Swr2-Musikstunde-20101209.Pdf
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__________________________________________________________________________ Musikstunde mit Katharina Eickhoff Donnerstag, 9. Dezember 2010 Schwabenstreiche – Ausfahrten in romantischer Seelenlandschaft mit Kerner, Uhland, Mörike und den Freunden Teil IV: Im Kernerhaus Indikativ „Seine Augen haben etwas Geisterhaftes und Frommes,...er selbst hat etwas Somnambüles, das ihn auch im Scherz und Lachen begleitet. Er kann lange sinnen und träumen, und dann plötzlich auffahren, wo dann der Schreck der anderen ihm gleich wieder zum Scherze dient. Wahnsinnige kann er nachmachen, dass man zusammenschaudert, und obwohl er dies possenhaft beginnt, so ist ihm doch im Verlauf nicht possenhaft dabei zumut...Nun denkt Euch noch die einfachste, ganz vernachlässigte Kleidung, vorgebeugte Haltung, ungleichen, ungeraden Gang, eine stete Neigung, sich anzulehnen oder niederzulegen, und bei allem diesen einen doch wohlgewachsenen, ganz hübschen Jungen – so habt ihr ein vollständiges Bild meines Kerners.“ So beschreibt Karl August Varnhagen von Ense, der als Student aus dem Norden nach Tübingen gekommen ist, seinen Studienkollegen und Freund Justinus Kerner. „Aha“, sagten freundlich-interessiert, aber ahnungslos die meisten, als ich erzählte, dass ich über Kerner schreiben will. Ziemlich viele kennen ihn gar nicht mehr, und wenn überhaupt, dann ist heute nur noch ein verzerrtes Bild von Justinus Kerner in Umlauf – der dicke, frohgemute Heimatdichter, der, Inbegriff schwäbischer 2 Behaglichkeit, in Weinsberg im Schatten der Weibertreu residierte, mengenweise prominente Besucher empfing und mit Württemberger Wein traktierte, und der dort die Nationalhymne Württembergs geschrieben hat, die heute eben auch kein Mensch unter vierzig mehr kennt, geschweige denn aufsagen kann, jenes „Preisend mit viel schönen Reden/ihrer Länder Wert und Zahl/saßen viele deutsche Fürsten/einst zu Worms im Kaisersaal“. Die Ballade führt dann einigermaßen umständlich aus, wie die Fürsten darum wetteifern, wer unter ihnen der reichste Fürst ist, und es stellt sich heraus, dass Württembergs Eberhard, „der mit dem Barte“, dass also Eberhard im Bart es am besten hat, denn ihm gehören zwar keine Schätze, dafür aber die Herzen seiner Untertanen. Soweit, so tümelnd, und wenn Kerner nur solche Sachen gedichtet hätte, dann könnte man zur Not Verständnis für seinen Kollegen Heinrich Heine aufbringen, der sich sooft es ging über die Schlafmützen „zu Stukkert am Neckarstrome“ lustig machte und mit Gift im Zahn dichtete: „In Schwaben besah ich die Dichterschul’, gar liebe Geschöpfchen und Tröpfchen! Auf kleinen Kackstühlen saßen sie dort, Fallhütchen auf den Köpfchen.“ Fallhüte waren Kopfpolster, die man damals kleinen Kindern um den Schädel geschnallt hat, damit sie nicht irgendwo anecken und sich wehtun. Harmlose Kinderreime also – zu mehr hat es in Schwaben laut Heine nicht gelangt. Nun ist es aber in Wahrheit so, dass Justinus Kerner auch ganz anders konnte. Denn er war kein bräsiger, harmloser Gemütsmensch, sondern, genau wie Heine, ein Gleichgewichtskünstler überm Abgrund, eine von 3 Depressionen schwer gefährdete, melancholische Seele, die manchmal das Leben und seine Rätsel kaum ausgehalten hat. Heinrich Heine jedenfalls steht Kerner im Innersten näher, als Heine das hat wahrhaben wollen, er machte aus seinen großen Schmerzen seine kleinen Lieder, und Kerner dichtete: „Poesie ist tiefes Schmerzen und es kommt das echte Lied einzig aus dem Menschenherzen das ein tiefes Leid durchglüht.“ Nein, „Preisend mit viel schönen Reden“ von Justinus Kerner kannte ich bis vor Kurzem auch nicht, und auswendig hersagen kann ich es schon gar nicht. Aber sein Gedicht „Stille Tränen“ gehört für mich schon lange zu den schönsten Versen, die je geschrieben wurden. CD T. 19 4’00 R. Schumann/Kerner, Stille Tränen Christoph Prégardien, Michael Gees RCA 74321 73235 2, LC 00316 Geboren ist Justinus Kerner im Jahr 1786 in Ludwigsburg, als Sohn einer zwar nicht reichen, aber sehr angesehenen Familie, sein Vater war der Oberamtmann des Landkreises und der Stadt, wobei diese Stadt, Ludwigsburg, in Kerners Kindheit ein etwas eigenartiger Ort gewesen sein muss. Zwanzig Jahre zuvor, als die Mozarts hier vorbeireisten, war die Residenz noch belebt gewesen, Württembergs Herzog Carl Eugen, europaweit berühmt für seine Feierlaune, hatte hier in seinem Mini- Versailles eine teure Party nach der anderen geschmissen, ließ 4 französische Komödien und italienische Opern aufführen und sich quietschbunte Galakleider schneidern und brachte mit seinem splendiden Lebensstil sein Herzogtum an den Rand des Ruins. Casanova, der auch mal da war, um ein paar italienischen Tänzerinnen beim Umkleiden zu helfen, Casanova also schwärmt in seinen Memoiren von prächtigen, von tausend Kerzen erleuchteten Sälen. Inzwischen aber war Carl Eugen brav geworden und nach Stuttgart gezogen, und, wie dann später Heine so schön sagte: „Es ist schwer, in Stuttgart nicht moralisch zu sein.“ Carl Eugen war also fürderhin in Stuttgart moralisch, und Ludwigsburg, diese Residenzstadt vom Reißbrett, war auf einmal leer und tot. Übriggeblieben waren nur ein paar versprengte Satelliten des Hofes, ehemalige fürstliche Warenlieferanten, einige ausrangierte Künstler, ein paar verarmte Adlige – aber alles in allem war die Stadt so leer, dass auf den Straßen ungestört das Gras zwischen den Steinen wachsen konnte. „Durch schöne Gänge von Linden- und Kastanienbäumen führte uns der Weg in die Stadt Grasburg ein“, schreibt Justinus Kerner in seinen „Reiseschatten“, dieser romantischen Groteske über eine fantastische Kutschfahrt, deren Teilnehmer irgendwann auch nach Grasburg, alias Ludwigsburg, kommen: „Totenstille herrschte, die nur von dem Gesumse der Bienen um die Blüten der Bäume unterbrochen wurde. Lange, weite Straßen eröffneten sich, sie wurden durch niedliche, gelbgefärbte Häuser gebildet...An den Häusern sproßte hohes Gras auf, Schmetterlinge, Goldvögel und Maienkäfer durchflogen die sonnenhellen Straßen, und setzten sich bald auf die Dächer der Häuser, bald auf dies Stadtgras, welches wunderlich anzusehen war. „Wenn wir uns nur eine Stunde Zeit nehmen wollten“, sprach der Mühlknecht, „so könnten wir vielleicht einen der Inwohner dieser Stadt zu 5 Gesichte bekommen. Seht! Dort weit am letzten Hause bewegt sich schon etwas!“ 12-034328 T. 7 – 10 4’00 Schubert, Forellenquintett 4. Satz, Thema + Variation I-III Thomas Adès, Mitglieder Belcea-Quartet, Corin Long EMI 5 57664 2, LC 06646 Franz Schuberts „Forellenquintett“ ist ja angeregt durch das berühmte Gedicht von der „Forelle“, die in ihrem Bächlein schwimmt und heimtückisch eingefangen wird. Christian Friedrich Daniel Schubart hat’s geschrieben, das Gedicht, und sich in dem gefangenen Fisch selber porträtiert. Schubart ist, noch vor Justinus Kerners Geburt, zunächst mal Musikdirektor am württembergischen Hof in Ludwigsburg gewesen und hat sich dort ständig selbst in die Bredouille gebracht durch ausgiebiges Trinken, Schankmädel-Befingern und, das vor allem, durch aufklärerisches Schmähreden-Führen gegen Fürsten und Geistliche. Schubart mag im Auftreten eher rustikal gewirkt haben, aber in seinem riesigen Kopf steckte ein brillantes Hirn und in der Brust ein Herz, das für die Freiheit des Individuums und die Rechte der Unterdrückten entflammt war, und konsequenterweise landete er damit dann auch im Staatsgefängnis auf dem Hohenasperg; damit sich’s lohnte, saß er gleich ganze zehn Jahre dort oben und wurde „umerzogen“, wie man das so schön nannte. Ihn stießen sie aus frischen Lebensgärten In dunkle, modernde Gewölbe nieder, Mit Ketten seine Hände sie beschwerten: 6 Da stiegen Heil'ge liebend zu ihm nieder Und wurden fortan Freund' ihm und Gefährten: So sang begeistert er die frommen Lieder. Und als den Kerker sie ihm aufgeschlossen, Schien ihm die Welt von Grau'n und Nacht umflossen. So, mit viel Sympathie, hat später Justinus Kerner den gefangenen Schubart bedichtet – und vermutlich hat er da noch nicht geahnt, dass eines Tages auch mal sein eigener Sohn Theobald auf dem Hohenasperg landen würde, weil er, wie Theobald das ironisch formulierte, „die Freiheit zu sehr geliebt hat“. Justinus Kerner hat Schubart, den dann etwas gezähmten Berserker, nach dessen Haft kennengelernt. Der Dichtermusikus war nämlich, trotz allem Misstrauen gegen die Staatsmacht, mit Kerners Vater befreundet – der Amtmann Kerner war sogar Pate für eins von Schubarts Kindern, und Justinus Kerner erzählt in seinen Erinnerungen, dem „Bilderbuch aus meiner Knabenzeit“, dass der dichtende Musikdirektor oft abends bei ihnen hereingeschneit sei, sich ans Klavier setzte und sang und spielte, so dass an Schlaf nicht zu denken war... 12-034328 T. 11 – 13 4’20 Forellen-Quintett 4. Satz zu Ende Thomas Adès, Mitglieder Belcea-Quartet, Corin Long EMI 5 57664 2, LC 06646 Dass aus Justinus Kerner ein bedeutender Arzt, Therapeut und Naturforscher werden würde, hat sich schon in seiner Jugendzeit angedeutet – wobei gleich klar war, dass er kein trockener 7 Wissenschaftler sein wollte, weil er sich schon damals seinen ganz individuellen Reim gemacht hat auf das, was er vor sich sah: „Ich konnte“, schreibt er in den Erinnerungen, „den Namensbestimmungen und Einregistrierungen der Blüten und Kräuter keinen Geschmack abgewinnen, und mir waren die Blumen, deren Namen ich nicht kannte, viel wunderbarer und lieber, als solche, denen ich durch ihr Zergliedern und Zählen der Staubfäden einen Namen zu geben wusste, der mir ihr Wesen doch nicht bezeichnete. Ich gab den gesammelten Kräutern am liebsten Namen nach eigener Wahl, meistens nach mir bekannten Menschen.