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01-06 05.01.2006 12:07 Uhr Seite 1 StadtkinoZeitung 425 Philippe Garrel Les amants réguliers Frankreich 2005 ______________________________________________________ Regie Philippe Garrel Drehbuch Philippe Garrel Arlette Langmann Marc Cholodenko Choreographie Caroline Marcadé Kamera William Lubtchansky Schnitt Françoise Collin – In Zusammenarbeit von Kulturamt der Stadt Wien, Viennale und Club Bank Austria Philippe Garrel Alexandra Strauss Musik Jean-Claude Vannier Ton Alain Villeval Alexandre Abrard Ausstattung Nikos Meletopoulos Mathieu Menut Kostüme Justine Pearce Kino, Verleih, Videothek Cécile Bergès Koproduzent Pierre Chevalier Produzent Gilles Sandoz Koproduktion Arte-France Produktion Maïa Films Stadtkino Wien, Verleih Stadtkino Wien _______________________________________________________ Darsteller François Dervieux Louis Garrel Lilie Clotilde Hesme Eric Rulliat, Julien Lucas, Nicolas Bridet, Mathieu Genet, Raïssa Mariotti, Caroline Deruas-Garrel, Rebecca Convenant, Marie Girardin, Maurice Garrel, Cécile Garcia Fogel, Marc Barbé, Nicolas Maury, Brigitte Sy, Nicolas Chupin, Martine Schambacher _______________________________________________________ Der Film ist Daniel Pommereulle gewidmet _______________________________________________________ Auszeichnungen Silberner Löwe für Beste Regie, Venedig 2005 Osella d'oro für Bester technischer Beitrag (William Lubtchansky), Venedig 2005 _______________________________________________________ 35mm / Schwarzweiß / 1:1,37 Länge: 178 Minuten Französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln _______________________________________________________ 01-06 05.01.2006 12:07 Uhr Seite 2 keit. Und die Angst, die Angst, die Angst. Das heißt, alles zu- Jean-Michel Frodon sammengefügt, ein Trip. DER Trip. Wenn der Tag anbricht, kommt François (Louis Garrel) starr vor Kälte vom Dach herunter, auf das er vor den Geset- Schock und Erleuchtung zeshütern in ihren langen schwarzen Mänteln entkommen war, die Burschen gehen wie Müßiggänger die Straße hinunter, die Erste gelungene Auseinandersetzung mit dem Mai 68 im Kino: Gewerkschaften setzen sich an den Verhandlungstisch, die Re- der Film, der in Venedig zu Recht mit einem Silbernen Löwen gierung läßt Benzin in die Zapfsäulen rinnen, Mama läßt ein belohnt wurde, ist vor allem die poetische Aufzeichnung der Bad ein. Für jene aber, die jene Nacht durchlebt haben, wird Auswirkungen des Aufruhrs auf besondere Personen. Gipfel sich alles verändert haben. Les amants réguliers erzählt davon, und gleichzeitig Bruch im Werk von Philippe Garrel. indem es einen jungen Mann, seine Freunde und seine Liebe Der Film schwingt sich hoch – wie die jungen Leute zu Be- die folgenden Monate hindurch begleitet. ginn des Filmes die Treppe hinauf. In einem schlecht beleuch- Bedeutet das, daß Mai 68 oder die Erfahrung, die er daraus teten Dienstbotenzimmer sitzen sie dann so nah beieinander, gewonnen hat, die Ur-Szene des Garrellschen Kinos, das Ge- daß sie kaum noch voneinander zu unterscheiden sind; das heimnis aller seiner Filme darstellt? Natürlich nicht. Vom Al- Vorbeihuschen eines weiblichen Engels, Großaufnahmen der gerienkrieg bis zu Nicos Tod, von den Schwierigkeiten, den Gesichter, Fetzen von unrühmlichen, etwas lächerlichen, etwas Alltag und die Kunst miteinander vereinen zu können, zu den komischen Rebellenabenteuern (gelungenes Versteckspiel mit Auswirkungen der Sucht – es gibt jede Menge Beispiele von der Gendarmerie, um dem Militärdienst zu entgehen). Und da Ereignissen in seinem Werk. Keines von ihnen ist die Ursache geht es los. Mai, die Nacht, die Barrikaden, das Feuer, die um- des Films noch sein „Thema“ (das nicht existiert). Es geht nicht gestürzten Autos, die Freunde, denen man in seltsamer Kriegs- um Ursache und Wirkung, sondern um Energie. Um das, das aufmachung wieder begegnet, die Polizei, die mit der Kamera die Würfel wirft, das die Zündschnur entfacht und die Schein- ebensosehr auf Distanz gehalten wird wie mit fliegenden Pfla- werfer anwirft. Trotz alledem hat Mai 68 selbstverständlich stersteinen. (Es stellt ein Problem dar, wenn die Polizei in Ak- eine entscheidende Rolle in Philippe Garrels realer und kreati- tion fotogener ist als jene, die sie bekämpft.) ver Existenz gespielt, auch wenn er für damals betont, „ich Wir haben da einen Film von einer knappen halben Stunde habe nichts Besonderes gemacht, ich muß eines Tages einer Ver- vor uns, der eine Art Meisterwerk ist und Les espérances de feu sammlung des 22. März in einem Souterrain beigewohnt haben (Hoffnungen voll Feuer) heißt. In Les amants réguliers nimmt und ich war Mitglied des Kollektivs, das Actua 1 gemacht hat. er den Status eines Kapitels ein, aber er ist deutlich mehr. Eine Das war ein Dokument von Revolutionsnachrichten, wir mein- Art Bruch oder Vollendung im Kino des Philippe Garrel. ten, es wäre obszön, die Barrikaden zu zeigen. Nachdem ich die Ein Kino, dessen Umfang von 25 Filmen, dessen stilistische Füße der Demonstranten gefilmt hatte, hatte ich die von der Po- und thematische Vielfalt (man muß schon mit blinder Faulheit lizei besetzten Brücken von Paris gezeigt, die Stadt, die in zwei geschlagen sein, um zu behaupten, daß Garrel immer dasselbe Teile geschnitten war“. („Une caméra à la place du cœur“ von macht) und dessen Entwicklungen im Laufe der vier Jahr- Philippe Garrel und Thomas Lescure. Admiranda/Institut de zehnte trotz allem ein gemeinsames cinematographisches Prin- l’image) zip entdecken lassen: das der Schockwelle. Bei aller grundle- Und es ist zweifellos das erste Mal, daß Philippe Garrel aus- genden Verschiedenheit begleiten alle Filme Garrels die Aus- reichend Kraft, Sicherheit und Inspiration (oder wie auch im- wirkungen eines Ereignisses, einer Krise, eines Schockerleb- mer man diesen Treibstoff bezeichnen möchte, der seinen Film nisses, das sich abseits der Kamera ereignet hat. Dieses Mal in die traumhaften Höhen davonträgt, in denen er sich bewegt passiert dieser Initialschock erstmals auf der Leinwand, im und in die er seine Zuschauer mitnimmt) findet, um so nicht Laufe des Films. Dieser Schock resultiert aus der Tatsache des nur irgendein Elementarereignis, sondern genau dieses – Mai historischen Ereignisses, das unter dem Namen Mai 68 bekannt 68 –, das komplizierteste, waghalsigste, vielleicht das wichtigste ist, aber es geht nicht um das historische Ereignis selbst in sei- in den Lauf des Films zu integrieren. Das Großfeuer (in den ner großen Komplexität. Weder die politischen Herausforde- Köpfen und Bäuchen ebenso wie in den Straßen) des Ereignis- rungen von damals – zweifelhafte Herausforderung (bestand ses ist nicht das „Thema“ des Films, sondern das Licht der die Möglichkeit zur Revolution?) – noch die soziologischen Scheinwerfer für den Film, der gerade am Entstehen ist. Auswirkungen (diese sind offensichtlich und enorm) spielen in Bedeutet das nun weiter, daß das traumatisierende Ereignis Garrels Film eine Rolle. Es ist die individuelle Erfahrung ex- unbedingt gezeigt werden muß? Nein, selbstverständlich zeu- tremer Gefühlszustände. gen so viele schöne Filme (die von Garrel ganz besonders) vom Was Les espérances de feu auf bewundernswerte Weise her- Gegenteil, machen sogar oft dieses Fehlen zu einer ihrer Stär- vorbringt: Die Empfindungen von Dauer, die unendlich ge- ken. Doch es besteht weiterhin die Möglichkeit zu glauben, dehnt und gerafft wird. Frappierende Brüche im Rhythmus. und Les amants réguliers unterstützt besonders nachdrücklich Der unvermittelte Ausbruch des Absurden. Die absolute Ent- diesen Glauben, daß, falls es einem Filmemacher gelingt, mit fremdung der Gewalt bis an einen Punkt, wo Burleskes und filmischen Mitteln das Ereignis in seiner radikalen Fremdheit Schmerz ineinanderfließen. Die nie zuvor gesehene Intensität in den Körper des Films einfließen zu lassen, dann entsteht der Körper. Die Präsenz und der bewußt gemachte Gebrauch eine Art Erhöhung der ästhetischen Möglichkeiten des gesam- von Alltagsgegenständen. Die Möglichkeit des plötzlichen ten Films. Und auf diese Weise wird Philippe Garrel eben für Auftauchens von großen ästhetischen Formen, die sonst um diese Kühnheit ein Geschenk zuteil: ein Zustand der Erleuch- uns herum im Verborgenen existieren (abgesehen vom Mu- tung, um wie in Schwerelosigkeit das Leben zu filmen, das da seum, der Bibliothek oder der Kinemathek). Das Gedächtnis seinen Lauf genommen hat. der erlebten Geschichte wie das der Gegenwart. Die Verblüf- Cahiers du Cinéma No 605, Oktober 2005 fung. Das Symbolhafte im unmittelbaren Bezug zur Wirklich- 01-06 05.01.2006 12:07 Uhr Seite 3 treiben kommt und sich für die Bilder interessiert, so wohlwol- Emmanuel Burdeau und Stéphane Delorme lend gesinnt. Das ist wie in „Schuld und Sühne“, wo der Kom- im Gespräch mit Philippe Garrel missar weiß, daß der Held gemordet hat, sein Wohlwollen ihm gegenüber ist deshalb umso schlimmer. Und gleichzeitig mache ich in dieser Szene oder auch am Anfang mit der Verfolgungs- Die Kunst und Mai 68 jagd über den Dächern traditionelles Puppentheater mit Guig- nol, Gnafron und dem Gendarmen. Ich greife eine populäre Wie kam es zum Projekt? Ist es eine Antwort auf Dreamers, den anarchistische Tradition wieder auf, die von Chaplin über Vigo Film von Bertolucci, der ebenfalls Mai 68 zum Thema hat? bis zu den ersten Tatis reicht. Alle Gags über die Angst vor dem Gendarmen reichen in die Anfänge des Kinos zurück. Das ist Zufall. Ich hatte bereits die ersten Szenen des Films über die Maibarrikaden und den Ausreißversuch über die Hat die Gruppe so, wie Sie sie darstellen, existiert? Dächer geschrieben, als ich Bertolucci