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(Svevia, terra di poeti! – Für Volker Kälberer, der das alles mit viel schönen Reden gepriesen hat.)

Musikstunde mit Katharina Eickhoff Montag, 6. Dezember 2010 Schwabenstreiche – Ausfahrten in romantischer Seelenlandschaft mit Kerner, Uhland, Mörike und den Freunden Teil I: Der Mann im Turm

Indikativ

Die spinnen, die Schwaben. Leben da in ihrem Ländle vor sich hin, verwahren sich gegen den Fortschritt in Gestalt zukunftsweisender Verkehrspolitik, sparen, kehren die Gasse, schieben ihre Spätzle vom Brett und sind dabei mit ihrer Kulturgeschichte so liebend verbunden wie kein anderes deutsches Völkchen. Weshalb auch die anderen sich gerade über sie besonders gern lustig machen. Die älteren zumindest unter den Schwaben sind allesamt noch in diesem seltsamen Zauberkreis großgeworden, der von Außenstehenden so misstrauisch beäugt wird, und dessen geistiges Zentrum irgendwo zwischen und Tübingen liegt, oder vielleicht auch in Weinsberg bei Kerners unterm Sofa, oder im Wirtshaus Hirsch zu Echterdingen, wo sich alles traf, was dichten konnte,- an der Stuttgarter Weinsteige, wo alle die Dichter gen Süden wanderten, oder auf der rauen Alb, wo einst ein melancholischer Vikar namens Mörike statt Predigten Gedichte von der Kanzel hat regnen lassen.

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Diese Älteren wissen auch noch, wer Graf Eberhard im Barte war und wieso er sein Haupt jedem Untertanen kühnlich in den Schoß legen konnte, sie finden blind Wilhelm Hauffs Grab auf dem Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof, wissen, dass den Schwabenstreich erfunden hat und kennen jene Silcher-Lieder, von denen unsereins noch nicht mal mehr den Refrain zusammenkriegt. Und so ist auswärts dieses spezifische Bild des Schwaben entstanden: heimatliebend, den Blick nach innen gerichtet, Württemberger trinkend und dabei schwäbische Dichter zitierend. Die natürlich auch wieder nur den Blick nach innen richteten, Württemberger tranken und andere schwäbische Dichter zitierten, all die volkstümelnden Trinklieder und endlosen Balladen und weltfernen Liebreizendheiten. Wer, außer jenen komischen Menschen, die Trollinger für einen Wein halten, liest denn heute noch Kerner, Uhland, oder Mörike? Na – ich zum Beispiel. Seit einer Weile. Und deshalb soll das hier, ohne Anspruch auf irgend einen Anspruch, geschweige denn auf Vollständigkeit, eine Hommage an das romantische Schwaben werden. Ein Schwaben, das wie Orplid, Mörikes erfundenes Traumland, ein bisschen über der Wirklichkeit schwebt und geheimnisvoll leuchtet. Kann ja sein, dass die Schwaben ihr Ländle, ihre Dichter, die Weine, die Linsengerichte und die Landschaften früher ein bisschen zu oft gepriesen und dabei heimlich die Fischer-Chöre gehört haben, und als Nicht-Schwabe um die vierzig hat man allemal eine Distanz zu dieser betonten Heimatliebe, die in der Kindheit doch verdächtig muffig roch – aber dann steht man in den Weinbergen um Hölderlins Geburtsstadt Lauffen oder in Tübingen auf der Brücke, schaut auf den Neckar, in dessen Tälern ihm das Herz aufwachte, auf die „lieblichen Wiesen und Uferweiden―, die ihn immer wieder trösteten, man spürt selber so ein

3 seltsames Ziehen in der Brust und beschließt, das alles kennenlernen zu wollen, ins Herz der schwäbischen Romantik zu reisen. „Attempto!― – Ich wag’s, das war die Devise von Eberhard im Bart, dem aus nicht ganz ersichtlichen Gründen heißgeliebten württembergischen Herzog. Man könnte auch sagen: Jetzedle.

CD Disc 1, T. 9 4’42

C.M.v. Weber, Sinfonie Nr.1 C-Dur, Finale New Philharmonia Orchestra, Wilfried Boettcher Philips 462 870-2, LC 0305

... das Finale aus Carl Maria von Webers Sinfonie Nr.1, entstanden im Jahre 1807 – da war der Sohn einer Schwäbin und eines Badeners gerade geheimer Sekretär und Musiklehrer beim Herzog von Württemberg und wohnte tatsächlich in Stuttgart. Bis er kurz drauf wegen krimineller Umtriebe seines etwas zwielichtigen Vaters des Landes verwiesen wurde. Jener Vater war übrigens der angeheiratete Onkel von Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Frau Constanze ja eine „Weberische― gewesen ist – aber das ist eine andere Geschichte. Weber, also: Carl Maria, ging weg aus Stuttgart, wurde anderswo berühmt und hatte fortan nichts Gutes über Schwaben zu sagen. Wie so viele. Wahrscheinlich ist Heine wieder mal an allem schuld. Natürlich soll man grundsätzlich dem großen Heinrich Heine jedes Wort von den Lippen lesen, und das tut man heutzutage ja zum Glück auch, aber manchmal war er eben auch ein bisschen ungerecht. An dem verbreiteten Misstrauen, das deutsche Intellektuelle gegenüber schwäbischen Dichtern haben, hat er jedenfalls tatkräftig mitgestrickt. 4

Zugegeben, er hatte Grund. Zwei gar nicht so erhebliche Freizeitdichter aus dem Umkreis der schwäbischen Schule hatten in Cottas in Stuttgart und Tübingen erscheinender und viel gelesener Literaturzeitschrift, dem „Morgenblatt für die gebildeten Stände― ein paar miese und zu allem Überfluss auch noch antisemitische Dinge über ihn geschrieben, und sie scheinen ihn damit an empfindlicher Stelle getroffen zu haben. Heine jedenfalls hat dann in seinem „Schwabenspiegel―, wie er den Text nannte, mit Kanonen zurückgeschossen, und zwar nicht bloß auf die zwei heute kaum mehr bekannten Dreckspatzen, sondern gleich auf die ganze südwestdeutsche Dichterschaft: Kerner und Uhland, und Mörike und überhaupt alle, die sich da immer bei Justinus Kerner in Weinsberg um den großen Esstisch versammelten. Die „lieben Kleinen von der Schwäbischen Dichterschule―, nennt Heine sie herablassend, „die hübsch patriotisch und gemütlich zu Hause bleiben bei den Gelbveiglein und Metzelsuppen des teuren Schwabenlandes― – und dann kriegt jeder im Einzelnen sein Fett weg: Uhland, der laut Heine auf einem toten Pferd reitet, der Sagenonkel Gustav Schwab, den er einen „Hering unter lauter Sardellen― nennt, und vor allem der „Doktor Justinus Kerner, welcher Geister und vergiftete Blutwürste sieht und einmal dem Publikum aufs Ernsthafteste erzählt hat, dass ein paar Schuhe, ganz allein, ohne menschliche Hilfe, langsam durch das Zimmer gegangen sind...Das fehlt noch―, so Heine, „dass man seine Stiefel des Abends festbinden muss, damit sie einem nicht des Nachts, trapp! trapp! vors Bett kommen und mit lederner Gespensterstimme die Gedichte des Herrn Justinus Kerner vordeklamieren!― Von den Geistern, die Justinus Kerner sah oder auch nicht, wird in dieser Woche noch zu reden sein, und dass er in Sachen vergiftete Blutwürste das Botulinumtoxin entdeckt und damit als erster die Ursprünge der

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Lebensmittelvergiftung offengelegt hat, war eine medizinische Großtat - aber, lieber, sonst wirklich heiß verehrter Herr Heine, von wegen „Das fehlte noch―: Genau das fehlt heutzutage tatsächlich sehr, dass ab und zu um unser Bett oder sonst wo ein paar gute Geister schweben und Kerner’sche Gedichte sprechen – die sind nämlich bisweilen einfach beglückend schön.

CD T. 21 2’30

R. Schumann/Kerner, Alte Laute Christoph Prégardien, Michael Gees RCA 74321 73235 2, LC 00316

Mit den Augen seiner Dichter gesehen, ist Schwaben ein verzaubertes Land – und es war Friedrich Hölderlin, der den Zauber als erster dingfest gemacht hat: In seinen Hymnen, Oden und Elegien ist diese Landschaft plötzlich zu einem zweiten Griechenland geworden, zum „glückseligen Suevien―, nach dessen Apfelbäumen man sich genauso sehnen und hinträumen kann wie nach den Gestaden des Peloponnes. Die erste Ausfahrt heute geht also zu ihm, zu Hölderlin, und zwar nach Tübingen. Wer heute dort auf der Neckarbrücke steht und in Richtung Hölderlinturm schaut, der hat ein Bild des Friedens vor sich, Romantik, wie sie im Baedeker steht: Die alten, nicht zu aufdringlich renovierten, leicht windschiefen Häuser stapeln sich rechts und spiegeln sich im Fluss, am Ufer bei den Weiden sitzen zwei junge Mädchen und reden doch tatsächlich über die Liebe, und die Spätherbstsonne spiegelt sich in den Fenstern des halbrunden Turms, in dem Hölderlin bis zu seinem Tod gewohnt hat. Um diese Zeit im Jahr gibt es wenig Touristen hier, man trifft ein paar versprengte, irgendwie allesamt gelehrt wirkende Tübinger 6 auf dem Weg zum Markt, und in der Pizzeria auf der anderen Seite des Gebäudes, die zum Glück nicht „Trattoria Hölderlin― heißt, werden die Tische fürs Mittagsgeschäft gedeckt. Ein Idyll. Für Hölderlin war Tübingen kein Ort der Idylle. Nicht damals, als er als junger, schöner Träumer mit den Freunden Schelling und Hegel am evangelischen Stift studiert hat, denn in der Zeit ist ihm klar geworden, dass er der Mutter nicht gehorchen, dass er nicht Pfarrer werden konnte, und auch nicht später, als er krank hierher zurückgekommen ist. Die letzten langen Jahre seines Lebens, siebenunddreißig Jahre!, hat Hölderlin hier in geistiger Verwirrung, manche sagen auch: in vorgeschützter Verwirrung, gelebt. Hier, rund um sein Zimmer im Turm beim freundlichen Schreinermeister, der ihn aufgenommen hat, bei den Weiden unten am Neckar und im Häusergewirr der dahinter beginnenden Altstadt, hier fängt alles an mit der schwäbischen Romantik. Denn egal, ob Kerner, Uhland, Gustav Schwab oder Mörike: sie alle waren hier, haben sich mit Hölderlins Gedichten beschäftigt und sie als erste gesammelt. Vor allem aber haben sie den verrückten Dichter persönlich gekannt, und jeder von ihnen hat andere Erfahrungen aus dieser Bekanntschaft mitgenommen.

Zum Beispiel, dass sein Wahnsinn oft mehr Methode hatte, als ein Irrer sie gemeinhin so entwickeln kann - Hölderlin wusste sehr genau, wie er die vielen Neugierigen loswerden konnte, die kamen, um den Verrückten zu bestaunen: Er hat sich ans Klavier gesetzt – Klavierspielen konnte er nach wie vor sehr gut – und fing an, über italienische Arien von Paisiello zu improvisieren, wobei, wie manche erzählen, auch den sich selbst für „gesund― haltenden Besuchern von dem immer Gleichen ganz wirr im Kopf werden konnte...

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CD 19-021512 T. 32 – 38 4’? - auf Zeit

L.v.Beethoven, Variationen auf „Nel cor piu non mi sento― Alfred Brendel Philips 432 093-2, LC 0305

Der erste, der es in Tübingen näher mit Hölderlin zu tun kriegt, ist Justinus Kerner. Kerner, Sohn des Oberamtmanns von Ludwigsburg, ist zwanzig und studiert Medizin an der Universität in Tübingen. Dass er ein geborener Arzt ist, hat man dort bald bemerkt, also wird er Assistent beim damals obersten Hofmedicus, Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth. Professor Autenrieth hat damals gerade im Gebäude der alten Burse die erste richtige Klinik in Tübingen eröffnet, die Urzelle des Tübinger Universitätsklinikums – heute ist dort das philosophische Seminar untergebracht. Und hier wird, im September 1806, in zerrüttetem psychischem Zustand der Dichter Friedrich Hölderlin eingeliefert. Der Student Kerner hatte die Aufgabe, ihm Medikamente beruhigender Art zu verabreichen, Belladonna und Digitalis, Quecksilber und Opium. Dabei ist es allerdings wohl nicht geblieben: Wegen seiner unberechenbaren Ausbrüche steckt man Hölderlin ins sogenannte „Palisadenzimmer―, einen ganz mit Holzplanken ausstaffierten Raum, eine Art beinharter Vorläufer der Gummizelle, und auch sonst wird man an dem Kranken die damals noch reichlich ratlosen zeitgenössischen Behandlungsmethoden für Geisteskranke angewendet haben: Schockbehandlungen in Form von eiskalten Wassergüssen, Gesichtsmaske, Mundbirne und - das Schwungrad, bei dem man

8 versuchte, mittels Karussell-Effekt und dem daraus folgenden Schwindel die Nerven zu beruhigen. Was uns heute so unmenschlich vorkommt, fanden damals anscheinend alle ziemlich normal – bis auf Hölderlin, der nach Zeugenaussagen nachher jedes Mal Ausbrüche bekam, wenn ihm beim Spaziergang durch Tübingen einer aus dieser Geisterbahn-Zeit im Krankenhaus begegnete.

19-040337 Disc 2, T. 4 3’00

Heinz Holliger, Scardanelli-Zyklus, Eisblumen Südwestfunk-Sinfonieorchester Baden-Baden, Heinz Holliger Cadenza 800898, LC 6474

„Eisblumen― heißt dieser Satz aus Heinz Holligers „Scardanelli-Zyklus―, der sich in unterschiedlichen Besetzungen durch Hölderlins Gedichte aus der Zeit des Wahnsinns bewegt. Scardanelli, oder Scartanelli, so hat sich Hölderlin in den Jahrzehnten in Tübingen oft selbst genannt. Und so ganz von der Hand zu weisen ist die Theorie nicht, dass er bewusst seinen Familiennamen abgelegt hat, weil seine Mutter ihn derart konsequent abgeschoben und von sich ferngehalten hat – besucht hat sie ihren peinlich verrückten Sohn in Tübingen nie, und tatsächlich bedeutet das Wort „scartare― im Italienische soviel wie „ausrangieren― und „abschieben―. Dass Friedrich Hölderlin in jedem Fall ein anderer sein wollte und genauso gut einen anderen Namen tragen konnte, kann man an den seltsamen Gedichten sehen, die er nach wie vor geschrieben hat. Nach den schlimmen Monaten in Autenrieths Klinik hat der Dichter ja das ungeheure, für psychisch Kranke damals seltene Glück gehabt, in liebevolle Betreuung zu kommen: Der Schreinermeister Zimmer, der 9 begeistert den „Hyperion― gelesen hat, nimmt ihn in sein Haus auf, das nur ein paar Schritte von der Klinik entfernt liegt, richtet ihm von dem Kostgeld, das Hölderlins Mutter bezahlt, einen Raum im zum Neckar hin gelegenen Turm ein, und die Familie Zimmer kümmert sich dann bis zu seinem Tod herzlich um „das liebe Hölderle―, wie sie ihn nennen, so, wie man sich um ein Kind kümmert. Hölderlin hat also weiter Gedichte geschrieben, dort in Zimmers Turm, aber die sind seltsam: Aneinandergereihte Worthülsen, harmlose Reime, irgendwie eingefroren die Gefühle, wie von einer Gedichtmaschine geschrieben, die nichts von Sinnzusammenhängen und tiefer Bedeutung wissen will. Heinz Holliger, der diese späten Hölderlin-Gedichte seit Schulzeiten kannte, hat sie als „Sprachmasken― empfunden, „hinter denen sich der von Apollo geschlagene, zutiefst getroffene Dichter zu verbergen sucht.― – Holligers Kollege Wilhelm Killmayer wiederum hat das ein bisschen anders gesehen und diese späten, eigenartigen Stanzen ernster nehmen wollen. Es seien Worte, die nicht verstanden, sondern gehört werden wollen, schreibt Killmayer...

19-027568 Disc 2, T. 20 Sommer 1’50

Wilhelm Killmayer, Hölderlin-Lieder, „Der Sommer― Christoph Prégardien, Siegfried Mauser EMI 7 54432 2, LC 6646

„Mit Untertänigkeit – Scardanelli― so hat Hölderlin dieses Gedicht unterschrieben, und datiert hat er es auf den „9ten März 1940―. Um zu Justinus Kerner zurückzukommen: Der also hat als junger Mediziner in Tübingen den kranken Hölderlin behandelt, Hölderlin ist der 10 offiziell erste psychisch verwirrte Patient für den Arzt Kerner, aber Kerner wird dann, im Lauf der kommenden Jahre, so was wie ein Spezialist für Menschen, die aus irgend einem Grunde außer sich geraten sind, ob das nun der wahnsinnige Hölderlin war oder Kerners geisteskranker Freund Gmelin oder die psychisch schwer gefährdete Geisterseherin, die er beide Jahre später bei sich aufgenommen hat, um ihnen zu helfen. Diese Menschen haben ihn tatsächlich seit seiner Jugend interessiert: In seinem „Bilderbuch aus der Knabenzeit―, Kerners Kindheitserinnerungen, kommt schon so eine Gestalt vor, ein offenbar psychisch Kranker, der mitten in eine lustige Tanzveranstaltung auf dem Wartberg bei Weinsberg platzt, sehr ernst und bedeutsam eine ihm unbekannte Dame auffordert, eine Runde formvollendet mit ihr tanzt und dann murmelnd wieder verschwindet. Kerner beschreibt diesen Verlorenen unglaublich sorgfältig und liebevoll und ohne die üblichen Vorurteile „Verrückten― gegenüber. Immerhin hat er ja auch schon vor seinem Medizinstudium daheim in Ludwigsburg erste Erfahrungen als Therapeut gesammelt, da hat er sich nämlich, rein aus Mitleid und Interesse, um die Wahnsinnigen gekümmert, die in dem gleichen Haus untergebracht waren, wo er, der junge Justinus, seine ungeliebte Kaufmannslehre machte. Statt also sich mit den Tuchwaren zu beschäftigen, wie er eigentlich sollte, hat Kerner sich um die Verrückten von Ludwigsburg gekümmert, hat mit ihnen geredet und ihnen Musik vorgespielt, auf dem einzigen Instrument, das er beherrschte: seiner Maultrommel. Und die Geisteskranken, so erzählt er in seinen Erinnerungen, wurden ganz ruhig und hörten ihm zu.

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CD T. 2 1’30

Bauerntanz mit Dreher Günther Arnold und Annelies Brandstätter Ats CD 0489, LC 7352

... Kerner muss sich, das wird auch später immer wieder klar, den seelisch Erschütterten, die er behandelte, verwandt gefühlt haben, denn der auf Bildern immer so behäbig-gemütlich wirkende Justinus Kerner war in Wahrheit eine labile Seele – das Leid anderer Menschen hat ihn mehr mitgenommen als gut für ihn war, und das führte zu schweren depressiven Einbrüchen und jeder Menge dunklen Stunden. In einem Brief an den Dichterfreund Lenau schreibt er später: „Ich bin innen nicht so dick wie außen.― 0’30

CD T. 20 2’03

R. Schumann/J. Kerner, Wer machte dich so krank Christoph Prégardien, Michael Gees RCA 74321 73235 2, LC 00316

„Es ist doppelt erfreulich, dass ich dir in dieser Stadt und auf deiner Reise nach Norden begegne: denn wo in Gesangkraft ausströmt der Stern, dass als Komet er ein Nachtmahlskelch der Schöpfung schwebt durch die Himmel, da wird geboren ein Meer, das ist die Nordsee und

12 das Eisen auf ihr.—Von Norden aber wird kommen Nieerhörtes: denn dahin weist das Eisen und sein Geist, die Magnetur―...so spricht, enthusiasmiert und unter konvulsivischen Verzuckungen, der wahnsinnige Dichter, eine Figur aus Justinus Kerners „Reiseschatten―. Diese „Reiseschatten― sind wohl so ziemlich das Übermütigste und Entzückend-Verstörendste, was je ein schwäbischer Dichter an Literatur produziert hat. Eine Ansammlung von Szenen, die, inspiriert von chinesischen Schattenspielen, eine Kutschreise durch Süddeutschland vorstellen sollen, während derer die ausgesprochen schrägen Mitreisenden, unter anderem ein Chemikus, ein Gänsegurgelspieler und ein brennender Antiquarius namens Haselhuhn in einem Kaleidoskop aus durcheinanderwirbelnden Szenen die seltsamsten Dinge tun und erleben. Wer Justinus Kerner für einen harmlosen Heimatdichter, spinnerten Geisterseher und schwäbischen Spießer hält, der muss nur mal kurz die Nase in dieses vor Fantasie und Witz platzende, fast dadaistische Werk stecken und ist fortan kuriert von seiner Fehleinschätzung. Der Tonfall der „Reiseschatten― wechselt so abrupt immer wieder zwischen traurig und froh, dass einem beim Lesen ganz schwindlig wird, und so ähnlich muss es in Kerners Innerem auch ausgesehen haben. An seinen jungen Dichterfreund Lenau schreibt er : „Sie müssen die „Reiseschatten― lesen, damit Sie sehen, dass ich auch einmal recht tiefen Schmerz hatte, denn jener Humor konnte nur aus tiefem Schmerz hervorgehen...―. Der wahnsinnige Dichter, der da auftritt, und den der Chemikus mit einer Schweinsblase voll Wasserstoffgas heilen will, dieser Dichter heißt bei Kerner übrigens „Holder― und ist natürlich niemand anders als der Dichter Hölderlin, wie Kerner ihn als junger Mediziner in Tübingen erlebt hat: Wie er im hohen Tonfall seltsam sinnlose Dinge spricht und

13 gelegentlich dem einen oder anderen „mit starker Liebeswut― um den Hals fällt. Spätere Hölderlin-Anbeter haben Kerner diese Karikatur sehr übel genommen. Aber es ist keine böse Ironie, mit der der Dichter Holder gezeichnet ist, und wenn man genau hinsieht, dann stellt man fest, dass alle anderen in diesem grotesken Wirbel eigentlich noch viel wahnsinniger sind als der wahnsinnige Holder – und das sagt natürlich was über Kerners Haltung gegenüber den angeblich Verrückten seiner Zeit.

19-047692 T. 5 4’46

Franz Danzi , Concertante für Flöte und Klarinette mit Orchester H-Dur James Galway, Sabine Meyer, Württembergisches Kammerorchester, Jörg Faerber RCA 09026 61976 2, LC 0316

...von Franz Danzi. Der war ab 1807 Hofkapellmeister in Stuttgart und unterrichtete die Blasinstrumentalisten am Waisenhaus, der Vorform des Stuttgarter Konservatoriums. Im Jahr 1808 kommt der junge Karl August Varnhagen von Ense zum Studieren nach Tübingen, und das Bild, das er von der Stadt in den Briefen an seine spätere Frau Rahel malt, macht ziemlich deutlich, dass die Tübinger Romantik zuzeiten der Tübinger Romantik noch arg zu Wünschen übrig ließ: „Die Stadt ist hässlich, dumpf, schmutzig, alle Straßen liegen voll Mist; die Einwohner sind armselig, es gibt nicht einmal schöne Gesichter; die Universität ist unbedeutend, gemein, kein begeisternder Mann, unter den Studenten der schlechteste Ton, die Mediziner meist

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Barbiergesellen...die Gegend ist schön, aber melancholisch, und erdrückt mich durch das Gefühl der Einsamkeit...― So klagt Varnhagen und beschwert sich sehr, dass die Erfindung des Sofas noch nicht bis hierher vorgedrungen ist und man sich noch nicht mal mit Saufen über den Jammer wegtrösten kann, weil nämlich der dasige Wein damals noch sauer wie Essig war. Der gebeutelte Neig’schmeckte hat dann aber unter den medizinischen Barbiergesellen doch noch einen Freund gefunden, nämlich Justinus Kerner, und er wurde Zeuge, wie der und seine Dichterfreunde dort im Mist und Matsch eines schwäbischen Landstädtchens bei saurem Wein die süße süddeutsche Romantik erfunden haben. Die hat sich nicht, wie heute, in restauriertem Fachwerk und pittoresken Gassen erschöpft, sondern fand als geistiger Zustand statt: Im Kopf einiger Studenten, die sich fast jeden Abend im „Lamm― am Marktplatz zum Schwärmen trafen. Sie haben die alten Sagen des Mittelalters wieder zum Leben erweckt, haben die württembergischen Landschaften und ihre Schönheit auf langen Wanderungen entdeckt und dabei Wettbewerbe in Balladendichtung abgehalten. Und vor allem haben sie sich für den neuen Volksliedton begeistert, der aus der eben brandneu herausgekommenen Sammlung „Des Knaben Wunderhorn― herüberwehte, und der damals den entscheidenden Anstoß gab zu der neuen Epoche. «Die Romantik ist nicht bloß ein phantastischer Wahn des Mittelalters; sie ist hohe, ewige Poesie, die im Bilde darstellt, was Worte dürftig oder nimmer aussprechen, sie ist ein Buch voll seltsamer Zauberbilder, die uns im Verkehr erhalten mit der dunklen Geisterwelt.» Der das in einem Aufsatz unter dem Titel „Über das Romantische― schreibt, heißt Ludwig Uhland und ist seit diesen Tübinger Studienzeiten der beste Freund von Justinus Kerner.

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Kerner ist vom Typ her mit seinem genialischen Flackergeist viel mehr Romantiker als der beherrschte, immer souveräne Uhland, der sich in Tübingen im Übrigen nicht allzu studentisch danebenbenehmen darf - er stammt nämlich von hier, und seine Familie besteht seit Generationen aus ehrwürdigen Mitgliedern und Gelehrten der Universität. Trotzdem ist der brave Ludwig Uhland aus Tübingen vorneweg dabei, als seine Freundesclique von Jungdichtern darangeht, das literarische Establishment zu ärgern. Schiller und Goethe sitzen ja längst schon auf ihrem Olymp in Weimar, setzen Efeu an und denken lieber an Griechenland als an die heimischen Landschaften.

Darum ist ja eben auch Hölderlin und nicht Schiller oder Goethe der erste echte Romantiker, denn zur Romantik gehört Heimat, und Hölderlin und nach ihm die Schwabendichter hatten keine Probleme damit, das ersehnte Arkadien irgendwo zwischen Besigheim und Haigerloch suchen zu gehen...

19-057611 T. 5 1’23

Trad., Übern Heuberg nei Volkstanzgruppe Frommern Walter Kögler Verlag Stuttgart

Diese Art Folklore ist nichts für den Tübinger Edelverleger Cotta und seine Leser – „Morgenblatt für die Gebildeten Stände― heißt die anspruchsvolle Literaturzeitschrift, die er herausgibt. Im Volksliedton dichtende, schwäbelnde Studenten werden da eher als lästige

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Randerscheinungen betrachtet und ihre Produkte natürlich auf keinen Fall im hehren Cotta’schen Heftchen gedruckt. Kerner, Uhland und ihre Freunde geben, weil sie anders keine Chance zur Veröffentlichung sehen, kurzerhand ihre eigene Literaturzeitschrift heraus, das „Sonntagsblatt für die gebildeten Stände―, und weil sie keine Drucktechnik zur Hand haben, schreibt Kerner liebevoll jeden Artikel und jedes Gedicht für jedes Exemplar von Hand. Die Freunde dichten, was das Oktavheft hält, am liebsten in der Kneipe oder in freier Natur. Und die ganz einfache Strophenform des echten Volkslieds wird jetzt nach dem Vorbild der „Wunderhorn―-Lieder, das neue Ideal, zum Beispiel so: „Droben stehet die Kapelle schauet still ins Tal hinab. Drunten singt bei Wies’ und Quelle Froh und hell der Hirtenknab’.― Das hat Ludwig Uhland im September 1805 nach einem Spaziergang mit Blick auf die Wurmlinger Kapelle geschrieben. Die wurde darob berühmt und wird seitdem viel besucht und bewandert auf ihrem Bergesrücken bei Tübingen. Und gleich mehrere Spaziergänger haben das weithin weiß und rot leuchtende Kapellchen besungen. Das schönste dieser Gedichte kam, viele Jahre später, eindeutig von , der zwanzig Jahre jünger als Uhland und Kerner, aber trotzdem ein enger Freund war. Lenau sieht die Kirche als Schiffchen, das auf der grünen Welle des Hügels schwimmt, und ein paar Strophen weiter schreibt er die wunderbaren Zeilen: „Und der Baum im Abendwind lässt sein Laub zu Boden wallen, wie ein schlafergriff’nes Kind

17 lässt sein buntes Spielzeug fallen.― Ungeheuer berühmt geworden ist aber eben nicht das traumschöne Gedicht von Lenau, über dessen schlimmes Schicksal noch zu reden sein wird, sondern das viel schlichtere von Ludwig Uhland – das immerhin hat dann veredelt, er lässt es als Chorstück wie aus der Ferne längstvergangner Zeiten herwehen...

M0266262 006 3’30

Robert Schumann, Die Capelle Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius

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