DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr

Feature Musikalische Missionierung Barockmusik aus dem Dschungel Von Judith Grümmer Produktion: DLF 2013

Redaktion: Ulrike Bajohr Regie: Claudia Kattanek

Erstsendung 1

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Sendung: Freitag, 30. August 2013, 20.10 - 21.00 Uhr

Musik

Sprecher Zitat

« Man muss wissen, dass die Indianer der Musik außerordentlich zugeneigt sind, …und wie entrückt dem Orchester zuhören. Wenn es eine Musikbegleitung gibt, nehmen sie äußerst gern am Gottesdienst teil. Als daher vor einigen Jahren Pater Martin Schmid … ankam, sehr erfahren in Musik, wurde er beauftragt, [eine Musikschule] für die Neubekehrten … zu errichten, um sie dann von dort in den anderen Reduktionen zu verbreiten, zur größeren Entfaltung des Gottesdienstes. Dieser Meister erfüllt seine Aufgabe mit großer Geschicklichkeit, und die indianischen Schüler sind sehr fleißig beim Unterricht, worüber auch die anderen Indianer sehr zufrieden sind. So sagte ein gewisser bedeutender Kazike eines Tages: «Ich wünschte, wieder ein Knabe zu sein, damit ich in einer so großartigen Kunst 2 unterrichtet werden könnte».» Aus den Jahresberichten der Chiquitosmission, 1730-1735

1. O-Ton Mario - Overvoice Jungenstimme:

Ich heiße Mario Rodriguez. Ich gehöre zum Ensemble Martin Schmid. Vor drei Jahren hatte zum ersten Mal ein Konzert besucht. Danach wollte ich unbedingt ein Instrument, und jetzt spiele ich hier die zweite Geige im Orchester. Ich bin der einzige in meiner Familie, der ein Instrument spielt. Mir hilft die Geige, nachzudenken, mich zu beruhigen, und manchmal in der Schule während der Prüfungswochen, hilft es mir, mich besser zu konzentrieren. Die Geigenmusik berührt das Herz und die Seele.

MUSIK

ANSAGE

Musikalische Missionierung Barockmusik aus dem Dschungel Ein Feature von Judith Grümmer

MUSIK

Text: Nach San José de Chiquitos geht es immer gerade aus. Stundenlang. Durch unendlich weite, fast unberührte, üppig grüne Dschungelgebiete und Savannen. Vorbei auch an brandgerodeten Weiden und langgestreckten Ackerstreifen. Mit dem nagelneuen „Corredor Bioceánico“, der den Pazifik mit dem Atlantik quer durch Südamerika verbindet, läuft erstmals eine Betonpiste an dem Dschungelstädtchen vorbei.

Für die Menschen von San José bedeutet das: nur noch vier Autostunden in Richtung Westen bis zu den Lichtern der Wirtschaftsmetropole Santa Cruz de la Sierra. Fünf Stunden ostwärts durch die Einsamkeit des bolivianischen Glut-Ofens bis zu brasilianischen Grenze.

Und dann gibt es noch 1500 km Buckelpisten und Sandwege. Die führen von San José in einer „großen Runde“ zu den benachbarten “Misiones de Chiquitos”. Nur hier blieben fast alle Jesuiten-Dörfer im Originalzustand erhalten. Nirgendwo sonst in 3 Südamerika. Nur in der Chiquitania, im Osten Boliviens, einer Region, etwa so groß wie die alte Bundesrepublik. Einer Region, in der die südamerikanische Barockmusik seit mehr als 300 Jahren zu Hause ist.

Musik hoch

Text: Zugegeben. Ich hatte mit barocker, geistlicher Musik nie etwas anfangen können. Bis ich an einem Sonntagsvormittag vor neun Jahren das erste Mal durch ein Jesuitenmissionsdorf spazierte …. und glaubte, meinen Ohren nicht mehr trauen zu dürfen:

Da wehte - für mich völlig unerwartet - ein Geigenkonzert aus der Dorfkirche über die Plaza. Barocke Klänge begleiteten die glockenklare Stimme eines jungen -Mädchens, das eine lateinische Messe sang.

Diese „Klänge für die Seele“ - mitten im bolivianischen Dschungel und fast am Ende der Welt - haben mich tief berührt.

2. O-Ton Adelai - Overvoice Mädchenstimme2

Diese Musik ist alles, was ich bin. Dank der Musik bin ich hier. Ich spiele mit Gefühl und Herz, weil diese Musik alles repräsentiert, was ich bin. Das gefällt mir. … Ich habe mich für diese Musik entschieden, weil sie mehr mit Kultur und Kunst zu tun hat als die moderne Musik.

Text: Adelai ist seit zweieinhalb Jahren Geigenschülerin in der Orchesterklasse von San José. Für sie ist es ganz selbstverständlich, dass es in ihrem Dorf - wie in allen Missionsdörfern der Chiquitania – mindestens ein Jugend- Barockorchester gibt.

3. O-Ton Adelai - Overvoice Mädchenstimme2

Die Musik, die wir hier spielen, ist die unseres Dorfes. Sie ist die Geschichte unseres Volkes… ein Volk ohne Geschichte hat keine Zukunft.“

Atmo: Auf der Plaza von San José am Abend 4

Text: Auf den ersten Blick wirkt San José wie ein gottvergessenes Kaff, irgendwo draußen im Nirgendwo. Aus der Zeit gefallen. Hübsch. Einsam. Provinziell. Von der Hitze gelähmt. Ein paar kleine Läden für den täglichen Bedarf, eine Handvoll einfacher Restaurants und Hotels, ein Krankenhaus, ein paar Schulen. Eine Busstation und ein Bahnhof, an dem jede Nacht genau zwei Züge Halt machen.

Und dann: Eine gewaltige Klosteranlage an der rechteckigen Plaza. Ehrfurcht einflößend und zugleich anziehend. Kraftstrotzend und filigran. Befremdend und vertraut: Aus Stein und in feinstem Barock. Um 1750 errichtet. Hineingebaut in den damals noch völlig unwegsamen südamerikanischen Dschungel. Hinter diesen Kirchenmauern, in den umliegenden Häusern und Hütten, lebt, atmet, klingt bolivianische Barockmusik.

(Atmo/Musik hoch)

Text: Das Missionsdorf San José de Chiquitos ist stolz darauf, seit 1990 auf der UNESCO-Liste der Weltkulturgüter zu stehen. Ebenso wie fünf andere Missionsdörfer in der bolivianischen Chiquitania, wo in den indigenen Dorfgemeinschaften der

jesuitische Lebensstil überlebt hat: San Javier, Concepción, Santa Ana, San Miguel und San Raphael.

4. O-Ton Christian Roth - auf Deutsch Es ist das erste Mal, dass die UNESCO ein ganzes Dorf, ihre Menschen, ihre Traditionen, ihre Kultur, alles in einem zu einem Weltkulturerbe zusammen ernannte.

ABER es sind lebendige Dörfer. Das darf man nicht vergessen, es sind Dörfer die weiterleben, sich weiterentwickeln, sich mit der Modernität konfrontieren und sich darüber Gedanken machen müssen, wie sie ihr Leben und ihre Traditionen weiterleben können.

Text: Wer hier draußen in der Chiquitania unterwegs ist, braucht erfahrene Begleiter – Leute wie Christian Roth. Der studierte Architekt lebt heute in Santa Cruz, aber aufgewachsen ist in den Dörfern der . Er ist der älteste Sohn des 1999 verstorbenen Schweizer Theologen und Architekten Hans Roth. Vor allem ihm hat die Chiquitania den Erhalt ihrer Jesuitenkirchen zu verdanken. 5

5. O-Ton Christian Roth - auf Deutsch Die Jesuiten suchten einen Architekten, der San Rafael, das war die kaputteste Kirche von allen, dass man die wenigstens in Stand halten könnte oder wenigstens das Dach renovieren kann, Schule zu machen damit es nicht ganz verloren geht… Und so kam mein Vater 1972 für sechs Monate und mit 40 000 Dollar im Hosensack, um diese Kirche zu restaurieren und blieb dann nachher achtundzwanzig Jahre.

ZÄSUR:

Atmo Vor den Klassenräumen der Musikschule, Kinderstimmen, Geigenklänge

Text

Ein stürmischer heißer Wind schüttelt halbreife Mangos vom Baum. Lautklatschend fallen sie in den Innenhof der Klosteranlage von San José. Vom Dorfplatz dringt das Röhren von Mopeds herüber, es mischt sich mit Geigenklängen, Taktstockklopfen, Lehrerstimmen. Jeden Abend treffen sich in den Nebenräumen der Kirche mehr als siebzig Kinder und Jugendliche zum Musikunterricht. Es gibt eine Anfängerklasse, in der gerade Tonleitern geübt werden, und eine Orchesterklasse, die für ihren nächsten Auftritt probt. Wir schauen durchs geöffnete Fenster, lauschen, werden irgendwann entdeckt und freundlich hereingewinkt.

6. O-Ton Iris Rachel Sandoval Figueroa - Overvoice Mädchenstimme Ich heiße Iris Rachel Sandoval Figueroa. Ich bin 12 Jahre alt und ich spiele Geige, und das gefällt mir sehr gut. Ich habe damit begonnen, als ich neun war. Meine Geschwister hatten schon früher Musik gemacht und dann habe ich mich entschieden, auch 6 zu spielen. Und seit anderthalb Jahren bin ich nun hier im Orchester.

Text: Beim Erzählen hält Iris ihre Geige fest im Arm. Eine Leihgeige. Ihre Eltern sind einfache Kleinbauern. Morgens nimmt Iris sich zwei Stunden Zeit für ihr Geigenspiel. Weder Eltern noch Lehrer müssen sie daran erinnern. Erst danach macht sie ihre Hausaufgaben. Nachmittags geht sie aufs Colegio, auf die weiterführende Schule. Unterrichtet wird – wie überall in Bolivien – in mehreren Schichten. Und dann kommt sie für mindestens anderthalb Stunden in die Musikklasse. Die Musikschule – getragen von Kommune und Kirchengemeinde - ist das einzige dauerhafte und vor allem kostenlose Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche hier am Ort. Gespielt wird ganz selbstverständlich Barockmusik. Musik, wie ihre Ahnen sie schon gespielt haben. Atmo Aus der Orchesterprobe

7. O-Ton Iris - Overvoice Mädchenstimme Diese alte Musik ist toll….Vor allem die langsamen Stücke, die wirklich wunderschönen Melodien berühren direkt das Herz.

Vor ein paar Wochen habe ich sogar vor der spanischen Königin gespielt, als sie uns hier in San José besucht hat. Was für eine große Ehre, vor einer so wichtigen Person zu spielen!

Text: Nicht die Hitze, nicht das Surren der Ventilatoren, nicht die lautsprecherverzerrten Rosenkranzgebete aus dem angrenzenden Kirchenschiff, nichts und niemand scheint die Konzentration der Musikschüler stören zu können. Kein Kind zappelt ungeduldig auf seinem Stuhl herum. Ganz im Gegenteil. Alle sitzen mit ihren Streichinstrumenten hochkonzentriert vor den Notenständern und tun, was ihnen Orchesterleiter Ronald Chinchi vorgibt. Der hat die Geige unter sein Kinn geklemmt und wippt den Takt mit dem Fuß. Ronald, Jeans, Poloshirt, spielt für uns ein kleines Solo, eine Chovena. 7

Atmo Chovena 01- Ronald Chinchi spielt auf seiner Geige einen traditionellen Tanz, so wie er in der Chiquitania überall bekannt ist. 8. O-Ton Ronald Chinchi, Urubichá - Overvoice Männerstimme Geboren bin ich in Urubichá ... diese … Chovenas … sind typisch für mein Dorf. Die Mehrheit in meinem Dorf macht Musik, sie wird auf Instrumenten gespielt, wie sie die Missionare mitgebracht haben. Unsere Vorfahren hielten an dieser Kultur fest. Heute bewahren wir Enkel diese Kultur.

Text: Für den 25jährigen bedeutet die Barockmusik seiner Heimat also nicht nur Tradition, sondern auch Zukunft. Sein Geigenspiel hat Ronald schon nach Spanien und Deutschland geführt. Denn das Barock-Orchester von Urubichá stieß Ende der 1990er Jahre auch außerhalb Boliviens auf internationale Aufmerksamkeit. Musik öffne einem die Welt, sagt Ronald Chinchi.

Und deshalb sei für ihn auch wichtig, insbesondere die Söhne und Töchter aus armen Familien kostenlos zu unterrichten, so wie seine Lehrer es auch getan haben.

8

9. O-Ton Ronald Chinchi - Overvoice Männerstimme Ich glaube, dass die Musik wichtige Impulse bei den Kindern auslöst und sie insbesondere davon abhält in Drogen oder andere Verführungen einzusteigen. Anstatt irgendeinen Sport zu treiben, kommen sie hierher in den Musikunterricht, um zu üben, weil die Musik auch ein Beruf ist und einem Zukunft geben kann. ….In meinem Dorf wird immer gesagt, dass alle, die in die Musikschule gehen, auch die besten in der Schule sind, weil die Musik den Geist öffnet. Die Musikschüler sind in allem gut, auch in Mathematik. Wir Musikstudenten haben dann damit angefangen, in die Dörfer zu gehen, um dort neue Musikschulen zu gründen, in jedem kleinen Dorf , aber auch in Santa Cruz bei den Kindern und Jugendlichen in den Armenvierteln. 9 Text: Die neue Betonpiste, der „Corredor Bioceánico“, wird Ronald und anderen Musikstudenten auch während der Regenzeit das Hin und Her zwischen Santa Cruz und San José, zwischen Universität und Schülerorchester ermöglichen, hofft der ehrenamtliche Orchesterleiter.

10. O-Ton Ronald Chinchi - Overvoice Männerstimme Natürlich kostet hier in Bolivien ein Musikstudium viel, aber meine Geige hilft mir, dass ich an die Universität gehen kann. Die Musik hilft, und es interessiert nicht, ob ein Musiker das Kind reicher Eltern ist oder nicht. In Bolivien ist es vielmehr so, dass die besten Musiker aus den armen Familien kommen. Meine Familie war wirklich sehr arm. Schon als kleines Kind musste ich mitarbeiten, Geld verdienen. Als ich in der Schule war, habe ich immer den Nachmittagsunterricht besucht, und vormittags war ich in der Musikschule. Ich habe nie ich meine täglichen 4 Stunden Üben ausgelassen. ….und nun habe ich es geschafft, dass ich in Santa Cruz, der größten Stadt Boliviens, studiere und das Orchester von San José de Chiquitos dirigieren darf.

ZÄSUR Text: Ein Klassenzimmer weiter unterrichtet ein deutlich älterer, grauhaariger Mann rund vierzig Anfänger im Geigenspiel. Tonleitern. Rauf und runter. Mal schräg, mal weniger schief.

11. O-Ton Julio Aliaga - Overvoice Männerstimme Bueno. Ich bin Julio Gisbert Aliaga, geboren in La Paz. Ich … bin Leiter der hiesigen Gemeinde-Musikschule, die vor 12 Jahren gegründet wurde und in all dieser Zeit sind glücklicherweise viele Kinder so gut geworden, dass sie unserem Orchester beitreten konnten.

Text: Wenn die Kleinen ihren Unterricht beendet haben, entspannen sie die Bögen und umwickeln sie die Geigen mit Stofftüchern. Einige haben sogar einen Instrumentenkasten. Und machen sie sich mit ihren Instrumenten auf den Weg nach Hause. 10 Julio Aliaga trägt sein Cello in einen Lagerraum. Seit Jahrhunderten werden hier im Nebenraum der Kirche Instrumente aufbewahrt: Alte, von den Jesuiten aus Europa mitgebrachte. Geschickt von einheimischen Handwerkern nachgebaute. Und auch solche, die in jüngerer Zeit Spender aus Europa oder den USA finanziert haben.

12. O-Ton Julio Gisbert Aliaga - Overvoice Männerstimme Es gibt ja viele mittellose Menschen hier, die können keine Instrumente kaufen – aber wir können hier Geigenunterricht für alle anbieten können, auch Kindern aus ganz armen Verhältnissen, weil wir eine ganze Anzahl von Violinen ausleihen können. Die Gemeinde versucht, die musikalische Förderung so offen gestalten, dass unsere talentierten Kinder aus armen Familien bis zum Berufsviolinisten ausgebildet werden können und dann auch später gut verdienen

Text: Die Kinder- und Jugendorchester seien Jugendsozialarbeit mit Geige und Taktstock, höre ich immer wieder. Sie sind Zukunft, Hoffnung und Stolz der ganzen Region.

12. O-Ton Julio Aliaga - Overvoice Männerstimme Und es ist doch eine besser Geige zu spielen, als sich auf der Plaza mit einem „trago“, einem Schluck aus der Flasche, die Zeit totzuschlagen und irgendwelche Spielchen zu machen. Allerdings dürfen die Kinder nicht mehr bei uns im Orchester mitspielen, wenn ihre Schulleistungen nachlassen. Für manche Musikschüler ist das die härteste Bestrafung.

ZÄSUR Sprecher:

«Das ich aber das glück gehabt in disse missiones geschicket zu werden, hatt nit wenig darzu geholffen, weillen ich die music verstehe, und erkenne erst ietz, warumb die göttliche vorsichtigkeit geordnet, das ich in meiner jugend die music lehrnete, damit ich nemblich aus dissen Indianern nit nur fromme 11 und eyfferige christen, sondern auch musicanten machen sollte, als welche bishero noch kein music nach der kunst oder die noten gesehen oder gehöret haben.»

Martin Schmid, 1730

Text:

Ende des 17. Jahrhunderts hatten die spanischen Kolonialherren die rohstoffreichen Andengebiete Südamerikas längst mit Schwert und Gebetbuch erobert und die Ureinwohner versklavt oder ermordet. Aber bis in den Dschungel des tropischen Tieflandes waren sie noch nicht überall vorgedrungen.

Genau dort - in den heute zu Bolivien, Brasilien und Paraguay gehörenden Urwaldgebieten – wagten Jesuiten wie der Schweizer Martin Schmid die Utopie des „Heiligen Experiments“.

Beeinflusst von der Vorstellung europäischer Philosophen des 16. Jahrhundert über die „ideale Stadt“, gründeten die Jesuiten allein in Bolivien zwischen 1691 und 1760 zehn sogenannte „reducciones jesuíticas“.

In diesen Schutzgebieten wollten sie die bis dahin völlig nackten nomadischen „Urwald-Indianer“ mit Gottes Hilfe und

Geigenklängen, mit Pauken und Trompeten bekehren und bekleiden, in Dorfgemeinschaften sesshaft machen und bilden.

Martin Schmid baute zusammen mit den Einheimischen in den Mittelpunkt einer jeden Missionssiedlung eine prachtvolle, dreischiffige Barock-Kirche, mit reichhaltigen Schnitzereien, Wandmalereien und Bildtafeln.

Musik

Orte zum Beten und Musizieren.

Sprecher:

„Alle Dörfer haben jetzt ihre Orgel, viele Geigen und Baßgeigen aus Zedernholz, Clavicordia, Spinette, Harfen, Trompeten, Schalmeien. Diese Indianerknaben sind ausgemachte Musikanten; sie statten alle Tage in den heiligen Messen mit ihrem Singen und Musizieren dem Herrgott das schuldige Dankeslob ab. Ich darf behaupten, dass sie mit ihrer Musik in jeder Stadt und Kirche zu 12 eurer großen Verwunderung erscheinen könnten.“

13. O-Ton Christian Roth - auf Deutsch Der Pater Martin Schmid …hat die Kirchen von San Javier, Concepción und San Rafael gebaut und diese Kirchen basieren auf musikalischen Noten… und die ganzen Proportionen in der Kirche selber basieren auf musikalischen Proportionen. In diesem Sinne ist der idealste Ort, um Barockmusik zu hören, eine Chiquitano-Kirche. Das sind Gebäude, die im Sinne der Musik gebaut wurden.

Text: In den täglichen Gottesdiensten erklangen barocke Messen, Litaneien, Responsorien, Triosonaten. Mehr als 70 Jahre lebte das „Heilige Experiment“: Als „Jesuitenstaat“ ging dieses einzigartige „Gesellschaftsmodell“ in die südamerikanische Kolonialgeschichte ein, und es konnte nur gelingen, weil die „reducciones“ nicht der Rechtsprechung der Kolonialregierung unterstanden und von spanischen Sklavenjägern nicht betreten werden durften.

14. O-Ton: Pater Fleidl – auf Deutsch

Die Jesuiten haben die Leute aus dem Wald geholt, sesshaft gemacht, dann mit ihnen eine gute Kirche gebaut und die Leute in einem einfachen System zur Arbeit gebracht. Hausbau, Viehzucht usw. Aber es waren auch Sachen der Kultur. Sie haben aber auch Lesen und Schreiben auf Spanisch gelernt und sie haben gelernt, Musikinstrumente herzustellen. Es gibt hier sogar eine Pfeifenorgel aus jener Zeit. Dass diese einfachen Menschen aus dem einfachen Milieu des Waldes es zu solchen Höhen in der Musik und Kunst gebracht haben, das kann man nur so verstehen, dass es eine wirklich Zusammenarbeit gewesen ist zwischen den Menschen und den Missionären. Wäre das nicht so gewesen, dann wären sie sofort zurück in den Wald gegangen.

Text:

Der aus Österreich stammende Franziskanerpater Hubert Fleidl ist 13 seit 1957 der Pfarrer von San José. Sein Orden schickte ab 1930 Ordensbrüder hierher, um das Erbe der Jesuiten zu übernehmen.

15. O-Ton Pater Fleidl – auf Deutsch Die Globalización ist unterdessen hier eingedrungen und alles, was es auf der Welt gibt, gibt es auch hier. Damals waren wir noch arme Leute. Kaum hat es hier Milch gegeben, kein Mehl und die Verkehrsverbindungen waren sehr schlecht. Aber man lebte glücklich in jener Zeit. ...

Text: Der hochgewachsene Mann ist in San José für seine Eigenwilligkeit bekannt und sehr beliebt. Seine täglichen Gottesdienste sind gut besucht. Obwohl wir völlig unangemeldet vor seiner Tür stehen, lädt uns der erst streng und knurrig, aber dann immer freundlicher dreinblickende 81jährige auf eine Tasse Tee ein. Padre Santos, ein Chiquitano von vielleicht Ende Dreißig, klein, rundlich, mit seinem sanftem Blick so ganz das Gegenteil von Pater Fleidl, setzt sich zu uns, rührt viel Zucker in seinen Tee.

16. O-Ton Padre Santos in San José – Overvoice Männerstimme Weil die Musik den Einheimischen gut gefallen hat, fanden sie darüber zum Christentum. Die Chiquitanos sind begabt im Kunsthandwerk, in der Musik und auch in der Viehzucht. Mit der Ankunft der Missionare hat sich das Leben der Menschen hier deutlich verbessert. Und so ist die Missionierung durch die Jesuiten ein schönes Beispiel dafür, wie dank verbesserter Lebensbedingungen eine neue Religion wirklich gelebt und nicht nur von außen aufgezwungen wurde. Ja, es gilt sogar als humanes Beispiel von Christianisierung, da die Missionare sehr gut auf die Gebräuche und das damalige Kulturverständnis der einheimischen Menschen eingingen.

Text: 14 Das „Heilige Experiment“ ist bis heute nicht unumstritten: Von den einen wird es als „direkte jesuitische Bereicherung“ kritisiert, von den anderen als „gelungene Entwicklungshilfe“ gelobt. Es endete, so viel ist klar, abrupt.

Am 2. April 1767 unterzeichnete der spanische König Carlos der Dritte einen Erlass, der die Jesuiten aus Südamerika verbannte und ihren südamerikanischen Schutzgebieten den Todesstoß versetzte.

Auch Martin Schmid musste nach 39 Jahren, als alter Mann, aus der Chiquitania nach Europa zurückkehren.

Die „sanfte Kolonisierung“ war den spanischen Eroberern ein Dorn im Auge gewesen – von nun an galten die Bewohner der Schutzregionen als Freiwild.

In Brasilien und Paraguay verließen die Menschen ihre Missionsdörfer; die Dörfer zerfielen oder wurden von den Sklavenhändlern zerstört.

Allein die noch entlegeneren „reducciones“ der bolivianischen Chiquitania blieben erhalten.

17. O-Ton: Pater Fleidl – auf Deutsch

Die Leute haben ihre Gewohnheiten, das tägliche Gebet und die Feiern der Karwoche etc. alles weiter vollzogen, was sie in diesen Jahren gelernt hatten. Sie tauften ihre Kinder … mit der Nottaufe, denn Priester hat es hier keine gegeben, aber alles diese Leute wurden wirklich zu Kindern Gottes gemacht und das hat sich im Volk erhalten. Und wir sind heut zu Tag noch nicht auf der Höhe von der damaligen Zeit. Vierstimmige Gesänge, die damals in Latein gesungen wurden und so weiter. Jetzt sind wir wieder dabei, dass man die Leute von der Jugend auf wieder zu Musik bringt. Die haben ein großes Musikverständnis, die Kinder. Und das ist eine bessere Arbeit als sich ständig durch Fernsehen die Zeit zu vertreiben. Text: Die Chiquitanos seien heute stolz auf das kulturelle Erbe der Jesuiten, meint auch Padre Santos. Vorchristliche Wurzeln spielten hier in der Chiquitania keine Rolle. Sagt er. Und meint: Nicht so wie im Hochland, wo die Aymara - zu denen Boliviens Präsident Evo Morales gehört - sich auf ihre fünftausendjährige Geschichte und ihre ureigenen Traditionen 15 besinnen würden.

18. O-Ton Padre Santos in San José – Overvoice Männerstimme In dieser Musik verschmilzt die Geschichte der Vergangenheit mit der Gegenwart, und sie ist so mächtig, dass sie auch in die Zukunft tragen wird. Dies vor allem auch, da wir in Bolivien mittlerweile eine große Anzahl von renovierten Jesuiten-Kirchen haben, in denen wir alle mit Stolz den Musikunterricht fördern und so den jungen Menschen auch den Weg zu Gott und in die Kirche ebnen.

ZÄSUR

19. O-Ton Anna Jasmin Overvoice Mädchenstimme

(span: nennt ihren Namen) Ich spiele die erste Geige. In den drei Jahren, die ich schon im Orchester bin, hat mir das sehr gefallen, weil ich sehr viel dabei empfinde. Am Anfang habe ich gespielt, weil mein Vater gesagt hat, dass es gut ist, ein Instrument zu spielen. Und weil die Musik so schön ist. Ich habe mit dem Cello begonnen. Dann habe ich gesungen und dann begann ich mit der Geige. Wir üben zwei Stunden täglich. Obwohl es dem Pfarrer manchmal an Geld fehlt, um die Lehrer zu bezahlen, können wir mit dem

Geld, was wir bei unseren Konzerten einnehmen, dann aber doch unsere Lehrer bezahlen. Nur ein einziger Mitschüler hat eine eigene Geige. Wir anderen haben Leihinstrumente von der Gemeinde. Wir haben nur die Saiten, die auf unseren Instrumenten aufgespannt sind und wenn die kaputt gehen sollten, dann gibt es keine neuen mehr.

20. O-Ton Ruben - Overvoice Jungenstimme: (nennt seinen Namen) Die Flöte spiele ich. Ich bin 14 Jahre. Für mich ist die Flöte wie ein Bruder, wenn ich mich nicht gut fühle, dann hilft sie mir, mich zu beruhigen, und ich würde gern eines Tages die Geige lernen, und weiter vorankommen in der Gruppe. Die Musik ist eine große Chance für mich.

Zäsur

Text:

Ab San José geht es jetzt nur noch über rotstaubige, in der 16 Regenzeit oft völlig unpassierbare Lehmstraßen weiter nach .

Wieder: Stundenlang immer gerade aus. Gen Nordosten, in Richtung Amazonastiefland, wird die Chiquitania immer feuchter, grüner und üppiger. Die Luft vibriert von Myriaden weißer und gelber Schmetterlinge. In allen Farben leuchten die Gefieder der Papageien, die in ganzen Schwärmen die fruchttragenden oder blühenden Bäume am Wegesrand umfliegen. Hie und da zetert ein Affe. Und dann immer dieser schrille Dauerton: Zikaden in der Paarungszeit.

Vereinzelt stehen ein paar kleine Hütten am Straßenrand, errichtet aus Latten und lehmverputztem Geflecht. Bis heute ist das die typische Bauweise jener Chiquitano-Familien, die lieber außerhalb von Dorfgemeinschaften leben.

Ab und an versperrt ein großes, weißes Tor den Weg zu einer außer Sichtweite liegenden, wahrscheinlich sehr prachtvoll gebauten Hazienda. Einige weiße Oberschichtsfamilien besitzen in Bolivien heute noch unvorstellbar viel Land und Vieh.

Ansonsten – menschenleere Einsamkeit.

Atmo Plaza von San Rafael

Sprecher:

“ich bin nit eingedenckt, ob ich eüch schon geschrieben habe, wie ich in dem dorf S. Raphael eine neue kirchen aufgebauet. Wünschete, das ihr selbe sehen könten, so würden ihr eüch erfreüen und verwundern, wie es auch geschehen mit unseren Indieren, welche nach ausgemachter kirchen gesaget, das sie ietzunder mit größter freüd und begierde in die neüe kirchen gehen (…) Hat zwey columnae ….Die wend (…) seind zwar von ungebrennte zieglstein gemacht, scheinen aber hübsch, weilen sie mit unterschiedlichen farben schön gemahlet seyen, wie auch die gantze kirchen und altären (…)Für disse neüe und schöne kirchen eine neüe und grössere orgel gemachet.“

Martin Schmid, 1761

Text:

An der Fassade der Missionskirche von San Rafael de Velasco wird gerade kräftig gearbeitet. 17

Die gigantischen, kunstvoll gedrechselten Baumstämme, auf denen das gesamte Gewicht des langgezogenen Kirchendachs fast zu schweben scheint, müssen hin und wieder imprägniert werden.

Und weil morgen das Fest zu Ehren des Heiligen Rafael beginnt, muss heute noch alles fertig werden.

Trotzdem öffnet José Fernandez Gallo uns den Seiteneingang der Kirche

21. O-Ton - José Fernandez Gallo Ich bin verantwortlich für die Instandhaltung aller Kirchen in der Chiquitania. Der Plan der Missionen sieht vor, in Zusammenarbeit mit der UNESCO, das Weltkulturerbe der sechs wichtigsten barocken Jesuitenkirchen zu bewahren.

Text:

Mit Dreitagebart, verstrubbelten schwarzgelockten Haaren, farbverschmierter Arbeitskleidung führt uns Don Gallo sichtlich gut gelaunt durch „seine“ Kirche. Schließlich kommen nicht jeden Tag Europäer ins Dorf, die sich für seine Arbeit interessieren.

22. O-Ton - José Fernandez Gallo

San Rafael de Velasco ist die zweite Jesuitenmission der Chiquitania - die um 1740 entstand -, und erfreulicherweise beinahe vollständig in seinen originalen Teilen erhalten ist, sowohl in der Architektur, in der Inneneinrichtung und auch in den Bildern. Die Kirche ist ein Werk der Paters und Architekten Martin Schmid und man kann von unten noch das Flechtwerk des Daches aus Schilfrohr erkennen, die originalen Fußböden. Es ist eine warme Barockkirche, die die Geschichte ihrer Zeit bewahrt hat.

Text: Dass die Jesuiten die Chiquitanos nicht nur Musik, sondern auch Baukunst, Malerei und Schnitzerei lehrten, belegt die kunstvolle Innenausstattung von San Rafael. Versilberte, vergoldete, mit komplizierten Intarsien und Schnitzereien verzierte hölzerne Hochaltäre, Kanzeln und 18 Beichtstühle. Aufwendige Fresken und auf Leinwände gemalte biblische Geschichten. Der damalige Bauherr, Jesuitenpater Martin Schmid, hatte die künstlerischen Fähigkeiten seinen indigenen Mitarbeitern nicht nur früh erkannt und gefördert. Er ließ ihnen auch die Freiheit, eine eigene Bildsprache zu entwickeln. Die Chiquitanos wählten Motive und Ornamente aus ihrer Lebenswelt: Pflanzen und Tiere, Szenen aus dem Alltag. Mal grausam, mal heiter, mal versöhnlich. Aber immer von hoher künstlerischer Ausdruckskraft.

Selbst in den pausbäckigen Engelsgesichtern, die den Betenden fröhlich zulächeln, sind die Gesichtszüge der einheimischen Dorfbewohner bis heute bewahrt.

23. O-Ton José Fernandez Gallo – Overvoice Männerstimme3 Alles begann ja ab den 1970er Jahren mit dem Architekten Hans Roth, der mit einem großangelegten Rettungsplan überhaupt erst den Grundstein für ihre Wiederentdeckung legte.

24. O-Ton Christian Roth - auf Deutsch

Als mein Vater die Kirchen renoviert hat, war es immer sehr wichtig, zuerst Schule zu machen, also den Einheimischen das Handwerk zu lehren, so dass sie nachher, wenn dann kein Spezialist mehr vorhanden ist, die Arbeit machen können. Und in diesem Sinne wurden hier Schnitzer von San Miguel mitgebracht und von Concepción. Wir können die besten Spezialisten von der Welt hier her bringen, aber sie dürfen keine Technologie mitbringen oder die Technologie selber produzieren. Das ist der Sinn der Sache, dass die Leute ihre Kirchen und Häuser selber erhalten und weiter entwickeln können und nicht auf die Modernität angewiesen sind, die ja auch meistens sehr teuer ist.

ZÄSUR 25. O-Ton Francisco Javier Antelo

Ich spiele seit fünf Jahren die Violine. ich begann Musik zu machen, als in diesem Dorf hier eine Gruppe entstand und meine Freunde mich einluden; dort mitzuspielen. Das gefiel mir. Am Anfang habe ich mir eine Geige geliehen und dann habe ich mir eine Geige gekauft und das hat mir gefallen.

26. O-Ton Overvoice Mädchenstimme Marileni Céspedes 19 Ich bin 13 Jahre und seit 4 Jahre spiele ich Violine. Ich begann damit hier in dieser Musikschule, ich bin immer wieder hierhergekommen, weil es mir einfach gefiel.

Und inzwischen ist die Violine mein Leben.

Atmo die Geige wird gestimmt, dann Geigenvorspiel….

Text: Dicke Gewitterwolken hängen über San Miguel de Velásco, als wir am Nachmittag ins Dorf einfahren. Erste Vorboten der beginnenden Regenzeit. Die Plaza von San Miguel ist menschenleer, die Kirche verschlossen. Doch das Holztor unten im freistehenden Glockenturm ist nur angelehnt. Durch diesen Seiteneingang kann man in den Innenhof der Anlage eintreten. In einem kleinen leeren Klassenzimmer sitzt eine junge Frau auf der niedrigen Schulbank – eine Europäerin. Aus dem Kreuzgang tönt eine einzelne Geige.

27. O-Ton Katrin Grünewald Das war die Sonate 8 von den Barocksonaten. Also es gibt keinen Komponisten dazu, er ist nicht bekannt. Text: Die 19jährige Katrin Grünewald aus Bonn ist seit wenigen Wochen als Freiwillige mit den Steyler Missionaren im Sozialeinsatz hier in San Miguel. Ein Jahr wird sie in Bolivien bleiben.

28. O-Ton Kathrin Grünewald Ich wollte ursprünglich nach Afrika, aber weil ich Geige spiele, haben sie entschieden, dass ich hier her komme, weil dringend ein Geigenlehrer benötigt wurde. Bevor meine Organisation mir gesagt hatte, wo mein Einsatz ist, hatte ich noch nie davon gehört, dass es im Tiefland von Bolivien solche Musikschulen gibt, die Barockmusik unterrichten und die Geige und Cello unterrichten und das hat mich doch verwundert.

Es gibt auch so ganz volkstümliche Lieder, die kann jedes Kind auf dem 20 Instrument spielen und ich denke schon, dass sie sehr musikinteressiert sind, es gibt schon viele, die Talent haben. …

ZÄSUR

29. O-Ton Cecilia Kenning – Overvoice – ältere Stimme

Die Musik, die die jesuitischen Missionare zu den Landkirchen brachten, wurde hier tatsächlich „transformiert“, verändert, und wird deshalb heute als die südamerikanische Barockmusik bezeichnet.

Text Seit 18 Jahren engagiert sich Cecilia Kenning de Mansilla für die kulturelle Förderung der Kinder und Jugendlichen in der Chiquitania.

30. O-Ton Cecilia Kenning – Diese Klänge sollten die indigene Bevölkerung anziehen und auf die neue Religion, das Christentum, neugierig machen, von der sie bis dahin keine Ahnung hatten. Die Barockmusik sollte deshalb leichter, fröhlicher, sicherlich auch einfacher klingen, damit die Einheimischen diese Musik auch als ihren eigenen Klang empfinden, besser verstehen, aber auch leichter spielen konnten.

Ein praktischer Grund dafür, dass die Musik anders klingt liegt aber auch darin, dass die Chiquitanos über keine tiefen Stimmen verfügen. Damit fallen die Basstöne weg und werden durch höhere Stimmlagen ersetzt.

Text Cecilia Kenning ist Präsidentin von APAG, der Asociación Pro Arte y Cultura (APAC) de .

Die gemeinnützige Stiftung APAG wurde gegründet, um das Kulturgut des bolivianischen Südostens zu retten und zu erhalten.

Denn nach Hans Roth und der UNESCO entdeckten auch die weißen Bewohner des tropischen Tieflandes, dass die Chiquitania einen einzigartigen kolonialen Schatz hütet – ein Zeugnis der „Missionierung mit menschlichem Antlitz“, auf das auch die Nachfahren der Europäer ein wenig stolz sein könnten.

31. O-Ton Cecilia Kenning – 21 Also, wenn wir an alle rund 60.000 Chiquitanos denken, die in dieser Region wohnen und unter ihnen etwa 3000 Musikschüler zählen, dann ist das nicht so viel. Aber wir wissen, dass der Multiplikationsfaktor enorm sein kann. Dann sind 3000 Kinder und Jugendliche – und deren Familien - eine ermutigende Bilanz, denn wir haben diese Musikschüler doch in der letzten Jahren schon zu Lehrern, Technikern, sogar Komponisten, Orchesterleiter und anderen Hoffnungsträgern heranwachsen sehen dürfen! Oder einfach zu pflichtbewussten Bürger, die gerne klassische Musik hören. Gerade weil es kein Allerweltsmittel gibt, keinen einfachen Weg, der Armut zu entkommen, sind es doch gerade die hundert kleinen Schritte, die notwendig sind, um Fortschritte möglich zu machen. Der wichtigste Faktor ist das Selbstwertgefühl, das durch den Musikunterricht wächst.

Text: Seit 1996 findet alle zwei Jahre an mehr als zwanzig Orten zwischen Santa Cruz, Urubichá und San José das „Festival Internacional de Música Renacentista y Barroca Americana “ statt. Das Festival verdankt seine Existenz der Stiftung APAG – und einem glücklichen Zufall: Hans Roth förderte nämlich während der Restaurierungsarbeiten 1972 Kisten mit lange verschollenen Partituren zutage.

32. O-Ton Christian Roth

Da stand eine Kiste mit Papier in der Ecke.. und dann sitzt er da und nimmt dann das erste Papier und liest „, Misa en sol major“. 5 oder 10 Jahre danach kam ein Musikologe aus Argentinien nach diesen Noten fragen.. „ wo sind diese Noten? Ich suche in der ganzen Chiquitania ob nicht Noten aus der Barockzeit übrig sind.“ Mein Vater antwortet „ geh mal da hinten in dieser Kiste schauen, habe ich mal gefunden“ und der andere sagt „ wissen Sie, was Sie da haben? Sie haben das, was ich in fünf Ländern schon suche und nicht finde.“ Es waren ungefähr 5000 Blätter Musiknoten da drinne.

Text: Als die UNESCO 1990 das Lebenswerk des Architekten Hans Roth würdigte, indem sie die Missionskirchen in die Liste der Weltkulturgüter aufnahm, da waren nicht nur die Kirchen gemeint, sondern ausdrücklich auch die „reducciones“ als Ganze, die Lebensweise ihrer Bewohner, ihre Kultur und Tradition. 22 Und damit auch die barocke Musik der Dschungeldörfer, die im kollektiven Gedächtnis der Chiquitanos präsent geblieben war und nach dem Fund der Partituren wieder aufzublühen begann. Spürbar wurde das 1992, sagt Christian Roth…

33. O-Ton Christian Roth - auf Deutsch … Dann hat man eine kleine Musikgruppe mit 12-15 Kindern gegründet.. mit zwei oder drei Lehrern, die schon mehrere Jahre in Guarayos eine Musikgruppe ausgebildet hatten… die haben dann in Santa Ana die Gruppe ausgebildet. Das war hervorragend. Diese Kinder haben mit zwölf, fünfzehn Jahren Beethoven gespielt, haben Mozart gespielt. … Und auf einmal taucht so ein alter Mann auf, der seine Geige noch holt.. Don (irgendwas) und sagt „ja ich kenne dieses Lied, das hat mein Großvater mir gezeigt.. ich werde es euch vorspielen.“ Natürlich ganz andere Noten, anderes Thema, aber im Ganzen stimmte die Musik und sie war noch im Gehör der Ahnen, der alten Menschen erhalten.

MUSIK

Text: Die Barockmusik findet von Jahr zu Jahr mehr Unterstützer. Das nächste Festival barocker Musik ist für 2014 an mehr als 22 Standorten in Santa Cruz und der Chiquitania geplant. Mit Gästen auch aus Europa.

Es sieht ganz danach aus, als könnte sich diese bolivianische Barockmusik auch außerhalb der jesuitischen Dschungel-Kirchen behaupten.

Der Wunsch nach einem modernen Leben treibt viele Chiquitanos nach Santa Cruz. Dorthin bringen sie ihre Musik mit. Sie spielen sie, sie unterrichten sie, sie leben sie. Wie in San Rafael und San Javier, in Concepción, San Miguel, Santa Ana und San José de Chiquitos.

Absage Musikalische Missionierung Barockmusik aus dem Dschungel Sie hörten ein Feature von Judith Grümmer

Es sprachen: Anke Zillich, Walter Gontermann, Stefanie Linnenberg, Nica Wanderer, Ernst August Schepmann, Jonas Baeck, Jochen Langner Andreas Potulski und Katharina Wolter Ton und Technik: Beate Braun und Ernst Hartmann 23 Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2013