Avantgarden Vom Kopf Auf Die Füße Gestellt. Kritik an Kunst Vs
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
VOM KOPF AUF DIE FÜSSE GESTELLT Kritik an Kunst vs. Künstlerkritik vs. an Kunst Kritik Herausgeber*innen Theresa Walter & Lukas Meisner IMPRESSUM Avantgarden vom Kopf auf die Füße gestellt. Kritik an Kunst vs. Künstlerkritik. Sammelband des Q-Tutoriums gleichen Namens im Sommersemester 2019 an der HU Berlin. Veröffentlicht: Berlin, 2020 Herausgeber*innen: Theresa Walter und Lukas Meisner Lektorat: Sebastian Netzker Layout und Cover: Alexander Demczak Finanzierung: bologna.lab, Humboldt-Universität zu Berlin, Hausvogteiplatz 5-7, 10117 Berlin Druck und Weiterverarbeitung: Hausdruckerei der Humboldt-Universität zu Berlin, Technische Abteilung, Dorotheenstraße 26, 10117 Berlin Unverkäufliches Exemplar Diese Publikation wird elektronisch auch auf dem edoc-Server der Humboldt-Universität zu Berlin veröffentlicht: http://edoc.hu-berlin.de Das vorliegende Buch ist unter einer Creative-Commons-Lizenz lizenziert. Für nichtkommerzielle Zwecke dürfen Sie das Werk und Teile davon vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen, wenn Sie auf die Urheber*innen (Autor*innen, Herausgeber*innen) verweisen. Im Fall einer Verbreitung müssen Sie anderen die Lizenzbedingungen, unter welche dieses Werk fällt, mitteilen. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede kommerzielle Verwertung ohne schrift- liche Genehmigung ist unzulässig. VOM KOPF AUF DIE FÜSSE GESTELLT Kritik an Kunst vs. Künstlerkritik INHALTSVERZEICHNIS Lukas Meisner & Theresa Walter Vorwort: Kapital – Avantgarde – Großstadt Die Umwertung der historischen Avantgarden: vom Schock der Metropole zur Norm schöpferischer Zerstörung 6 Theresa Walter Avantgarde der Großstadt, Avantgarde des Kapitals? Der Schock „Großstadt“ und der Umbau des schockierten Geistes durch Futurismus und Dadaismus 25 Sven Nickisch Bürgerliche Antibürger: Dada ganz hierhier Dadaismus als Affirmation bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung 54 Ekaterina Voronovich Die Verschmelzung von Kunst und Leben bei den russischen Avantgardisten 97 Konstantin Parnian Zwischen Reformwillen und Traditionsbewusstsein Die Musik der Moderne im Spiegel der historischen Avantgarde 113 Jan Kabasci Der Schock der Großstadt Ein dramatischer Versuch 134 Lukas Meisner Von einer Klimax: Kunst, Kapital, London 158 Lena Schubert White Strike 166 Lukas Meisner & Theresa Walter VORWORT: KAPITAL – AVANTGARDE – GROSSSTADT Die Umwertung der historischen Avantgarden: vom Schock der Metropole zur Norm schöpferischer Zerstörung 1 Wir sind es gewohnt, künstlerische Avantgarden als subversive bis revolutionäre Be- wegungen zu verstehen, die nicht nur vom Kunstestablishment sowie dessen Stil- diktat befreien wollen, sondern von gesellschaftlichen Normen, Konventionen und Autoritäten überhaupt. Entsprechend imaginierten sich die historischen Avantgar- den auch selbst als Prophet*innen und Schöpfer*innen einer neuen Welt, in der jeg- liche konservative Verhärtung aufgelöst sei zugunsten einer freien Entfaltung des Chaotischen als Urgrund des Kreativen. Doch wofür steht „Avantgarde“ jenseits übersteigerter Selbstinszenierungen und kunsthistorischer Apologien? Als Metapher der Vorhut aus dem Militär entnommen lässt sich Avant-Garde auch als „vorderste Front“ oder Vorwegnahme gesellschaftlicher Gesamttendenzen begreifen. Insofern der Lauf der Geschichte aber nicht mehr als per se dem Telos des Besseren oder gar Besten zustrebend verstanden werden kann, wird auch die um- standslos positive Bewertung künstlerischer Avantgarden fragwürdig. Mehr noch, wenn die gesellschaftliche Entwicklung seit der Moderne stark mit einer kapitalisti- schen Entwicklungstendenz korreliert, und wenn letztere eine solche „permanenter Revolution“ – Trotzki, immanent gewendet – ist, dann erschlösse sich, aus ver-rück- tem Blickwinkel, weshalb die meisten avantgardistischen Manifeste (ob sie sich selbst so betiteln oder nicht) eine „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) anstrebten, seit welcher Beweglichkeit, Liquidität und Dynamik zum Lebendigen, wenn nicht zum Sein selbst erhöht worden sind. Dass „alles Ständische und Stehende verdampft“1 hat 1 Marx 1972 ; Berman 1982. 6 Marx – gewissermaßen der Begründer der europäischen Manifestkultur – allerdings noch nicht als Endziel verkündet, sondern als Analyse kapitalistischer Verwertungs- imperative verstanden, ohne welche diese nicht überwunden werden könnten. Korrektiv zum normativ stark aufgeladenen, allseits zelebrierten 100. Jubiläumsjahr des Bauhauses haben wir diese heterodoxe Lesart der Avantgar- den also in einem Q-Tutorium zu entwickeln versucht, das im Rahmen des for- schenden Lernens des bologna.labs an der Humboldt Universität zu Berlin im Sommersemester 2019 angeboten wurde. Das vorliegende Konvolut versammelt entsprechende Beiträge der Teilnehmenden und Lehrenden des studentischen Se- minars mit Hintergründen in Philosophie, Kultur-, Literatur- und Musikwissen- schaft sowie Kunstgeschichte. Aus interdisziplinärer Perspektive versuchte unser Q-Tutorium nicht zuletzt die Frage aufzuwerfen, ob besagte avantgardistische Umwertung in Verbindung steht zu einem „neuen Geist des Kapitalismus“2, der weniger von traditionellen Paradigmen wie Hierarchie und Stabilität beseelt ist als von denen permanenter Innovation und „schöpferischer Zerstörung“3. Zur Beantwortung dieser Frage haben wir uns in erster Linie an Manfredo Tafuris Studie „Kapitalismus und Architektur“ orientiert, derzufolge die historischen Avantgarden den Schock der kapitalistischen Akkumulation Großstadt und ihrer akzelerativen Technologien positiv umgewertet und somit weiter enthemmt sowie verwertbar gemacht haben. Andere entscheidende Texte zur gemeinsamen Lektüre in ähnlicher Richtung waren neben den Manifesten der historischen Avantgarden – mit Fokus auf Futurismus, Konstruktivismus, Dada und De Stijl – Georg Simmels „Die Großstädte und das Geistesleben“, Walter Benjamins „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ und Hans Magnus Enzensbergers „Die Aporien der Avantgarde“. Das Seminar trug (wie der vorliegende Sammelband) den Namen „Avantgar- den vom Kopf auf die Füße gestellt – Kritik an Kunst vs. Künstlerkritik“, um die hegemoniale Interpretation der historischen Avantgarden auf einen historisch-ma- terialistischen Prüfstand zu stellen, ohne dies unter den teils limitierenden Axio- men eines orthodoxen historischen Materialismus tun zu müssen. In der Tat lässt 2 Boltanski/ Chiapello 2003. 3 Schumpeter 2005; vgl. Hartmann 2015. 7 Vorwort: Kapital – Avantgarde – Großstadt sich die etwa von Peter Bürger analysierte4 „Auflösung der Grenze“ zwischen „Kunst“ und „Leben“ durch die historischen Avantgarden zurückführen auf die realgesellschaftliche Aufhebung der antithetischen Systeme einer interesselos-schön- geistigen oder zumindest unproduktiv-nutzlosen Kunst auf der einen und einer utilitaristischen, zweckrationalen, profitmaximierenden Ökonomie auf der ande- ren Seite. Jene Aufhebung führte entsprechend in eine neuen Synthese des Krea- tiv- und Kulturkapitalismus, in dem „Warenästhetik“5 und Werbung zentrale Positionen einnehmen. In diesem Sinne wäre die deskriptiv ans Apologetische gren- zende „Aufhebung der Kunst im Leben“ eher zu deuten als eine „Kolonisierung der Lebenswelt“6 durch Marktimperative sowie andersherum als Verwertung nunmehr auch künstlerischer Produktivität bzw. als Einführung ihrer in die Zirkulationen des Kapitals. Entsprechend folgt aus der Kommodifizierung und Kommerzia- lisierung von Kunst und Kultur gleichsam eine Ästhetisierung der Ware, des Geldes und des Marktes. Demgemäß ist vermeintlich apolitisches Künstlertum nicht nur dem Warenfetischismus verfallen, wie bereits Benjamin behauptet hat.7 Vielmehr führte es in die „Ästhetisierung der Politik“8 gerade über den Weg einer Ästhetisie- rung der Produktion (s. Werkbund) inklusive der Entwicklung des Produktdesigns (s. Bauhaus) bis in die Ästhetisierung der Konsumtion (s. z.B. Duchamps Fountain, dadaistische Collagen, Schwitters Merzbau etc.9). Jener Kollaps der einst zumindest in marxistischer Theorie trennbaren Bereiche „Überbau“ und „Basis“ ineinander lässt sich auf dem Gebiet der politischen Öko- nomie vermutlich am ehesten auf die Krise spatialer kapitalistischer Expansion im Imperialismus zurückführen. Zur Lösung dieser Krise musste sich kapitalis- tische Verwertung nach der Sättigung des Raumes bzw. der Aufteilung der Welt unter die nationalpolitischen Ökonomien des Westens mehr an der Zeitachse der Kolonisierung orientieren, zu welcher nicht nur das fordistische Fließband und das tayloristische scientific management zählen, sondern auch die Produktion des 4 Vgl. Bürger 1974. 5 Haug 2009. 6 Habermas 1981. 7 Benjamin 1974. 8 Benjamin 2010; vgl. auch Dröge/ Müller 1995. 9 Für Diskussionen, s. Tafuri 1987. 8 Die Umwertung der historischen Avantgarden: vom Schock der Metropole zur Norm schöpferischer Zerstörung Massenkonsums, die Abstraktionen des Finanzsektors und die Beschleunigungen großstädtischer („unvermittelter“) Sozialisationstypen. Das resultierende Spek- taktel, kulminierend in den berüchtigten Roaring Twenties – dem Anheben des Konsumerismus –, wäre ohne die technischen Reproduzierbarkeiten10 von Fotografie, Radio und Kino11 und die sich damit überlagernden Verkehrs- und Kommunikationskonzentrationen der Metropolen als abgekürzte Zirkulations- sphären undenkbar. Die Bedeutung der historischen Avantgarden als ideologische Vorhut jener ka- pitalistischen Entwicklung lässt sich insofern genau aus ihrem erklärten Ziel einer „Überführung der Kunst in die Lebenspraxis“12 ablesen, welche nicht nur in eine Ästhetisierung des Marktes