Angst essen Seele auf . BR Deutschland 1973

Film-Heft von Herbert Heinzelmann MEDIENMÜNDIGKEIT

Nichts prägt unsere Zeit mehr als die Revo- lution der modernen Medien. Im Zentrum der modernen Mediengesellschaft steht der Kinofilm. Wie Lesen und Schreiben zu den fundamentalen Kulturtechniken gehört, so gehört das Verstehen von Filmen und das Erkennen ihrer formalen Sprache zu den Kulturtechniken des neuen Jahrhunderts. Film bekommt mehr und mehr Bedeutung für die Einschätzung und Beurteilung der sozialen Realität, für die lebensweltliche Orientierung und die Identitätsbildung. Das Geschichts- bewusstsein, das nationale Selbstverständnis und das Verständnis fremder Kulturen werden in Zukunft mehr und mehr vom Medium Film mitbestimmt.

Es ist ein großes Defizit, dass junge Menschen heute viel zu wenig vom Medium Film wissen. Die Fähigkeit, auch im Medium der faszinierenden Unterhaltung den kritischen Blick nicht zu verlieren, die Fähigkeit, die Qualität eines Films beurteilen zu können, die Fähigkeit zur Differenzierung des Visuellen, des Imaginären und des Dokumentierten wird in Zukunft mit entscheidend sein für die Entwicklung unserer Medien-Gesellschaft.

Für den pädagogischen Bereich sind somit die Vermittlung von Medienkompetenz und Filmsprache von Bedeutung. Film ist Unterhaltung, Film ist aber auch Fenster zur Welt, Erzieher, Vorbildlieferant und Maßgeber. Medienkompetenz ist eine Notwendigkeit und gehört zu den modernen Kulturtechniken. Kino als Lesesaal der Moderne ist Ort der Unter- haltung und der Filmbildung. Kino ist Lernort.

Die Bundeszentrale für politische Bildung und das Institut für Kino und Filmkultur stellen sich die Aufgabe, diesen Lernort zu besetzen, die Medienmündigkeit zu fördern und die Bemühungen um einen bewussten und engagierten Umgang mit Film und Publikum zu unterstützen.

Thomas Krüger Horst Walther Präsident der bpb Leiter des IKF

Impressum Herausgeber: INSTITUT für KINO und FILMKULTUR (IKF) im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Berliner Freiheit 7. 53111 Bonn. Tel: 01888 – 515 - 0. Fax: 01888 – 515 - 113. E-Mail: [email protected] Homepage: www.bpb.de). Redaktion: Michael Kleinschmidt, Verena Sauvage (IKF), Katrin Willmann (bpb). Redaktionelle Mitarbeit: Holger Twele (auch Satz und Layout). Titel, Umschlagseite und Grafikentwurf: Mark Schmid (des.infekt – bureau fuer gestaltung. Friedenstr. 6. 89073 Ulm). Druck: dino druck + medien GmbH (Schroeckstr. 8. 86152 Augsburg). Bildnachweis: Basis-Film (Verleih). © Juni 2002

Anschrift der Redaktion Institut für Kino und Filmkultur. Mauritiussteinweg 86 - 88. 50676 Köln. Tel: 0221 - 397 48 - 50 Fax: 0221 - 397 48 - 65 E-Mail: [email protected] Homepage: www.film-kultur.de Angst essen Seele auf BR Deutschland 1973 Buch und Regie: Rainer Werner Fassbinder Kamera: Jürgen Jürges Darsteller: Brigitte Mira (Emmi), El Hedi Ben Salem (Ali), Barbara Valentin (Wirtin), Irm Hermann (Krista), Rainer Werner Fassbinder (Eugen), Walter Sedlmayr (Lebensmittelhändler) u. a. Länge: 93 Min. FSK: ab 12 J., empfohlen ab 14 J. Verleih: Basis-Film

Film-Heft ... 3 ANGST ESSEN SEELE AUF Inhalt

1973 in Deutschland: Weil es drau- Bildschirm von Emmis Fernsehgerät. Der ßen stark regnet, flüchtet sich die Lebensmittelhändler bedient Ali nicht und etwa sechzigjährige Putzfrau und Witwe weist Emmi aus seinem Laden, als sie sich Emmi in ein Lokal, dessen exotische Mu- beschwert. In einem Biergarten versichern sik sie neugierig gemacht hat. Dort lernt sich die beiden zwar ihrer Liebe, doch sie den viel jüngeren Marokkaner El Hedi Emmi gesteht, dass sie dem Druck nicht Ben Salem kennen, den alle Ali nennen. gewachsen ist. Sie flüchten sich in einen Er hält sich oft in der Kneipe auf, weil er kurzen Urlaub. Als sie zurückkehren, hat sein Zimmer mit fünf anderen Gastarbei- sich das Verhalten der Mitmenschen ge- tern teilen muss. Ali tanzt mit Emmi und ändert. Nun schmeicheln sie Emmi und bringt sie nach Hause, denn „sie hat gut Ali, weil alle bestimmte Erwartungen und mit ihm gesprochen“. Emmi bietet Ali an, Wünsche an sie haben. Als der äußere die Nacht in ihrer Wohnung zu verbringen, Druck wegfällt, brechen innere Konflikte und sie schlafen miteinander. Am näch- in der Beziehung auf. So führt Emmi Ali sten Morgen ist Emmi zunächst über die ihren Kolleginnen vor wie ein exotisches Nacht erschrocken. Doch sie hat sich in Wesen und weigert sich, auf dessen kul- Ali verliebt, und auch er hält zu ihr. Das turelle Bedürfnisse einzugehen. Deshalb soziale Umfeld reagiert auf die Beziehung nimmt Ali das abgebrochene Verhältnis aber mit Ablehnung, Vorurteilen, Diskrimi- zur Kneipenwirtin Barbara wieder auf. Er nierung und sogar Hass. Emmis Kollegin- hat aber ein schlechtes Gewissen und nen sind der Meinung, man dürfe gar agiert so, als ob ihm alles egal wäre. Als nicht mit einer Frau reden, die mit einem sich eine Versöhnungsmöglichkeit mit Ausländer zusammen ist, und als sie von Emmi andeutet, bricht Ali zusammen. Er der Beziehung zu Ali erfahren, wird Emmi kommt ins Krankenhaus, und der Arzt vollständig isoliert. Die Nachbarinnen im diagnostiziert ein durchgebrochenes Ma- Haus tuscheln und finden das Verhältnis gengeschwür. Ursache ist der besondere unanständig. Das ändert sich auch nicht, Stress, dem Gastarbeiter in Deutschland als Emmi und Ali heiraten. Im Gegenteil: ausgesetzt seien. Emmi sitzt an Alis Bett Als sie den Ehemann ihren Kindern vor- und weint. Dem Film ist ein Motto voran- stellt, stößt sie auf eine Front der Ableh- gestellt: „Das Glück ist nicht immer lus- nung. Ein Sohn tritt vor lauter Wut in den tig“.

„Das Glück ist nicht immer lustig“

4 ... Film-Heft ANGST ESSEN SEELE AUF Analyse

Viele Filme von Rainer Werner ner Kameratotale klein am gegenüberlie- Fassbinder sind durch die eigen- genden Ende eines Raums gezeigt, des- willige Mischung zweier Genres gekenn- sen Tiefe durch die Einstellung über drei zeichnet. Sie verbinden das Melodram mit Gasthaustische perspektivisch betont ist. dem Lehrstück. Das Melodram ist eine Am rechten Bildrand ist eine Musikbox Gattung, in deren Zentrum große Gefühle sichtbar. Durch die Tür tritt eine kleine, und emotionale Konflikte stehen. Das Per- nicht mehr junge Frau mit Mantel und Hand- sonal ist oft sehr eindimensional charak- tasche. Sie bleibt lange hinter der Tür ste- terisiert, auf den ersten Blick kenntlich als hen. Sichtlich unsicher, klammert sie sich gut oder böse, edel oder gemein. Darin an die Tasche. trifft sich das Melodram mit dem Lehrstück. Das ist ebenfalls nicht darauf gerichtet, Mit dem Zeigen der Tür wird gleich zu An- die Welt in ihrer Komplexität abzubilden. fang das optische Zentralmotiv von ANGST Es versucht vielmehr, sie durch vereinfa- ESSEN SEELE AUF eingeführt. Man wird chende Modellsituationen durchschaubar in diesem Film immer wieder Türen sehen. zu machen, so dass man ihr mit Lehrsät- Man wird Menschen in Türrahmen sehen. zen nahe kommen und Lehren daraus zie- Man wird die Menschen durch Türstöcke hen kann. gefilmt sehen, gerahmt sozusagen, einge- grenzt, eingeengt – ein Bild im Bild. Die ANGST ESSEN SEELE AUF gehört dieser Tür ist Gegenstand des Transits. Sie trennt Misch-Gattung an. Der Film ist Teil der und verbindet zugleich Außen und Innen. zweiten Schaffens-Periode Fassbinders, Hinter der Wohnungstür beginnt die Pri- die stark von den Melodramen seines gro- vatsphäre. Wenn man die Tür hinter sich ßen Vorbilds Douglas Sirk beeinflusst ist. zumacht, darf man sich geborgen fühlen. In dieser Phase interessiert sich Fassbin- Vor der Tür kann eine Überraschung war- der für die Gründe, die das Zusammenle- ten, dort liegt womöglich das Unbekann- ben von Menschen schwer machen und te. Durch Türen wird man besucht oder das Funktionieren von Beziehungen ver- verlassen. Wer in der Tür stehen bleibt, hindern. In der Chronologie seiner Produk- hat noch keine Entscheidung zu Eintritt tionen folgen auf ANGST ESSEN SEELE oder Fortgehen, womöglich zur Flucht, AUF mit MARTHA die Studie einer sado- getroffen. Man spricht ja auch vom Über- masochistischen Ehe und mit FONTANE schreiten einer Schwelle, wenn es um ei- EFFI BRIEST eine Literaturverfilmung über nen Entschluss geht. Eine Tür kann in die das Scheitern einer Beziehung aus Besitz- Freiheit führen, oder sie verriegelt sich zur denken und Standesdünkel. EFFI BRIEST Gefangenschaft. Dann hat die Tür ein wurde parallel zu ANGST ESSEN SEELE Schlüsselloch. Durch das Schlüsselloch AUF gedreht. zu schauen, heimlich durch einen Türspalt zu spitzen – das sind die Genüsse des Der Vorspann des Films läuft in grüner Voyeurs, des Augenzeugen, der mit dem Schrift über die Aufnahme einer nächtli- Blick in die Intimsphäre eindringt, der das chen Regenpfütze, in der sich die Lichter verborgene Intime in den öffentlichen Dis- vorbeifahrender Autos spiegeln. Dazu er- kurs zerren kann. All diese Aspekte wer- tönt orientalische Musik. Sie stellt die den in ANGST ESSEN SEELE AUF behan- akustische Kontinuität her, wenn die Hand- delt. Vielleicht hat Rainer Werner Fassbin- lung beginnt, indem sich eine Tür in die der deswegen die Tür zum visuellen Zei- „Ausländerkneipe“ öffnet. Sie wird in ei- chen des Films gewählt. Das steht der In-

Film-Heft ... 5 terpretation offen. Aussagen zu dem The- Mit Ausnahme eines Arztes und eines ma gibt es von ihm nicht. Hausbesitzersohns gehören alle handeln- den Personen der unteren sozialen Klasse Die nächste Einstellung definiert den Raum an. Fassbinder verdichtet ihre Aussagen endgültig als Gastwirtschaft. Sie zeigt im immer wieder zu Gemeinplätzen und ge- Gegenschuss, halbtotal und schräg ange- stanzten Sentenzen aus dem Vorrat der schnitten, einen Biertresen. Um ihn sind Beliebigkeit. mehrere Menschen versammelt, als Grup- pe gebaut und im Verhältnis zur Kamera Die entscheidende Handlung in dieser ers- gestaffelt, wie man Personen auf der Büh- ten Filmsequenz (In der Kneipe) ist Alis ne anordnet, nicht wie es einem zufälli- Aufforderung der alten Frau zum Tanz. gen Blick in die Realität entspricht. Die Die Musik dazu kommt aus der Box. Es Menschen schauen lange und stumm auf handelt sich um den sentimentalen Schla- den neuen Gast. Auch das wird den Film ger „Du schwarzer Zigeuner, komm, spiel’ kennzeichnen: der ausgehaltene, schwei- mir was vor“. Das Lied verweist auf Un- gende Austausch von Blicken. (Manchmal behaustheit. In ANGST ESSEN SEELE AUF können sie mehr sagen als 1000 Worte.) erklingt ganz selten Filmmusik, um die Bil- Es werden sich Blick-Kommunikationen der mit Emotionen aufzuladen. Musik ergeben, die von Fremdheit, von Einver- kommt vielmehr, wenn überhaupt, aus ei- ständnis, Abwehr oder Ratlosigkeit zeu- ner Musikbox und einem Radio. Der Tanz gen. Diese ersten Blicke bezeichnen Fremd- selbst ist in drei Phasen gefilmt, die von heit, Neugier vielleicht. Wer ist das, der den skeptischen Blicken der Menschen- hier in eine offensichtlich vertraute und hermetische Gruppensituation eindringt?

Nachdem sich die alte Frau zögernd an ei- nen Tisch nahe der Tür gesetzt hat, geht die blonde Frau, die hinter dem Tresen stand, zu ihr, während die Kamera gegen- läufig bis zur Nahaufnahme auf den afro- orientalisch aussehenden Mann mittleren Alters vor der Theke zufährt. So wird die Aufmerksamkeit des Publikums auf den entscheidenden männlichen Protagonisten fokussiert. Nach einem fragenden „Ja?“ der Bedienung, lautet der erste Satz des Films, gesprochen von der alten Frau: „Verzeihen Sie!“ Sofort wird eine Grund- stimmung von ANGST ESSEN SEELE AUF angeschlagen. Es ist eine Haltung der Un- sicherheit, ausgelöst durch eine Sozialpo- sition, die nicht zu Selbstbewusstsein ver- anlasst, sondern beinahe die Entschuldi- gung für das Dasein erfordert. Menschen artikulieren sich in einer Welt, die für an- dere, nicht für sie gemacht zu sein scheint.

6 ... Film-Heft gruppe am Tresen unterbrochen werden. Emmi unter einem Vorwand anspricht, In der ersten zeigt die Kamera das Paar in deren Blick jedoch Ali fixiert. Die Kamera leichter Untersicht aus der Distanz. Die übernimmt den Blick in einer Großaufnah- zweite ist eine Großaufnahme, die dritte me. Nach dem Abgang von Ali und Emmi halbnah. Während des Tanzes werden In- folgt die Kamera Frau Kargus zu ihrer Nach- formationen getauscht. Der Mann kommt barin. In einem Gespräch (gerahmt von aus Marokko, wird Ali genannt, ist seit der Tür) geht es darum, dass Emmi einen zwei Jahren in Deutschland, arbeitet als Schwarzen bei sich hat („Einen Neger?!“). Automonteur. Die Frau, die Emmi heißt, Und dass sie mit dem Namen Kurowski erzählt, dass sie Witwe ist. Ali gibt einige wohl selbst keine richtige Deutsche sein bemerkenswerte Prämissen von sich: könne. Das Element, dass eine Handlung „Deutsch-Arabisch nix gut – nicht gleiche durch Dritte beobachtet und kommentiert Mensch.“ Auch am Arbeitsplatz: „Deut- wird, greift Fassbinder in diesem Film im- sche Herr, Arabisch Hund.“ Hier wird so- mer wieder auf und gibt auch der Kamera fort die Erfahrungswelt eines Gastarbei- häufig die Position des Voyeurs. Er zeigt ters mit ihren Diskriminierungen und Hier- damit, dass Privatheit in einer von klein- archien expliziert. Emmi kann das gar nicht bürgerlicher Neugier und sozialen Ressen- verstehen, aber Ali stellt fest: „Nix viel den- timents dominierten Welt nicht möglich ken: gut. Viel denken: viel weinen.“ Er er- ist. Der neugierige Blick ist zugleich der klärt also, dass aus der intellektuellen Er- ausgrenzende Blick. Ausgegrenzt wird, kenntnis der Machtverhältnisse in der Ge- was wenig bekannt ist und als bedrohlich sellschaft Schmerz resultiert. für die eigene Gemütlichkeit empfunden wird. Später bezahlt Ali Emmis Getränk. Er be- gleitet sie nach Hause, weil es für sie bes- Auch die nächste Sequenz (In Emmis Kü- ser sei, nicht allein zu gehen. Er, der Frem- che) ist hauptsächlich durch eine offene de, erfüllt gesellschaftliche Konventionen, Tür gefilmt. Der Rahmen macht die Men- die sich in Deutschland auflösen. Die schen zu Gefangenen, zeigt die Beengt- nächste Sequenz des Films hat den Haus- heit ihrer Verhältnisse. Emmi erzählt, dass flur in Emmis Wohnhaus zum Schauplatz ihr Mann Pole war, von den Eltern nicht – ein Ort der Unbehaustheit, ein Zwischen- geliebt wurde. Sie macht eine politisch- ort zwischen Draußen und Drinnen. Emmi historische Anspielung: Vater war in der erzählt von sich und verdichtet biografi- Partei, aber sie auch, „eigentlich alle“. Ihre sche Details zu jenen Sprachfloskeln, die Hochzeit wird sie später in dem Lokal fei- Kommunikation erleichtern: „Ich habe ern, in das Hitler während seiner Münch- nichts gelernt im Leben“. Ihre drei Kinder ner Jahre immer ging. Der Nationalsozia- „leben ihr eigenes Leben“. Als sie sich lismus grundiert die Gegenwart, ohne entschließt, Ali in die Wohnung einzula- dass er explizit diskutiert würde. Ali er- den, deutet sie damit Mut zur Verände- zählt, dass er in einem Zimmer mit fünf rung an: „Immer sagt man ‘aber’ im Le- Kollegen wohnt. Das sei menschenun- ben – und alles bleibt beim Alten.“ Den würdig, meint Emmi. Und Ali spitzt zu: Weg der beiden über die Treppe filmt die „Araber nix Mensch in Deutschland“. Der Kamera durch ein vergittertes Fenster zum scheinbar so banale Dialog des Films ent- Flur. Von hinten angeschnitten sieht man hält ständig solche Zuspitzungen, solche einen weiblichen Kopf. Im Gegenschuss sprachlichen Provokationen, Merk- und dann das Gesicht der Frau Kargus, die Lehrsätze eben, wie sie von einem Lehr-

Film-Heft ... 7 stück zu erwarten sind. Aber auch das die zweite Tabuverletzung der Filmhand- Szenendesign ist wichtig für die soziale lung neben der Beziehung einer Deutschen Einordnung der Charaktere. Zum Beispiel zu einem Araber angesprochen: die Liebe die Bilder, die in Emmis Küche hängen. Es zwischen zwei Menschen, die im Alter un- sind Zeugnisse für einen (klein)bürgerli- gefähr 30 Jahre auseinander liegen. Die chen Geschmack (die Meereswoge und Verletzung von Normen und Erwartungen der Bauernhof als Motive massenhaft ver- besteht darin, dass die Frau viel älter ist; breiteter Kaufhauskunst). Oder Emmis bil- bei alten Männern gilt das Tabu hingegen lige Kleider mit den großen Mustern (die nicht, sie zeigen junge Lebensgefährtin- freilich auch dem Zeitgeschmack der End- nen vielmehr gern wie Trophäen vor. Em- siebziger entsprechen). mi ist sich des Altersunterschieds bewusst, aber Ali überwindet ihn, weil Emmi „viel Sehr diskret ist die Liebesszene nach Em- gut, große Herz“. Emmi gibt auch ihrer mis Einladung, bei ihr zu übernachten, op- Angst angesichts dieser Liebe Ausdruck. tisch aufgelöst worden. Vier Kameraein- Darauf fällt von Ali der Satz, der zum Film- stellungen beobachten das Geschehen titel wurde. Man soll keine Angst haben: vom Wechsel Alis aus seinem Bett (mit ANGST ESSEN SEELE AUF. Das meint in einem auffälligen Kameraschwenk zur Tür, diesem Zusammenhang, sie verändert den die er überwinden muss, um in Emmis Menschen; sie lässt ihn nicht mehr auto- Zimmer zu gelangen), über ihr leises Er- nom handeln, sie versetzt ihn in Starre. schrecken (Großaufnahme), sein Zögern in ihrer Tür (Großaufnahme), bis zu dem Aus beiden Aspekten, dem Konflikt der Moment, da er auf ihrem Bett sitzt und ih- Kulturen und dem Alterskonflikt, konstru- ren Arm streichelt (halbnah hinter dem iert Fassbinder im Folgenden die Statio- Bett, leichte Untersicht, bei Low-Key-Licht, nen eines Spießrutenlaufs des Paares also einer Beleuchtung, die Schatten im Emmi und Ali. Diese (Passions-)Stationen Bild zulässt). Dann wird abgeblendet. In sind: der Blende vergeht die Zeit bis zum Mor- gen. Dann benutzt Fassbinder ein anderes 1. Die Treppe, auf der Emmi mit ihren Kol- Motiv der Rahmung innerhalb des Film- leginnen die Beziehung zu einem Gast- bilds. Er zeigt Emmis Blick in den Spiegel. arbeiter diskutieren möchte, was durch Am Abend hatte Ali schon in den Spiegel eine ihr entgegen schlagende Flut von geschaut. Kurz vor Filmende wird Ali in Vorurteilen verhindert wird („Lauter den Toilettenspiegel der Kneipe schauen dreckige Schweine, ungewaschen, nur und sich ohrfeigen. Offensichtlich bedeu- auf Sex aus, auf unsere Kosten, Frau- ten diese Spiegelblicke Momente der en, die mit denen gehen, sind Huren“) Selbstversicherung, des Selbstzweifels, – weswegen Emmi in einer späteren auch der Selbstbestrafung, jedenfalls der Szene das Geld, das ihr Ali geben möch- momentan bewussten Auseinanderset- te, panisch zurückweist. zung mit dem, der hinein schaut. Das gei- 2. Die Wohnung von Emmis Tochter, die sterhafte Double von Gesicht und Selbst, in einer aggressiven, von gegenseiti- das ein Film mit jedem Bild herstellt, wird gen Verletzungen geprägten Beziehung so für den Zuschauer bewusst gemacht. zu ihrem Mann steht, und auf das Ge- ständnis ihrer Mutter, sie habe sich In der folgenden Sequenz am Küchentisch verliebt, mit völliger Verständnislosig- (das Leben spielt sich an Tischen ab) wird keit reagiert; nebenbei wird deutlich,

8 ... Film-Heft „Treppenwitze“ und Vorurteile

dass Emmis Schwiegersohn bei Gast- dem eine von ihnen das Zusammenle- arbeitern rot sieht, weil er einen Tür- ben mit Ali mitbekommen hat. Die Ka- ken als Vorgesetzten hat. mera illustriert diese Isolation, indem 3. Die Kneipe, in der die beiden Mädchen, sie Emmi durch die Gitter des Treppen- wohl Alis ehemalige Geliebte, ihren Hass geländers wie in Gefangenschaft auf- auf den Abtrünnigen auf Emmi projizie- nimmt. Diese Einstellung wird präzis ren („Dreckige alte Hure, das kann wiederholt, wenn Emmi von ihren Kol- nicht gut gehen, es ist unnatürlich“). leginnen später wieder in die Gruppe 4. Emmis Wohnung, in der sie ihren Kin- aufgenommen und dafür eine neue dern Ali als Ehemann präsentiert, wor- Gastarbeiterin aus Bosnien ausge- auf diese mit Entsetzen und Aggressi- grenzt wird. Jetzt wird diese Bosnierin on reagieren und den Fernsehapparat „hinter Gittern“ gezeigt. zerstören („Diese Schande! Du kannst vergessen, dass du Kinder hast“). All diese Stationen werden in der Abschluss- 5. Der Lebensmittelladen, in dem Ali Sequenz des ersten Filmteils (Im verreg- nicht bedient und Emmi aus der Tür neten Biergarten) zusammengefasst. Man gewiesen wird („Lernen’s erst einmal sieht das Paar zunächst klein und fern Deutsch“). hinter vielen gelben Gartentischen. Aber 6. Die Treppe in Emmis Haus mit der Auf- selbst dieser Raum im Freien ist nicht weit forderung ihrer Nachbarinnen, den Haus- und frei, sondern wird an den Rändern putz öfter zu machen („Wo so einer im des Bildausschnitts von zwei Bäumen ein- Haus wohnt, da nimmt der Dreck über- geengt. Im Gegenschuss mit Ali im Vor- hand“). dergrund sieht man hinten eine wiederum 7. Die Treppe an Emmis Arbeitsplatz, an sehr theatralisch angeordnete Gruppe aus dem sie von ihren Kolleginnen völlig Kellnern und Gästen stehen, die sich dem ausgegrenzt und missachtet wird, nach- Paar nicht nähern, es aber fixieren. Emmi

Film-Heft ... 9 konstatiert ihren Neid. Ali und sie halten Das Versprechen, Couscous zu kochen, sich an den Händen. Emmi bricht in Trä- war zuvor allerdings schon von der Knei- nen aus, weil sie den Hass in der Umge- penwirtin Barbara an Ali gegeben worden, bung nicht mehr erträgt. Sie beschimpft um ihn wieder einmal zu einem Besuch in die Menschengruppe (die in der Wirtshaus- ihrer Wohnung zu verführen. Fassbinder tür steht!) als dreckige Schweine. Dann konstruiert Alis erotische Flucht aus der erklären die beiden sich ganz kindisch ihre spannungsvollen in eine ruhende Bezie- Liebe. Sie fasst einen Entschluss zum Ur- hung. Dabei sind die Erwartungen und laub: „Und wenn wir zurückkommen, dann Umarmungen mit Barbara ganz besonders hat sich alles verändert. Und alle Leute durch Kameratotalen und durch Türper- sind gut zu uns.“ Eine lange Kamerafahrt spektiven distanziert. Auch die Regie rückwärts entfernt die Zuschauer von dem scheint sich von Alis „Fehltritt“ zu distan- Paar und lässt es quasi allein. zieren. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich Ali selbst so wahrnimmt, denn er weiß, dass er jetzt nicht mehr mit seiner Mit der folgenden Blende setzt Fassbinder Frau solidarisch ist. Emmi fühlt sich ver- nicht nur eine zeitliche Zäsur. Er scheint lassen. Sie sucht Ali an seinem Arbeits- nun auch ein Märchen aus einer Zeit zu platz und wird ihrerseits Opfer einer Dis- erzählen, als das Wünschen noch gehol- kriminierung. Einer von Alis Kollegen nennt fen hat. Denn als Ali und Emmi aus dem sie seine Großmutter aus Marokko – und Urlaub zurückkehren, werden sie tatsäch- Ali schreitet nicht dagegen ein. Er hat al- lich von allen Leuten anders behandelt. lerdings ein schlechtes Gewissen, verspielt Aber das ist wiederum nur ein Lehrstück- in der Kneipe seinen Lohn, trinkt, schlägt Trick. Fassbinder zeigt, dass die Leute ei- sich vor dem Spiegel ins Gesicht. Ihm ist gennützige Motive für ihren scheinbaren alles egal. Aber Emmi kommt in das Lo- Gesinnungswandel haben. Der Lebensmit- kal, und mit einer zweiten Tanzrunde zum telhändler will eine gute Kundin nicht ver- „Schwarzen Zigeuner“ deutet Fassbinder lieren. Die Nachbarinnen möchten Gegen- die Versöhnungsmöglichkeit an. Das wäre stände in Emmis Keller einlagern. Ihr Sohn das Happy End des Melodrams. will, dass sie auf sein Kind aufpasst. Und ihre Kolleginnen brauchen sie als Verbün- Lehrstückhaft wird die private Geschichte dete gegen eine Neue. Die Zuwendung allerdings ins Soziale objektiviert. Ali bricht der Gesellschaft verändert das Verhältnis mit einem Magendurchbruch zusammen. zwischen Emmi und Ali. Denn Emmi passt Im Krankenhaus erklärt ein Arzt Emmi, das sich plötzlich den Verhaltensmustern ih- sei eine Folge der besonderen Stress-Si- res Kulturraums an. Sie schickt Ali, ohne tuation, unter der Gastarbeiter in Deutsch- ihn zu fragen, damit er im Keller hilft; da- land leben. Man könne das zwar heilen, durch wird er instrumentalisiert. Sie protzt aber es würde chronisch. „Es ist hoffnungs- mit Ali vor ihren Kolleginnen und lässt sei- los.“ Die letzte Einstellung zeigt, wie Em- nen Bizeps befühlen, macht ihn damit mi an Alis Bett sitzt, seine Hand hält und zum bestaunten Exoten. Sie verweigert weint. Im Hintergrund ein Fenster. Es sich seinem Wunsch, das arabische Ge- könnte sich öffnen – wohin? richt Couscous zu kochen, mit der Bemer- kung, er solle sich an die Verhältnisse in Deutschland gewöhnen; damit schränkt sie seine kulturellen Bedürfnisse ein.

10 ... Film-Heft ANGST ESSEN SEELE AUF Fragen

? Wie beurteilen Sie die Beziehung zwischen Emmi und Ali, abgesehen von der Gastarbeiter-Problematik?

? Emmis Kinder reagieren zunächst mit völligem Unverständnis auf ihre Ehe mit Ali. Woran liegt das?

? Können Sie das aggressive Verhalten von Emmis Kindern nachvollzie- hen? Warum? Warum nicht?

? Emmis Nachbarinnen antworten auf die Bemerkung des jungen Haus- herrn, sie sei mit Ali wohl recht glücklich: „Glück, was ist das schon! Es gibt so etwas wie Anstand.“ Wie interpretieren Sie diese Bemerkung?

? Wie stehen Sie zum Verhalten des Inhabers des Lebensmittelgeschäfts?

? Als Ali Emmi erstmals Geld geben möchte, lehnt sie das geradezu pa- nikartig ab. Was sind ihre Gründe?

? Als Emmi vom Urlaub zurückkommt, zeigen ihre Kolleginnen ihr gegen- über ein ganz anderes Verhalten als zuvor. Was sind die Gründe?

? Warum nimmt Ali nach dem Urlaub seine ehemalige Beziehung zur Kneipenwirtin wieder auf? Können Sie diesen Schritt nachvollziehen?

? Plötzlich fängt Ali an, seinen ganzen Lohn zu verspielen. Was steckt dahinter?

? Wie ergeht es Emmi, als sie Ali auf seiner Arbeitsstelle sucht? Verhält er sich in dieser Situation richtig oder nicht?

? Was halten Sie von der Diagnose des Arztes, Gastarbeiter seien in Deutschland einem besonderen Stress ausgesetzt und deswegen besonders krankheitsanfällig?

? Glauben Sie, dass Emmi und Ali nach seiner Krankheit wieder zueinander finden? Warum? Warum nicht?

? Wie deuten Sie den Titel des Films ANGST ESSEN SEELE AUF (siehe die Äußerungen von Ali hierzu)?

? Glauben Sie, dass dieser Film aus dem Jahr 1973 heute noch aktuell ist? Warum? Warum nicht?

? Alte Menschen müssen oft ohne soziale Kontakte auskommen. Was sind die Ursachen für so eine Isolation? Ü

Film-Heft ... 11 ? Es kommt immer wieder vor, dass alte Leute diskriminiert werden, weil sie den Lebensstil der Jugend nicht mit ihren Lebenserfahrungen zur Deckung bringen. Was halten Sie von solchen Diskriminierungen?

? Muss man Menschen aufgrund ihres Alters respektieren? Warum? Warum nicht?

? Finden Sie es selbstverständlich, dass sich alte Menschen auch in jüngere verlieben können? Und umgekehrt?

? Beziehungen von älteren Männern zu jüngeren Frauen werden eher toleriert als umgekehrt. Warum?

? Was wissen Sie von der Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland? Wann kamen die ersten Gastarbeiter hierher? Warum kamen sie? Woher kamen sie?

? Glauben Sie, dass sich die ersten Gastarbeiter-Generationen in Deutschland integriert haben?

? Was besagt das Wort „Fremder“ für Sie? Wie definieren Sie Fremdheit?

? Was halten Sie von multikulturellen Beziehungen bzw. Ehen?

? In diesem Film gibt es bei vielen Kameraeinstellungen eine auffällige Besonderheit. Welche? Was bedeutet sie?

? Was ist Ihnen im Bereich des Szenenbildes und der Dekoration des Films aufgefallen?

? Wie wird in diesem Film mit Musik umgegangen?

? Was sagen Sie zu den Dialogen im Film? Sprechen Menschen so? Was ist die Eigenart dieser Sprache?

? Wie finden Sie die Inszenierung der Liebesszenen zwischen Ali und Emmi? Zwischen Ali und der Kneipenwirtin?

? Haben Sie die schauspielerische Leistungen von Brigitte Mira und El Hedi Ben Salem überzeugt? Warum? Warum nicht?

12 ... Film-Heft Film-Heft ... 13 ANGST ESSEN SEELE AUF Materialien

Biografie Rainer Werner Fassbinder

Bis zu seinem Tod galt 1946 als Geburtsjahr Rainer Werner Fass- binders. Erst danach stellte sich heraus, dass er am 21. Mai 1945 in Bad Wöris- hofen zur Welt gekommen ist. 1951 lie- ßen sich seine Eltern scheiden, und Fass- binder wuchs bei seiner Mutter auf. Unter den Namen Lilo Pempheit oder Liselotte Eder hat sie in vielen Filmen ihres Sohnes kleine Rollen übernommen. (In ANGST ESSEN SEELE AUF spielt sie die Frau Münchmeyer.) Fassbinder ging vor dem Abitur vom Gymnasium ab und nahm Schauspielunterricht. 1967 stieß er zu der Gruppe des Münchner „action-theaters“, ein Jahr später gründete er das „antitea- ter“. Viele Team-Gefährten, mit denen er Rainer Werner Fass- lange zusammenarbeiten sollte, – darun- binder als Darsteller ter Hanna Schygulla, Kurt Raab, Peer Ra- in seinem Film ben – lernte Fassbinder schon zu dieser ANGST ESSEN Zeit kennen. SEELE AUF

1969 drehte er seinen ersten Spielfilm eine Spielzeit lang (1974/75) Intendant LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD. Kurz des Frankfurter Theaters am Turm. Sein danach den zweiten Spielfilm KATZEL- Drama „Der Müll, die Stadt und der Tod“ MACHER, in dem Fassbinder das Thema wurde wegen Antisemitismus-Vorwürfen der Gastarbeiter in Deutschland erstmalig bis heute in der Bundesrepublik nicht offi- aufgriff. Obwohl seine frühen Filme reser- ziell aufgeführt. viert aufgenommen wurden und er die Aufnahmeprüfung in die Berliner Filmhoch- Fassbinder galt nicht nur im Studio als schule nicht bestand, entfaltete Rainer Berserker, sondern hatte auch den Ruf, Werner Fassbinder bis 1982 ein Werk, das im Privatleben und in seinem Team, der vielen als wichtigstes filmisches Oeuvre so genannten „Fassbinder-Familie“, eige- im Deutschland nach 1945 gilt. Von einer ne Interessen und Positionen brachial und manischen Arbeitswut besessen, drehte rücksichtslos durchzusetzen. Außerdem er in nur 13 Jahren 37 Kino- und Fernseh- wurde er immer wieder in die Nähe von filme. Darunter auch die Fernsehserien exzessivem Drogenkonsum gerückt. Sei- ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, eine ne wichtigsten Filme sind DER HÄNDLER proletarische Familiengeschichte, und DER VIER JAHRESZEITEN, FONTANE BERLIN ALEXANDERPLATZ, eine Adapti- EFFI BRIEST, DIE EHE DER MARIA BRAUN, on des Döblin-Romans. Neben seiner fil- BERLIN ALEXANDERPLATZ und LILI MAR- mischen Arbeit schrieb und inszenierte LEEN. Rainer Werner Fassbinder starb am Fassbinder auch Theaterstücke und war 10. Juni 1982 in München.

14 ... Film-Heft Interview mit Rainer Werner Fassbinder

Herr Fassbinder, Sie haben hier Ja, das ist aber nicht Sirk, so ist das Le- eine provozierend einfache, ver- ben. Bei Minderheiten, Außenseitern etc. einfachte Geschichte erzählt. Besteht in ist das tatsächlich so, dass sie, solange der Reduzierung der Konflikte ein didakti- sie den Druck von außen spüren, nicht zu sches Programm? ihren eigentlichen Problemen kommen, weil sie vollauf damit beschäftigt sind, Ich finde, dass Geschichten, je einfacher sich nach außen abzuschirmen und sich sie sind, auch um so wahrer sind; der ge- so ‘ner Solidarität zu versichern. Es war meinsame Nenner für viele Geschichten für mich beim Schreiben schwer, dann ist dann eine Geschichte, die so einfach davon wegzukommen, ich habe mich ge- ist. Wenn wir die Figur des Ali noch kom- fragt, wie kann es eigentlich passieren, plizierter gemacht hätten, dann hätten es dass die Leute nicht mehr so viel Druck die Zuschauer noch schwerer gehabt, mit auf die beiden ausüben. dieser Geschichte fertig zu werden. Wäre diese Figur noch komplexer geworden, so Welche Funktion hat da die Schlussse- hätte es der einen Seite, der Kindlichkeit quenz, wenn Ali krank zusammenbricht dieser Beziehung zwischen Ali und Emmi, mit einem Magengeschwür, und der Kran- sehr geschadet – während jetzt die Ge- kenhausarzt spricht davon, dass das oft schichte so naiv ist wie die beiden Men- bei Gastarbeitern zu diagnostizieren sei? schen, um die es geht. Obwohl die Bezie- Da drängt doch plötzlich noch eine ganz hungen natürlich viel komplexer sind, das andere Realität in den Film hinein? ist mir schon klar. Aber da bin ich der An- sicht, dass jeder Zuschauer sie selbst mit Sie entspricht der Wirklichkeit; ich habe seiner eigenen Realität auffüllen müsste. das von einer Ärztin aus einem Kranken- Und die Möglichkeit hat er halt auch, wenn haus, sie hat mir diesen Vorgang genau eine Geschichte so einfach ist. Ich finde, erzählt, und ich konnte mir das sehr gut die Leute müssen ihre eigenen Verände- vorstellen. Es kommt da wirklich diese rungsmöglichkeiten finden – sicher, man ganz echte Gastarbeiter-Realität rein, mit kann auch streng ideologisch vorgehen, der die jetzt zusätzlich fertig werden müs- aber das finde ich für das große Publikum sen ... Nun ja, der Schluss ist natürlich nicht so relevant. dazu da, um dieser privaten Geschichte, die ich wahnsinnig mag und die ich auch Mich hat ... die dramaturgische Aufteilung sehr wichtig finde, so ‘nen Drive in die der Geschichte von ANGST ESSEN SEELE Realität zu geben, auch im Kopf des Zu- AUF an Sirk erinnert: In der ersten Hälfte schauers. des Films kämpft das Paar mit den Pro- Aus einem Interview blemen, die von außen kommen und nach von Hans Günther innen eher eine stabilisierende Wirkung Pflaum, entnommen haben. Erst in dem Moment, in dem die- dem Buch: Rainer ser Druck von außen aufhört, befassen Werner Fassbinder – sich Ihre Protagonisten (und damit auch Die Anarchie der der Film) mit den Konflikten, die das Paar Phantasie, S. 47-52 innen, miteinander haben muss.

Film-Heft ... 15 Über das Fremde

In den zahlreichen Theorien des beschreiben; die Verlockungen der frem- Themas besteht Einverständnis den Lebenswelten haben aber auch dem darüber, dass das Fremde nicht Dinge oder „going native“, das Kafkas „Wunsch, In- Eigenschaften bezeichnet. Wer etwas dianer zu werden“ sarkastisch kommen- „fremd“ nennt, hat immer schon die Rela- tiert, immer wieder neue Impulse verlie- tion zum Eigenen mitbedacht. Die Theorie hen. Daneben ist in der modernen Gesell- des Fremden ist per se Differenztheorie. schaft Indifferenz getreten, das gleichgül- Was dort ist, ist nicht hier. Die Bilder vom tige oder neutrale Verhalten gegenüber Eigenen oder Fremden sind immer schon anderen, wie es in alltäglichen Situatio- in Opposition zum je anderen konstruiert nen zu beobachten ist. Im Unterschied ... Sie erlauben es genau genommen nicht, zum alten, historisch überholten Konzept das Eigene vom Fremden zu trennen, weil der negativen Aneignung des Fremden, das eine immer schon Produkt des ande- die es enteignet, werden in der gegen- ren ist. Aber sie geben uns die Möglich- wärtigen Diskussion solche der positiven keit, ihre Interdependenz, ihr wechselsei- Aneignung gefordert. Womöglich ist das tiges Ineinandergreifen, verständlich zu Vorhaben, fremde Personen und fremde Zitiert nach Rolf- machen ... Kulturen in ihrer Fremdheit anzuerkennen Peter Janz aus: und als fremd fortbestehen zu lassen, nur Faszination und Unbekanntheit, Unbestimmtheit, Unerfass- dann zu realisieren, wenn ihre Zugehörig- Schrecken des barkeit, ja das Gefühl des Unheimlichen keit zum Eigenen außer Frage steht. Fremden, S. 7-18 gehören zu den geläufigen Attributen, die dem Fremden zugeschrieben werden. Was uns ganz und gar unvertraut ist, kann uns faszinieren, ebenso aber in Schrecken ver- setzen, und beide Erfahrungen liegen dicht beieinander ... Die Ambivalenz zwischen Faszination und Schrecken, die für das Fremde konstitutiv ist, lässt sich vielleicht so deuten: Einerseits geht vom Fremden, d. h. von fremden Personen, die nicht „da- zugehören“, ebenso wie von unvertrauten Lebenswelten (fernen Ländern, Mythos, Religion) eine beträchtliche Verlockung aus, die eigene Ordnung auf sie auszu- dehnen. Andererseits hat das Fremde zu- gleich etwas „anziehend Abschreckendes“, denn die vertraute Ordnung wird zur Dispo- sition gestellt und damit dem Risiko des Zusammenbruchs ausgesetzt ...

Aktive Annäherung (Einverleibung) und Ausgrenzung lassen sich als die traditio- nellen Umgangsweisen mit dem Fremden

16 ... Film-Heft Zur Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland

1955 bis 1973: produkt beitragen und damit den hohen Die Zeit der Gastarbeiter Lebensstandard in der Bundesrepublik Die Zeit der Gastarbeiter bezieht sich auf überhaupt erst ermöglicht hätten.“ den Beginn der Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Am Anfang der siebziger Jahre veränder- Weltkrieg. Am 20. Dezember 1955 wurde te sich die Demographie der Gastarbeiter, eine Anwerbevereinbarung von den Ver- denn Männer und Frauen holten ihre Fa- tretern der deutschen und italienischen milien nach, obwohl dieses Phänomen Regierung unterzeichnet. Die ersten aus- nicht von Dauer sein sollte. Deshalb fing ländischen Arbeitnehmer kamen im Jahr eine Diskussion über die Kosten und den 1956 aus Italien, und folglich wird Italien Nutzen der Ausländerbeschäftigung an als „Herkunftsland“ der „ehemaligen Gast- und über die Furcht vor sozialen Konflik- arbeiter“ beschrieben. Weitere Anwerbe- ten. Diese Diskussion führte am 23. No- abkommen folgten mit Spanien und Grie- vember 1973 zu einem Anwerbestopp für chenland (1960), der Türkei (1961), Por- ausländische Arbeitnehmer. Damit ergänz- tugal (1964), Tunesien und Marokko (1965) te die Bundesregierung ihre Ausländer- und dem ehemaligen Jugoslawien (1968). politik durch den Grundsatz „Konsolidie- Die Anwerbepolitik zielte darauf ab, zu ver- rung“, der die Zahl von ausländischen Ar- hindern, dass sich die neuangekommenen beitnehmern und die Anpassung an die Arbeiter in Deutschland dauerhaft nieder- Aufnahmefähigkeit der sozialen Infrastruk- lassen. Die Bundesrepublik sollte kein Ein- tur begrenzte. Außerdem wurde zum er- wanderungsland sein. sten Mal eine Eingliederungspolitik für die ausländischen Familien angekündigt, die Ausländerpolitik wurde und wird heute langfristig in der Bundesrepublik bleiben immer noch in erster Linie als Beschäfti- wollten. Andererseits führten laut Regie- gungspolitik gesehen. Deshalb war die rung ökonomische Faktoren, wie die Re- Beschäftigung der Gastarbeiter eine wert- zession in den Jahren 1967-68 und die volle Mithilfe, die die Aufrechterhaltung Ölkrise im Jahre 1973 zu dem Anwerbe- des deutschen Produktionsniveaus garan- stopp. tierte. In einem Gutachten erklärte der Sachverständigenrat die Vorteile der Gast- Heutzutage sind die meisten Gastarbeiter arbeiter: „Die Ausländer ermöglichen den längst zu Einwanderern geworden. Etwa deutschen Arbeitnehmern, in qualifizierte 350.000 befinden sich im Rentenalter und Berufe aufzusteigen, sie decken einen ihre Zahl wird bis zum Jahr 2010 über eine großen Teil des Bedarfs der Wirtschaft an Million steigen. regionaler Mobilität“. Im Jahr 1972 kam die zweimillionste Gastarbeiterin, die 19- jährige Jugoslawin Vera Rimski, in Mün- chen an. Ein Artikel in der Zeitung erklär- te: „Josef Stingl (Präsident der Bundesan- stalt für Arbeit), dankte der Jugoslawin und allen anderen Gastarbeitern für den großen Anteil, den sie zum Bruttosozial-

Film-Heft ... 17 ANGST ESSEN SEELE AUF Literaturhinweise

Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fass- Internetseiten binder. Bertz Verlag, Berlin 2001 zum Thema Gastarbeiter (Auswahl):

G. Gebauer, B. Taureck, T. Ziegler: Aus- www.hcl.unimelb.edu.au/CALL/German/ länderfeindschaft ist Zukunftsfeindschaft. Gastarbeit.html Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 1993 www.auslaender-statistik.de/gastarb.htm

Rolf-Peter Janz (Hg.): Faszination und www.inter-nationes.de/download/b1/b11/ Schrecken des Fremden. edition suhr- gastarbeiter.doc kamp 2169, Frankfurt am Main 2001

Karl-Heinz Meier-Braun, Martin A. Kilgus: 40 Jahre ‘Gastarbeiter’ in Deutschland. Nomos Verlagsgesellschaft 1995

Michael Töteberg: Rainer Werner Fassbin- der. Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek 2002 (Neuausgabe)

18 ... Film-Heft Was ist ein Kino-Seminar?

Ein Kino-Seminar kann Möglichkeiten Es besteht aber ein enormes Defizit hin- eröffnen, Filme zu verstehen. sichtlich des Wissens, mit dem man Filme Es liefert außerdem die Chance zu fächer- beurteilen kann. übergreifendem Unterricht für Schüler Was unterscheidet einen guten von einem schon ab der Grundschule ebenso wie für schlechten Film? Gespräche und Auseinandersetzungen im Welche formale Sprache verwendet der außerschulischen Bereich. Das Medium Film Film? und die Fächer Deutsch, Gemeinschafts- Wie ist die Bildqualität zu beurteilen? und Sachkunde, Ethik und Religion kön- Welche Inhalte werden über die Bilder- nen je nach Thema und Film kombiniert sprache transportiert? und verknüpft werden.

Umfassende Information und die Einbezie- hung der jungen Leute durch Diskussio- 2. Film als Fenster zur Welt nen machen das Kino zu einem lebendi- Über Filme werden viele Inhalte vermittelt: gen Lernort. Die begleitenden Film-Hefte Soziale Probleme einer multikulturellen sind Grundlage für die Vor- und Nachbe- Gesellschaft, zwischenmenschliche Bezie- reitung. hungs- und Verhaltensmuster, Geschlech- terrollen, der Stellenwert von Familie und Filme spiegeln die Gesellschaft und die Zeit Peergroup, Identitätsmuster, Liebe, Glück wider, in der sie entstanden sind. Basis und Unglück, Lebensziele, Traumklischees und Ausgangspunkt für ein Kino-Seminar usw. sind aktuelle oder themenbezogene Filme, z. B. zu den Themen: Natur, Gewalt, Dro- Die in einem Kino-Seminar offerierte Dis- gen oder Rechtsextremismus. kussion bietet Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, gesellschaftliche Problem- Das Kino eignet sich als positiv besetzter bereiche und die im Film angebotenen Lö- Ort besonders zur medienpädagogischen sungsmöglichkeiten zu erkennen und zu Arbeit. Diese Arbeit hat innerhalb eines hinterfragen. Sie können sich also bewusst Kino-Seminars zwei Schwerpunkte. zu den Inhalten, die die Filme vermitteln, in Beziehung setzen und ihren kritischen Verstand in Bezug auf Filmsprache und 1. Filmsprache Filminhalt schärfen. Es besteht ein großer Nachholbedarf für junge Menschen im Bereich des Mediums Das ist eine wichtige Lernchance, wenn Film. Filme sind schon für Kinder ein fas- man bedenkt, dass Filme immer stärker zinierendes Mittel zur Unterhaltung und unsere soziale Realität beeinflussen und Lernorganisation. unsere Lebenswelt prägen. Filme, die Ausblicke eröffnen. Filme, die Menschen und Länder vorstellen. Filme, die Lebensläufe zeigen. Filme zum Diskutieren.

I. VOM ZUSAMMENLEBEN UND VON TOLERANZ Anam, BR Deutschland 2001, Buket Alakus Angst essen Seele auf, BR Deutschland 1973, Rainer Werner Fassbinder Chocolat, USA 2000, Lasse Hallström Kiriku und die Zauberin, Frankreich 1998, Michel Ocelot Jalla! Jalla!, Schweden 2000, Josef Fares

II. FREMDE KULTUREN Ali Zaoua – Auf den Straßen von Casablanca, Marokko/Frankreich/Belgien 2000, Nabil Ayouch Gadjo dilo – Geliebter Fremder, Frankreich/Rumänien 1997, Tony Gatlif Zeit der trunkenen Pferde, Iran 2000, Bahman Ghobadi Monsoon Wedding – Eine indische Hochzeit, Indien 2001, Mira Nair Reise nach Kandahar, Iran 2001, Mohsen Makhmalbaf

III. LEBENSWEGE: VON MIGRANTEN UND SESSHAFTEN Karakum – Das Wüstenabenteuer, BR Deutschland/Turkmenistan 1993, Arend Agthe Kolya, Tschechische Republik/Großbritannien/Frankreich 1996, Jan Sverák Marie-Line, Frankreich 2000, Mehdi Charef Nirgendwo in Afrika, BR Deutschland 2001, Caroline Link

www.kino-fuer-toleranz.de

KINO FÜR TOLERANZ ist ein Projekt des Instituts für Kino und Filmkultur und der Bundes- zentrale für politische Bildung. Es wird gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Aktionsprogramms „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ und in Kooperation mit den Filmverleihern und den Kinoverbänden Cineropa e.V. und AG KINO durchgeführt.