Internationale Politik

Ganz und gar nicht ohne Interessen Deutschland formuliert nicht nur klare Ziele. Es setzt sie auch durch von August Pradetto

In den zurückliegenden Jahrzehnten hat Deutschland seine nationalen Interessen evident formuliert und auch erfolgreich durchgesetzt. Doch trotzdem ist Kritik zu vernehmen – dabei lassen sich Wissenschaftler oftmals von subjektiven Wunschvorstellungen und parteipolitischen Präferenzen leiten, Militärs von frustrierenden Erfahrungen.

Mehr denn je ist Deutschland interna- entweder eine unzureichende Be- tional und vor allem regional verfloch- rücksichtigung der Umfeldbedingun- ten. Eine autonome Definition der ei- gen oder aber der „eigenen“ Interes- genen nationalen Interessen ist außer- sen zum Inhalt. Politisch verortet, halb der gegebenen politisch-instituti- wird der erste Vorwurf eher vom lin- onellen Eingebundenheit und ohne ken politischen Spektrum („Idealis- Rücksicht auf Nachbarn und Partner ten“, „Institutionalisten“), der zweite „gar nicht mehr möglich“ (Thomas vom rechten („Realisten“) erhoben. Prof. Dr. AUGUST Risse). Nationale Interessen lassen Deutsche Regierungen haben die PRADETTO, sich von europäischen, transatlanti- nationalen Interessen zumeist ein- geb. 1949, lehrt schen oder globalen Interessen nicht deutig definiert. Darüber hinaus ist internationale Politik an der Helmut- mehr eindeutig abgrenzen. Davon ist nicht nur ein hohes Maß an Kongru- Schmidt-Universität/ die deutsche Politik seit vielen Jahren enz zwischen Interessendefinition Universität der geprägt, und zwar unabhängig von der und Interessenwahrnehmung festzu- Bundeswehr jeweiligen Regierungskonstellation. stellen, sondern auch eine sehr erfolg- Hamburg. Er ist Die Definition deutscher Interessen reiche Um- und Durchsetzung dieser Herausgeber der seit 2004 ist notwendigerweise immer „institu- Interessenpolitik. Das Kriterium, das erscheinenden tionalistischer“ geworden, d.h. in die dieser Bewertung zugrunde liegt, be- Schriftenreihe Bestimmung deutscher Interessen steht nicht in individuellen Vorstel- „Strategische Kultur sind in immer höherem Maße die In- lungen darüber, worin deutsche Inte- Europas“. teressen anderer Akteure, sich verän- ressen bestünden. Theoretischer Aus- dernde Umfeldbedingungen sowie gangspunkt und analytischer Bezugs- subregionale, regionale und internati- rahmen für die Kategorie „nationale onale Entwicklungen und eingeflos- Interessen“ sind vielmehr die partei- sen. Außenpolitische Interdependen- übergreifend formulierten und für zen stellen demnach eine zentrale De- längere Zeiträume vom Mainstream terminante außenpolitischen Han- der politischen Eliten als gültig erach- delns dar. teten sowie von den jeweiligen Re- Kritik an der deutschen Außenpo- gierungen in Bonn bzw. kon- litik hat je nach wissenschaftstheore- kretisierten Zielsetzungen auswärti- tischer bzw. politischer Orientierung ger Politik.1 Grundlegend für diesen

1 Positionsbestimmungen in der theoretischen Debatte über die Bestimmung nationaler Interes- sen finden sich u.a. in: Olaf Theiler (Hrsg.): Deutsche Interessen in der sicherheitspolitischen Kom- munikation, Baden-Baden 2001; Gottfried Niedhart, Detlef Junker und Michael W. Richter (Hrsg.): Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhun- dert, Mannheim 1997; Carl Otto Lenz: Im Grundsatz. Patriotismus und nationale Interessen. Anmerkungen zu einem wiederkehrenden Terminus, Die politische Meinung, Bd. 50 (2005), 426, S. 51 f.; Peter Robejsek, Ricarda Steinbach und Eckhard Bolsinger: Nationalstaat und nationale Interessen. Perspektiven einer neuen Außenpolitik, Working Paper/Haus Rissen 2/2002.

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Bezugsrahmen sind die hinsichtlich europäischen Politik und von EU der Außenpolitik der Bundesrepublik und NATO auf die Integration Euro- Deutschland im Grundgesetz fixier- pas – mit großem Erfolg in Angriff. ten Prinzipien. Diese bestehen – 1994 wurden nach den Debatten schlagwortartig formuliert – erstens und Erfahrungen in den vorangegan- im Ziel und im Bemühen, in den Be- genen Jahren die zentralen nationa- ziehungen nach außen unter allen len Interessen sowie die Orientierung Umständen zur Wahrung des interna- der deutschen Außen- und Sicher- tionalen Friedens beizutragen (was heitspolitik im „Weißbuch zur Si- sich u.a. im in der Verfassung fixier- cherheit der Bundesrepublik Deutsch- ten Verbot von Angriffskriegen und land“ in folgenden fünf Punkten zu- jeglicher Vorbereitung auf solche nie- sammengefasst: derschlägt), zweitens in der staats- 1. die Bewahrung von Freiheit, Si- rechtlichen und verfassungspoliti- cherheit und Wohlfahrt der Bürger schen Entscheidung für einen offe- Deutschlands und der Unversehrt- nen, kooperativen Internationalismus heit des Staatsgebiets; mit der expliziten Betonung der Mög- 2. die Integration mit den europäi- lichkeit, Hoheitsrechte auf zwischen- schen Demokratien in der EU; denn staatliche Einrichtungen zu übertra- Demokratie, Rechtsstaatlichkeit gen, drittens in der Vorgabe, im Au- und Wohlstand in Europa bedeuten ßenverhalten die Wahrung und die Frieden und Sicherheit auch für Verwirklichung der Menschenrechte Deutschland; zu verfolgen, sowie viertens – bis 3. das dauerhaft, auf eine Wertege- 1990 – im Wiedervereinigungsgebot. meinschaft und gleichgerichtete In- teressen gegründete transatlanti- Das nationale Die Definition nationaler Interessen sche Bündnis mit den Vereinigten Interesse „Wieder- nach der Wiedervereinigung Staaten als Weltmacht, denn das vereinigung“ wurde mit Klarsicht Das letztgenannte und seit der un- Potenzial der USA ist für die inter- und taktischem mittelbaren Nachkriegszeit bestehen- nationale Stabilität unverzichtbar; Geschick de Anliegen deutscher Außenpolitik 4. eine auf Ausgleich und Partner- umgesetzt. – die Wiedervereinigung und die schaft bedachte Heranführung un- Die deutsche Herstellung vollständiger Souveräni- serer östlichen Nachbarstaaten an Diplomatie lieferte „ihr Meisterstück“. tät – wurde in dem Augenblick, da westliche Strukturen und die Ge- sich Ende der achtziger Jahre die staltung einer neuen, alle Staaten Möglichkeit bot, mit erstaunlicher Europas umfassenden kooperativen Klarsicht und taktischem Geschick Sicherheitsordnung; realisiert. Die deutsche Diplomatie 5. die weltweite Achtung des Völker- lieferte „ihr Meisterstück“.2 In der rechts und der Menschenrechte und Folgezeit nahmen die Verantwortli- eine auf marktwirtschaftlichen Re- chen die auf Basis der oben genann- geln basierende gerechte Weltwirt- ten Prinzipien formulierten Prioritä- schaftsordnung, denn die Sicherheit ten der Außenpolitik – Lösung noch der einzelnen Staaten ist nur in bestehender Probleme mit den Nach- einem System globaler Sicherheit barn, Stabilisierung des postkommu- mit Frieden, Recht und Wohlerge- nistischen Raumes, Ausrichtung der hen für alle gewährleistet.3

2 Christian Hacke: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von bis Gerhard Schröder, /M. 2003, S. 380. 3 Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.): Weißbuch 1994. Weißbuch zur Sicherheit der Bun- desrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, Bonn 1994, S. 42.

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Entsprechend konkretisierten CDU/ gegenüber Mittel- und Osteuropa (in- CSU und FDP nach ihrem Wahlsieg klusive Russland), Ausbau der trans- 1994 in ihrem Regierungsprogramm atlantischen Partnerschaft und gute folgende zentrale Punkte zur Außen- Beziehungen zu den USA. Etwas ak- und Sicherheitspolitik: europäische In- zentuiert wurden globale Fragen wie tegration, verstärkte Einbeziehung der internationale Umweltpolitik, Ent- EU-Nachbarn im Osten, Weiterent- wicklungshilfe usw., während die Re- wicklung der Gemeinsamen Außen- gierung Kohl eher noch im klassi- und Sicherheitspolitik der EU (GASP), schen Ost-West-Kontext agiert hatte. Dank erfolgreicher schrittweise Erweiterung der NATO, Die Koalitionsvereinbarung hob au- Diplomatie konnten Weiterentwicklung des transatlanti- ßerdem das Bestreben nach Verrecht- in vielen Bereichen schen Bündnisses, eine „intensive lichung und Zivilisierung der interna- wesentliche Fortschritte erzielt Partnerschaft“ mit Russland, Fortfüh- tionalen Politik hervor (aktive Men- werden. In Fragen rung der Reform der Bundeswehr, Be- schenrechtspolitik, Abrüstungs- bzw. der europäischen teiligung an internationalen Einsätzen Rüstungskontrollpolitik etc.). Integration und sowie Entwicklungspolitik in Abspra- In der Koalitionsvereinbarung zwi- der Einbeziehung che mit den europäischen Partnern. In schen SPD und Bündnis 90/Die Grü- ehemals kommunistischer den folgenden Jahren wurden in allen nen, die nach der knapp gewonnenen Länder in die diesen Bereichen wesentliche Fort- Wahl im Oktober 2002 vorgestellt Institutionen des schritte erzielt – was angesichts vieler wurde, tauchte im Unterschied zu Westens übernahm Widerstände gegen diverse Zielsetzun- bisherigen Vereinbarungen bzw. Pro- Deutschland eine gen bei einer Reihe von Partnern in grammen in der Außen- und Sicher- Vorreiterrolle. wechselnden Koalitionen nur dank er- heitspolitik der „Kampf gegen den folgreicher Diplomatie zu bewerkstelli- Terror“ als neue Herausforderung gen war. Gerade in Fragen der europä- auf. Ansonsten wurden wieder die ischen Integration und der Einbezie- traditionellen Zielsetzungen heraus- hung postkommunistischer Länder in gestellt: europäische Integration und die Institutionen der westlichen Ge- transatlantisches Bündnis, Bewälti- meinschaft machte sich die Bundesre- gung regionaler Konflikte, gerechte publik zum Vorreiter der Entwicklung. Gestaltung der Globalisierung. Auch Die Bilanz reichte von der Organisati- die anderen Aufgaben und Werte un- on der Hilfe bei der Transformation terschieden sich nicht grundsätzlich und der Konsolidierung postkommu- von denen der Koalitionsvereinba- nistischer Länder über die immer stär- rung von 1998. kere Beteiligung der Bundeswehr am In der Regierungszeit von Rot-Grün Krisenmanagement auf dem Balkan sind ebenfalls wesentliche Fortschritte nach dem Verfassungsgerichtsurteil in der Realisierung dieser Anliegen von 1994 bis zu dem Beschluss der erreicht worden – von der definitiven NATO gegen Ende der Regierungszeit Etablierung eines einheitlichen Wäh- von und Klaus Kinkel, rungsraums mit Hilfe des Euros über Polen, Tschechien und Ungarn in das die Erweiterungen von NATO und Bündnis aufzunehmen. EU um einen großen Teil Mittel- und Als im Herbst 1998 die Regierung Osteuropas bis hin zur Beteiligung der Gerhard Schröder/ an Bundeswehr an der Bekämpfung des die Macht kam, schrieb die neue Füh- internationalen Terrorismus und an rung des Landes diese Definition na- der Konsolidierung der Nachkriegsge- tionaler Interessen im Wesentlichen sellschaft in Afghanistan. Diese Prio- fort: Vertiefung der Europäischen ritäten werden auch von der jetzigen Union, Integration und Kooperation Großen Koalition fortgeschrieben.

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Woraus also resultiert die seit Jah- Die These, dass vorrangig subjekti- ren immer wieder vorgetragene For- ve Prämissensetzung die Bewertung derung, die außenpolitischen Interes- der Verfolgung nationaler Interessen sen Deutschlands endlich „klar“ oder durch deutsche Regierungen determi- Die Kritik an „richtig“ zu definieren? Da der erho- niert, wird durch einen weiteren einer angeblich bene Vorwurf weder durch den Tatbe- Sachverhalt gestützt. „Institutionalis- unzureichenden bzw. fehlerhaften stand nicht erfolgter Interessenfor- ten“ und Linke bringen ihre Kritik an Definition nationaler mulierung noch durch gravierende der Außenpolitik von SPD/Grüne ge- Interessen gründet Defizite bei der Umsetzung dieser In- dämpfter vor, als sie es bei einer vor allem auf teressen bestätigt erscheint, liegt eine CDU/FDP-Regierung tun würden, subjektiven andere Annahme nahe: Die Kritik an auch wenn Rot-Grün deren Politik im politischen Prämissen und einer angeblich unzureichenden bzw. Wesentlichen fortgesetzt hat. Und die parteipolitischen fehlerhaften Definition nationaler In- „Realisten“ und Rechten greifen die Präferenzen der teressen gründet vor allem auf subjek- rot-grüne Außenpolitik schärfer an Kritiker. tiven politischen Prämissen und par- als die Politik der Kohl-Regierungen, teipolitischen Präferenzen der Kriti- auch wenn diese kaum andere Ziele ker und weniger auf Kriterien, die aus verfolgt haben als ihre Nachfahren. einer Analyse von Umfeldbedingun- Politische Affinitäten färben auf die gen, der Zielformulierung durch poli- Bewertung gleicher Politik ab, je nach- tisch verantwortliche Akteure, von dem, von wem sie gemacht wird. Prozessen der Politikumsetzung und schließlich der Zielerreichung resul- Atlantiker und Europäer tieren. Nicht zuletzt die Gegensätz- Eine Gruppe von Politikern und Poli- lichkeit und Unvereinbarkeit diesbe- tikwissenschaftlern, die den „Realis- züglicher Bewertungen scheint diese ten“ zuzurechnen sind, verlangen seit Vermutung zu belegen. Anfang der neunziger Jahre eine Neu- Während die einen z.B. bei Schröder definition, weil sie glauben, dass eine „Relativierung des Integrationswil- Deutschland nach der Wiedervereini- lens“4 bei der Definition deutscher Inte- gung, Souveränisierung und der Mu- ressen zu erkennen glaubten, sahen an- tation in die „Zentralmacht Europas“ dere das genaue Gegenteil – die Demis- (Hans-Peter Schwarz) nach außen ei- sion des Denkens in nationalstaatlichen geninteressenbetonter, härter und vor und nationalen Machtkategorien, den allem „strategischer“ auftreten solle. „Verlust der Staatsräson“ und eine zu- Die diesem Anliegen zugrunde liegen- nehmende Subordination unter supra- de theoretische Prämisse besteht in staatliche Strukturen.5 Wieder andere der Überzeugung, dass in einer prin- feierten Schröders und Fischers Außen- zipiell von Anarchie bestimmten in- politik als „Rückkehr auf die Weltbüh- ternationalen Umwelt jeder Akteur ne“,6 während sich andere über „die zuerst seine Eigeninteressen vertritt weltpolitischen Ambitionen einer ab- und die Konkurrenz und der Überle- steigenden Macht“ lustig machten.7 benskampf zwischen den Akteuren es

4 Vgl. z.B. Hanns W. Maull: Außenpolitische Kultur, in: Karl-Rudolf Korte und Werner Weiden- feld (Hrsg.): Deutschland-Trendbuch. Fakten und Orientierungen, Bundeszentrale für politische Bildung, Opladen 2001, S. 645–669, hier S. 666 f. 5 Hans-Peter Schwarz: Republik ohne Kompass. Außenpolitik ist orientierungslos: Eine Positionsbestimmung deutscher Interessen tut not, Internationale Politik, Januar 2005, S. 46–53; Eckhard Bolsinger: A Great Power in Denial: Bringing Germany Back to Reality, über: www.worldsecuritynetwork.com/showArticle3.cfm?article_id=10508. 6 Gregor Schöllgen: Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, München 2003. 7 So Gunther Hellmann: Von Gipfelstürmern und Gratwanderern: „Deutsche Wege“ in der Außenpolitik, Aus Politik und Zeitgeschichte, 5/2004, S. 32–39.

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verlange, die eigenen Interessen mög- der prioritären europäischen Grundo- lichst effizient und mit Blick auf rientierung Deutschlands folge die au- Machtgewinn zu vertreten. ßenpolitische Maxime, die erweiterte Seit langem gibt es bei den „Realis- EU durch die verstärkte und struktu- ten“ Divergenzen darüber, was genau rierte Zusammenarbeit einer Kern- dies für die Zielsetzungen der deut- gruppe handlungsfähig zu machen und schen Außenpolitik und für das opera- in diesem Verbund eine kooperative tive Vorgehen heißt. Seit der Souverä- Politik in einem multipolaren Weltsys- nisierung des Landes und den sich tem zu betreiben.10 damit eröffnenden neuen Spielräumen Einig sind sich allerdings beide Beim Wunsch nach spalten sich indes mehr denn je die Gruppen in der Auffassung, dass die einer Redefinition „Realisten“ bezüglich des Wunsches für Deutschland zu veranschlagende deutscher nach einer Redefinition deutscher In- Aufgabe nur durch eine auch militä- Interessen kann nach „Europäern“ teressen in ihre beiden traditionellen risch stärkere Positionierung erreich- und „Atlantikern“ Gruppen, die „Atlantiker“ und die bar sei. Während sich die „Atlantiker“ unterschieden „Europäer“ (in den 1960er Jahren dabei eher am britischen Kurs ausrich- werden, die jeweils „Gaullisten“). Erstere wollen eine stär- ten und die Stärkung der europäischen die Rolle von EU kere Vertretung deutscher nationalego- Kapazitäten an die von den USA domi- und USA verschieden istischer Interessen im Kontext einer nierte NATO koppeln wollen, setzen gewichten. Anbindung Deutschlands an die USA die „Europäer“ auf die Möglichkeit („Juniorpartnerschaft“). Das bedeute, größerer verteidigungspolitischer Ei- in Europa die deutschen Interessen genständigkeit durch die Schaffung stärker einzubringen als bisher, sich autonomer handlungsfähiger Kapazi- nicht in eine weitergehende „Subordi- täten im Rahmen der ESVP. nation“ unter ein die deutschen Inter- In der Politik sind beide Strömun- essen einschränkendes „supranationa- gen in den großen Volksparteien exis- les Gebilde Europa“ zu begeben und tent, wobei seit jeher ein relevanter stattdessen an der Seite und in Unter- Teil der außenpolitischen Eliten (wie stützung des größten und aktivsten auch der Mainstream in der Politik- Akteurs, mit dem nicht nur das Werte- wissenschaft) eine Ausrichtung be- system, sondern auch fundamentale vorzugt, die die Verschränkung beider Interessen geteilt würden, zu agieren.8 Elemente als die bestmögliche deut- Die „Europäer“ unter den Realisten sche Interessenwahrung erachtet. Al- sind stärker vom traditionellen Gleich- lerdings ist in der CDU der „atlanti- gewichtsdenken geprägt und verlangen sche Flügel“ stärker ausgeprägt als in eine Redefinition deutscher Interessen der SPD. Aufgrund der von innen und gegenüber der dominierenden Super- außen gesetzten Rahmenbedingungen macht USA. Deutschland sei nunmehr folgt die jeweilige Regierungspolitik jener Akteur, der aufgrund seines in mit Abweichungen, die oft mehr Rhe- Europa überragenden Gewichts und torik als reale Substanz darstellen, seiner geographischen Position die dem Mainstream dieser Interessen- Aufgabe wahrnehmen müsse, den Kon- verschränkung, wobei sich im Laufe tinent als Gegengewicht zu den USA der Jahrzehnte ein Trend zur „Euro- zu formieren und zu etablieren.9 Aus päisierung“ deutscher Außenpolitik

8 Vgl. Bolsinger, a.a.O. (Anm. 1). 9 Vgl. Schöllgen, a.a.O. (Anm. 6). 10 Vgl. hierzu z.B. Werner Link: Grundlinien der außenpolitischen Orientierung Deutschlands, Aus Politik und Zeitgeschichte, 11/2004, S. 3–8; Werner Link: Kooperative Balancepolitik. Deutsch-französische Zusammenarbeit als Kern europäischer Außen- und Sicherheitspolitik, Politische Meinung, März 2004, S. 37–42.

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festhalten lässt. Dies entspricht dem des Iraks die Auseinandersetzung Wegfall der Bipolarität zwischen den zwischen „Atlantikern“ und „Europä- USA und der Sowjetunion als domi- ern“ über die aktuelle und zukünftige nantes Strukturmuster in der interna- Ausrichtung deutscher Außenpolitik tionalen Politik. Vielfach wird, was verschärft. man zuvor als Oppositionspartei hef- tig an der Regierungspolitik kritisiert Auslandseinsätze und hat (z.B. in Fragen von Menschen- nationale Interessen rechten oder Rüstungsexporten, im In den vergangenen Jahren hat sich Verhältnis zu autoritären Regimen eine weitere Gruppe mit der Forde- wie dem chinesischen etc.), still- rung nach einer „klaren Definition“ schweigend zurückgenommen, wenn nationaler Interessen zu Wort gemel- Der man erst selbst an der Regierung ist. det: das Militär. Die Motive unter- wissenschaftliche Darüber hinaus hat die Außenpolitik scheiden sich allerdings von denen Diskurs erscheint „politisierter“ und ein riesiges Feld von Aufgaben zu be- der oben erörterten „strategischen ideologischer als wältigen, die sich sehr praktisch stel- Elite“. Die Auslandseinsätze der Bun- die deutsche len und bei weitem nicht so emotional deswehr führen zu einer steigenden Außenpolitik selbst. und ideologisch aufgeladen sind wie Frustration unter den Soldaten. Dies die Werte- und Strategiedebatte über hängt keineswegs nur mit den Belas- das Verhältnis zu den USA. tungen aufgrund des zunehmenden Der wissenschaftliche Diskurs ist Engagements und der als unzurei- etwas anders akzentuiert. Er erscheint chend empfundenen Ausstattung zu- „politisierter“ und ideologischer als sammen, oder mit der Tatsache, dass die deutsche Außenpolitik selbst. Par- die Bundeswehr mit den Aufgaben, tiell liegt dies daran, dass die Wissen- die sie zu übernehmen hat, vielen schaft, die sich mit Außenpolitik be- überfordert erscheint. schäftigt, stärker als die Politik mit Vor allem würden die Soldaten bei theoretischen Vorgaben arbeitet, die jedem neuen Einsatz von den beiden auf weltanschaulichen Prämissen Sachverhalten desillusioniert, dass es ruhen. Bewertungen werden vielfach „kein funktionierendes Konfliktlö- in einem höheren Maße von solchen sungsmodell“ gebe und die Verhält- Prämissen und Modellen her vorge- nisse für die Menschen in den Ein- nommen. Dass sich die respektiven satzgebieten „eher schlechter als bes- Auseinandersetzungen seit der Irak- ser“ würden. Bezogen auf das Kosovo Krise um die Beziehungen zu den sei es frustrierend für die Soldaten USA zentrieren, ist wenig verwunder- gewesen, dass sie die schweren ethni- lich. Gerade in diesem Verhältnis geht schen Unruhen im März 2004 nicht es um die Frage von Macht in den in- hätten verhindern können. Solche Er- ternationalen Beziehungen, und diese fahrungen würden deutlich machen, Frage ist nicht nur für die „Realisten“ dass den Einsätzen der Bundeswehr von besonderem Interesse. Vor allem „nationale Interessen zugrunde lie- aber hat die Politik der Washingtoner gen“ müssten. Dazu zähle auch, dass Regierung nach den Terroranschlägen die Soldaten „hinter den globalen vom 11. September 2001 die Art und Aufgaben der Friedenssicherung, die Weise, wie der proklamierte „Krieg ihnen immer mehr gestellt werden, gegen den Terror“ geführt wird, und jeweils eine nachvollziehbare, umfas- die völkerrechtswidrige „Befreiung“ sende Strategie erkennen können“.11

11 Vgl. Rolf Clement: Die neue Bundeswehr als Instrument deutscher Außenpolitik, Aus Politik und Zeitgeschichte B 11/2004, S. 40–46, hier S. 42.

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Die Bundeswehr ist seit zehn Jah- folgen. Im Bewusstsein, dass das Mili- ren in Bosnien-Herzegowina und seit tär noch auf längere Zeit in den Ein- mehr als fünf Jahren im Kosovo. satzgebieten auf dem Balkan verhar- Weder der sehr langsame Aufbau ren müsse, stelle sich die Frage nach eines bosnisch-herzegowinischen Ge- einer möglichst effizienten Auftrags- samtstaats noch ein – gegenwärtig erfüllung – also Aufrechterhaltung nicht absehbarer – Abschluss der im des Status quo, militärische Absiche- Winter 2005/06 aufgenommenen Ver- rung des erreichten Friedenszustands handlungen über den künftigen Sta- und der Beitrag zur Konsolidierung tus des Kosovos versprechen ein der Nachkriegsgesellschaften.13 schnelles Ende des internationalen Bei einigen Militärs geht die Forde- Die jahrelangen militärischen Engagements. Die poli- rung nach einer „klaren Formulierung Einsätze der tischen Ziele, die mit den Ausland- deutscher Interessen“ unter dieser Bundeswehr in seinsätzen verbunden sind, konnten Prämissensetzung in eine andere Rich- Bosnien und im Kosovo haben noch bisher nur beschränkt realisiert wer- tung. Die Politik solle klarstellen, nicht zu einer den. Und die Perspektiven einer Rea- worin die deutschen nationalen Inter- Lösung der lisierung erscheinen vielen nicht be- essen auf dem Balkan bestehen und Probleme geführt. sonders aussichtsreich. Befürchtet wo diese liegen – in Bosnien-Herzego- Das Militär fordert wird, dass angesichts der Verhältnisse wina oder eher im Kosovo. Diese For- deshalb von der Politik eine klare im Kosovo „die internationale Missi- derung basiert auf einer pragmatischen Formulierung der on noch einige Generationen hier Sicht der Sicherstellung militärischer nationalen bleiben“ müsse, am Ende „aber doch Effizienz, die sich vor allem auf zwei Interessen. nichts erreichen“ werde.12 Vor die- Aspekte bezieht: Wenn die Einsatz- sem Hintergrund wird immer lauter kontingente alle sechs Monate – und die Forderung nach einer „politischen künftig sollen es nur vier sein – wech- Lösung“ erhoben und in diesem Zu- seln, gehen wertvolle Informationen sammenhang eine „klare Formulie- und Kenntnisse über die jeweiligen rung deutscher Interessen“ in Bezug Verhältnisse und wertvolle Verbindun- auf die Einsatzgebiete verlangt. gen einerseits in die lokale Politik und Gesellschaft, andererseits zu internati- Zwangslagen des Militärs onalen Organisationen, Regierungsor- Einer eher „institutionalistischen“ ganisationen und NGOs verloren, mit Strömung unter den Militärs ist denen zusammen diese Steuerung be- durchaus bewusst, dass sie von der werkstelligt werden soll. Dabei genüge Politik auf kurze Sicht keine grundle- auch nicht, dass ein kleiner Kern aus genden Entscheidungen über eine dem alten für eine bestimmte Zeit im Veränderung des unbefriedigenden neuen Kontingent verbleibe. Status quo erwarten kann. Bernhard Der zweite Aspekt besteht in Rei- Gertz bezweifelte in Bezug auf die bungsverlusten, die im gleichberech- Kosovo-Mission, dass ein politisches tigten Zusammenwirken mit anderen Konfliktlösungsmodell in Aussicht nationalen Kontingenten entstehen. stehe. Stattdessen forderte er, die Aus- Nicht nur, dass es z.B. im Kosovo vier landseinsätze der Bundeswehr sollten verschiedene Verantwortungsbereiche sehr konkret einem nachvollziehba- mit vier differierenden „lead nations“ ren und erreichbaren politischen Ziel mit ihren unterschiedlichen Kulturen,

12 Zitiert nach Wolf Oschlies: Das Scheitern der Befriedung. Fünf Jahre Nachkrieg im Kosovo, Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2004, S. 965–974, hier S. 970. 13 „Afghanistan-Einsatz ist von zentraler Bedeutung“, Netzeitung vom 1.4.2004, www.netzeitung.de/deutschland/280200.html.

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Ansätzen usw. gibt. Bei aller Bereit- teressen nicht nur evident formuliert schaft und allem Bemühen um „inte- und operationalisiert, sondern auch grierte Strukturen“ und eine „abge- erfolgreich durchgesetzt worden. Auf stimmte Politik“ erweist sich das Zu- die Gegenwart und die nähere Zu- Soweit es die sammenwirken der Kontingente als kunft bezogen, kann sich keine deut- zurückliegenden außerordentlich schwierig, zumal alle sche Regierung über die beschriebe- Jahrzehnte betrifft, sind deutsche Streitkräfte ihr Personal alle paar Mo- nen Realitäten und die kurzfristige Interessen nicht nate auswechseln. Gerade von Seiten Unlösbarkeit bestehender Probleme nur evident der Führungsstäbe der Einsatzkontin- etwa auf dem Balkan hinwegsetzen. formuliert und gente, die mit den praktischen Gege- Abgesehen von den Auslandseinsät- operationalisiert, benheiten vor Ort konfrontiert sind, zen in Südosteuropa hält auch die sondern auch erfolgreich wird argumentiert, es sollten extern Regierung von Angela Merkel schon durchgesetzt „nationale Prioritäten“ gesetzt wer- aus Rücksicht auf die transatlanti- worden. den; das bedeute z.B., dass Deutsch- schen Beziehungen am Beitrag der land für einen erheblich längeren Bundeswehr bei der Stabilisierung Zeitraum für das ganze Kosovo ver- Afghanistans fest. antwortlich würde – wenn das Koso- Ebenso ist jede deutsche Regierung vo als vorrangig für das nationale In- nur zu eingeschränkten Zugeständ- teresse Deutschlands definiert wird –, nissen an die USA etwa in der Frage, während Bosnien-Herzegowina dann ob deutsche Soldaten in den Irak ge- langfristig unter das Kommando einer schickt werden sollen, in der Lage. anderen Nation zu stellen wäre. Die Restriktionen des Haushalts set- Dass die Politik hier Vorbehalte zen dem Anspruch auf eine Stärkung anmeldet, ist nicht verwunderlich. der militärischen Komponente deut- Nicht von ungefähr wird das diploma- scher Außenpolitik auch weiterhin tische Personal alle vier oder fünf enge Grenzen. So spiegeln Forderun- Jahre ausgewechselt, um der Gefahr gen nach einer endlich zu erfolgenden übermäßiger „Involviertheit“ und Definition deutscher Interessen nicht übermäßiger „Fraternisierung“ zu so sehr reale Defizite deutscher Poli- entgehen. Das Militär, das als Stabili- tik bzw. reale Spielräume wider, die sierungstruppe oder Sicherungsein- die Umfeldgegebenheiten der deut- heit in einem anderen Land eingesetzt schen Außenpolitik belassen. Bezo- ist und auf engste Kooperation mit gen auf Militärs, reflektiert dieses den lokalen Politikern, Administratio- Anliegen verständliche, aus prakti- nen, Organisationen, der Polizei etc. schen Erfahrungen an den Einsatzor- angewiesen ist, wäre dieser Gefahr ten resultierende Frustrationen. Auf vermutlich in noch größerem Maße Politiker und Politikwissenschaftler ausgesetzt. Dazu kommt der politi- bezogen, sind Forderungen nach einer sche Abnützungseffekt, dem der Klarstellung nationaler Interessen „wohlmeinende Hegemon“, ausge- vielfach – aus weltanschaulichen und stattet mit der exekutiven Gewalt, theoretischen Vorgaben abgeleiteten ausgesetzt ist, wenn er sich längere – subjektiven Wunschvorstellungen Zeit in einem fremden Land befindet. und politischen Präferenzen geschul- Wenn man sich diese Dilemmata det. Derartige Folien lassen die empi- vor Augen hält: Was bleibt von der risch vorfindbaren Verhältnisse und Forderung nach einer „klaren Defini- realen Probleme eher selektiv zuguns- tion deutscher Interessen“? Relativ ten einer Bestätigung der eigenen Prä- wenig. Soweit es die zurückliegenden missen, die als „nationale Interessen“ Jahrzehnte betrifft, sind deutsche In- deklariert werden, wahrnehmen.

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