW DIRIGENT Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44

„Der fe urige Engel“ Man spürt vom ersten überwältigenden Einsatz des Orchesters an die drohende Katastrophe, den Tonfall Juraj Valčuha

Nonnen von Hysterie und Exaltation. Durch den äußerst Verneigt euch vor dem dichten, vielschichtigen Orchestersatz, den im ersten Juraj Valčuha ist seit Oktober 2016 Music Director des Belzebub, Satz fast ununterbrochen eine rastlose Sechzehntel- Teatro di San Carlo in Neapel. Von 2009 bis 2016 ent­ rühmt, Schwestern, den Belial, preist den Dämon, Bewegung durchläuft, leiten den Hörer Prokofjews wickelte und gestaltete er als Chefdirigent des Orches­ seine Sukkubi und seine einprägsame Themen wie rote Fäden. Der erste Satz tra Sinfonica Nazionale della RAI maßgeblich dessen Inkubi. wird dominiert vom Renata-Thema, dessen empha­ Profil und feierte national und international große La la la etc. tischer melodischer Aufschwung zuerst in Hörnern Erfolge. Er studierte Dirigieren und Komposition in Renata und alle Nonnen werfen und Violinen erscheint. Den Höhepunkt des Satzes Bratislava, in St. Petersburg bei Ilya Musin und in Paris sich in einem Rausch von Ge­ baut Prokofjew aus der dichten kontrapunktischen und debütierte 2005 beim Orchestre National de walttätigkeit auf den Inquisitor. Verschränkung des Renata-Themas mit zwei weiteren France. Es folgten Einladungen zum Philharmonia Renata und die Nonnen Themen, die man wohl ihren Liebhabern, Graf Hein­ Orchestra, Gewandhausorchester Leipzig, Concert­ Höhepunkte 2016/2017 Du bist selbst ein Diener des rich und Ruprecht, zuordnen kann. Das Andante gebouworkest Amsterdam, zur Staatskapelle Dresden, Teufels! Nonnen leitet sich von einem Vorspiel her, das Renata in einem zu den Berliner und Münchner Philharmonikern, zum • Debüt beim Chicago Oa! Oa! Oa! Oa! kurzen Moment der Ruhe und des Friedens zeigt. Rotterdam Philharmonic Orchestra, WDR Sinfonie­ Symphony und Cleveland Ein Gesandter der Hölle! Dafür führt das Scherzo mitten hinein in die orches­ orchester, Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Orchestra • Rückkehr zu den Orchestern Das Gefolge versucht, den trale Hexenküche. Prokofjew entwirft hier einen viel­ Cecilia in Rom und zur Filarmonica della Scala Milano. in San Francisco, Pittsburgh, Inquisitor zu schützen. fach aufgeteilten, gespenstischen Streichersatz – ein Gastdirigate in Nordamerika führten ihn zum Pitts­ Washington, Montréal und Vorläufer von Žurajs Streicherwolken –, der lediglich burgh, Boston, Cincinnati und San Francisco Sympho­ Minneapolis Renata und Nonnen • Wiedereinladungen zum Reißt! Zertretet ihn! aus kurzen Gesten und Glissandi besteht. In der Oper ny Orchestra, zum Los Angeles Philharmonic, National Konzerthausorchester Berlin, Zertretet ihn! begleiten diese Klänge Renatas magische Beschwö­ Symphony Orchestra Washington sowie zum New York Orchestre de Paris, Orchestre Oa! Oa! Oa! rungen; kurze Fragmente ihres Themas blitzen in dem Philharmonic Orchestra. In der Saison 2014/15 unter­ National de France und Orchestra dell’Accademia Inquisitor (schreit in äußerster Streichergestöber immer wieder auf. Die Vorlage für nahm Valčuha mit dem Orchestra Sin­fonica Nazionale Nazionale di Santa Cecilia Wut, nagelt Renata mit seinem das Finale seiner Sinfonie fand Prokofjew in einer della RAI u. a. eine Tournee nach München, Köln, • Auftritte als Operndirigent Stock gleichsam an) Szene aus dem zweiten Akt der Oper, in welcher der Düsseldorf, Wien, Zürich und Basel. Darüber hinaus mit „Faust“ in Florenz, Diese Frau ist schuldig „Elektra“ und „Carmen“ in des fleischlichen Verkehrs Protagonist Ruprecht den renommierten Gelehrten debütierte er bei den Wiener Symphonikern, dem Neapel sowie „Peter Grimes“ mit dem Teufel. Agrippa von Nettesheim besucht. Während Agrippa HR-Sinfonieorchester, dem Konzerthausorchester Berlin in Bologna Sie unterliegt dem Urteil Ruprecht mit Ratschlägen und Weisheiten bedenkt, und dem NDR Elbphilharmonie Orchester, an dessen der Inquisition! Foltert sie sofort, necken ihn drei knochenklappernde Skelette – wie sie Pult er seitdem regelmäßig zurückkehrt. Höhepunkte verbrennt die Hexe auf dem zur Grundausstattung stilechter, altertümlicher Stu­ der vergangenen Saison waren seine Rückkehr zum Scheiterhaufen! dierstuben gehören – mit den Worten: „Du lügst.“ Als New York Philharmonic und San Francisco Symphony personifizierte Stimme der Vernunft, die der unauf­ Orchestra, zu den Münchner Philharmonikern oder Sergej Prokofjew, Libretto haltsamen Katastrophe etwas entgegenzusetzen hätte, zum Swedish Radio Symphony Orchestra sowie Tour­ zu „Der feurige Engel“, ist der verbitterte Alt-Akademiker der falsche Mann. neen und Gastspiele mit den Bamberger Symphoni­ Schlussszene kern und dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Außer­ Ilja Stephan dem dirigierte er „Parsifal“ an der Oper in Budapest.

12 13 VIOLINE Impressum

Herausgegeben vom Valeriy Sokolov Norddeutschen R undfunk Programmdirektion Hörfunk Der ukrainische Geiger Valeriy Sokolov gehört zu den Orchester, Chor und Konzerte herausragenden Künstlern seiner Generation. Engage­ Rothenbaumchaussee 132 ments führen ihn zu weltweit bedeutenden Orchestern, 20149 Hamburg zu den Festivals etwa von Verbier und Lockenhaus Leitung: Andrea Zietzschmann sowie regelmäßig ans Pariser Théâtre du Châtelet, Mariinski-Theater St. Petersburg, in die Wigmore Hall NDR El bphilharmonie orch ester London, das Lincoln Center New York oder den Wiener Management: Achim Dobschall Musikverein. Er arbeitet mit Dirigenten wie , , Susanna Mälkki, Andris Redaktion des Programmheftes Bedeutende Orch ester- Nelsons, Yannick Nézet-Séguin oder Vasily Petrenko Julius Heile engagements zusammen und spielt regelmäßig Recitals mit dem Pianisten Evgeny Izotov sowie im Klaviertrio mit dem Die Einführungstexte von Dr. Ilja Stephan • Philharmonia Orchestra ukrainischen Cellisten Alexei Shadrin. Gemeinsam sind Originalbeiträge für den NDR. • Tonhalle-Orchester Zürich mit der Geigerin Lisa Batiashvili und dem Cellisten • Chamber Orchestra of Europe • Deutsche Kammerphilhar- Gautier Capuçon hat er vor kurzem eine erfolgreiche Fotos monie Bremen Kammermusik-Tournee durch Europa unternommen. Hans Christian Schinck (S. 4) • City of Birmingham Außerdem ist er Künstlerischer Leiter eines neuen AKG-Images / De Agostini Picture Lib. / A. Dagli Orti (S.7) Symphony Orchestra • Orchestre National de France Kammermusikfestivals in Konstanz. Zu Sokolovs viel­ Culture-Images / Lebrecht (S. 9) • Orchestre de Paris seitiger Diskographie gehören Einspielungen von AKG-images (S. 11) • Orchestre Philharmonique Enescus Sonate Nr. 3, Violinkonzerten von Bartók und Simon Fowler (S. 14) de Radio France • Rotterdam Philharmonic Tschaikowsky mit dem Tonhalle-Orchester Zürich Orchestra unter David Zinman oder dem Sibelius-Violinkonzert NDR Markendesign • St. Petersburger Philharmo- mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Vladimir Design: Factor, Realisation: Klasse 3b niker • Moskauer Philharmoniker Ashkenazy. Von der Presse viel beachtet wurde auch Druck: Nehr & Co. GmbH • Tokyo Symphony Orchestra Bruno Monsaingeons Film „Un violon dans l’âme“, Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co. • Singapore Symphony ein Mitschnitt von Sokolovs Recital in Toulouse 2004. Orchestra • Cleveland Orchestra Nachdruck, auch auszugsweise, 1986 in Kharkov in der geboren, zog Sokolov nur mit Genehmigung des NDR gestattet. mit 13 Jahren nach nach England, um bei Natalia Bo­ yarskaya an der Yehudi Menuhin School zu studieren. ndr.de/elbphilharmonieorchester Seine Ausbildung ergänzte er bei Felix Andrievsky, facebook.com/NDRElbphilharmonieOrchester Mark Lubotsky, Ana Chumachenko, Gidon Kremer und youtube.com/NDRKlassik Boris Kushnir. 2005 gewann er den 1. Preis beim International Violin Competition in Bukarest.

14 15 Foto: Harald Hoffmann

„ Ich möchte so viel unbekanntes Terrain wie möglich betreten.

IRIS “BERBEN

DAS NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER AUF NDR KULTUR Regelmäßige Sendetermine: NDR Elbphilharmonie Orchester | montags | 20.00 Uhr Das Sonntagskonzert | sonntags | 11.00 Uhr

UKW-Frequenzen unter ndr.de/ndrkultur, im Digitalradio über DAB+ Hören und genießen

160411_kultur_A5_BOC-werbung_15_16_EPO_sw_AZ_neu_fin.indd 1 12.04.16 09:39