Musikalische Missionierung – Barockmusik Aus Dem Dschungel
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DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Feature Musikalische Missionierung Barockmusik aus dem Dschungel Von Judith Grümmer Produktion: DLF 2013 Redaktion: Ulrike Bajohr Regie: Claudia Kattanek Erstsendung 1 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 30. August 2013, 20.10 - 21.00 Uhr Musik Sprecher Zitat « Man muss wissen, dass die Indianer der Musik außerordentlich zugeneigt sind, …und wie entrückt dem Orchester zuhören. Wenn es eine Musikbegleitung gibt, nehmen sie äußerst gern am Gottesdienst teil. Als daher vor einigen Jahren Pater Martin Schmid … ankam, sehr erfahren in Musik, wurde er beauftragt, [eine Musikschule] für die Neubekehrten … zu errichten, um sie dann von dort in den anderen Reduktionen zu verbreiten, zur größeren Entfaltung des Gottesdienstes. Dieser Meister erfüllt seine Aufgabe mit großer Geschicklichkeit, und die indianischen Schüler sind sehr fleißig beim Unterricht, worüber auch die anderen Indianer sehr zufrieden sind. So sagte ein gewisser bedeutender Kazike eines Tages: «Ich wünschte, wieder ein Knabe zu sein, damit ich in einer so großartigen Kunst 2 unterrichtet werden könnte».» Aus den Jahresberichten der Chiquitosmission, 1730-1735 1. O-Ton Mario - Overvoice Jungenstimme: Ich heiße Mario Rodriguez. Ich gehöre zum Ensemble Martin Schmid. Vor drei Jahren hatte zum ersten Mal ein Konzert besucht. Danach wollte ich unbedingt ein Instrument, und jetzt spiele ich hier die zweite Geige im Orchester. Ich bin der einzige in meiner Familie, der ein Instrument spielt. Mir hilft die Geige, nachzudenken, mich zu beruhigen, und manchmal in der Schule während der Prüfungswochen, hilft es mir, mich besser zu konzentrieren. Die Geigenmusik berührt das Herz und die Seele. MUSIK ANSAGE Musikalische Missionierung Barockmusik aus dem Dschungel Ein Feature von Judith Grümmer MUSIK Text: Nach San José de Chiquitos geht es immer gerade aus. Stundenlang. Durch unendlich weite, fast unberührte, üppig grüne Dschungelgebiete und Savannen. Vorbei auch an brandgerodeten Weiden und langgestreckten Ackerstreifen. Mit dem nagelneuen „Corredor Bioceánico“, der den Pazifik mit dem Atlantik quer durch Südamerika verbindet, läuft erstmals eine Betonpiste an dem Dschungelstädtchen vorbei. Für die Menschen von San José bedeutet das: nur noch vier Autostunden in Richtung Westen bis zu den Lichtern der Wirtschaftsmetropole Santa Cruz de la Sierra. Fünf Stunden ostwärts durch die Einsamkeit des bolivianischen Glut-Ofens bis zu brasilianischen Grenze. Und dann gibt es noch 1500 km Buckelpisten und Sandwege. Die führen von San José in einer „großen Runde“ zu den benachbarten “Misiones de Chiquitos”. Nur hier blieben fast alle Jesuiten-Dörfer im Originalzustand erhalten. Nirgendwo sonst in 3 Südamerika. Nur in der Chiquitania, im Osten Boliviens, einer Region, etwa so groß wie die alte Bundesrepublik. Einer Region, in der die südamerikanische Barockmusik seit mehr als 300 Jahren zu Hause ist. Musik hoch Text: Zugegeben. Ich hatte mit barocker, geistlicher Musik nie etwas anfangen können. Bis ich an einem Sonntagsvormittag vor neun Jahren das erste Mal durch ein Jesuitenmissionsdorf spazierte …. und glaubte, meinen Ohren nicht mehr trauen zu dürfen: Da wehte - für mich völlig unerwartet - ein Geigenkonzert aus der Dorfkirche über die Plaza. Barocke Klänge begleiteten die glockenklare Stimme eines jungen Chiquitano-Mädchens, das eine lateinische Messe sang. Diese „Klänge für die Seele“ - mitten im bolivianischen Dschungel und fast am Ende der Welt - haben mich tief berührt. 2. O-Ton Adelai - Overvoice Mädchenstimme2 Diese Musik ist alles, was ich bin. Dank der Musik bin ich hier. Ich spiele mit Gefühl und Herz, weil diese Musik alles repräsentiert, was ich bin. Das gefällt mir. … Ich habe mich für diese Musik entschieden, weil sie mehr mit Kultur und Kunst zu tun hat als die moderne Musik. Text: Adelai ist seit zweieinhalb Jahren Geigenschülerin in der Orchesterklasse von San José. Für sie ist es ganz selbstverständlich, dass es in ihrem Dorf - wie in allen Missionsdörfern der Chiquitania – mindestens ein Jugend- Barockorchester gibt. 3. O-Ton Adelai - Overvoice Mädchenstimme2 Die Musik, die wir hier spielen, ist die unseres Dorfes. Sie ist die Geschichte unseres Volkes… ein Volk ohne Geschichte hat keine Zukunft.“ Atmo: Auf der Plaza von San José am Abend 4 Text: Auf den ersten Blick wirkt San José wie ein gottvergessenes Kaff, irgendwo draußen im Nirgendwo. Aus der Zeit gefallen. Hübsch. Einsam. Provinziell. Von der Hitze gelähmt. Ein paar kleine Läden für den täglichen Bedarf, eine Handvoll einfacher Restaurants und Hotels, ein Krankenhaus, ein paar Schulen. Eine Busstation und ein Bahnhof, an dem jede Nacht genau zwei Züge Halt machen. Und dann: Eine gewaltige Klosteranlage an der rechteckigen Plaza. Ehrfurcht einflößend und zugleich anziehend. Kraftstrotzend und filigran. Befremdend und vertraut: Aus Stein und in feinstem Barock. Um 1750 errichtet. Hineingebaut in den damals noch völlig unwegsamen südamerikanischen Dschungel. Hinter diesen Kirchenmauern, in den umliegenden Häusern und Hütten, lebt, atmet, klingt bolivianische Barockmusik. (Atmo/Musik hoch) Text: Das Missionsdorf San José de Chiquitos ist stolz darauf, seit 1990 auf der UNESCO-Liste der Weltkulturgüter zu stehen. Ebenso wie fünf andere Missionsdörfer in der bolivianischen Chiquitania, wo in den indigenen Dorfgemeinschaften der jesuitische Lebensstil überlebt hat: San Javier, Concepción, Santa Ana, San Miguel und San Raphael. 4. O-Ton Christian Roth - auf Deutsch Es ist das erste Mal, dass die UNESCO ein ganzes Dorf, ihre Menschen, ihre Traditionen, ihre Kultur, alles in einem zu einem Weltkulturerbe zusammen ernannte. ABER es sind lebendige Dörfer. Das darf man nicht vergessen, es sind Dörfer die weiterleben, sich weiterentwickeln, sich mit der Modernität konfrontieren und sich darüber Gedanken machen müssen, wie sie ihr Leben und ihre Traditionen weiterleben können. Text: Wer hier draußen in der Chiquitania unterwegs ist, braucht erfahrene Begleiter – Leute wie Christian Roth. Der studierte Architekt lebt heute in Santa Cruz, aber aufgewachsen ist in den Dörfern der Chiquitanos. Er ist der älteste Sohn des 1999 verstorbenen Schweizer Theologen und Architekten Hans Roth. Vor allem ihm hat die Chiquitania den Erhalt ihrer Jesuitenkirchen zu verdanken. 5 5. O-Ton Christian Roth - auf Deutsch Die Jesuiten suchten einen Architekten, der San Rafael, das war die kaputteste Kirche von allen, dass man die wenigstens in Stand halten könnte oder wenigstens das Dach renovieren kann, Schule zu machen damit es nicht ganz verloren geht… Und so kam mein Vater 1972 für sechs Monate und mit 40 000 Dollar im Hosensack, um diese Kirche zu restaurieren und blieb dann nachher achtundzwanzig Jahre. ZÄSUR: Atmo Vor den Klassenräumen der Musikschule, Kinderstimmen, Geigenklänge Text Ein stürmischer heißer Wind schüttelt halbreife Mangos vom Baum. Lautklatschend fallen sie in den Innenhof der Klosteranlage von San José. Vom Dorfplatz dringt das Röhren von Mopeds herüber, es mischt sich mit Geigenklängen, Taktstockklopfen, Lehrerstimmen. Jeden Abend treffen sich in den Nebenräumen der Kirche mehr als siebzig Kinder und Jugendliche zum Musikunterricht. Es gibt eine Anfängerklasse, in der gerade Tonleitern geübt werden, und eine Orchesterklasse, die für ihren nächsten Auftritt probt. Wir schauen durchs geöffnete Fenster, lauschen, werden irgendwann entdeckt und freundlich hereingewinkt. 6. O-Ton Iris Rachel Sandoval Figueroa - Overvoice Mädchenstimme Ich heiße Iris Rachel Sandoval Figueroa. Ich bin 12 Jahre alt und ich spiele Geige, und das gefällt mir sehr gut. Ich habe damit begonnen, als ich neun war. Meine Geschwister hatten schon früher Musik gemacht und dann habe ich mich entschieden, auch 6 zu spielen. Und seit anderthalb Jahren bin ich nun hier im Orchester. Text: Beim Erzählen hält Iris ihre Geige fest im Arm. Eine Leihgeige. Ihre Eltern sind einfache Kleinbauern. Morgens nimmt Iris sich zwei Stunden Zeit für ihr Geigenspiel. Weder Eltern noch Lehrer müssen sie daran erinnern. Erst danach macht sie ihre Hausaufgaben. Nachmittags geht sie aufs Colegio, auf die weiterführende Schule. Unterrichtet wird – wie überall in Bolivien – in mehreren Schichten. Und dann kommt sie für mindestens anderthalb Stunden in die Musikklasse. Die Musikschule – getragen von Kommune und Kirchengemeinde - ist das einzige dauerhafte und vor allem kostenlose Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche hier am Ort. Gespielt wird ganz selbstverständlich Barockmusik. Musik, wie ihre Ahnen sie schon gespielt haben. Atmo Aus der Orchesterprobe 7. O-Ton Iris - Overvoice Mädchenstimme Diese alte Musik ist toll….Vor allem die langsamen Stücke, die wirklich wunderschönen Melodien berühren direkt das Herz. Vor ein paar Wochen habe ich sogar vor der spanischen Königin gespielt, als sie uns hier in San José besucht hat. Was für eine große Ehre, vor einer so wichtigen Person zu spielen! Text: Nicht die Hitze, nicht das Surren der Ventilatoren, nicht die lautsprecherverzerrten Rosenkranzgebete aus dem angrenzenden Kirchenschiff, nichts und niemand scheint die Konzentration der Musikschüler stören zu können. Kein Kind zappelt ungeduldig auf seinem Stuhl herum. Ganz im Gegenteil.