Plenarprotokoll 12/93

Deutscher

Stenographischer Bericht

93. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Inhalt:

Dank an den ausgeschiedenen Bundes- Zur Geschäftsordnung außenminister Hans-Dietrich Genscher und Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 7572 D Glückwünsche für den neuen Bundesaußen- minister Dr. Klaus Kinkel 7571 C Petra Bläss PDS/Linke Liste 7573 A 7573 B Begrüßung des Präsidenten des Europäi Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU schen Parlaments, Dr. Egon Klepsch . . . 7571 D Tagesordnungspunkt 4: Glückwünsche zum Geburtstag der Abge- a) Abgabe einer Erklärung der Bundesre- ordneten Gudrun Weyel 7572 A gierung Vorbereitung der VN-Konferenz „Um- Wahl der Abgeordneten Dr. Hedda Meseke welt und Entwicklung" vom 3. bis als ordentliches Mitglied in den Wahlprü- 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro fungsausschuß für den ausgeschiedenen Abgeordneten Horst Eylmann 7572A b) Beratung des Ersten Berichts der En- quete-Kommission „Schutz der Erdatmo- Erweiterung der Tagesordnung 7572 A sphäre" zum Thema Klimaänderung ge- fährdet globale Entwicklung Zukunft Absetzung des Punktes 7 — Änderung des - sichern — Jetzt handeln gemäß Be- Treuhandgesetzes — von der Tagesord- schluß des Deutschen Bundestages vom nung 7572C 25. April 1991 (Drucksachen 12/419, 12/2400) Nachträgliche Überweisung eines Antrages c) Beratung des Antrags der Fraktionen der an den Verkehrsausschuß . . . . 7572C CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Klimaverän- derung gefährdet globale Entwicklung Begrüßung einer Delegation des ungari (Drucksache 12/2551) schen Parlaments 7609 C d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bestimmung des Abgeordneten Eduard Os- Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz wald als stellvertretendes Mitglied im Ver- (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/ mittlungsausschuß für den ausgeschiedenen DIE GRÜNEN: Sofortverbot von ozon- Abgeordneten Rudolf Kraus 7660D schädigenden Substanzen (Drucksache 12/2072) Tagesordnungspunkt 1: e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eidesleistung eines Bundesministers Monika Ganseforth, Michael Müller (Düsseldorf), Dr. Liesel Hartenstein, wei- 7571 A Präsidentin Dr. Rita Süssmuth terer Abgeordneter und der Fraktion der Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- SPD: Schutz der Ozonschicht und der desministerin BMJ 7571 B Atmosphäre (Drucksache 12/2121) II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

f) Beratung der Beschlußempfehlung und i) Beratung der Großen Anfrage der Abge- des Berichts des Ausschusses für Umwelt, ordneten Michael Müller (Düsseldorf), Naturschutz und Reaktorsicherheit zu Friedhelm Julius Beucher, Klaus Dau- dem Antrag der Abgeordneten Ulrich bertshäuser, weiterer Abgeordneter und Klinkert, Dr. Christian Ruck, Anneliese der Fraktion der SPD: Umwelt und Ent- Augustin, weiterer Abgeordneter und der wicklung, Politik für eine „nachhaltige Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Entwicklung" (Drucksachen 12/1278, ordneten Gerhart Rudolf Baum, Josef 12/2286) Grünbeck, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der in Verbindung mit F.D.P.: Vor der VN-Konferenz für Um- welt und Entwicklung (UNCED) 1992: Zusatztagesordnungspunkt 1: Durch globale Umwelt- und Entwick- Beratung der Beschlußempfehlung und lungspartnerschaft die Schöpfung be- des Berichts des Ausschusses für Umwelt, wahren Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter Unterrichtung durch die Bundesregie- Schanz, Brigitte Adler, Robert Antretter, rung: Vorschlag für eine Richtlinie des weiterer Abgeordneter und der Fraktion Rates über die Luftverschmutzung durch der SPD: VN-Konferenz Umwelt und Ent- Ozon (Drucksachen 12/1339 Nr. 2.17, wicklung 1992 12/2577) zu dem Antrag der Abgeordneten Konrad in Verbindung mit Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kongreß der Ver- Zusatztagesordnungspunkt 2: einten Nationen zu Umwelt und Entwick- Beratung der Beschlußempfehlung und lung 1992 (Drucksachen 12/2489, 12/1652, 12/2298, 12/2587) des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu g) Beratung der Beschlußempfehlung und dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Hartenstein, Hermann Bachmaier, Fried- Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der helm Julius Beucher, weiterer Abgeord- Unterrichtung durch die Bundesregie- neter und der Fraktion der SPD: Auf- rung: Bericht der Bundesregierung an nahme gefährdeter Tropenholzarten in den Deutschen Bundestag über ihre lau- das Washingtoner Artenschutzabkom- fenden Aktivitäten zur Tropenwalder- men (Drucksachen 12/2095, 12/2614) haltung und zum Stand der Umsetzung der genannten Schutzmaßnahmen auf Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler 7575 B internationaler, EG-weiter und nationa- Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . 7579 A ler Ebene und darüber hinaus über die Ulrich Klinkert CDU/CSU 7582 B Entwicklung auf dem Gebiet des Schut- zes der tropischen Wälder, sowie Stel- Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 7583 D lungnahme zu den Empfehlungen der Gerhart Rudolf Baum F.D.P 7585 C Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Vorsorge zum Schutz der Ulrike Mehl SPD 7587 A Erdatmosphäre" zum Schutz der tropi- - Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE schen Wälder GRÜNEN 7588B, 7622 A zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lie- Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE sel Hartenstein, Brigitte Adler, Hermann GRÜNEN (zur GO) 7590 C Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Klimaschutz durch Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ Maßnahmen zur Tropenwalderhaltung CSU 7591 A zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lie- Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . 7592 C sel Hartenstein, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, weiterer Ab- Dr. Ingomar Hauchler SPD 7593 D geordneter und der Fraktion der SPD: Joseph Fischer, Minister des Landes Hes Importverbot für Tropenhölzer aus Pri- sen 7595 D märwäldern (Drucksachen 12/1831, Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 7598 B 12/921, 12/2109, 12/2598) h) Beratung der Unterrichtung durch die Dr. Liesel Hartenstein SPD 7600 D Bundesregierung: Beschluß der Bundes- Martin Grüner F.D.P. 7601 C regierung zur Reduzierung der energie- Dr. Ingomar Hauchler SPD 7601 D bedingten CO2-Emissionen in der Bun- desrepublik Deutschland auf der Grund- Marita Sehn F.D.P 7602 D lage des Zweiten Zwischenberichts Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 7604 C der Interministeriellen Arbeitsgruppe „CO2-Reduktion" (IMA CO2-Reduktion) Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär (Drucksache 12/2081) BMZ 7606B

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Dr. Liesel Hartenstein SPD 7607 D b) Beratung der Beschlußempfehlung Martin Grüner F.D.P 7608A und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktio- Monika Ganseforth SPD 7608B nen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Monika Ganseforth SPD 7609 C Umsetzung der EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen Auf- Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 7611A tragswesens (Drucksachen 12/770, Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU . . . 7612C 12/2540) Burkhard Zurheide F D P 7614 B c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammel- Hans Wallow SPD 7616B übersicht 58 zu Petitionen (Drucksa- Dr. Peter Paziorek CDU/CSU 7617 B che 12/2557) 7626B Dieter Schanz SPD 7619A Tagesordnungspunkt 5: Dr. Christian Ruck CDU/CSU 7620 C Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung einge- Klaus Harries CDU/CSU ...... 7623 C brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Tagesordnungspunkt 2: Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Überweisungen im vereinfachten Ver- Tschechischen und Slowakischen Föde- fahren rativen Republik über gute Nachbar- a) Erste Beratung des vom Bundesrat schaft und freundschaftliche Zusammen- eingebrachten Entwurfs eines Ge- arbeit (Drucksachen 12/2468, 12/2612, setzes zur Änderung des Wohnungs- 12/2621) eigentumsgesetzes (Drucksache 12/2505) in Verbindung mit b) Erste Beratung des vom Bundesrat Tagesordnungspunkt 6: eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Deut- Zweite Beratung und Schlußabstimmung schen Richtergesetzes (Drucksache des von der Bundesregierung einge- 12/2507) brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. Februar 1992 zwischen c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über freundschaftliche Gesetzes über die elektromagneti- Zusammenarbeit und Partnerschaft in sche Verträglichkeit von Geräten (Drucksachen 12/2469, 12/2613, (Drucksache 12/2508) Europa 12/2622) d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Wohngeld- und Herbert Werner (Ulm) CDU/CSU . . . 7627 B Mietenbericht 1991 (Drucksache Dr. SPD 7629 A 12/2356) 7625 C Josef Grünbeck F.D.P. 7630 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . . 7632A Erste Beratung des von den Abgeordne- Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 7632 D ten Inge Wettig-Danielmeier, Uta Würfel, Dr. Hans de With, Gerhart Rudolf Baum, Ulrich Irmer F. D P. 7633 D Susanne Rahardt-Vahldieck, Dr. Wolf- Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . 7634 B gang Ullmann und weiteren Abgeordne- ten eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. Peter Glotz SPD 7635 B zes zum Schutz des vorgeburtlichen/ Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . . 7636B werdenden Lebens, zur Förderung einer Josef Grünbeck F.D.P. ...... 7637 B kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und Ulrich Irmer F D P. 7638 B zur Regelung des Schwangerschaftsab- Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 7639 C bruchs (Schwangeren- und Familien- hilfegesetz) (Drucksache 12/2605) 7626A Günter Verheugen SPD 7641 A Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/ Tagesordnungspunkt 3: CSU 7643B Abschließende Beratungen ohne Aus- Freimut Duve SPD 7644 B sprache a) Zweite und dritte Beratung des vom Ortwin Lowack fraktionslos 7645 B Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- Dr. CDU/CSU 7646 B nes ... Strafrechtsänderungsgesetzes Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA — Menschenhandel — (. . . StrÄndG) . 7647 B (Drucksachen 12/2046, 12/2589) Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 7650B IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Zusatztagesordnungspunkt 4: Ursula Schmidt (Aachen) SPD 7660 D Beratung der Beschlußempfehlung und Claudia Nolte CDU/CSU 7662 B des Berichts der Enquete-Kommission Dr. Eva Pohl F D P 7663 B „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" Petra Bläss PDS/Linke Liste 7664 A a) zu dem Antrag der Fraktionen der Ilse Falk CDU/CSU 7665 B CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Einset- Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜ zung einer Enquete-Kommission NEN 7666B „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" Evelin Fischer (Gräfenhainichen) SPD . 7667 C b) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Maria Michalk CDU/CSU 7668 C Schwanitz, Markus Meckel, Angelika Uta Würfel F D P 7669 C Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einsetzung einer Ulrike Mascher SPD 7670 C Enquete-Kommission „Politische Angelika Pfeiffer CDU/CSU 7671 C Aufarbeitung von Unterdrückung in Christel Hanewinckel SPD der SBZ/DDR" 7672 D c) zu dem Antrag der Gruppe Bünd- Heinz Rother CDU/CSU 7673 D nis 90/GRÜNE: Einsetzung einer Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin BMFJ 7674 D Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der Tagesordnungspunkt 8: SED-Diktatur" und Förderung außer- Beratung des Antrags der Gruppe BÜND- parlamentarischer Initiativen zum NIS 90/DIE GRÜNEN: VN-Menschen- gleichen Thema rechtskonferenz in Berlin 1993 (Drucksa- d) zu dem Antrag der Abgeordneten che 12/2365) Andrea Lederer, Dr. Fritz Schumann Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ (Kroppenstedt), Dr. Gregor Gysi und NEN 7676B der Gruppe der PDS/Linke Liste: Ein- setzung einer Enquete-Kommission Dr. F.D.P. 7677 A „Politische Aufarbeitung der DDR- Rudolf Bindig SPD 7677 C Geschichte" Heribert Scharrenbroich CDU/CSU . . 7678B e) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Anneliese Augustin, Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 7679 A Jürgen Augustinowitz, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ Tagesordnungspunkt 9: CSU sowie der Abgeordneten Jörg Beratung des Antrags der Gruppe der van Essen, Heinz-Dieter Hackel, Dirk PDS/Linke Liste: Erarbeitung eines Hansen, weiterer Abgeordneter und neuen Rentengesetzes (Drucksache der Fraktion der F.D.P.: Aufgaben der 12/2567) Enquete-Kommission „Aufarbeitung Petra Bläss PDS/Linke Liste 7679 D der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" (Drucksachen - Alfons Müller (Wesseling) CDU/CSU . . 7681 A 12/2230, 12/2152, 12/2220 [neu] Buch- Ulrike Mascher SPD 7682 A stabe A, 12/2226, 12/2229, 12/2597) Dr. Eva Pohl F D P 7682 C Dr. CDU/CSU 7652 A Rudolf Kraus, Pari. Staatssekretär BMA 7683 C Markus Meckel SPD 7653 A Dirk Hansen F D P 7654 C Nächste Sitzung 7684 D Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste 7655 A Anlage 1 Rainer Eppelmann CDU/CSU 7655 D Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 7656 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 7685* A Dr. Jürgen Schmieder F.D.P. . . . . . 7657 C Anlage 2 Dr. Hartmut Soell SPD 7658A Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste (Erklä Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- rung nach § 31 GO) 7659 B nungspunkt 4 (Erklärung der Bundesregie- rung — Andrea Lederer PDS/Linke Liste (Erklärung Vorbereitung der VN-Konferenz „Umwelt und Entwicklung" vom 3. nach § 31 GO) 7660 A bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro — Klimaän- Zusatztagesordnungspunkt 5: derung gefährdet globale Entwicklung — Aktuelle Stunde betr. „Wirtschaftliche Zukunft sichern — Jetzt handeln — Sofort Lage der Frauen in den neuen Län- verbot von ozonschädigenden Substanzen) dern" Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . . 7685* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 V

Anlage 3 den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundes- Erklärung gemäß § 31 GO der Abgeordneten republik Deutschland und der Tschechi- Helmut Sauer (Salzgitter) und Bernhard schen und Slowakischen Föderativen Repu- Jagoda (beide CDU/CSU) zur Abstimmung blik über gute Nachbarschaft und freund- über den Entwurf eines Gesetzes zu dem schaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der 12/2468, 12/2612, 12/2621) 7688* C Bundesrepublik Deutschland und der Tsche- chischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und Anlage 6 freundschaftliche Zusammenarbeit (Druck- sachen 12/2468, 12/2612, 12/2621) . . . . 7686* B Erklärung gemäß § 31 GO des Abgeordneten Claus Jäger (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Anlage 4 Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tsche- Erklärung gemäß § 31 GO der Abgeordneten chischen und Slowakischen Föderativen Dr. und Kurt J. Rossmanith (beide Republik über gute Nachbarschaft und CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ent- freundschaftliche Zusammenarbeit (Druck- wurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom sachen 12/2468, 12/2612, 12/2621) . . . . 7689* C 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepu- blik Deutschland und der Tschechischen und Anlage 7 Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Erklärung gemäß § 31 GO der Abgeordneten Zusammenarbeit (Drucksachen 12/2468, Wolfgang Lüder, Cornelia Schmalz-Jacob- 12/2612, 12/2621) 7687* D sen, Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch und Dr. Jürgen Starnick (alle F.D.P.) zur Abstimmung über den Entschließungs- Anlage 5 antrag der CDU/CSU und F.D.P. zu dem Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom Erklärung gemäß § 31 GO der Abgeordneten 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepu- Renate Blank, Wolfgang Ehlers, Horst Gibt- blik Deutschland und der Tschechischen und ner, Dr. Wolfgang Götzer, Josef Hollerith, Slowakischen Föderativen Republik über Georg Janovsky, Dr. Egon Jüttner, Hartmut gute Nachbarschaft und freundschaftliche Koschyk, Eduard Lintner, Rudolf Meinl, Zusammenarbeit (Drucksachen 12/2468, Dr. Günther Müller, Dr. Gerhard Päselt, An- 12/2612, 12/2621) 7689* C gelika Pfeiffer, Dr. Peter Ramsauer, Christian Schmidt (Fürth), Dr. Harald Schreiber, Karl Heinz Spilker, Erika Steinbach-Hermann, Anlage 8 Herbert Werner (Ulm) und Dr. Fritz Witt- mann (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über Amtliche Mitteilungen 7690* A

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93. Sitzung

Berlin, den 20. Mai 1992

Beginn: 9.01 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne nisterin der Justiz: Vielen Dank. unsere heutige Sitzung im Reichstagsgebäude in (Beifall im ganzen Hause) Berlin. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich darf mich nach Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: der Vereidigung der neuen Justizministerin am heu- Eidesleistung eines Bundesministers tigen Tag auch an den ausgeschiedenen Bundesmini- Das ist der erste Bundesminister bzw. die erste ster Genscher wenden, der auf eine mehr als 20jährige Bundesministerin, den bzw. die wir in dieser Wahl- Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung zurück- periode in Berlin vereidigen. blickt. Lieber Herr Kollege Genscher, als Außenminister Der Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom 18. Mai 1992 folgendes mitgeteilt: waren Sie ein entscheidender Mitgestalter der deut- schen Einheit und der europäischen Einigung. Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes Beharrlich haben Sie auf die Überwindung des Ost für die Bundesrepublik Deutschland habe ich West-Gegensatzes und der Spaltung Europas hinge- heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers wirkt. Ihre politische Arbeit, die Sie stets mit ganzem den Bundesminister des Auswärtigen, Herrn persönlichen Einsatz geleistet haben, hat Früchte Hans-Dietrich Genscher, auf seinen Antrag aus getragen. Am Ende Ihrer Amtszeit als Bundesminister seinem Amt als Bundesminister entlassen und können Sie die Ziele Ihrer Politik als verwirklicht den Bundesminister der Justiz, Herrn Dr. Klaus ansehen. Kinkel, zum Bundesminister des Auswärtigen Der Amtsausübung in der Demokratie sind immer und Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Grenzen gesetzt, der Wahrnehmung von Verantwor- zum Bundesminister der Justiz ernannt. tung nie. Hier setzt sich unser gemeinsamer Weg Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein fort. - Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Für Ihr politisches Wirken im Dienste der Bundes- Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. republik Deutschland danke ich Ihnen im Namen des Frau Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenber- ganzen Hauses. ger, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten. (Anhaltender Beifall im ganzen Hause) (Die Abgeordneten erheben sich) Für Ihre weitere politische Tätigkeit begleiten Sie Ich bitte Sie, den Eid zu sprechen. unsere besten Wünsche. Dem neuen Bundesminister des Auswärtigen, Herrn Dr. Kinkel, gratulieren wir ganz herzlich. Wir Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- wünschen ihm für die neue Aufgabe a lles Gute. nisterin der Justiz: Ich schwöre, daß ich meine Kraft (Beifall im ganzen Hause) dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Meine Damen und Herren, auf der Ehrentribüne hat Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und inzwischen der Präsident des Europäischen Parla- verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen ments, Herr Dr. Egon Klepsch, Platz genommen. Im und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So Namen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie, wahr mir Gott helfe. sehr geehrter Herr Präsident, ganz herzlich und heiße Sie bei der Sitzung des Deutschen Bundestages im Berliner Reichstagsgebäude herzlich willkommen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Sie haben die Eides- (Beifall im ganzen Hause) formel gesprochen. Ich möchte Ihnen im Namen des Wir freuen uns über Ihren Besuch, der Sie außer Deutschen Bundestages viel Glück und Erfolg bei nach Berlin und Bonn auch nach Schwe rin, Potsdam Ihrer Arbeit wünschen. und Halle führt. Dies hat mehr als nur symbolischen 7572 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Charakter. Ihr Besuch bezeugt eindrucksvoll die e) zu dem Antrag der Abgeordneten Ul rich Adam, Anneliese Bedeutung der neuen Bundesländer für Europa. Ich Augustin, Jürgen Augustinowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten muß sagen, ich war gestern schon bewegt, wie selbst- Jörg van Essen, Heinz-Dieter Hackel, Dirk Hansen, weite- verständlich wir deutsche Einheit und europäischen rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Einigungsprozeß an diesem Ort praktizieren können. Aufgaben der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Ganz herzlichen Dank für Ihren Einsatz, denn Sie Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" wollen mit uns Europa voranbringen. — Drucksachen 12/2230, 12/2152, 12/2220 (neu) Buch- stabe A, 12/2226, 12/2229, 12/2597 — Lassen Sie mich im Anschluß daran Geburtstags- 5. Aktuelle Stunde: Wirtschaftliche Lage der Frauen in den glückwünsche an unsere Kollegin Gudrun Weyel neuen Ländern aussprechen, die gestern in Berlin Ihren 65. Geburts- Außerdem soll Punkt 7 der Tagesordnung abgesetzt tag gefeiert hat. Die herzlichsten Glückwünsche des werden. ganzen Hauses! Der bereits überwiesene Antrag der Fraktion der (Beifall im ganzen Hause) SPD „Aktionsprogramm zur Sanierung der Ostsee Der Kollege Horst Eylmann scheidet auf eigenen und der Gewässer in den neuen Bundesländern" soll Wunsch als ordentliches Mitglied aus dem Wahlprü- nachträglich dem Verkehrsausschuß zur Mitberatung fungsausschuß aus. Die Fraktion der CDU/CSU überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — schlägt als seine Nachfolgerin die Abgeordnete Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so Dr. Hedda Meseke vor. Sind Sie damit einverstanden? beschlossen. — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Kollegin Es liegt eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung Dr. Hedda Meseke als ordentliches Mitglied für die von Herrn Dr. Seifert vor. Bitte. Dauer der Wahlperiode in den Wahlprüfungsaus- schuß gemäß § 3 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! gewählt. Meine Damen und Herren! In der vorliegenden Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird Tagesordnung wird unter Punkt 2 a und d vorgeschla- die Tagesordnung erweitert. Die Zusatzpunkte sind in gen, den durch die Bundesregierung vorgelegten der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Wohngeld- und Mietenbericht 1991 und die Ände- rung des Wohnungseigentumsgesetzes im Plenum 1. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages nicht zu behandeln, son- (17. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- dern im vereinfachten Verfahren ohne öffentliche rung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Debatte direkt an die Ausschüsse zu überweisen. Luftverschmutzung durch Ozon — Drucksachen 12/1339 Dagegen möchte ich Widerspruch einlegen. Nr. 2.17, 12/2577 — Ich beantrage gemäß § 80 Abs. 4 der Geschäftsord- 2. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des nung, diesen Bericht im Plenum zu beraten. Dies ist in Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Berlin sehr günstig, nämlich da, wo die Probleme am Hartenstein, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, meisten drängen. Die Gründe liegen auf der Hand. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Aufnahme Wohnungsnot und Mietsteigerung gehören sowohl in gefährdeter Tropenholzarten in das Washingtoner Arten- den westlichen Bundesländern als auch in den östli- schutzabkommen — Drucksachen 12/2095, 12/2614 — chen Bundesgebieten zu den brisantesten Themen. 3. Erste Beratung des von den Abgeordneten Inge Wettig- Danielmeier, Uta Würfel, Dr. Hans de With, Gerhart Rudolf Speziell bei der Mietentwicklung in den östlichen Baum, Susanne Rahardt-Vahldieck, Dr. Wolfgang Ullmann Ländern betreibt die Bundesregierung ein übles Ver- und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines wirrspiel. Noch ist der erste Mietschock nicht verkraf- Gesetzes zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden tet, schon wird laut über eine erneute Verdoppelung Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesell- der Grundmiete nachgedacht, um gleich beschwichti- schaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Rege- lung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und gend zu sagen: 1992 nicht mehr. Aber jeder kann Familienhilfegesetz) — Drucksache 12/2605 — nachrechnen: Wenn sie zum 1. Januar 1993 in Kraft 4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts der tritt, ist das eine Vervierfachung innerhalb von 15 Mo- Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der naten. Immer weniger Bürger sind bereit, dieses Spiel Folgen der SED-Diktatur" mitzumachen. In Halle sind 5 000 Unterschriften a) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und gesammelt worden, in Premnitz 2 500, in Dresden F.D.P. 25 000. Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der (Unruhe bei der CDU/CSU) Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" In Berlin gibt es eine Initiative der Berliner Mieter- b) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Markus Meckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der gemeinschaft, des Berliner Mietervereins, der Grünen Fraktion der SPD Liga Berlin, des Unabhängigen Frauenverbandes, Einsetzung einer Enquete-Kommission „Politische Auf- (Zurufe von der CDU/CSU) arbeitung von Unterdrückung in der SBZ/DDR" des Demokratischen Frauenbundes und vieler Einzel- c) zu dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE persönlichkeiten. Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" und Förde- rung außerparlamentarischer Initiativen zum gleichen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das gehört nicht zur Thema Geschäftsordnung. d) zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Lederer, Dr. F ritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Das ist zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Politische Aufar- Geschäftsordnung, Frau Präsidentin, denn es handelt beitung der DDR-Geschichte" sich darum, daß viele Bürgerinnen und Bürger darum Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7573

Dr. Ilja Seifert bitten, daß wir dieses Thema hier auf die Tagesord- jetzt in diesen Geschäftsordnungsbeiträgen ange- nung setzen. Es ist sehr wichtig. sprochen worden sind, um wichtige Themen han- Ich möchte Ihnen gern die ersten 22 347 Unter- delt. schriften der Berliner Aktion übergeben, die fortge- Der Ältestenrat steht jede Woche vor der Frage, wie führt wird. er die Notwendigkeit inhaltlicher Debatten mit der zur (Widerspruch bei der CDU/CSU) Verfügung stehenden Zeit koordinieren kann. Das ist ein Abwägungsprozeß. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich muß Sie bitten, Ich möchte einfach einmal sagen — deshalb habe hier aufzuhören. Wir werden über Ihren Antrag ich mich gemeldet —, daß die Gruppe PDS/Linke abstimmen. Das Begehren ist vernommen worden. Liste diesem Abwägungsprozeß, der dazu geführt hat, Wird gewünscht, zum Geschäftsordnungsantrag daß wir heute über die Rio-Konferenz, über den CSFR- und den Ungarn-Vertrag reden und diese Punkte das Wort zu ergreifen? — Wenn das nicht der Fall ist, zuerst im Ausschuß und dann im Plenum behandeln möchte ich über den Geschäftsordnungsantrag von Herrn Dr. Seifert abstimmen lassen. Wer ist für eine werden, im Ältestensrat wie auch in den Vorgesprä- Debatte über Tagesordnungspunkt 2 a und d? — Wer chen der Geschäftsführer zugestimmt hat. ist dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist der (Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! — Antrag gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste und Billiger Trick!) bei einigen Enthaltungen abgelehnt. Ich halte es für einen Mißbrauch der Geschäftsord- Es liegt eine weitere Wortmeldung zur Geschäfts- nung, zu versuchen, durch diesen billigen T rick der ordnung vor. Bitte, Frau Bläss. Meldung zur Geschäftsordnung und des Vortragens von inhaltlichen Punkten nach außen irgendwelche Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Effekte zu erreichen. Meine Damen und Herren! Im Namen der Gruppe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. PDS/Linke Liste beantrage ich hiermit eine Ausspra- sowie bei Abgeordneten der SPD und des che zum Tagesordnungspunkt 3 a: zweite und dritte Bündnisses 90/GRÜNE — Dr. Dagmar Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Wir nutzen eines ... Strafrechtänderungsgesetzes-Menschen- einfach unsere Rechte!) handel. Ich sage Ihnen, werte Kolleginnen und Kollegen der Sie erinnern sich sicher an die Debatte. Es gab eine PDS: Wenn Sie nicht bereit sind, sich an vorher grundsätzliche Übereinstimmung über das Anliegen getroffene Vereinbarungen zu halten, dann wird dies des Bundesrats. Es wurde allerdings sowohl in der Konsequenzen für die Zusammenarbeit in Zukunft ersten Lesung im Bundestagsplenum als auch in der haben. Debatte des Ausschusses für Frauen und Jugend (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — festgestellt, daß die vorgesehene Änderung der Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: §§ 181 und 180 StGB dem Problem des Menschenhan- Das ist Demokratie!) dels mit ausländischen Frauen und Mädchen nicht ausreichend gerecht wird. Um in der Diskussion nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben, wurde einhellig Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich sehe keine für eine Anhörung plädiert. weiteren Wortmeldungen zur Geschäftsordnung. Wir befürchten, daß mit der Verabschiedung des Ich lasse über den Antrag, eine Debatte über Bundesratsentwurfs die von allen Seiten als unver- Tagesordnungspunkt 3 a zu führen, abstimmen. Wer zichtbar erachteten Schritte nicht erreicht werden. - stimmt für den Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Deshalb hat die PDS/Linke Liste den heute vorliegen- Enthaltungen? — Damit ist der Antrag abgelehnt. den Entschließungsantrag eingebracht, der u. a. Bestimmungen gegen den Frauenhandel auch im Ausländerrecht verankert wissen will. Über die wei- Ich rufe nun Punkt 4 a bis 4i und Zusatzpunkte 1 teren Schritte sollte unserer Meinung nach nicht nur in und 2 der Tagesordnung auf: den Ausschüssen, sondern auch im Plenum diskutiert werden. So könnte der Öffentlichkeit dokumentiert 4 a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- werden, wie ernst es uns, dem Bundestag, damit ist, rung die unverzichtbaren Änderungen für die Verbesse- Vorbereitung der VN-Konferenz „Umwelt rung der Situation gehandelter Frauen zu realisie- und Entwicklung" vom 3. bis 14. Juni 1992 ren. in Rio de Janeiro Ich bitte deshalb um Zustimmung, eine Debatte zum b) Beratung des Ersten Berichts der Enquete Tagesordnungspunkt 3 a durchzuführen. Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" Danke. zum Thema Klimaänderung gefährdet globale Ent- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wird dazu das Wort wicklung gewünscht? — Herr Dr. Rüttgers, bitte. Zukunft sichern — Jetzt handeln gemäß Beschluß des Deutschen Bundes- Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! tages vom 25. April 1991 (Drucksache Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich 12/419) unbestritten, daß es sich bei den beiden Punkten, die — Drucksache 12/2400 — 7574 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Überweisungsvorschlag: — Drucksachen 12/2489, 12/1652, 12/2298, Ausschuß für Umwelt, Naturschutz 12/2587 — und Reaktorsicherheit (federführend) Finanzausschuß Berichterstattung: Ausschuß für Wi rtschaft Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Offenbach) Ausschuß für Verkehr Dr. Peter Paziorek Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Marion Caspers-Merk EG-Ausschuß Gerhart Rudolf Baum Marita Sehn c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. g) Beratung der Beschlußempfehlung und Klimaveränderung gefährdet globale Ent- des Berichts des Ausschusses für Um- wicklung welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — Drucksache 12/2551 — (17. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesre- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten gierung Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz (Ber- lin) und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE Bericht der Bundesregierung an den Deut- schen Bundestag über ihre laufenden Akti- Sofortverbot von ozonschädigenden Sub- vitäten zur Tropenwalderhaltung und zum stanzen Stand der Umsetzung der genannten — Drucksache 12/2072 — Schutzmaßnahmen auf internationaler, Überweisungsvorschlag: EG-weiter und nationaler Ebene und dar- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz über hinaus über die Entwicklung auf dem und Reaktorsicherheit (federführend) Gebiet des Schutzes der tropischen Wälder, Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr sowie Stellungnahme zu den Empfehlun- EG-Ausschuß gen der Enquete-Kommission des Deut- schen Bundestages „Vorsorge zum Schutz e) Beratung des Antrags der Abgeordneten der Erdatmosphäre" zum Schutz der tropi- Monika Ganseforth, Michael Müller (Düs- schen Wälder seldorf), Dr. Liesel Hartenstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, B rigitte Adler, Hermann Bach- Schutz der Ozonschicht und der Atmo- maier, weiterer Abgeordneter und der Frak- sphäre tion der SPD — Drucksache 12/2121 — Klimaschutz durch Maßnahmen zur Tro- Überweisungsvorschlag: penwalderhaltung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Ausschuß für Wirtschaft Hartenstein, Herm ann Bachmaier, Fried- Ausschuß für Verkehr helm Julius Beucher, weiterer Abgeordne- Ausschuß für Forschung, Technologie ter und der Fraktion der SPD und Technikfolgenabschätzung Importverbot für Tropenhölzer aus Primär- f) Beratung der Beschlußempfehlung und wäldern des Berichts des Ausschusses für Um- — Drucksachen 12/1831, 12/921, 12/2109, welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 12/2598 — (17. Ausschuß) Berichterstattung: zu dem Antrag der Abgeordneten Ul rich Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Klinkert, Dr. Christian Ruck, Anneliese Au- Dr. Liesel Hartenstein gustin, weiterer Abgeordneter und der Marita Sehn Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Gerhart Rudolf Baum, Josef Grün- h) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- beck, Birgit Homburger, weiterer Abgeord- desregierung neter und der Fraktion der F.D.P. Beschluß der Bundesregierung zur Redu- Vor der VN-Konferenz für Umwelt und zierung der energiebedingten CO2-Emis- Entwicklung (UNCED) 1992: Durch globale sionen in der Bundesrepublik Deutschland Umwelt- und Entwicklungspartnerschaft auf der Grundlage des Zweiten Zwischen- die Schöpfung bewahren berichts der Interministeriellen Arbeits- zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter gruppe „CO2-Reduktion" (IMA CO2 Schanz, Brigitte Adler, Robert Antretter, Reduktion) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der — Drucksache 12/2081 — SPD Überweisungsvorschlag: VN-Konferenz Umwelt und Entwicklung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend) 1992 Finanzausschuß zu dem Antrag der Abgeordneten Konrad Ausschuß für Wi rtschaft Ausschuß für Gesundheit Weiß (Berlin) und der Gruppe Bündnis 90/ Ausschuß für Verkehr GRÜNE Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Kongreß der Vereinten Nationen zu Um- Ausschuß für Forschung, Technologie welt und Entwicklung 1992 und Technikfolgenabschätzung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7575

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth i) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- Interessen betrifft. Ich erinnere an die Gefahr weltwei- neten Michael Müller (Düsseldorf), Fried- ter Klimaveränderungen. Das rührt auch an den helm Julius Beucher, Klaus Daubertshäuser, Lebensnerv unseres Landes. Ich spreche vom Wachs- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der tum der Weltbevölkerung, das auch uns zu einem SPD sparsamen Umgang mit knappen Rohstoffen zwingt. Umwelt und Entwicklung Wir erleben seit langem auch im eigenen Land, daß Politik für eine „nachhaltige Entwick- Not und Elend in der Dritten Welt unzählige Men- lung" schen dazu veranlaßt, ihre Heimat zu verlassen und — Drucksachen 12/1278, 12/2286 — für sich und ihre Familien und Kinder eine bessere ZP1 Beratung der Beschlußempfehlung und des Zukunft in den wohlhabenderen Staaten, in den Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- Industriestaaten zu suchen. Schon heute führen Ver- schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu teilungskonflikte in den asiatischen und in den afrika- der Unterrichtung durch die Bundesregierung nischen Nachbarregionen Europas zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die eines Tages durchaus Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über auch unsere Sicherheit bedrohen könnten. die Luftverschmutzung durch Ozon — Drucksachen 12/1339 Nr. 2.17, 12/2577 — Wie sehr unsere eigenen Interessen von der Ent- Berichterstattung: wicklung in anderen Regionen betroffen sind, haben Abgeordnete Dr. Peter Paziorek wir am Beispiel Tschernobyl erlebt. Deshalb war und Monika Ganseforth ist unsere Initiative zur Verbesserung der Sicherheit Dr. Jürgen Starnick der Kernkraftwerke in Mittel-, Ost- und Südosteuropa so wichtig. ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- Vor diesem Hintergrund müssen die Bemühungen schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu um eine weltumspannende Umwelt- und Entwick- dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Har- lungspartnerschaft auch für Deutschland eine hohe tenstein, Hermann Bachmaier, Friedhelm Ju- Priorität haben. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, lius Beucher, weiterer Abgeordneter und der würden wir Deutschen diese Bemühungen angesichts Fraktion der SPD der drängenden und jedermann bekannten innenpoli- Aufnahme gefährdeter Tropenholzarten in das tischen Fragen zurückstellen. Hier geht es nicht um Washingtoner Artenschutzabkommen ein „Entweder-Oder"; sondern um ein „Sowohl-als- — Drucksachen 12/2095, 12/2614 — Auch". Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Abgeordnete Dr. Norbert Rieder ordneten der F.D.P.) Ulrike Mehl Marita Sehn Wir müssen den Standort Deutschland sichern, aber Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungs- auch unseren Beitrag zu einer Friedensordnung in der antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor. Welt leisten, die den Menschen eine gute Zukunft Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die sichert. Dies liegt nicht zuletzt im ureigensten deut- gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. — schen Interesse. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Deutschland kann dabei gerade im umweltpoliti- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung schen Bereich weiterhin eine vorwärtsdrängende hat der Herr Bundeskanzler. -Rolle wahrnehmen, weil unsere nationale Umwelt- politik weltweit anerkannt wird. Die Bilanz kann sich Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! sehen lassen: Die Bundesregierung hat in einer Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die UN- gewaltigen Kraftanstrengung mit der Großfeuerungs- Konferenz „Umwelt und Entwicklung" vom 3. bis zum anlagen-Verordnung den SO2-Ausstoß in den alten 13. Juni 1992 in Rio de Janeiro findet in einer Zeit statt, Ländern von fast 3 Millionen t im Jahr 1982 auf unter in der die westlichen Industrienationen vor enormen 1 Million t im Jahr 1991 senken können. In der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen ste- früheren DDR lag der SO2-Ausstoß noch bei 5 Millio- hen. Das gilt selbstverständlich auch für unser Land. nen t. Dies zeigt die Dimension der Aufgaben auch auf In einer solchen Situation ist die Versuchung groß, diesem Felde, die in den neuen Bundesländern vor sich nur den Problemen im eigenen Lande zuzuwen- uns liegen. den. Demgegenüber glaube ich, daß wir sagen müs- sen: Von der Konferenz in Rio muß ein Signal für den Wir haben in Europa gegen mancherlei Wider- klaren Willen ausgehen, einer solchen provinziellen stände den Katalysator als Norm durchgesetzt. In Betrachtung entgegenzutreten. vielen Bereichen haben wir die anerkannt wirkungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vollsten Umweltgesetze der Welt. Rund 3,5 Millionen neue Arbeitsplätze seit 1982 beweisen auch, daß eine Es geht in Rio um Weichenstellungen im Interesse erfolgreiche Wirtschaftspolitik und ein wirksamer der Menschheit. Würden wir vor dieser geschichtli- Umweltschutz kein Widerspruch sind und daß wir chen Aufgabe versagen, dann bekämen wir vor allem — wer auf der Hannover Messe war, konnte es beob- auch von kommenden Generationen Vorwürfe; denn achten — heute mit deutscher Umwelttechnik auch im diese Generationen würden die Folgen spüren. Export weltweit gefragt sind. Wir müssen unser Bewußtsein dafür schärfen, daß das Thema „Umwelt und Entwicklung" nicht nur die Es war in Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern Dritte Welt, sondern auch unsere eigenen vitalen und Gemeinden möglich, in der alten Bundesrepublik 7576 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl die weltweit beste flächendeckende Abwasserentsor- besser auszuschöpfen und neue umweltgerechte gung zu entwickeln. Der Rhein hat heute eine bessere Techniken zu entwickeln. Wasserqualität als 1956. Wenn Sie allerdings Elbe Aber auch die Entwicklungsländer müssen ihren oder Oder damit vergleichen, wird deutlich, wo wir in Beitrag zur Lösung der Umweltprobleme leisten. Zukunft die Schwerpunkte der nationalen Umwelt- Dabei denke ich vor allem auch an die Erhaltung der politik setzen müssen. tropischen Regenwälder. Natürlich haben die Ent- Die Bundesregierung hat als Ziel für das Jahr 2005 wicklungsländer das Recht — niemand wird das eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 25 bis bestreiten —, sich wirtschaftlich weiterzuentwickeln 30 % beschlossen. Damit haben wir als erstes großes und hierfür ihre eigenen Ressourcen zu nutzen. Wir Industrieland die Verminderung der Treibhausgase alle haben dafür Verständnis. Wir glauben aber, daß aktiv in Angriff genommen. Wir haben die Initiative diese Entwicklung — das müssen wir heute sagen und auch im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft auch von uns selbst fordern — ökologisch verträglich ergriffen. Unser Ziel muß ein gemeinsames Vorgehen sein muß. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen diese aller großen Industriestaaten sein. Ich glaube nicht, Länder unsere Hilfe. Dies ist nicht nur eine Frage der daß uns ein nationaler Alleingang in dieser Frage sehr finanziellen Unterstützung, sondern auch der Über- weit bringt. mittlung unserer Kenntnisse und Erfahrungen im Umweltschutz. Die Arbeit der Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre unter dem Vorsitz der Kollegen Entscheidend ist für diese Länder, für diesen Teil Schmidbauer und Lippold findet weit über unsere der Welt die Schaffung nationaler und internationaler Grenzen hinaus Beachtung. Ich will das einmal gerne Rahmenbedingungen, die eine ökologisch verträgli- sagen: Mir ist kein anderes Parlament bekannt, in dem che Entwicklung sichern. Dazu gehört die Verbesse- bei einem solch wichtigen Thema Vergleichbares rung der Chancen im internationalen Handel. Des- geleistet wurde. halb setzen wir uns — auch aus anderen guten Grün- den — mit Nachdruck für einen baldigen Abschluß (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der der GATT-Verhandlungen ein. SPD) Dazu gehört weiter der Ausbau einer privaten und Bei all unseren umweltpolitischen Bemühungen einer staatlichen Technologiekooperation. Ich nenne haben wir stets auch den Fragen der weltweiten auch die Bekämpfung des Teufelskreises von Armut Umweltpartnerschaft einen besonderen Platz einge- und Bevölkerungswachstum. Nach den Berechnun- räumt. Meine Regierungserklärung vom 18. März gen der Vereinten Nationen wird die Erdbevölkerung 1987 stand unter der Überschrift: „Die Schöpfung bis zum Jahr 2025 auf 8,5 Milliarden anwachsen. 97 % bewahren — die Zukunft gewinnen". Damals habe ich dieser Zunahme entfällt auf die Entwicklungslän- dazu aufgerufen, den Treibhauseffekt zu einem der. Thema internationaler Politik zu machen, die Ozon- schicht wirksam zu schützen und der Vernichtung Meine Damen und Herren, bei der Konferenz in tropischer Regenwälder entgegenzuwirken. Brasilien erwarten wir Entscheidungen in folgenden Bereichen: eine umfassende Umwelt- und Ent- Auf den Weltwirtschaftsgipfeln der vergangenen wicklungsstrategie in dem Aktionsprogramm „Agen- Jahre, zuerst in Toronto im Jahre 1988, habe ich da 21", eine Klimaschutzkonvention, eine Konvention vorgeschlagen, das Thema Umweltschutz mit der zur Erhaltung der Artenvielfalt, eine Erd-Charta mit Schuldenfrage zu verknüpfen. Heute stelle ich mit den Grundprinzipien der Umwelt- und Entwicklungs- Genugtuung fest, daß unsere beharrlichen Initiativen politik und eine Deklaration zur nachhaltigen Bewirt- mit dazu beigetragen haben, Schritt für Schritt einen schaftung der Wälder. Bewußtseinswandel weit über den Kreis der sieben führenden Industrienationen hinaus zu bewirken. Bei den Vorbereitungen dieser Konferenz — es Dennoch sage ich: Wir haben keinen Grund, uns mit waren viele Einzelgespräche notwendig; ich will bei dem Erreichten zufriedenzugeben. dieser Gelegenheit allen Kollegen aus der Bundesre- gierung und allen unseren Mitarbeitern sehr herzlich 20 Jahre nach der ersten UN-Umweltkonferenz für diese intensive Arbeit danken — ist uns sehr 1972 in Stockholm bietet sich nun die Chance, in der deutlich geworden, daß das Problembewußtsein für gesamten internationalen Umweltpolitik und darüber die globalen Zusammenhänge des Umweltschutzes in hinaus in wichtigen Bereichen der Entwicklungspoli- anderen Ländern noch nicht gleich weit gediehen ist tik Weichen neu zu stellen und einen großen Schritt wie glücklicherweise in weiten Kreisen bei uns. Dafür auf dem Weg zu einer weltweiten Umweltpartner- müssen wir — trotz des Zeitdrucks, unter dem wir schaft voranzukommen. heute stehen — Verständnis haben. Denn auch bei Die Industrieländer, damit auch Deutschland, müs- uns war die Sicht der Dinge noch vor 15 Jahren völlig sen sich dabei ihrer besonderen Verantwortung anders; das wissen wir alle, die Opposition von heute bewußt sein. Die 20 % der Menschheit in den Indu- und die Opposition von gestern. Wenn ich mich an strieländern verursachen ca. 80 % aller weltweiten meine eigene Zeit als Ministerpräsident eines Bun- CO2-Emissionen. An diesen Zahlen wird deutlich, wer deslandes erinnere, muß ich sagen: Auch ich habe die Hauptlast und wer die Hauptverantwortung bei natürlich— wie viele andere —heute ein anderes Bild der Verminderung der CO2-Emissionen tragen muß. von den ökologischen Notwendigkeiten als in jenen Die Industriestaaten, d. h. auch Deutschland, sind Tagen. Deshalb wird es ein wichtiges Ergebnis von daher gefordert, künftig sorgsamer als bisher mit Rio sein, daß diese Konferenz das Problembewußtsein natürlichen Ressourcen umzugehen. Wir müssen alles weltweit schärft und daß wir einen gegenseitigen tun, um vorhandene technologische Möglichkeiten Lernprozeß fördern und beschleunigen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7577

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Ziel der Agenda 21 ist eine umfassende Strategie Wir setzen uns deshalb dafür ein, sofort nach Rio mit für die globale Entwicklungs- und umweltpolitische den Verhandlungen über eine Internationale Wald- Zusammenarbeit zwischen Indust rie- und Entwick- schutzkonvention zu beginnen. Wir sind auch hier auf lungsländern. Gerade an diesem Punkt gestalten sich nationaler Ebene mit gutem Beispiel vorangegan- die Verhandlungen besonders schwierig. gen. Wir dürfen auch nicht die Augen davor verschlie- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, bei der ßen, daß für die meisten Entwicklungsländer heute Vorbereitung der Konferenz spielen Fragen der ganz enorme Probleme im Vordergrund stehen: Dazu Finanzierung eine ganz wesentliche Rolle. Die vor- gehört vor allem, das Überleben der Bevölkerung zu handenen Instrumente der multi- und bilateralen sichern, und dazu gehören die Bekämpfung der Entwicklungszusammenarbeit haben sich durchaus Unterernährung, die Erschließung neuer Einkom- bewährt. Unsere Entwicklungshilfe wird trotz vielfäl- mens- und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie der tiger Verpflichtungen, die sich aus der deutschen Abbau der Schuldenlast. Auch wenn in einigen Fra- Wiedervereinigung sowie aus den Problemen in den gen noch keine Übereinstimmung erzielt werden GUS-Staaten und den Ländern Mittel-, Ost- und konnte, bin ich zuversichtlich, daß wir in Rio einen Südosteuropas ergeben, auch in den nächsten Jahren Kompromiß für die „Agenda 21 " finden werden, und im Rahmen unserer Möglichkeiten steigen. Die Mög- zwar einen Kompromiß, der uns weiterführt. lichkeiten sind aus den soeben genannten Gründen allerdings geringer geworden. Ein besonders wichtiger Punkt ist die Zeichnung einer Klimaschutzkonvention. Vor wenigen Wochen Für die neuen Aufgaben im weltweiten Umwelt- konnten die Verhandlungen in New York mit einem schutz steht die globale Umweltfazilität bei der Welt- zeichnungsreifen Entwurf abgeschlossen werden. bank zur Verfügung. 1990 ist dieses Finanzierungsin- Darin verpflichten sich die Konventionsstaaten zu strument auf eine deutsch-französische Initiative hin einer weltweiten Begrenzung der Treibhausgase, ins- eingerichtet worden. Die erste Phase der Arbeit hat besondere von CO2. gezeigt, daß damit ein wichtiger Beitrag geleistet werden kann. Die Bundesregierung hat auf weltweite verbindli- Wir sind bereit, an einer wesentlichen Aufstockung che Zeitrahmen und Mengenziele zur CO2-Vermin- des bisherigen Volumens dieses Fonds mitzuwirken. derung gedrängt, so wie wir uns auf nationaler Ebene zur Reduzierung der CO2-Emissionen verpflichtet Wenn ich dies sage, verbinde ich mit dieser Bereit- haben. Dies war jedoch — das muß man klar ausspre- schaft jedoch die Erwartung, daß auch alle anderen chen — im Vorfeld von Rio noch nicht durchsetzbar. Lander bereit sind, einen angemessenen Teil der Andere Staaten waren dazu noch nicht bereit. Den- Verantwortung mit zu übernehmen. noch bin ich zuversichtlich. Wir haben schon klare (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verfahrensregelungen für künftige konkrete Festle- Ich denke hier insbesondere an die Vereinigten Staa- gungen zur CO2-Reduzierung erreicht. Darüber soll in ten von Amerika und an Japan. kurzen Zeitabständen auf Revisionskonferenzen ent- schieden werden. (Zustimmung bei der CDU/CSU) Wir anerkennen die berechtigten Interessen an einer Bei der FCKW-Reduzierung im Jahre 1985, also vor stärkeren Mitwirkung der Entwicklungsländer. Wir sieben Jahren, wurde nach der gleichen Arbeitsweise sind bereit, ihnen deshalb einen größeren Einfluß begonnen. Auch damals in Wien haben wir uns innerhalb dieser globalen Umweltfazilität anzubie- zunächst auf eine mehr allgemeine Konvention ge- ten. einigt. Wir sind auch bereit, zugunsten ärmerer Länder die Angesichts dieser positiven Erfahrung bin ich Möglichkeit der teilweisen Entschuldung gegen ent- sicher, daß wir bei der Klimakonvention am Anfang sprechende Umweltschutzmaßnahmen stärker zu einer guten Entwicklung stehen. Die Bundesregie- nutzen. Aber auch dies darf kein Alleingang sein. Wir rung wird sofort nach der Konferenz in Rio darauf müssen uns deshalb intensiv um ein international drängen, mit internationalen Verhandlungen über abgestimmtes Vorgehen bemühen, das eine faire weitergehende konkrete CO2-Reduzierungsver- Lastenteilung sichert. pflichtungen zu beginnen. Wir werden zu einer ersten Folgekonferenz nach Deutschland einladen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wie Sie wissen, habe ich frühzeitig erklärt, daß ich selber zu Bedeutsam ist auch die geplante Konvention zur dieser Rio-Konferenz fahren will. Das Ziel dieser Erhaltung der biologischen Vielfalt. Wir stehen heute Entscheidung war, die Bedeutung dieser Zusammen- vor einem dramatischen Rückgang der Arten. Dies ist kunft aus unserer Sicht zu unterstreichen. ein Indiz dafür, daß die Lebensgrundlagen auch des Menschen letztlich in Gefahr sind. Wir haben aber (Der Ablauf der Sitzung wird durch Zurufe gleichzeitig vor allem auch eine ethische Pflicht, die einiger Zuschauerinnen auf der Tribüne uns anvertraute Schöpfung zu erhalten. In der Erd- gestört.) Charta werden wir grundlegende Prinzipien der Umwelt- und Entwicklungspolitik festlegen können. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich bitte die Ordner Ein ganz anderer wichtiger Punkt ist die Deklara- auf der Tribüne, dafür Sorge zu tragen, daß die tion zur nachhaltigen umweltverträglichen Bewirt- Debatte ordnungsgemäß fortgesetzt werden kann. schaftung der Wälder. Der bedrohliche Rückgang der Tropenwälder, aber auch der Wälder in anderen (Beifall) Klimazonen, muß uns alle mit großer Sorge erfüllen. Herr Bundeskanzler, fahren Sie bitte fort. 7578 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Meine Damen und Augen wurden die Vereinten Nationen nach dem Herren, ich finde, zu diesem Thema, das wir heute Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet. behandeln, gehört, daß wir gemeinsam zur Freiheit überall in der Welt stehen und überall für die Men- Der Ost-West-Konflikt bildete dann allerdings für schenrechte eintreten. die Dauer von Jahrzehnten ein entscheidendes Hin- dernis dafür, daß eine Weltfriedensordnung auf dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Grundlage entstehen konnte. Heute, nach dem Ende Ich freue mich, daß inzwischen die Zusagen vieler des Kalten Krieges, hat unsere Welt eine neue Staats- und Regierungschefs vorliegen, an der Konfe- Chance, den Frieden zwischen den Völkern als ein renz in Rio teilzunehmen. Insbesondere begrüße ich Werk der Gerechtigkeit zu gestalten. die Teilnahme von Präsident Bush. Ich glaube, das ist Ich glaube, man darf trotz aller Probleme sagen: In eine wichtige Botschaft. den letzten Jahren und Jahrzehnten wurde viel dazu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gelernt. Es ist vor allem das Bewußtsein dafür gewach- Die Konferenz von Rio ist kein Endpunkt, sondern soll sen, daß eine Welt „frei von Furcht und Not" auch die der Beginn eines Prozesses sein, der uns auf dem Weg Bewahrung der uns anvertrauten Schöpfung voraus- zur Lösung der drängenden Zukunftsfragen der setzt. Deshalb ist es nur konsequent, daß sich die Menschheit voranbringt. Es geht uns darum, daß wir Vereinten Nationen nun auch des Themas „Umwelt zugleich ein weltweit beachtetes Signal für den und Entwicklung" mit großem Engagement anneh- Schutz der Erde setzen. men. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir Als ich 1988 beim Weltwirtschaftsgipfel in Toronto stellen uns unserer gewachsenen internationalen Ver- vorschlug, den globalen Umweltschutz auf die stän- antwortung. Dies gilt für die Herausforderung beim dige Tagesordnung der sieben führenden Industrie- Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen nationen zu setzen, stieß ich auf viel Ablehnung und ebenso wie auch im Hinblick auf die Entwicklung der Skepsis. Heute bezweifelt — auch im Vorfeld des armen und ärmsten Länder der Welt. Münchener Gipfels — niemand mehr, daß es richtig war, diese Frage auf die Tagesordnung zu bringen. Wir müssen deutlich sehen: Diese Aufgaben stellen sich heute noch dramatischer als vor wenigen Jahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Wiedervereinigung Deutschlands, der demokrati- sche und marktwirtschaftliche Wandel in den Ländern Als eine der reichsten Industrienationen der Erde Mittel-, Ost- und Südosteuropas und auch die Per- stehen wir Deutschen dabei gemeinsam mit anderen spektiven Westeuropas — der Binnenmarkt, die Wirt- in einer besonderen Pflicht. Sieben Leitlinien sind für schafts- und Währungsunion und die Politische uns wegweisend: Union — verlangen, daß wir die notwendigen P riori- täten setzen. Niemand von uns kann heute so tun, als Erstens. Ganz oben auf der internationalen Tages- habe sich in diesen Jahren nichts geändert. Das gilt für ordnung steht der Dialog zwischen Nord und Süd. den Bund, das gilt für die Länder, das gilt für die Zweitens. In gleichberechtigter Zusammenarbeit Gemeinden vor allem im Blick auf die notwendigen müssen wir den Ländern der Dritten Welt beistehen, Konsolidierungsanstrengungen in allen Bereichen. Hunger, Not, Krankheiten und Elend zu überwin- Der Bundesfinanzminister hat dafür ein Konzept vor- den. gelegt, das meine nachdrückliche Unterstützung fin- det. Drittens. Die Hilfe der reichen Industrienationen für die Länder der Dritten Welt muß vor allem Hilfe zur (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ Selbsthilfe sein. CSU) Aber ebenso sind die Beiträge von Wirtschaft und Viertens. Damit diese Länder ihre Zukunft mehr Tarifpartnern und von allen gesellschaftlichen Grup- und mehr aus eigener Kraft gestalten können, ist ein pen gefordert. Man muß hier klar aussprechen, daß freier Welthandel unerläßlich. Dazu brauchen wir den die jüngsten Tarifabschlüsse unverkennbare Risiken Erfolg der GATT-Runde. aufweisen und für die Zukunft keine Richtschnur sein (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Warum hat das können. zehn Jahre lang nicht funktioniert?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Fünftens. Umweltschutz, wirtschaftliche und soziale Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist zugleich die Entwicklung sowie die Achtung der Menschenrechte Basis für soziale Sicherheit. Beides gehört untrennbar bilden für uns ein untrennbares Ganzes. zusammen. Ich will das wiederholen, was ich kürzlich im Sechstens. Die Industriestaaten können von den Bundestag in Bonn sagte: Jetzt ist nicht die Stunde für Entwicklungs- und Schwellenländern wirksame Maß- enges Besitzstandsdenken und nutzlose Verteilungs- nahmen zur Bewahrung der Schöpfung nur dann kämpfe. Mit solchen Ritualen der Vergangenheit läßt glaubwürdig verlangen, wenn sie auf diesem Gebiet sich für die Zukunft nichts gewinnen. selber mit gutem Beispiel vorangehen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, in der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von sowie des Abgeordneten Dr. Hans-Jochen 1948 wird die großartige Vision einer Welt „frei von Vogel [SPD] — Zuruf von der SPD: Das ist das Furcht und Not" entworfen. Auch mit diesem Ziel vor Entscheidende!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7579

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Siebtens. Wir im vereinten Deutschland stellen uns Meine Damen und Herren, die Hauptaufgabe der der globalen Verantwortung. Dies muß trotz aller Politik besteht darin, national, europaweit und global Probleme geschehen, die wir im eigenen Land zu die Teilung durch Teilen zu überwinden. bewältigen haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Nur Wiederholun Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, daß gen!) wir in der künftigen Betrachtung dessen, was wir Das ist die Aufgabe der Politik! heute tun, nicht zuletzt daran gemessen werden, ob wir national wie international unserer Verpflichtung (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ zur Bewahrung der Schöpfung nachgekommen sind. GRÜNE) Ich möchte uns alle herzlich dazu einladen, in dieser Dies ist nur möglich, wenn der Grundwert der Solida- für uns lebenswichtigen Frage gemeinsam zu han- rität zur Maxime des politischen Handelns wird. deln. Dagegen, Herr Bundeskanzler, verstoßen Sie und Ihre (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Politik national und auch international. Das ist der der F.D.P.) Hauptvorwurf, den wir Ihrer Politik machen müs- sen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Liste) der Abgeordnete Harald Schäfer. Darüber täuschen dann auch wohlklingende Regie- rungserklärungen nicht hinweg. Meine Damen und Herren, schon heute steht fest, (Offenburg) (SPD): Frau Präsiden- Harald B. Schäfer daß der Weltgipfel in Rio weit hinter dem zurück- tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe bleibt, was dringend geboten wäre. Es wird in Rio z. B. Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Bundeskanzler, keine verbindliche Vereinbarung zur Reduzierung wir wünschen uns vorab, daß Sie in Rio mit mehr der klimaschädlichen Emissionen geben; es wird in Engagement das Interesse an einem vernünftigen Rio keine verbindliche Vereinbarung geben, die die Ausgleich zwischen den Industrieländern und den notwendige Erhöhung der Entwicklungsgelder zum Entwicklungsländern vertreten, als Sie eben Ihre Inhalt hätte. Es werden wohl nach allem, was man Regierungserklärung mit erkennbarer Lustlosigkeit weiß, und auch nach dem, was Sie, Herr Bundeskanz- vorgetragen haben. ler, hier ausgeführt haben, in Rio einige Grundsatzer- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und klärungen vereinbart werden können; es werden dem Bündnis 90/GRÜNE) einige mehr oder minder unverbindliche Absichtser- Es schadet dem Interesse der Bundesrepublik klärungen verabschiedet werden. Es wird aber nicht Deutschland, es schadet der weltweiten Entwicklung, zu konkreten Entscheidungen kommen, die unmittel- wenn der Bundeskanzler seine Aufgabe in bezug auf bar dazu beitragen, den Gegensatz zwischen Nord eine der zentralen Fragen der globalen Politik hier und Süd zu mildern. Deswegen, meine Damen und mehr oder minder nur als lästige Pflichtaufgabe hinter Herren, läuft Rio Gefahr, eine Konferenz nach dem sich bringt. Motto zu werden: Außer Spesen nichts gewesen. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD und GRÜNE — Widerspruch bei der CDU/CSU) der PDS/Linke Liste — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ihre kann man spa Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor - ren!) 20 Jahren fand in Stockholm die erste weltweite Umweltkonferenz statt. Die Hoffnung nach Stockholm Sicher konnte nur ein Phantast erwarten, daß eine auf eine Verbesserung der globalen Entwicklung ist große Konferenz wie ein gigantischer Paukenschlag bitter enttäuscht worden. Der Gegensatz zwischen wirkt und die Staaten der Welt zu einer umweltver- Arm und Reich, zwischen Nord und Süd, zwischen träglichen Wirtschafts- und Produktionsweise Industrieländern und Entwicklungsländern hat sich in zwingt. Aber daß die vorhersehbaren Konferenzer- den letzten zwei Dekaden dramatisch verschärft. Wir gebnisse derart mager sein würden, war nun wirklich treiben in eine globale ökonomische, ökologische nicht zu erwarten. Wenn UNCED scheitert — leider und soziale Krise. Die Hauptverantwortung dafür deuten alle Vorzeichen und alle vorbereitenden Ver- trifft die Industrienationen. Mit 25 % der Weltbevöl- handlungen darauf hin —, dann nicht wegen der kerung beanspruchen sie 80 % des weltweiten Ener- Haltung der Entwicklungsländer, sondern vor allem gieverbrauchs; sie verbrauchen 85 % des Holzes, 75 % wegen der Haltung der Industrieländer, auch der der Metalle sowie 60 % der Nahrungsmittel. Bundesrepublik Deutschland. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Mehr En (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke gagement!) Liste) Die Industrieländer sind die Hauptverursacher der Herr Bundeskanzler, wir warnen Sie davor, UNCED drohenden Klimakatastrophe, der Zerstörung der und die Konferenz in Rio lediglich als großes Medien- Ozonschicht, der Meeresverschmutzung, der Abfall- spektakel zur Ablenkung von den überbordenden erzeugung und des Artenschwundes, um nur einige Problemen zu mißbrauchen, mit denen Sie und Ihre Beispiele zu nennen. Regierung auch in unserem eigenen Land nicht fertig (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das alles werden. kennen wir doch!) (Beifall bei der SPD) 7580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Harald B. Schäfer (Offenburg) Grüne Rhetorik in Zusammenhang mit den Problemen benutzt, um Abstand von dem richtigen EG-Vorhaben von Umwelt und Entwicklung muß sich in konkreten zu nehmen, eine eigene Energiesteuer zu erheben, Verhandlungsergebnissen niederschlagen und darf nicht zum Mantel für faktische Untätigkeit werden. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Der Generalsekretär der UNCED-Konferenz, Mau- rice Strong, hat kürzlich als ein Hauptziel des Erdgip- weil die Energiesteuer nunmehr an die Gemeinsam- fels genannt — ich zitiere —, „die Basis für wichtige keit mit den USA und Japan gekoppelt wird. Meine Veränderungen in unserem ökonomischen Verhalten Damen und Herren, wie leichtfertig wird hier die zu liefern, und zwar als Individuen, als Körperschaf- Zukunft verspielt! ten, als Nationen und in den internationalen Wirt- schaftsbeziehungen, insbesondere zwischen den Ent- Nun zur Bundesregierung, Herr Bundeskanzler: wicklungsländern und den Industrieländern". Erst will die Bundesregierung angeblich eine Energie- steuer im nationalen Alleingang, dann nur zusammen Ich möchte es noch einmal betonen: Es geht um eine mit der EG durchsetzen, die die Energiesteuer aber Änderung des ökonomischen Verhaltens. Es geht um nur zusammen mit den USA und Japan einführen will. einen ökologischen und ökonomischen Lastenaus- Ergebnis: Nichts passiert. Alle reden. Alle beklagen gleich zwischen den reichen Ländern und den armen den Zustand der Umwelt. Die Handlungsmöglichkeit, Ländern, zwischen den Industrienationen und den die jede Regierung für sich selbst hat, unterbleibt mit Entwicklungsländern. dem Verweis auf Unterlassung des anderen oder Nie war die Kluft zwischen Erkenntnis und prakti- verschwindet von der Tagesordnung. Das ist das, was schem, konsequentem politischen Handeln so groß wir kritisieren! wie heute. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei der SPD) dem Bündnis 90/GRÜNE) Noch nie wußten wir so gut Bescheid über den Ich halte die Zurückstellung jeglichen Signals in dramatischen Zustand unserer Umwelt, über das Aus- Sachen Energiesteuer durch die EG und durch die maß der Meeresverschmutzung, der Luftverschmut- Bundesregierung kurz vor dem Rio-Gipfel für kata- zung, der Klimaveränderungen, über das Schwinden strophal. Es muß der Glaubwürdigkeit der Politik der Ozonschicht, über den Artenschwund, um nur schaden, es muß dem Glauben an die Verantwor- einige Stichworte zu nennen. Nie zuvor wußten wir tungsfähigkeit der Politiker Abbruch tun, wenn zwei auch so gut Bescheid über die Verursacher dieser Wochen vor UNCED die Hauptverursacher der globa- drohenden globalen Katastrophen. Wir wissen, daß len Umweltzerstörung immer noch mit dem Finger wir, die wohlhabenden Industrienationen, dafür maß- aufeinander weisen, anstatt ihrer eigenen ökologi- geblich verantwortlich sind. Wir wissen auch, was zu schen Verantwortung entsprechend zu h andeln. tun wäre, um die drohenden Gefahren für unsere Erde abzuwenden. Wir, die Industrienationen, müssen Natürlich wissen auch wir, meine Damen und unsere Art, zu produzieren und zu konsumieren, Herren, daß eine internationale optimale Lösung zum grundlegend ändern, wenn wir das Überleben der Klimaschutz nur zusammen mit den USA zustande Menschheit sichern wollen. kommen kann. Aber es gibt wahrhaftig keinen ver- nünftigen Grund, der deutschen Öffentlichkeit weis- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke zumachen, ohne die USA würde es keinen Sinn Liste) machen, auf nationaler Ebene beispielsweise mit dem Wir, die Industrienationen, praktizieren eine Art der- Energiesparen zu beginnen. Das Waldsterben muß Produktion und des Konsums, die mit der Dauerhaf- auch zu Hause gestoppt haben, Herr Bundeskanzler, tigkeit des menschlichen Seins nicht vereinbar ist. nicht nur im tropischen Regenwald. Deswegen ist jetzt eine radikale, eine grundlegende (Beifall bei der SPD) Umkehr geboten. Die Luftverschmutzung in den Innenstädten muß auch Dennoch werden — die Regierungserklärung war ein einziger Beleg dafür — die Industrienationen und in der Bundesrepublik Deutschland gestoppt werden, auch die Bundesregierung nicht müde, tausend Aus- weil vielerorts — gerade in diesen Tagen erleben wir es wieder — die Grenzen des Erträglichen überschrit- reden zu erfinden, die sie davon abhalten, das Not- wendige zu tun. ten sind. (Beifall bei der SPD — Gerhart Rudolf Baum Nicht zuletzt — um noch ein Beispiel zu nennen — [F.D.P.]: Das stimmt doch gar nicht!) bedeutet unsere Verkehrslawine Energieverschwen- dung, Stadtzerstörung, Landschaftsverbrauch, Luft- Der Öffentlichkeit werden immer neue Ablenkungs- verschmutzung. Sie ist Müllverursacher und Allergie- manöver und Buhmänner präsentiert, um von der erreger dazu. Niemand hindert die Bundesregierung eigenen politischen Untätigkeit abzulenken. daran, das zu tun, was für eine neue, ökologisch Um es an einem einzigen Beispiel ganz konkret zu orientierte Verkehrspolitik notwendig wäre. machen: Jetzt wird der Versuch unternommen, unsere (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Empörung über den mangelnden Beitrag der Indu- Doch! Die Autoindustrie!) strienationen zur Minderung der Umweltverschmut- zung auf den Buhmann USA abzulenken. Auffällig Es kann doch niemand der Öffentlichkeit weisma schnell hat die EG-Kommission den Buhmann USA chen, daß Herr Bush die Bundesregierung beispiels- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7581

Harald B. Schäfer (Offenburg) weise daran hindert, ein allgemeines Tempolimit auf den Enquete-Kommissionen zum Schutz der Erdat- bundesdeutschen Straßen einzuführen. mosphäre. Ich glaube, das ganze Haus würde das Lob um so mehr goutieren, wenn Sie nicht nur die Arbeit (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke lobten, sondern auch mindestens 70 % der Empfeh- Liste) lungen zur Grundlage Ihrer Regierungspolitik mach- Das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie ten. spricht deshalb von unserer frisierten Wohlstandsbi- lanz, die bei einem veränderten ökonomischen Ver- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke halten sehr anders aussähe. Ihr Umweltminister, Herr Liste) Bundeskanzler, spricht in diesem Zusammenhang von Das wäre dann ein Zeichen der Ernsthaftigkeit, mit der Wohlstandslüge der Industrienationen. Gut ana- der Sie dieses Papier umsetzen. lysiert, gut beschrieben, Herr Bundesumweltminister! Nur: Wo bleiben die konsequenten Entscheidungen Schon bei der Stockholm-Konferenz, meine Damen auf Grund der richtigen Analyse? und Herren, vor 20 Jahren wurde die Situation des Fünf-Minuten-vor-Zwölf beschworen. Viel zuwenig (Beifall bei der SPD) ist seitdem geschehen. Die globalen Probleme sind Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und weiter vorangeschritten. Das Prinzip der Gerechtig- Kollegen, unser Wohlstandsmodell ist ungeheuer keit wird immer weiter verletzt, national, internatio- attraktiv für die Staaten der Dritten Welt. Es ist aber nal. Mehr als eine Milliarde Menschen leben heute in nur — das wissen wir zwischenzeitlich alle — um den bitterster Armut. Vergessen wir deshalb nicht — und Preis des ökologischen Kollapses zu übertragen. darüber wird von diesem Pult von unserer Seite aus Unser Wohlstandsmodell ist nicht weltweit verallge- noch gesprochen werden —, daß die Armutsbekämp- meinerbar. fung einer der Schlüssel zur Beendigung des Kreislau- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: fes von Unterentwicklung und Umweltzerstörung Es darf nicht der Maßstab sein!) ist. Wenn das so ist, meine Damen und Herren, können Die UNO hat in ihrem Einsetzungsbeschluß „New wir nicht Wasser predigen und Wein trinken. Dann and additional fonds", neue und zusätzliche Fonds, müssen wir bei uns zu Hause beginnen, die notwen- gefordert. Mit einem Entwicklungshilfevolumen von digen Reformen durchzusetzen. Wir müssen also 0,43 %, gemessen am Bruttosozialprodukt, sind wir, unser Wohlstandsmodell reformieren. Wir brauchen die international vergleichbar immer noch reiche z. B. ein ernsthaftes, groß angelegtes Energiespar- Bundesrepublik, beschämend weit hinter dem inter- programm. Das Ziel heißt, bis zum Jahr 2005 eine national gesteckten Ziel von 0,7 % zurückgeblieben. Minderung der CO2-Emissionen um 25 % zu errei- Hier müssen wir unsere Leistungen erhöhen, meine chen. Damen und Herren. Leider ist auch in diesem Bereich, nach allem, was man weiß, in Rio keine bindende Die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, hat Vereinbarung möglich. Ende 1990 einen CO2-Minderungsbeschluß zu Papier gebracht. Wir haben diese Zielsetzung begrüßt. Wir Darüber hinaus, meine Damen und Herren, müssen haben sie unterstrichen. Wir halten sie für richtig. Was Entwicklungsländer besser in den Stand gesetzt wer- wir Ihnen heute freilich leider vorhalten müssen, ist, den, eigene Mittel zu erwirtschaften, wofür ein öko- daß es beim Beschluß auf dem Papier geblieben ist logischer Strukturwandel der Weltwirtschaft drin- gend notwendig ist. Wir, die Industrieländer, müssen (Zuruf von der SPD: So ist es!) unsere Märkte öffnen für Produkte, nicht nur für und daß keine einzige konkrete notwendige Maß- Rohstoffe aus der Dritten Welt. Herr Bundeskanzler, nahme zur Erreichung dieses Zieles eingeleitet bzw. global grün reden und unsere Märkte gegen die Dritte umgesetzt worden ist. Welt abschotten, ist unglaubwürdig. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Die terms of trade, also die Austauschrelationen, dem Bündnis 90/GRÜNE) haben sich in den letzten Jahren dramatisch zuungun- Das, meine Damen und Herren, ist der Vorwurf, den sten der Entwicklungsländer verändert. Wir wissen, wir Ihnen machen müssen. der Weltmarkt folgt keiner sozial oder ökologisch verantwortlichen Verpflichtung, sondern messer- Es ist deshalb an der Zeit, daß die Bundesregierung scharfer ökonomischer Logik. Hier komme ich noch- diesen CO2-Beschluß endlich durch konkrete Ent- mals auf Maurice Strong zurück, der Veränderungen scheidungen mit Leben erfüllt. Sie muß festlegen, in des ökonomischen Verhaltens auch in den internatio- welchen Bereichen — Verkehr, Wohnungswärme, nalen Wirtschaftsbeziehungen einfordert. Der Welt- Industrieproduktion — welche CO2-Minderungsrate markt diktiert der Dritten Welt Preise, die ökologi- erzielt werden soll und welches die Etappenziele sein schen Raubbau und mittelalterliche soziale Ausbeu- sollen. Nehmen Sie also bitte, Herr Bundeskanzler, tung zur Folge haben. Dieses Konzept internationaler Ihren eigenen CO2-Beschluß endlich ernst, und setzen Verantwortung erzwingt Anpassungen auch bei Sie ihn um, statt ihn wie eine Monstranz folgenlos vor uns. sich herzutragen. Die Agrarsubventionen der EG z. B. bringen einen (Beifall bei der SPD) Kreislauf in Gang, der sowohl ökologisch als auch Im übrigen, Herr Bundeskanzler, haben Sie vorhin sozial selbst in fernsten Regionen der Welt zu tiefen zu Recht dem Deutschen Bundestag ein Lob ausge- Verwerfungen führt. Deswegen müssen wir auch hier, sprochen wegen der großartigen Leistungen der bei- in der EG, ansetzen, um die terms of trade so zu 7582 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Harald B. Schäfer (Offenburg) gestalten, daß sie der ganzen Völkergemeinschaft des Vortragenden an der Regierungserklärung abso- und nicht nur den Industrienationen zugute kom- lut nichts anderes auszusetzen fanden. men. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Dagmar (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Sie haben Liste) nicht zugehört!) Natürlich, meine Damen und Herren, haben die Meine Damen und Herren, vor 20 Jahren haben Entwicklungsdefizite im Süden ihre Gründe auch in sich 113 Länder in Stockholm zur UN-Konferenz für sozialen, in wirtschaftlichen und in politischen Defizi- eine menschliche Umwelt getroffen. Es war die erste ten in der Dritten Welt selbst. Niemand kann und darf globale Diskussion über das Schicksal unseres Plane- davor die Augen verschließen. Aber wahr ist: Die ten. In wenigen Tagen werden in Rio de Janeiro an Hauptverantwortung für die Lösung der globalen der Konferenz für Umwelt und Entwicklung über Probleme liegt bei den westlichen Industrieländern. 160 Länder teilnehmen und versuchen, für das Sie haben in den letzten Jahrhunderten die politische gesamte Spektrum der internationalen Umweltpolitik und ökonomische Ordnung der Welt geprägt. Sie und der damit zusammenhängenden Bereiche der kontrollieren Weltwirtschaft und Weltfinanzen. Sie Entwicklungspolitik die Weichen neu zu stellen. Trotz entscheiden über ökonomische Strukturveränderun- aller Anstrengungen in den letzten zwei Jahrzehnten gen im Süden und im Osten. hat sich die Situation der Umwelt insgesamt ver- Bei den Industrieländern liegt auch die Hauptver- schlechtert. Der Verbrauch fossiler Brennstoffe, die antwortung für die ökologischen Schäden. Es sind die Vernichtung der Wälder, die Ausbreitung der Wüsten, Industrienationen, die in weltweitem Maßstab ihre die Belastung von Boden, Luft und Gewässern mit Konten für Energieverbrauch, Umweltverschmutzung Schadstoffen haben inzwischen weltweit ein Ausmaß und klimaschädigende Emissionen weit, weit überzo- erreicht, das eine zunehmende Bedrohung für unsere gen haben. Sie, die Industrienationen, haben das gesamte Erde darstellt. Know-how, haben das Kapital, um eine globale Politik der Umweltbewahrung und des sozialen Ausgleichs Diese durch Menschen verursachte globale Bedro- einzuleiten. hung unserer natürlichen Lebensgrundlagen erfor- dert unverzüglich entschlossenes Handeln. National Dafür, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und international müssen neuartige Lösungsansätze und Kollegen, hätte UNCED, hätte der so apostro- und Handlungsstrategien gefunden werden. Hier sind phierte Welt-Erdgipfel eine Chance geboten. Diese besonders die Industrieländer gefordert, denn wir Chance scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt leicht- dürfen nicht die Augen davor verschließen, daß wir fertig verspielt. Unsere Bitte an Sie, Herr Bundeskanz- Bewohner der sogenannten modernen Industrielän- ler, ist, alles, was Ihnen möglich ist, zu tun, beispiels- der zur Zeit mehr Ressourcen, mehr Natur und mehr weise indem Sie nachhaltig auf den amerikanischen Umwelt verbrauchen, als uns zusteht. Wir Industrie- Präsidenten Bush einwirken, alles, was in Ihrer nationen leben teilweise ökonomisch und ökologisch Macht steht, zu tun, auch durch eigenes Beispiel, auf Kosten der Dritten Welt und auf Kosten künftiger damit UNCED doch noch zu einer Konferenz Generationen. Im Durchschnitt werden beispiels- wird, die wenigstens ein Signal für eine zukünf- weise in Deutschland jährlich 13 Tonnen CO2 pro tig bessere Entwicklung des Verhältnisses zwischen Person emittiert. Es ist eine bewiesene Tatsache, daß Nord und Süd, zwischen Arm und Reich möglich dieser Wert, würde er weltweit erreicht, zu einer macht. globalen Klimakatastrophe führen würde. Wir haben, meine Damen und Herren, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, nur — darin ist sich dieses Haus Doch bereits jetzt hat der hohe Ausstoß von CO2 und einig — eine Welt, wir haben eine gemeinsame anderen Treibhausgasen zu bedrohlichen Klimaver- Verantwortung, und wir, die Industrienationen, haben änderungen geführt. Bereits vor zwei Jahren ist die die Hauptverantwortung, in Rio zu versuchen, die Bundesregierung der Empfehlung der Enquete-Kom- Akzente so zu setzen, daß ein Ausgleich zwischen mission gefolgt und hat erste Maßnahmen zur Umset- Nord und Süd jedenfalls erkennbar wird. zung ihrer CO2-Minderungspolitik beschlossen. Da- bei kommt es darauf an, die CO2-Emissionen, bezogen Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksam- auf das Jahr 1987, bis zum Jahr 2000 um 25 bis 30 % zu keit. reduzieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nationale Maßnahmen zur Reduzierung der Treib- der PDS/Linke Liste und des Bündnisses hausemissionen sind aber vor allem wegen ihres 90/GRÜNE) Beispielcharakters und ihres Zwangs zu technischen Innovationen notwendig. Hier hat Deutschland welt- weit eine Vorreiterrolle übernommen, die sich, zumin- Als nächster spricht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: dest was die Verbindlichkeit beim FCKW-Ausstoß der Abgeordnete Ulrich Klinkert. betrifft, in der Zwischenzeit als richtig und günstig auch für die deutsche Wirtschaft erwiesen hat. Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Die weltweite Entwicklung zum vermehrten CO2- Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kollege Ausstoß konnte bisher nicht gestoppt werden. Den Schäfer, es spricht für die Qualität der Regierungser- internationalen Bemühungen zur CO2-Reduktion klärung des Bundeskanzlers, es spricht für die Rich- sowohl EG-weit als auch weltweit fehlt im Moment tigkeit der Umweltpolitik dieser Bundesregierung, der Durchbruch. Wir stärken die Bundesregierung in wenn Sie, Herr Kollege Schäfer, außer an der Rhetorik ihren Bemühungen, eine EG-Übereinkunft zu erzie- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7583

Ulrich Klinkert len, die wirtschaftliche Anreize schafft, weltweit in Der Ihnen vorliegende Antrag „Durch globale Energieerzeugungsanlagen mit hohen Wirkungsgra- Umwelt- und Entwicklungspartnerschaft die Schöp- den zu investieren. Über bessere Wirkungsgrade und fung bewahren", der ja parteienübergreifend einge- umweltfreundliche Energieträger ist es durchaus bracht wurde, schließt die Verantwortung der Indu- möglich, die weltweite Energieerzeugung deutlich zu strieländer für die Wirtschaftsentwicklung der Dritten erhöhen, ohne daß dadurch zwangsläufig mehr CO2 Welt ein. emittiert werden muß. Worum wird es in Rio gehen? Welche Ergebnisse können dort erreicht werden? Zunächst einmal wird es Die Bundesregierung hat deshalb unsere volle um die Zeichnung einer Klimakonvention als wohl Unterstützung, die deutsche Vorreiterrolle verstärkt eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Konferenz zu nutzen, um alle Industrieländer zu einem abge- gehen. Und hier, Herr Schäfer, kann man Ihnen stimmten Verhalten zu bringen. keineswegs folgen, wenn Sie sagen, daß Rio substanz- Intensive Anstrengungen von Staat, Gemeinden, los sein wird. Denn eine solche Konvention muß nun Wirtschaft, Verbänden und Bürgern haben in den eben erst einmal gezeichnet werden, um dann von letzten 20 Jahren nach der ersten UN-Konferenz in den Staaten später ratifiziert werden zu können. Stockholm den Umweltschutz in Deutschland ein (Beifall bei der CDU/CSU) gutes Stück vorangebracht. Sie haben in den letzten Es wird um Übereinkommen zum Schutz der biolo- Jahren zu einer Entkoppelung von Umweltbelastung gischen Vielfalt und um die Verabschiedung von und Wirtschaftswachstum geführt. Die Umweltbela- Grundsätzen zur Erhaltung, umweltverträglicher Be- stung ist in den alten Bundesländern bei deutlichem wirtschaftung und Entwicklung der Wälder aller Kli- Wirtschaftswachstum in Teilbereichen spürbar zu- mazonen gehen. rückgegangen. Dies gilt insbesondere für die Reinhal- Es wird bei der Verabschiedung des Aktionspro- tung der Luft und den Gewässerschutz. Dies hat den gramms „Agenda 21" zur Festlegung vernünftiger Industriestandort Deutschland insgesamt nach vorn und praktikabler Maßnahmen kommen, die nationale gebracht. Regierungen und internationale Organisationen für eine langfristige Entwicklung ergreifen können. In diesem Zusammenhang kann es nicht einleuch- Dabei geht es um die Integration des Umweltschutzes ten, daß von einigen Wirtschaftle rn und Politikern die in alle Handlungs- und Politikbereiche, um eine Gefahr heraufbeschworen wird, daß der Standort Verbesserung von Bildung und Ausbildung und um Deutschland durch konsequente gesetzliche Vorga- die Schaffung angemessener umweltrechtlicher und ben im Interesse der Umwelt für die Wirtschaft unat- institutioneller Rahmenbedingungen in allen Län- traktiv würde. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt keine dern. Beispiele von Produktionsverlagerung aus Deutsch- land auf Grund von Umweltauflagen. Vielmehr spre- Rio soll zum Erfolg für die Umwelt, auch über die chen andere Gründe für eine Kapitalflucht ins Aus- Erstarkung der wirtschaftlichen Situation in den Ent- land, beispielsweise die höchsten Löhne und Sozial- wicklungsländern, führen. Deshalb will die Konfe- abgaben bei gleichzeitig geringster Arbeitszeit, astro- renz ökonomische Zeichen setzen, insbesondere für nomisch hohe Bodenpreise, mittlerweile auch in Ost- die Länder der Dritten Welt. Denn Regierungen in den deutschland, aber vor allem der Luxus der wohl Entwicklungsländern, deren Wirtschafts- und Finanz- weltweit längsten Genehmigungsverfahren, und lage so schlecht ist, daß der Hunger der Bevölkerung zwar, was das Absurde dabei ist, sogar von Genehmi- zum Alltag gehört, werden nicht einen Pfennig in gungsverfahren für Umweltschutzmaßnahmen. Klimaschutz investieren können. Als eines der sichtbaren Beispiele kann die Erhal- Anspruchsvolle Umweltschutzanforderungen ha- tung des Tropenwaldes gelten. In den Ländern, in ben Deutschland ein umweltpolitisch hohes Ansehen denen es buchstäblich um das nackte Überleben von und wegen der gleichbleibenden Qualität seiner Pro- heute geht, wird man sich um den Tropenwald von dukte und der Sicherheit seiner Produktionsanlagen morgen nicht kümmern können. Der Tropenwald ist international eine Spitzenposition verschafft. Unser unser aller Klimaspender. Wir dürfen ihn daher nicht fortschrittliches Umweltrecht hat andererseits dazu „verkonsumieren" , sondern müssen mehr als bisher beigetragen, daß Deutschland auch hinsichtlich der zu seiner Erhaltung tun. Dauer der Genehmigungs und Zulassungsverfahren Vielen Dank. selbst bei umweltschutzerhöhenden Maßnahmen im weltweiten Vergleich an der Spitze liegt. Deshalb ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) es zwingend erforderlich, möglichst umgehend Vor- aussetzungen für Verfahrensbeschleunigungen zu Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht schaffen, die selbstverständlich die materiell-rechtli- der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi. chen Anforderungen an Genehmigung und Zulas- sung nicht ändern dürfen und wie bisher die Beteili- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! gung der Bürger sichern. Meine Damen und Herren! Die Erklärung der Bundes- Aus ökologischen Gründen, insbesondere zur regierung enthielt eine Menge Absichtserklärungen, Sanierung der neuen Bundesländer, ist eine Verfah- Appelle. Aber ich konnte nicht erkennen, welche rensbeschleunigung dringend notwendig. Deutsch- konkreten Schritte — national und international — land als eines der modernsten Industrieländer der nun gegangen werden sollen, Welt kann zeigen, daß Wirtschaftsentwicklung und (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Lesen Sie Umweltschutz in sich keine Gegensätze sind. unsere Resolution!) 7584 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Gregor Gysi um die riesige Umweltkrise, in der sich die Mensch- Ansonsten warne ich, daß die weitere Zuspitzung heit bereits befindet und auf die wir in noch stärkerem der Umweltprobleme zu einer ernsthaften Gefahr für Maße zugehen, wirklich zu lösen oder wenigstens demokratische Ansätze werden kann, und das, so einzudämmen. glaube ich, bezahlen wir dann doppelt und dreifach teuer. Die in Rio geplante Konferenz ist eine Konferenz der führenden Industriestaaten und Entwicklungsländer. Ich will mich darüber hinaus mit der Frage des Ich glaube, daß da auch die Probleme liegen. Es hat ja Verhältnisses der führenden Industriestaaten zur Drit- keinen Sinn, die Augen vor den Tatsachen zu ver- ten Welt beschäftigten. Hilfe, hat der Bundeskanzler schließen: Im 19. Jahrhundert waren Hungersnöte gesagt, müssen wir leisten. Das ist wahr. Aber welche, gelegentliche Erscheinungen. Im jährlichen Durch- habe ich aus der Erklärung nicht entnehmen können. schnitt starben höchstens einige hunderttausend Es war zumindest für mich nicht konkret genug. Menschen weltweit an Hunger. Heute sterben jährlich Ich glaube, in erster Linie geht es zunächst einmal 50 Millionen Menschen an Hunger — eine unvorstell- um die Entschuldung der ärmsten Länder dieser Welt. bare Größenordnung. Darüber kann jetzt nicht mehr länger geredet werden. Eine der Ursachen ist von Hafiz Sabed berechnet Das muß einfach irgendwann einmal passieren. Es hat worden. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die diesbezüglich noch nichts ernsthaft eingesetzt außer führenden Industriestaaten seit 1956 insgesamt Umschuldungen, die aber keine Entschuldung sind. 50 Billionen — Billionen — US-Dollar aus den Ent- Das Zweite: Soweit Kredite zurückgezahlt werden, wicklungsländern herausgeholt haben. sollten Sie meines Erachtens einem Fonds der UNO Im Jahre 1900 starb auf der Erde eine Tier- und zur Erfüllung umweltpolitischer Aufgaben zur Verfü- Pflanzenart aus, im Jahre 1992 werden etwa 1 000 gung gestellt werden, und zwar selbstbestimmt durch Tier- und Pflanzenarten aussterben. Das gehört die sogenannten Entwicklungsländer. Wir brauchen — auch für alle Anhänger der Marktwirtschaft — mit eine wirkliche Öffnung der Märkte der führenden zu den Ergebnissen der bisherigen Wirkungsweise Industriestaaten, auch für Lebensmittelprodukte und der Marktwirtschaft weltweit. alle anderen Produkte aus den Entwicklungsländern — etwas, was bis heute nicht stattgefunden hat. In der Regierungserklärung wird von Problembe- Wir brauchen eine wußtsein und von einem Lernprozeß gesprochen, der Veränderung der Preispolitik. Es sind doch die Monopole in den führenden Indu- einsetzen muß. Ich hatte gehofft, wir seien über dieses striestaaten, die dafür sorgen, daß die Gewinnung von Stadium hinaus. Es geht nicht nur darum, ein Problem- Rohstoffen zu wesentlich geringeren Preisen angebo- bewußtsein zu schaffen — das ist vorhanden —, son- ten werden muß als ihre Veredelung. Es ist aber dern es geht darum, zu handeln. Und es geht um eine produktionstechnisch überhaupt nicht erklärbar, daß Änderung der Lebens - und Produktionsweise, und die Gewinnung von Rohstoffen angeblich so viel zwar in erster Linie in den führenden Industriestaa- billiger sein soll als ihre Veredelung. Das ist eben z. ten. B. ein ganz konkretes Ausbeutungsverhältnis. Ich möchte mich gern mit einem Argument ausein- Kurzum, wir müssen die Ausbeutung und die Unter- andersetzen, das auch jetzt eben in dem Beitrag drückung der Dritten Welt endlich und konsequent anklang und das ich für besonders gefährlich halte. beenden. Ich will es in ganz sachlicher Form tun. Ich weiß, daß es schwer ist, Umweltpolitik wirklich konsequent zu Und dann sagt die Bundesregierung sehr stolz, daß betreiben und dabei populär zu bleiben. Ich weiß, daß wir führende Standards hier entwickelt haben und es häufig auch das Argument gibt, das könne sich eine überhaupt führend in der Umweltpolitik sind. Nun Regierung oder eine Partei einfach nicht leisten, weil überlege ich mir einen Moment lang: Was würde denn dann bei den nächsten Wahlen die Zustimmung zu eigentlich passieren, wenn die führenden Industrie- gering sein könnte. Ich möchte aber darauf hinweisen, staaten zum Vorbild für die Dritte Welt werden daß dieses Argument höchst gefährlich ist, weil es würden? Einmal angenommen, Herr Krause würde nämlich in seiner Konsequenz bedeutet zu sagen, daß Verkehrsminister für Afrika oder für China werden, Demokratie konsequente Umweltpolitik hindert. Wenn aber konsequente Umweltpolitik erforderlich (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: ist, wäre somit Demokratie ein Hindernis dafür. Um Gottes willen!) und er würde seine Verkehrswegevorstellungen und Wir wissen, daß es auch rechtsextremistische Öko- Autobahnplanungen dann dort durchsetzen. Wir wür- logen gibt, die genau diesen Umstand ausnutzen, um den uns einen Moment lang einmal vorstellen, daß die Abschaffung von Demokratie zu fordern. Das man in China oder in Afrika so Auto fahren würde wie heißt, ich glaube, daß eine Pflicht von Demokratinnen hier in der Bundesrepublik Deutschland. Wir wissen und Demokraten darin besteht, gerade zu erklären, alle, daß dann die Menschheit ihr Ende gefunden daß Demokratie und Umweltpolitik zwingend zusam- hätte, daß dieser Planet zumindest hinsichtlich seiner mengehören und nicht einander ausschließen — ein- Naturbestandteile nicht mehr existieren würde. schließlich der Einführung von Maßnahmen, die gegebenenfalls unpopulär sein können. Da muß dann Darin besteht doch die ganze Arroganz dieser wirklich zwischen Parteien und politisch Verantwort- Politik, weil sie nämlich darauf hinausläuft, die bishe- lichen verhandelt werden, um das gemeinsam durch- rige Produktions- und Lebensweise in den führen- zustehen und gegenüber Wählerinnen und Wählern den Industriestaaten im Abwehrkampf gegen die zu erklären, selbst wenn es nicht populär ist. Dritte Welt zu erhalten. Hier schließt sich auch der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7585

Dr. Gregor Gysi Kreis mit der Asyldebatte, die in diesem Lande geführt -ländern. Gehen Sie doch einmal an dieses Geld und wird, denn das ist auch ein Versuch, sich von den nicht immer an die Lohntüten der Arbeitnehmerinnen Entwicklungsländern abzuschotten und damit eine und Arbeitnehmer sowie der Sozialhilfeempfängerin- eigene Produktions- und Lebensweise zu erhalten, die nen und Sozialhilfeempfänger. man anderen Ländern nicht zubilligt, weil sie das (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Ende der Menschheit bedeuten würde. Dann würden Sie wirklich eine Veränderung — auch So gesehen sind die führenden Industriestaaten innerstaatlich — herbeiführen, um solche Probleme nicht etwa Vorbild für die Dritte Welt, sondern eher zu lösen. eine Katastrophe. Aber natürlich gibt es nicht wenige Politikerinnen und Politiker in den Entwicklungslän- Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, machen Sie Ihren dern, die sagen, sie haben einen Anspruch auf ein gesamten Einfluß geltend, auf dieser Konferenz eine Entwicklungsniveau der ersten Welt. Das würde einen Änderung der Umweltpolitik zu erreichen. Setzen Sie CO2- und einen SO4-Ausstoß und anderes in einem auch ruhig die USA unter Druck, sorgen Sie mit für Maße bedeuten, daß diese Welt zu Ende wäre. Des- eine Wende in der Produktions- und Lebensweise der halb glaube ich, daß hier wirklich eine regelrechte Menschen und vor allem für eine völlige Wende hin zu Wende in der Weltwirtschaftsordnung erforderlich ist, einer gerechten Weltwirtschaftsordnung für die Dritte wenn ökologische Probleme gelöst werden sollen. Welt. Es ist hier schon gesagt worden — man kann es Danke. nicht oft genug wiederholen —: 80 % der Energieres- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) sourcen werden von 25 % der Bevölkerung in den führenden Industriestaaten verbraucht, nicht etwa umgekehrt. Die wirkliche Umweltbelastung geht von Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht den führenden Industriestaaten aus. Wir gefährden der Abgeordnete . die Zivilisation auf diesem Planeten; wir haben immer noch nicht nationale Borniertheit überwunden und begriffen, daß der Planet ein einheitliches Ganzes Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Frau Präsidentin! ist. Meine Damen und Herren! Ich habe die Bemühungen Natürlich kritisiere ich auch die Haltung der USA der Bundesregierung in den letzten Monaten verfolgt, und meine zugleich, die Bundesregierung und die EG wie alle, die wir auf diesem Gebiet tätig sind. Ich habe können sich nicht dahinter verstecken. Ich füge eins nicht die geringsten Zweifel an der Ernsthaftigkeit der hinzu: Waren wir es nicht — ich weniger, aber andere Bemühungen der Bundesregierung, die Ziele zu ver- in diesem Hause —, die z. B. anläßlich des Golfkriegs wirklichen, meine Damen und Herren von der SPD, die führende Rolle der USA akzeptiert haben? Jetzt die wir gemeinsam festgelegt haben. spielen sie sie eben auch, d. h., daß sie auch bestim- Ich verstehe einen Teil des Streits, Herr Schäfer, men, welche umweltpolitischen Maßnahmen sie überhaupt nicht: Die Ziele für diese Konferenz sind durchführen oder nicht durchführen und auf sich gar hier gemeinsam beschlossen worden und sind ein keinen Druck ausüben lassen. gemeinsames Ziel einer großen Mehrheit des Deut- Also: Die Fragen der Demokratie, die Fragen einer schen Bundestages. gerechten politischen Weltordnung — und zwar auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einer demokratischen, also von unten — und die Die deutsche Regierung vertritt diese Ziele sehr Fragen einer vor allem gerechten Weltwirtschaftsord- nachhaltig und sehr nachdrücklich auf den verschie- nung gehören zueinander, wenn man Umweltpolitik denen internationalen Konferenzen. Es besteht doch wirklich radikal betreiben will, wenn man Produkti- wirklich kein Anlaß, Herr Schäfer, sich angesichts der ons- und Konsumtionsweise mit umweltpolitischen Tatsache, daß die Widerstände nicht im eigenen Land Anforderungen auf diesem Planeten insgesamt in liegen, sondern in anderen souveränen Ländern — Übereinstimmung bringen will. beispielsweise in den Vereinigten Staaten oder in Ich denke, daß durch diese Konferenz in Rio dies- Japan oder in Teilen der europäischen Gemeinschaft, bezüglich die Wende noch nicht eingeleitet wird, die von sozialdemokratischen Regierungen geführt sondern es werden viele interessante Reden gehalten werden, wie beispielsweise Spanien —, zu profilieren. werden, aber es wird an praktischen Entscheidungen, Spanien hat sich geweigert, die europäische Verein- die dann auch umgesetzt werden, fehlen. Das hängt barung jetzt wirksam werden zu lassen — über eine u. a. auch mit den Strukturen in diesen Industriestaa- Klimaschutzsteuer — und nicht die deutsche Regie- ten zusammen. rung. Die deutsche Regierung hat bis heute dieses Ziel Wenn ich höre, wie dieses Problem vom Kollegen verfolgt, auch das eines europäischen Alleinganges. der CDU genutzt wird, um hier zu sagen, daß wir zu Meine Damen und Herren, es ist nicht der erste hohe soziale Standards haben und daß wir zu hohe Versuch, zu einer Internationalisierung der Umwelt- Löhne haben, dann denke ich, daß schon wieder der politik zu kommen. Ich darf an die erste Konferenz Versuch gemacht wird, solche Probleme auf Kosten erinnern: Derjenige, der uns dort 1972 in Stockholm der sozial Schwachen und der Lohnabhängigen zu vertreten hat, Hans-Dietrich Genscher, sitzt hier, und lösen und nicht auf Kosten derer, die wirklich das Geld zehn Jahre später gab es dann eine Folgekonferenz, haben. 670 Mrd. DM der deutschen Unternehmen auf der ich die Bundesrepublik vertreten habe. Von liegen brach, weil das Finanzkapital so hoch verzinst beiden Konferenzen gingen Impulse aus. Aber heute wird, daß sie keine Lust haben, daraus Produktions- sind wir weiter. Wir sind Gott sei Dank sehr viel weiter kapital zu machen, auch nicht in den neuen Bundes im allgemeinen Bewußtsein, daß wir eine Weltinnen- 7586 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Gerhart Rudolf Baum politik, eine Umweltaußenpolitik brauchen und daß Wir stehen erst am Anfang dieses Prozesses. Im Umweltpolitik Stück des Völkerrechts werden muß. Vorfeld der Rio-Konferenz ist zwar öffentliches (Beifall bei der F.D.P.) Bewußtsein gebildet worden — weltweit, so stark wie nie zuvor —, aber sehr unterschiedlich. Das öffentliche Globale Herausforderungen erfordern globale Stra- Bewußtsein in den Vereinigten Staaten ist eben nicht tegien. Und so ist eben auch der Umweltschutz viel so ausgeprägt wie in den europäischen Staaten oder schneller, als wir das vor zehn Jahren gehofft haben, wie bei uns. zu einer eigenen Politik der Europäischen Gemein- Trotz dieser Entwicklung ist nicht damit zu rechnen, schaft geworden, die eine Umweltgemeinschaft wird. daß uns die Wir werden jetzt — da hat der Bundeskanzler recht — Erfolgsaussichten der Konferenz befrie- digen können. Ich wiederhole noch einmal: Der deut- als ganz wichtige Aufgabe die Heranführung Ost- schen Regierung ist hier kein Vorwurf zu machen. Sie europas — auch im Umweltschutz — an die Europäi- hat sich seit Monaten nachdrücklich um bessere sche Gemeinschaft leisten müssen, nicht als Deutsche Ergebnisse bemüht. Wir haben — bei allen Versäum- allein, sondern als Europäer. nissen, die auch wir zu verzeichnen haben — seit Aber alles bleibt Stückwerk, wenn wir gegenüber Jahrzehnten eine Vorreiterrolle übernommen. weltweiten Gefahren nicht zu weltweiten Vereinba- Wenn ich nicht zufrieden bin mit den Vorbereitun- rungen gelangen. Das ist mit dem Montrealer Abkom- gen, dann betrifft das u. a. die men zur Reduzierung von FCKWs 1985 zum erstenmal Klimakonvention. Der Kompromiß von New York befriedigt nicht. Die Bun- geschehen. Zum erstenmal in der Geschichte der desregierung hat für eine andere Lösung gekämpft. Es Menschheit sind Fristen und Grenzwerte zur Reduzie- ist zwar eine erste Grundlage für eine neue weltweite rung einer globalen Bedrohung festgelegt worden. Es Partnerschaft gelegt und eine klare Zeitfolge nach Rio ist ein dynamischer Prozeß eingeleitet worden. Es gab vereinbart worden; nicht erreicht wurde jedoch die Folgekonferenzen, Folgevereinbarungen, und ich bin Zeitvorgabe für die Stabilisierung der CO2-Emissio- sicher, daß dies auch bei einer ganzen Reihe von nen im Jahre 2000. Damit bleibt der Konventionsent- Materien geschieht, die jetzt in Rio nicht abschließend wurf deutlich hinter unseren Vorstellungen zurück. und nicht zufriedenstellend behandelt werden kön- nen. Ich bedaure, daß sich die Europäische Gemein- schaft nicht hat durchringen können, mit einer klaren Übrigens ist hier auch die Konvention von Basel zur Entscheidung für eine europäische Maßnahme, eine Reduktion von Sondermüllexporten zu erwähnen. europäische Umsetzung einer Klimaschutzsteuer Wir haben jetzt nach Wegfall des Ost-West-Konflik- nach Rio zu gehen. Sie macht es abhängig von den tes alle Kräfte darauf zu richten, den Nord-Süd- Entscheidungen der anderen Industrieländer. Mir Konflikt zu entschärfen. Wir haben die Chance, zu wäre es lieber gewesen, wenn die Europäer mit einer neuen Weltordnung zu gelangen und im Rah- diesem Signal einer bereits getroffenen Entscheidung men der UNO fundamentale Aufgaben zu verwirkli- in Rio aufgetreten wären. chen: die traditionelle Aufgabe der Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen, die Sicherung der (Beifall bei der F.D.P.) Menschenrechte durch die Vereinten Nationen und Meine Partei hat sich seit langer Zeit sehr nachdrück- als dritte Säule — das stellt Rio dar, das ist ein Anfang lich für diese europäische Klimaschutzsteuer einge- — der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. setzt, für eine europäische Energiesteuer, die nach Alle drei Bereiche beeinflussen einander. Es gibt marktwirtschaftlichen Kriterien die Energie verteuern und damit den sparsamen Umgang — kostenneu- einen Zusammenhang zwischen Demokratie und tral — herbeiführen soll. Umweltschutz beispielsweise. Keine Staatsordnung, keine Gesellschaftsordnung ist mit der Umwelther- Die Bundesrepublik darf jetzt ihre nationalen Ziele, ausforderung besser fertig geworden als die demokra- so meine ich, nicht aufgeben. Gerade wenn Staaten tischen Industrieländer des Westens, auch wenn viele und Staatengruppen beispielhaft vorangehen, sind Versäumnisse zu beklagen sind. Die Kommandowirt- internationale Fortschritte erzielbar. Die Bundesrepu- schaften des Ostens haben gegenüber diesen Proble- blik darf ihre Vorreiterrolle nicht in Frage stellen men total versagt. lassen. Wehren wir uns gegen Tendenzen, die es angesichts der wirtschaftlichen und finanziellen Pro- Was national gilt, gilt auch international, meine bleme auch in unserem Lande gibt, Umweltschutz Damen und Herren. Der Umweltschutz darf keine mehr oder minder notwendige Randbedingung sein; zurückzudrängen. er muß alle Politikbereiche, auch in den äußeren Auch wenn Schwerpunkte neu gesetzt werden Beziehungen der Länder, durchdringen: die Außen- müssen, beispielsweise zwischen Ost- und Westeu- politik, die Entwicklungspolitik, die Agrarpolitik und ropa: Der Umweltschutz war immer eine Zukunftsin- die anderen Politikbereiche. vestition in die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volks- wirtschaft. Das hat die Wirtschaft lange nicht begrif- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger- fen. Die Wettbewerbsfähigkeit und der technologi- lingen] [F.D.P.]) sche Fortschritt sind auch durch dieses Ordnungs- Umweltschutz muß als ein Beitrag zu einer weltwei- recht, durch die Vorgaben, die wir gegeben haben, ten Friedenspolitik verstanden werden und in den bewirkt worden. Sie haben die Wettbewerbsfähigkeit internationalen Beziehung en den entsprechenden unserer Volkswirtschaft nicht geschädigt, sondern Rang erhalten. Alles das wird in Rio sichtbar werden, haben uns weitergebracht. Wer das nicht sieht, han- unabhängig vom Inhalt der Konventionen, die dort auf delt kurzsichtig und ist später zu Korrekturen veran- der Tagesordnung stehen. laßt, die sehr viel teurer werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7587

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Industriestaaten müssen begreifen, daß den Entwick- Baum, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeord- lungsländern dort eine ökonomische Chance gegeben neten Ulrike Mehl? werden muß, wo sie sie selber nutzen können. Das bedeutet Hilfe zur Selbsthilfe. Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Ja, ich will den Gedanken nur zu Ende führen. — Ich habe einmal Die Bedeutung marktwirtschaftlicher Strukturen erlebt, wie die Umweltschutzpolitik Mitte der 70er für den Entwicklungsprozeß sind inzwischen aner- Jahre heruntergefahren wurde. Die Folgen waren kannt. Die Entwicklungsländer müssen sie in der verheerend. Wir mußten später mit sehr viel mehr ihnen gemäßen Weise, nach Entwicklungsmodellen, Mitteln die Dinge reparieren, die wir zunächst zurück- die sie für ihre Situation entwickeln müssen, verwirk- gestellt hatten. lichen. Das ist eben nicht eine bloße Übertragung unseres Wohlstandsmodells. Das kann nicht richtig (Beifall bei der F.D.P.) sein, weder allgemein noch etwa in der Energiepoli- tik. Ich bin nicht der Meinung, daß die weltweite Frau Mehl. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Einführung des Leichtwasserreaktors die Lösung der Energieprobleme der Dritten Welt brächte. Ulrike Mehl (SPD): Herr Kollege Baum, sind Sie mit mir der Meinung, daß wir und andere, die die Ent- Armut und Bevölkerungswachstum hängen unmit- wicklungsländer kritisieren, erst einmal vor der eige- telbar zusammen. Verstärkte Bemühungen zur Ener- nen Türe kehren müssen? gieeinsparung und zur rationalen Energienutzung sowie Modelle zur internationalen Kompensation sind Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Natürlich! notwendig. Bei nichtentwickelten Ländern ist mit gleichem Kapitaleinsatz ein weitaus größeres Reduk- Ulrike Mehl (SPD): Sind Sie mit mir der Meinung, tionspotential zu erreichen als in Staaten mit hohem daß auch deswegen der Naturschutz bei uns im Lande technischen Niveau. Den Entwicklungsländern ist zu eine Rolle spielen muß? Sind Sie mit mir nicht auch der helfen; das gilt insbesondere für die Nachfolgestaaten Meinung, daß das, was die Bundesbauministerin jetzt der Sowjetunion. Meine Damen und Herren, ich bin mit dem Naturschutz und dem Naturschutzgesetz davon fest überzeugt, daß der Zusammenbruch der treibt, nicht den Zielen entspricht, die Sie und Herr Sowjetunion auch durch die verheerenden Umwelt- Kohl gerade formuliert haben? Meinen Sie nicht auch, zerstörungen bewirkt worden ist. Wir müssen den daß das Bundesnaturschutzgesetz nach fünf oder GUS-Staaten bei der Sicherheit der Kernenergienut- sechs Jahren Ankündigung nun langsam auf den zung helfen. Die Situation eines Teiles der osteuropäi- Tisch gehört? schen Reaktoren beinhaltet eine weithin unter- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag- schätzte Bedrohung der Lebensgrundlagen der gan- mar Enkelmann [PDS/Linke Liste]) zen Welt. Entscheidend für den Prozeß wird natürlich auch die Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Im letzten Punkt bin ich mit Ihnen einig. Das Naturschutzgesetz ist ein Verantwortung der Industriestaaten sein, in Form von Kernstück der Umwelterwartung der F.D.P., Finanz- und Know-how-Transfer. Die absehbaren ökologischen Schäden sind bisher weit überwiegend (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was ist denn eine von uns, den Industrieländern, verursacht worden. „F.D.P.-Umwelterwartung"?) Unser Reichtum basiert auf der übermäßigen Inan- übrigens nicht erst in dieser Legislaturperiode. spruchnahme weltweiter Ressourcen. Aber die Probleme liegen bei der Finanzierung. Der ganze Prozeß kann nur gelingen, wenn eine Keiner der SPD-Finanzminister — Naturschutz ist Reform des UN - Systems erfolgt. Das System der Ländersache — hat bisher dazu einen Beitrag gelie- Vereinten Nationen muß dieser Aufgabe angepaßt fert. Der Naturschutz muß finanziert werden. Ich werden. Wir brauchen Systeme der Überwachung, suche mit anderen Kollegen nach Finanzierungsmög- der Durchsetzung. Der Club of Rome hat gerade das lichkeiten. Ob sie ausgerechnet in dem Bereich lie- Stichwort „Umweltsicherheitsrat" geliefert; darüber gen, bei dem wir Handlungsbedarf haben, nämlich im sollten wir einmal nachdenken, auch über Grünhelme Wohnungsbau, will ich bezweifeln. Wir müssen das gegen Umweltverbrecher oder umweltverbrecheri- Ziel, schnell preiswerte Wohnungen zu bauen, im sche Regime. — Das alles sind Stichworte der Auge behalten. Deshalb habe ich ein gewisses Ver- Zukunft. ständnis für die Aspekte, die die Bauministerin ins Spiel bringt. Das ist nicht gegen den Naturschutz Die nationalen und internationalen Vorbereitungen gerichtet, sondern nur gegen eine bestimmte Art der der Konferenz sind unter Einbeziehung aller relevan- Finanzierung des Naturschutzes. ten Gruppen erfolgt. Ich mache den Vorschlag, eine (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ständige UN - Umweltkonferenz einzurichten nach ten der CDU/CSU) dem Vorbild der Menschenrechtskonferenz der UNO. In der Menschenrechtskonferenz der UNO setzen sich Meine Damen und Herren, die Anträge des Deut- die Nicht-Regierungsorganisationen zu einem Dialog schen Bundestages machen unsere Erwartungen mit den Regierungen jährlich in wichtigen Konferen- deutlich: Übereinkommen zum Schutz der biologi- zen seit 48 Jahren zusammen. schen Vielfalt und zum Schutz der Tropenwälder, Aktionsprogramm Agenda 21. Die Entwicklungslän- Wenn, wie heute absehbar ist, Rio nicht die von uns der müssen in das Welthandelssystem integ riert wer- erwarteten Fortschritte bringen kann, so muß doch den. Von entscheidender Bedeutung ist auch in die- eine Signalwirkung davon ausgehen. Es müssen sem Zusammenhang der Erfolg der GATT-Runde. Die Weichenstellungen erfolgen, es muß ein Druck für 7588 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Gerhart Rudolf Baum einen weiteren dynamischen Prozeß entwickelt wer- oder Trends bei Landschafts- und Naturzerstörungen, den. zu Deponieflächenbereitstellung, zum Müllexport Meine Damen und Herren, wenn wir soviel über und zu vielem anderen mehr fällt der Aussagegehalt Internationalisierung und Europäisierung reden, soll- dieses Berichts an die Vereinten Nationen noch hinter ten wir uns wenigstens einen Moment auch mit der den Wahrheitsgehalt von Münchhausens Geschich- Situation bei uns beschäftigen. Wie arbeiten denn ten zurück. Insbesondere die Passagen, in denen die Bund und Länder auf dem Felde der Umwelt- oder Bundesregierung ihre eigenen Leistungen bejubelt, Energiepolitik zusammen? Besteht denn nicht die wären ganz sicher von den Gebrüdern Grimm in ihre Notwendigkeit auch bei uns, zu Vereinbarungen, zu Märchensammlung aufgenommen worden. einem Grundkonsens etwa in der Energiepolitik zu Ein Beispiel mag das belegen. Im Bericht steht, daß kommen? Dieser Konsens ist verlorengegangen. sich der gelegentlich von nichtamtlichen Stellen (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) geäußerte Verdacht, daß auch Abfallexporte in Ent- Wir haben keinen Konsens in Entsorgungsfragen. Wir wicklungsländer stattgefunden hätten, bisher in kei- haben keinen Konsens in Sondermüllfragen. Wir nem Fall bestätigt hat. Das schreibt die Regierung müssen uns fragen, wie die Genehmigungsverfahren zeitgleich, während im Bundestag eine Aktuelle ausgestaltet werden müssen, daß wir wenigstens Stunde zu genau diesem Thema stattfindet. Am Müll- unsere Umweltanlagen bauen können — von anderen export ändert auch eine vor- oder nachträgliche Dingen ganz zu schweigen. Umdeklarierung von Sondermüll zu Recyclingmate- rial nichts. Ich halte es für einen letztlich unerträglichen Zustand, daß der Bundesumweltminister das Bundes- Ich will mir jedoch eine Auflistung von Einzelbei- recht im Kernenergiebereich ständig durch Weisun- spielen, von Falschinformationen oder Oberflächlich- gen durchsetzen muß. keiten im Zusammenhang mit dem Nationalbericht ersparen; es lohnt die Zeit nicht. Strengen wir uns an, nicht nur nach Rio und nicht nur auf die Europäische Gemeinschaft zu sehen, Die drohende Klimakatastrophe wird im Mittel- sondern kommen wir hier, in unserem Föderalismus, punkt der weltweiten Politik der nächsten Jahre zu tragbaren Lösungen des Miteinanders zwischen stehen, ob wir es wollen oder nicht. In der Klimaver- Opposition und Regierung! änderung bündeln sich die Fehlentwicklungen des (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bisherigen Wirtschaftens der Industriegesellschaft. Hinter den Spurengasen, Kohlendioxiden, FCKWs, So stark also die Notwendigkeit ist, in Rio zu Methanen oder Distickoxiden verbirgt sich nämlich Konventionen zu kommen, eines wird dadurch wieder nichts anderes als die materielle Grundlage unserer deutlich: Es geht um tiefgreifende Verhaltensände- heutigen Lebensweise: von einem extrem hohen Pro- rungen in unseren Ländern. Es geht um Verhaltens- Kopf-Energieverbrauch über die exzessive Automobi- änderungen, die jeden einzelnen Bürger betreffen. lität, von der Chemisierung nahezu sämtlicher Hier kann nichts auf irgendwelche übergeordneten Lebensbereiche über die Agrarindustrie bis hin zum Gremien abgeschoben werden. Alle Entscheidungen unbegrenzten Wachstum der Müllberge, von der müssen zu Hause umgesetzt werden, meine Damen schrankenlosen Ausplünderung der natürlichen Res- und Herren. sourcen bis hin zur Ausbeutung der Menschen in der Ich habe Vertrauen, daß unsere Regierung die Dritten Welt. Position, die wir in der einstimmigen Resolution fest- Bei der Bekämpfung der Klimakatastrophe stehen gelegt haben, in Rio vertritt. Sie hat die Unterstützung nicht mehr einzelne Auswüchse der Industriegesell- der Freien Demokraten, und wir wünschen ihr viel schaft zur Debatte, sondern die Grundlagen unseres Erfolg. Produzierens und insbesondere Konsumierens. Ge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gen Treibhauseffekt und Ozonloch greifen die übli- chen Filter und Reparaturtechnologien nicht. Maß- nahmen gegen die Klimakatastrophe bedürfen massi- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht ver nationaler und globaler Anstrengungen. Die Indu- der Abgeordnete Dr. Feige. striestaaten tragen dabei eine besondere Verantwor- tung. Sie müssen hinsichtlich einer drastischen Redu- Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Frau zierung der CO2-Produktion eine Vorreiterrolle über- Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- nehmen, und sie müssen einen erheblichen mate riel- ren! Angesichts einer so lustlos geführten Debatte, len Beitrag dazu leisten, daß eigene Erfolge nicht kann man gar nicht glauben, daß es sich um den durch ungenügende Möglichkeiten in den Staaten der Umweltgipfel handelt, eine der größten Konferenzen, sogenannten Dritten Welt wieder zunichte gemacht die überhaupt auf der Erde stattfinden wird. werden. Aber auch wenn Spötter sagen: „Traue nur einer Konzeptionen jedoch, die Unternehmen einen Statistik, die du selbst gefälscht hast" , so bezweifle ich nationalen Umweltbelastungsfreibrief ausstellen die im Nationalbericht der Bundesrepublik Deutsch- wollen, wenn diese dafür in den Umweltschutz der land zur UNCED vorgelegten Datensammlungen sogenannten Dritten Welt investieren, erinnern mich nicht. Ich vermisse jedoch eine Reihe von Informatio- an den mittelalterlichen Ablaßhandel. Sie wissen nen, die die wirkliche Mitbeteiligung der Bundesre- schon: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in publik am ökologischen Raubbau der Welt belegen. den Himmel springt. Hocheffiziente Technologien Ohne ehrliche Informationen oder ungeschminkte sind nur dann von globalem Nutzen, wenn sie überall Darstellungen über die tatsächlichen Belastungen schnell und kostengünstig eingesetzt werden. Das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7589

Dr. Klaus-Dieter Feige Abholzen der tropischen Regenwälder wird nur dann sind nicht nur Schüler der Ersten Welt, sondern sie ein Ende finden, wenn die Menschen in den Entwick- sind, finanziell gesehen, auch zu den Handlangern lungsländern auf anderem Wege als bisher ihre Exi- einer am ökologischen Raubbau orientierten, expan- stenzgrundlage sichern können. Nur Schuldener- dierenden Wirtschaft geworden. lasse, humanitäre Hilfsprogramme, kostenlose Tech- nologietransfers und eine auf der Gerechtigkeit beru- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der hende Weltwirtschaftsordnung können die Länder SPD und der PDS/Linke Liste) der sogenannten Dritten Welt, aber auch die osteuro- Anstatt angesichts der Geschwindigkeit der Zerstö- päischen Staaten in die Lage versetzen, gleichberech- rung der Lebensbedingungen auf der Erde zu begrei- tigt und wirkungsvoll an der Lösung der Klimapro- fen, daß das Anheben der Pro-Kopf-Produktion bei bleme mitzuwirken. Ich zitiere: veralteter Technologie in diesen Ländern auch die Ohne einen angemessenen Schutz der Umwelt ökologischen Probleme anwachsen läßt, propagiert wird die Entwicklung gefährdet. Ohne Entwick- das Kanzler-Kabinett lediglich halbherzige Parolen lung gibt es keinen Umweltschutz. von Wirtschaftsförderung — Wirtschaftsförderung aber, bitte, ohne eigenen Wohlstandsverlust. Das Wort So die sicher nicht GRÜNEN-verdächtige Weltbank in „Konsumverzicht" kommt Ihnen allen nicht in den ihrem Weltentwicklungsbericht 1992. Sinn. Sie haben viel zuviel Angst, daß die nächsten Im UNCED-Bericht der Bundesregierung wird diese Wahlen ob solcher kühnen Forderungen verloren Kernaussage nur oberflächlich aufgegriffen. Die werden könnten. Das Verlieren einer Wahl ist für Sie wenigen Ausführungen zur Nord-Süd-Problematik offensichtlich viel schlimmer als der Weltuntergang. leiten sich darüber hinaus von völlig falschen Grund- Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und voraussetzungen ab. In wohltönenden Reden — eben Herren, damit kommen wir zu unmittelbaren Umwelt- wieder — erkennt der Bundeskanzler zwar einen problemen im eigenen Land. Dort sollte man anfan- Zusammenhang zwischen den Flüchtlingsströmen in gen. Die Bundesregierung hat im Juni und November das so reiche Deutschland und der Armut in der 1990 das ehrgeizigste CO2-Reduktionsziel aller Indu- sogenannten Dritten Welt an; aber die Regierung striestaaten formuliert. Akzeptiert! Bis zum Jahr 2005 kommt nicht einmal im Traum darauf, daß die Men- sollen die energiebedingten CO2-Emissionen, bezo- schen vieler Länder deshalb in Armut leben, weil sie gen auf die alte Bundesrepublik, um 25 bis 30 % im den Wohlstand in den nördlichen Industriestaaten Vergleich zum Ausstoß des Referenzjahres 1987 ver- mitbezahlen mußten und müssen. mindert werden. Für die neuen Bundesländer wurde Viele Menschen in den Entwicklungsländern haben eine noch wesentlich höhere Minderungsvorgabe ganz einfach nur — „nur" sage ich — Angst, daß ihre festgelegt. Kinder oder sie selbst verhungern. So sind sie gezwun- Diesem richtungsweisenden Ziel der Bundesregie- gen, weiter die Rohstoffe ihrer Heimat oder die rung folgten bis heute keine hinreichenden Taten. Im Regenwälder abzutragen. Gegenteil: Mit dem am 11. Dezember 1991 verab- Von Armut zu sprechen ist das eine. Aber sie zu schiedeten sogenannten energiepolitischen Konzept sehen ist das andere. Die Kollegen, die damals mit für das vereinte Deutschland verhindert die Bundes- dem Umweltausschuß in Indien oder in Pakistan regierung die Erreichung des selbst gesteckten Zieles. waren und diese riesigen Slums gesehen und miter- Mit dem Festhalten an der Option Kernenergie doku- lebt haben, wie Menschen und Schweine gemeinsam mentiert die Bundesregierung ihren Unwillen, an den auf Mülldeponien nach Nahrung gesucht haben, bestehenden ineffizienten Strukturen des Energiesy- müßten darin Grund genug sehen, warum so viele stems grundsätzlich etwas zu ändern. Menschen in den Norden fliehen wollen. Welch ungeheure Kraftanstrengungen nötig sind, Der Kanzler sagt, es gehe darum, sowohl das eine zeigen allein schon die Erkenntnisse der Enquete- als auch das andere zu tun. Aber was passiert, wenn, Kommission „Schutz der Erdatmosphäre". Danach wie hier praktiziert, ein Weder-Noch aktuell ist. erfordert die bloße Stabilisierung — lediglich die Stabilisierung! — des globalen CO2-Gehaltes der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Erdatmosphäre in den nächsten Jahrzehnten eine Dann höre ich in der letzten Zeit unter Kollegen von Reduktion des CO2-Ausstoßes in der Bundesrepublik den Koalitionsparteien immer mehr Stimmen, die der bis zum Jahre 2050 auf ein Fünftel der heutigen Meinung sind, daß die Entwicklungs- und Schwellen- Menge. Ohne tiefgreifende strukturelle Veränderun- länder selber an den Umweltschäden mitschuldig gen von Produktions- und Konsumgewohnheiten sind. So sei das politische als auch das wirtschaftliche kann die Bundesrepublik Deutschland keinen ausrei- Management in den Entwicklungsländern inzwi- chenden Beitrag zur Abwehr des Klimakollapses schen durchaus in der Lage, seine Fehler zu erkennen, leisten. und damit befähigt, diese zu überwinden. So geht es kurzfristig vor allem um eine tiefgrei- Ich will nicht leugnen, daß eine korrupte und fende Wende in der Energie- und Verkehrspolitik. manchmal sogar kriminelle Mafia in den Dritte- Dort müssen wir in den Industriestaaten zuerst anset- Welt-Staaten bis zu 100 % der Entwicklungshilfe oder zen. Mittelfristig ist eine strukturelle Anpassung des Investitionen in die eigene Tasche verschwinden läßt. marktwirtschaftlichen Systems an die neuen Heraus- Das haben wir vor Ort erlebt. Aber ich bitte auch zu forderungen unumgänglich. Vorrangig in den Indu- bedenken, daß viele Entscheidungsträger in diesen striestaaten des Nordens heißt es vom ehernen Grund- Ländern das Fach Marktwirtschaft in den hochindu- satz des ungebremsten, undifferenzierten wirtschaftli- strialisierten Staaten des Nordens studiert haben. Sie chen Wachstums Abschied nehmen. Dabei bedarf das 7590 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Klaus-Dieter Feige Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der Bundesrepu- und auf einen Redner konzentriert. Ich habe das Herrn blik ebenso einer Neufassung, wie großangelegte Schulz vorher gesagt. Veränderungen des Steuersystems mit dem Ziel einer ökologischen Ausrichtung heute in die Wege geleitet (Bündnis 90/GRÜNE): Ich werden müssen. Dr. Klaus-Dieter Feige respektiere jetzt Ihre Worte. Ich bin allerdings völlig Die Größenordnung der notwendigen Veränderun- irritiert und frage mich, welchen Sinn es haben soll, gen für Wirtschaft und Gesellschaft verlangen jetzt ein daß ich zweimal zu demselben Thema hier nach vorne aufrüttelndes Signal. Aber die Regierung ist für ihre kommen muß und nicht im Zusammenhang etwas Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, inzwischen vortragen kann. Ich glaube, die Koalitionsparteien sattsam bekannt. Man denke da z. B. nur an die haben einfach Angst, daß das Bündnis 90/GRÜNE in Problematik der Berlin-Frage. Nicht umsonst tagen einer 20minütigen Rede mehr zu sagen hat als die wir heute hier. Nur ein deutliches Sofortprogramm ganze Koalition in Jahren. „Klimaschutz", das vor allem Energiesystem und Verkehrswesen umfaßt, gibt den dezentralen Akteu- (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ren — Unternehmen, Behörden, Verbänden und Bür- Ich verlasse das Podest unter Protest. gern — die psychologische Unterstützung, das eigene (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der Handeln offensiv zu befördern. PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der Wenn Frau Merkel am vergangenen Freitag als SPD) stellvertretende CDU-Vorsitzende gesagt hat, daß wir hinsichtlich des ökologischen Umbaus erst am Anfang Zur Geschäftsord- stehen, viel mehr am Anfang als am Ziel, dann frage Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: ich mich: Wer sitzt seit zehn Jahren in der Regierung? nung, Herr Schulz. Herr Baum — Sie hegen schon seit sechs Jahren (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wir sind Erwartungen —, auch Sie sitzen dort. Warum haben hier nicht auf einem Parteitag! Wieso denn Sie seit zehn Jahren bei einem Startschuß nicht jetzt zur Geschäftsordnung? — Weitere entscheidend mitgewirkt? Zurufe von der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: — Wozu möchten Sie sprechen, Herr Schulz? Wir haben auf Sie gewartet!) Für einige SPD-Länder gilt das natürlich genauso; Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Zur darüber müssen Sie selbst einmal nachdenken, meine Geschäftsordnung, Frau Präsidentin. Damen und Herren von der Opposition. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das geht Sie selbst, Frau Merkel, beklagen, daß Sie immer nicht!) den Eindruck haben, die Regierung schwimme gegen — Ich denke, daß die Geschäftsordnung des Deut- den Strom. Das ist der S trom der Vernunft, der schen Bundestages das hergibt, meine Damen und Bürgerbewegung, der Bürgerinitiativen, der Umwelt- Herren, bei all Ihrer Entrüstung, die Sie hier zeigen. bewegung. Sie müssen einfach umkehren; dann wer- den Sie das Gefühl, gegen den Strom zu schwimmen, (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der los. Dann passiert tatsächlich etwas in diesem Land. SPD und der PDS/Linke Liste) Liest man sich die Anträge der CDU/CSU-Fraktion Frau Präsidentin, bei allem Respekt für Ihr Amt und und der F.D.P.-Fraktion im Bundestag zur UN-Konfe- im Bewußtsein, daß diese wichtige Sachdebatte hier renz für Umwelt und Entwicklung durch, könnte man unterbrochen wird: Ich bin der Auffassung, daß es angesichts der Borniertheit mancher Politiker aus der kein Agreement gibt, das die Auslegung erlaubt, daß Haut fahren. Ich lese in einem Antrag der Koalition zur es den Gruppen nicht zusteht, ihre Redezeit zu ver- UNCED u. a. die Forderung nach einem Ende des binden. Die Parlamentarischen Geschäftsführer ha- Raubbaus an den Tropenwäldern, und nur Minuten ben eine Debattenzeit von vier Stunden vereinbart. später lehnt dieselbe Koalition einen Antrag ab, der Der Gruppe Bündnis 90 stehen 20 Minuten zu. Wir den Import von Edelhölzern aus Primärtropenwäldern haben entschieden, daß ein Redner diese Zeit in in die Bundesrepublik stoppen soll. Meine Damen und Anspruch nimmt und daß sie nicht auf mehrere Herren, ich weiß nicht, wie man Doppelmoral anders Personen gesplittet wird. definieren soll. Eine Regelung dazu steht aus, insbesondere im Hinblick auf Fernsehübertragungen. Wir haben Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Feige, schwere verfassungsrechtliche Bedenken angemel- kommen Sie bitte zum Schluß. det. Deswegen gab es im Altestenrat noch keine Entscheidung dazu. Wir sind auch bereit, das vor dem Verfassungsgericht klären zu lassen. Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Präsidentin, stehen mir entsprechend der Geschäfts- Ich denke nur, daß diese wichtige Debatte nicht ordnung nicht 20 Minuten Redezeit zur Verfügung? dazu geeignet ist, an dieser Stelle eine Geschäftsord- nungsdebatte zu führen. Ich beantrage deswegen nach § 127 der Geschäftsordnung eine Unterbre- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zehn Minuten. Wir können die Redezeit nicht blocken. Das ist im Alte- chung und die Einberufung des Geschäftsordnungs- stenrat besprochen, wenn auch nicht endgültig ent- ausschusses zur Klärung der Frage des Splittings von schieden worden. Ich muß aber sagen: Die Rednerab- Redezeiten. folge und die Redezeiten sind völlig ungerecht ver- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der teilt, wenn eine Gruppe die gesamte Rednerzeit blockt SPD und der PDS/Linke Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7591

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Schulz, ich gramme umgesetzt worden, an denen jetzt gearbeitet möchte Ihnen antworten: Nach § 28 unserer Ge- wird. Das macht auch das Problem Tropenwald deut- schäftsordnung — dies ist ist auch im Ältestenrat lich, wo wir gehandelt und andere nur geredet unbestritten gewesen — liegt der Entscheid über die haben. Rednerabfolge und gerade in diesem Punkt — das war (Beifall bei der CDU/CSU) sogar Vorgabe für den Geschäftsordnungsaus- schuß — bei den jeweils amtierenden Präsidenten. Ich will damit ganz deutlich sagen: Dieser Bundes- Von daher kann ich Ihren Antrag nicht annehmen. kanzler behandelt Umweltfragen über das Tagesge- Vielmehr bin ich der Auffassung, dieses Thema ist im schäft hinaus mit einer Zukunftsorientierung, die Ältestenrat noch einmal zu beraten. ihresgleichen sucht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Davon war Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Klaus hier nichts zu hören!) Lippold. Ich glaube auch, daß wir die globalen Umweltpro- (Detlev von Larcher [SPD]: Das gibt es doch bleme nicht nur als Tagesgeschäft behandeln können, nicht! — Bernd Reuter [SPD]: Es war doch ein sondern daß wir darüber hinaus ein Leitbild und eine Antrag zur Geschäftsordnung gestellt!) Vision einer friedvollen, die Menschenrechte verwirk- — Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, daß wir im lichenden einen Welt brauchen, in der Nord und Süd Ältestenrat ausdrücklich den Entscheid in dieser keine Gegensätze mehr sind. Wir brauchen das Leit- Frage den amtierenden Präsidenten überlassen bild einer umweltorientierten, die Zukunft der nach- haben. Wenn Sie den Antrag zur Geschäftsordnung folgenden Generationen sichernden Entwicklung, auf diesen Punkt beziehen, dann ist der Geschäftsord- einer Entwicklung, in der menschenwürdiges Leben nungsausschuß jetzt nicht einzuberufen. und Umwelterhaltung kein Gegensatz sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Selbst in früheren Verlautbarungen wesentlicher Institutionen, die das Denken vieler geprägt haben, wie des Club of Rome, ist deutlich geworden, daß es hier Möglichkeiten gibt und daß es Hoffnung gibt, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Frau einen ökologischen und wirtschaftlichen Gleichge- Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! wichtszustand herbeizuführen — ich darf zitieren, Zunächst wollte ich ein Wort an Herrn Kollegen Feige Frau Präsidentin —, richten, der aber bedauerlicherweise nicht mehr im Saal ist. Dann wollte ich ein Wort an Herrn Kollegen der auch in weiterer Zukunft aufrechterhalten Schäfer richten, der aber leider ebenfalls nicht mehr werden kann. Er könnte so erreicht werden, im Saal ist. — so der Club of Rome — Ich sage es einmal so: Ich bedauere eigentlich, daß daß die materiellen Lebensgrundlagen für jeden Kollege Schäfer wider besseres Wissen hier behauptet Menschen auf der Erde sichergestellt sind und hat, die Bundesregierung und insbesondere der Bun- noch immer Spielraum bleibt, individuelle deskanzler seien gerade in den globalen Umweltfra- menschliche Fähigkeiten zu nutzen und persönli- gen nicht initiativ geworden. Sie alle wissen — Herr che Ziele zu erreichen. Hauchler, auch Sie —, daß diese Position falsch ist. Ob es die G 7 sind, ob es die OECD ist, ob es die EG ist — Ich finde auch, daß wir uns auf Global 2000 zurück- in alle Gremien hat gerade dieser Bundeskanzler die besinnen müssen, wo schon vor vielen Jahren in entsprechenden Probleme hineingetragen; er hat sie - bezug auf Umweltschutz und auf die Sicherung der erstmals dort auf dieser Ebene problematisiert und hat Ressourcen gesagt worden ist: dafür gesorgt, daß sie Gegenstand der Tagesordnung Es muß eine neue Ära der Zusammenarbeit und werden und daß sie jetzt auch weltweit wirklich der gegenseitigen Verpflichtung beginnen. Gesprächsthema sind und aus den weltweiten Ich unterstreiche den nachfolgenden Satz ganz beson- Gesprächsthemen nicht mehr wegzudenken sind. ders: (Beifall bei der CDU/CSU) Aber es gibt Möglichkeiten — und gute (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) Gründe — dafür, daß die USA unter den verschie- Ich muß eines hinzufügen: Genauso falsch war denen Nationen hierbei die Führung überneh- — ich sage dies aus Kenntnis der Sache — die Äuße- men. rung, daß die Bundesregierung die Empfehlungen der Ich würde in der heutigen Situation diesen Satz von Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Global 2000 noch einmal ganz deutlich herausheben Erdatmosphäre" nicht aufgegriffen habe. Ich glaube und unterstreichen wollen. — ich knüpfe an den Kollegen Schmidbauer an —, Wir stehen mit unserer heutigen Diskussion sicher- daß es selten eine so schnelle Umsetzung von Emp- lich auch gut in der Tradition des Brundtland-Berichts fehlungen einer Enquete-Kommission oder eines Gre- und sollten uns die Mahnungen, die dort geäußert miums in konkrete Handlungen einer Bundesregie- werden, durchaus zu Herzen nehmen. Ich zitiere aus rung gegeben hat, wie dies bei den Empfehlungen der dem Brundtland-Bericht: Enquete-Kommission und den Verlautbarungen der Bundesregierung geschehen ist. Nahezu übergangs- Das jetzige Jahrzehnt ist dadurch gekennzeich los sind die Empfehlungen der Enquete-Kommission net, daß man sich von sozialen Problemen zurück in Regierungserklärungen und in entsprechende Pro- zieht. Die Wissenschaftler machen uns die drin- 7592 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) genden komplexen Probleme bewußt, die unser bar wichtig ist, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Überleben belasten: die Erwärmung des Globus, ansonsten die Folgen, die eine Klimakatastrophe nach die Bedrohungen für die Ozonschicht der Erde, sich zieht — Stürme und andere Naturkatastrophen — die Verwüstung von landwirtschaftlichem Boden. und die wir jetzt an Hand von immer aussagekräftige- Wir reagieren darauf, indem wir mehr Einzelhei- ren Zahlen belegen können, immer deutlicher spürbar ten fordern und indem wir die Probleme an werden. Institutionen weitergeben, die schlecht mit ihnen Ich will ganz deutlich machen, daß für uns in der fertigwerden können. Umweltzerstörung, zuerst Enquete-Kommission wichtig ist, daß ein Schritt hauptsächlich als ein Problem der reichen Länder geschafft wird, mit dem erreicht werden kann, daß angesehen und als ein Nebeneffekt von industri- sowohl die reichen Länder des Nordens als auch die ellem Wohlstand, ist zu einer Überlebensfrage für armen Länder des Südens an einen Tisch gebracht die Entwicklungsländer geworden. Sie ist Teil der werden können. Ich meine, wir müssen von einer Abwärtsspirale von ökologischem und wirtschaft- differenzierten Verantwortung ausgehen, die insbe- lichem Verfall. sondere die nördlichen Länder trifft. Aber ohne Ein- Ich glaube, gerade dies macht deutlich, daß wir uns beziehung der südlichen Entwicklungsländer wird der Frage in einer anderen Form stellen müssen, als eine Problemlösung nicht möglich sein. Die Emissio- dies früher der Fall war. Es geht heute nicht mehr nen der südlichen Entwicklungsländer werden schon damm, immer noch neue Gutachten anzufordern, in wenigen Jahren die Emissionen der nördlichen neue Stellungnahmen einzufordern, sondern es geht Länder übersteigen. Wenn wir nicht heute gemein- darum, entsprechend dem Kenntnisstand, den wir schaftlich ins Boot gehen, dann werden wir keine jetzt haben, endgültig und wissenschaftlich gesichert Lösung in dieser Frage herbeiführen. zu handeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die alte Enquete-Kommission hat Empfehlungen Wir müssen dafür — ich sage das ganz deutlich — abgegeben, wie das Problem des Klimaeffekts bewäl- auch Geld in die Hand nehmen. Die Bundesrepublik tigt werden könnte. Ich sage auch hier und heute: Zu hat dies in der vergangenen Zeit getan. Ich freue mich den Vorgaben, die wir damals erarbeitet haben, darüber, daß der Bundeskanzler heute erneut in müssen wir stehen. Sie sind wissenschaftlich begrün- Aussicht gestellt hat, daß die Global Environmental det. Die zweite Enquete hat es insbesondere als ihren Facilities deutlich angehoben werden. Ich sage: Auftrag verstanden, sich mit Zweifeln an der wissen- Damit setzen wir ein internationales Zeichen, von dem schaftlichen Glaubwürdigkeit dieser Aussagen aus- ich hoffe, daß es Schule machen wird. Dies ist ein einanderzusetzen. Dies ist notwendig, weil nicht nur erster Schritt zur Finanzierung, den wir dringend in der politischen Diskussion, sondern auch in der brauchen. Ich sage deutlich: ein erster Schritt. wirtschaftlichen Diskussion angebliche Zweifel erho- ben werden, um politisches Handeln zurückzustel- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Lip- len. pold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ich sage hier noch einmal ganz deutlich: Wir haben Faltlhauser? nicht nur erste Hinweise, sondern wir haben auch deutlich gesicherte Erkenntnisse, daß menschliches Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Aus- Verhalten, menschliches Handeln für den Klimaeffekt gesprochen gerne. verantwortlich ist und daß wir ohne eine Änderung unseres Tuns in eine globale Katastrophe hineinlau- Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Kollege Lip- fen. Ich glaube, vor diesem Hintergrund wird deutlich, pold, Sie haben von dort oben einen etwas besseren - daß der UNCED-Konferenz mehr Bedeutung als frü- Überblick über diesen doch sehr großen Saal als ich. heren Konferenzen zukommt; der Bundeskanzler hat Wir diskutieren ja heute über die gewichtige Frage darauf hingewiesen. des globalen Umweltschutzes. Können Sie bestätigen — ich kann es von hier unten nur erahnen —, daß das Ich möchte aber auch nicht, daß wir UNCED jetzt Bündnis 90, das sich dieser Thematik ja besonders zerreden. Ich glaube vielmehr, daß es wichtig ist, angenommen hat, überhaupt nicht im Saal vertreten einen konstruktiven Beitrag zur Erfüllung des Auf- ist? trags zu leisten, den wir uns gestellt haben, nämlich die Entwicklung auf diesem Gebiet voranzutreiben. Ich glaube, daß es — auch für die Enquete — wichtig Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr war, noch einmal deutlich zu machen, daß das alte Kollege Faltlhauser, ich bedauere dies ganz außeror- Ziel, das wir uns gesetzt hatten, nämlich konkrete dentlich, denn ich meine, daß eine Geschäftsord- Klimakonventionen mit konkreten Reduktionsver- nungsfrage dieser Größenordnung kein Anlaß ist, sich pflichtungen zu verbinden, auf Grund der weltweiten an einer Debatte von solcher Bedeutung nicht zu Situation trotz aller Vorstöße, die wir gemeinsam beteiligen. unternommen haben, bedauerlicherweise nicht er- (Beifall bei der CDU/CSU) reichbar ist. Ich möche das aber auch zum Anlaß nehmen, Es ist deshalb als eine Second-best-Strategie anzu- deutlich zu sagen, daß es sehr gut wäre, wenn viele, sehen, wenn wir jetzt wenigstens erreichen, daß der die über die Empfehlung und die Gutachten der Einstieg in das Verfahren zur Problemlösung so gere- Enquete-Kommission reden, sie vorher auch gelesen gelt wird, daß wir umgehend zu den Entscheidungen hätten. Denn das würde uns den Prozeß der Diskus- kommen können, die wir bedauerlicherweise nicht sion ganz nachhaltig vereinfachen. sofort treffen können. Ich glaube, daß dies unabding (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7593

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen internationalen Widerständen gescheitert. Ich be- Sie mich deutlich machen, daß ich über die Bereitstel- trachte die Walddeklaration lediglich als einen Ansatz lung von Mitteln in den GEF hinaus nachdrücklich die zum Weiterdenken, zum Weiterentwickeln und zur Position unterstützte, die vom Bundeskanzler eben- weiteren Arbeit. Den Schutzgedanken, den wir mit falls angesprochen wurde — ich sage das ganz deut- der Konvention verbunden haben, scheint sie uns lich, weil es vorhin falsch dargestellt wurde —: daß wir nicht zu sichern. weitere Mittel in den Schuldenerlaß von Ländern Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen nach gezielten, ausgewählten Kriterien investieren Sie mich mit dem Appell an alle schließen, in bestimm- werden und daß wir das tun werden, um im Gegenzug ten Fragen, die von derart grundsätzlicher Bedeutung Umweltschutzpolitik und Umweltschutzmaßnahmen sind wie die globalen Umweltprobleme, auf kleinliche einzufordern. Parteilichkeit zu verzichten, das Gemeinsame heraus- Ich verbinde diese Aussage aber auch damit — hier zustellen und zu sehen, daß wir in den internationalen bleibe ich in der Kontinuität meiner früheren Aussa- Gremien gemeinschaftlich auf die Ziele hinarbeiten, gen —, daß nur zusätzliches und frisches Geld letzt- von denen ich nach wie vor glaube, daß wir sie endlich zu einer Problemlösung beiträgt, nicht allein gemeinschaftlich vertreten. Lassen Sie mich das mit der Erlaß von Schulden. Auch dafür — Herr Kollege, einem Appell an die gesellschaftlichen Gruppen ver- Sie brauchen das nicht anzumahnen — habe ich mich binden, an die Nichtregierungsorganisationen, die ausgesprochen, spreche ich mich aus und werde mich von uns vielfach die internationale Durchsetzung von auch in Zukunft aussprechen, weil ich das für nötig Politik einfordern, von denen ich aber in wesentlich halte. Wir müssen darüber hinaus den Prozeß der stärkerem Umfang sehen möchte, daß sie in ihren technologischen Kooperation mit all seinen Proble- internationalen Gremien, auf ihren internationalen men lösen, weil auf diesem Feld zwar vieles gesagt, Konferenzen in gleicher Weise deutsche Umwelt- aber bislang nur wenig eingeleitet ist. Das ist auch schutzstandards und deutsche Vorstellungen zur Kli- eine Frage internationaler Konferenzen. Ich hoffe, daß mapolitik vertreten, und zwar nicht in einer oberleh- wir auch hier zu einer Lösung kommen werden. rerhaften Manier, aber doch in einer Form, daß deutlich wird: Das ist ein Problem, das uns am Herzen Wenn wir jetzt sehen, was in den Vorbereitungs- liegt, bei dem wir durch eigene Leistung zeigen, daß gesprächen für die Konferenz in Rio erreicht worden wir nicht nur darüber reden, sondern zu gemeinschaft- ist, auf der einen Seite in den INC-Verhandlungen, auf lichen Lösungen kommen wollen — für die zukünfti- der anderen Seite im PrepCom-Bereich, dann muß gen Generationen. man sagen, daß eine Klimakonvention mit einem Herzlichen Dank. Stabilisierungsziel, wie sie vorgelegt wird, völker- rechtlich wohl nicht verbindlich, von mir allenfalls als (Beifall bei der CDU/CSU) ein erster Schritt gewertet wird, als ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber es wäre natürlich schon Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort gut, wenn im Sinne dessen, was ich vorhin über die der Kollege Professor Dr. Ingomar Hauchler. Arbeit der Enquete-Kommission gesagt habe, sehr deutlich wird, daß der Follow - up - Prozeß kommt. (SPD): Frau Präsidentin! Auch dazu — das habe ich mir sagen lassen, und ich Dr. Ingomar Hauchler Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube bitte den Umweltminister, das deutlicher auszufüh- nicht, daß der Bundeskanzler, trotz seiner guten und ren — gibt es Überlegungen zu einem Direktstart, gibt schönen Worte und seiner Beschwörungsformeln, es Überlegungen zu einem Follow up. Ich würde es wirklich erkannt hat, wie dramatisch die Lage ist, die begrüßen, Herr Umweltminister, wenn das in der Realität so wäre, wenn wir dieses Follow up umge- auf uns mit einer globalen Umweltkatastrophe zukommt. Er hat schöne Worte gefunden. Er hat von hend konkretisieren könnten und wenn unsere Poli- der drängenden Rolle unseres Landes gesprochen, tik, getragen durch alle hier in diesem Hause das mit vom Schicksal der Menschheit, von vitalen Interessen, vorantreiben würde. von Verteilungskämpfen, die drohen, und von der Ich darf in diesem Zusammenhang sagen, daß es gleichberechtigten Partnerschaft. Beschwörungsfor- mich sehr gefreut hat, daß wir auch den letzten Bericht meln, vielleicht Verschleierungsformeln, die den der Enquete-Kommission einstimmig verabschieden Menschen im Lande Sand in die Augen streuen konnten. Ich glaube, daß so fundamentale Fragen, sollen. Fragen der globalen Klimaproblematik, Fragen der Ich denke, daß wir heute zuwenig darüber gehört Artenerhaltung und des Artenschutzes, aber genauso haben, welche Instrumente wir einsetzen, um die auch Fragen des Tropenwaldes, um die es hier geht, Ziele, die hier genannt worden sind, wirklich errei- eine gemeinschaftliche Vorgehensweise verdienen. chen zu können. Ich gebe allerdings zu, daß Herr Wenn Sie dazu noch etwas sagen könnten, Herr Lippold — und das freut mich — doch einige — we- Umweltminister, wäre ich Ihnen ausgesprochen dank- nigstens einige — selbstkritische Worte gefunden bar. Denn von diesem Follow up hängt es ab, wie das hat. Ganze zu bewerten ist. Meine Damen und Herren, die Vorzeichen für Rio Nicht zufrieden bin ich darüber — ich sage das verheißen leider nichts Gutes. In den Zeitungen ist deutlich —, daß eine Waldkonvention nicht zustande schon von einem „Festival der Heuchelei" und einem kommt. Wir sind ursprünglich davon ausgegangen, „Treffpunkt der Öko-Lügner" die Rede. Und doch daß eine Konvention zum Schutz des Tropenwaldes müßte die internationale Staatengemeinschaft späte- das Vernünftigste wäre, und haben gesagt: Wenig- stens in Rio alle Kräfte mobilisieren, um eine globale stens das ist unter Umständen durchsetzbar. Es ist an Umweltkatastrophe zu verhindern. Spätestens in Rio 7594 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Ingomar Hauchler müßte begonnen werden, den tödlichen Kreislauf von wirtschaftliche und die politische Macht besitzt, um Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstö- die Weichen der globalen Entwicklung wirklich neu rung zu durchbrechen. Spätestens in Rio müßten zu stellen. Der Philosoph Hans Jonas hat eindringlich einschneidende Maßnahmen — einschneidende darauf hingewiesen. Maßnahmen! — vereinbart werden, um den exzessi- ven Ressourcenverbrauch, des Nordens vor allem, Die Produktionskraft des Nordens übersteigt jene zurückzufahren. des Südens und des Ostens um ein Vielfaches. Das Sozialprodukt Deutschlands etwa beläuft sich bei Doch, wie gesagt, die Zeichen stehen nicht günstig. 80 Millionen Einwohnern auf 2 600 Milliarden DM, Der Norden fordert vom Süden, daß der Regenwald jenes von China beträgt 700 Milliarden DM, — also endlich geschützt wird; der Süden fordert vom Nor- ein Viertel — bei 1,2 Milliarden Menschen! Bedarf es den, daß er seinen Energieverbrauch drastisch senkt eines klareren Beweises dafür, daß die ökonomischen und mithilft, dem Süden bei der Finanzierung des Spielräume für politische Zukunftsgestaltung weit Umweltschutzes zu helfen. Wie lange nicht mehr in eher im Norden als im Süden liegen? 20 Jahren verdichten sich die Spannungen zwischen Nord und Süd im Vorfeld dieser Konferenz. Und es (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten droht eine offene Konfrontation. der PDS/Linke Liste) Ich denke, wenn es so weitergeht mit den faulen Dies gilt nicht nur für Finanzen und Wirtschafts- Kompromissen und den gegenseitigen Schuldzuwei- kraft, sondern auch für deren Voraussetzungen: näm- sungen, dann drohen neue Verteilungskämpfe à la lich Bildung, Wissenschaft und Technik. Dies gilt auch Nahost, à la Golf-Krieg. Ich denke, wir sollten endlich für die Fähigkeit, sich in der Weltwirtschaft zu einsichtig sein und zeitig Geld in die Hand nehmen, behaupten und Einfluß auf sie zu nehmen. zeitig Strukturen verändern, bevor uns solche Vertei- lungskriege aus Armuts- oder Umweltgründen dro- Eine fast überwältigende Macht hat der Norden für hen. die Bildung des globalen Bewußtseins. Über ein weltweites Oligopol von Nachrichtenagenturen, Zei- (Beifall bei der SPD) tungen, Rundfunk und Fernsehen steuert der Norden Wenn die Konferenz in Rio scheitert, wird es erneut Wünsche, Erwartungen und Verhaltensweisen bis in Jahre brauchen, bis ein neuer Anlauf gemacht werden die letzten Winkel der Welt. kann, um wirksame internationale Konventionen Schuld und Macht konstituieren also die besondere abzuschließen. Die Bundesrepublik, der Bundeskanz- Verantwortung des Nordens für die globale Entwick- ler, sollte nun in buchstäblich letzter Minute noch eine lung. Aus dieser Verantwortung erwächst nicht nur Initiative ergreifen, damit es in Rio, notfalls auch ohne eine moralische Verpflichtung der Reichen — und der die USA, doch noch zu einem substantiellen Angebot vergleichsweise Reichen — mit den Armen zu teilen der Industrieländer kommt; denn der reiche Norden und die globalen Lebensgrundlagen zu erhalten. Der wird vom armen Süden nur dann ein ökologisches Norden muß auch im eigenen Interesse endlich han- Umsteuern erwarten können, wenn er beweist — und deln, um die Ursachen wachsender Wanderung, nicht nur redet —, daß er das selbst will und kann. Bevölkerungsexplosion und Klimaveränderung zu Natürlich müssen auch der Süden und der Osten bekämpfen. umdenken. Neben Menschenrechten und Rechtssi- cherheit gehören sicher die Bekämpfung absoluter (Beifall bei der SPD) Armut, ein verstärkter Umweltschutz, die Dämpfung Auch wenn wir jetzt in Deutschland in eine wirklich des Bevölkerungswachstums und eine ökologische schwere See geraten sind, müssen wir begreifen, daß Wirtschaftspolitik künftig zu den Kriterien einer ver- wir aus dieser globalen Verantwortung nicht — auch stärkten entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. nicht zeitweilig — einfach aussteigen können, weil Doch im Norden liegt der eigentliche Schlüssel zur wir jetzt vermeintlich Wichtigeres, weil Näherliegen- Bewältigung des Problems. Die besondere Verant- des, zu tun haben. Was hat größere Priorität, als diese wortung des Nordens liegt zum einen darin begrün- Erde gemeinsam lebensfähig zu erhalten und für det, daß die globalen Risiken und Fehlentwicklungen unsere Kinder das Erbe zu bewahren, das unsere stärker vom Norden als vom Süden verursacht sind. Er Vorfahren in Tausenden von Jahren aufgebaut und ist in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker uns hinterlassen haben? Wir drohen diese Erde, deren zum Hauptverursacher globaler Umweltzerstörung Kultur in Tausenden von Jahren aufgebaut worden ist, geworden. Mit 20 % der Weltbevölkerung bean- in wenigen Jahrzehnten zu zerstören. Wir müssen also sprucht der Norden 80 % der Weltressourcen und handeln. Hier sind vor allem vier Aufgaben dring- emittiert den weit überwiegenden Teil des klimage- lich. fährdenden Kohlendioxids. Er kann sich auch von Erstens. Der globale Ressourcentransfer muß in einer Mitschuld an der Armut des Südens nicht sein Gegenteil verkehrt werden. Seit Jahrhunderten freisprechen. Nicht nur in den 500 Jahren Kolonialis- fließen die Ressourcen — durch die Gewalt der Waffen mus wurde der Süden vom Norden ausgebeutet und und durch ungleichen Tausch — vom Süden zum an einer eigenständigen Entwicklung gehindert. Dies Norden. Wenn es nicht bald gelingt, diesen Transfer geschieht ja bis heute. In den letzten Jahren flossen umzukehren, kann es nicht gelingen, im Süden die jährlich 50 Milliarden Dollar mehr vom Süden zum krasse Armut zu bekämpfen, die wachsende Umwelt- Norden als vom Norden zum Süden. zerstörung, die dort zunehmend die Folge der Armut Die besondere Verantwortung des Nordens ergibt ist, zu beseitigen und die Bevölkerungsexplosion sich zum anderen daraus, daß nur der Norden die wenigstens einzudämmen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7595

Dr. Ingomar Hauchler Wenn jetzt geplant ist, 1 Milliarde DM oder 2 Milli- Entwicklungsländern eine finanzielle Kompensation arden DM für eine Umweltfazilität der Weltbank neu dafür bieten, daß diese auf den möglichen kurzfristi- zu schaffen, so muß man diese Zahl mit der Summe gen Nutzen aus Umweltzerstörung, den wir uns jahr- vergleichen, von der die Weltbank sagt, daß sie zehntelang, jahrhundertelang geleistet haben, ver- notwendig wäre, nämlich 75 Milliarden DM. Das ist zichten. Nur wenn der Norden beweist, daß er sein im letzten Weltentwicklungsbericht nachzulesen. Verhalten wirklich ändert und die Kosten des globa- len Umweltschutzes mit übernimmt, wird er den Am direkten Transfer von Kapital und Technologie Süden und den Osten dazu bewegen können, schon hängt jedoch nicht alles. Genauso wichtig und viel- heute — also wesentlich früher als die Industrielän- leicht noch wichtiger ist es, daß die weltwirtschaftli- der — auf ein ökologisch verträgliches Wachstum nicht länger den Süden benachteili- chen Strukturen überzugehen. Wir brauchen eine konzertierte Aktion gen. Ohne eine entscheidende Verbesserung der von Industrie, Verbrauchern und Staat, um die Wei- Terms of Trade, ohne stabilere Zinsen auf niedrigerem chen in unserem eigenen Land neu zu stellen. Niveau, ohne eine gezielte Senkung des Schulden- dienstes und ohne den Abbau des Protektionismus (Beifall bei der SPD) greifen alle Transfers und auch die Eigenanstrengun- Die besondere Verantwortung des Nordens für die gen der Entwicklungsländer, die notwendig sind, globale Entwicklung rechtfertigt es, ja macht es zwin- einfach zu kurz. gend, daß die reichen Industrieländer endlich wirkli-

Zweitens. Das internationale Wirtschafts - und che Vorleistungen erbringen und vor allem das Finanzsystem muß reformiert werden. Dazu gehört Tempo einer umfassenden ökologischen Umsteue-

die Weiterentwicklung des GATT - Systems zu einer rung radikal beschleunigen. echten internationalen Handelsorganisation. Damit Aber dies ist undenkbar, wenn wir nicht unseren soll erreicht werden, daß neben einer grundlegenden eigenen Stil von Leben und Produzieren ändern. Das Liberalisierung der Handelsbeziehungen weltweit setzt jedoch voraus, daß wir unseren bisherigen ökologische Mindeststandards gesetzt werden, daß Begriff von Fortschritt und Entwicklung, vielleicht junge Industrien im Osten und im Süden eine Aufbau- auch unsere Vorstellungen von dem, was Glück ist, chance erhalten, daß vor allem regionale Wirtschafts- hinterfragen und unser westliches Wirtschaftsmodell räume begünstigt werden und daß sich auch die einer grundlegenden Revision unterziehen. starken Länder einer handelspolitischen Disziplin unterwerfen müssen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der SPD) Oder geht gar nichts mehr? Sind wir Menschen doch wie Lemminge, die unaufhaltsam auf den Abgrund Weltwirtschaftliche Reformen müssen auch verhin- zumarschieren? dern, daß ein ganzer Kontinent — Afrika — zum weißen Fleck wirtschaftlicher Investitionen wird und Vielen Dank. dort die armutsbedingte Umweltzerstörung unauf- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke haltsam weiter und weiter Wälder und Böden und Liste) Wasser vernichtet. Drittens. Der Norden hat zu beweisen, daß er selber zur Strukturanpassung fähig ist. Industrieländer müs- Das Wort hat der sen im eigenen Haus Produktion, Arbeit und Ver- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Minister für Umwelt, Energie und Bundesangelegen- brauch so umschichten, daß eine ökologisch verträg- heiten des Landes Hessen, Herr Joseph Fischer. liche Entwicklung gefördert und wirtschaftlich und sozial schädliche Besitzstände und Konsumgewohn- heiten abgebaut werden. Wie können wir von den ärmsten Ländern der Welt fordern, daß sie ihre Ver- Minister Joseph Fischer (Hessen): Frau Präsidentin! schuldung senken und sich harten Maßnahmen der Meine Damen und Herren! Der Weltbevölkerungsbe- Strukturanpassung unterwerfen, wenn wir, die rei- richt der UN von 1992 beschreibt die gegenwärtige chen Industrieländer, das Staatsdefizit explodieren Situation wie folgt: lassen und unfähig sind, nicht wettbewerbsfähige Teile der Landwirtschaft und der Industrie umzustruk- Es wird erforderlich sein, die Lebensumstände turieren! von über 1 Milliarde Menschen zu verbessern, die in absoluter Armut leben. Auch die Erwartun- (Beifall bei der SPD — Ingrid Matthäus- gen der 3 Milliarden, die weder reich noch sehr Maier [SPD]: Genau! Schuldenkanzler!) arm sind, sind berechtigt und wollen erfüllt sein. Gerade zynisch ist es jedoch, wenn wir Länder wie Die Kosten für eine ausgewogene Entwicklung China und Indien zum Verzicht auf Milliarden zusätz- dürfen wir jedoch nicht in dem Maß wie bisher licher Autos — was ja den ökologischen Kollaps unserer Umwelt aufbürden. Sollen Schritte vor- bedeuten würde — bewegen wollen, selber aber wei- wärts getan und diese Ziele erreicht werden, so ter auf absoluter Bequemlichkeit, unbegrenzter Kon- muß die Weltbevölkerung langsamer wachsen sumwahl und totaler Mobilität bestehen. und muß sich dieses Wachstum regional gleich- mäßiger auf die Erde verteilen. Viertens. Der Norden muß die von ihm selber verursachten Umweltbelastungen schneller und kon- Das ist keine Kleinigkeit, was hier im Weltbevölke- sequenter verringern, den Ausstoß von Kohlendioxid rungsbericht in lapidaren Worten als Zielvorgabe und und den Verbrauch von Rohstoffen drastisch reduzie- gleichzeitig als Problembeschreibung der aktuellen ren, die Verschmutzung der Meere stoppen und den globalen Situation vorgelegt wurde. 7596 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Minister Joseph Fischer (Hessen) Wenn man das einmal durchdenkt — der Bundes- politischen Alltag der Bundesrepublik Deutschland kanzler hat in seiner Regierungserklärung heute mor- übersetzt? Man hat das Gefühl, daß mit dem Quadrat gen einen beeindruckenden Versuch gemacht, das zu der Entfernung vom Regierungssitz in Bonn die Radi- durchdenken und die Konsequenzen in seiner druck- kalität der ökologischen Äußerungen zunimmt. vollen Regierungserklärung, die er hier vorgetragen (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der hat, aufzuzeigen —, dann wird man ihm an einem PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/ entscheidenden Punkt widersprechen müssen. Der GRÜNE) Bundeskanzler kam zu einem entschiedenen Sowohl- Als-auch: Er sprach sowohl von der Fortentwicklung Insofern fand ich den Hinweis darauf, Herrn Krause des Industriestandorts Deutschland als auch von mit einem chinesischen Nachnamen zu versehen und einer gerechteren Verteilung der Ressourcen dieser als Verkehrsminister in Peking oder auch nur als Welt. Die Antwort auf die Frage, wie das zusammen- regionalen Verkehrsminister in Südchina zu denken gehen soll, ist er allerdings schuldig geblieben. Ich oder sich vorzustellen, Herr Krause habe als Gouver- befürchte, er macht denselben Fehler wie den im neur in Brasilien in einem Amazonas-Staat das Sagen, Zusammenhang mit der Einheit nochmals: indem er ganz interessant. Dann wird es konkret, meine Damen über die realen Kosten, die eine solche tiefgehende und Herren. Dann wird man sehr schnell feststellen, Umorientierung der globalen Weltwirtschaft mit sich wie sich die Sprüche unterscheiden. bringt, die auch eine Neuverteilung der ökonomi- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der schen, der sozialen Gewichte bedeuten wird, PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/ schweigt. Dazu hat der Bundeskanzler heute nichts GRÜNE) gesagt. Es gäbe dann sicher jede Menge Raststätten, aber in Deswegen, meine Damen und Herren, ist es wich- Sachen Ökologie wäre da nicht mehr allzuviel zu tig, daß man diese Probleme noch einmal aufgreift. holen. Die ökologische Krise, die heute alle benannt haben, ist doch im wesentlichen das Resultat von industriel- Wenn man diesen Punkt weiter durchdenkt, dann lem Wachstum. Sie ist gleichzeitig das Resultat eines muß man sich, Herr Bundeskanzler, die Frage stellen sozialen Problems. In der Dritten Welt verschränkt — und sie als Bundeskanzler beantworten —: Wie soll sich die ökologische Frage dramatisch mit der sozia- es denn funktionieren? Die reichen Industrieländer, len. Und wer über diese soziale Frage und über die 20 bis 25 % der Weltbevölkerung — Sie haben zu Ungerechtigkeit der Weltwirtschaft schweigt, wird Recht darauf hingewiesen —, verursachen 80% der eines nicht allzu fernen Tages auch auf den reichen gegenwärtigen Umweltkrise. Drei Viertel der Wohlstandsinseln von den ökologischen Folgen ein- Menschheit haben an dieser globalen Krise noch gar geholt werden. nicht Anteil gehabt. Die fordern nun ihren Anteil ein. Wo soll denn dieses zusätzliche — auch notwen- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dige — quantitative Wachstum herkommen, wenn wir dem Bündnis 90/GRÜNE) hier nicht dramatische Schritte der Umverteilung und Deswegen hätte es dem Bundeskanzler vor seiner des ökologischen Umbaus machen? historischen Reise nach Rio gut angestanden, wenn er (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und den Fehler im Zusammenhang mit der Einheit nicht dem Bündnis 90/GRÜNE) wiederholt hätte, wenn er den Menschen in den reichen Industrieländern reinen Wein einschenken Da muß man meines Erachtens Klartext reden, was und sagen würde, daß er seine Position entweder nicht Ressourcenverbrauch bedeutet. ernst meint — dann bleibt es Rhetorik; denn wir Ich sage Ihnen als Umweltpolitiker — das hat jetzt werden beides nicht finanzieren können: weitere mit Parteipolitik überhaupt nichts zu tun; das geht Zuwächse hier, zusätzlichen Umweltschutz und dann Umweltpolitikern generell so —: Wir können mit ord- noch ein Aufholen der Schwellenländer und der nungspolitischen Maßnahmen, mit Umweltpolitik Dritte-Welt-Länder: mit demselben Motorisierungs- nicht einholen, was wir auf der Seite des Ressourcen- grad, demselben Energienutzungsgrad, demselben verbrauchs, an dem wir alle teilhaben — ich nehme Massenkonsum, wie wir ihn auch haben; ich kenne mich da überhaupt nicht aus —, z. B. durch die Indu- kein Argument, warum wir ihnen das vorenthalten strie, durch Massenkonsum, durch die Verkehrspoli- sollten oder könnten; das würde auf eine Art neuen tik und ähnliches, gleichzeitig in die völlig falsche ökologischen Imperialismus hinauslaufen, um sie an Richtung kaputtmachen. Das können wir als Umwelt- der Wahrnehmung von Lebenschancen zu hindern — politiker, auch wenn wir es versuchen, nicht korrigie- oder daß er sie ernst meint. Dann aber wird er die ren. Menschen in den reichen Industrieländern darauf vorbereiten müssen, daß wir auch eine Ökonomie des (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Verzichts entwickeln müssen. GRÜNE) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Deswegen ein Vorschlag: Anstatt absurde Steuer- dem Bündnis 90/GRÜNE) debatten zu führen, wie es gegenwärtig der Fall ist, würde ich folgende These vertreten. Kollege Töpfer ist Ich sage bewußt: nicht nur eine Moral, sondern eine ja mittlerweile bekehrt. Als Oskar Lafontaine und die Ökonomie des Verzichts. Denn es wird sich diese GRÜNEN im Mai 1989 die Ökosteuerdebatte führten, Umorientierung auch zu rechnen haben. fand er das alles noch abwegig. Meine These ist: Wenn Der Abgeordnete Gysi hat — an einem Punkt, an es Ihnen gelingt, endlich eine ökologische Steuer- dem es sehr sinnfällig ist — zu Recht gefragt: Was reform einzuleiten — und Sie sollten dafür alle Unter- heißt es denn, wenn m an diese hohen Maßstäbe in den stützung haben —, so daß der Ressourcenverbrauch, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7597

Minister Joseph Fischer (Hessen) der Energieverbrauch zur entscheidenden Besteue- wie ich. Die Länder werden aufgefordert, jetzt selber rungsquelle wird — und zwar keine Ausdehnung der Abfallabgabengesetze zu machen, weil Kollege Töp- Staatsquote, das ist überhaupt nicht meine Absicht, fer sich nicht durchsetzen kann. Das ist die traurige sondern eine Umverteilung in der Kostenstruktur Realität der konkreten Umweltpolitik in diesem beim Steueraufkommen —, dann werden wir wirklich Lande. etwas erreichen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Zur Energiepolitik. Wie sieht denn die Energiepoli- dem Bündnis 90/GRÜNE) tik der Regierung Kohl aus? Kennt sie jemand? Ich Dann werden wir völlig neue marktwirtschaftliche habe sie bisher nicht gekannt. Impulse bekommen. Ich frage diese Bundesregierung, (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke die sich ja zur Gralshüterin der Marktwirtschaft Liste) gemacht hat: Was, zum Teufel, hindert euch daran, das zu tun? Die Opposition wäre sofort dafür und hätte Die Energiepolitik wird hier im wesentlichen von den an dem Punkt überhaupt keine Probleme, Sie darin zu großen Stromkonzernen gemacht. unterstützen. Wir würden für die Umwelt massiv Diese Litanei könnte man ohne weiteres weiterfüh- etwas erreichen. ren. Hier sehe ich die eigentlichen Probleme. Wir (Zuruf von der SPD: Sie traut sich nicht!) werden unserer eigentlichen Vorbildfunktion nicht gerecht. Nur rhetorisch werden wir ihr gerecht, ohne Statt dessen haben wir die Realität, daß Sie gegen- wärtig die Fährnisse und die Widrigkeiten der natio- jeden Zweifel. nalen Umweltpolitik offensichtlich gerne verlassen (Zuruf von der F.D.P.: Rheto risch auch Siel) und in die internationalen Bereiche ausschweifen. Der Ich bin einmal gespannt, wie Sie mit diesen Ver- Umweltminister ist ja fast schon zu beklagen. Sie kehrszuwächsen, die Sie heute haben und die der werden diese Fragen gestellt bekommen. Wenn Sie Bundesverkehrswegeplan mehr oder weniger unhin- auf der einen Seite verkünden, daß der Regenwald terfragt akzeptiert, zurechtkommen wollen. Es wird geschützt werden muß, dann werden die brasiliani- nicht einfach, hier umzusteuern. Das würde ich nicht schen Konservativen, dann wird der Helmut Kohl nur der Koalition nicht zumuten. Wir wissen alle, wie Brasiliens Sie fragen: Wie sieht es mit dem Natur- schwer es wird, die libidinöse Bindung ans Auto schutz bei euch aus? Was macht denn das Natur- unabhängig von der Parteiorientierung aufzubre- schutzgesetz des Kollegen Töpfer? Woran ist denn die chen. Landwirtschaftsklausel gescheitert? Gibt es denn da überhaupt noch etwas zu erhalten? Wie ist denn der (Beifall bei der SPD) Zustand des Waldes im Mittelgebirge? Wie sieht denn Es wird kein Weg daran vorbeiführen, und man wird die Verkehrspolitik aus? Hat das etwas mit dem es den Menschen auch zu sagen haben. Aber Ihre Waldsterben zu tun? CO2-Reduktions-Ziele werden Sie mit der Form von Alle diese Fragen werden an Sie gestellt werden, Energiepolitik — mit oder ohne Konsens —, die Sie wenn Sie in Brasilien auf einen klugen Konservativen betreiben, sich bis ins nächste Jahrtausend, bis zum treffen. Warum sind Sie nicht einmal in der Lage, Jahre 2005 abschminken können, es sei denn, Sie dieses Symbol „Tempolimit" durchzusetzen? setzen weiter darauf, daß in der ehemaligen DDR die (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Entindustrialisierung vorangeht. Ich gehe allerdings dem Bündnis 90/GRÜNE) nicht davon aus, daß Sie darauf setzen, sondern davon, daß Sie versuchen werden, auch dort den Aufschwung Das wäre das mindeste, meine Damen und Herren, wieder möglich zu machen. aber nicht einmal dazu sind Sie in der Lage. Summa summarum muß man sich die gegenwärtige Wir haben jetzt die Problematik des Sommersmogs. Situation anschauen und die Rhetorik wegnehmen. Die Umweltpolitik ist hier an die Grenze ihrer Hand- lungsfähigkeit gekommen, wenn die Verkehrspolitik (Lachen bei der F.D.P.) nicht radikal umsteuert. Ich meine, bei der Rhetorik gibt es ja schon einen Meine Damen und Herren, das sind Fragen, die die Fortschritt, Herr Bundeskanzler! Ich kann mich erin- Bundesregierung konkret wird beantworten müssen, nern, Herr Kollege Baum, da stand nicht hier am Pult, ohne allgemeine wolkige Erklärungen. sondern im alten Plenarsaal des Bundestages im Jahre 1985 der zuständige Umweltminister, Innenminister Da lächelt Kollege Töpfer. Er verkündet ja mittler- Zimmermann, und er schnarrte uns GRÜNE in seiner weile unter den Ländern: Helft mir mit der Abfall- unvergleichlichen Art an, als es um den Katalysator abgabe! Herr Bundeskanzler, ich will es hiermit tun. ging: Ja, sollen denn die deutschen Urlauber am Ich appelliere an Sie: Machen Sie es endlich möglich, Brenner stehenbleiben? daß der Kollege Töpfer seine Abfallabgabe in Ihrem Kabinett durchsetzen kann! Das hätte eine große Gut, unter diesem Gesichtspunkt haben wir in der Bedeutung, meine Damen und Herren. Bundesregierung einen großen Bewußtseinswandel. Aber wenn ich mir die entscheidenden Punkte (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und anschaue, Energiepolitik, Verkehrspolitik, die Tragö- dem Bündnis 90/GRÜNE) die des Giftmüllexports in die Dritte Welt und nach Vielleicht können Sie sich auf dem Flug nach Rio Osteuropa aus allen Industrieländern, wenn ich mir darüber austauschen; das wäre durchaus sinnvoll. Ich anschaue, daß wir völlig falsche Steuerungsimpulse nehme an, Herr Kollege Töpfer sieht das so ähnlich über unser Steuersystem für die Wirtschaft gesetzt 7598 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Minister Joseph Fischer (Hessen) haben, wenn ich mir anschaue, daß die größten Meine Damen und Herren, ich will das gar nicht tun. Unternehmen heute Anlageprobleme für Milliarden- Ich will es auch deswegen nicht tun, weil ich nur zu gut beträge haben, während gleichzeitig im Umweltbe- weiß, daß wir damit nur denen in die Hände spielen, reich dieses dringend benötigte Geld fehlt, dann sage die ein Interesse daran haben, daß in Rio nichts ich Ihnen: Die heutige Regierungserklärung war viel erreicht wird oder daß der Eindruck erweckt wird, als zuwenig. käme in Rio nichts heraus. Herr Bundeskanzler, Ihr Kollege, der amerikani- Meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch sche Präsident, wird gegenwärtig schon in allen einmal in aller Ruhe und Sachlichkeit zu dem zurück- Karikaturen als „The Environment President" darge- kehren, was in der gegenwärtigen Situation wirklich stellt; jeden Tag gibt es in der „Herald Tribune" eine Not tut, um vielleicht auch einmal über Parteigrenzen neue Karikatur über den Anspruch, Umweltpräsident hinweg eine gemeinsame Arbeit für Rio zu leisten, zu sein. Ich hoffe, Sie werden nicht einen ähnlichen damit auch andere an dieser Partnerschaft teilhaben Weg gehen. Ich fürchte aber, wenn das alles war, was können. Warum das denn eigentlich nicht? Ich werde Sie heute vorgetragen haben, wenn das alles war, was versuchen, dazu einige Punkte herauszuarbeiten. man über Rio hört, dann werden die Skeptiker recht bekommen, die sagten, das würde unter dem Der erste Punkt lautet: Wir sollten uns doch darüber Gesichtspunkt der reichen Industriestaaten ein Gipfel einig werden können, daß die Konferenz in Rio nicht der Heuchler. Dann, meine Damen und Herren, wäre der Endpunkt einer Entwicklung ist, sondern der eine große Chance vertan. Damit es nicht so wird, Startpunkt für einen neuen Prozeß der Zusammenar- müssen wir die Vorbildfunktion wahrnehmen, d. h. beit. Nur wenn wir dies als gemeinsames Ziel haben, aber, wir müssen hier vor unserer eigenen Türe schaffen wir die Verbindung zwischen Umwelt und kehren. Entwicklung. Meine Damen und Herren, natürlich ist es richtig, daß wir heute ein Stück unseres Wohlstands Ihr Engagement für den Regenwald in Ehren, Herr dadurch subventionieren, daß wir Kosten dieses Bundeskanzler. Dasselbe Engagement für den Natur- Wohlstands auf die Natur und die Dritte Welt abwäl- schutz hier in Ihrer Bundesregierung, und Sie wären zen; wir müssen das beenden, indem wir hier die wesentlich glaubhafter und der Umwelt wäre wesent- Konsequenzen ziehen. Das können wir aber nicht tun, lich mehr gedient als durch Ihr Engagement, sich für indem wir das in Rio beschließen, sondern indem wir den Regenwald nur rhetorisch einzusetzen. diesen Prozeß der Zusammenarbeit einleiten. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE) Meine Damen und Herren, es geht hier — auch das ist eine der beliebten Vokabeln — um eine „Umwelt- außenpolitik". Dann nehmen wir doch einmal Anleihe Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Mini- bei der Außenpolitik. Da fragen wir doch mal bei dem ster für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, soeben mit Beifall und Ehrung aus diesem Amt Herr Dr. Klaus Töpfer, das Wort. geschiedenen Kollegen Genscher nach. Meine Damen und Herren, wir haben 1975 die Schlußakte von Helsinki beschlossen. Diese Schlußakte hat einen Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, KSZE-Prozeß begründet, an dessen Ende der Fall der Naturschutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Mauer, die deutsche Einheit und die Überwindung Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind der Sowjetunion gestanden haben. mit dem Ziel, über 170 Länder weltweit zu einer gemeinsamen Position umweltpartnerschaftlicher Wer 1975 hingegangen wäre und gesagt hätte: nur Zusammenarbeit zu bekommen, angetreten. Aber wir wenn dieses Ziel schon 1975 in Helsinki erreicht ist, ist sind nicht einmal in der Lage, in einer solchen das ein Erfolg, der wäre als Narr bezeichnet worden. Diskussion der Verlockung zu widerstehen, alles nur Aber es ist ein Prozeß der Zusammenarbeit möglich unter der parteipolitischen Elle der Auseinanderset- geworden, der dies dann hinterher erreicht hat. zung in Deutschland zu messen. Nun lassen Sie uns doch Kredit nehmen von solchen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Überlegungen. Was spricht denn dagegen, daß wir Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das war wirklich auch und gerade jetzt nach der Überwindung nichts!) dieses ideologischen Gegensatzes fragen: Wie kön- Meine Damen und Herren, natürlich könnte ich mit nen wir den wirklich vorhandenen Gegensatz zwi- gleicher Münze zurückzahlen. Ich könnte dem Kolle- schen Nord und Süd so bewältigen, daß wir nicht in gen Fischer sagen, daß er seine Darstellung zum einen neuen kalten Krieg der Armen gegen die Naturschutz nur deswegen so geben kann, weil in Reichen eintreten? Das ist doch die zentrale Fragestel- Hessen für den Naturschutz nicht er, sondern sein lung, und dazu werden wir — das will ich ganz Kollege Jordan zuständig ist. Herr Fischer sollte ein- deutlich sagen — eine Schlußakte von Rio haben. Die mal bei ihm nachfragen, was das Land Hessen wirk- Schlußakte von Rio wird genausowenig bis ins letzte lich für den Naturschutz tut, bevor er hier hinkommt hinein sagen können, was von allen eingebracht wird, und die Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt sondern sie muß genauso zu vertrauensbildenden der rahmengesetzlichen Regelung dafür verantwort- Maßnahmen führen, wie das durch die KSZE in lich macht, was hier nicht passiert. Europa der Fall gewesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Da muß man sich fragen, wie wir diesen neuen Zuruf von der F.D.P.: Hessen pennt!) Prozeß der Entspannung, jetzt der Entspannung des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7599

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Menschen gegenüber der Natur, bewältigen kön- det, sondern da ist schon längst entschieden worden. nen. Es ist diese Bundesregierung gewesen, die von Polen bis nach Kenia mehr Schulden erlassen hat als jede - Hier möchte ich Ihnen einige dieser entspannungs andere Regierung in dieser Welt. Wir haben darüber und vertrauensbildenden Maßnahmen nennen: Es nicht geredet, sondern wir haben das gemacht. geht einmal um die Frage der technologischen Zusammenarbeit. Das ist doch nicht Theorie! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich war vor wenigen Tagen in Vorbereitung dieser Das sind ganz konkrete Maßnahmen, indem wir nicht Konferenz in China. Die Chinesen verbrauchen rhetorisch sind, sondern indem wir entscheiden. gegenwärtig 1,3 Milliarden Tonnen Steinkohleein- Ich wäre allen Seiten dieses Hohen Hauses herzlich heiten. Hätten sie dieselbe durchschnittliche Technik dankbar, wenn wir auch draußen an den Stamm- wie wir sie haben, dann könnten sie dieselbe Energie- tischen sagten, daß diese Maßnahmen der Hilfe für dienstleistung mit 400 Millionen Tonnen SKE weniger die Dritte Welt nicht hinterher unseren Wohlstand in erzeugen. Diese 400 Millionen Tonnen entsprechen Frage stellen, sondern unseren Wohlstand auf Dauer genau dem Energieverbrauch, den wir in der alten sichern. Denn wer hat denn dann vor Ort auch den Bundesrepublik Deutschl and gehabt haben. Dann Mut, zu sagen, wir brauchen diese Gelder für die lassen Sie uns doch diese energiepolitische technolo- Entwicklungspolitik, für die inte rnationale Umwelt- gische Zusammenarbeit machen! Was spricht dage- politik, wenn er möglicherweise bei der nächsten gen? Gehaltsforderung dafür auch etwas nachzudenken (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hat? Wer hat dann den Mut, nicht nur hier darüber zu Das ist konkrete vertrauensbildende Arbeit. sprechen? Dann können Sie natürlich davon ausgehen, daß wir (Detlev von Larcher [SPD]: Die Bundesregie das zu tun haben, was Technologie auch ist, nämlich rung nicht!) Weitergabe von Kenntnis, von Verwaltungserfah- Wir brauchen sehr wohl vertrauensbildende Maß- rung. Wir haben doch nun als Hausaufgabe mitge- nahmen und Veränderungen der weltweiten Han- nommen — das haben wir doch gerade erfahren —, delsstrukturen. Die OECD hat berechnet, daß die jetzt daß die neuen, die jungen Bundesländer nicht nur mit laufenden GATT-Verhandlungen, wenn sie so durch- Geld zu entwickeln sind und daß aufzuholen ist, was kommen, den Entwicklungsländern zusätzliche wirt- dort vertan worden ist, sondern daß wir neue Verwal- schaftliche Möglichkeiten im Umfang von etwa 55 bis tungsstrukturen brauchen, daß wir Menschen brau- 60 Milliarden Dollar einbringen. Nebenbei gesagt, ist chen, die dieses Ins trument einer sozial und ökolo- das exakt die Größenordnung, über die wir reden, gisch ausgerichteten Marktwirtschaft auch handha- wenn wir die Ausgaben für dem Umweltschutz von ben können. Deswegen brauchen wir das, was wir 0,35 % auf 0,7 % des Bruttosozialproduktes ansteigen international „capacity building" nennen, Aufbau von lassen. Wir sollten uns wirklich darüber klar sein, daß entsprechenden Entscheidungs- und Verwaltungs- wir gemeinsam die Konsequenzen einer solchen strukturen; das ist eine ganz wichtige und notwendige GATT-Verhandlung tragen und daß wir uns bei Arbeit. unserer Bevölkerung, die in der Landwirtschaft tätig Meine Damen und Herren, ich will dem Kollegen ist, darum bemühen müssen, daß sie Verantwortung Repnik nicht vorgreifen, aber wir sollten den vielen trägt und das Ihre tut. Wir dürfen nicht nur abstrakt jungen Menschen dankbar sein, die in die Entwick- darüber reden. lungsländer gehen und genau ihre Kenntnisse ein- Vertrauensbildende Maßnahmen sind sehr wohl bringen, um dort Armut und Unterentwicklung zu - auch die so notwendigen Veränderungen unseres überwinden. Das ist ein Beitrag, den wir miteinander eigenen Verhaltens. Ich will nur mit einigen Sätzen zu bewältigen haben. darauf hinweisen, was getan wurde, damit nicht der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Eindruck entsteht, wir wollten das zur Rechtfertigung nutzen. Ich bin der Meinung, das muß wesentlich Ich versuche doch nur, das aufzugreifen, was wir weiter reichen. Wir als Umweltpolitiker haben uns miteinander in Rio einbringen können, meine Damen gerade gegen den Vorwurf zu rechtfertigen, wir und Herren. Denn die Diskussion über das Bundesna- hätten den Industriestandort Bundesrepublik turschutzgesetz werden wir auch nach Rio bei uns Deutschland in besonderer Weise belastet. noch glänzend weiterführen können. Sie wird uns in der Zusammenarbeit von 170 Ländern leider Gottes Meine Damen und Herren, auf irgend etwas müssen nicht zentral voranbringen. Vielleicht lernt das auch wir uns einigen: Wenn wir nicht gehandelt haben, noch der Kollege Fischer; es kann nicht ausgeschlos- können wir auch nicht belasten. Wir haben gehandelt sen werden. und Eckpunkte gesetzt, damit sich Technik weiterent- wickelt. Exakt dies ist es. Ich kann Ihnen das an vielen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Stellen ganz konkret nachweisen. Ich habe mich bei Zu den vertrauensbildenden Maßnahmen in diesem den vielen in den Unternehmen zu bedanken, die auf Entspannungsprozeß gehört die Frage des Schulden- die Herausforderung von neuen Umweltknappheiten erlasses. Auch das sei dem Kollegen Schäfer — meine mit Kreativität geantwortet haben, die nicht resigniert Damen und Herren, bei der Anrede „Kollege Schäfer" haben und von diesem Standort nicht weggezogen muß ich natürlich immer doppelt einhalten, damit man sind. nicht weiß, wann man ihn doppelt mit „Kollege" (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) anzusprechen hat — einmal ganz konkret gesagt: Darüber wird in dieser Bundesregierung nicht gere- Wir werden sehen, wie sich das weiterentwickelt. 7600 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Herr Kollege Fischer, es ist bemerkenswert: Andere Rio muß Initiativen für die Weiterentwicklung der machen in ihrem Sektor ganz unspektakuläre Politik. Einrichtungen in der UNO bringen, die UNEP, also Warum kann man sich zwischen Bundesländern und die Umweltorganisation der Vereinten Nationen, stär- dem Bund nicht an einer Stelle einmal einigen? ken, ein Gremium schaffen, das sich in den Vereinten Machen Sie doch Ihr Abfallabgabengesetz, und all die Nationen damit beschäftigt. Ich unterstütze das, was anderen Länder können ebenfalls ihre Gesetze Sie, Kollege Baum, hier dazu gesagt haben. machen. Dann können Sie am Ende sagen, wir Wir müssen in Rio noch weiter gehen, als es der bräuchten den Bund gar nicht. Aus der Enquete- schwierige Konsensprozeß bisher möglich gemacht Kommission höre ich bezüglich des Grundgesetzes hat. Wir sehen Rio als einen Rio-Prozeß, der genau wie doch nur, daß die Länder danach streben mehr vorher der KSZE-Prozeß vorangebracht werden muß, Zuständigkeiten zu bekommen. Aber dann stellen Sie damit die Entspannung zwischen Mensch und sich nicht hierhin und beklagen dies! Umwelt auch erreicht wird. (Zuruf von der F.D.P.: Das ist wahr!) Meine Damen und Herren, natürlich hätten wir die Wir werden unsere Verpflichtungen einhalten. Klimakonvention an dieser Stelle gerne noch etwas schärfer gehabt. Ich sage aber noch einmal: Für uns Es gibt die Klimakonvention. Sie wird völkerrecht- war die Zustimmung zu diesem Kompromiß gebunden lich verbindlich, wenn wir alles daransetzen, den an eine klare Struktur der Nachfolgeveranstaltung, Punkt wirklich klar zu regeln, der entscheidend ist, war gebunden an eine klare Entscheidung bezüglich nämlich die Frage, wie wir Entwicklungsländern der Finanzierung für die Entwicklungsländer, war dabei helfen, den Festlegungen auch zu entsprechen. gebunden an eine klare Festlegung in Programmen Die finanzielle Regelung, die wir etwa in Art. 21 dieser und Maßnahmen in völkerrechtlich verbindlicher Konvention finden, ist für die allergrößte Zahl dieser Form, die überprüft werden können und müssen. Länder ungleich bedeutsamer als die Frage, ob wir uns alle bereits jetzt bereitfinden können, eine Stabi- Ich sehe erhebliche Schwierigkeiten bei der Kon- lisierung der CO2-Emissionen vorzunehmen. vention zur Artenvielfalt. Ich muß das hier deutlich sagen: Zur Stunde verhandeln unsere Mitarbeiter in Ich bin sehr daran interessiert, daß wir unsere Nairobi darüber, um noch zu einem Ergebnis zu Position in Europa und in der Bundesrepublik kommen. Die Artenvielfalt hiermit zu sichern, ist eine Deutschland beibehalten. Wer hindert uns eigentlich außerordentlich große Schwierigkeit, weil sich die daran, selbst bei einer völkerrechtlich verbindlichen Entwicklungsländer insbesondere die Fragen stellen, Konvention, bei der einige die Stabilisierung nicht wie sie die Biotechnologie, die daran anknüpft, eben- mittragen, uns gleichzeitig verbindlich daran zu hal- falls für sich nutzen können und wie sie einen entspre- ten? Ich bin jedenfalls der Meinung, daß das eine chend fairen Finanzausgleich bekommen. Ich nehme große Chance für uns ist und daß wir das nicht nur diese Forderung sehr ernst. Es soll nicht der falsche verbal anstreben sollten, sondern das Ziel mit ganz Eindruck entstehen, wir würden irgend jemandem konkreten Maßnahmen erreichen müssen. Schuldzuweisungen erteilen. Es gibt in dieser Konvention — ich bitte jeden, sie Es ist nicht die Zeit für Schuldzuweisungen, sondern sich wirklich einmal durchzulesen — bleibende und es ist die Zeit, zu vertrauensvoller Zusammenarbeit zu klare Festlegungen für den Follow-up-Prozeß, also für finden. Deswegen mein dringlicher Appell: Lassen Sie das, was nach Rio kommt, Herr Lippold. Wir haben uns aus dieser Diskussion des Hohen Hauses nicht mit dafür einen klaren Zeitrahmen. Ich bin dem Bundes- dem Symbol herausgehen, daß man sich insgesamt kanzler herzlich dankbar, daß er von dieser Stelle aus uneinig sei. Man hat zwar unterschiedliche Teilberei- die Welt eingeladen hat, die erste Folgekonferenz che, in vielen Bereichen aber auch eine gemeinsame nach Rio hier in der Bundesrepublik Deutschland Position zur Überwindung der Gegensätze zwischen abzuhalten. Wir haben uns in der Vergangenheit an Nord und Süd. der Spitze derer befunden, die weltweiten Umwelt- schutz vorangebracht haben. Wir sollten auch in der Wir haben gemeinsam den Abrüstungsprozeß in Zukunft an der Spitze sein. Diese Einladung wird dazu Europa ermöglicht. Der kalte Krieg zwischen Ost und beitragen. West ist beendet. Rio muß der Startpunkt dafür sein, daß auch der kalte Krieg zwischen Nord und Süd, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zwischen arm und reich nicht entstehen kann und daß Meine Damen und Herren, wir brauchen ganz ohne wir eine Abrüstung im Verhältnis von Mensch und jeden Zweifel weitere Maßnahmen: Initiative zur Natur bekommen. Ächtung von Umweltverbrechen, von der Bundesre- Ich danke Ihnen sehr herzlich. publik Deutschland eingebracht. Wir reden heute so (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) viel von Blauhelmen. Ich meine, wir sollten uns jetzt auch an die Spitze derer setzen, die fragen: Wie bekommen wir Grünhelme, die dort eingesetzt wer- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort den können, wo Verbrechen gegen die Umwelt Frau Kollegin Dr. Liesel Hartenstein. begangen werden, ohne daß die internationale Völ- kergemeinschaft dem entgegentreten kann? Dies sind Herausforderungen, auf die wir auch durch eine Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Frau Präsidentin! Änderung des UN-Systems an dieser Stelle antworten Meine Damen und Herren! In Rio steht viel auf dem sollten. Spiel. Es hat den Anschein, als ob die Industrieländer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — das immer noch nicht begriffen hätten, auch die Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) Bundesrepublik Deutschland nicht. 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Dr. Liesel Hartenstein Der Umweltgipfel, Herr Minister, hätte eine Riesen- Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Bitte schön, Herr chance sein können, eine Chance zur Sicherung der Grüner. Zukunft unseres Planeten. Dazu aber bedürfte es einer gemeinsamen Kraftanstrengung aller dort versam- Martin Grüner (F.D.P.): Würden Sie es nicht für melten Nationen. Dazu bedürfte es vor allen Dingen richtig halten, bei dem Thema Energiesteuer nicht die der Handlungsfähigkeit und des Handlungswillens Kritik in den Vordergrund zu stellen, sondern die der Industrieländer. Aber genau daran fehlt es; das gilt Tatsache deutlich zu machen, daß die Bundesregie- leider auch für die Regierung der Bundesrepublik rung diese Energiesteuer fordert, daß die EG-Kom- Deutschland. mission diesen Vorschlag sensationellerweise aufge- griffen hat, daß es um internationale Durchsetzung Es ist schon mehrfach gesagt worden, daß die geht und daß darin für uns die große Hoffnung Industrieländer die Hauptverursacher der Umwelt- besteht? Statt zu kritisieren, müßte doch diese zerstörung sind; das trifft zu. Allein das wäre Grund Gemeinsamkeit als eine Chance herausgestellt wer- genug, daß sie sofort und wirksam handeln und sich den. nicht noch einmal Verzögerungstaktiken erlauben. Die Industrieländer müssen aber auch vorangehen, Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Kollege Grüner, weil sie allein das technische Know-how und die meine Antwort: Erstens wird die kranke Welt von der finanziellen Mittel besitzen, um neue, umweltfreund- Hoffnung allein nicht gesünder. lichere Produktionsformen durchzusetzen, und weil (Beifall bei der SPD sowie der Abgeordneten das Verhalten der Industrieländer entscheidende Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]) Auswirkungen auch auf die Entwicklungsländer hat. Zweiter Punkt: Halten Sie es denn für vertretbar und Denn das westliche Industrialisierungsmodell ist nun für politisch richtig, daß die Bundesregierung schon einmal das Leitbild auch für die Entwicklungsländer vor geraumer Zeit eine CO2-Abgabe bzw. eine Ener- geworden; daran geht kein Weg vorbei. In der Dritten giesteuer angekündigt, dann diese Ankündigung Welt wird sich nichts ändern, wenn sich in den zurückgenommen hat und jetzt auf Brüssel wartet, Industrieländern nichts ändert. Dieses Wort des brasi- wobei Brüssel nun mit einem Vorschlag kommt, der lianischen Umweltschützers José Lutzenberger gilt. aber nur dann realisiert werden soll, wenn — so Ich frage Sie, Herr Minister: Was tun Sie, um den ängstlich stellt sich die EG dar — Amerika mitmacht, ökologischen Umbau in unserem eigenen Land vor- wenn Japan mitmacht, wenn die anderen Industrie- anzutreiben? Was tun Sie z. B. für den vorrangigen länder mitmachen? Solange der eine auf den anderen Ausbau der Solarenergie, der ganz besonders den zeigt und der eine auf den anderen wartet, kommen Tropenwaldländern zugute käme? Im Norden wird wir keinen Schritt weiter. zehnmal mehr Natur — in Form von Wasser, Energie, Nun ist es immerhin tröstlich, daß zum Schutze des Rohstoffen — verbraucht als im Süden. Aber gerade Klimas und der Artenvielfalt in Rio wenigstens Rah- weil dies so ist, muß der Norden die Initialzündung menabkommen geschlossen werden sollen, wenn- geben. Was sich jetzt für Rio abzeichnet, das bleibt gleich ohne verbindliche Festlegungen, ohne Selbst- weit hinter dem ökologisch Notwendigen und dem verpflichtungen. Der größte Schwachpunkt im Szena- technisch Machbaren zurück. rio von Rio ist aber das Nichtzustandekommen einer internationalen Waldkonvention, liebe Kolleginnen Keine der führenden Industrienationen — auch die und Kollegen. Dieses hat Herr Minister Töpfer auch Bundesrepublik nicht — hat den Mut, in Rio mit einem mit keinem Wort erwähnt. kräftigen Wurf die Zielmarke zu bestimmen und Das ist deswegen beklagenswert, weil die Wälder gleichzeitig der eigenen Bevölkerung zu sagen: Das der Erde nach den Ozeanen die größte CO2-Senke muß sein, auch wenn es unbequem ist. Und das kostet sind, weil — das ist bekannt — pro Tag 3 000 Quadrat- zunächst einmal Geld, z. B. in Form einer Energie- kilometer Wald vernichtet werden und weil die Wis- steuer. Hier wartet Bonn auf Brüssel, Brüssel wartet senschaft auch keinen Zweifel daran läßt, daß in den auf Washington und Tokio, Washington zeigt wie- tropischen Regenwäldern 70 bis 90 % a ller Tier- und derum auf Japan und zurück auf die EG-Länder. Das Pflanzenarten beheimatet sind. Das heißt, wir verwü- Ganze ist ein Schwarzer-Peter-Spiel der politischen sten die Vorratskammern der Erde, ehe wir überhaupt Feigheit, nichts anderes. erkundet haben, was sie enthalten. Das ist unverant- (Beifall bei der SPD) wortlich gegenüber den künftigen Generationen. Ich bin überzeugt, Herr Minister Töpfer, daß die Frau Kollegin Menschen zumindest in unserem Land längst begrif- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Hartenstein, gestatten Sie eine weitere Zwischen- fen haben, daß Umweltvorsorge allemal billiger als frage des Kollegen Hauchler? Umweltreparatur ist; das ist doch unsere Erfahrung. Die Menschen haben auch begriffen, daß wir den Rubikon längst überschritten haben, d. h. daß wir den Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Bitte schön, Herr Punkt erreicht haben, wo die Schäden irreparabel Kollege Hauchler. werden, z. B. bei der Klimaaufheizung, z. B. bei der Zerstörung der Wälder. Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Frau Kollegin, es ist gerade von der EG-Steuer und den Möglichkeiten, die dadurch gegeben sind, Probleme zu lösen, die Rede gewesen. Können Sie bestätigen, daß von seiten der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin EG beabsichtigt ist, einen Dollar pro Barrel zu erhe- Hartenstein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ben, nachdem früher drei Dollar pro Barrel im Kollegen Grüner? Gespräch waren, und können Sie bestätigen, daß dies 7602 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Ingomar Hauchler einem Pfennig pro Liter entspricht? Welchen Erfolg Planungshoheit des Bundes auf die Verwendung von versprechen Sie sich von einer solchen Maßnahme? Tropenhölzern zu verzichten? Sie haben den Antrag der SPD in Bausch und Bogen abgelehnt. Hier beginnt Glaubwürdigkeit. Hier muß man dieses viel strapa- Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Es ist völlig richtig, daß zierte Wort einmal verwenden. man hier Zweifel hegen muß, ob diese von der EG ins Inzwischen haben 140 deutsche und europäische Auge gefaßte Maßnahme überhaupt einen Erfolg Städte, die im Klimabündnis zusammengeschlossen bringen wird. Man muß wissen: Das ist bereits eine sind, einen generellen Verzicht auf Tropenhölzer Rückzugsposition. Der erste Vorschlag der EG-Kom- beschlossen. Sie haben sich außerdem verpflichtet, bis mission lautete: Aufschlag von drei Dollar pro Barrel zum Jahre 2010 den Ausstoß von CO2 zu halbieren. und Steigerung um je einen Dollar pro Jahr. Das heißt, Das verdient Anerkennung, das verdient Unterstüt- im Jahre 2000 hätte man einen Aufschlag von 10 Dol- zung. lar pro Barrel gehabt. Das wäre ein 50%iger Aufschlag Im übrigen danke ich der Baukommission des gewesen. Allenfalls das hätte noch eine umweltpoliti- Deutschen Bundestages für den Beschluß, beim sche Wirkung haben können, d. h. die Entwicklung in Umbau des Reichstages keine Tropenhölzer zu ver- die richtige Richtung puschen können. Was jetzt wenden. Das war ein Vorschlag der SPD, den die geplant ist, ist nach meiner Einschätzung viel zuwenig Baukommission aufgegriffen hat. Ich finde, das ist und daher unwirksam. außerordentlich anerkennenswert. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Ich habe beklagt, daß in Rio keine internationale Nötig ist nicht nur eine Konvention zum Schutz der Waldkonvention zustande kommt. Wenn an Stelle Tropenwälder, sondern eine internationale Waldkon- dieser Konvention lediglich Grundsätze zum Wald- vention, die alle Wälder umfaßt, auch die in den schutz beschlossen werden sollen oder, wie der Herr gemäßigten Breiten, auch die borealen Wälder. Bundeskanzler gesagt hat, eine Deklaration verab- Solange in Kanada riesige Kahlschläge erfolgen, so schiedet werden soll, dann ist das faktisch ein Nuller- lange werden die armen Länder im Tropengürtel der gebnis, meine Damen und Herren. Das ist ungenü- Erde nicht zu überzeugen sein, daß sie ihre Wälder gend und kann nicht akzeptiert werden. unberührt und ungenutzt lassen sollen. Solange — das Der Herr Bundeskanzler sagte, sofort nach Rio soll meine letzte Anmerkung sein — unsere eigenen sollten Maßnahmen in die Wege geleitet werden, um Wälder in den Mittelgebirgen — im Schwarzwald, im eine Waldkonvention zu beschließen. Ich frage, Herr Harz, im Erzgebirge und im Bayerischen Wald — Bundeskanzler: Wann denn? Ist Ihnen bekannt, daß wegen der hohen Schadstoffbelastung zu über 50 wir eigentlich keine Zeit mehr haben und daß die krank sind, so lange — ich muß das Wort noch einmal Naturwälder, die Tropenwälder auf den Philippinen benutzen — steht unsere Glaubwürdigkeit auf töner- und auf Malaysia in sieben bis acht Jahren ver- nen Beinen. schwunden sein werden, wenn nicht sofort gehandelt Mit leeren Händen nach Rio zu gehen ist eine wird? Das heißt, wir dürfen uns keine Verzögerungen schlechte Verhandlungsplattform. Auch hier gilt: Auf mehr leisten. internationaler Ebene wird sich nichts bewegen, Ich frage deshalb die Bundesregierung: Was hat sie wenn wir nicht auf nationaler Ebene den Anfang bei den Vorbereitungskonferenzen für Rio unternom- machen. Dazu fordern wir die Bundesregierung auf. men, um zu einer konkreten und wirksamen Wald- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. konvention zu kommen? Was hat sie unternommen, (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und um den Beschluß des Deutschen Bundestages vom dem Bündnis 90/GRÜNE) Oktober 1990 umzusetzen? Bis heute ist keine einzige- der Forderungen erfüllt, die das Parlament beschlos- sen hat. Es gibt kein nationales Aktionsprogramm. Es Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat die Kolle- gibt keine Initiativen zur Einrichtung eines Treuhand- gin Marita Sehn das Wort. fonds. Es ist nichts unternommen, um die Tropenwald Forstwirtschaftspläne in Tropenwald-Schutzpläne umzuwandeln. Das alles ist Beschluß des Parlaments. Marita Sehn (F.D.P.): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich appelliere an Sie, diesen Beschluß endlich umzu- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die setzen. Der Deutsche Bundestag verlangt eine gründ- Enquete-Kommission Schutz der Erdatmosphäre hat liche Reform der verheerenden Tropenwaldpläne, die in ihrem ersten Bericht im Vorfeld der UN-Konferenz große Teile der Primärwälder für die industrielle für Umwelt und Entwicklung die Notwendigkeit zum Ausbeutung freigeben. sofortigen ökologischen Handeln klar zum Ausdruck Die Bundesregierung ist stolz auf ihre Vorreiter- gebracht. rolle. Das betont sie immer wieder. Sie hätte die Am Ende dieses Jahrhunderts steht die Menschheit Chance gehabt, mit einem konkreten Maßnahmen- vor der großen Herausforderung, die ökologischen bündel nach Rio zu gehen. Das hätte andere Länder in Probleme verantwortungsvoll zu lösen. Erprobte Zugzwang gebracht. Diese Chance wurde vertan. Das Lösungen sind in der Weltgeschichte bisher nicht zu ist zu beklagen. finden. Ich frage Sie noch einmal, Herr Bundeskanzler: Wie Die wissenschaftliche Bestandsaufnahme der En- ernst ist das Bekenntnis zum Schutz der tropischen quete-Kommission mit dem Schwerpunkt Freisetzung Wälder gemeint, wenn die Bundesregierung nicht klimarelevanter Spurengase aus dem Energiebereich einmal bereit ist, bei öffentlichen Bauten in der hat ergeben, daß sich mit großer Wahrscheinlichkeit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7603

Marita Sehn bislang nur die Emissionen klimarelevanter Spuren- vergibt die Gemeinschaft die Chance, ein starkes gase auswirken, die bereits vor 30 bis 40 Jahren umweltpolitisches Zeichen gegenüber der Dritten freigesetzt wurden. Die Klimaveränderungen werden Welt und insbesondere gegenüber den USA und sich also in den kommenden Jahren unabänderlich Japan zu setzen. verstärken. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 90 % der in den letzten 100 Jahren kumulierten Die Eindämmung des Treibhauseffektes wird nur CO2 - Emissionen, die den Anstieg des atmosphäri- über Energiesparmaßnahmen breitester Art und schen CO2-Gehaltes auf das heutige Niveau bewirkt durch effizientere Energieerzeugung und -nutzung haben, stammen von den Industrieländern. Sie stehen möglich sein. Dieses Ziel ist nicht allein durch gesetz- deshalb in besonderer Verantwortung für die Festle- liche Vorschriften zu erreichen. Die F.D.P. setzt sich gung von wirkungsvollen Maßnahmen zur Reduktion deshalb seit langem — wie auch in ihrem ökologi- ihrer Emissionsraten. Allerdings können die Entwick- schen Programm der 90er Jahre nachzulesen — dafür lungsländer durch Begrenzung ihres Bevölkerungs- ein, daß das marktwirtschaftliche Lenkungsinstru- wachstums ebenfalls einen wirkungsvollen Beitrag ment des Preises ergänzend hinzukommen muß. Die zum Klimaschutz leisten. Preisvorteile herkömmlicher Energieträger gegen- Wer den wissenschaftlichen Kenntnisstand trotz der über den erneuerbaren Energien müssen gemindert jahrelangen eindringlichen Warnungen der Klimato- bzw. beseitigt werden. Die Einbeziehung der Ke rn logen noch immer negiert und politisches Handeln -energie in die Klimaschutzsteuer fördert die Markt- von der weiteren wissenschaftlichen Absicherung einführung erneuerbarer Energien. abhängig macht, hat die Zeichen der Zeit nicht Klimaschutz bedeutet keinesfalls zwangsläufig erkannt. wirtschaftliche Nachteile und Verlust von Arbeitsplät- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- zen. Langfristig werden die Schäden durch die Klima- ten der CDU/CSU) veränderung die Investitionen für den Klimaschutz bei weitem übersteigen. Die Vorstellung, die drohenden globalen Klimaver- änderungen durch geringfügige, lokal begrenzte Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, ihre Maßnahmen beherrschbar zu machen, wird sich als Position im EG-Ministerrat für eine rasche Realisie- Irrglaube herausstellen. Es ist Zeit, konstruktiv zu rung einer zeitlich gestaffelten Klimaschutzsteuer mit handeln. einer Stabilisierung im Jahre 2000 auf europäischer Ebene klar zum Ausdruck zu bringen und die Bindung Die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im des Beschlusses an die Haltung der USA und Japans nächsten Monat bietet in naher Zukunft die einmalige entschieden abzulehnen. Chance zum Eintritt in einen neuartigen Nord - Süd- Dialog. Hier gilt es das Instrument für eine internatio- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nal abgestimmte Neuorientierung der Umwelt- und ten der CDU/CSU) Entwicklungspolitik zu schaffen. Die von der F.D.P. Sollte diese Abkopplung im EG-Ministerrat nicht entwickelten Grundsätze des Verursacher-, Vor- gelingen, fordere ich die Bundesregierung auf, sich sorge- und Kooperationsprinzips müssen auf interna- den Vorschlag einer Klimaschutzsteuer zu eigen zu tionaler Ebene anerkannt werden. machen und ihn als eigenen Vorschlag an die Adresse Ohne Zweifel haben die Beratungsergebnisse im der Industrieländer auf dem Umweltgipfel zu präsen- Zuge der Vorbereitung der UN-Konferenz die Erwar- tieren mit der Zielsetzung, ihn zum Gegenstand einer tungen an den Gipfel gedämpft. Die st rikte Ableh- international verbindlichen Klimakonvention unter - nung der amerikanischen Seite gegenüber der ver- Industrieländern zu machen. Im Zuge einer kombi- bindlichen Festlegung von Mengen- und Zeitzielen nierten CO2-Energie-Steuer sollte auch über die zur Reduktion klimarelevanter Spurengasemissionen Eröffnung von internationalen Kompensationsmög- zeigt deutlich, wie stark nationale Interessen im Vor- lichkeiten nachgedacht werden. dergrund stehen. Ich bin aber der Auffassung, daß Die Bundesregierung muß innerhalb der EG und Rückschläge zu Beginn internationaler Verhandlun- auch während des Umweltgipfels deutlich machen, gen — wir stehen im Prozeß der Internationalisierung daß sie ihr selbst auferlegtes Ziel einer Reduktion der der Umweltpolitik noch am Anfang — normal sind. CO2-Emissionen um 25 bis 30 % bis zum Jahre 2005 Entscheidend ist, daß die Verhandlungspartner trotz umsetzen wird. aller unterschiedlichen Interessen zu Gesprächen bereit sind. Weiterhin fordere ich die Bundesregierung auf, die Empfehlung en der Enquete-Kommission aufzugrei- Auch der Beschluß der EG-Kommission einer kom- fen und zusammen mit anderen Industrieländern und binierten CO2-Energie-Steuer für den Klimaschutz einem geeigneten Entwicklungsland, das eine auf sollte zu einem bedeutenden europäischen Beitrag für sparsamen Umgang mit der Energie bedachte Politik die Klimakonvention der Weltumweltkonferenz in verfolgt, den Bau eines solarthermischen Kraftwerkes Brasilien werden. im Sonnengürtel der Erde zu beschließen. Mit dem Beschluß zur Einführung einer CO2-Ener- Neben Maßnahmen zur Verringerung der CO2- gie-Steuer hat die EG-Kommission endlich den von Emissionen müssen der Schutz und die Erhaltung der der F.D.P. entwickelten Vorschlag einer Klimaschutz- Wälder weltweit nicht nur als CO2-Senken, sondern steuer aufgegriffen. Indem die EG-Kommission die auch zur Wahrung der biologischen Artenvielfalt auf Realisierung ihres Beschlusses von analogen Maß- diesem Planeten zu unserer besonderen Aufgabe nahmen der USA und Japans abhängig gemacht hat, werden. 7604 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Marita Sehn Wird der Einfluß der außertropischen Wälder auf die nale Staatengemeinschaft mit dem Montrealer Proto- globalen Klimaveränderungen zur Zeit von Experten koll bereits über ein Instrumentarium zum Klima- noch als sehr gering bewertet, kann sich dies im Laufe schutz. der nächsten Jahrzehnte schnell ändern. Wiederauf- Neueste Erkenntnisse machen es notwendig, den forstung auch in unseren Breiten ist notwendig. Nach Zeithorizont für den Ausstieg aus dem Verbrauch und Angaben der FAO hat sich in der Zeit von 1980 bis der Produktion von FCKW und Halonen deutlich 1990 die jährliche Entwaldungsrate um 50 % erhöht. vorzuziehen. Bislang gab es jedoch nur den Versuch 60 % der Waldzerstörungen in den Tropen beruhen einer Selbstverpflichtung der deutschen Indus trie auf der Einwanderung und der vorübergehenden zum vorzeitigen Ausstieg bis Ende 1993. Überlegun- Schaffung neuer landwirtschaftlicher Nutzflächen. gen in der EG und den USA führten zu dem Ausstiegs- Etwa die Hälfte des Anstiegs der CO2-Freisetzun- termin Ende 1995. Diese Überlegungen müssen nun gen seit Anbeginn der industriellen Revolution geht endlich in konkrete Vereinbarungen gefaßt werden. auf das Konto der Waldrodungen. Waldrodungen Die Bundesrepublik Deutschland muß durch ihre wirken sich jedoch nicht nur negativ auf das regionale nationale Entscheidung für einen Ausstieg bis Ende Klima aus; sie stören nachhaltig den Wasser- und 1993 im Vorfeld der vierten Vertragsstaatenkonferenz Nährstoffgehalt sowie die Bodenfruchtbarkeit. zum Montrealer Protokoll in Kopenhagen EG-weit und international den Zeithorizont bei der Revision Die immer wieder von der SPD aufgestellte Forde- des Protokolls vorgeben. rung nach einem gesetzlichen Importverbot für Tro- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. penhölzer ist kontraproduktiv, meine Damen und Herren. Nicht ohne Grund hat die Enquete-Kommis- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sion Schutz der Erdatmosphäre ein Importverbot für Tropenhölzer abgelehnt. Durch das Importverbot Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat die Kolle- würde das Eigeninteresse der Tropenwaldländer am gin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort. Erhalt ihres Waldbestandes untergraben. Große Waldflächen würden durch andere Nutzungsformen Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Frau unwiederbringlich zerstört. Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundes- Schutz der Tropenwälder muß deshalb heißen: kanzler, lassen Sie mich eines vorwegschicken: Auch Stärkung des Eigeninteresses der Tropenwaldländer ich begrüße Ihre Erklärung, daß die erste Nachfolge- am langfristigen Erhalt ihrer Wälder durch eine konferenz von Rio in Berlin bzw. in der Bundesrepu- umweltverträgliche Bewirtschaftung, Unterstützung blik stattfinden soll. Ich hoffe nur, daß sie nicht — wie der Tropenwaldländer beim Aufbau einer eigenen die UNO-Menschenrechtskonferenz — aus Geldman- holzverarbeitenden Indus trie, um eine wirtschaftlich gel kurzfristig vorher abgesagt wird. sinnvolle Nutzung des Tropenholzes zu ermöglichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und den Export von Rundhölzern zu begrenzen, Bekämpfung von Überbevölkerung und Armut als Meine Damen und Herren, die Konferenz in Rio soll Hauptursachen für die Tropenwaldvernichtungen. — ich zitiere — „Strategien und Maßnahmen ausar- beiten, die durch stärkere nationale und internatio- Wirtschaftliche Repressalien gegenüber den Tropen- nale Anstrengungen die Auswirkungen der Umwelt- waldländern — nichts anderes würde ein Importver- bot bedeuten — zerstören die ohnehin schon geringe zerstörung stoppen und umkehren und eine nachhal- Bereitschaft der Tropenwaldländer, sich aktiv an der tige Entwicklung fördern". Von den Vorgaben dieser im Dezember 1989 beschlossenen UN-Resolution ist Realisierung von Tropenwaldschutzkonzepten zu allerdings nicht mehr viel geblieben. Realistisch beteiligen. Die ablehnende Haltung der Tropenwald- erscheint da die Plattform des Forums der brasiliani- länder gegenüber der Einflußnahme der Industrielän-- schen Nichtregierungsorganisationen, die den UN- der auf ihr nationales Erbe wurde anläßlich der achten CED-Prozeß folgendermaßen einschätzen: „Es ist Vertragsstaatenkonferenz zum Washingtoner Arten- schutzabkommen im März dieses Jahr überdeutlich. möglich, daß Rio eine taube Nuß wird, ein Zirkus, wo das Jonglieren mit Worten das Fehlen lebendiger Die von deutschen Holzimporteuren angebotene Praxis verschleiert und die Spotlights der politischen freiwillige Selbstbeschränkung auf Holzimporte aus Selbstdarstellung die finstere Lage der Welt über- wiederaufgeforsteten Waldbeständen schafft einen strahlen. " — Kanzler Kohl hat heute ein anschauliches Anreiz zu einer sinnvollen Tropenwaldforstwirtschaft. Beispiel dafür geliefert. Die Bemühungen der Bundesregierung zur EG-wei- Die Hoffnung, erstmals in großem Rahmen die ten und internationalen Ausdehnung der deutschen Zusammenhänge zwischen der Armut in den Ländern Initiative werden deshalb von der F.D.P. ausdrücklich des Südens, der globalen Umweltkrise und den res- begrüßt und unterstützt. sourcenplündernden Ökonomien des Nordens zu dis- (Beifall bei der F.D.P.) kutieren und Strategien zur Überwindung von Armut und Umweltzerstörung zu entwickeln, hat sich zer- Meine Damen und Herren, die Liste der ökologi- schlagen. Wie kaum anders zu erwarten, zeigt sich in schen Problemfelder ist lang. Ich wage es nicht, dem den Industrieländern keinerlei Bereitschaft zu einer einen oder anderen Punkt oberste Priorität einzuräu- Politik, die über eine Umstrukturierung der weltwirt- men. Ich möchte aber meine Rede nicht beenden, schaftlichen Rahmenbedingungen den Ländern der ohne noch kurz auf die FCKW- und Halon-Problema- Dritten Welt überhaupt erst einmal den nötigen Hand- tik einzugehen. lungsspielraum einräumen würde, um den Teufels- Gerade im Bereich der ozonschichtschädigenden kreis von Armut und Umweltzerstörung zu durchbre- Fluorchlorkohlenwasserstoffe verfügt die internatio chen. Statt dessen geht es den Ländern des Nordens Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7605

Dr. Dagmar Enkelmann zum einen um eine möglichst kostengünstige ökologi- fordernde Position der Bundesregierung? Hier jeden- sche Abfederung ihrer verschwenderischen Wirt- falls sind Sie auch heute eine Antwort schuldig geblie- schaftssysteme, zum anderen um die Sicherung des ben. Zugriffs auf die natürlichen Ressourcen der sogenann- Oder ist man in Bonn vielleicht ganz froh über den ten Dritten Welt. breiten Rücken des Herrn Bush, hinter dem man sich Die Länder des Südens konnten sich nicht durchset- jetzt verstecken, die Hände in Unschuld waschen und zen mit ihren berechtigten Forderungen nach Ver- ansonsten alles beim Alten lassen kann? Über den handlungen über die für sie elementaren Fragen wie deutschen EG-Industriekommissar Martin Bange- globale Wirtschaftsreformen, Anpassung des Nor- mann war jedenfalls zu hören, er habe in vorderster dens, d. h. Maßnahmen für die ökologische und welt- Reihe gestanden, als einige EG-Kommissare die Ver- wirtschaftlich gerechte Umstrukturierung der Ökono- handlungen über die Einführung einer EG-weiten mien der Industrieländer, globale Armutsbekämp- Energiesteuer zu blockieren versuchten. fung sowie Schaffung demokratischer Institutionen Die EG-Kommission hat mittlerweile beschlossen, als Nachfolgemechanismen der UNCED — insbeson- die Einführung einer kombinierten Energie- und dere im Finanzbereich —, eines von der Weltbank CO2-Steuer in den zwölf EG-Ländern vorzuschlagen. unabhängigen Fonds. Geleitet von nationalstaatli- Aber auch sie hat schnell den breiten Rücken zum chen Interessen haben die Industrieländer statt dessen Verstecken gefunden, um ihre vollmundigen Bekun- ihren sektoralen Ansatz durchgesetzt, nämlich dungen nicht umsetzen zu müssen; denn, Herr Kol- getrennte Verhandlungen über Konventionen zu lege Grüner, mit Rücksicht auf die internationale Klima, Wäldern und Artenvielfalt. Wettbewerbsfähigkeit der westeuropäischen Indu- Von der ursprünglich geplanten Erdcharta binden- strie könne die Steuer nur dann eingeführt werden, den internationalen Rechts — ähnlich der Charta der wenn sich wichtige andere Industrieländer auf der Menschenrechte, die alle Nationen zur Erhaltung der Rio-Konferenz zu einem ähnlichen Schritt verpflichte- Lebensgrundlage auf unserem Planeten verpflichten ten. Mit den „wichtigen anderen Ländern" sind vor sollte — ist nur noch die sogenannte Rio-Erklärung allem die USA gemeint. Und hier beißt sich die Katze über Umwelt und Entwicklung geblieben, die weder in den Schwanz. Also ein weiterer Akt auf der Bühne die historische Schuld der Industrieländer noch deren für ökologische Wortakrobatik zur Einschläferung des parasitären Charakter benennt und schon gar keinen Weltgewissens. Ansatz liefert, den immanenten Widerspruch zwi- Konzepte zur Reduzierung der klimarelevanten schen Umwelt und Entwicklung aufzulösen. Treibhausgase sowie zur Energieeinsparung gibt es Blättert man in der Fülle von Veröffentlichungen zu Genüge: Gute, weniger gute und schlechte. Allein und Erklärungen bundesdeutscher Parteien, Politiker heute liegen uns acht verschiedene Anträge bzw. und Politikerinnen in den letzten Wochen, so könnte Berichte vor. Was fehlt, ist der Wille, diese Konzep- man glauben, die Damen und Herren redeten von te umzusetzen. Verkehrsbedingte CO2-Emissionen einer gänzlich anderen Veranstaltung. M an stolpert z. B. werden Prognosen zufolge bis zum Jahre 2005 über so schöne Rhetorik wie: „Auf dem Weg zu einer weiter drastisch ansteigen, wenn keine grundsätzli- weltweiten Umweltpartnerschaft" ; so der Untertitel che Wende in der Verkehrspolitik stattfindet. Liest einer Veranstaltung der CDU. Wenn das, was der man jedoch den ersten gesamtdeutschen Verkehrs- UNCED-Prozeß bisher geboten hat und voraussicht- wegeplan, so wird deutlich, daß von einer Abkehr von lich noch bieten wird, für die CDU für Partnerschaft der autofixierten Verkehrspolitik nicht die Rede sein steht, so kann man nur froh sein, von dieser Art kann. Eine mittlerweile deutliche Mehrheit der bun- Partnerschaft verschont zu bleiben. desrepublikanischen Bevölkerung fordert die Einfüh- rung eines Tempolimits. Nicht einmal der allseits Herr Töpfer gar rühmte in einem Inte rview mit dem beliebte Verweis auf eine einheitliche europäische Süddeutschen Rundfunk die — ich zitiere — „harte Regelung kann hier als Argument dagegen dienen. und wirklich fordernde Position, wie sie die Bundes- Denn es gibt nur eine einzige Ausnahme und das ist regierung vertritt". Welche harte und wirklich for- die Bundesrepublik. dernde Position kann Herr Töpfer meinen?, frage ich mich. Denn nur zwei Tage zuvor konnte man Aber Herr Krause weigert sich weiterhin hartnäckig den Zeitungen entnehmen: „Bundesumweltminister — die Automobilindustrie läßt grüßen. Dabei ist mitt- Klaus Töpfer betrachtet den Kompromiß bei der New lerweile schon fast abzusehen, daß das selbstge- Yorker Klimakonferenz als Erfolg." — Wie kann die steckte Ziel der Bundesregierung, die CO2-Emissio- Bundesregierung, die sich anmaßt, eine Vorreiterrolle nen bis zum Jahre 2005 um 25 bis 30 % zu verringern, in Sachen Klimaschutz einzunehmen, mit einem nicht zu erreichen sein wird. Übrigens, Herr Kollege Ergebnis zufrieden sein, das weder mengenmäßige Fischer — er ist leider nicht mehr hier —, fällt mir noch zeitliche Verpflichtungen zur Reduzierung der partout nicht ein, wo man Herrn Minister Krause Treibhausgase vorsieht? Ist es das, was die CDU mit hinschicken könnte, wo er keinen Schaden anrichten globaler Umweltpartnerschaft meint? Der weltweit kann. größte Umweltverschmutzer, die USA, die alleinver- (Zurufe von der CDU/CSU: Ha, ha, ha!) antwortlich für den Ausstoß von 25 % der Treibhaus- gase sind, erklärt: Weiteres Wirtschaftswachstum und — Auch Ihnen offensichtlich nicht. der Erhalt von Arbeitsplätzen müssen Vorrang vor Zum Knackpunkt sämtlicher Verhandlungen in Rio vielleicht überflüssigen Umweltschutzvereinbarun- wird die Finanzierung des zur Debatte stehenden gen haben. Mehr als 150 Staaten beugen sich diesem Maßnahmenkatalogs werden. Die Industrieländer Diktat? Wo, Herr Töpfer, bleibt die harte und wirklich haben begriffen, daß sie für den Zugriff auf die 7606 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Dagmar Enkelmann natürlichen Ressourcen der Dritten Welt, aber auch für Kirchen, in den Schulen, in Jugendgruppen im Vor- eine zunehmend interessanter werdende Monopol- feld dieses UNCED-Prozesses beweisen dies. stellung in der Verwaltung von Genen, der Nutzung Ich sage dies deshalb, weil ich mich insbesondere an der globalen Biovielfalt und der Handhabung gen- die Vertreter der Opposition wenden möchte. Ich technischer Forschung etwas springen lassen müssen. glaube, diese Menschen gehen mit gutem Beispiel Es ist also durchaus damit zu rechnen, daß den voran. Sie machen uns Mut. Wir sollten uns von ihnen Ländern des Südens neue Finanzmittel zur Verfügung ermutigen lassen, diesen Prozeß voranzutreiben und gestellt werden. Aber selbst die vom UNCED-Sekre- hier nicht nur Schwarzmalerei demons trieren. tariat berechnete Summe von 125 Milliarden Dollar, die einer Einlösung der alten UN-Forderung nach (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Entwicklungshilfeleistungen der Industrieländer in neten der SPD) Höhe von 0,7 % des Bruttosozialprodukts gleichkäme, Aber — ich glaube, dies muß man bei einer solchen würde keine Umkehr des negativen Ressourcentrans- Diskussion selbstkritisch einführen — die Jugend ist fers bedeuten. Berichte der Vereinten Nationen bezif- auch zunehmend beunruhigt, weil sie spürt, daß wir fern den Gesamtverlust des Südens allein für das Jahr alle gemeinsam noch auf der Suche nach den richtigen 1990 auf rund 200 Milliarden Dollar. Antworten auf die uns gestellten Herausforderungen Für eine Aufstockung der Finanzmittel für den sind. Ich meine — ich kann dies zumindest für mich globalen Umweltschutz werden die Dritte-Welt-Län- persönlich sagen —, niemand hat uns, auch im Laufe der eine weitere Kröte schlucken müssen. Statt eines des heutigen Tages, endgültige Antworten geben bei der UNO angesiedelten Grünen Fonds, wie ihn die können, auch nicht die Opposition. Es wäre gut für die Entwicklungsländer gefordert haben, wird die Welt- Diskussion bei uns in der Bundesrepublik Deutsch- bank mit der Verwaltung der erweiterten GEF-Mittel land, in unserer Gesellschaft, wenn wir mit diesem beauftragt werden, eine Institution also, die in der Thema ehrlich, aufrichtiger umgingen; ich glaube, wir Vergangenheit durch ihre Vergabepolitik den Län- wären überzeugender, gerade den jungen Menschen dern des Südens sogenannte Strukturanpassungs- gegenüber. programme aufgenötigt und damit nicht unwesentlich zur Verarmung der dort lebenden Bevölkerung beige- Daß wir uns, meine sehr verehrten Kolleginnen und tragen hat. So sieht das Zeichen aus, Herr Kollege Kollegen, jetzt im Zusammenhang mit UNCED in Lippold, das hier gesetzt wird. Nord und Süd gemeinsam um Lösungen bemühen und daß wir dies ohne die fruchtlosen Konflikte nach Die wahren Ursachen von Umweltzerstörung und dem alten Ost-West-Schema tun können, ist ein wich- Armut in der Welt müssen endlich beim Namen tiger, ein entscheidender Schritt. So gesehen können genannt werden. Es sind nicht die Menschen im wir schon heute feststellen — und ich weiß, daß auch Süden, sondern die auf Ausplünderung der Dritten diese Feststellung auf Widerspruch treffen wird —: Welt basierenden Ökonomien des Nordens, die sich Die Rio-Konferenz hat den Aufwand gelohnt. Wir sind über die von ihnen diktierten weltwirtschaftlichen relativ ambitiös in diesen Prozeß hineingegangen. Strukturen den Zugriff auf die zur Erhaltung ihres Bundeskanzler Kohl und Minister Töpfer haben dies Verschwendungswohlstands notwendigen — endli- heute morgen dargestellt. Aber — und ich glaube, chen — Ressourcen sichern und sich sehr freigiebig auch dies muß deutlich werden — wir haben es bei der dieser Länder als Müllabladeplätze bedienen. Was gesamten Konferenz nicht mit einem Datum X im Juni heute dringend not tut, ist eine deutliche Trendwende, dieses Jahres zu tun, sondern wir haben es mit einem die dem Wachstums- und Entwicklungsmodell des langen Prozeß zu tun. Nordens auf Kosten des Südens eine klare Absage erteilt. Wir haben nur diese eine Erde. Es ist fünf- (Beifall des Abg. Dr. Winfried Pinger [CDU/ Minuten vor zwölf. CSU]) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Wer sich vor Augen führt, was in den letzten zwei (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Jahren bei uns in Deutschland, in Europa, im Norden, aber auch in den Entwicklungsländern, an Prozessen, an Umdenken gelungen ist zu bewegen, der muß doch Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort sagen: Hier ist bereits Gewaltiges vorangebracht der Kollege Hans-Peter Repnik. worden. Wir müssen doch etwas in den Köpfen der Menschen im Süden, im Norden ändern. Dazu brau- chen wir Zeit. Deshalb wird die Zeit nach Rio so Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bun- wichtig sein wie die Zeit vor Rio. desminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Frau (Beifall bei der CDU/CSU) Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Der UNCED-Prozeß hat weltweit das Bewußtsein Herr Kollege Schäfer, wir sollten versuchen, gerade dafür geschärft — und die Diskussion am heutigen weil wir uns doch in der Analyse einig sind, die Vormittag hat dies erneut deutlich gemacht —, daß Konferenz nicht schon in der innenpolitischen Diskus- ohne ein Umsteuern der Art zu wirtschaften und zu sion im Vorfeld zu zerreden, madig zu machen. Wenn konsumieren, wie dies in den Industrienationen nun es gelingen soll, alle die Probleme einer Lösung einmal geschieht, das weltweite Ökosystem auf Dauer zuzuführen, von denen wir uns einig sind, daß sie keinen Bestand haben wird. Viele Menschen bei uns einer Lösung bedürfen, dann können dies nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem viele die Umwelt- und die Entwicklungspolitiker, dann junge Menschen in unserem Land, haben dies begrif- kann dies nicht nur der deutsche Bundeskanzler, fen. Auch zahllose Beispiele von Aktionen in den sondern dann bedarf es eines breiten Konsenses in der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7607

Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik Bevölkerung. Woher wollen denn die jungen Men- haben: Wir sind nicht in der Lage, in diesem kurzen schen bei uns den Mut hernehmen und Hoffnung Prozeß jetzt im Hinblick auf die Rio-Konferenz eine schöpfen, daß wir erfolgreich sein könnten, wenn wir dritte Konvention qualitativ seriös zu beraten und zu schon im Vorfeld die potentiellen Ergebnisse zerre- verabschieden; wir sind aber bereit, im Prozeß nach den? Deshalb möchte ich Sie bitten: Argumentieren Rio darauf zuzumarschieren. Dies muß doch unser wir doch nach vorn positiv. Ich glaube, es nützt der gemeinsames Bemühen sein. Ich glaube, der Vorwurf Sache. ging in die falsche Richtung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) In diesem Zusammenhang sollte noch einmal deut- lich werden — die Entwicklungspolitiker in diesem In einem Punkt, lieber Kollege Schuster, stimme ich Raum wissen es; den anderen möchte ich es zur Ihnen zu. Es ist heute schon gewiß: Den bisher Kenntnis geben —: Wir können doch nicht so tun, als erreichten Anteil der Belastungen der Luft mit Treib- ob wir par ordre du mufti den Leuten befehlen hausgasen, des Wassers mit Schadstoffen — das wird könnten: „Ab heute haben wir die Erkenntnis, und ihr viel zuwenig diskutiert, auch im Zusammenhang mit macht dies so oder anders! " Wenn wir etwas erreichen der Konferenz von Rio — und des Bodens mit chemi- wollen, geht dies nur in einem partnerschaftlichen schen Rückständen und Abfällen können wir in den Verfahren. Das heißt, wir müssen unsere Partner Industrieländern nicht auf Dauer aufrechterhalten. davon überzeugen, daß sie ihr Verhalten dort ändern Dies wurde heute bereits wiederholt gesagt. müssen, wo sie Fehler machen. Dazu müssen wir in Ich betone es aus entwicklungspolitischer Sicht den Dialog mit ihnen eintreten. Wir spüren immer noch einmal, weil wir wissen, daß dieses Verhalten deutlicher, gerade im Bereich Wald und Waldschutz, schon gar nicht zum Vorbild für Milliarden anderer wie die Vertreter der Entwicklungsländer darauf Menschen in den Entwicklungsländern dienen darf. pochen, daß sie souveräne Staaten sind, daß wir keine Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, Rechte haben, in ihre Souveränität einzugreifen. Des- müssen wir unser geballtes Wissen, unsere Phantasie, halb müssen wir sie gewinnen, und dieses Gewinnen aber auch unsere mit dem Ende des Kalten Krieges kostet Zeit. geschaffenen finanziellen Spielräume nutzen, um Wege zu einem wesentlich effizienteren Einsatz von Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Rep- Rohstoffen und Energie aufzuzeigen. Wir brauchen nik, die Zwischenfrage ist also gestattet. Bitte, Frau bei uns eine Effizienzrevolution. Die Entwicklungs- Kollegin Hartenstein. länder haben unser Wirtschaftssystem bisher kopiert. Sie werden es auch in der Zukunft tun, ob wir wollen Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bun- oder nicht. Darum haben wir, wie ich meine, die desminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Bitte Pflicht, es so zu gestalten, daß es auch weltweit sehr. übertragbar ist. Ich glaube, Herr Töpfer hat gerade hierzu eine Reihe von Anmerkungen gemacht, wie (SPD): Herr Staatssekretär, dies geschehen könnte. Dr. Liesel Hartenstein Sie haben dem Hause dargelegt, was Sie zur Förde- Ich möchte gern auf Frau Kollegin Hartenstein rung der regenerativen Energien, insbesondere in den eingehen, weil sie einige Fragen gestellt hat. Frau Entwicklungsländern, tun. Können Sie mir bestätigen, Kollegin Hartenstein, Sie haben gefragt: Was tun wir daß auf der anderen Seite der Bundesforschungsmini- eigentlich im Bereich regenerative Energien? Wir ster immer noch ein Mehrfaches der Summe, die er für stehen doch auch hier nicht am Anfang und sollten alternative Energien ausgibt, für die Förderung der nicht den Eindruck vermitteln, als hätten wir bisher - Kernenergie einschließlich der Kernfusion verwen- geschlafen. Wir haben gehandelt, was nicht bedeutet, det; und halten Sie dies für richtig? daß wir in Zukunft nicht noch mehr tun müssen. (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist der eigent Wir haben allein in unserer bilateralen Zusammen- liche Skandal!) arbeit mit dem Süden für den Bereich der regenerati- ven Energien immerhin 430 Millionen DM in Projek- Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bun- ten umgesetzt. Wir haben für den Bereich Wasserkraft desminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Ver- in der finanziellen Zusammenarbeit 2,6 Milliarden ehrte Frau Kollegin Hartenstein, ich kann nur sagen, DM eingesetzt, und zwar zunehmend in kleinere daß wir in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesfor- umweltverträgliche Projekte. Ich glaube, dies ist ein schungsminister, weil auch er eine Reihe von Projek- wichtiger Schritt. ten aufgelegt hat, in den vergangenen Jahren den Gestatten Sie bitte, bevor Sie die Zwischenfrage Anteil der Mittel in der Forschung und in der Umset- stellen, Frau Kollegin Hartenstein, daß ich auch noch zung im Gesamtbereich alternativer Energien kräftig das Thema Waldkonvention anspreche. Sie wissen erhöht haben und daß wir auch in der Zukunft diesem — machen Sie da der Bundesregierung bitte keinen Bereich eine besondere Priorität beimessen wollen. Vorwurf; wir sind uns da noch einig —, daß wir diese Auch hier befinden wir uns natürlich in einem Waldkonvention angestrebt haben, daß wir uns in Bewußtseinsbildungsprozeß, der aber, wie ich meine, allen Verhandlungsteilen bemüht haben, diese Kon- in die richtige Richtung weist und schon eine ganze vention zustande zu bringen. Die Tatsache, daß es Reihe von Erfolgen aufweisen kann. nicht gelungen ist, lag weder an der Bundesregierung noch an anderen Industrienationen — zumindest nicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Rep- in erster Linie —, sondern es lag am Unvermögen der nik, es gibt den zweiten Wunsch nach einer Zwischen- Regierungsvertreter aus dem Süden, die gesagt frage, und zwar von dem Kollegen Grüner. 7608 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bun- Wir werden im Bereich der globalen Umweltfazilität desminister für wirtschaft liche Zusammenarbeit: unseren Beitrag leisten, übrigens — das ist ganz Gern. wichtig — auch zum Zustandekommen der Klima- konvention. Wir werden im Blick auf die Agenda 21 Martin Grüner (F.D.P.): Herr Staatssekretär, ich ein Paket vorlegen. Wir machen uns Gedanken dar- möchte Sie fragen, ob Sie eine Chance, den Techno- über, wie man mit anderen gemeinsam — auch dies logietransfer in die Entwicklungsländer und die För- hat der Bundeskanzler ja gesagt — an das Thema derung erneuerbarer Energien mit Blick auf die Schuldenerlaß herangehen muß. Seien Sie versichert, UNCED-Konferenz zu symbolisieren, darin sähen, daß wir nicht nur platonisch, sondern mit ganz hand- wenn die Bundesregierung den Vorschlag der festen konkreten Aussagen nach Rio fahren. Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" aufgriffe, ein Solarkraftwerk im Sonnengürtel der Wir werden mit Sicherheit nicht mit einem Projekt, Erde zusammen mit anderen Industrieländern und wie Sie es vorhin erwähnt haben, in Rio auftreten. Ich einem dafür geeigneten Entwicklungsland zu bauen sage noch einmal: Auf Grund langer entwicklungspo- — als ein verständliches Symbol gerade für die litischer Erfahrung halte ich gar nichts davon, ein Jugend. Projekt symbolisch, beispielhaft irgendwohin in die Welt zu stellen. Die Erfahrung hat uns doch gezeigt, Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bun- daß gerade technisch schwierige Projekte mit schwie- desminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Herr riger Akzeptanz bei der Bevölkerung in aller Regel Kollege Grüner, wir haben ja in der Agenda 21 eine zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie nicht langfri- ganze Reihe einzelner Themen. Bei diesen Themen stig vorbereitet sind. Deshalb bedarf ein Projekt, wie spielen ja auch der Technologietransfer und die Ener- es die Enquete-Kommission hier dargestellt hat, einer giesituation eine Rolle. Wir werden mit Sicherheit sehr langfristigen Vorbereitung, einer sehr sorgfälti- auch durch einzelne symbolische Projekte darstellen gen Standortauswahl und einer entsprechenden Part- können, daß wir die Agenda 21 mit Leben erfüllen nerauswahl. Das können Sie nicht einfach von heute werden. Wir sind bei der Suche nach einem geeigne- auf morgen aus den Ärmeln schütteln. Dafür bitte ich ten Standort. Ich kann Ihnen heute nicht zusagen, daß um Verständnis. wir fündig werden, wohl aber, daß wir das Thema Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich ernst nehmen und uns um etwas bemühen, was Sinn möchte durchaus selbstkritisch einfügen — weil wir macht. Sinn machen muß es allerdings; es geht nicht das bei uns in der innenpolitischen Diskussion immer an, einen weißen Elefanten irgendwohin zu stellen. wieder hören; ein paarmal zumindest ist es heute Ich bin ganz sicher, daß wir, wenn wir einen Standort morgen auch hier angeklungen —: In schwierigen und ein Projekt finden, im Sinn des Vorschlags der Situationen neigen die Menschen dazu, zunächst Enquete-Kommission zu einem Ergebnis kommen danach zu fragen, was andere — in dem Fall der werden. An unserem Bemühen soll es nicht fehlen. Süden — zur Lösung beitragen können. Und die Forderungen sind ja auch richtig: Schützt die Tropen- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Rep- nik, ich würde noch eine dritte Zwischenfrage zulas- wälder mit ihrem unermeßlichen Artenreichtum und sen, wenn auch Sie es tun, nämlich eine Zwischen- ihrer Klimafunktion! Bremst — auch das wurde heute frage der Kollegin Ganseforth. morgen gesagt — das Bevölkerungswachstum! Macht nicht unsere Fehler beim unbeschränkten Energiever- Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bun- brauch! Es liegt in unser aller langfristigem Interesse desminister für wirtschaft liche Zusammenarbeit: an der Überlebensfähigkeit dieses Planeten. Gern. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Vertreter der Länder des Südens sehen das natürlich anders. Ihr (SPD): Ich möchte da anschlie- Monika Ganseforth Interesse ist es häufig, zunächst einmal den nächsten ßen. Wir haben in der Enquete-Kommission einen Tag zu überleben. Das ist für 1 Milliarde Menschen Vorschlag zu dem Solarkraftwerk im Sonnengürtel durchaus ungewiß. Sie leben in absoluter Armut. gemacht und haben das auch mit Industrievertretern 40 000 Kinder — das im Blick zu haben ist wichtig, besprochen, die das befürworten und durchführen wenn wir über Rio sprechen — sterben in den Ent- würden. Leider stellte sich dabei heraus, daß das vom wicklungsländern täglich an Hunger und vermeidba- Entwicklungsministerium, vom Forschungsministe- ren Krankheiten. Deshalb pochen die Entwicklungs- rium und vom Wirtschaftsministerium aus jeweils länder — wie ich meine, zu Recht — natürlich auch unterschiedlichen Gründen nicht aufgegriffen wer- auf ein Recht zur Entwicklung. Erst dann wollen sie den konnte, weil es den Richtlinien der Ministerien — das ist unser täglich Brot und Geschäft — über nicht entspricht. Würden Sie es nicht für sinnvoll Umwelt sprechen. Auch das ist, meine ich, verständ- halten, wenn der Bundeskanzler, statt mit leeren lich. Händen nach Rio zu gehen, dieses Projekt aufgriffe und Möglichkeiten zur Realisierung dieses Projektes Aber heute wissen wir, daß dies kein Entweder auch aus dem Entwicklungsministerium fände? Oder sein muß. Der gerade von der Weltbank vorge- legte Weltentwicklungsbericht — ich möchte ihn im Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bun- Gegensatz zum Kollegen Fischer in diesem Punkt desminister für wirtschaft liche Zusammenarbeit: Frau positiv zitieren — macht deutlich, daß Wachstum, Kollegin Ganseforth, der Bundeskanzler wird nicht Entwicklung und Wohlstandsmehrung bei gleichzeiti- mit leeren Händen nach Rio fahren. Das ist heute ger Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen morgen deutlich geworden. durch richtige und rechtzeitige Weichenstellungen (Detlev von Larcher [SPD]: Na!) möglich sind. Allerdings wissen wir auch — da möchte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7609

Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik ich auf Sie noch einmal eingehen, Herr Kollege Wir sollten es nicht den Lemmingen nachmachen, Hauchler —, daß Armutsbekämpfung im Mittelpunkt Herr Kollege Hauchler, sondern mit gutem Beispiel all unseres Tuns stehen muß. Das ist auch unsere vorangehen. Strategie; denn Armut ist das größte Umweltgift im (Zuruf von der SPD: Eben das fordern wir ja; Süden. Und im übrigen führt Armut zu einer beschleu- aber dann muß man auch die Wahrheit nigten Bevölkerungsentwicklung. sagen!) Dann bin ich sicher, daß wir die Chance haben Wesentlich ist der Einsatz geeigneter ökonomischer werden, die große Zukunftsaufgabe, die in Rio auf der Instrumente und wirtschaftlicher Anreizsysteme, die Tagesordnung steht, verantwortlich zu meistern. das Verhalten der Menschen im Süden beeinflussen. Ich glaube, wir würden nicht richtig h andeln, wenn (Beifall bei der CDU/CSU) wir in einer solchen Debatte wie heute morgen nicht auch die Verantwortung des Südens ansprechen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bevor ich unsere würden. All unser Bemühen würde erfolglos bleiben, nächste Rednerin aufrufe, habe ich die Freude, auf der wenn der Süden nicht bereit ist, entsprechende Rah- Ehrentribüne eine Delegation des ungarischen Parla- menbedingungen zu setzen. Er muß rechtliche, er ments, und zwar seines Umweltausschusses, mit sei- muß soziale, er muß umweltpolitische Rahmenbedin- nem Vorsitzenden, Herrn Dr. Nandor Rott, begrüßen gungen setzen. Wenn das nicht geschieht, dann hat zu können. Wir freuen uns, daß Sie hier unserer auch die ganze Hilfe keinen Sinn. Debatte beiwohnen, und begrüßen Sie herzlich bei uns. Herr Kollege Hauchler, nicht „spätestens in Rio" (Beifall im ganzen Hause) müssen wir beginnen, wie Sie es gefordert haben. Der Außerdem möchte ich die Kolleginnen und Kolle- größere Teil dessen, was in der Agenda 21, die in Rio gen darauf hinweisen, daß wir mit unserer Debatte zu verabschiedet werden wird, angesprochen ist, ist diesem Tagesordnungspunkt eventuell etwas vor der Gegenstand unseres tagtäglichen entwicklungspoliti- Zeit fertig werden könnten und daß dann ohne Mit- schen Handelns. Vieles davon haben wir eingeführt. tagspause der nächste Tagesordnungspunkt aufgeru- Gerade der UNCED-Prozeß hat deutlich gemacht, daß fen wird. die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Entwick- Nun hat das Wort Frau Kollegin Professor Monika lungszusammenarbeit auf einem guten und richtigen Ganseforth. Wege ist. Wir wollen dort weitermachen. Monika Ganseforth (SPD): Frau Präsidentin! Meine Auch in einem anderen Bereich sind wir durchaus Herren und Damen! Herr Repnik hat davon gespro- vorbildlich. Wir waren eines der ersten Länder, das chen, daß Dritte-Welt-Gruppen uns Mut machen kön- eine konsequente Umweltverträglichkeitsprüfung nen und daß sich einzelne sehr engagiert bemühen, eingeführt hat. Mittlerweile nutzt auch die Weltbank die Situation zwischen den Industrieländern und den dieses Instrument, mittlerweile haben es viele andere Entwicklungsländern auf eine faire Basis zu stellen. Geber. Das heißt: Beispiel gebend haben wir vieles Ich hatte gerade so eine Besuchergruppe vorletzte bewirkt. Woche in Bonn. Ich muß Ihnen sagen: Die haben mir zwar Mut gemacht, aber sie sind ziemlich dep rimiert Die Einbindung von Projekten in nationale Strate- weggegangen, vor allem nach dem Gespräch im gien nachhaltiger Entwicklung, vor allen Dingen in Entwicklungshilfeministerium. Das war sehr ernüch Afrika, ist doch auch ein Ergebnis unseres gemeinsa- - ternd, und ihnen ist klargeworden, warum manches so men Bemühens. Auch deshalb sollten wir den Prozeß schwierig ist. Ich denke, das Engagement auf der positiv und nicht negativ begleiten. Wir haben in einen Seite muß aufgegriffen werden, aber auf der unserer Rahmenplanung '92 mittlerweile 27 % unse- anderen Seite, auf der Seite der Politik, müssen rer gesamten Ausgaben für umwelt- und ressourcen- Strukturen geschaffen werden, und daran fehlt es schonende Projekte eingesetzt. Das ist doch eine ganz häufig. vorzügliche Entwicklung, und 300 Millionen DM (Beifall bei der SPD) Zusagen für Walderhaltung und Forstentwicklung, die wir gemeinsam mit den betroffenen Menschen Herr Repnik, Sie sagen außerdem — ich finde, man machen wollen, sollten uns Mut machen. muß da schon sehr bescheiden geworden sein —: Rio hat sich gelohnt. Wir haben große Erwartungen damit verbunden und haben gehofft, daß die Chance Ich möchte heute morgen aus meiner Sicht die genutzt wird, die Herausforderungen, vor denen wir Opposition, aber auch alle Gruppierungen, die stehen, mindestens anzupacken und einen großen Umweltverbände, die an diesem Thema interessiert Schritt vorwärtszugehen. Wenn m an sieht, wie im sind, einladen, so wie dies in den letzten Monaten Vorfeld an jeder Stelle immer wieder gezögert wurde geschehen ist, im nationalen Komitee zur Vorberei- und dann doch nicht gewagt wurde, einen Schritt tung der Rio-Konferenz weiterhin mitzumachen, uns vorwärtszugehen, sei es auf nationaler, auf europäi- kritisch, aber konstruktiv zu begleiten. Mitmachen, scher oder auf internationaler Ebene und vor allen Kollege Schäfer, nicht miesmachen! Nur dann werden Dingen auf Seiten der Industrienationen, dann muß wir eine Chance haben. man schon sehr bescheiden sein, wenn man dieses Ergebnis begrüßt. Mitmachen ist sicher weiterhin (Zuruf von der SPD: Es geht ja nicht vor- nötig, weil die Probleme da sind und wir sehen wärts! ) müssen, wie wir zu Lösungen kommen. Wir können 7610 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Monika Ganseforth nicht resignieren und aufhören zu kämpfen; aber ein nannt. Das Benennen von Zielen ist die eine Seite, das Erfolg ist das nicht. Realisieren jedoch eine zweite. Unsere nachfolgen- den Generationen werden uns jedoch nicht an unse- Wir haben uns in der Enquete-Kommission Schutz ren Aussagen und Ansprüchen messen, sondern sie der Erdatmosphäre noch im Vorfeld vereinbart und werden uns an dem messen, was wir getan haben und gesagt: Wir wollen noch einmal einen Impuls für Rio was wir durchgesetzt haben. geben; wir wollen einen Bericht machen, in dem wir auf die Gefahren hinweisen und das aufschreiben und Frau Präsidentin, ich habe eine Frage zu meiner zusammenfassen, was wir wissen. Unser Bericht heißt: Redezeit; da kann etwas nicht stimmen. Die Uhr steht „Klimaänderung gefährdet Entwicklung — Zukunft auf Null, ich habe aber 8 Minuten Redezeit. sichern! Jetzt handeln!" Alles wichtig, alles richtig. Wir wollten damit auch deutlich machen, daß es keine Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das ist richtig, Ausreden mehr gibt, nicht zu handeln, daß die For- Frau Kollegin, ich werde es prüfen lassen. schungsergebnisse so erhärtet sind, daß die Beweise für auf uns zukommende Klimaveränderungen erdrückend sind. Wir haben vor allen Dingen auf der Monika Ganseforth (SPD): Wir haben große natio- Zeitschiene enorme Probleme; denn das, was wir nale Aussagen gemacht; woran es fehlt ist die Durch- heute machen, wirkt sich in den nachfolgenden Gene- setzung. Die Ziele — das muß man noch einmal sagen; rationen aus. es ist schon gesagt worden —, die die Regierung zugesagt hat, sind auf der Grundlage der Erarbeitung Der Mensch hat in einem ungemein großen Ausmaß der Enquete-Kommission und auf der Grundlage der in das komplizierte Räderwerk des Klimas eingegrif- Bundestagsbeschlüsse entstanden. Die 25%ige CO2- fen. Ozeane, Atmosphäre, Wolken und Wind wirken Reduzierung bis zum Jahr 2005 ging uns nicht weit zusammen und sind hochgradig gestört. Das Klima genug. Immerhin: Wenn sie angepackt würde, wäre läuft aus dem Ruder. Die Anfänge sind deutlich zu sie schon ein großer Schritt in die richtige Richtung. sehen. Die genauen Auswirkungen kennen wir nicht, Leider ist es aber bei diesen Aussagen geblieben. vor allen Dingen nicht bis in jedes Detail; aber wir wissen genug, um sagen zu müssen: Es muß gehandelt Die Städte des Klimabündnisses haben für sich werden; es ist unverantwortlich, weiter CO2, FCKW, selbst weitergehende Ziele formuliert. Wir hatten in Methan, Distickstoffoxid und andere Stoffe in die der letzten Woche ein Gespräch mit Vertretern dieser Atmosphäre zu emittieren. Wenn wir ganz genau Städte, die sehr beklagen, daß die Rahmenbedingun- wissen, wie die Zusammenhänge sind, ist es zu spät. gen bei der Durchsetzung der Klimaschutzpolitik in Wir befinden uns in einem riesigen Experiment. Die den Kommunen und für den einzelnen so schwierig Beweise erhärten sich. Die regionalen Auswirkungen sind. Wie sollen z. B. die notwendigen Energiespar- in jedem Detail wird man aber erst wissen, wenn man potentiale aktiviert und in einem Energiemarkt mobi- nicht mehr eingreifen kann. Wir befinden uns also im lisiert werden, auf dem ein Überangebot besteht? Wie Wettlauf mit der Zeit. sollen regenerative Energien durchgesetzt werden, wenn die Energiepreise und die Randbedingungen Es ist unverantwortlich, daß immer wieder Schlupf- nicht stimmen? Die Energieversorgungsstrukturen, löcher und Ausreden gesucht werden, daß der die zentral und angebotsorientiert sind und von Mono- Schwarze Peter weitergegeben wird und keine Klima- polen beherrscht werden, verhindern die notwendi- schutzpolitik — die den Namen verdient — eingeleitet gen Umstrukturierungen. wird. Dabei ist es so: Auch das Nichtstun ist teuer, sehr teuer. Auf europäischer Ebene findet sogar eine gewaltige Liberalisierung des Energiemarktes statt, die genau (Beifall bei der SPD) - das Gegenteil bewirkt. Sie baut nämlich Schwierig- Wir haben beispielsweise gehört, daß die Häufig- keiten und Hürden für Energiesparpotentiale, für keit und das Schadensausmaß der Umweltkatastro- regenerative Energien, für Kraft-Wärme-Kopplung, phen drastisch zugenommen haben. Während in den für alles, was nötig ist, auf. 60er Jahren 14 Katastrophen gezählt wurden, waren (Beifall bei der SPD) es in den 80er Jahren fünfmal so viel, nämlich 70 Ka- Energiesparinvestitionen, die sich langfristig amor- tastrophen. tisieren, brauchen Anreize. Es muß steuerliche Wer Kosten beklagt, die durch vorbeugende Klima- Anreize geben, die es bis zum Ende des letzten Jahres schutzpolitik entstehen, muß wissen, welche Kosten noch gegeben hat. Der Ausstieg aus der FCKW- entstehen, wenn Klimaschutzpolitik nicht eingeleitet Produktion und -Anwendung muß sofort erfolgen. Wir wird. Das fehlt in der nationalen und in der interna- haben heute auch einen Antrag, endlich aus der tionalen Diskussion völlig. FCKW-Produktion auszusteigen, vorliegen; das muß gemacht und mit Nachdruck betrieben werden. In unserem Bericht haben wir gesagt, daß man international handeln muß. Das bringt natürlich mehr. Die notwendige Verkehrswende muß eingeleitet Es kann aber nur überzeugend sein, wenn einzelne werden. Die Städte fragen: Wie sollen wir eine Ver- Länder, die dazu wirtschaftlich, technisch und poli- kehrspolitik machen, wenn die Rahmenbedingungen tisch in der Lage sind, zeigen, daß es geht und wie es den Individualverkehr an allen Stellen fördern und geht. Hier ist die Bundesrepublik gefragt. Es gibt der Schienenverkehr, das Fahrrad, der öffentliche einige Länder, die sich ehrgeizige Ziele gesetzt Nahverkehr überall hinterherhinken und in dieser haben, wir sind es nicht allein: Österreich, Dänemark, Konkurrenz nur Nachteile erleben? Neuseeland, Australien, die Niederlande, Italien und (V o r s i t z : Vizepräsident Dieter-Julius Cro die Bundesrepublik Deutschland haben Ziele be- nenberg) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7611

Monika Ganseforth Es bedarf einer glaubwürdigen nationalen Aus- Im Rahmen dieses kurzen Redebeitrages können stiegspolitik sowohl in bezug auf die Emission von nur einige Punkte angesprochen werden: Um z. B. FCKW, CO2, Methan als auch alle Emissionen, die neue Produktionsrekorde mit immer schnelleren zum Treibhauseffekt und zum Ozonabbau beitragen, Maschinen zu erreichen, müssen zunehmend umwelt- auf nationaler und internationaler Ebene. Das geht belastende Stoffe eingesetzt werden. nicht zum Nulltarif, doch Nichtstun kostet auch Nach einer Befragung der IG Metall klagen die etwas. Kolleginnen und Kollegen in der Metallverarbeitung Es ist die Verantwortung und die Aufgabe der inzwischen nicht mehr so sehr über schwere körperli- Politik, diese erkannten Gefahren nicht zu verdrän- che Kraftanstrengungen, sondern vor allem über Bela- gen, sondern nach Lösungen zu suchen. Wir werden stungen durch Stäube, Flüssigkeiten, Dämpfe und nicht an unseren guten Absichten gemessen, wir Gase — Dämpfe und Gase, die eben auch, wie im Falle werden an dem gemessen, was wir getan haben. Und der Fluorchlorkohlenwasserstoffe die Erdatmosphäre das ist noch nicht viel! belasten oder gar zerstören. (Beifall bei der SPD) Eine von High-Tech, von Spitzentechnologien geprägte Wirtschaft ist im übrigen auch — das sei an der Stelle angemerkt — wegen der hohen notwendi- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort gen Kapitalintensität ökologisch nicht unproblema- hat der Abgeordnete Dr. Briefs. tisch; denn schon wegen der gerade gegenwärtig rapide steigenden notwendigen Kapitalintensität in der modernen Produktion muß immer mehr und Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bereitschaft aller im immer schneller produziert werden. Und dann treten Hause vertretenen politischen Kräfte, irgend etwas die Effekte ein, über die wir heute diskutieren. gegen die weitere Umweltzerstörung und zum Schutz Also nicht nur die stoffliche Struktur der Produktion, insbesondere der Erdatmosphäre zu tun, ist nicht der Verfahren, der Produkte, der Roh-, Hilfs- und bestreitbar. Allerdings, die hier und heute konkret Betriebsstoffe sind unter ökologischen Gesichtspunk- vorgeschlagenen Maßnahmen sind notwendig, bei ten zu analysieren und entsprechende Veränderun- weitem aber nicht hinreichend. Immer noch wird zu gen in die Wege zu leiten, sondern auch die ökono- sehr nach dem Muster verfahren: Wasch' mir den Pelz, mische Zwangsdynamik, das unaufhörliche Zwangs- aber mach' mich nicht naß! wachstum der kapitalistischen Marktwirtschaft sind Obwohl die Bevölkerung in weiten Bereichen zu einzudämmen bzw. in wesentlichen Bereichen außer Opfern bereit ist, wird mit der schmerzhaften Wahr- Kraft zu setzen. heit nach wie vor hinter dem Berg gehalten. Die Was nützen Energieeinsparung, effizienterer Res- schmerzhafte Wahrheit lautet: Wir können, wenn wir sourceneinsatz, die Reduzierung der CO2-Emissio- für unsere Kinder und Enkel, von denen wir die Erde nen, wenn z. B. durch die Verdoppelung des Brutto- und auch die Erdatmosphäre nur geborgt haben, das sozialprodukts in den nächsten 20 oder 25 Jahren das Überleben sichern wollen, nicht weiter so verbrau- Gesamtemissionsvolumen wiederhergestellt oder gar chen, insbesondere nicht weiter so herumrasen, vor überholt wird? Was nützen neue Umwelttechnolo- allem aber auch nicht weiter so produzieren wie gien, wenn zur Realisierung dieser Technologien z. B. bisher. fensterlose, klimatisierte Fabriken notwendig sind, Daran insbesondere gebricht es den hier und heute die den Energieverbrauch natürlich hochdrücken? vorgelegten und diskutierten Vorschlägen. Wir müs- Klimatisiert werden diese Fabriken — das sei ange- sen die Produktion und die Art und Weise, wie wir merkt — übrigens nicht der Arbeiter und Arbeiterin- produzieren, verändern, zum Teil grundlegend verän- nen wegen, sondern wegen der Hochpräzisionsma- dern, ja in bestimmten Bereichen, z. B. dort, wo giftige schinerie, die computergesteuert in solchen Fabriken und hochgiftige Stoffe als Roh-, Hilfs- oder Betriebs- eingesetzt wird. stoffe eingesetzt werden und für die keine Ersatzstoffe (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Mein Gott, was gefunden sind oder gefunden werden können, auf die reden Sie für einen Unsinn!) entsprechenden Produktionslinien verzichten. Wie z. B. der BUND fordert, sind derartige ökologische Die treibende Kraft hinter dieser Zwangswachs- Produktionsanalysen aber erst einmal als verbindli- tumsdynamik ist nichts anderes als das der kapitali- ches Element unternehmerischer Investitionsent- stischen Marktwirtschaft innewohnende und vor scheidungen überhaupt einzuführen. allen anderen Zielen rangierende Ziel des Gewinn- Die Forderung von Bündnis 90/GRÜNE nach dem und Kapitalwachstums. Das ist keine dogmatische sofortigen Verbot der Produktion, der Verwendung, Aussage, sondern alltägliche betriebliche Praxis in der des Imports und des Exports von Fluorkohlenwasser- Marktwirtschaft. Ein Betriebskapital, das zehn Jahre stoffen, aller vollhalogenierten FCKW, aller Halone, lang mit nur 7 % — das ist eine bescheidene Annahme aller teilhalogenisierten FCKW, aller sonstigen klima- — intern verzinst wird, verdoppelt sich in diesem schädlichen FCKW und von bestimmten Chlorwasser- Zeitraum. Zu dieser Verdoppelung ist im Regelfall stoffen ist voll zu unterstützen. Dahinter steht aller- eben auch eine weitere erhebliche Ausdehnung der dings die weitergehende Notwendigkeit, die herr- Produktion und in der Konsequenz auch der Verbräu- schende Produktionslogik und im Grunde auch die che notwendig. herrschende Wirtschaftslogik, die Logik des „immer Auf Gedeih und Verderb — bei Strafe des Unter- mehr" und „immer schneller" außer Kraft zu set- gangs — müssen die Betriebe die Umsätze und die zen. Produktion steigern, damit die Vermögen wachsen — 7612 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Ulrich Briefs I zunehmend zu Lasten der Umwelt und gerade auch Herr Präsident, ich danke Ihnen. der Erdatmosphäre. Das ist ja das Problem hier. Und (Beifall bei der PDS/Linke Liste) das, obwohl wir in Deutschland heute in einer Stunde ungefähr so viel produzieren wie Ende der 40er Jahre an einem ganzen Tag. Und das, obwohl wir wohl noch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort in diesem Jahrhundert in Deutschland — trotz der hat der Abgeordnete Dr. F riedrich. Probleme im Osten — im volkswirtschaftlichen Durch- schnitt die Schallmauer von 100 000 DM Produktions- Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Herr Präsident! leistung pro Arbeitsplatz im Jahr durchbrechen wer- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Briefs den. hat jetzt das Klagelied über die bösen Kapitalisten Aus diesen und vielen, im einzelnen jetzt gar nicht gesungen. Er hat beklagt, daß wir im Umweltetat mehr ansprechbaren Gründen möchte ich daher relativ wenige Haushaltsmittel bereithalten. Herr Kol- einige weitere, über die bisherige Diskussion hinaus- lege Briefs, das hat seinen Grund darin, daß wir gehende unabweisbare Notwendigkeiten für die verursachergerechte Umweltpolitik machen. Wenn Lösung der Klimaproblematik stichwortartig anfüh- es irgendwo in der Wirtschaft Umweltprobleme gibt, sind wir nicht bereit, dies mit Haushaltsmitteln zu ren. Dazu gehören erstens weitere Arbeitszeitverkür- zungen. Nicht geleistete Arbeitsstunden, radikale finanzieren. Wir legen vielmehr die Lasten denjeni- Arbeitszeitverkürzungen können ein ganz nachhalti- gen auf, die die Probleme verursachen. Wenn Sie das ger Beitrag zur Bekämpfung der Klimakatastrophe einmal gelernt haben, dann können wir uns weiter sein unter der Voraussetzung — das muß man dabei unterhalten. immer sehen — einer sozialen und ökologischen Ich möchte jetzt nicht das fortsetzen, was viele Analyse sowie Beherrschung der Produktion in der meiner Vorrednerinnen und Vorredner gemacht verbleibenden Arbeitszeit. haben, nämlich der Bundesregierung weitere Rat- schläge für die Konferenz in Rio zu erteilen. Wir Zweitens. Den Kolleginnen und Kollegen an ihren müssen feststellen, daß wir eigentlich ein breites Arbeitsplätzen, den Betriebs- und Personalräten, den Einvernehmen darüber haben, was notwendig wäre, demokratisch gewählten Interessenvertretungen der daß wir uns aber international, zumindest kurzfristig, Beschäftigten, der wirklichen Leistungsträger dieser leider nicht voll durchsetzen können. Es hat keinen Gesellschaft, muß ein umfassendes ökologisches Mit- Sinn, die Bundesregierung zu kritisieren, weil sie für bestimmungsrecht bis hin zum Arbeitsverweige- ihre Vorschläge international auf großen Konferenzen rungsrecht bei gesundheitlich und ökologisch schäd- keine Mehrheit bekommt. lichen neuen Verfahren und Produkten eingeräumt Ich möchte ein bißchen auf unsere innerstaatliche werden. Eine Forderung, die die IG Metall im Bezirk Diskussion eingehen. Da gibt es einige Meinungsver- Stuttgart bereits vor etwa zehn Jahren erhoben hat. schiedenheiten, die vielleicht heute nicht deutlich Die ökologische Novellierung des Betriebsverfas- geworden sind, weil überwiegend Umweltpolitiker sungsgesetzes — 40 Jahre nach dem ersten Betriebs- geredet haben. Auch uns fällt natürlich auf — einige verfassungsgesetz und 20 Jahre nach der ersten Kollegen der SPD haben das angesprochen —, daß es umfassenden Reform — ist überfällig. interministerielle Arbeitsgruppen gibt, die Maßnah- Drittens. Der geringe Anteil des Umweltetats am menkataloge erarbeiten und diese in Sachen CO2- Bundeshaushalt ist ein Treppenwitz. Es müssen Programm immer mehr verfeinern, daß wir das Ziel, umfangreichere Mittel, gesteigert um mehrere Grö- auf das wir uns geeinigt haben, nämlich die Reduktion ßenordnungen, für ökologische Produkt- und Verfah- um mindestens 25 % bis zum Jahre 2005, immer renskonversionen, für Forschungs-, Beratungs- und wieder bekräftigen, daß es aber beim Vollzug dieses Umsetzungsaktivitäten gerade auch im Bereich klei- Maßnahmenkataloges noch hakt. Darüber müssen nerer und mittlerer Unternehmen zur Verfügung wir offen und ehrlich reden. Diese Ursachen sind aber gestellt werden. Nach dem ersatzlosen Wegfall des heute nicht so zum Ausdruck gekommen, weil, wie traditionellen Feindes im Osten könnten dafür im gesagt, überwiegend Umweltpolitiker gesprochen Prinzip mehrere Milliarden D-Mark — wenn wir haben. wollen, sogar 20 oder mehr Milliarden — aus dem Wir müssen uns noch mit denjenigen auseinander- Rüstungsetat zur Verfügung gestellt werden. setzen und bei ihnen noch Überzeugungsarbeit lei- sten, die Bedenken gegen das Instrument der Viertens. Eine besondere Bedeutung kommt in Umweltabgaben haben; diese gibt es. Diejenigen, die diesem Zusammenhang der Forschungs - und Tech- sich in der Wirtschaft Sorgen um den Wirtschafts- nologiepolitik von Bund und Ländern zu. Organisa- standort Deutschland machen, wehren sich natürlich tionen wie der Bund demokratischer Wissenschaftler zur Zeit gegen alle zusätzlichen finanziellen Lasten. und Wissenschaftlerinnen fordern deshalb zurecht Wir stellen dann aber ganz erstaunt fest, wieviel und mit sehr konkreten Vorschlägen eine umfassende Masse noch zur Verfügung steht, wenn man bei kologisierungÖdieses Politikbereichs. Tarifverhandlungen zu Abschlüssen kommen muß. Es Abschließend möchte ich Sie in diesem Zusammen- darf nicht so sein, daß erst Tarifpolitik gemacht wird, hang auf die Vorschläge der Arbeitsgruppe „Ökologi- daß dann die Sozialpolitik sozusagen bef riedigt wird sche Wirtschaftspolitik" für ein Aktionsprogramm der und daß dann am Ende die Umweltpolitik hinten Bundesregierung mit dem Titel „Klimaschutz braucht herunterfällt. Taten statt große Worte" hinweisen. Klimaschutz Es gibt auch bei uns Wirtschafts- und Finanzpoliti- braucht Taten statt große Worte — ich glaube, das ist ker, die angemessene Rahmenbedingungen für die hier und heute die richtige Devise. Wirtschaft an möglichst niedrigen Abgabequoten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7613

Dr. Gerhard Friedrich messen; das ist auch nicht grundlegend falsch. Wirt- lieber, daß man sich auch europaweit auf eine reine schafts- und Finanzpolitiker haben festgestellt, daß sie CO2-Abgabe beschränkt, weil dieses Instrument sehr anläßlich der Probleme der deutschen Einheit zu viel treffsicherer ist. einem eigenen Sündenfall gezwungen wurden, näm- Wenn wir uns für marktwirtschaftliche Instrumente lich Steuern zu erhöhen. Sie möchten jetzt, daß wir in der Umweltpolitik einsetzen — ganz besonders auf durch Umweltabgaben diese Abgabenstatistik nicht dem Gebiet der Klimapolitik —, dann hat das auch noch zusätzlich verschlechtern. noch einen weiteren Grund, den ich kurz erwähnen Es besteht ein bißchen die Gefahr — dagegen möchte: Wenn es richtig ist, daß Ordnungsrecht und müssen wir uns wehren —, daß das Problem der Umweltabgaben eine Alternative darstellen, sollte Klimaveränderungen nur ein Thema für wirtschaftli- man die Umweltabgaben vor allem in einem Bereich che Schönwetterperioden ist. einsetzen, wo Ordnungsrecht noch nicht stört. Wir (Zustimmung der Abg. Monika Ganseforth haben schon bei sehr vielen Schadstoffen ein sehr [SPD]) dichtes Netz von ordnungsrechtlichen Vorschriften. Wenn wir wenigstens unter dem Gesichtspunkt der Es wird uns zu Recht immer wieder entgegengehal- Vorsorge — es gibt ja Leute, die von den wissenschaft- ten: Wenn ihr menschliches Verhalten schon so stark lichen Gutachten noch nicht so überzeugt sind — durch Ordnungsrecht steuert, wo ist denn dann über- Handlungsbedarf akzeptieren, müssen wir etwas haupt noch etwas durch Abgaben zu lenken? unternehmen. Dann bleiben eigentlich nur das Ord- Im CO2-Bereich gibt es kein Ordnungsrecht. Es ist nungsrecht oder Abgabenlösungen. sozusagen ein ideales Anwendungsfeld für marktwirt- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sehr rich- schaftliche und finanzielle Instrumente. Ich fürchte, tig!) wenn wir es nicht schaffen, in dem Bereich der Klimapolitik die Abgabenpolitik zu erproben, dann Was, glaube ich, Wirtschafts- und Finanzpolitiker können wir die Anwendung von Abgaben in anderen noch nicht ganz erkennen ist, daß das Ordnungsrecht Bereichen erst recht vergessen. zwar von den Abgabenquoten statistisch nicht erfaßt wird, daß es aber im Vollzug trotzdem sehr teuer ist. Bei unserer nationalen Diskussion gab es dann noch Wir haben immer wieder Verbandsgespräche geführt einen Hinweis — dem sind wir gefolgt; meine Partei und sehr lange Klagelieder über das teuere und nicht hat entsprechende Beschlüsse gefaßt —, daß Abga- flexible Ordnungsrecht gehört. Ich wundere mich ben möglichst harmonisiert werden sollten, zumindest manchmal, daß diejenigen, die das Ordnungsrecht so auf EG-Ebene. Da es hier um ein globales Umweltpro- kritisiert haben, jetzt gegen die Abgaben so vehement blem geht, akzeptieren wir dieses Ziel der internatio- vorgehen. Entweder oder, das ist die eigentliche nalen Harmonisierung. Das ist allerdings kein spe- Alternative. Wer sich zu diesem Entweder-Oder zielles Argument gegen Abgaben. Auch wenn es um äußert, wer hier Ratschläge erteilt, der kann wirklich Wirtschaftsstandorte und um Wettbewerbsnachteile mit unserer Aufmerksamkeit rechnen. Hier sind wir geht, ist es immer wünschenswert, daß auch Ord- nicht festgelegt. nungsrecht harmonisiert wird. Aber noch einmal: Wer Handlungsbedarf bejaht Als Umweltpolitiker weisen wir aber darauf hin, daß — das machen auch große Industriekonzerne —, der man die Umweltpolitik bitte nicht mit dem Argument hat im Grunde genommen schon zusätzliche Bela- der Harmonisierung insgesamt absterben lassen darf. stungen auch für die Wirtschaft akzeptiert, weil auch Harmonisiert werden müssen Lösungen dort, wo auch das Ordnungsrecht sehr teuer ist. die Probleme harmonisiert sind. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Richtig!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter, Sie sind bereit? — Bitte sehr, Frau Abge- Es gibt aber spezifische Probleme eines dicht besie- ordnete Ganseforth. delten und hochindustrialisierten Landes. Da können wir unser Handeln nicht davon abhängig machen, ob andere, unsere Nachbarn, in gleichem Maße voran- Monika Ganseforth (SPD): Herr Fried rich, ich fand schreiten. sehr interessant, was Sie gesagt haben. Wissen Sie, daß die Energiepreise in Japan viel höher als bei uns Umweltpolitik in Form der Vorreiterrolle, des natio- sind und daß das dem Industriestandort Japan nicht nalen Alleingangs ist da sogar eine Voraussetzung, geschadet hat, daß aber die Energiepreise in den USA um den Wirtschaftsstandort Deutschland attraktiv zu extrem niedrig sind, daß das aber nicht zur Produkti- machen. Bei der Industrieansiedlung haben wir ja vitätssteigerung beigetragen hat, daß also dieses festgestellt, daß sich Ingenieure vor allem für die Argument gegen Abgaben zumindest partiell durch- Gebiete interessieren, wo ein angenehmes Umfeld, aus zu entkräften ist? wie z. B. in Oberbayern und in München, zu erwarten ist.

Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Frau Kollegin (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Auch in Köln Ganseforth, wir sind uns wirklich darin einig, daß die beispielsweise!) Verteuerung des Energieverbrauchs ein Beitrag ist, — Auch in Köln, Herr Kollege; das gebe ich Ihnen um das CO2-Problem zu lösen. Ich werde allerdings gerne zu. nachher in meiner Rede noch kurz auf die Frage eingehen, ob die Energiesteuer, die jetzt, zum Teil Im Bereich der Klimapolitik haben wir zweierlei wenigstens, auf europäischer Ebene erarbeitet wird, festzustellen: Einerseits wirken die Klimagase aus- die optimale Lösung ist. Wir hätten es eigentlich schließlich global; das spricht für eine international 7614 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Gerhard Friedrich abgestimmte Politik. Andererseits müssen wir bei der Rio-Konferenz herauskommen. Unangebracht sind Problemlösung einen überproportionalen Beitrag lei- allerdings zu große Erwartungen ebenso wie ein sten. Unser Nachbar Frankreich liegt beim CO2- gelegentlich zu beobachtender Fatalismus nach dem Ausstoß pro Kopf der Bevölkerung bei etwa 7,5 t; wir Motto, es sei eh schon alles zu spät. im jetzt etwas größeren Deutschland liegen bei 13 t pro Kopf. Natürlich sagen die Entwicklungsländer Wir müssen akzeptieren, daß es nicht gelingen kann und auch unsere Nachbarn — z. B. Frankreich —, wir und nicht gelingen wird, all die riesigen Probleme, die sollten uns erst einmal ihren Werten nähern, dann der Titel der Konferenz „Umwelt und Entwicklung" seien sie bereit, hier abgestimmt weiter nach unten zu umschreibt, mit einem einzigen Federstrich zu lösen. gehen. Wir müssen uns auch von der Vorstellung lösen, die Entwicklungsstandards der industrialisierten Staaten Wir brauchen also im Bereich der Klimapolitik des Nordens seien die allein maßgeblichen. Der — das wollte ich erläutern — eine Mischung von eigene Blickwinkel gibt eben immer nur einen Vorreiterrolle und international abgestimmter und bestimmten Ausschnitt des Problems frei. Wir müssen harmonisierter Umweltpolitik. lernen, die Besonderheiten der Entwicklungsländer Wir haben vernommen, daß die EG-Kommission und ihre Interessen zumindest zu verstehen und zu vorschlägt — das entspricht in etwa dem, wie die respektieren. deutsche Diskussion verlaufen ist —, die Einführung Wie schnell sind wir eigentlich geneigt, den poli- einer kombinierten CO2-Abgabe und Klimasteuer tisch Verantwortlichen in Entwicklungsländern Ver- davon abhängig zu machen, daß auch andere große antwortungslosigkeit vorzuwerfen, weil sie zulassen, Wirtschaftsnationen dieser Welt mitziehen. Jetzt daß der Waldbestand in den Entwicklungslände rn kommt also das Argument der internationalen Har- immer mehr reduziert werde? Wie wenig allerdings monisierung. Wir haben allerdings große Sorge: Wer sind wir bereit, über die wichtigste Ursache für diese die totale Harmonisierung auf dieser Welt anstrebt, Waldvernichtung nachzudenken? Sol der wird umweltpolitisch bei der Nullösung landen. ange für Hun- derte von Millionen Menschen der Dritten Welt der (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sehr rich- Einschlag von Brennholz die einzige Möglichkeit tig!) darstellt, um Energie zu produzieren, um dadurch z. B. Deshalb möchte die Union die Bundesregierung auf- nur Speisen zubereiten zu können, wird man nicht fordern, diesen weiteren Schritt nicht mehr mitzuvoll- einfach anklagen dürfen, ohne sich selber den Vorhalt ziehen. gefallen lassen zu müssen, daß man den Wald doch (Beifall der Abg. Gerhart Rudolf Baum lediglich als Energiequelle nutze, so wie vor allem der [F.D.P.] und Dr. Ingomar Hauchler [SPD]) industrialisierte Norden die fossilen Brennstoffe ver- brauche, die über Millionen von Jahren gewachsen Dem Generationenvertrag, der uns verpflichtet, sind. unseren Kindern eine intakte Umwelt zu hinterlassen, können wir so nicht gerecht werden. Wir dürfen uns Nein, gegenseitige Schuldzuweisungen führen umweltpolitisch nicht sozusagen von den Fußkranken nicht weiter. Sie bewirken außer unfruchtbarer Kon- in dieser Welt abhängig machen und gerade nur das frontation gar nichts. Schuldzuweisungen verstellen Tempo mitmachen, das auch noch der letzte Fuß- im übrigen auch den Blick für die eigentliche Tiefe des kranke bereit ist zu verfolgen. Problems. Meine Damen und Herren, ich habe noch zwei Es gibt Wechselwirkungen und Ursachenzusam- Minuten Redezeit. Viele Kolleginnen und Kollegen menhänge, die eindeutig sind. Wir haben es mit verzichten auf die Mittagspause und hören sich diese Teufelskreisen zu tun, die aufgebrochen bzw. unter- Debatte an. Damit sie doch eher zum Mittagessen brochen werden müssen. Einer davon setzt sich aus kommen, beende ich damit meinen Beitrag. den Elementen Armut, Bevölkerungsexplosion, Um- Vielen Dank. weltschäden und daraus wiederum resultierender verschärfter Armut zusammen. Wenn Menschen aus (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Armut gezwungen sind, Brennholz einzuschlagen sowie bei Abgeordneten der SPD) und auf diese Weise Wälder zu ruinieren, so hat dies die Konsequenz, daß die Ressourcen Wald und Boden Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Für die noch knappere Güter werden und man erst recht mit letzte Bemerkung möchte ich mich im Namen des ihnen und von ihnen nicht mehr leben kann. Hauses ausdrücklich bedanken. Wenn eine Altersvorsorge nur durch Kinderreich- Ich rufe den Abgeordneten Zurheide auf, das Wort tum erreicht werden kann, muß die Bevölkerung zu ergreifen. zwangsläufig explodieren. Bevölkerungswachstum hat in den Entwicklungsländern in aller erster Linie soziale Ursachen. Wenn in Armut lebende Menschen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Burkhard Zurheide gezwungen sind, ihre Altersvorsorge durch Kinder- Damen und Herren! Wenn eine Abrüstungskonferenz reichtum sicherzustellen, so muß die Bevölkerung ende, ohne daß ein neuer Krieg ausbreche, sei sie explodieren. schon ein Erfolg gewesen, bemerkte Winston Chur- chill vor 60 Jahren. Ist die UNCED-Konferenz in Rio Solange diese Ursache nicht beseitigt wird, wird Anfang Juni dieses Jahres daher schon dann ein auch das Bevölkerungswachstum anhalten. Bevölke- Erfolg, wenn es gelingt, wenigstens keine weiteren rungsdruck wiederum führt jedoch zu einer verschärf- Ursachen für neue globale Umweltprobleme zu schaf- ten Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen, obwohl fen? Ich meine: Nein. Etwas mehr muß bei der gerade diejenigen Menschen, die diese Ressourcen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7615

Burkhard Zurheide übermäßig nutzen, auf die Erträge ihres Bodens ange- nach Dirigismus und Interventionismus im Welthan- wiesen sind. Der Teufelskreis schließt sich, weil am del war. Die Überlegenheit marktwirtschaftlicher Ende verschärfte Armut steht. Regelungsmechanismen wurde herausgestellt, ohne dabei dem Trugschluß zu erliegen, die in den Indu- Niemand von uns kann in seriöser Weise die oft strieländern mit großem Erfolg erprobten Systeme gestellte Frage beantworten, wie viele Menschen brauchten den Entwicklungsländern einfach nur diese Erde denn ertragen könne. Es trifft zu, daß die übergestülpt zu werden. Auch insoweit ist dem Welt- Natur über Selbstheilungskräfte verfügt, die mensch- entwicklungsbericht zuzustimmen, wenn er feststellt, liches Handeln gelegentlich vergessen machen. eine Politik, die auf Verhaltensänderungen abziele, Sicher scheint mir allerdings zu sein, daß wir seit solle sich auf wirtschaftliche Anreize stützen. einiger Zeit dabei sind, die Natur zu überfordern. 8,5 Milliarden Menschen, die nach einer Prognose des Es liegt mithin im beiderseitigen Interesse, wenn jüngsten Weltbevölkerungsberichtes im Jahre 2025 den Entwicklungsländern beim Aufbau marktwirt- auf dieser Welt leben werden, sind eben zuviel. Aber schaftlicher Strukturen geholfen wird. Die Industrie- auch hier sollten wir uns vor Hochmut in acht neh- länder können und müssen allerdings mehr tun, als men. direkte finanzielle Transferleistungen zu erbringen. Eine solide Haushalts- und Finanzpolitik in unseren Wir fordern zu Recht Vertreter von Entwicklungs- eigenen Ländern sorgt für ein niedriges Zinsniveau, ländern auf, Maßnahmen gegen das ungezügelte von dem auch die Entwicklungsländer profitieren Bevölkerungswachstum in ihren Ländern zu ergrei- werden. fen. Wir werden dann jedoch darauf hingewiesen, daß die meisten Länder mit einer hohen Bevölkerungs- Partnerschaftlicher Wettbewerb macht allerdings dichte im industrialisierten Norden liegen, wo man eine weitere Liberalisierung des Welthandels erfor- das Bevölkerungswachstum stoppen konnte, aller- derlich. dings erst nachdem man ein recht hohes Niveau (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) erreicht hatte. Allen Staaten muß die Möglichkeit gegeben werden, War der Grund für die Beendigung des Bevölke- mit prinzipiell denselben Rechten und denselben rungswachstums im Norden nicht die Beseitigung der Pflichten am Welthandel teilnehmen zu können. Die Armut? War es nicht so, daß sich erst, nachdem soziale Errichtung geschützter Wirtschaftsblöcke wäre die Grundsicherungssysteme für alle Bevölkerungs- völlig falsche Antwort. schichten eingeführt und Bildung und Ausbildung als zentrale öffentliche Aufgaben akzeptiert worden (Beifall bei der F.D.P.) waren, das Bevölkerungswachstum verlangsamte? Nach Berechnungen der Weltbank wird derzeit am Es gibt einen offenkundigen Zusammenhang zwi- Weltmarkt der enorme Betrag von 100 Milliarden schen Entwicklung und Umwelt. In ihrem Weltent- US-Dollar für protektionistische Maßnahmen aufge- wicklungsbericht 1992 formuliert dies die Weltbank wandt. Protektionismus — der europäische Agrar- so: markt ist nur ein Beispiel dafür — verhindert, daß Entwicklungsländer Einkünfte erzielen, die zur Wirtschaftliche Entwicklung und vernünftiger Finanzierung umwelterhaltender Maßnahmen benö- Umgang mit der Umwelt sind zwei komplemen- tigt würden. täre Aspekte ein und derselben Aufgabe. Ohne einen angemessenen Schutz der Umwelt wird die (Beifall bei der F.D.P.) Entwicklung gefährdet; ohne Entwicklung gibt es Wenn die Industrieländer mithin ihre Märkte abschot- keinen Umweltschutz. ten und Handel nicht ermöglichen, so ist der Nutzen In Rio besteht die Chance, die so häufig als bloße für die Industrieländer nur ein vorläufiger und sehr Worthülse benutzte Formel eines notwendigen part- scheinbarer. nerschaftlichen Miteinanders mit Leben und Inhalt zu Aber nicht nur die Industrieländer, auch die Ent- erfüllen. Die Anfang des Jahres in Cartagena veran- wicklungsländer selber müssen einen Beitrag leisten. staltete UNCTAD-Konferenz hat dafür Maßstäbe Nur eigene Anstrengungen können zu einer nachhal- gesetzt. Verlauf und Ergebnisse dieser UNCTAD- tigen Verbesserung der Situation führen. Nicht immer Konferenz berechtigen zu der Hoffnung, daß sich auch hat man den Eindruck, daß sich die Politik der die UNCED-Konferenz nicht in gegenseitigen Ankla- Dritte-Welt-Länder durch Reformwillen und Einsicht gen erschöpfen wird. in globale Notwendigkeiten auszeichnet. Es kann nicht ausreichen, pausenlos und stereotyp zu fordern Die UNCTAD-Konferenz hat sich in ihrer Gesamt- — wie es einige tun —, die Reichen müßten den heit darauf verständigen können, anzuerkennen, daß Armen helfen, alles andere werde dann schon von alle Weltwirtschaftspartner — alle Weltwirtschafts- alleine gehen. Nicht nur im Norden, sondern auch im partner! — für ihre nationale Entwicklung zunächst Süden ist ein Umdenken erforderlich. „Cash for und vor allem selber verantwortlich sind und nach green" kann nicht die Lösung sein. Wir sollten uns Maßgabe ihres eigenen Leistungsvermögens im Rah- weigern, unter dem neuen Stichwort „Umwelt" bloße men der weltwirtschaftlichen Abhängigkeit einen Umverteilungsdiskussionen zu führen, die die alten Beitrag erbringen sollen. Positionen der sechziger und siebziger Jahre wieder (Beifall bei der F.D.P.) aufnehmen und ihr Scheitern im Grunde doch längst In Cartagena wurde von der antiquierten Forderung bewiesen haben. nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung Abschied Niemandem im Norden und niemandem im Süden genommen, die nie etwas anderes als eine Forderung darf erlaubt werden oder ein Vorwand dafür geliefert 7616 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Burkhard Zurheide werden, sich vor einem Umdenken zu drücken. Der Sollte es bei den vorliegenden unverbindlichen industrialisierte Norden muß seine eigenen Ansprü- Vertrags- und Programmtexten bleiben, bei denen in che an Natur und Ressourcen reduzieren. Genauso allen wichtigen Lebensfragen ein Scheitern praktisch wichtig ist es, daß auch die Entwicklungsländer ihre programmiert ist, dann fände ich es ehrlicher, man Verpflichtung zur globalen Rücksichtnahme aner- würde sich gegenseitig die Texte zufaxen. Als Signal kennen, wobei ihr Recht auf Entwicklung nicht von dieser Konferenz wird heute schon nicht das geschmälert werden darf. ausgehen, was der Bundeskanzler sagt, sondern die Der Ost-West-Konflikt, der lange genau auch das Kapitulation der Vernunft. Verhältnis der Staaten des Nordens zu denjenigen des Sinn macht diese Debatte doch nur, wenn wir, Herr Südens bestimmt hat, ist überwunden. Hüten wir uns Repnik, zur schonungslosen Analyse bereit sind. Da davor, unsere jahrzehntelang gepflegte Vorstellung möchten wir Ihnen beistehen. Auf der Basis einer von einer bipolaren Welt aus lauter Bequemlichkeit schonungslosen Analyse kann man dann eigene wirk- nunmehr auf das Verhältnis zwischen Nord und Süd same Konzepte entwickeln, und die vermissen wir zu übertragen. Dies dürfte sich schon deswegen eben. verbieten, weil die Interessenlagen der Entwicklungs- länder ebenso uneinheitlich sind wie die Interessen- Wenn diese Konferenz noch einen Erfolg haben soll, lagen der Industrieländer. dann müssen jetzt richtungsweisende Konzepte ent- wickelt werden, die völlig anders sind als beispiels- Ein fairer Interessenausgleich muß angestrebt wer- weise die Konzepte in Richtung Osteuropa, die von den. Im Dialog zwischen Entwicklungsländern und uns ausgehen und für die wir verantwortlich sind. Wir Industrieländern darf es keine Tabus geben. Keiner betreiben doch jetzt schon die Vollmotorisierung darf sich weigern, sich unbequeme Wahrheiten anzu- Osteuropas, und wir sind auch dabei, die sibirischen hören und daraus anschließend die Konsequenzen zu Wälder, die genauso wichtig für das Klima sind wie die ziehen. Tropenwälder in Basilien, mit anderen Ländern auf- Meine Damen und Herren, Wohlstand wird ohne zuteilen. wirtschaftliches Wachstum nicht möglich sein; dies Es kommt darauf an, den Holzimporteuren gegen- gilt auch für die Entwicklungsländer. Es muß der über etwas mehr Courage zu zeigen, und es kommt Versuch unternommen werden zu definieren, was darauf an, daß wir zwar Ja zum Wachstum sagen, aber umweltgerechtes Wachstum heißt und wie es erzielt zu einem selektiven Wachstum. Der größte Ver- werden kann. Weder der Norden noch der Süden schwender auf diesem Sektor ist die Waffenproduk- kann so weitermachen wie bisher. In Rio muß daher Sie verschwendet Geist, Arbeitskraft, Geld, der Grundstein für eine globale Verantwortungsge- tion. Material. Das richtige Signal von uns wäre: runter mit meinschaft gelegt werden. der Rüstung, runter mit der Waffenproduktion! Vielen Dank. Erinnern Sie sich: Es war beim Golfkrieg innerhalb (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- weniger Wochen möglich, eine gigantische Maschi- ten der CDU/CSU) nerie in Gang zu bringen, die Menschen in Bewegung setzte und die Material, Energie, Geist und Geld — die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Bundesrepublik leistete einen Beitrag von 20 Milliar- hat der Abgeordnete Wallow. den DM — kostete. Es ist eine Perversität unserer Zeit, daß Ressourcen aller Art mobilisiert werden, um zu zerstören, und daß wir nicht in der Lage sind, in der Hans Wallow (SPD): Herr Präsident! Meine Damen gleichen Weise und mit dem gleichen finanziellen und Herren! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung zu Engagement Strategien für Entwicklungsländer zu Thailand. Wir alle haben in den letzten Stunden entwickeln, um so von uns aus ein Signal für die Dritte erlebt, wie dort wieder auf wehrlose Demonstran- Welt zu setzen. ten geschossen wurde. Dafür waren dieselben Leute verantwortlich, die für illegalen profitablen Holz- Zur Lösung der Probleme bedarf es eben eines einschlag im Norden von Thailand verantwortlich gebündelten Strategiekonzepts, das die komplexen sind, die gemeinsame Sache mit der Militärdikta- Beziehungen zwischen Wirtschaftswachstum und tur in Burma machen und die dabei sind, Tau- Umweltzerstörung, zwischen Ressourcenverteilung, sende von Quadratkilometern Tropenholz abzuhol- sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung, zwi- zen. Es stünde der Bundesrepublik gut an, wenn die schen Armut und Bevölkerungswachstum, zwischen Bundesregierung ihre Menschenrechtspolitik ernst internationaler Verschuldung und weltwirtschaftli- nähme und ihr gewachsenes Gewicht, von dem der cher Entwicklung berücksichtigt. Es liegt mit in unse- Bundeskanzler heute morgen wieder gesprochen hat, rer Verantwortung — damit meine ich das gesamte dafür einsetzte, daß die Treibjagd auf Menschen in Parlament einschließlich der Herren Möllemann und Bangkok endlich sofort aufhört. Bangemann —, wenn es nicht zu einer Reduzierung des Energieverbrauchs kommt, wenn wir nicht die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lebensnotwendige Energiesteuer durchsetzen. Es ist der PDS/Linke Liste) unverantwortlich, daß wir unsere Machtmöglichkei- Zur Konferenz in Rio: Ich bin von Natur aus — das ten, unseren Einfluß auf diesem Feld nicht stärker wissen diejenigen, die mich kennen — ein optimisti- einsetzen. scher Mensch. Aber ich glaube, man kann gar nicht so schwarz malen, wie die Situation, was die Erde, das (Beifall bei der SPD) Wasser und die Luft betrifft, auf der Welt gegenwärtig Eines der wichtigsten Hemmnisse für die Entwick- ist. lung ist die Überbevölkerung. Vor wenigen Tagen hat Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7617

Hans Wallow der Erzbischof von Canterbury gesagt: Wer sich wei- zu dem Auftrag einer internationalen Umweltpolitik gert, das Problem der Geburtenkontrolle und des uneingeschränkt bekennt. Bevölkerungswachstums zu untersuchen, der kann Die Antwort auf die Herausforderung durch die nicht glaubwürdig an Umwelt und Umweltschutz globale Klimaveränderung kann nur lauten — das interessiert sein. Das war sein Appell an den Papst. Ich haben viele Vorredner auch schon gesagt —: Wer die erwarte von der Bundesregierung, daß sie endlich weitere globale Entwicklung nicht gefährden will, einmal den Mut findet, auch in dieser Richtung muß die Klimaveränderung zum Stillstand bringen, Appelle nach Rom zu senden. und wer die Zukunft sichern will, muß heute, nicht Wir haben vom ökologischen Lastenausgleich etwa erst in einigen Jahren handeln. Wir müssen uns gesprochen. Ich kann Ihnen sagen: Es ist gegenwärtig darüber hinaus vor Augen führen, daß schon in den nicht einmal möglich, beim Drogenabbau in den letzten Jahrzehnten eine Klimaveränderung eingetre- Ländern Bolivien, Peru und Kolumbien im eigenen ten ist, die in den nächsten Jahren langsam, aber stetig Interesse die Substitution der Droge durchzusetzen, ihre Auswirkungen zu Lasten der Umwelt zeigen weil deren Rohstoffpreise praktisch gefallen sind und wird. sich die Coca-Bauern daraufhin marktgerecht verhal- ten, während wir unsere Industriegiganten finanzie- Die Folgen dieser bereits nicht mehr abwendbaren ren und subventionieren. Es wäre ein Signal in Rich- Klimaänderung, die insbesondere die Entwicklungs- tung GATT, wenn wir hier endlich andere Weichen- länder treffen werden, sind von allen Staaten und stellungen vornähmen und für bessere Handelsbedin- damit auch von den Industrieländern solidarisch zu gungen sorgten. tragen. Wichtiges Ziel der Konferenz in Rio ist die Verabschiedung einer Konvention zum Schutze des Vorhin wurde über Sonnenenergie am Sonnengür- Klimas. Darin sollen sich die Staaten völkerrechtlich tel gesprochen. In Haiti wird der letzte fingerdicke verpflichten, den Ausstoß von CO2 und anderen Baum abgesäbelt, damit Holzkohle produziert werden Treibhausgasen zu begrenzen und zurückzuführen. kann. Präsident Aristide hatte die Bundesregierung gebeten, ein Solarkraftwerk zu finanzieren. Das ist Es ist natürlich enttäuschend, daß in dem Entwurf aus betriebswirtschaftlichen Rentabilitätserwägun- der Klimakonvention konkrete Termine zur Reduzie- gen heraus abgelehnt worden — in einem Land mit rung der Treibhausgase nicht enthalten sind. Aber 360 Sonnentagen. Wir müßten für Rio endlich das Rio ist — das hat Bundesumweltminister Töpfer zu Signal setzen, daß die Belastung von Erde und Wasser, Recht gesagt — nicht der Endpunkt der globalen die Belastung der Natur schlechthin in die Rentabili- Umweltpolitik. In Rio sollte daher die Verständigung tätsrechnungen eingehen muß. Das war bisher nicht erfolgen, daß auf Nachfolgekonferenzen bzw. bei der Fall. Es liegt in unserer Verantwortung, so zu Protokollverhandlungen doch noch konkrete Ver- verfahren. pflichtungen der einzelnen Länder zu einer CO2- erreicht werden. Meine Damen und Herren, ich komme zur Praxis Reduktion der Weltbank und zur Akzeptanz unserer eigenen Deshalb geht der Hinweis, der heute morgen hier Schutzmaßnahmen seitens der Entwicklungsländer. gemacht worden ist, fehl. Da wurde gesagt: Wollen wir Das Gefasel von einem weltweiten Militäreinsatz uns vielleicht hinter dem breiten, nicht so umwelt- führt beispielsweise dazu, daß die Militärs in Brasilien freundlichen Rücken der Amerikaner verstecken? Er und Kolumbien die Angst vor Interventionen der geht deshalb fehl, weil Bundeskanzler Helmut Kohl Industrieländer in den Tropenwäldern schüren. Wir hier von diesem Platz aus angeboten hat, die erste müssen den Ländern diese Angst nehmen und mit Nachfolgekonferenz zu Rio hier in Deutschland ihnen stärker in Dialog treten, d. h. unsere Gesamt- durchzuführen. Ich glaube, das ist ein positives Zei- verantwortung mit gutem Beispiel wahrnehmen und chen für einen langfristigen umweltpolitischen anstelle von militärischen Interventionen eine Hilfs- Weg. strategie entwickeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich danke Ihnen. Herr Fischer hat unter dem Beifall der SPD-Fraktion (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke die Frage aufgeworfen: Wie soll eine internationale Liste) Politik zur Verminderung des CO2-Ausstoßes ausse- hen? Ich glaube, wir können hierzu einen konkreten Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Vorschlag machen. Dieser Vorschlag ist in unserem erteile ich dem Abgeordneten Dr. Paziorek das Entschließungsantrag enthalten. Er lautet: internatio-

Wort. nale Umwelt - und Unternehmenskooperation und Einführung von Kompensationsmöglichkeiten im deutschen Bereich. Aus deutscher Sicht haben näm- (CDU/CSU): Herr Präsident! Dr. Peter Paziorek lich die Bemühungen, die CO2-Emissionen zu verrin- Meine Damen und Herren! Es ist meines Erachtens ein gern, auf drei Ebenen stattzufinden: im nationalen gutes Zeichen, daß der Deutsche Bundestag seine abschließende Stellungnahme zu der UNO-Umwelt- Rahmen, EG-weit und weltweit. konferenz hier in der deutschen Hauptstadt Berlin, im Meine Damen und Herren, die Weltkonferenz 1988 Reichstagsgebäude, berät und verabschiedet. Da- in Toronto hat die Forderung aufgestellt, daß die durch wird deutlich, daß das wiedervereinigte weltweiten CO2-Ausstöße bis zum Jahre 2005 um Deutschland auf seinem nicht leichten Weg, nach 20 % und bis Mitte des nächsten Jahrhunderts um jahrzehntelanger Teilung die innere Einheit des eige- 50 % zu vermindern sind. Das entspricht einer Halbie- nen Landes herzustellen, seine Verantwortung für rung des Einsatzes von Kohle, Öl und Gas bei einer bis eine globale Umweltpolitik nicht vergißt, sondern sich dahin vielleicht auf rund 11 Milliarden angewachse- 7618 Deutsche r Bundestag - 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, Glen 20. Mai 1992

Dr. Peter Paziorek nen Weltbevölkerung. Eine gewaltige Aufgabe! Alle weise auch in Schwellen- und Entwicklungsbindern bisher vereinbarten und bekanntgewordenen Per- zu verwirklichen, zu einer solchen Unternehmensko- spektiven der Weltenergieversorgung sind mit dieser operation wirkungsvoll beitragen kann. Wir brauchen Toronto-Forderung das muß man ganz deutlich Unternehmenskooperation, um auf möglichst effi- aussprechen — nicht zu vereinbaren. Die internatio- ziente Weise die Steigerungsrate der CO2-Emissio- nal anerkannten Energieprognosen sagen vielmehr nen, wie ich es gerade dargelegt habe, weltweit zu aus, daß bis zum Jahre 2020 die CO2-Emissionen im verringern. Schnitt um etwas mehr als 1 % pro Jahr und damit um Eine solche Kompensationslösung setzt natürlich insgesamt 45 % ansteigen werden. Wir können diesen eine Entscheidung über eine Energie - /CO2 - Steuer dramatischen Anstieg der CO2-Emissionen nur stop- voraus. Hier muß sich die EG in den nächsten Tagen pen, wenn wir uns weltweit zu einer konsequenten, ja, bewegen, will sie ihre umweltpolitische Führungs- auch für die Industrieländer drastischen Verminde- rolle in Rio nicht verspielen. Wir wollen eine EG-weite rungsquote bekennen und einen solchen Weg auch Energie-/CO2-Steuer, damit auch tatsächlich Kom- sofort einschlagen. pensationen im Steuerrecht angeboten werden kön- Aber es gibt nur folgende Wege zu einer Vermin- nen. derung der CO2 - Emissionen: erstens Umstellen von Natürlich gibt es im internationalen Bereich Wider- CO2-intensiven auf CO2-schwache Energieträger, stände gegen eine solche Lösung, nicht nur bei uns in zweitens Energiesparen durch eine rationellere Deutschland, auch bei der SPD. Wir sind aber der Gestaltung der Energiegewinnung, drittens Substitu- Ansicht, daß in Rio im Rahmen der Weltklimakonven- tion, also Ersatz durch erneuerbare Energien, vor tion geregelt werden muß, daß die Reduktionsver- allem Sonnenenergie, einschließlich Biomasse, Wind pflichtungen zum Teil im eigenen Hoheitsgebiet und Erdwärme, und viertens — sicherlich nur als erfüllt werden können, zum Teil aber auch in einem Lösung für eine Übergangszeit — Ausbau der Kern- Drittland. energie. Diese Wege — egal, für welchen Mix man sich entscheidet — erfordern einen hohen Kapital- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- und Technologieeinsatz, und zwar weltweit, weltweit geordneter, die Abgeordnete Frau Ganseforth möchte deshalb, weil der CO2-Ausstoß ein globales Problem eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, die zu ist und weil daher überall dort, wo Energie gewonnen beantworten? wird, eine CO2-Verminderungsstrategie greifen muß. Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Selbstverständ- Nehmen wir uns nur das Stichwort Energiesparen lich. vor: Dies bedeutet doch ganz konkret die Umstellung auf eine andere Energietechnik, die zu einem höheren Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, Wirkungsgrad führt, z. B. durch Kraft-Wärme-Kopp- Frau Abgeordnete. lung oder Kombikraftwerke. Energiesparen bedeutet auch eine bessere Energieausnutzung, z. B. mittels Monika Ganseforth (SPD): Ich wollte Sie fragen, ob Wärmedämmung, was zunächst auch wieder Investi- Sie mir recht geben, daß dieser Technologietransfer tionen erfordert und damit Geld kostet. auch ohne Kompensation möglich ist und daß die Dies alles läßt sich in den Schwellenländern und CO2-/Energiesteuer auf EG-Ebene oder national auch den Ländern der sogenannten Dritten Welt nicht ohne Kompensation Sinn macht, d. h. daß über diese allein durch Kapitaltransfer bewältigen. Dazu benöti- Kompensation getrennt von Technologietransfer und gen wir auch einen zielgerichteten Technologietrans- von CO2-/Energiesteuer diskutiert werden muß. fer. Aber, meine Damen und Herren insbesondere von der SPD-Fraktion, wie wollen wir das denn ganz Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Frau Ganseforth, konkret schaffen — Herr Wallow hat ja gerade wieder ich bin der Ansicht, daß wir heute hier deutlich allgemein Szenarien beschworen —, wenn wir nicht machen sollten, daß es gerade eine hervorragende neue Wege gehen, um diese Lösungsansätze auch Verbindungsmöglichkeit zwischen einer CO2-/Ener- tatsächlich konkret umzusetzen? giesteuer auf EG-Ebene und dem Gesichtspunkt des Technologietransfers und damit auch dem der Kom- Wenn es stimmt, daß sich Technologietransfer letzt- pensationsmöglichkeiten gibt. Theoretisch kann ich lich nur durch Unternehmenskooperation verwirkli- mir eine ganze Menge vorstellen. Wir müssen es aber chen läßt, weil der Staat kaum über Technologiequel- praktisch auf den Weg bringen. Wir müssen Anreize len verfügt, muß durch unsere Politik in Rio eine schaffen, damit dieser Technologietransfer auch tat- Entwicklung angestoßen werden, die bewirkt, daß die sächlich in Gang kommt. Gerade diesen Gesichts- Industrieunternehmen des reichen Nordens verstärkt punkt wollte ich durch meine Ausführungen deutlich in einen solchen Prozeß des Technologietransfers machen. Das ist eben das, was uns unterscheidet. einsteigen. (Detlev von Larcher [SPD]: Von wem?) Der Technologietransfer durch Unternehmensko- Ich glaube, das ist das, was heute hier auch politisch operation bedarf der internationalen Förderung, herausgearbeitet werden soll. besonders auch durch Entscheidungen in Rio. Eine solche Ermutigung stellen unsere Überlegungen zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einem internationalen Kompensationsmodell dar. Denn, Frau Ganseforth, meine Damen und Herren, Die Regierungsfraktionen sind der Ansicht, daß die jede D-Mark, die irgendwo auf der Welt zur CO2- Schaffung eines zusätzlichen Anreizes durch die Mög- Reduzierung beiträgt, hilft gegen den Treibhausef- lichkeit, Reduktionspflichten für Deutschland teil- fekt. Eine Leistungssteigerung der Kohlekraftwerke Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7619

Dr. Peter Paziorek in China um 10 oder 15 % wäre schon ein erheblicher Dies bedeutet aber nicht, daß man sich als verant- Beitrag zur globalen CO2-Reduktion. Wir wollen wortungsbewußter Politiker mit dem Perspektivkapi- nichts anderes, als durch Unternehmenskooperatio- tel des Nationalberichts zur Vorbereitung der Rio nen und Kompensationsberechnungen die gewaltige Konferenz zufriedengeben könnte. Nein, eine nähere Energienachfrage bewältigen und dennoch den CO2- Analyse wird nämlich zu dem Ergebnis kommen, daß Ausstoß auch weltweit vermindern. Das geht nur über die Maßnahmen nicht weit genug greifen oder daß an einen solchen von mir geschilderten Weg. Alles den falschen Punkten angesetzt werden soll. andere sind letztlich wirkungslose Strategien, die sich Im Nationalbericht der Bundesregierung wird der auf dem Papier schön ausmachen, aber leider in die Aspekt der Entwicklungspolitik lediglich auf weni- Rubrik „untauglicher Versuch" gehören. gen Seiten abgehandelt. Dies kann so nicht akzeptiert Deutschland darf nicht darauf verzichten, eine Vor- werden. Unser Antrag will dieses Defizit aufarbeiten reiterrolle im Umweltschutz wahrzunehmen. Doch da und formuliert — neben der Analyse der Ursachen für eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes in Deutschland Nicht-Entwicklung und Umweltzerstörung — Ansatz- um 25 % weltweit nur 1 % ausmacht, kommen wir um punkte für die Gestaltung einer den Problemen adä- eine internationale Kooperationsstrategie nicht um- quaten Politik. hin. Der Antrag fordert die Bundesregierung bzw. den Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. Bundeskanzler und den Umweltminister auf, in Rio (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ein Politikkonzept zu vertreten, das folgenden Ansprüchen gerecht wird. Dieses Konzept soll festle- gen, welchen Beitrag die Industrieländer zur Bewälti- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr gung der Problematik zu leisten bereit sind. Dabei soll hat der Abgeordnete Schanz das Wort. sich die Bundesregierung in Rio dafür einsetzen, daß es zu einer konkreten Verpflichtung der Industrielän- der zur Umsetzung der bereits international getroffe- nen Vereinbarungen kommt. Dieter Schanz (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kol- leginnen und Kollegen! Es gibt berechtigte Sorgen Die Bundesregierung soll in Rio ein Konzept zum und die begründete Annahme, daß die Konferenz in ökologischen Strukturwandel vertreten, das Ge- Rio zu einem Mißerfolg wird. Dennoch sollten wir im sichtspunkte enthält wie: debt-for-nature-swap, Ein- Interesse der Ärmsten der Armen auf diesem Globus führung von sozialen und ökologischen Standards bei wünschen, daß es noch zu einem Erfolg kommt. Wir GATT, IWF und Weltbank, Weltverschmutzungs- und sollten begrüßen, daß die Konferenz stattfindet, da ich Weltressourcenabgabe, Wandel vom Konzept der davon ausgehe, daß sie dennoch einiges klären Überbewertung der Arbeitsproduktivität hin zu einem wird. Konzept der Ressourcenproduktivität; — damit meine Der von der SPD Anfang des Jahres vorgelegte und ich Energie- und Rohstoffeinsparung. Dies sind nur im April im Plenum behandelte Antrag zur Rio einige wenige Gesichtspunkte. Konferenz fordert die Bundesregierung auf, von blo- Die Bundesregierung als Vertreterin eines Indu- ßen Lippenbekenntnissen, wie wir sie auch hier und strielandes hat eine Vorbildrolle beim Einsatz moder- heute dauernd gehört haben, fortzukommen, sich ner Umwelttechnologie einzunehmen und internatio- nicht weiter hinter medienwirksamen Themen wie nal verbindliche Regelungen zu initiieren. Tropenwald und Artenschutz zu verstecken, zumal Außerdem soll in Rio versucht werden — diesen zum einen die angekündigten Maßnahmen weder in Punkt halte ich für besonders wichtig —, alle Indu- Kürze so einfach wie vom Bundeskanzler immer und - striestaaten zu veranlassen, eine Art ökologischen immer wieder propagiert zu realisieren sein werden Lastenausgleich finanziell und technologisch an die und zum anderen ein komplexeres Handeln zur Entwicklungsländer zu leisten. Bewältigung der Umwelt- und Entwicklungsproble- matik vonnöten ist. (Beifall bei der SPD) Nach der Debatte im April wurde der Antrag der Umweltverbraucher sind ja im wesentlichen die Indu- SPD zur Beratung an die Ausschüsse weitergeleitet. strieländer und viel weniger die Entwicklungslän- Die Koalition hatte zu diesem Zeitpunkt keine eige- der. nen Vorstellungen zur Politikvertretung in Rio ent- Selbst wenn die Konferenz die hoch gesteckten wickelt. Ein nun vorgelegtes, lediglich Allgemein- Ziele nicht erreicht, wird sie dennoch ein Erfolg sein, plätze aufgreifendes Papier wurde nach unserer Auf- weil Probleme klar aufgezeigt werden und weil genau fassung so zusammengeschustert, daß eine ernsthafte zu erkennen sein wird, wer beispielsweise für das Auseinandersetzung mit dem entwicklungspolitisch Scheitern einer gemeinsamen Politikstrategie der so relevanten Thema nicht erfolgt ist. Die dort vertre- Teilnehmerstaaten verantwortlich ist. Hier werden tenen Positionen bleiben weit hinter den Forderungen dann die Verantwortlichen klar Farbe bekennen müs- und Formulierungen des sogenannten Perspektiv sen: Entweder sind sie bereit, eine umweltgerechte papiers des nationalen Vorbereitungskomitees für Politik zu verfolgen und dementsprechend die erfor- die Rio-Konferenz zurück. derlichen Leistungen zu erbringen; oder sie werden Der von der Koalition vorgelegte Antrag zur eindeutig als Blockierer und Bremser in diesem Sinne UNCED kann damit also nicht die Unterstützung erkennbar sein. Sie werden sich nach der Konferenz dieses Hauses finden, da er in seinen Positionen weit nicht mehr hinter wohlklingenden Lippenbekenntnis- hinter den aktuellen Erkenntnissen zur Sachlage sen und werbewirksamen Kampagnen verstecken hinterherhinkt. können. Hier meine ich auch die Entwicklungsländer, 7620 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dieter Schanz aber natürlich an erster Stelle uns selber, da wir Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Herr Präsident! reicher sind. Jeder Staat hat im Rahmen seiner spezi- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie fischen, ihm eigenen Fähigkeiten die entsprechenden auch mich noch einige Bemerkungen zur Rio-Konfe- Maßnahmen einzuleiten. renz aus der Sicht der Entwicklungspolitik machen. Umweltschutz ist kein Luxus, sondern ein Imperativ Zunächst: Ich bitte auch die Opposition wirklich des Überlebens. Eine koordinierte effiziente Umwelt- darum, den Erfolg der Rio - Konferenz nicht schon und Entwicklungspolitik liegt damit durchaus in unse- vorher und im Ansatz zu zerreden. rem ureigensten Interesse. (Beifall bei der CDU/CSU) Tiefgreifende Reformen sind im Norden wie im Süden erforderlich. Bei der Konferenz in Rio in zwei Im Gegensatz etwa zu manchen Pressemedien oder Wochen bietet sich nunmehr die Gelegenheit, die auch Profipessimisten hierzulande, die Untergangs- Weltgemeinschaft auf den Weg der notwendigen, stimmung verbreiten, wissen die Politiker und Beam- längst überfälligen Reformen zu bringen. ten, die an den langen Vorverhandlungen unmittelbar beteiligt waren, daß die Rio-Konferenz ein Erfolg Es gilt im eigenen Land damit anzufangen. Deshalb werden wird und in gewisser Hinsicht bereits ein hoffe ich sehr, daß der Inhalt des von uns eingebrach- Erfolg ist. ten Antrags in den Gremien eine große Mehrheit finden wird, so wie jetzt bei der Formulierung der (Beifall bei der CDU/CSU) interfraktionellen Beschlußempfehlung des federfüh- Noch nie zuvor hat sich eine solche Zahl von renden Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Staatsmännern aus aller Welt versammelt, um über Reaktorsicherheit ein Versuch unternommen wird. Umwelt und Entwicklung zu diskutieren. Noch nie Will die Konferenz in Rio ihrem Anspruch gerecht zuvor haben so viele Nichtregierungsorganisationen werden, eine neue Politikorientierung festzulegen, und eine so breite Weltöffentlichkeit die Politiker und soll man, ähnlich wie in der Folge der Konferenz unter Handlungsdruck gesetzt. Und noch nie zuvor von Helsinki von einem „Geist von Helsinki" gespro- wurde so lange zu einem so breiten Spektrum mit chen wurde, von einem „Geist von Rio" sprechen einer solchen Ernsthaftigkeit und mit solchen Ver- können, dann muß ernsthaft miteinander diskutiert handlungsergebnissen bereits im Vorfeld gerungen. und verhandelt werden und müssen Verständnis für- Viele Punkte der bereits ausgehandelten Erd-Charta einander und globale Verantwortung vor nationalen wären vor einigen Jahren doch wirklich undenkbar Egoismen stehen. gewesen. Das gleiche gilt für eine Fülle konkre- Betrachtet man allerdings die Debatte im Vorfeld ter Handlungsvereinbarungen im Rahmen der der Konferenz, das Aufbauschen scheinbar unüber- Agenda 21. brückbarer Interessengegensätze zwischen Nord und Natürlich wird die Konferenz in Rio nicht alle Süd, das Beharren auf kleinkarierten, längst überhol- Probleme zum Thema Umwelt und Entwicklung voll- ten Standpunkten, besonders in den Industriestaaten, ständig und sofort lösen können. Wer das erwartet hat, so habe ich die Befürchtung, daß sich der „Geist von ist wirklich bar jeglichen Realismus. Rio allerdings Rio", der die künftige Politikgestaltung beflügeln soll, muß und kann ein umweltpolitischer Neubeginn zu eher zu einem Schreckgespenst ausgestaltet, das das einem Prozeß sein, der auch zu einem neuen Mitein- kleine, allzu schwache Pflänzchen des gegenseitigen ander der Staaten und Völker führt. Vertrauens und Verständnisses zwischen Nord und Süd und auch zwischen uns zu zerstören droht. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat ihre Umweltkomponente — das haben wir bereits Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß es bei der gehört — in den letzten Jahren erheblich ausgebaut. Konferenz in Rio über Umwelt und Entwicklung um Das gilt nicht nur für die Anzahl der Ressourcen- Fragen des Überlebens auf unserem Planeten geht. schutzprojekte und die Mittel dafür, sondern auch für Die USA scheinen diese Tatsache nicht realisiert zu den Schuldenerlaß und die Fördermittel für Pro- haben. Alle vom Präsidenten Bush ausgesandten gramme des Tropenwaldschutzes und der Tropen- Botschaften signalisierten nicht gerade die Ernsthaf- walderhaltung. Hier ist die Bundesrepublik bekann- tigkeit der amerikanischen Politik, bei der Mitgestal- termaßen der wichtigste bilaterale Geber der Weltge- tung einer neuen internationalen Politik der globalen meinschaft. Verantwortung aller Nationen gerecht zu werden. Ich fordere die Vereinigten Staaten auch im Namen In diesen Entwicklungsprojekten, meine Damen meiner Fraktion auf, von diesem Weg wegzukommen, und Herren — darauf möchte ich noch einmal eindeu- und ich fordere die Bundesregierung und die sie tig hinweisen —, geht es nicht nur um Ressour- tragenden Parteien auf, auf die Vereinigten Staaten censchutz, sondern auch um den Versuch, Schutz und und auf Japan so einzuwirken, daß ein Erfolg in Rio im Rehabilitierung der Natur mit den anderen Interesse der Armen dieser Welt, aber auch in unse- Schwerpunkten unserer Entwicklungszusammenar- rem eigenen Interesse noch möglich wird. Wenn Sie beit, nämlich Armutsbekämpfung und Ausbildung, zu das tun, finden Sie unsere Unterstützung. verbinden. Wer keine Angst vor einem gefürchteten Herzlichen Dank. deutschen Wochenmagazin hat, dem empfehle ich — um nur zwei Beispiele zu nennen — einen Besuch (Beifall bei der SPD) unseres GTZ-Projekts „Wamba" im trockenen Nor- den Kenias oder von Bouhedma in der Mitte Tune- siens, wo die Wüste in behutsamer, geduldiger und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort langfristiger Arbeit unserer Experten buchstäblich hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ruck. wieder zum Leben und Blühen gebracht wird, und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7621

Dr. Christian Ruck zwar mit der dortigen Bevölkerung — für sie, nicht der auf die Beine kommen; aber nicht völlig unkondi- ohne sie oder gegen sie. tioniert, sondern in einem offenen, intensiven Polit- dialog mit der Absicht, daß langfristig die richtige (Beifall bei der CDU/CSU) Zielgruppe davon profitiert. Dies sind nicht die oberen Und da kommen auch Freude und Hoffnung auf. Zehntausend im Empfängerland. Armutsbekämpfung durch Ressourcenschutz, Ein- kommensquellen schaffen durch Umweltschutz — (Beifall bei der CDU/CSU) das ist, glaube ich, die richtige Zielsetzung. Dies gilt übrigens auch für zusätzliche Finanztrans- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: So ist fers, wie sie auch von uns gefordert werden. Lassen es!) Sie mich noch eines sagen: Dieser Politdialog muß langfristig angelegt sein. Er wird nur wirksam, wenn Allerdings: Was gut ist, kann auch noch besser er bei den kleinen wie bei den großen Empfängerlän- werden. Im fraktionsübergreifenden Antrag wird z. B. dern konsequent durchgehalten wird. Ich danke auch zu Recht nicht nur die Ausweitung dieser Ressourcen- dem Minister Spranger für seine klare Position in schutzprogramme, sondern auch der Trägerförderung diesem Punkt. gefordert, werden die stärkere Mobilisierung von Fachkräften und die größere Flexibilisierung unserer (Beifall bei der CDU/CSU) Projektpolitik gefordert. Die mit deutscher Gründlich- keit betriebene strikte Trennung zwischen techni- Natürlich müssen wir auf der anderen Seite — das scher und finanzieller Hilfe ist gerade auch im wurde in der heutigen Diskussion auch überdeut- Umweltbereich oft ungeeignet, der rapiden Zerstö- lich — in den Industrieländern Schritt für Schritt, aber rung von Ökosystemen schnell entgegenzuwirken. entschlossen erstens unsere Handelsbarrieren gegen- Aus dem gleichen Grunde wollen wir auch die Zusam- über der Dritten Welt abbauen und zweitens gerade menarbeit mit kompetenten nationalen und interna- auch mit dem globalen Ressourcenschutz unsere per- tionalen Nichtregierungsorganisationen aus dem Um- sonelle, technische und finanzielle Hilfe erheblich weltbereich deutlich verstärken. erhöhen. Dennoch, meine Damen und Herren, unsere Ent- In Deutschland haben die gewaltigen Herausforde- wicklungsprojekte können noch so gut und effizient rungen der Wiedervereinigung und des Zusammen- sein, die globale Zerstörung der natürlichen Lebens- bruchs im Osten nicht zum entwicklungspolitischen grundlagen kann nur durch einen ebenfalls globalen Steinbruch geführt, aber einen strikten Sparkurs not- Kraftakt verhindert werden. Bei der internationalen wendig gemacht, der für alle Ressorts gilt. Allerdings Entwicklungspolitik beginnt dies mit einer grundle- sind die Anforderungen an den Entwicklungshaus- genden Reform beispielsweise im entwicklungspoliti- halt in den letzten Jahren überproportional gewach- schen Durcheinander des UNO-Systems, und mit der sen, und sie werden weiter wachsen, denn die Pro- Koordinierung der Entwicklungshilfegeber, führt wei- bleme der Entwicklungsländer wachsen auf uns zu. ter zum weltweiten Bann von Tropenholz aus Raub- Die Bekämpfung der Fluchtursachen, die soziale bau und stellt schließlich die entscheidende Frage, auf Ungleichheit, die Bevölkerungsexplosion, das Dro- die auch die UNCED ihre Finger legt, nämlich: Wie genproblem und vor allem auch die Umweltzerstö- kann der Verelendung der breiten Bevölkerung in der rung, dazu noch Entwicklungshilfe für den Osten — Dritten Welt Einhalt geboten werden? Wie kann diese meine Damen und Herren, das ist mittel- und langfri- Entwicklung in eine positive Richtung getrieben wer- stig mit diesem Entwicklungshaushalt in dieser Aus- den? Es wurde in der heutigen Diskussion ja deutlich, stattung nicht zu bewerkstelligen. Darüber muß sich daß alle Faktoren, die dort zur Umweltzerstörung jeder im klaren sein. führen — unsachgemäße Bodenbehandlung, fehlen- des Umweltbewußtsein, fehlende Bildung, Bevölke- (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) rungsexplosion —, alle eine gemeinsame Wurzel, Lassen Sie mich abschließend noch unseren nämlich die haben. Deren Bekämp- Massenarmut, Umweltpolitikern den Rücken stärken. Auch der ent- fung steht zu Recht auch auf der Tagesordnung von wicklungspolitische Erfolg der Rio-Konferenz hängt UNCED, auch in der Agenda 21, und sie ist, meine in hohem Maße von den Signalen und dem Erfolg der Damen und Herren, nicht nur Sache des reichen eigenen Umweltpolitik ab. Wir können den Tropen- Nordens. waldländern nur mühsam Schutzprojekte abringen, Professor Hauchler, der Schlüssel für die Armutsbe- wenn unsere eigene Rote Liste bedrohter Tier- und kämpfung liegt auch bei den Eliten in den Entwick- Pflanzenarten immer länger wird oder wir die Ernst- lungsländern. Armutsbekämpfung ist nämlich auch haftigkeit in unserem Bemühen um die CO2-Reduk- dort untrennbar mit der Durchsetzung demokratischer tion nicht beweisen können. Sosehr ich deshalb die Regierungsformen, eines funktionierenden Rechtssy- engagierte Vorreiterrolle der Bundesregierung be- stems, einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsord- grüße, so sehr bedauere ich die Haltung der Vereinig- nung, eines besseren Bildungs- und Ausbildungssy- ten Staaten. Es gibt politische Probleme, die man, stems und vor allem einer gerechteren Einkommens- glaube ich, vor dem Zufall von Wahlterminen bewah- und Vermögensverteilung verbunden. ren sollte. Es kann kein seriöses Argument sein, daß man aus ökonomischen Gründen nicht aufhören kann, (Beifall bei der CDU/CSU) weiter am eigenen Ast zu sägen. Trotz dieses Rück- Auch ich trete leidenschaftlich für eine konsequente schlags — mancher wird sicher noch folgen — haben Fortsetzung der Schuldenerlasse ein, ohne die viele wir jedoch keinen Grund, vor dieser entscheidenden Entwicklungsländer auch im Umweltschutz nie wie- Zukunftsaufgabe zu kapitulieren. 7622 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Christian Ruck Ich wünsche der Regierungsdelegation unter der Der Bundesverkehrsminister bringt es tatsächlich Führung des Bundeskanzlers mit Minister Töpfer und fertig, davon zu sprechen, daß Autobahnen eine Staatssekretär Repnik in Rio viel Standvermögen, das wichtige Voraussetzung dafür sind, daß wir in den sie aber sicher haben, und viel Glück, das sie brau- neuen Ländern überhaupt Umwelt- und Naturschutz chen und bei ihrem großen Engagement für die Sache betreiben können. Tut er nur so dumm, oder ist er es auch verdient haben. wirklich? Er will allen Ernstes die wunderschönen Herzlichen Dank. Baumalleen in Ostdeutschland durch den Neubau von Autobahnen schützen. Das hat er so gesagt. Auf der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) allein durch die neue Autobahn — die A 20 in Meck- lenburg-Vorpommern — neu versiegelten Fläche könnten über zwei Millionen Buchen stehen und ganz Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr einfach wachsen. Ansonsten finde ich in seinen Vor- erteile ich dem Abgeordneten Dr. Feige das Wort. stellungen immer dieses Argument, nämlich: Wenn (Zurufe: Noch einmal?) Ihr das nicht tut, dann beseitigen wir Eure Alleen, diesen Naturschutz werden wir Euch schon austrei- ben. Das erfüllt meiner Meinung nach den Tatbestand Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr der Erpressung oder Nötigung. Das kann ich einfach Präsident! Meine Damen und Herren! Es war Ihr nicht akzeptieren. eigener Wunsch, daß ich ein zweites Mal komme. Ich Außerdem ist der Bundesverkehrsminister der ein- glaube, Herr Harries hat gesagt, wir vom Bündnis 90/ zige, der bisher überhaupt davon gesprochen hat, daß GRÜNE hätten nur Privilegien; diese Abgeordneten man diese Bäume, diese Alleen beseitigen muß. Ich dürften sogar zweimal reden. Das Privileg können Sie kann dieser Logik nicht folgen. Ich glaube, dahinter uns ganz schnell wieder nehmen. steht eine ziemlich starke Automobillobby. In diesem Darüber hinaus muß ich sagen: Ich habe die Debatte Sinne möchte ich dem Bundesverkehrsminister nicht natürlich verfolgt — dafür ist das Thema zu wichtig —; aus seinem verkehrs- und umweltpolitischen Lügen- wir vom Bündnis 90/GRÜNE sind nicht nachtragend, sumpf heraushelfen. Ich muß das so hart formulie- aber wir merken uns alles. ren. In der Hinsicht danke ich Herrn Staatssekretär Meine Damen und Herren, wir vom Bündnis 90/ Repnik auch dafür, daß er uns eingeladen hat, GRÜNE setzen gegen diese — wie Frau Merkel gemeinsames Bemühen zu zeigen. Es geht tatsächlich sagt — gegen den Strom gerichtete Politik der Bun- darum, daß hier etwas Gemeinsames passiert. In der desregierung die Vorstellung auf ein gerechteres Hinsicht — muß ich einfach sagen — habe ich über- zukunftsorientiertes Konzept. Dazu bedarf es aller- haupt keine Lust, die Regierung alleine zu lassen; man dings des Mutes zur Entscheidung und nicht des sollte sie ständig und permanent im Auge behalten. Aussitzens bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Das habe ich mit der Ministerriege hier vorne Herr Töpfer, Sie haben doch einen Brief von gemacht. Dabei ist mir aufgefallen, daß der größte Teil 100 Parlamentarierinnen aus der ganzen Welt erhal- — nachdem der Bundeskanzler gesprochen hat — das ten. Warum haben Sie diesen Brief nicht beantwortet? Segel gestrichen hat, mit ihm verschwunden ist. Herr Da sind sogar Ministerinnen aus Hessen oder Nieder- Töpfer hat von denen, deren Ressort hier heute sachsen dabei, die Sie einfach gebeten haben, sich angesprochen wurde, am längsten durchgehalten. dafür einzusetzen, diese Problematik — nämlich die Einen habe ich heute vermißt; es ging unmittelbar Politik und Situation der Frauen, diesen Zusammen- um sein Ressort, die diesbezügliche Debatte war lange hang mit der Entwicklungspolitik und der Umwelt- angekündigt: Ich meine den Bundesverkehrsmini- politik — auch in Rio darzustellen. Das wäre doch so ster. Ich glaube, daß alleine das, was der Bundesver- einfach gewesen. Das wäre, wie ich gehört habe, als kehrsminister mit einem Federzug versaut, selbst in Beispiel für die Zusammenarbeit notwendig gewe- den mühseligsten Ansätzen im Umweltministerium sen. nicht in einem Jahr aufgeholt werden kann. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Oder: Vorhin wurde die Umweltverträglichkeits- prüfung gelobt. Ich finde, das ist phantastisch. Ich Dabei hat sich gerade Herr Krause in der letzten Zeit akzeptiere das voll und ganz. Aber wo bleibt die — z. B. vor der Enquete-Kommission — zumindest Durchführungsverordnung dazu? Auch da sind wir verbal erheblich in ökologischen Wortübungen doch ein bißchen über die Zeit hinaus, und dann gezeigt. Will man seinen Worten glauben, so ist genau wären so peinliche Situationen wie im Falle des das Verkehrskonzept, das er vorgelegt hat, der ein- Steinkohlenkraftwerks in der Stadt Rostock nicht zige Ausweg aus dem Treibhauseffekt, und das ganze passiert oder das Naturschutzgesetz, das wir bereits sogar ohne — so sagt er es jedenfalls — Mobilitätsver- erwähnt haben. lust. Wir brauchen, aber das ist jetzt nicht mehr Ihr Nach Meinung des Verkehrsministers sind Auto- Ressort, eine Verkehrswende. Der Entwurf des bahnen nach Osten sogar notwendig, damit Waren gesamtdeutschen Verkehrswegeplans gehört in den aus dem Westen auch in die neuen befreiten Länder Papierkorb. Statt dessen ist ein integriertes Verkehrs- befördert werden können. Ich glaube natürlich, daß konzept zu entwickeln, das auch die Erkenntnisse der damit auch Rohstoffe in den EG-Bereich zurückkom- Klimaforschung aufnimmt. men sollen, obwohl es doch effizientere Methoden gibt, mit denen man sie ausnutzen kann. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7623

Dr. Klaus-Dieter Feige Ich will mit ein paar abschließenden Worten einfach Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. sagen: Ich glaube, Herr Paziorek hat gesagt, jede (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mark hilft, und da finde ich es gut, daß in den der PDS/Linke Liste) Zeitungen steht — ich will es einfach einmal anders formulieren —, daß die Menschen gerade in den neuen Ländern noch gar keine so richtige Beziehung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- zu Umweltproblemen haben. Ich glaube aber, sie sind geordneter, ich werde darüber nachdenken, ob solche dort sehr weit. Da gab es für mich eine bezeichnende verkaufsfördernden Empfehlungen von dort unbe- Situation. Da war eine kleine Bürgerinitiative hier aus dingt richtig sind. Im übrigen wünsche ich Ihnen viel Pankow, in Berlin, mitten in Umweltproblemen, die Erfolg bei Ihren Bemühungen. gesagt hat, daß sie helfen will. Da gab es eine Der Abgeordnete Harries hat jetzt das Wo rt. Situation, die vielleicht unsere Kollegen Damen und Herrn Abgeordneten aus den westlichen Bundeslän- dern nicht nachvollziehen können, weil sie das nicht Klaus Harries (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe miterlebt haben. Diese Bürgerinnen und Bürger beka- Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner erlaube men ein Briefmarkenheftchen nach Hause geschickt. ich mir vorweg die Anregung — obwohl ich weder bei Da waren zehn Briefmarken zu einer Mark drin, und Ihnen noch bei mir irgend welche Müdigkeitserschei- diese hat ihnen der Herr Schwarz-Schilling mit nungen feststelle —, doch zu gegebener Zeit in geeig- freundlichen Grüßen dafür geschickt, daß die Postge- neter Runde einmal darüber nachzudenken, ob wirk- bühren auf das gesamtdeutsche Niveau angehoben lich — bei aller Wichtigkeit dieses Themas — vier werden sollten. Dafür gab es natürllich keine Gegen- oder, wie ich feststelle, sogar fünf Stunden erforder- leistung, die Post im Osten ist immer noch in der lich sind, um hier zu diskutieren. — Zur Anregung gleichen Situation. Aber zumindest gab es so etwas weitergegeben! wie den Versuch: Mit zehn Mark sind Sie dabei, um (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) damit den Menschen zu sagen: Die Bundesregierung denkt an euch. Liebe Kolleginnen und Kollegen, als letzter Redner hat man auch die Möglichkeit, ein vorläufiges Resü- mee dessen zu ziehen, was in dieser Zeit diskutiert Diese haben nun einfach die Idee aufgenommen wurde. Ich meine, wir sind uns einig darüber, daß und gesagt: Wir wollen diese Marken nicht, macht sie weltweit Handlungsbedarf besteht, daß es globale zu Geld, zehn Mark, und ich gebe meine zehn Mark, Umweltprobleme gibt und daß sich die Dritte Welt manche haben noch etwas dazugegeben, ganz ein- entwickeln muß. Mit Recht wurde dargestellt, daß die fach für einen Zweck, für ein Regenwaldprojekt, jede Dritte Welt unter Hunger, unter Armut, unter Bevöl- Mark hilft. kerungsexplosion, unter Not leidet, selbst Umweltpro- bleme erzeugt, Tropenwälder vernichtet. Wir sind uns Nun haben wir uns also an die Post gewandt auch einig darüber, daß sich die Verursacher von — sie haben uns damit beauftragt —, und wir ha- Schadstoffemissionen und von Umweltproblemen in ben versucht, dafür Geld zu kriegen. Entweder war es den Industrieländern, also insbesondere auch bei uns, dem Herrn Schwarz-Schilling zu peinlich, diese Mar- befinden. ken, die dort eine gewisse Peinlichkeit bei den Meine Damen und Herren, wenn ich es richtig Bürgerinnen und Bürgern hervorgerufen haben, wie- werte, sind wir uns auch über die Ziele einig. Ich sagte der zurückzunehmen, wir haben das Geld nicht schon, daß Handlungsbedarf besteht und daß wir gekriegt. Wir haben sie jetzt verkauft, zum Teil, aber aufgerufen sind, zu einem möglichst nahen Zeitpunkt ich habe ein paar übrigbehalten, und zwar ganz - die globalen Umweltprobleme zu regeln, aber gleich- einfach, um die Probe aufs Exempel zu machen. Ich zeitig auch die Dritte Welt zu entwickeln und ihr die möchte allen gutgewillten Abgeordneten auch die dazu erforderlichen Chancen zu geben. Nicht einig Chance geben, insbesondere meinen Kolleginnen sind wir uns über die Wege, die zu diesem einver- und Kollegen aus den alten Bundesländern, so ein nehmlichen Ziel führen. Heftchen zu erwerben, was darüber hinaus einen entsetzlichen philatelistischen Wert hat. So können Den Beitrag des hessischen Umweltministers kann Sie helfen. Sie kriegen sogar Marken dafür, Sie haben ich überhaupt nicht ernst nehmen. eigentlich keinen finanziellen Verlust, aber Sie kön- (Detlev von Larcher [SPD]: Schade!) nen demonstrieren, daß Sie ganz einfach dabei sind. Er hat sich für meine Begriffe wieder als brillanter Immerhin, Briefe schreiben hilft auch Verkehr zu Feuerwerksspezialist gezeigt, aber nicht als Realpoli- vermeiden. — Das gilt allerdings nicht für Liebes- tiker, der wirkliche Wege zur Erledigung der darge- brief e. stellten Probleme aufzeigt. (Detlev von Larcher [SPD]: Da haben Sie aber Ich werde sehen, ob ich meine Marken loswerde. schlecht zugehört!) Ansonsten muß ich ganz einfach sagen, daß es mir wichtig wäre, daß Sie mit so kleinen Beiträgen doch Im Grunde hat er hier vorgeschlagen, aus dem Indu- auch irgendwann einmal dazu kommen, mit großen striestandort Bundesrepublik Deutschland, aber auch Beiträgen darauf Einfluß zu nehmen, daß die Bundes- aus dem Wachstum auszusteigen. Er hat nein zur regierung und auch die Regierung in den Vereinigten Kernenergie gesagt — die uns allen bekannten Paro- Staaten nicht mehr die Chance haben, eine so entsetz- len —, nein zur Autoindustrie, liche Wirtschafts- und Umweltpolitik voranzutrei- (Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben wirk ben. lich schlecht zugehört!) 7624 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Klaus Harries nein zur Entwicklung von Wirtschaft und Handel. Das Kommission. — Das Haus ist offensichtlich damit führt nicht weiter. einverstanden. Dann ist das so beschlossen.' ) Die SPD-Opposition hat die Befürchtung darge- Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 a auf. Wir kommen stellt, daß in Rio im Grunde eine Nullösung zu zur Abstimmung, und zwar über den Entschließungs- befürchten und zu erwarten sei und daß daran weit- antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE zur Regie- gehend die Bundesregierung und den Bundeskanzler rungserklärung. Er liegt Ihnen auf der Drucksache schuld trügen. 12/2620 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- (Zuruf von der SPD: Das haben wir nicht trag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — gesagt! — Detlev von Larcher [SPD]: Das Dann ist dieser Entschließungsantrag bei Enthaltung müssen wir weit von uns weisen!) der SPD mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Beide Aussagen halte ich für verkehrt; sie sind nicht haltbar. Rio wird keine Nullösung bringen. Die glo- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 c auf. Wir stim- bale Umweltaufgabe ist ein internationales Thema men jetzt ab über den Antrag der Fraktionen der geworden und wird von der Tagesordnung der inter- CDU/CSU, der SPD und F.D.P.: „Klimaveränderung nationalen Konferenzen nicht mehr verschwinden. Es gefährdet globale Entwicklung". Dieser Antrag liegt ist ganz wesentlich ein Erfolg des Kanzlers, ein Erfolg Ihnen auf der Drucksache 12/2551 vor. Wer stimmt für des Bundesumweltministers und der Bundesregie- diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- rung, daß das Thema international geworden ist. gen? — Bei einigen Enthaltungen und Gegenstimmen aus den Gruppen ist der Antrag angenommen wor- (Beifall des Abg. Dr. Wolfg ang Bötsch [CDU/ den. CSU]) Nach allem, was wir wissen und was vorbereitet Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 f auf. Wir stim- wird, haben wir sehr wohl zu erwarten, daß in Rio eine men jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Aus- Klimakonvention verabschiedet wird, wenn auch schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- nicht mit dem erhofften weitgehenden Inhalt. Das ist heit zu den Anträgen der Fraktionen der CDU/CSU, klar, das ist in einer Konferenz nicht zu erreichen. der F.D.P., der SPD sowie der Gruppe Bündnis 90/ Aber es ist offenbar zu erreichen, daß sich in Rio alle GRÜNE zur UN-Konferenz „Umwelt und Entwick- Länder verpflichten, den Ist-Zustand ihrer Schadstoff- lung 1992". Sie liegen Ihnen auf den Drucksachen emissionen zu messen, bekanntzugeben und nach- 12/2489, 12/1652, 12/2298 und 12/2587 vor. prüfen zu lassen. Ferner wird das Ziel zum Ausdruck Der Ausschuß empfiehlt Ihnen unter Nr. I die kommen, Schadstoffemissionen zu minimieren. Es ist Annahme dieser Entschließung. Wer stimmt der heute mit Recht vom Bundesumweltminister darauf Beschlußempfehlung des Ausschusses zu? — Wer hingewiesen worden, daß eine Folge von Konferen- stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die zen den notwendigen Erfolg bringt. Es ist vorhin der Beschlußempfehlung bei einer Enthaltung aus der KSZE-Prozeß erwähnt worden, der letzten Endes SPD-Fraktion angenommen worden. wesentlich zur deutschen Einheit geführt hat. Unter Nr. II seiner Beschlußempfehlung empfiehlt Ich erinnere an die FCKW- und Halon-Konferenzen der Ausschuß, den Antrag der Fraktionen der CDU/ in Montreal, London und Kopenhagen. Inzwischen CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/2489 für stehen die endgültigen Termine international ver- erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? — Dagegen? pflichtend fest. Ich erinnere auch an die Nordsee — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfeh- Konferenzen. Diese drei Konferenzen haben eine lung des Ausschusses angenommen worden. weitgehend saubere Nordsee bewirkt. - Unter Nr. III wird empfohlen, den Antrag der Es klang bei der SPD auch an, daß zwar kein Austritt Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1652 ebenfalls aus der Industriegesellschaft, aber im Grunde doch für erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? — Dage- ein globales Umdenken mit Austrittszenarien erfor- gen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschluß- derlich sei. Hiervor kann ich nur warnen. Ich plädiere empfehlung mit den Stimmen der Koalition angenom- dafür, daß wir mit Marktwirtschaft, mit qualitativem men worden. und quantitativem Wachstum in den Industrieländern, also auch mit uns, an die Bewältigung der Probleme Unter Nr. IV empfiehlt der Ausschuß, den Antrag herangehen — allerdings mit einer Marktwirtschaft, der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache die sozial und, wie wir es beweisen und demonstrie- 12/2298 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschluß- ren, ökologisch flankiert und abgesichert ist. Dieses empfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- Instrumentarium für die Entwicklung der Dritten Welt gen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei ist der richtige Weg, um die Ziele zu erreichen. unterschiedlichem Stimmverhalten der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der beiden Gruppen angenom- Ich bedanke mich. men worden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zum Tagesordnungspunkt 4 g. Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Bericht der Bundesregierung und den Anträgen der Damen und Herren, bevor wir nun zu einer Vielzahl Fraktion der SPD zur Tropenwalderhaltung. Es han- von Abstimmungen kommen, möchte ich zunächst delt sich um die Drucksachen 12/1831, 12/921, einmal die Genehmigung des Hauses einholen, daß 12/2109 und 12/2598. der Abgeordnete Michael Müller seine Rede zu Pro- tokoll geben kann; er ist zur Zeit in einer Enquete- ') Anlage 2 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7625

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. I, nach zustim- zu erklären. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzu- mender Kenntnisnahme des Berichts der Bundesre- stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. gierung eine Entschließung anzunehmen. Wer dieser — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen Beschlußempfehlung unter II. ist bei sehr unterschied- wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer lichem Abstimmungsverhalten der Gruppen und der stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese SPD-Fraktion angenommen worden. Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitions- Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 4 b, fraktionen gegen den Rest des Hauses angenommen 4 d, 4 e und 4h und damit zu den Vorlagen auf den worden. Drucksachen 12/2400, 12/2072, 12/2121 und 12/2081. Unter II. empfiehlt der Ausschuß, den Antrag der Dies betrifft den Bericht der Enquete-Kommission Fraktion der SPD auf Drucksache 12/921 — Klima- „Schutz der Erdatmosphäre", den Antrag der Gruppe schutz durch Maßnahmen zur Tropenwalderhal- Bündnis 90/GRÜNE zum Sofortverbot von ozonschä- tung — abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluß- digenden Substanzen, den Antrag der Fraktion der empfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- SPD zum Schutz der Ozonschicht und der Atmosphäre gen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den und die Unterrichtung der Bundesregierung zur gleichen Mehrheitsverhältnissen wie eben angenom- Reduzierung der energiebedingten CO2-Emissio- men worden. nen. Unter III. wird empfohlen, den Antrag der Fraktion Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen der SPD auf Drucksache 12/2109 — Importverbot für an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse Tropenhölzer aus Primärwäldern — ebenfalls abzu- vor. Werden aus dem Hause andere Vorschläge lehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustim- gemacht? — Das ist nicht der Fall. Dann darf ich die men wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Überweisung als beschlossen feststellen. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit angenommen worden. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 2 und Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Aus- den Zusatzpunkt 3 auf: schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- 2. Überweisungen im vereinfachten Verfahren heit — dies betrifft Zusatzpunkt 1: Vorschlag für eine a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Richtlinie des Rates über die Luftverschmutzung brachten Entwurfs eines Gesetzes zur durch Ozon — auf Drucksache 12/2577. Wer stimmt Änderung des Wohnungseigentumsgeset- dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses zu? — zes Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung bei Enthaltung der beiden — Drucksache 12/2505 — Gruppen angenommen worden. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) Wir stimmen jetzt — Zusatzpunkt 2 — über die Ausschuß für Wirtschaft Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Ausschuß für Raumodnung, Bauwesen und Städtebau Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Fraktion der SPD zur Aufnahme gefährdeter Tropen- brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes holzarten in das Washingtoner Artenschutzabkom- zur Änderung des Deutschen Richtergeset- men ab. Ich verweise auf die Drucksachen 12/2095 zes und 12/2614. Der Ausschuß empfiehlt unter I. die Annahme einer Entschließung. Wer dieser Beschluß- — Drucksache 12/2507 — empfehlung des Ausschusses zuzustimmen wünscht, Überweisungsvorschlag: den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dage- Rechtsausschuß (federführend) gen? — Innenausschuß Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) c) Erste Beratung des von der Bundesregie- — Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren von rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- der SPD, die Möglichkeit geben, ihr Stimmverhalten zes über die elektromagnetische Verträg- zu korrigieren: Es h andelt sich um eine Beschlußemp- lichkeit von Geräten (EMVG) fehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und — Drucksache 12/2508 — Reaktorsicherheit, die auf Antrag der Fraktion der SPD zustande gekommen ist. Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Post und Telekommunikation (federführend) (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung Wenn Sie dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen d) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- wünschen, bitte ich um Ihr Handzeichen. — Wer ist desregierung dagegen? — Enthaltungen? — Ich stelle fest, daß diese Wohngeld und Mietenbericht 1991 Beschlußempfehlung einstimmig angenommen wor- — Drucksache 12/2356 — den ist. Überweisungsvorschlag: (Zuruf von der SPD: Wir bedanken uns für Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (fe- Ihre Souveränität, Herr Präsident!) derführend) Ausschuß für Wirtschaft Unter II. empfiehlt der Ausschuß, den Antrag der Ausschuß für Familie und Senioren Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2095 für erledigt Haushaltsausschuß 7626 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg ZP3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Inge Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung Wettig-Danielmeier, Uta Würfel, Dr. Hans de über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzent- With, Gerhart Rudolf Baum, Susanne Rahardt- wurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes zum Men- Vahldieck, Dr. Wolfgang Ullmann und weite- schenhandel, der Ihnen auf den Drucksachen 12/2046 ren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs und 12/2589 vorliegt. eines Gesetzes zum Schutz des vorgeburtli- chen/werdenden Lebens, zur Förderung einer Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen PDS/Linke Liste auf der Drucksache 12/2609 vor. im Schwangerschaftskonflikt und zur Rege- Meine Damen und Herren, ich bitte diejenigen, die lung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwan- dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzu- geren- und Familienhilfegesetz) stimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltun- — Drucksache 12/2605 — gen der GRÜNEN ist dieser Gesetzentwurf in der Überweisungsvorschlag: zweiten Lesung angenommen worden. Sonderausschuß „Schutz des ungeborenen Lebens" (feder- führend) Wir treten in die Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren dritte Beratung Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzu- Bei Zusatzpunkt 3 möchte ich Sie darauf aufmerk- stimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt sam machen, daß er den in der vergangenen Woche dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Gesetzentwurf eingebrachten weiteren Gesetzentwurf zu § 218 StGB ist bei Enthaltungen der beiden Gruppen angenom- betrifft. men worden. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse ßungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Druck- zu überweisen. Ist das Haus mit diesem Vorschlag sache 12/2609. Wer beabsichtigt, dem Entschlie- einverstanden? — ßungsantrag zuzustimmen? — Wer stimmt dagegen? (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Wir wol- — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungs- len eigentlich eine Debatte!) antrag von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und F.D.P. bei Enthaltung des Bündnisses 90/GRÜNE abgelehnt Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich feststellen, worden. daß das einstimmig beschlossen worden ist. Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungs- Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 3 auf: punkt 3 c. Wir stimmen jetzt über die Beschlußemp- fehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache Abschließende Beratungen ohne Aussprache 12/2557 ab. Es handelt sich um die Sammelüber- a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat sicht 58. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? eingebrachten Entwurfs eines ... Straf- — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei rechtsänderungsgesetzes — Menschenhandel Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen. — (. . . StrÄndG) Meine Damen und Herren, bevor ich zum nächsten — Drucksache 12/2046 — Tagesordnungspunkt komme, möchte ich eine Dele- Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- gation des Bundesparlaments der CSFR, die unsere ausschusses (6. Ausschuß) Debatte zum nächsten Tagesordnungspunkt verfol- — Drucksache 12/2589 — gen will, begrüßen. Es ist mir eine besondere Ehre und ein Vergnügen. Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse (Beifall im ganzen Hause) Cornelia Yzer (Erste Beratung 79. Sitzung) Ich tue dies besonders gerne auch in der Hoffnung, daß die anschließende Debatte der Normalisierung b) Beratung der Beschlußempfehlung und des und Festigung gutnachbarschaftlicher Beziehungen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft dienen wird. (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Meine Damen und Herren, eine umsichtige Verwal- Umsetzung der EG-Richtlinien auf dem Gebiet tung macht mich darauf aufmerksam, daß ich eine des öffentlichen Auftragswesens Beschlußempfehlung, nämlich die zu Tagesordnungs- punkt 3 b, übersehen habe. Ich bitte Sie, mir zu helfen, — Drucksachen 12/770, 12/2540 — dies zu korrigieren. Es handelt sich um die Beschluß- Berichterstattung: empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Abgeordneter Dr. Heinrich Kolb Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. c) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- zur Umsetzung der EG-Richtlinien auf dem Gebiet des tionsausschusses (2. Ausschuß) öffentlichen Auftragswesens, Drucksachen 12/770 und 12/2540. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzu- Sammelübersicht 58 zu Petitionen stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Drucksache 12/2557 — — Dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist auch diese Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7627

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenom- beiden Signatarstaaten von den Menschen besonders men worden. kritisch hinterfragt und teilweise abgelehnt wird. Dennoch hat sich das Föderalparlament in Prag nach Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 5: mutigen Beiträgen einzelner Befürworter und nach- dem die Debatte dort ein hohes Maß an Kritik und Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Erwartung zum Ausdruck gebracht hatte, mit klarer von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Mehrheit für diesen Vertrag ausgesprochen. wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepu- In der Tat, auch für uns gilt doch, daß der Vertrag blik Deutschland und der Tschechischen und nicht das Optimum alles Wünschenswerten ist. Aber Slowakischen Föderativen Republik über gute dieser Vertrag ist die Konkretisierung des heute im Nachbarschaft und freundschaftliche Zusam- Verhältnis zwischen beiden Staaten Machbaren. Er ist menarbeit gewiß ein Kompromiß zwischen den unterschied- — Drucksachen 12/2468, 12/2612 — lichen Interessenlagen beider Seiten, der dadurch zustande kam, daß die heute noch nicht lösbaren Beschlußempfehlung und Bericht des Auswär- Fragen entweder ausgeklammert und für zukünftige tigen Ausschusses (3. Ausschuß) Regelungen offengehalten wurden oder auf andere — Drucksache 12/2621 — Weise in Zukunft einer Regelung zugeführt werden Berichterstattung: sollen. Beiden Seiten ging es darum, im Rahmen des Abgeordnete Herbert Werner (Ulm) heute Möglichen zukunftsgerichtetes Handeln zu Dr. Peter Glotz gestalten. Ulrich Irmer Jeder Einsichtige versteht, warum der Vertrag (Erste Beratung 90. Sitzung) gerade jetzt angestrebt wurde. Die politische Klugheit Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak- gebietet es dem neuen Deutschland, durch vertrag- tionen der CDU/CSU und der F.D.P., der Fraktion der liche Regelungen mit den östlichen Nachbarn Ver- SPD und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE sowie der trauen zu schaffen und zugleich durch enge Koope- Gruppe PDS/Linke Liste vor. ration deren Demokratie und Wirtschaft zu stabilisie- Der Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Druck- ren. Die Notwendigkeit, den Anschluß an die demo- sache 12/2526 unter Tagesordnungspunkt 5 b betref- kratische und wirtschaftlich erfolgreiche Europäische fend den Vertrag mit der CSFR über gute Nachbar- Gemeinschaft auf dem Wege über Deutschland zu schaft und freundschaftliche Zusammenarbeit wurde erlangen, hat die CSFR veranlaßt, auf der Grundlage zurückgezogen. des Vertrages von 1973 ihr Verhältnis zu Deutschland weiterzuentwickeln und für die Zukunft auf eine qualitativ neue Ebene zu stellen. Zugleich rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 auf: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Mit diesem Beitrag hier möchte ich mich namens von der Bundesregierung eingebrachten Ent- der CDU/CSU an die beiden Regierungen, aber auch wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom an die betroffenen Menschen in beiden Staaten wen- 6. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik den. Deutschland und der Republik Ungarn über Den Vertriebenen gegenüber möchte ich unterstrei- freundschaftliche Zusammenarbeit und Part- chen: Das Vertragswerk hat die Rechte der Sudeten- nerschaft in Europa deutschen nicht geschmälert. Das Vertragswerk hat — Drucksachen 12/2469, 12/2613 — vielmehr die Bestätigung der tschechoslowakischen - Beschlußempfehlung und Bericht des Auswär- Seite gebracht, daß verschiedene Fragen offen sind. tigen Ausschusses (3. Auschuß) Das Vertragswerk hat beiderseits das Eingeständnis von Unrecht und Schuld festgehalten. — Drucksache 12/2622 — Daran vermag der sogenannte Motivenbericht, Berichterstattung: Abgeordnete Karl Lamers dessen Inhalt und Herkunft in Prag selber umstritten Dr. Peter Glotz ist, nichts zu ändern. Ulrich Irmer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Erste Beratung 90. Sitzung) ordneten der SPD) Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Er sollte im Interesse der Wahrhaftigkeit durch die Ihnen eine Aussprachezeit von zwei Stunden vor. bald neu gewählte Regierung in Prag möglichst revi- Wenn sich kein Widerspruch erhebt — das ist offen- diert werden. sichtlich der Fall —, dann darf ich dies als beschlossen feststellen. Die CDU/CSU-Fraktion legt großen Wert darauf, daß die deutsche und die tschechoslowakische Regie- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst rung die Vermögensfrage, die offengehalten wurde, einmal dem Abgeordneten Werner das Wort. Herr nicht einfach als erledigt zur Seite legen. Es müssen Abgeordneter, Sie haben das Wort. doch Gespräche zwischen den vertriebenen Sudeten- deutschen und den Regierungen der Tschechei und Herbert Werner (Ulm) (CDU/CSU): Herr Präsident! der Slowakei darüber in die Wege geleitet werden Meine Damen und Herren! Nach einmütiger Beratung können, wie der Rechtsfrieden auf für beide Seiten im Auswärtigen Ausschuß verabschieden wir heute menschlich und wirtschaftlich vertretbare Weise wie- den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag, der in derhergestellt werden kann. 7628 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Herbert Werner (Ulm) Viele Sudetendeutsche würden gewiß auf ihre kischen Parteien wirkungsvoll unterstützt werden Ansprüche verzichten, wenn sie den guten Willen und können. Die Restitution für Sie in der Tschechoslowa- zugleich die kaum mögliche Durchführung von Resti- kei ist ein erster gemeinsamer Erfolg. Vergessen Sie tution und Entschädigung seitens der Tschechoslo- als Minderheit in der CSFR aber auch nicht die wakei sehen würden. Allen Vertriebenen ist der Notwendigkeit aktiver Mitwirkung im neuen tsche- Gedanke jedweder neuen Vertreibung oder Enteig- choslowakischen Staat. nung völlig fremd. Ich appelliere an die Regierung der Tschechoslo- Die Tschechen möchte ich beruhigen. Jede Form wakei: Helfen Sie der deutschen Minderheit, ihre von Entschädigung, die mit einer Bewirtschaftungs- Identität zu bewahren! Wehren Sie sich gegen alle pflicht oder mit einer Reinvestitionspflicht verbunden Nationalisten, die mit Angstparolen ihr parteipoliti- ist, kann der CSFR nur helfen, zusätzliches Kapital ins sches Spiel treiben. Seien Sie zu Gesprächen mit den Land zu holen. Mit einer möglichen derartigen Rege- vertriebenen Sudetendeutschen bereit, damit beide lung individueller Ansprüche stellt sich unseres Seiten die unterschiedlichen Standpunkte authen- Erachtens die Frage der kriegsbedingten Reparatio- tisch und ohne Verdrehung kennenlernen. Stellen Sie nen zwischen beiden Staaten nicht. Es handelt sich die noch laufenden Versteigerungen früheren deut- hier um die Anerkennung individueller Menschen- schen Grundeigentums aus Staatsbesitz deswegen rechte durch die Tschechoslowakei, die auf dem Wege ein. Auch wenn noch in vielen Köpfen die kommuni- zu einem Rechtsstaat ist bzw. ein Rechtsstaat sein stische und nationalistische Verteufelung der Deut- will. schen steht, wagen Sie in Prag Ihren Führungsauf- Ähnlich verhält es sich mit dem Wunsch, daß Prag trag! den Sudetendeutschen gegenüber schon vor dem Schließlich appelliere ich an die Bundesregierung, EG-Beitritt das Recht auf die Heimat anerkennt. Die sich im In- und im Ausland zum Sprecher für die Tschechen — ich sage dies als Sudetendeutscher — vertriebenen Sudetendeutschen und für die Volks würden sehr rasch sehen, daß nur wenige Sudeten- gruppenrechte zu machen und die Deutschen in der deutsche, die in Deutschland eine Heimat gefunden CSFR nach Kräften zu unterstützen und nötigenfalls haben, das Niederlassungsrecht konkret wahrneh- auch das vereinbarte Schiedsgerichtsverfahren einzu- men würden. Jene, die wieder in der CSFR siedeln leiten. würden, wären zweifelsohne für dieses Land ein Meine Damen und Herren, die vielfältigen Bemü- großer Gewinn. hungen zur Zusammenarbeit zwischen den beiden Wenn es eine Tatsache ist, meine Damen und Völkern könnten durch eine deutsch-tschechoslowa- Herren, daß der Vertrag nichts verschüttet hat, dann kische Stiftung koordiniert werden, die den Namen müssen Wege zur Lösung beider Problemkreise von des großen Erziehers und Europäers Jan Amos Come- beiden Seiten gewollt und beschritten werden. Die nius, der vor 400 Jahren geboren wurde, tragen zukünftige Föderalregierung in Prag sollte deswegen könnte. Die gezielte Aufarbeitung der Geschichte, die rasch den Mut dazu aufbringen, auch und gerade zum Analyse der Gegenwartsprobleme, das frühzeitige Vorteil der Tschechoslowakei. Ein Spekulieren auf gemeinsame Anpacken von Zukunftsaufgaben vom das Abtreten der Erlebnisgeneration wäre verhäng- Umweltschutz bis zur Kultur, die Koordinierung der nisvoll. Das Wissen um elementares Unrecht ist, wie vielfältigen Bemühungen der Organisationen und die Geschichte zeigt, nicht an eine Generation gebun- Regionen und die Vermittlung eines breiten Informa- den. Wer die Geschichte möglichst objektiv aufarbei- tionsangebotes in beiden Staaten über beide Staaten ten und darstellen will, wird notwendigerweise immer könnte diese Stiftung der Verständigung und der wieder das Unrecht beider Seiten beim Namen nen- Versöhnung leisten. So wie die Euro-Regionen und nen müssen. Mutige Parlamentarier in Prag haben- das Jugendwerk wäre die Stiftung ein bedeutsamer dies während der Ratifizierungsdebatte getan. Wenn Ansatz und eine bedeutsame Umsetzung des Vertra- für beide Seiten feststeht, daß die Vertreibung ein ges, über den wir heute entscheiden. Unrecht war, dann müssen beide Seiten Mittel und Wenn alles dies, meine Damen und Herren, in guter Wege suchen, um die Folgen dieses Unrechts so weit Absicht auf beiden Seiten geschieht, wenn dies in der wie möglich und ohne wechselseitige Überforderung Absicht und mit der Bereitschaft geschieht, auf beiden wiedergutzumachen. Nachträglich ungeschehen ma- Seiten zur Verständigung zu gelangen, dann wird der chen kann man zweifelsohne nichts. Vertrag eine neue und, wie ich meine, gute Epoche Meine Damen und Herren, die Vertriebenen wissen zwischen Deutschen und Tschechen und zwischen sehr wohl, daß nichts wieder so werden wird, wie es Deutschen und Slowaken in die Wege leiten. Deswe- einmal war, daß aber auch nichts so bleiben wird, wie gen bitte ich Sie, meine Damen und Herren, diesem es heute ist. Ich appelliere deswegen an alle Vertrie- Vertrag zuzustimmen. benen, dabei mitzuhelfen, daß der Vertrag mit Leben Wir, die CDU/CSU, stimmen dem vorliegenden erfüllt wird. Je reichere Früchte er tragen wird, um so Vertrag zu und bitten Sie zugleich, der Resolution der leichter werden die offenen Fragen gelöst werden CDU/CSU und der F.D.P., welche nochmals die Aus- können. Vertrauen auf beiden Seiten tut not. Ver- gangsposition und die Eckpunkte für die zukünftige trauen ist die Grundlage für die Lösung des noch Gestaltung des deutsch-tschechoslowakischen Ver- Ungelösten. Lassen Sie uns daher gemeinsam mutig hältnisses darlegt, Ihre Stimme zu geben. Ich glaube, anpacken und nicht mißmutig ins Abseits treten! wir alle sind heute aufgerufen, wie auch immer — mit Ich appelliere an die Vertreter der deutschen Min- mehr oder weniger Kritik — wir dem Vertragswerk derheit in der CSFR: Schließen Sie sich zusammen, gegenüberstehen mögen, offensiv und positiv den damit Sie von uns und auch von den tschechoslowa- Schritt in eine gemeinsame gute Zukunft zu tun. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7629

Herbert Werner (Ulm) Vielen Dank. Herren, die Einladung von Henry Kissinger. Ihre (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Debatten werden immer mehr zu Camp-David-Pro- ordneten der SPD) zessen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Meine Damen und Herren, Ihre Koalition ist in einer erteile ich dem Abgeordneten Glotz das Wort. Stimmung, an die ich mich gut erinnere: Es ist die Stimmung, Herr Kollege Genscher, etwa im Sommer Dr. Peter Glotz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr 1981. verehrten Damen und Herren! Ich wiederhole für die Herr Kinkel, ich wünsche Ihnen, daß Sie trotz dieser sozialdemokratische Bundestagsfraktion die schon in Krampfzustände eine konsistente Außenpolitik zu- der ersten Lesung ausgesprochene Unterstützung für stande bringen, und wir trauen Ihnen das auch zu. diese Verträge. Die Bundesregierung kann, Herr Bundesminister, davon ausgehen, daß sich die Sozial- (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei demokraten an allen konkreten Maßnahmen beteili- Abgeordneten der CDU/CSU — Zuruf von gen werden, die zur Ausfüllung dieser Verträge füh- der F.D.P.: Wir auch!) ren. Lassen Sie uns gemeinsam dazu beitragen, daß Ich habe Anlaß zu der Feststellung: Jenseits des alle Deutschen — aber nicht nur alle Deutschen — Parteienstreits, den ich gerade ausgetragen habe begreifen: Ost- und Mitteleuropa ist ein genuiner Teil Europas. Budapest und Prag sind europäische Städte (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der genauso wie Berlin und Paris. Wir reden nicht nur CDU/CSU und der F.D.P.) darüber, sondern mit diesen Verträgen handeln wir und der in einer Demokratie gelegentlich unvermeid- auch. Das ist unsere gemeinsame Auffassung. lich ist, gibt es unter den Deutschen eine breite (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und' der Unterstützung dieses Vertrages. F.D.P.) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Diese gemeinsame Handlungsperspektive kann F.D.P. und beim Bündnis 90/GRÜNE) dadurch verdeckt werden, daß zwei unterschiedliche Entschließungsentwürfe von seiten der Koalition und Ich habe zwar meine Zweifel, ob es wirklich richtig ist, von seiten der SPD und des Bündnisses 90 vorliegen. heute auf eine volle Mitgliedschaft der Tschechoslo- Das sieht nach Streit aus. Meine Damen und Herren wakei in der Europäischen Gemeinschaft einen Vor- von der Koalition, wir bedauern die gestern aus den griff machen zu wollen und Deutschen bei der Nie- unendlichen Tiefen dieser Koalition endlich ans derlassung in der Tschechoslowakei eine Art Sonder- Tageslicht geförderte Entschließung schon deshalb, status einzuräumen. Wir glauben, das ginge nur, weil sie ein Zankapfel im tschechoslowakischen wenn man es umgekehrt auch für die Tschechen Wahlkampf werden könnte. Schon aus diesem machte. Grunde bedauern wir sie. In einer altbayerischen (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das steht doch darin: Anwandlung, die mir als Sudentendeutschem gut gegenseitig!) ansteht, sage ich dazu: Ihre Entschließung ist so unnötig wie ein zweiter Kropf, Herr Bötsch. Die gegenseitige Wirkung wäre, daß sich 300 000 (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Tschechen in der Oberpfalz und in Oberfranken und GRÜNE) daß sich 3 000 Sudetendeutsche in Westböhmen nie- derlassen würden. Dann möchte ich die CSU sehen, Ich möchte vor der Öffentlichkeit klarstellen: Wir meine Damen und Herren! Sozialdemokraten waren dafür, diese Verträge blank zu beschließen, d. h. ohne weitere Entschließungen (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und beim von unserer Seite oder auch von Ihrer Seite. Wir waren Bündnis 90/GRÜNE) auch zu einem gemeinsamen Text bereit, meine Ich glaube, dieses Element der Entschließung ist Damen und Herren. Wenn der Text dieser Entschlie- nicht vollständig durchdacht. Ich bin auch ein bißchen ßung aber zu Beginn der Sitzung des Auswärtigen skeptisch, Herr Kollege Werner — trotz Ihrer überaus Ausschusses gestern, in der wir die Bedenken des konstruktiven Rede —, was das Thema Ansprüche Bundesrates und die Stellungnahme der Bundesregie- betrifft. Was Sie gesagt haben, war ehrlich. Sie haben rung dazu beraten haben, noch nicht vorlag — Herr das Wort von der „kaum machbaren Restitution" Lamers mußte seiner Fraktion zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen. Ich weiß das zu würdigen. Am ehr- noch darüber berichten — und niemand mit der lichsten wäre, wenn wir den Sudetendeutschen sagen Opposition geredet hatte oder reden konnte, weil sich würden — ich bin Sudetendeutscher —: Leider ist die CSU und F.D.P. wie die Kesselflicker bekriegten, ökonomische Situation so, daß wir nicht hoffen kön- dann kann man uns jetzt nicht mehr zumuten, eine nen, daß Vermögen zurückgegeben werden kann. Entschließung zu unterschreiben, die die Olympioni- Das wäre das ehrlichste, was wir sagen könnten. ken schließlich am Ende einer langen Wegstrecke mühsam zustande gebracht haben. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE) GRÜNE) Ich möchte in die tschechoslowakische Öffentlichkeit Einer Agenturmeldung entnehme ich: Zur Befriedung hinein und zu den Kolleginnen und Kollegen, die hier der Streitparteien und zur Durchsetzung der Ent- im Hause sitzen, sagen: Lassen Sie sich nicht einreden, schließung in der F.D.P. war schließlich der Abgeord- daß es, was das deutsch-tschechoslowakische Ver- nete Genscher notwendig. Für die nächsten Prozedu- hältnis betrifft, heute eine starke Minderheit in ren dieser Art empfehle ich Ihnen, meine Damen und Deutschland gäbe, die sozusagen nur darauf lauert, 7630 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Ber lin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Peter Glotz hinter dem Rücken der Verträge revanchistische gungen wert, genauso wie bei der polnischen Stiftung. Ansprüche anzumelden. Lassen Sie uns das gemeinsam versuchen. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ der F.D.P. und des Bündnisses 90/GRÜNE) CSU und der F.D.P.) Damit komme ich zum Schluß. Vielleicht vermittelt diese Debatte einen etwas idyllischen Eindruck, Wir sind zwar der Meinung, daß die Entschließung der meine Damen und Herren. Es gibt Gott sei Dank nicht Koalition überflüssig, weil selbstverständlich ist; viele Konflikte zwischen Ungarn, der Tschechoslowa- revanchistisch aber ist sie nicht. kei und Deutschland, für die wir heute Verträge (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Sehr wahr!) verabschieden. Alle Parteien bemühen sich um neue Konzepte für das neue Europa. Ich erinnere beispiels- Der zentrale Hinweis auf den Dialog zwischen Richard weise auch an uns Sozialdemokraten. Johannes Rau von Weizsäcker und Vaclav Havel ist angemessen und und Heidemarie Wieczorek-Zeul haben gerade den richtig formuliert und findet auch die Zustimmung der Versuch eines ersten Drafts, einer ersten Kennzeich- Opposition. nung der Zukunftsprobleme vorgelegt. Aber dazu, (Beifall bei Abgeordneten der SPD der CDU/ wie ernst es um uns herum in Europa ist, zitiere ich CSU und der F.D.P.) zwei Sätze aus der „Wiener Zeitung" von vor wenigen Tagen — das bezieht sich auf Bosnien —: Die Forderung des Kollegen Werner, was die Volks Was jetzt passiert ist, ist hundertmal prophezeit gruppenrechte betrifft, wie überhaupt seine ganze worden: Libanonisierung, Zersplitterung in viele Rede, wird von uns mitgetragen. Ich denke, wir sind kleine bewaffnete Gruppen, die keiner politi- Gott sei Dank soweit, daß wir heute sagen können: schen Kontrolle unterliegen, ein Kampf ohne Das ganze deutsche Volk will Versöhnung mit Slowa- Fronten und ein blutiges Gemetzel unvorstellba- ken und Tschechen. Darüber müssen wir uns nicht ren Ausmaßes. streiten. Das ist ein großer Schritt in die Zukunft hinein. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Politische Extremisten, Marodeure, Straßenräu- F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) ber, Religionsfanatiker und psychisch gestörte Existenzen terrorisieren die Zivilbevölkerung. Damit bin ich bei der Zukunft. Ich will nur zwei Das schlimmste aller möglichen Szenarien ist Dinge erwähnen. Das eine ist die regionale Zusam- Wirklichkeit geworden. menarbeit. Euregio Egrensis heißt das, eine gemein- Und dann kommt der Satz: same, grenzüberschreitende Region um Eger herum. Wenn wir das gemeinsam fordern, wenn wir — das Europas Politiker wollten nichts von den warnen- sage ich jetzt in Richtung CSU — Termine nicht den Stimmen wissen. Sie doktorten dilettantisch verschieben, sondern unabhängig von Wahlkämpfen und von persönlichen Sympathien geleitet am wirklich alles tun, damit zustande kommt, was beab- Problem herum und schafften es, die Lage zu sichtigt ist, wenn man die Bereitschaft von Minister- verschlimmern. präsident Pithart und anderen aufgreift, zu uns zu Meine Damen und Herren, es sieht in Europa nicht kommen, kann das ein ungeheuer positiver Schritt in so gut aus, wie der unumstrittene Text der beiden die Zukunft sein. Verträge, über die wir heute beschließen, glauben macht. Lassen Sie uns in den nächsten Monaten schon Zweitens unterstütze ich die Idee einer Stiftung. Sie diese Verträge benutzen, die Chancen ausarbeiten, - steht auch in unserem Entschließungsantrag. Herr die in diesen Verträgen und im Verhältnis zu diesen Bundesfinanzminister, bei uns wird nur auf die NS- Völkern stecken! Unser Ziel muß es sein, bosnische Opfer der Tschechen Bezug genommen. Wir sind Situationen in Europa zu vermeiden und die Zusam- selbstverständlich der Auffassung, daß auch die sude- menarbeit von Tschechen, Slowaken, Ungarn und tendeutschen Opfer Berücksichtigung finden sollten, Deutschen so fest in der Verflechtung des Alltags zu wenn wir das mit den Tschechen vereinbaren können. verankern, daß der Irrsinn ethnischer Konflikte das Daß das möglich ist, davon bin ich nach den vielen deutschtschechische Verhältnis, das deutsch-slowa- Gesprächen, die wir geführt haben, überzeugt. Ich kische Verhältnis, das deutsch-ungarische Verhältnis weiß, in welchen Schwierigkeiten Sie aus allgemei- nie mehr stören kann. Wenn wir in diesem Sinne nen finanzpolitischen Gründen sind, weitere Finanz- gemeinsam arbeiten, können diese Verträge ein gro- mittel dafür aufzubringen. Ich finde den Vorschlag, ßer Schritt in die Zukunft unserer Völker sein. eine solche Stiftung nach Comenius zu benennen, sehr, sehr vernünftig und richtig. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ F.D.P.) CSU, der F.D.P. und des Bündnisses 90/ GRÜNE) Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt dem Wenn es uns gemeinsam gelingt, Herr Waigel, eine Abgeordneten Josef Grünbeck. zukunftsbezogene tschechoslowakisch-deutsche Stif- tung zu schaffen, die zwar aufzuarbeiten versucht, was an schrecklicher Vergangenheit zwischen unse- Josef Grünbeck (F.D.P.): Herr Präsident! Meine ren Völkern liegt, aber zugleich in die Zukunft hinein sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe mit praktische Arbeit tut, wäre das wirklich alle Anstren- meinen Kolleginnen und Kollegen der F.D.P.-Bundes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7631

Josef Grünbeck tagsfraktion, aber auch mit vielen sudetendeutschen Nicht dem nationalen Egoismus kann jetzt die Landsleuten, sicher auch mit der Mehrheit der Bevöl- Stunde schlagen, sondern ich erwarte nun das Wirken kerung der Bundesrepublik und der CSFR, daß dieses der Patrioten für ein gemeinsames Europa. Parlament heute in einer großen, historischen Stunde sowohl dem deutsch-tschechischen Vertrag als auch Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in aller dem deutsch-ungarischen Vertrag zustimmt. Lassen Offenheit, aber auch mit aller Überzeugung und Sie mich dazu eine kurze persönliche Erklärung Leidenschaft sagen: Nicht die Patrioten haben Elend abgeben: über diese Welt gebracht, sondern die Fanatiker ideologischer nationaler Egoismen. Sie haben die Ich habe als junger Mensch den letzten Krieg als Auseinandersetzungen hervorgerufen, die uns in tie- Soldat, mehrfach verwundet, erlebt, und habe mich fes Elend gestürzt haben. gefreut, überlebt zu haben und heimzukommen in meine sudetendeutsche Heimat. Mich hat dieser (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Krieg geprägt, weil ich viele Freunde verloren habe, sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke weil ich als junger Mensch Bombengeschädigte, Liste]) Greise, Kinder und Mütter, aus den Trümmern holen Ich glaube, wir müssen uns verstärkt den Problemen mußte. stellen, die jetzt auftreten. Die Kernkraftwerke in der Ich habe also das glückliche Gefühl gehabt, über- CSFR erreichen nicht das europäische Sicherheitsni- lebt zu haben. Und dann kam die Vertreibung: Mein veau, die Luftverunreinigung hat zur Zerstörung der Großvater starb während der Vertreibung in einem schönsten Erzgebirgs-, Riesengebirgs- und Böhmer- Straßengraben. Mein Vater starb an den Mißhandlun- waldlandschaften geführt. Die Gesundheit der Bevöl- gen, und der Vater meiner Frau wurde ermordet. kerung ist erheblich gefährdet. Die Flüsse sind erheb- Dennoch waren meine Frau und ich Mitgestalter und lich gefährdet. Die herrlichen Kulturdenkmäler sind auch Mitunterzeichner der Charta 1950, der Charta durch die Luftverunreinigung in erheblichem Maße in der Vertriebenen — meines Erachtens eine der größ- Gefahr und zum Teil sogar schon zerstört. ten Friedensinitiativen, die wir hatten, Welches ist nun unsere Aufgabe? Wir werden der (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Resolution zustimmen, und sie verabschieden. Aber SPD) wir wissen auch, daß Resolutionen nicht mehr bewe- weil man der Rache und der Vergeltung abgeschwo- gen, als ihr Inhalt aussagt. Die Resolution, die wir ren und die Versöhnung und die Aussöhnung festge- verabschieden, bestätigt — so versteht die Freie schrieben hat. Demokratische Partei die heutige Stunde —, daß der Vertrag mit aller Sorgfalt ausgehandelt wurde und Aber die Terminologie verlangt, daß ich, wenn ich daß dieser Vertrag gewährleistet, wenn er mit Leben Versöhnung und Aussöhnung will, verzeihe. Wenn erfüllt wird, daß die beiden Nachbarn in Zukunft in wir gegenseitig nicht verzeihen, können wir auch Freundschaft miteinander leben können. Allerdings keine Aussöhnung und Versöhnung beider Völker entscheiden nicht Resolutionen allein, sondern dieses herbeiführen. Parlament, die anderen Parlamente, aber auch die (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der gesamte Gesellschaft müssen die Kraft der Herzen SPD) haben, die zum Frieden führen. Sie müssen die Kraft haben, den Geist unserer Zeit zu begreifen, der nicht Die Charta der Vertriebenen hat aber noch einen darauf hinauslaufen kann, daß wir eine ewige detail- anderen Bestandteil. Man hat dort schon 1950 das Ziel lierte und dilettantische Aufrechnung von Schuld und eines dauerhaften Friedens in Europa festgeschrie- Unschuld vornehmen. ben. Wir stehen so nahe davor wie nie zuvor. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Lassen Sie mich aus aufrichtigem Herzen danken: sowie bei Abgeordneten der SPD) dem Bundespräsidenten für seine Rede in Prag, dem Bundeskanzler und besonders Ihnen, Herr ehemali- Wir müssen zu einem dauerhaften Frieden kommen. ger Außenminister und lieber Freund Hans-Dietrich Diesen dauerhaften Frieden können wir nur schaffen, Genscher, für diese beharrliche Leistung der Aussöh- wenn wir uns dieser Regeln bedienen. nung und der Aushandlung dieser Verträge. Meine Damen und Herren, heute wurde viel von der (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der jungen Generation gesprochen. Ich persönlich wün- SPD) sche mir nichts sehnsüchtiger, als daß wir unserer Was ist jetzt? Ich erinnere mich noch an die Einbrin- jungen Generation ein dauerhaft friedliches Europa gungsrede des Außenministers Genscher, der gesagt übertragen können, in dem unsere junge Generation hat, es werde in Zukunft mehr als je zuvor nicht mehr alle Chancen hat, miteinander ein f riedliches und auf die Macht, sondern in hohem Maße auf die dauerhaftes Europa zu erhalten. Verantwortung ankommen. Wo liegt denn die Verant- Frieden, meine Damen und Herren, ist nicht alles, wortung, meine Damen und Herren? aber in dieser Stunde sollten wir uns bewußt sein, daß Zwischen Prag und Wien gab es eine Jahrhunderte ohne Frieden alles nichts ist. alte Rivalität deutscher Kultur. In Prag wurde der erste Vielen Dank. deutsche Kaiser gekrönt. Wir haben einen mitteleuro- päischen kulturellen Raum, den es in die neuen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Bemühungen um eine europäische Integration einzu- sowie bei Abgeordneten der SPD und des bringen gilt. Bündnisses 90/GRÜNE) 7632 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Aber wir sind auch dagegen, sie zu übergehen oder zu Dr. Hans Modrow, Sie haben das Wort. verschweigen, weil es sonst später ein böses Erwa- chen geben kann. Es darf nicht der Eindruck entste- hen, daß anstelle der früheren Bevormundung und Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Dominanz der Sowjetunion jetzt eine andere von Meine Damen und Herren! Den Verträgen, die wir einem Nachbarn, nämlich Deutschland, tritt. Wir sind heute in letzter Lesung behandeln, stimmen wir zu. entschieden dafür, die Zusammenarbeit auf allen Sie können ein wichtiger Bestandteil eines allmählich Gebieten, darunter nicht zuletzt die wirtschaftliche wachsenden neuen bilateralen Vertragswerkes mit Unterstützung für die CSFR und Ungarn, zu intensi- diesen Ländern werden. Sie ziehen einen Schlußstrich vieren. Aber dabei sollten die traditionell gewachse- unter die geteilte Nachbarschaftsgeschichte zweier nen Strukturen der wirtschaftlichen Verbindungen, deutscher Staaten im Verhältnis zu unseren tschecho- z. B. zwischen der CSFR, Ungarn und Polen und auch slowakischen und ungarischen Nachbarn. Insofern Ostdeutschland, noch weiter ausgebaut und nicht gewinnen sie eine historische Dimension. zerstört werden. Ahistorisch ist jedoch, wenn so getan wird, als Unsere tschechischen und slowakischen Nachbarn beginne erst mit diesen Verträgen das Werk der waren tief betroffen, als deutsche Fußballrowdies am Aussöhnung. Die Außenpolitik der DDR und vor allem Tag der Erörterung des vorliegenden Vertrags in der das Verhalten ihrer Bürger haben trotz des Jahres Föderativen Versammlung auf den Straßen in Prag 1968 einen achtbaren Beitrag zur Entwicklung der randalierten. Aber muß es nicht noch viel mehr deutsch-tschechoslowakischen und der deutsch- beunruhigen, wenn der Bundesverkehrsminister auf ungarischen Beziehungen geleistet, auch der von den Wegweisern von Straßen in Sachsen die tschechi- Bundeskanzler abgeschlossene Vertrag schen Ortsbezeichnungen durch die deutschen erset- mit der CSSR vom Jahre 1973. zen läßt — abgesehen davon, daß den meisten ehe- Dies im Blick, unternahm die von mir geleitete maligen DDR-Bürgern die Namen ohnehin im Prinzip Regierung der DDR im Herbst 1989 große Anstren- unbekannt sind, weil sie mit einem anderen Wissen gungen, in neuer Weise gutnachbarliche Beziehun- auf diesem Gebiet groß geworden sind? Nichts kann gen mit der CSFR und Ungarn auf gleichberechtigter mehr Schaden anrichten, als hier Sensibilität vermis- Grundlage zum gegenseitigen Vorteil auszubauen. sen zu lassen. Zweifellos wurden diese Schritte vom überwiegenden Schließlich möchte ich darauf verweisen: Offen ist Teil der Bevölkerung mitgetragen. noch immer das Problem der Entschädigung der Entscheidend ist aber nicht der Blick zurück. Es geht Opfer des Nationalsozialismus in der Tschechoslowa- darum, intensiv nach Möglichkeiten zu suchen, diese kei, der KZ-Opfer und der Zwangsarbeiter. Jeder Verträge mit Leben zu erfüllen. weiß, daß für sie eine wirkliche Entschädigung nicht Unser Entschließungsantrag zum Nachbarschafts- möglich ist. Aber diese Bundesregierung hat sich nicht vertrag mit der Tschechoslowakei enthält dazu eine einmal zu einer Geste aufraffen können. Reihe konkreter Vorschläge für eine echte Aussöh- Wir fordern deshalb, wie für Polen eine Stiftung nung, für die wir entschieden eintreten. einzurichten, die hier schnell etwas in Bewegung Ich möchte hinzufügen, daß der Antrag der SPD und bringt. Wohl kaum etwas anderes könnte den Willen der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE von uns im wesentli- der Deutschen zur Versöhnung besser zum Ausdruck chen unterstützt wird. Wir bestehen jedoch auf der von bringen. uns erhobenen Forderung, das Münchener Abkom- Die beiden Verträge, über die heute zu entscheiden men von 1938 für von Anfang an null und nichtig zu ist, können das Fundament für ein gutes Verhältnis erklären. zwischen unseren Staaten und vor allem zwischen den (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Deswe- Menschen für die Zukunft bilden. Sie können es, gen seid ihr auch einmarschiert; nicht wenn wir diese Länder mit ihren Problemen in dem wahr!) sich ändernden Mittel- und Osteuropa nicht allein lassen und wenn wir diese Probleme ebenso ernst wie — Zu dieser Frage möchte ich Ihnen sagen, daß ich als unsere eigenen nehmen. Dann werden wir nicht nur Ministerpräsident der DDR am 3. Dezember 1989 im Vergangenheit aufarbeiten, sondern auch eine Namen der Regierung der DDR gegenüber den tsche- gemeinsame Zukunft mit diesen Völkern gestalten choslowakischen Völkern die Entschuldigung in können. historischer Weise in Moskau ausgesprochen habe. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) (Zuruf von der CDU/CSU: Das war der fal- sche Platz! — Gegenruf von der SPD: Das war der richtige Platz!) Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ordnete Gerd Poppe. Der Antrag der Koalitionsparteien kann unsere Zustimmung nicht finden. Gestatten Sie mir, hier etwas zu wiederholen, was ich schon im Auswärtigen Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! Ausschuß gesagt habe: Wir sollten uns über die Meine Damen und Herren! Als im Bundestag vor zwei Stimmung in den Staaten des ehemaligen Warschauer Wochen zum erstenmal über die Gesetzentwürfe der Vertrags in Mittel- und Osteuropa nicht täuschen. Das Bundesregierung zu den Verträgen mit der CSFR und beziehe ich ganz besonders auf die Tschechoslowa- mit Ungarn debattiert wurde, wurden diese nach dem kei. Es gibt unter den Tschechen und Slowaken nicht Vertrag mit Polen als weitere Beispiele für die Bemü- wenige Befürchtungen vor einer deutschen Über- hungen des vereinigten Deutschlands um eben das macht. Wir sind nicht dafür, solche Ängste zu schüren. gewürdigt, was in ihrem Namen auch benannt ist, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7633

Gerd Poppe nämlich als einen ernstgemeinten und ernstzuneh- gewaltsame, ungerechte und brutale Seiten nicht mit menden Versuch, zur Freundschaft und Zusammenar- der leidvollen Vertreibung der Sudetendeutschen beit mit unseren Nachbarvölkern zu kommen. Diese begonnen haben, wie deren Landsmannschaften uns Würdigung möchte ich auch heute noch einmal aus- mitunter zu suggerieren versuchten. drücklich bekräftigen. Wo in Ihrem Entschließungsantrag, meine Damen Zu einem solchen ernsthaften Versuch gehört, daß und Herren von der CDU/CSU, ist die Rede von der in den Vertragstexten geregelt wird, was einvernehm- Vernichtung der tschechischen und slowakischen lich geregelt werden kann. Dazu gehört auch, daß Juden? Wo ist die Rede von den schrecklichen Folgen beide Seiten auf Themen und Formulierungen ver- der deutschen Besetzung Böhmens und Mährens? Wo zichtet haben, die der jeweils anderen Seite nicht ist die Rede von der Vertreibung auch der Tschechen annehmbar erschienen. Kompromisse gehören zur aus dem Sudetenland? Wer die Ursache der gewaltsa- Partnerschaft. Das ist banal, aber durchaus auch men Einverleibung des Sudetenlandes durch das vernünftig. faschistische Deutschland unter dem Beifall seiner deutschen Bevölkerung mit der Wirkung des verlore- Ich meine deshalb, daß das Ergebnis schwieriger, nen Krieges und der Vertreibung eben dieser Bevöl- für manche auf beiden Seiten — und jetzt spreche ich kerung gleichsetzt, wer diese Kausalität ignoriert, sagt vom Vertrag mit der CSFR — auch schmerzhafter nicht die ganze Wahrheit. Da nutzt es wenig, von Verhandlungen als das akzeptiert werden sollte, was Versöhnung zu sprechen. Hier geht es nicht um es ist und nur sein kann: als ein vernünftiger Kompro- einseitige Vergebung, sondern um die historische miß, als das derzeit mögliche Optimum, als Beginn Wahrheit oder wenigstens um die Annäherung an sie. einer friedlichen und konstruktiven Zusammenarbeit Eben das versucht der Vertrag, den Sie mit Ihrem und, so hoffe ich, als der Beginn einer freundschaftli- Entschließungsantrag einseitig verbiegen wollen. chen Beziehung zwischen den Staaten und vor allem zwischen den Völkern. Da auch Ihnen klar ist, daß an den ge troffenen Vereinbarungen prinzipiell nichts zu ändern ist, ver- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei suchen Sie, Ihr Anliegen durch die Hintertür der Abgeordneten der SPD) zukünftig — irgendwann einmal — möglichen EG- Das tschechoslowakische Bundesparlament hat Mitgliedschaft der CSFR einzuführen. Im Vorgriff genau dies — trotz Kritik von verschiedenen Seiten, darauf soll die Niederlassungsfreiheit für Deutsche in die auch dort kam — getan. Es hat diesen Vertrag der CSFR eingeführt werden, wohlgemerkt, für deut- diskutiert und stellenweise kritisiert. Aber es hat ihn sche Staatsbürger in der CSFR, nicht für wieder nicht zu ergänzen und zu modifizieren versucht — und tschechoslowakische, die die Sudetendeutschen wa- dies, obwohl die Aussagen des Vertragstextes zur ren, wie dies die Regierung der CSFR in den Vertrags- Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland verhandlungen u. a. mit der Überlegung einer dop- und der Tschechoslowakei aus dortiger Sicht durch- pelten Staatsbürgerschaft vorgeschlagen hatte, und aus als ergänzungsbedürftig angesehen werden kön- schon gar nicht für tschechoslowakische Staatsbürger nen. Ich meine, der Bundestag wäre gut beraten, in Deutschland. Dies allerdings wäre eine gute Idee: ebenfalls auf jegliche Ergänzung oder Relativierung die Schaffung gleichwertiger Möglichkeiten auf bei- zu verzichten. den Seiten. Nur, darum geht es in diesem Antrag offensichtlich (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei nicht. Was Sie trotz aller schönen Worte verlangen, Abgeordneten der SPD) sind einseitige Privilegien für Deutsche, für Bundes- Offensichtlich gibt es aber bei einem Teil der bürger. Und das, mit Verlaub, lehnen wir rundweg Kolleginnen und Kollegen das unstillbare Bedürfnis, und in aller Deutlichkeit ab. ihre subjektiv verständliche, politisch und historisch Ein Wort zum Antrag der PDS. Ich sagte vorhin, Sie aber problematische Sicht der Dinge diesem Vertrag wollen etwas erreichen, was diesen Vertrag, was die hinzuzufügen oder, wenn das nicht möglich ist, Beziehungen zwischen beiden Staaten und beiden wenigstens in einem öffentlichen Kommentar des Völkern überfordert. Dies gilt auch für Ihren Bundestages zum Ausdruck zu bringen. Ich spreche Antrag. jetzt natürlich von den Entschließungsanträgen, ins- besondere der CDU/CSU, aber auch der PDS/Linke Liste. Vizepräsident Hans Klein: Kollege, gestatten Sie Ich verkenne nicht den positiven Ansatz in diesen eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer? Entschließungsanträgen: die Erinnerung an gute Tra- ditionen der gemeinsamen Geschichte von Deut- Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Bitte. schen, Tschechen und Slowaken, die Aufforderung zur Lösung offener Fragen. Es stehen viele richtige Sätze in diesen Anträgen, aber die Substanz ist eine Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Kollege Poppe, wenn andere. Und auch das haben beide Anträge gemein- Sie den Resolutionsentwurf der Koalitionsfraktionen sam: Sie wollen erreichen, daß das deutsche Parla- lesen, dann werden Sie feststellen, daß es hier ment etwas beschließt, was diesen Vertrag, was die heißt: Mitgliedschaft der CSFR in der Europäischen Beziehungen zwischen dem deutschen Volk und den Gemeinschaft und damit verbundene gegenseitige Völkern der Tschechoslowakei gegenwärtig überfor- Niederlassungsfreiheit. Wie kommen Sie dazu, das so dert. Das hat nichts mit der Gegenwart oder der einseitig zu interpretieren, nachdem doch hier aus- Zukunft zu tun, sondern das hat etwas mit unserer drücklich auf die in der EG selbstverständliche gegen- Vergangenheit zu tun, einer Vergangenheit, deren seitige Niederlassungsfreiheit abgestellt ist? 7634 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Im Rahmen der Diktaturen in Osteuropa gefallen sind — so lange ist EG selbstverständlich, aber die Tschechoslowakei ist dies ja noch gar nicht her —, als durch ganz Europa noch lange nicht EG-Mitglied, und hier wird im der frische Wind der Freiheit den Verwesungsgeruch Vorgriff auf eine zukünftig versprochene EG-Mit- kommunistischer Unterdrückung weggeblasen hat, gliedschaft eine einseitige Vorleistung erhofft oder (Zuruf von der SPD: Das mußte ja mal gesagt erwartet. Ich sehe in diesem Text hier nicht, daß im werden!) gleichen Atemzug gesagt würde: Sofort auch Nieder- lassungsrecht der Tschechoslowaken in der Bundes- keimte die Hoffnung auf, daß die Betrachtung der republik. gemeinsamen Vergangenheit, die Beurteilung der (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der gemeinsamen Gegenwart und die Herausforderung SPD) der gemeinsamen Zukunft dazu führen werden, daß Europa näher zusammenrückt und sich seiner guten Noch einmal kurz zum PDS-Antrag. Ich bin der gemeinsamen Wurzeln besinnt. Der Kommunismus Meinung, daß dieser Antrag den Vertrag überfordert. hatte diese Fragen in Wahrheit nie beantwortet, Das gilt insbesondere für die Forderung nach der sondern sie zu ersticken versucht. Wie befreiend war völkerrechtswirksamen Be trachtung des Münchener da für uns alle die Bereitschaft der Ungarn, den Abkommens als ungültig von Anfang an. Zum Mün- Eisernen Vorhang zu zerreißen! Wie befreiend war da chener Abkommen kann man natürlich durchaus so das Auftreten eines Mannes von der moralischen und stehen, ohne Frage, aber Tatsache ist, daß die Rechts- politischen Statur eines Vaclav Havel! positionen beider Vertragspartner verschieden waren und daß ihre Gemeinsamkeit die Formulierung des Wir wissen wohl, was wir den Ungarn zu danken Vertragstextes ist. Ich will dahingestellt sein lassen, ob haben, da sie dafür sorgten, daß vor noch nicht einmal ihnen die völkerrechtlichen Konsequenzen dieser drei Jahren der Freiheit und Freizügigkeit der Weg Forderung im vollen Umfang klar sind; aber wie auch gebahnt worden ist. Wir wissen auch, daß wir Staats- immer, Sie wissen, daß die Mehrheit des Bundestages präsident Havel zu danken haben, der sich so nach- diesen Antrag ablehnen wird, und mit diesem Wissen haltig mit der Zukunft der deutsch-tschechoslowaki- konterkarieren Sie, gewollt oder ungewollt, die For- schen Beziehungen wie auch mit der Aufarbeitung mulierung des Vertragstextes. der dunklen Seiten deutsch-tschechoslowakischer Nachbarschaft auseinandersetzt. Ich halte das für unklug, denn die Wirkung einer solchen unnötig provozierten Ablehnung ist genau Das Denken in den Kategorien der Versöhnung, der das, was Sie vorgeben, eigentlich vermeiden zu wol- Zusammenarbeit und der Wahrhaftigkeit in der Beur- len. Es werden nämlich dadurch möglicherweise teilung der Vergangenheit ist der Geist, der in Zukunft Spannungen in den gegenseitigen Beziehungen die Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn erzeugt statt abgebaut, und es wird Wasser auf die sowie zwischen Deutschland und der Tschechoslowa- Mühlen der Vertragsgegner in der CSFR gegossen. kei prägen soll und muß. An der Realität der gegenwärtigen Situation wird Ungarn hat nun ein sehr weitgehendes Wiedergut- nichts verändert, jedenfalls wird sie nicht konstruktiv machungs - und Entschädigungsrecht für die Opfer beeinflußt. der Willkür und Vertriebenen geschaffen. Dies ist ein Wir werden uns deshalb zu Ihrem Antrag, der ja Weg, denen, die unter Willkürherrschaft vieles oder viele Punkte enthält, die auch wir fordern, der Stimme alles verloren haben, eine späte Gerechtigkeit oder enthalten. doch zumindest Genugtuung zukommen zu lassen. Der Vertrag zwischen der demokratischen CSFR Ich danke dem ungarischen Parlament für die und dem vereinigten Deutschland ist ein zu zarter Bereitschaft zu so weitgehenden Schritten und bin Keim, als daß man an ihm herumexperimentieren insgesamt überzeugt davon, daß sich die deutsch- sollte. Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren ungarischen Beziehungen für beide Seiten gut und von der CDU/CSU und F.D.P. und PDS/Linke Liste, fruchtbar auch auf der Basis dieses Vertrags entwik- ihre Entschließungsanträge zurückzuziehen. In die- keln werden. sem Fall würden wir dies auch für unseren gemeinsa- men Antrag von SPD und Bündnis 90/GRÜNE vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schlagen, obwohl er sich, wie ich meine, von Ihren Für den deutsch-ungarischen wie auch den Anträgen dadurch unterscheidet, daß sein Anliegen deutsch-tschechoslowakischen Vertrag gilt jedoch, nicht die Relativierung des Vertrages ist, sondern daß diese Verträge allein die Dynmaik der Entwick- seine konkretisierende Weiterführung und ein Vor- lung nicht bestimmen werden. Manche in meiner schlag, ihn schnell mit Leben zu erfüllen. bayerischen Heimat meinen, einige Entwicklungen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. wären schon über den Vertragsstandard — gerade in (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der der regionalen Zusammenarbeit — weit hinausge- SPD) gangen. Diese Verträge stellen eher eine Momentauf- nahme des Standes der gegenseitigen Beziehungen dar und bieten einen Rahmen für die weitere Entwick- Vizepräsident Hans Klein: Als nächster hat der lung. Abgeordnete Christian Schmidt das Wort. Ungleich mehr als im Verhältnis zwischen Ungarn und Deutschland hat das Verhältnis zwischen der Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- Tschechoslowakei und Deutschland zwar jahrhun- dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als die dertelange fruchtbare Tradition, aber auch die bereits Berliner Mauer und mit ihr die kommunistischen erwähnten sehr dunklen Kapitel, an deren Aufarbei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7635

Christian Schmidt (Fürth) tung wir erst jetzt gehen können, da nach dem eingesteht. Doch, so sagt Havel weiter, wie es den Absterben des Sozialismus demokratische Partner Deutschen gelang, die dunklen Zeiten ihrer Ge- miteinander reden können. Dabei stellen wir fest, daß schichte zu reflektieren, muß es auch uns — gemeint: in der Frage der Beurteilung der gemeinsamen in der CSFR — gelingen. Geschichte noch ein Stück Weg zu gehen ist. Allen Respekt vor diesen klaren Worten. Wir sind Die Historikerkommission wird und muß sich auch uns auch eines bewußt: Das Rad der Geschichte kann der Geschichte der Sudetendeutschen und ihrer nicht zurückgedreht werden. So wie es einmal war, Schicksale in der heutigen CSFR, für die der Bundes- wird es nie wieder sein können. Das ist schon deswe- tag 1950 eine Obhutserklärung abgegeben hat, die gen nicht möglich, weil viele nicht ihre Heimat wir auch heute ernst zu nehmen haben, annehmen. zurücklassen, sondern ihr Leben lassen mußten. Die Vermittlung ihrer Erkenntnisse insbesondere an die jüngere, an meine Generation ist wichtig, um in In diesem Zusammenhang sei auch eines deutlich der Zukunft nicht falsche Geschichts- und Feindbilder gesagt: Das Deutschland der Expansion gehört end- fortzuschreiben. gültig der Geschichte an. Wir können und wollen in der Zusammenarbeit unseren tschechischen und slo- Ein junger Tscheche sagte mir kürzlich bei einer wakischen Freunden versichern, daß wir Partner in Diskussion, er verstehe die Diskussion um das Hei- Europa sein wollen und auch Deutschland die Lehren matrecht für die Sudetendeutschen nicht, diese seien aus der Geschichte gezogen hat. doch erst 1938 mit Hitler ins Land gekommen. Diese Tatsachen, diese Beurteilungen führen dazu, daß der Der polnische Außenminister Skubiszewski for- Vorschlag des Bundeskanzlers, ein deutschtschecho- derte im letzten Jahr vor der UN-Generalversamm- slowakisches Jugendwerk auch unter Einbeziehung lung die Vereinten Nationen auf, die Feindstaaten- der Nachkommen der Heimatvertriebenen, einzu- klausel aus der Charta der Vereinten Nationen zu richten, ausdrücklich zu begrüßen ist. streichen, denn, so formulierte er, sie gehöre auf den (Beifall bei der CDU/CSU — Josef Grünbeck Abfallhaufen der Geschichte. [F.D.P.]: Gibt es bei uns aber auch!) (Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ Ich bedaure, daß in dem Motivenbericht der tsche- CSU]: Sehr wahr!) choslowakischen Regierung oder vielleicht der Mi- Wenn auch nicht mehr alles so sein kann, wie es war, nisterialbürokratie zu Fragen der rechtlichen Beurtei- und genügend Realismus vorhanden ist, dies einzuse- lung der Vertreibung der Deutschen, zu ihrem Status hen, so ist doch die Anerkenntnis des Unrechts als — Stichwort: Rechtswirkungen des Münchener Ab- Unrecht, wie es Präsident Havel uns vorgeführt hat, kommens — und zu manch anderen Rechtsfragen der ein wesentliches Element für gedeihliche Zusammen- Geist — oder soll ich besser sagen: der Ungeist — arbeit. Nicht nur in den Augen der Betroffenen ist die vergangener Zeiten weht. Die dort enthaltenen Dar- Vertreibung unschuldiger Menschen aus ihrer Heimat stellungen, insbesondere zur angeblichen Rechtmä- nicht — auch durch keine Siegermachtvereinba- ßigkeit der Vertreibung und Enteignung, weise ich in rung — zu legitimieren, Unrecht bleibt Unrecht! Des- aller Deutlichkeit zurück. wegen müssen im Geiste der Versöhnung auch die sogenannten Beneš-Dekrete aufgehoben werden. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Glotz? Sie sind gekennzeichnet vom Geist des Kollektiv- schuldgedankens und der Vergeltung und gehören Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Bitte sehr. auf den von Minister Skubiszewski zitierten Abfall- haufen der Geschichte. Dr. Peter Glotz (SPD): Herr Kollege Schmidt, sind (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Wohl Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Außenmini- wahr!) ster Dienstbier den deutschen Botschafter zu sich gebeten und ihm deutlich gemacht hat, daß dieser Dies umfaßt auch weiterhin, daß über den Verlust der Motivenbericht keinen völkerrechtlichen Charakter Heimat, das Niederlassungsrecht — und das hat eine trägt? Das heißt also, daß man ihn in der Tat inzwi- andere Qualität als das reine Niederlassungsrecht, schen niedriger hängen kann, als wir das gemeinsam das wir mit anderen Staaten verhandeln, es ist ein in der ersten Lesung getan haben. Angebot, auch Geschichte gemeinsam zu bewälti- gen — und über die Frage der Wiedererlangung rechtswidrig konfiszierten Vermögens — gesprochen Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Wenn das so werden muß. ist und auch in der Öffenlichkeit geeignet klargestellt werden könnte, dann wären wir in der Frage der Deswegen fordern wir unsere Partner auf, bei der Beziehungen und auch der Beurteilung des Vertrages Privatisierungsaktion die Sudetendeutschen nicht zu sicher ein Stück weiter gekommen. diskriminieren. Präsident Havel stellt fest, daß man sich in der Als Deutsche haben wir umgekehrt natürlich auch Nachkriegszeit in der Tschechoslowakei gegenüber die Verpflichtung, das Unsere dazu zu tun, Vertrauen den Deutschen auf das Prinzip der Kollektivschuld zu schaffen und unsere östlichen Nachbarn in die eingelassen und individuelle Strafe durch kollektive europäische Integration einzubeziehen, damit sie Rache ersetzt habe. Er sagt weiter, daß man sich das in auch im Geiste Jean Monnets, Robert Schumans und der Tschechoslowakei jahrzehntelang nicht eingeste- Konrad Adenauers an der Überwindung des Nationa- hen durfte und man sich das auch jetzt noch nicht gern lismus im Geiste eines friedlichen Europas teilhaben 7636 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Christian Schmidt (Fürth) können. Dazu haben wir uns im Vertrag verpflichtet, über die tatsächlichen Motive der Deutschen irgend- und das vorher Genannte ist in einem gegenseitigen eine Sorge zu machen. politischen Abhängigkeitsverhältnis und Beziehungs- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der verhältnis zu sehen. F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) Darüber hinaus ist die regionale Zusammenarbeit im Vertrag angesprochen. Der Schutz der deutschen Zum zweiten haben in der Debatte frühere Urteile Minderheiten in der CSFR kann als richtungsweisend des Bundesverfassungsgerichts eine Rolle gespielt, gelten. Der Vertrag hat sehr viele positive Aspekte in die zum Teil gar nicht auf die deutsch-tschechoslowa- den Punkten, die er regelt. kischen Beziehungen gemünzt waren. Aber auch diese Entscheidungen des Bundesverfassungsge- In dem Antrag einer begleitenden Entschließung richts sind durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag relati- wollen wir unsere Erwartungen an die weitere Ent- viert, der völkerrechtlich verbindlich ist. Dadurch wicklung der deutsch-tschechoslowakischen Bezie- wurde auch der Art. 23 GG in seiner Auslegung durch hungen über den Vertrag hinaus dokumentieren. So das Bundesverfassungsgericht beseitigt. Auch aus sollte und muß diese Entschließung auch verstanden diesem Grund sind viele der Bedenken, die in der werden und ist, so meine ich, für das gesamte Haus Debatte der Föderalversammlung vorgetragen wur- zustimmungsfähig. den, gegenstandslos. Wir haben uns inzwischen völ- Ich weiß, daß einige, insbesondere durch das per- kerrechtlich anders verpflichtet und das Grundgesetz sönliche Erleben betroffene Kollegen zwar dieser selber geändert. Auch aus dieser Sicht möchte ich Entschließung, nicht aber dem Vertragswerk ihre Ihnen sagen: Es gibt keinen Grund, in bezug auf die Zustimmung geben können, zumal sie dieser Motiv- Grenzfrage Skepsis gegenüber den Deutschen zu bericht in einem vielleicht in anderer Richtung gefaß- haben. ten Beschluß nicht bestärken konnte. Als dritten Wunsch, den ich an Sie habe, möchte ich Dennoch halte ich es — trotz der genannten Beden- Sie bitten, den Kollegen in Ihrem Parlament zu sagen, ken und Lücken, trotz der noch nicht gelösten Fra- daß es in Deutschland zwar Leute gibt, die Revanchi- gen — für richtig, auch und gerade im Sinne derer, die sten sind, ihre Zahl aber gering ist. Sie spielen in sich als betroffene Sudetendeutsche um eine weitere diesem Parlament keine Rolle. Das Parlament in Entwicklung der Beziehungen bemühen können und seiner Gesamtheit und die überwiegende Mehrheit wollen, die Gelegenheiten dieses Vertrages am des deutschen Volkes tragen diesen Vertrag und Schopfe zu packen, seine Chancen auszuloten und ihn wollen eine Versöhnung mit dem tschechoslowaki- im Geiste derer, die ihre Liebe zur alten Heimat in die schen Volk, den Völkern der Slowakei, Böhmen und Partnerschaft zwischen Deutschland und der CSFR Mähren. Das gilt — soweit ich mit ihnen habe spre- einbringen wollen, weiterzuentwickeln in der sicher- chen können — auch für diejenigen, die diesem lich nicht unberechtigten Hoffnung, zukünftig vorur- Vertrag nicht glauben zustimmen zu können. teilsfreier auch an die Dinge heranzugehen und sie zu Deshalb bitte ich Sie, daß Sie solche Äußerungen in lösen versuchen, auf die sich in diesem Vertrag eine ihrem Stellenwert richtig gewichten und nicht immer Antwort noch nicht hat finden lassen. glauben, sie hätten den Stellenwert, den er bei Ihnen Ich danke Ihnen. in manchen Presseorganen hat. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich selber komme nicht aus dem Grenzgebiet zwi- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Karsten schen der CSFR und Deutschland, wohl aber aus dem Voigt, Sie haben das Wort. deutsch-dänischen Grenzgebiet. Ein Teil meiner Familie ist dänisch, mein Teil der Familie deutsch. Ich habe in meiner Jugend als Student an einer Schule für die dänische Minderheit unterrichtet. Das galt damals Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Präsident! noch als nationaler Verrat. Heute fände daran keiner Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als die mehr etwas. Ich sage Ihnen voraus: Zwischen Deut- Föderalversammlung in Prag über diesen Vertrag schen und Tschechen sowie Deutschen und Slowaken beriet, habe ich an den Beratungen zwar nicht stimm- wird es in Zukunft eine Chance geben, ein ähnlich lich, wohl aber als Zuhörer teilnehmen können und gutes und entkrampftes Verhältnis zu entwickeln, wie draußen mit einigen Demonstranten gesprochen. Des- es zwischen Deutschland und anderen Nachbarn im halb möchte ich am Beginn einige Worte an unsere Westen und Norden besteht, die auch unter deutscher Kollegen aus der Tschechoslowakei richten. Besatzung heftig haben leiden müssen. In der Debatte dort hat der Begriff der Staatsgrenze (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine große Rolle gespielt. Ich kann Ihnen nur versi- der F.D.P.) chern, daß die Befürchtungen, die in der Debatte zum Teil laut geworden sind — der Vertrag könne eine Dieser Vertrag fiber gute Nachbarschaft und Relativierung der Grenze zwischen Deutschen, freundschaftliche Zusammenarbeit ist noch nicht Tschechen und Slowaken sein —, völlig unbegründet gleichzusetzen mit guter Nachbarschaft und freund- sind. Die Deutschen erheben keine Gebietsansprü- schaftlicher Zusammenarbeit. Deshalb richtet sich che, und sie werden sie nicht erheben. Wir betrachten mein Appell nicht nur an die tschechoslowakische diese Grenze als endgültig. Sie brauchen sich in dieser Seite, sondern auch an die deutsche. Wir sind der Beziehung weder über den rechtlichen Status noch größere Nachbar gegenüber den Tschechen und Slo- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7637

Karsten D. Voigt (Frankfurt) waken. Wir haben nie unter tschechischer und slowa- streicht, die weder der Verständigung noch unserem kischer Besatzung leiden müssen. Wir haben nie Ansehen im Ausland dient. Das ist übrigens eine fürchten müssen, daß unsere nationale Identität durch Erscheinungsform, die nicht auf die Tschechoslowa- Tschechen und Slowaken gefährdet sein könnte. Das kei begrenzt ist. Ich bin nicht gegen den Austausch. nimmt nichts von den Leiden der Vertreibung weg, Ich bin dafür, daß wir uns dabei besser verhalten als aber die Tschechen und Slowaken, besonders die bisher. Tschechen, haben in Erinnerung, daß ihre nationale Existenz in ihrer Geschichte durch Deutsche und durch deutsche Politik gefährdet gewesen ist. Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Kol- lege Voigt. Ich will Sie nicht präzisieren, aber gerade Deshalb möchte ich als Vertreter des Landes, das in war ein mißverständlicher Ausdruck dabei. Sie spra- diesem Vertragsverhältnis den größeren Teil darstellt, chen von den „Kollegen aus dem östlichen Teil an uns alle hier und an uns Deutsche insgesamt den Deutschlands". Wenn Sie in diesem Haus von Kolle- Appell richten, daß sie sich, wenn sie nach Prag und gen sprechen, sind im Regelfall Abgeordnete Preßburg reisen, nicht so großmotzig aufführen, wie gemeint. Das haben Sie sicher nicht gemeint. sie es häufig tun. (Beifall bei der SPD) Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Ich meine die Das gilt leider nicht nur für die Fußballer, die ich Landsleute. Ich würde mir natürlich auch nicht erlau- während dieser Debatte in Prag beobachten konnte. ben, einen Präsidenten in eine solche Diskussion Leider haben viele Deutsche statt der Panzer jetzt ein einzubeziehen. Verhalten auf Grund der D-Mark, das so arrogant und großkopiert ist, daß ich glaube, daß psychologisch Ich möchte zuletzt noch an unsere tschechoslowaki- eine neue Art der Gegenreaktion hervorgerufen wird, schen Gäste sagen — das gilt aber auch für die Ungarn wenn wir Deutsche uns in unserer ökonomischen und auch für die Beziehungen, die wir vertraglich Macht nicht anders gegenüber unseren Nachbarn, vereinbart haben, zu den Polen: Sie müssen aus dieser insbesondere gegenüber unseren östlichen Nachbarn Debatte mit der Gewißheit scheiden können, daß die verhalten, nämlich als derjenige, der dort helfen will, Deutschen über alle Parteien hinweg inzwischen klar der dort Gleichberechtigung fordert, aber auch definierte Interessen haben. Dies bedeutet, daß wir an Gleichberechtigung anbietet. starken, an wirtschaftlich und politisch starken, Demokratien östlich von uns interessiert sind. Wir (Beifall bei der SPD) wollen nicht eine schwache Tschechoslowakei, wir wollen nicht ein schwaches Ungarn; wir wollen nicht Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Voigt, ein schwaches Polen. Wir wollen stabile Gesellschaf- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grün- ten und Staaten östlich von uns mit stabilen pluralisti- beck? schen Demokratien, d. h. auch mit stabilen Ökono- mien. Das ist für uns die größte Sicherheit. Wir wollen Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Bitte sehr. auch, daß sie, soweit es irgend möglich ist, sie in die gleichen internationalen Organisationen — seien sie Josef Grünbeck (F.D.P.): Herr Kollege, würden Sie gesamteuropäischer oder westeuropäischer Art — zur Kenntnis nehmen, daß der überwiegende Teil der einbezogen werden, in denen wir bereits sind. Deutschen, die heute in die CSFR reisen, meine und Zuletzt gestatten Sie mir noch ein Wo rt an den unsere sudetendeutschen Landsleute sind und daß sie Bundesaußenminister, der ja noch am Schluß zu uns sich wirklich nicht so verhalten, wie Sie es darstellen. sprechen wird. Herr Kinkel, wir werden uns darum Das ist eine Minderheit. bemühen, daß die Außenpolitik und die Debatte im Ich würde Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß Parlament, aber auch in den Ausschüssen, soweit es die tschechoslowakische Bevölkerung sehr froh dar- überhaupt möglich ist, von innenpolitischen oder über ist, daß diese Kontakte nicht nur im kommerziel- parteitaktischen Erwägungen freigehalten bleibt. Wir len Bereich, sondern auch in vielen menschlichen werden uns selber an diesem Grundsatz orientieren Teilbereichen stattfinden. Das ist ein Kulturaustausch, und werden Sie daran messen, inwieweit Sie diesen der längst stattfindet und den man hier nicht in dieser Grundsatz einhalten. Wenn Regierung und Opposi- Weise öffentlich diskriminieren sollte. tion in der Außenpolitik zum gemeinsamen H andeln (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der fähig sind, so kann das die Handlungsfähigkeit in der CDU/CSU) deutschen Außenpolitik nur stärken und uns allen nützen. Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Entschuldigung, Dies setzt eine umfassende Information und frühzei- wenn ich das sage: Ich glaube Sie haben mir gar nicht tige Beteiligung der Opposition in jedem Einzelfall zugehört. Ich habe das Wort „Sudetendeutsche" in voraus. Die Art und Weise, wie die Koalitionsfraktio- diesem Zusammenhang überhaupt nicht benutzt. Ich nen diesmal ihren Antrag trotz vorhergehender bin nicht nur dafür, daß viele Leute reisen, sondern Zusage, uns an der Arbeit eines gemeinsamen Antra- dafür, daß noch mehr Leute reisen, auch in beiderlei ges zu beteiligen, erarbeitet haben, spricht in diesem Richtung. Trotzdem aber ändert das nichts an dem Fall leider gegen eine solche Praxis. Das ist ein Tatbestand, daß ein Teil der Deutschen — leider nicht schlechtes Beispiel und insofern ein schlechter Auf- nur derjenigen, die ursprünglich aus dem westdeut- takt für Ihre Arbeit; aber so braucht das nicht zu schen Teil stammen, sondern zum Teil auch die bleiben. Kollegen aus dem östlichen Teil Deutschlands — ihre Sie haben gesagt, daß Sie in Ihrer Amtsführung die ökonomische Kraft auch durch Auftreten unter-Kontinuität zu Ihrem Amtsvorgänger gewährleisten 7638 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Karsten D. Voigt (Frankfurt) wollen. Das ist insofern zu begrüßen, als es in der neue Aufgabe guten Erfolg und eine gute Hand deutschen Außenpolitik keinen Kurswechsel geben wünschen. sollte. Allerdings erfordern die neuen Herausforde- (Beifall im ganzen Hause) rungen in Osteuropa — das zeigt sich auch an der heutigen Debatte über die Tschechoslowakei und Die Tatsache, daß sich die Abschiedsrede des vor- Ungarn und vorher auch über Polen — und die neuen herigen und die Antrittsrede des neuen Bundesaußen- globalen Risiken auch neue Antworten. ministers mit demselben Thema beschäftigen, näm- Ich glaube, daß wir deshalb nicht daran vorbeikom- lich den Verträgen mit der Tschechoslowakei und men — wir sollten es bei allem Bekenntnis zur Ungarn, scheint mir eine symbolische Bedeutung zu Kontinuität auch offen sagen —: Wir brauchen eine haben. Sie zeigt nämlich zum einen die Kontinuität konzeptionelle Modernisierung unserer Außenpoli- der deutschen Außenpolitik. tik, insofern in manchen Punkten auch eine konzep- (Beifall des Abg. Josef Grünbeck [F.D.P.]) tionelle Erneuerung. Wir brauchen auch — da stimme ich mit Peter Glotz überein, der das bereits in einer Sie zeigt zum anderen, daß wir es hier mit einem anderen Debatte gesagt hat — mehr Realismus, einen Schwerpunkt deutscher Außenpolitik zu tun haben, neuen Realismus; denn wir müssen nüchtern sehen, wenn wir uns mit unseren Beziehungen zu unserem was deutsche Außenpolitik kann und was sie nicht unmittelbaren Nachbarland Tschechoslowakei und kann, wo unsere finanziellen und politischen Grenzen zu dem uns gleichfalls sehr naheliegenden Ungarn sind. Wir machen uns nicht dadurch beliebt, daß wir beschäftigen. Ich glaube, diese symbolische Wirkung jedem alles versprechen, sondern indem wir mehr tun, sollten wir heute durchaus zur Kenntnis nehmen. Die als wir versprechen, d. h. wir sollten unseren Nach- Beziehungen zu diesen Ländern werden auch in barn in Ost und West eher weniger versprechen und Zukunft ein Schwerpunkt unserer Politik sein müssen. Ich beziehe hier die anderen ost- und mittelosteuro- dafür noch mehr tun. päischen Länder ausdrücklich mit ein, vor allem (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- Polen, mit dem wir unsere vertraglichen Beziehungen gang Bötsch [CDU/CSU]) schon vor einiger Zeit geregelt haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Meine Damen und Herren, gerade weil dies so ist, diesem Antrag schließen wir, wenn ich Bulgarien und empfinde ich es als bedauerlich, daß in dieser Debatte Rumänien ausklammere, eigentlich eine Serie von ein wenig der Eindruck entstehen konnte, als hätten neuen Verträgen, die unser Verhältnis zu unseren wir es eher mit den unterschiedlichen Resolutionsent- osteuropäischen Nachbarn begründen, ab. Dies ist der würfen zu tun als mit den Verträgen selbst. erfolgreiche Abschluß einer Periode, der Periode der Entspannungspolitik. Damit sind die vertraglichen Auch ich möchte mich jetzt an die Kollegen aus dem Grundlagen zu unseren Nachbarn geregelt. Die Auf- tschechoslowakischen Föderalparlament wenden: Ich gabe, die sich stellt, ist damit aber erst recht nicht freue mich sehr, daß Sie hier heute bei uns sind. Wenn erledigt; sie beginnt jetzt erst. Verträge können eine Sie in der Vergangenheit durch laute Äußerungen hin Grundlage sein; sie sind aber nie Ersatz für die und wieder den Eindruck gewonnen haben sollten, als Substanz. Die Substanz muß sich in der Alltagsarbeit gäbe es dem Vertrag zwischen unseren beiden Län- der Parlamentarier, der Regierungen, vor allen Din- dern gegenüber bei den Deutschen auch nur nen- gen im Kontakt mit der Bevölkerung bewähren. Da nenswerte Vorbehalte irgendwelcher Art, dann kann steht uns noch vieles bevor; da müssen wir noch vieles ich Ihnen versichern: Dies ist nicht der Fall. Das leisten. Im Verhältnis zu Ungarn, Tschechen und deutsche Volk steht nicht nur mit großer, nein, es steht Slowaken sollten wir unsere Arbeit da auch nicht als mit überwältigender Mehrheit hinter dem Aussöh- beendet ansehen. nungswerk, das wir heute durch den Abschluß des Vertrages besiegeln wollen. Das gleiche gilt für den Vielen Dank. Vertrag mit Ungarn. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der der CDU/CSU) SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) Die wenigen, die hier Vorbehalte haben, sind in Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Ulrich ihrer Lautstärke umgekehrt proportional zu ihrer Zahl Irmer, Sie haben das Wort. und zu ihrer Bedeutung. Kollege Grünbeck hat in für mich sehr eindrucks- voller Weise — ich danke ihm dafür — auf die Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen Schmerzen hingewiesen, die seine sudetendeutschen und Herren! Als wir uns vor wenigen Wochen in Bonn Landsleute empfinden, wenn es um die Betrachtung in erster Lesung mit den beiden Verträgen beschäftigt der Vergangenheit geht. Aber was wir heute, obwohl haben, die heute hier unsere Zustimmung finden wir die Vergangenheit nicht vergessen wollen, tun werden, hat Bundesaußenminister H ans-Dietrich müssen, ist doch, daß wir in die Zukunft schauen und Genscher in seiner damaligen Eigenschaft als Mini- daß wir sehen, wie wir aus dem Leid der Vergangen- ster vor dem Deutschen Bundestag seine Abschieds- heit heraus jetzt unsere Versöhnung gestalten können rede gehalten. Wir haben ihm damals gedankt. und vor allem unsere gemeinsame Zukunft bewälti- Heute, in der zweiten Lesung dieser beiden Ver- gen. Denn das liegt vor uns: eine gemeinsame euro- träge, wird am Schluß der Debatte der neue Bundes- päische Zukunft. Wenn es den Tschechen und Slowa- außenminister Klaus Kinkel das Wort ergreifen. Ich ken sowie den Ungarn in der Zukunft nicht gutgehen möchte ihm von dieser Stelle aus für seine schwere, wird, dann wird es auch den Deutschen nicht gutge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7639

Ulrich irmer hen. Das gleiche gilt auch umgekehrt. Wir sind eine keit geben, das zu verkaufen, was sie tatsächlich Schicksalsgemeinschaft im Herzen Europas. Das soll- haben, auch wenn es bei uns sensible Produkte sind ten wir nicht vergessen. und wir gewisse Schwierigkeiten bekommen. Hier ist an dem Resolutionsentwurf Kritik geäußert Wir müssen in unseren Handelsbeziehungen zu worden. Meine Fraktion hat zu Beginn der ganzen unseren östlichen Nachbarn wesentlich offener wer- Erörterungen hierüber versprochen, daß in einem von den als bisher. Auch damit können wir einen deut- uns mitgetragenen Resolutionsentwurf keine Silbe, lichen Beitrag dazu leisten, daß das, was in den kein Punkt und kein Komma stehen werden, die nicht Verträgen niedergelegt ist, in Zukunft gelingen möge. mit dem Buchstaben und dem Geist des Vertrages in In diesem Sinne wünsche ich mir eine gute nachbar- Übereinstimmung stehen. Dieses Versprechen haben schaftliche Zusammenarbeit und Freundschaft. wir gehalten, meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD) Ich bin Herrn Glotz außerordentlich dankbar, daß er uns dies vorhin bestätigt hat. Meine lieben Kollegen, wir müssen uns darüber Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Gedanken machen, wie wir das, was in beiden Ver- ordnete Dr. Volkmar Köhler. trägen steht und was auch in dem Vertrag mit Polen steht, schneller und gründlicher in die Tat umsetzen Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Herr können, nämlich darauf hinzuarbeiten, daß die von Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und uns allen gewünschte Vollmitgliedschaft dieser Län- Kollegen! Es war am Rande der Konferenz der Inter- der in der Europäischen Gemeinschaft so bald wie parlamentarischen Union 1978 in Prag, als es in der möglich verwirklicht werden kann. Wohnung des früheren Außenministers Hajek zu Ich meine, daß wir jetzt mehr tun können, als es in einem Treffen mit deutschen Abgeordneten kam. Jiri den Europa-Verträgen — so heißen sie ja —, in den Dienstbier konnte an diesem Treffen nicht teilneh- Assoziierungsverträgen mit diesen drei Ländern, zum men; er mußte als Heizer in seinem Wohnblock Ausdruck gebracht worden ist. Wir sollten uns Gedan- arbeiten; aber wir hörten von seinem Schicksal. ken darüber machen, wie insbesondere diese drei Dieses Treffen wurde wie offenbar alle Versamm- Länder schon in naher Zukunft an der Europäischen lungen der Dissidenten abgehört. Am nächsten Tag Politischen Zusammenarbeit beteiligt werden könn- setzten Schikanen für beide Seiten ein. In Deutsch- ten. Jeder von uns weiß, auch die Menschen in diesen land war manchem die Tatsache, daß es dieses Treffen Ländern wissen es, daß im Augenblick noch wesent- gegeben hatte, sehr peinlich. liche wirtschaftliche Voraussetzungen für die Vollmit- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) gliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft feh- len. Eine zweite Erinnerung: Wer wie ich in Helmstedt und in Vorsvelde die Züge der Botschaftsflüchtlinge Aber auf dem politischen Feld kann man schon aus Prag hat ankommen sehen, verschlossen, wie sie wesentlich mehr tun; da gibt es diese Hindernisse durch Dresden geleitet wurden, und unter Umstän- nicht. Mit Blick auf eine Beteiligung an der Europäi- den, die wir alle kennen, nach Stunden und Tagen schen Politischen Zusammenarbeit könnte man über- schwerster Entbehrungen, der wird auch dieses Bild legen, ob nicht Gäste aus diesen Ländern mit einer Art nicht vergessen. besonderem Status vom Europäischen Parlament ein- geladen werden könnten. Ich erwähne dies, weil ich glaube, daß wir auch heute den atemberaubenden Wandel vor Augen Ich halte, nebenbei bemerkt, die Aufnahme der haben sollten, der in diesen Verträgen zum Ausdruck Länder in den NATO-Kooperationsrat zwar für außer- kommt. Wir haben eine Chance in der Hand, die eine ordentlich wichtig und konstruktiv, aber ich meine, enorme Verpflichtung für uns darstellt. Diese Chance daß wir besondere zusätzliche Anknüpfungspunkte liegt im Zurückfinden zu gemeinsamen ethischen und Institutionen finden könnten, damit die Zusam- Grundlagen des Zusammenlebens in Europa, nach- menarbeit noch besser gestaltet werden kann; denn dem wir das antimoralische und das kriminelle System ich weiß, daß in diesen Ländern das Gefühl besteht, des Kommunismus überwunden haben. heute in einer Art Sicherheitsvakuum zu leben. Wir Die oft zitierten und bedenkenswerten Worte von haben die Aufgabe, Ihnen die Hand zu reichen und Präsident Havel und Präsident von Weizsäcker in uns Gedanken darüber zu machen, wie wir dort das diesem Zusammenhang stehen für diese Tatsache. Gefühl der Sicherheit stärker vermitteln können. Dies gilt übrigens auch für die WEU. Ich finde es wichtig und richtig, daß Herr Genscher in der ersten Lesung nachdrücklich darauf hingewie- Meine Damen und Herren, wir werden mit großer sen hat, daß die zu beratenden Verträge und insbe- Mehrheit den Verträgen zustimmen. Wir müssen aber sondere der Vertrag mit der Tschechoslowakei, über auch dafür sorgen, daß die konkrete Ausführung den ich hier besonders spreche, auf der Basis ganz gelingt. Ich appelliere an unsere Partner in der Euro- bestimmter Prinzipien stehen, nämlich auf dem Prin- päischen Gemeinschaft — hier liegt es weniger an zip der Achtung der Menschenrechte und Minderhei- uns —, daß wir auch unsere Handelsbeziehungen tenrechte und auf der Basis des Selbstbestimmungs- intensivieren. Bei der Wirtschaftshilfe gibt es nichts rechts der Völker. Diese Vertragsregelungen sind Besseres, als daß wir die Grenzen für die Produkte aus keine abschließenden Endstufen; diese Verträge sind diesen Ländern öffnen, damit wir denen die Möglich- auf Weiterentwicklung, gerade auch auf die Weiter- 7640 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) entwicklung der Minderheitenrechte, angelegt. Der Verfassungsrang. Europa heißt für uns, daß wir euro- Weg dafür ist mit ihnen geöffnet. päisches Denken gegen neuen Nationalismus setzen. Europa ist für uns eben nicht primär ein Gebot Allein diese Tatsache rechtfertigt es schon, daß wir ökonomischer Vernunft, auch wenn es das ist, und heute hier auch abschließende Worte über das Ärger- nicht nur ein Gebot sicherheitspolitischer Vernunft, nis des Motivenberichts gesagt haben — denn mit auch wenn es das vielleicht sein sollte, sondern Zudecken gewinnen wir die Zukunft nicht — und daß Europa ist für uns eine neue Kultur des Zusammenle- wir auch in einem Entschließungsantrag noch einmal bens mit dem Ziel, das Gemeinsame zu stärken und klar erklären, wie wir mit diesen Verträgen in Zukunft das Trennende zu überwinden, wie es uns unendlich umgehen wollen. Denn wir leiten mit dem heutigen viele leidvolle Kriege und Millionen von Opfern in Tage eine Entwicklung ein; wir schließen sie nicht ab. ganz Europa geboten haben. Das war die Idee nach Die Dynamik dieser Verträge kommt an vielen Stellen dem Zweiten Weltkrieg, die sich bis heute als ein zum Ausdruck. Ich verweise nur darauf, daß der tragfähiges Prinzip der Neugestaltung erwiesen hat. ausdrückliche Hinweis auf den KSZE-Streitbeile- Dies wollen wir auch hier anwenden. gungsmechanismus ja schon eine Fortschreibung des europäischen Standards der Minderheitenrechte dar- Aber ich sage auch in Richtung auf unsere tsche- stellt. Dieser Standard der Minderheitenrechte ist in choslowakischen Freunde, daß — anders als mancher Art. 20 des Vertrages mit der Tschechoslowakischen Idealist in den 50er Jahren dachte — Europa eben Republik als Mindestgrundlage bezeichnet worden. nicht Uniformität, nicht das Untergehen der kleinen Hier besteht eine Verpflichtung für beide Seiten. Nationen und keinen Identitätsverlust bedeutet. Wir kennen die Angst und Sorge mancher Freunde in der Es ist um der Wahrheit willen richtig, Unrecht beim CSFR vor Überfremdung. Deswegen sage ich hier mit Namen zu nennen, ob es das Unrecht der Vertreibung allem Bewußtsein, daß wir die Einheit Europas in der gewesen ist oder das Unrecht der Verwüstung und Vielfalt — das ist der Reichtum Europas in Wahr- Vernichtung eines Dorfes wie Lidice oder was immer heit — suchen. Wir verstehen das Drängen der CSFR, man hier nennen könnte. Aber die Bewältigung der unter das wirtschaftliche und sicherheitspolitische Vergangenheit kann nach meiner festen Überzeu- Dach Europas zu treten, und wir wollen dabei helfen. gung nur Frucht bringen, wenn wir das Ziel der Aber um so mehr wollen wir heute betonen, daß es uns gemeinsamen Zukunft dabei fest im Auge haben und hier um eine neue Kultur des Zusammenlebens dies unseren Erwägungen überordnen. In der Präam- geht. bel des Vertrages mit der Tschechoslowakei scheint mir dies in gelungener Weise zum Ausdruck zu Die CSFR hat hier noch manches mit sich selbst zu kommen, wenn es da heißt, daß unsere beiden Län- diskutieren. Es ist ein Land, das seine Unabhängigkeit der, spät erreicht hat. Diese Unabhängigkeit mußte gegen vor allem die deutschen und österreichischen Nach- entschlossen, an die jahrhundertelangen frucht- barn durchgesetzt werden. Dieses Durchsetzen und baren Traditionen gemeinsamer Geschichte und Erkämpfen hat das Gefühl der Bedrohtheit auf beiden an die Ergebnisse der bisherigen Zusammenar- Seiten zurückgelassen. Beide Seiten haben jahrzehn- beit anzuknüpfen sowie ihre gegenseitigen telang versucht, sich durch politische Absicherung Beziehungen im Geiste guter Nachbarschaft und gegen den jeweiligen Nachbarn die Unabhängigkeit freundschaftlicher Zusammenarbeit auf eine zu- und Sicherheit zu erhalten. Dies ist aber eben die kunftsweisende Grundlage zu stellen, Grundstruktur, die sich jetzt — 1989 und 1990 — eingedenk der zahlreichen Opfer, die Gewalt- gewandelt hat. Die neue Chance der Selbstverwirkli- herrschaft, Krieg und Vertreibung gefordert chung der Völker in Europa liegt nicht im Gegenein- haben, und des schweren Leids, das vielen ander, sondern eben im Miteinander. unschuldigen Menschen zugefügt würde, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und in dem festen Willen, ein für allemal der Anwen- der SPD) dung von Gewalt, dem Unrecht und der Vergel- Diejenigen, die uns in Prag gerne sagen, daß Prag tung von Unrecht mit neuer Ungerechtigkeit ein einmal das Herz Europas gewesen ist, sprechen dann Ende zu machen und durch gemeinsame Bemü- von einer Stadt und von einem Lande, das in diesen hungen die Folgen der leidvollen Kapitel der Phasen auch wahrhaft im Miteinander mit den Nach- gemeinsamen Geschichte in diesem Jahrhundert barn lebte, von daher seinen geistigen, kulturellen zu bewältigen .. . und wirtschaftlichen Reichtum bezog und uns mit zutiefst überzeugt von der Notwendigkeit, die diesem Reichtum befruchtet hat. Auch das großartige Trennung Europas endgültig zu überwinden und Phänomen, das die Stadt Prag darstellt, ist ja im eine gerechte und dauerhafte europäische Frie- Miteinander von Tschechen, Deutschen, Österrei- densordnung einschließlich kooperativer Struk- chern und Juden entstanden. Der platte Nationalis- turen der Sicherheit zu schaffen, mus, der hinter dem Kommunismus wirkte, hat vieles unterdrückt und alle arm gemacht, nicht nur die — diesen Vertrag abgeschlossen haben. Deutschen. In Art. 10 Abs. 2 haben wir uns verpflichtet, die volle (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Eingliederung der CSFR in die Europäische Gemein- Ulrich Irmer [F.D.P.]) schaft zu unterstützen. Ich meine, in diesem Zusam- menhang ist es gut, daran zu erinnern, was diese Dies gilt es im Miteinander zu überwinden. Ich Europäische Gemeinschaft für uns bedeutet. Das glaube, das, was wir immer wieder lernen müssen, ist Gebot der Einigung Europas hat schließlich für uns die Lektion, die Shakespeare seinen Shylock hat Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7641

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) lernen lassen: daß man nur um den Preis des Blutes Genau so funktioniert es nämlich nicht. Mit der aus einem gemeinsamen Körper das herausschneiden Sprache, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die wir kann, was man für sein alleiniges Eigentum hält, aber im Umgang miteinander wählen, fängt es an. Wir als daß alle Glieder leben können als das, was sie sind, die Vertreter des größeren, des stärkeren und mäch- wenn der gemeinsame Körper lebendig und unver- tigeren Landes — worauf wir uns nichts einzubilden letzt bleibt. brauchen — haben mehr Anlaß, empfindsam für Emp- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mein Wunsch findlichkeiten, Gefühle und Ängste auf der anderen ist, daß wir diese Verträge heute mit solchen Gedan- Seite zu sein. Es kann vielleicht nicht jeder verstehen, ken verabschieden, daß wir mit ihnen so den Weg in wie lebendig diese Empfindlichkeiten, Gefühle und eine neue Zukunft für unsere Nachbarvölker öffnen, Ängste bei den Menschen in der CSFR heute noch daß wir so nicht müde werden, für diese Zukunft zu sind. Aber wir müssen sie sehen, und wir müssen sie arbeiten und daß wir so unsere Zustimmung der berücksichtigen. Wir müssen begreifen, daß dort jedes überwältigenden Mehrheit unserer Bürger verständ- Wort, das hier gesprochen wird, das im Zusammen- lich und glaubhaft machen können. hang mit dem Vertrag geschrieben oder gesagt wurde, auf die Goldwaage gelegt wird. Jedes dieser Ich danke Ihnen. Worte muß dann bestehen können. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Mein Unbehagen an dem Entschließungsentwurf, SPD) den die Koalitionsparteien vorgelegt haben, ist nicht eines, das sich an einzelnen Formulierungen festma- chen könnte, sondern ich empfinde ein tiefes Unbe- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- hagen an dem politischen Geist, an der politischen ordnete Günter Verheugen. Psychologie, die dieser Entschließung ganz offenbar zugrunde liegt. Sie wird nach meiner Meinung der besonderen Gefühlslage zwischen Deutschen und (SPD): Herr Präsident! Meine Günter Verheugen Tschechen nicht gerecht. Diese Entschließung, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dies ist das Damen und Herren, muß auf der tschechischen Seite dritte Mal in diesem Jahr, daß sich der Deutsche den Eindruck vermitteln, als seien es die Opfer, die um Bundestag mit dem deutsch-tschechoslowakischen Verzeihung bitten müssen. Die Entschließung er- Vertrag beschäftigt, daß er das intensiv und im Geiste wähnt z. B. das Münchner Abkommen nur, um den der Verständigung, der guten Nachbarschaft und der deutschen Rechtsstandpunkt — den wir ja teilen; es ist Freundschaft tut. Ich glaube, es war wichtig, daß wir ein gemeinsamer Rechtsstandpunkt — klarzustellen. schon beim letzten Mal und auch heute eine Debatte Aber wenn ich in einem solchen Zusammenhang das geführt haben, die auch in der Art und Weise, wie sie Münchner Abkommen erwähne, meine sehr verehr- geführt worden ist, deutlich macht, daß wir hier nicht ten Damen und Herren, dann muß ich mir klarma- einen ganz beliebigen Tagesordnungspunkt abhan- chen, daß andere mir sagen werden, daß dieses deln, sondern daß es hier um einen Gegenstand geht, Abkommen in einem Akt politischer Barbarei von der uns alle auch persönlich sehr berührt und der tief einem wehrlosen Nachbarn erpreßt worden ist. an die gemeinsame Geschichte von Völkern rührt, die im Herzen Europas zusammenleben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Geist, der dem deutsch-tschechoslowakischen der F.D.P.) Vertrag zugrunde liegt, ist der Geist der Versöhnung. Ich kann nicht allein meinen Rechtspunkt darlegen Das haben viele vor mir schon gesagt, aber ich möchte und sagen: Es ist wegen der Rechtsfolgen, die es nun hier einen Gedanken anknüpfen und darauf hinwei- einmal hat, nicht für von Anfang an null und nichtig zu sen, daß Versöhnung natürlich etwas ist, was man erklären. Das wissen wir ja. Aber zumindest müssen nicht anordnen kann. Es sind auch nicht Staaten, die wir dann auch sagen können, daß wir wissen, wie es sich durch Dokumente, die sie durch ihre Repräsen- zustande gekommen ist und daß es nicht etwas ist, tanten unterschreiben, versöhnen können, sondern es worauf wir uns als Politiker eines demokratischen sind Menschen, die sich versöhnen. Deshalb kommt es Landes in irgendeiner Weise berufen können. wirklich darauf an, was wir aus diesem Vertrag machen und wie wir mit ihm umgehen. Es kommt Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darauf an, wie wir mit unseren Partnern in der verstehe ja, warum Sie die Vermögensfrage in diesem Tschechoslowakei umgehen. Entschließungsentwurf noch einmal ansprechen, warum Sie auch die Frage des Rechts der Sudeten- Gestatten Sie mir eine kritische Anmerkung zu deutschen auf Ansiedlung in der Tschechoslowakei etwas, was der Kollege Schmidt hier gesagt, aber schon jetzt im Vorgriff auf die gegenseitige europäi- vielleicht nicht so gemeint hat. Ich erwähne diesen sche Niederlassungsfreiheit fordern. Ich verstehe das. Punkt, um zu zeigen, wie behutsam wir sein müssen. Aber Sie wissen ganz genau — denn viele von Ihnen Er hat wörtlich gesagt: Im Geist der Versöhnung sind in der letzten Zeit oft genug dort gewesen und „müssen" die Benesch-Dekrete aufgehoben werden. haben die Kontakte —, daß derjenige von uns, der so Ich sage gar nichts zu der Forderung in der Sache. Ich über die Vermögens- und die Ansiedlungsfragen sage nur etwas dazu, daß man nicht gut in einem Satz redet, neue Ängste erzeugt. Sie mögen das für über- einerseits von Versöhnung reden und andererseits trieben und für unrealistisch halten. Aber es ist die dem anderen sagen kann: Du mußt aber das und das Wahrheit. Sie werden mir nicht widersprechen kön- tun. nen. Auch Sie haben erlebt, daß in den Dörfern und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kleinen Städten, in denen früher Deutsche gelebt der F.D.P.) haben, heute die Tschechen, die das hören, sich 7642 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Günter Verheugen fragen: Was heißt es denn, wenn die Mehrheitspar- mit ihrer jahrhundertealten, zutiefst europäischen teien im Deutschen Bundestag von den offenen Ver- Kultur weder vorstellbar noch wünschenswert. mögensfragen und vom Ansiedlungsrecht reden? Heißt das, daß wir das wieder hergeben müssen, was Hier ist mehr über die Tschechoslowakei als über wir jetzt haben, heißt das, daß wir hier wieder weg Ungarn gesprochen worden. Das hat mehr innen- als müssen? — Natürlich wissen wir, daß das nicht außenpolitische Gründe. Ich will noch ein Wort zu gemeint ist und daß das unrealistisch ist. Aber ich bitte Ungarn sagen: Ungarn hat ja eine ganz besondere einfach um Verständnis dafür, daß diese Ängste und Rolle bei dem revolutionären Wandel in Osteuropa diese Sorgen da sind und in Südosteuropa gespielt. Für mich war ein Erlebnis im Juni 1989 eines, das ich nie vergessen (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Herr Verheugen, werde, das zu den beeindruckendsten in meinem Sie schüren das gerade wieder! — Ulrich ganzen politischen Leben gehört: die Trauerfeier, die Irmer [F.D.P.]: Das ist nicht hilfreich, was Sie Rehabilitierungsveranstaltung für die Opfer des da sagen! — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Volksaufstandes von 1956, eine ungeheuer beein- Brunnenvergiftung!) druckende Veranstaltung mit Hunderttausenden von Menschen. Mir war nach diesem Ablauf im Juni 1989 und daß der kleinere Nachbar ja wohl etwas mehr klar — ich habe darüber hier im Bundestag wenige Recht hat, gegenüber dem großen besorgt zu sein, als Tage später berichtet — und ich habe damals wörtlich der große gegenüber dem kleinen. gesagt: Das, was in Budapest auf dem Heldenplatz geschehen ist, das wird auch auf dem Wenzelsplatz in (Beifall bei der SPD) Prag und auf dem Alexanderplatz in Berlin gesche- hen. Ich habe damals wirklich nicht geglaubt, daß das Ich hätte es lieber gesehen, wenn Sie bei dem innerhalb von Monaten geschehen würde — das wäre geblieben wären, was wir gemeinsam in einer frühe- wohl auch zuviel verlangt gewesen —, aber ich werde ren Debatte schon erreicht hatten: daß wir über das nicht vergessen, wo der Anfang dieses Prozesses für hinaus, was der Vertrag in, wie ich finde, würdigen jeden, der sehen konnte, wirklich sichtbar geworden und eindeutigen Worten, vor allen Dingen in seiner ist. Darum empfinde ich es mit Dankbarkeit und Präambel, sagt, keine Erklärungen mehr abgeben, Freude, daß auch Ungarn in dieses Vertragswerk weil alles, was darüber hinaus noch gesagt werden einbezogen ist und wir auch Ungarn den Weg in das kann, eigentlich nur eine Abschwächung ist. Sie gemeinsame Europa öffnen wollen. haben aus Gründen, die Sie besser kennen als ich und die Sie vertreten müssen, einen anderen Weg Aber Europa ist nicht hinter Polen, der Tschechoslo- gewählt. Sie haben die Diskussion damit nicht been- wakei und Ungarn zu Ende. Wir empfinden die det. Ich möchte Sie an Ihre Verantwortung erinnern, Verantwortung für das ganze Europa, und uns sich im weiteren Verlauf, wenn es darum geht, diesen bedrückt, was wir in Teilen dieses unseres Europas Vertrag mit Leben zu erfüllen, immer bewußt zu sein erleben: Flüchtlingsströme, Krieg, Bürgerkrieg, ge- und bewußt zu bleiben, daß die Grundlage für das, schlossene Grenzen, sich verhärtende Herzen und das was wir jetzt gemeinsam tun wollen, gegenseitiges Gefühl, vielleicht doch zu wenig getan zu haben und Verzeihen ist. Hier ist auch mehrfach gesagt worden: vielleicht nicht das tun zu können, was eigentlich Mit Aufrechnen kommen wir nicht weiter. Es hilft uns notwendig wäre. eben nicht, wenn der eine ruft „Vertreibung" und der Was wir sehen, ist klar: Die nationalen und auch die andere ruft „Lidice". Ein Unrecht kann nicht durch ein religiösen Gefühle von Menschen werden von verant- vorhergegangenes legitimiert werden. Das wissen wortungslosen Führern in schamloser Weise miß- wir. Aber wir wissen auch, daß es in der Geschichte braucht. Sie spielen mit den Gefühlen von Menschen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung gibt, die wir nicht verleugnen dürfen, nicht vergessen dürfen wie auf einem politischen Klavier und lösen Mord und Totschlag aus. und die uns zu großer Vorsicht und Behutsamkeit zwingen. Wir können nicht wegsehen. Wir können also nicht sagen: Laßt sie mal so lange weitermachen, bis sie Meine Damen und Herren, die beiden Verträge sind nicht mehr können, irgendwann hören sie schon auf. von der Bundesregierung, die sie ausgehandelt hat, Isolationismus, uns zurückziehen auf uns selbst, eine von beiden Vertragspartnern — das gilt auch für die Festung Westeuropa sind kein Weg. Das entspräche Regierung Ungarns —, ganz bewußt in einen europäi- nicht unserer historischen Verantwortung und auch schen Zusammenhang gestellt worden. Der europäi- nicht unserem Verständnis von der Durchsetzung von sche Zusammenhang ist eigentlich die weiterfüh- Menschenrechten und Demokratie in der ganzen rende Perspektive, die sich aus diesen Verträgen Welt. ergibt. Was wir bisher besprochen haben, auch was ich bisher gesagt habe, ist ja immer noch der Versuch, (Beifall bei der SPD) mit Lasten aus der Vergangenheit fertig zu werden, die wir tragen müssen, ob wir 1945 schon gelebt haben Wir können aber auch nicht einfach dreinschlagen. oder nicht. Aber die europäische Perspektive ist das, Auch der Interventionismus ist keine Lösung. Lieber was uns als Gestaltungsaufgabe durch diese Verträge Herr Kinkel, wenn ich Sie an dieser Stelle zum mitgegeben wird. erstenmal in Ihrem neuen Amt ansprechen darf: Darüber werden wir noch zu diskutieren haben. Sie Die Tschechoslowakei und Ungarn sind europäi- haben, wie sich das gehört, erst einen Tag nach Ihrem sche Kernländer, sie gehören in das vereinte Europa. Amtsantritt in Interviews, die sicher schon vorher Für mich ist ein vereintes Europa ohne diese Länder aufgezeichnet wurden — zumindest in einem Fall muß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7643

Günter Verheugen es so gewesen sein; ich weiß ja auch, wie das geht, und Herren! Ich gestehe ganz offen, daß ich sehr erfreut es war auch richtig —, eine Bemerkung gemacht, die bin, am Geburtstag meines Vorvorredners und nieder- mich doch ein bißchen nachdenklich gestimmt hat, sächsischen Fraktionskollegen Dr. Volkmar Köhler nämlich daß es wohl nicht ohne Gewehre gehen wird. Ich habe das nicht so verstanden, Herr Kinkel, daß Sie (Beifall bei der CDU/CSU) das wollen, sondern ich habe es verstanden als Aus- zum erstenmal hier in Berlin in diesem Gebäude druck einer gewissen Resignation vor etwas, was Sie während einer Bundestagssitzung zu sprechen. offenbar für unvermeidlich halten. — Sie nicken; es scheint so zu sein. Ich möchte mich nur dem deutsch-ungarischen Vertrag zuwenden, der für mich und für uns das Ich halte das gar nicht für unvermeidlich. Das gleiche Gewicht wie der Vertrag mit der Tschechoslo- möchte ich Ihnen deutlich sagen. wakei hat. Ich tue das auch, weil wir, glaube ich, alle (Beifall bei der SPD) ein wenig bewegt sind, wenn wir an einer nordöstli- Ich möchte Ihnen auch im Namen meiner politischen chen Stelle des Reichstagsgebäudes vor einer Bronze- Freunde mit auf den Weg geben, daß wir eigentlich tafel stehen, die im vergangenen Jahr von dem von Ihnen, Herr Dr. Kinkel, als Bundesaußenminister Präsidenten des ungarischen Parlaments und der erwarten, daß Sie eine Politik betreiben, die genau das Präsidentin des Deutschen Bundestags enthüllt wor- überflüssig macht, die uns nicht dahin bringt, daß wir den ist — in absehbarer Zeit wird auch vor dem das tun müssen. Gebäude des ungarischen Parlaments eine solche Tafel angebracht werden — und auf der in deutscher (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ und in ungarischer Sprache steht: GRÜNE) Ich glaube, es gibt noch Instrumente, es gibt noch 10. September 1989 Mittel, mit denen man das tun kann. Es sind noch nicht Ein Zeichen der Freundschaft zwischen dem alle friedlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, das ungarischen und dem deutschen Volke für ein Zusammenleben der Menschen in Europa in einer vereintes Deutschland, für ein unabhängiges humanen, toleranten, menschenfreundlichen Weise Ungarn, für ein demokratisches Europa zu ermöglichen. Wir werden Ihnen ganz sicher bei allen Bemühun- Von dieser nordöstlichen Stelle des Reichstagsge- gen helfen, die Sie unternehmen, diesen Weg der bäudes ging bis November 1989 der Blick direkt auf Kooperation und der Partnerschaft zu gehen, viel- die Mauer an die Spree. Zahlreiche Kreuze erinnern leicht auch die Verträge, über die wir heute hier noch heute an die ganze Brutalität der Mauer und des diskutieren, anderen in Europa als ein Modell anzu- Gebildes, das durch diese unmenschliche Mauer bieten, ihnen von unseren Erfahrungen mitzugeben, angeblich geschützt werden mußte. wie man das Verhältnis zwischen Nachbarn, die Weil eben die Ungarn am 10. September 1989 Probleme miteinander haben und hatten, auch gestal- gleichsam den ersten Stein aus dieser Mauer geschla- ten und wie man mit den Rechten von Minderheiten gen haben, begrüße ich und, ich glaube, begrüßen wir und Volksgruppen in Staaten umgehen kann, in alle es sehr, daß während dieser Berlin-Sitzung des denen verschiedene Gruppen, Völker und manchmal Bundestags die Abstimmung über den Vertrag zwi- sogar ganze Nationen miteinander leben müssen. schen der Bundesrepublik Deutschland und der Repu- Meine sehr verehrten Damen und Herren, beim blik Ungarn über freundschaftliche Zusammenarbeit Nachdenken über diese Debatte gingen mir ein paar und Partnerschaft in Europa erfolgt. Zeilen aus einem Gedicht von Bert Brecht nicht aus (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge dem Sinn, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, - ordneten der SPD) aber ohne eine Interpretation zu geben — jeder wird vielleicht selber ein bißchen darüber nachdenken Zwischen Deutschen und Ungarn gab es seit Jahr- wollen, was damit zum Ausdruck gebracht werden hunderten und Generationen keine besonderen Pro- soll. Ich möchte mit diesen Zeilen schließen: bleme. Im Grunde der Moldau gehen die Steine, Seit Jahrhunderten lebt in Ungarn eine große deut- es liegen vier Kaiser begraben in Prag. sche Minderheit. Gerade dieser Vertrag enthält die Das Große bleibt groß nicht beste Minderheitenregelung überhaupt. Er sollte und klein nicht das Kleine. meines Erachtens für andere vertragliche Regelungen Die Nacht hat zwölf Stunden, immer wieder Vorbild sein. Diese Minderheitenrege- dann kommt schon der Tag. lung mußte nicht etwa den Ungarn abgerungen wer- Ich danke Ihnen. den; nein, sie wurde in weiten Teilen in Ungarn schon (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ vorgelebt. Für ein Zusatzprotokoll zur Europäischen GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ Menschenrechtskonvention, das den Schutz und die CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) angemessene Förderung von Minderheiten und Volksgruppen zum Inhalt hat, könnte diese Regelung ein Beispiel sein. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ordnete Reinhard von Schorlemer. Als 1989 die großen Freiheits- und Unabhängig- keitskundgebungen in Budapest auf dem Heldenplatz und in vielen Städten Ungarns stattfanden, war dort Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU): auf Transparenten zu lesen: „Ungarn kehrt heim nach Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Europa". 7644 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Reinhard Freiherr von Schorlemer Ich glaube, dieses Bekenntnis und auch unsere der früheren DDR in seine Hände kam. Vielleicht ist es Dankbarkeit gegenüber Ungarn kommen im Art. 3 sogar ein wenig sentimental, das zu sagen. Aber wir des Vertrags zum Ausdruck. Wir stehen positiv zur alle wissen, daß gerade bei der Verabschiedung des Perspektive des Beitritts der Republik Ungarn zur deutsch-ungarischen Vertrages viel Herz mitwirkt. Europäischen Gemeinschaft und setzen uns für die- (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) sen Beitritt ein, sobald die politischen und die wirt- schaftlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Wir Dieser Vertrag wird sich weiterentwickeln, weil Deut- Deutschen sollten, was die politischen Voraussetzun- sche und Ungarn das nicht nur mit dem Verstand, gen angeht, bei unseren EG-Partnern Hauptdränger sondern auch mit dem Herzen so wollen. und Motor zum EG-Beitritt Ungarns sein. Deshalb appelliere ich namens der CDU/CSU- Fraktion an alle Kolleginnen und Kollegen des Deut- Ein großes Problem bewegt die Ungarn und muß schen Bundestages: Stimmen wir einmütig für diesen auch uns bewegen: die Sicherheit dieses Landes bei Vertrag und legen wir damit ein gutes Fundament für der grausamen und schwierigen Situation in der die weiteren Beziehungen zwischen Deutschland und unmittelbaren Nachbarschaft. Hierbei kommt der Ungarn, das von Zusammenarbeit und Dankbarkeit Weiterentwicklung der Strukturen der KSZE eine getragen wird. besondere Rolle zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Der durch die Ungarn eingeleitete wirtschaftliche sowie bei Abgeordneten der SPD) Umgestaltungsprozeß, der durch Investitionen von Industrie, Gewerbe, Handel und Handwerk aus Deutschland sehr positiv begleitet wird, ist deshalb so Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und erfreulich, weil dort ein gutes Investitionsklima für Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Investoren vorzufinden ist. Hierzu gehört eine weg- Freimut Duve. weisende Entschädigungsregelung gerade für die Ungarndeutschen, besonders für vertriebene Ungarn- deutsche. Wir sind dankbar und stolz, daß gerade die Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Meine Damen ungarndeutschen Abgeordneten im ungarischen Par- und Herren! Ein paar Worte möchte ich, so ziemlich lament sich mit Vehemenz und über alle Grenze am Ende dieser Debatte, gerne loswerden. hinweg für eine solche befriedigende Lösung einge- Ich habe im Jahre 1983 von Vaclav Havel, der setzt haben. damals gerade wieder im Gefängnis saß, seine Briefe an seine Frau, die er aus dem Gefängnis geschrieben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- hatte, gelesen. Wir haben diese Briefe 1984 veröffent- ordneten der SPD) licht. Warum sage ich das? Der Grundtenor dieser sehr Dieser Vertrag sieht eine Intensivierung des Kultur- umfangreichen Briefesammlung, der mich bei keinem austauschs auf allen Ebenen vor. Es ist nur zu begrü- anderen Buch, das ich herausgegeben habe, so ßen, daß großes Gewicht darauf gelegt wird, die bewegt hat wie bei diesem war optimistisch. Man umfassenden und engen Kontakte zwischen der deut- stelle sich das vor: Ein Mann, der im Gefängnis Briefe schen und der ungarischen Jugend weiter zu vertie- schreibt, ist von einem solchen Optimismus, von einer fen. So werden Begegnungen den Austausch und die solchen Zukunftssicherheit geprägt und schreibt Zusammenarbeit von Jugendlichen unterstützen und davon an seine Frau. fördern. Es gibt unter diesen, glaube ich, 250 Seiten nicht Heute besuchen zwei Delegationen von Ausschüs- eine einzige Seite, auf der Pessimismus, auf der Angst sen des ungarischen Parlaments ihre deutschen Kol- zu finden ist. Daß ein solcher Mann — der aus der legen hier im Reichstagsgebäude in Berlin. Dadurch Literatur kommt und den zu publizieren ich immer als erleben wir, wie wirklichkeitsnah gerade auch die im große Ehre empfunden habe —, der ganz zentral für Vertrag angesprochenen Kontakte zwischen unseren die geistige Vorgeschichte dieses Vertrages und ganz beiden Parlamenten gestaltet werden. Fragen der zentral für Europas, Mitteleuropas Zukunft steht, ein Umweltpolitik und der Finanzen z. B. werden heute solcher Optimist ist, sollte uns heute bewegen. auf der Tagesordnung dieser Gespräche stehen. Warum? In diesen Verträgen — da will ich auch den Ich darf an dieser Stelle wiederholen, was ich schon polnischen Vertrag noch einmal erwähnen — ist das in der ersten Lesung des Vertrages gesagt habe: Es Kernstück, das Scharnier zwischen Vergangenheit kommt nicht von ungefähr, daß die deutsch-ungari- und Zukunft die Behandlung der Minderheitenfrage. sche Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag In bezug auf die Vergangenheit wird hierzu in allen mit rund 100 Mitgliedern eine der größten ist. Das drei Verträgen etwas sehr Konkretes angesprochen. macht deutlich, wie verbunden sich die Abgeordneten Es ist gleichzeitig ein Ausweis dafür, wie man Min- des Deutschen Bundestages gerade ihren ungari- derheitenfragen in ganz Europa künftig auch dann schen Parlamentskollegen fühlen. regeln können sollte, wenn die Minderheit anderswo keinen großen Bruder hat, der als völkerrechtlicher (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Partner solche Verträge schließen kann. Von daher F.D.P.) sollte auch von diesen Verträgen, von unserer Meine sehr verehrten Damen und Herren, der erste Gemeinsamkeit — es gibt ja gegen diese Verträge frei gewählte Abgeordnete des ungarischen Parla- keine Gegenstimmen — ein Hoffnungssignal nach ments nach über 40 Jahren kommunistischer Dikta- ganz Europa ausgehen: So konnten die Deutschen tur, Garbor Roszik, übergab mir in Gödöllö ein Stück und die Tschechen und die Slowaken und die Ungarn Stacheldraht, das nach dem Durchschneiden des Zau- und die Polen miteinander das schwierige Feld der nes zwischen Ungarn und Österreich für Deutsche aus Vergangenheit von Minderheiten und der Zukunft Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7645

Freimut Duve von Minderheiten miteinander regeln — als Chance Er ist Vorbild und Aufmunterung für andere, mit der für die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, wo das grausamen Vertreibung von Menschen Recht zu zentrale Problem der Zukunft die Minderheitenfrage schaffen. Bei allen Verdrehungen und Versuchen, mit sein wird, als Chance auch für die Völker des ehema- Briefen und Entschließungen die be troffenen Heimat- ligen Jugoslawiens, wo das Minderheitenproblem für vertriebenen in die Irre zu führen, läßt sich leider nicht eine lange Zeit ein dramatisches Problem sein wird. verdrängen: Der Vertrag ist schlecht. Er schreibt Dafür könnten diese Verträge ein Signal sein: Wir stalinistisches Unrecht fort. Er hat keine Perspektive haben das geschafft. für eine gemeinsame deutsch-tschechische oder Das ist auch der leichte Schatten — das will ich noch deutsch-slowakische Zukunft. sagen —, der darauf durch zwei oder drei Formulie- Ich frage: Ist es nicht blanker Zynismus, wenn der rungen in Ihrem Entschließungsantrag geworfen größte Außenminister aller Zeiten — wie er sich, wird. Wir werden Ihrer Entschließung nicht zustim- allerdings im Karneval, selber bezeichnet hat — in men können. Es wäre besser gewesen, wir hätten einem begleitenden Brief in Erinnerung ruft, daß erst diese Formulierungen mit diesem EG-Vorgriff, gar die in Art. 10 erwähnte Perspektive der vollen Einglie- nicht erst bekommen. derung der Tschechischen und Slowakischen Födera- Wir sollten gemeinsam in unseren Beziehungen zu tiven Republik in die Europäischen Gemeinschaften allen anderen Staaten in Osteuropa immer wieder in wachsendem Maße die Möglichkeit schaffen darauf hinweisen: Dies ist der Weg, hier ist eine werde, daß sich auch Bürger der Bundesrepublik Chance, daß Minderheiten, gesichert durch völker- Deutschland in der Tschechischen und Slowakischen rechtliche Verträge, genauso viel Zukunftsmut, Föderativen Republik niederlassen könnten, vor genauso viel Optimismus haben können — was zur allem, wenn es im nächsten Satz in bezug auf die Zeit nicht der Fall ist — wie Vaclav Havel — ich habe Rechte der betroffenen heimatvertriebenen Deut- es am Anfang meines Beitrags gesagt — damals in schen heißt, dieser Vertrag befasse sich nicht mit einer für ihn zunächst sehr aussichtslos erscheinenden Vermögensfragen? Situation. Mit dieser Klausel in diesem Brief sollen die Rechte Danke für die Aufmerksamkeit. der Betroffenen ausgeschlossen werden, vor dem (Beifall bei der SPD) Bundesverfassungsgericht geltend gemacht zu wer- den. Das ist Zynismus. Man verhindert damit, daß Leute ihre Rechte vor einem deutschen Gericht gel- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und tend machen können, indem man außenpolitisch nicht Herren! Das Wort hat jetzt unser Kollege Ortwin das vorträgt, was hätte vorgetragen werden müssen, Lowack. was man hätte regeln sollen. (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Jetzt Statt das als Völkermord einzustufende Verbre- sollte Herr Lowack uns alle überraschen: Er chen der Vertreibung wiedergutzumachen, wird gibt sich einen Ruck und stimmt dem Vertrag — geradezu lächerlich — den Überlebenden und den zu!) Nachkommen ein EG-Niederlassungsrecht in Aus- sicht gestellt. Statt Vermögensfragen völkerrechtlich Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! zu regeln und den Vertreiberstaat zur Restitution zu Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! veranlassen, wird dies auf den Sankt-Nimmerleins- Meine Damen und Herren! Fünf Minuten Redezeit Tag verschoben. Das Schlimmste ist: Die Be troffenen zum deutsch-tschechoslowakischen Vertrag für eine werden nicht beteiligt. Eine Riesenchance ist durch Stimme gegen den Vertrag und für die Rechte der die Kabinettspolitik vertan, die einzelnen, denen Betroffenen sind unfair. Aber es entspricht wohl den persönlich Unrecht geschehen ist, an diesem Versöh- verkrusteten Strukturen dieses Parlaments, nungsprozeß zu beteiligen. (Oh-Rufe bei der CDU/CSU) Es gibt doch nicht nur eine deutsche Geschichte von dem auferlegt ist zu funktionieren, statt wichtige Schuld, Sühne und Kriegsursachen. Vielmehr war es Dinge ausführlich zu debattieren. Deutschland — das wir zu vertreten haben —, das in den letzten 400 Jahren ständig an Substanz verloren (Zuruf von der CDU/CSU: Nimm dich nicht hat und erleben mußte, daß sich die Nachbarn oft zu ernst!) genug bedient, bereichert, daß sie geplündert und Um im Versmaß des Kollegen Verheugen zu blei- zerstört haben. ben, das mich etwas inspiriert hat, möchte ich es so (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Warum ausdrücken: Verzeiht, daß ich die Eintracht störe, eigentlich?) doch ist nicht immer gut, was ohne Widerspruch das Parlament passiert. Vaclav Havel hat einmal gesagt, daß die Grundvor- In der ersten Lesung hatte ich an die Bundesregie- aussetzung für eine wirkliche Freundschaft zwischen rung 20 Fragen von großer nationaler Bedeutung unseren Völkern die Wahrheit sei. Ich stelle ausdrück- gestellt. Es waren nicht meine Fragen, sondern die der lich fest, daß dieser Vertrag diese Grundvoraussetzun- Betroffenen, vor allem Fragen des Völkerrechts und gen nicht erfüllt. Der Stachel der Ungerechtigkeit und der künftigen gemeinsamen Gestaltung Europas. Ich das Unrecht der Überheblichkeit der Politik werden stelle fest, daß sämtliche Fragen durch die Bundesre- bleiben. Sie machen diesen Vertrag bereits heute zur gierung unbeantwortet sind. Farce. Ich muß deshalb unverändert festhalten: Dieser Noch ein Wort zur CSU — mir tut es leid, wenn ich Vertrag dient nicht dem Recht; er dient dem Unrecht. darauf hinweisen muß —: Sie als Papiertiger zu 7646 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Ortwin Lowack bezeichnen umschreibt nur einen Teil der Wahrheit. Aber lassen Sie mich dazu sagen: Diese Geschichte Eher schon erinnert sie mich an den kleinen afrikani- dauert erst seit 1918/19, und manchmal hatte man den schen Springbock, der die große Fähigkeit hat, Eindruck, daß das Deutsche Reich mit dem Rücken Sprünge nach oben zu machen, ohne dabei vom Platz zum Böhmerwald bzw. zum Erzgebirge stand. Und wegzukommen. Vor allem aber täuscht sie einen man muß feststellen, daß 1918/19 3,5 Millionen wichtigen Teil ihrer eigenen Klientel über die Wahr- Deutsche gegen ihren Willen in diesen Staat einge- heit hinweg, auch über die Ihres eigenen inneren gliedert wurden. Zustands. Hätte sie wirklich den Mut, der sie nach Aber vor diesem Jahr 1918/19 lagen Hunderte von Auffassung ihres derzeitigen Vorsitzenden geradezu Jahren gemeinsamer Geschichte, in deren Verlauf umwerfend attraktiv macht, würde sie heute geschlos- Deutsche, Tschechen, Slowaken und Ungarn in sen mit Nein stimmen. einem größeren Staatsgebilde nebeneinander lebten. Mut hat diese Partei schon lange nicht mehr, und Wäre der Erste Weltkrieg nicht gekommen, dann wäre auch ihre Prinzipien von Freiheit und Recht wurden vielleicht der Mährische Ausgleich von 1905 zu einem der Vasallentreue zu einem Kanzler geopfert, dem ich Modell geworden für den Ausgleich der Rechte und leider nicht zusprechen kann, daß er erkennbare Möglichkeiten von Volksgruppen. Das Ende des Prinzipien oder Vorstellungen darüber hat, welche Ersten Weltkriegs hat dem ein Ende gesetzt. Rolle Deutschland in der Welt und in Europa zu Das Dritte Reich mißbrauchte dann die berechtig- spielen hat. ten Volksgruppeninteressen der Sudetendeutschen. Doch warnen möchte ich — um im Versmaß zu Dann erfolgte 1945 die Vertreibung der Sudetendeut- bleiben —, denn unser Volk verachtet diese Führung, schen. Meine Damen und Herren, nicht Aussiedlung, die ohne Not das wirklich Mögliche verspielt. nicht Abschiebung oder Ausweisung, es war Vertrei- (Dr. Peter Glotz [SPD]: Diese Rede war eine bung. Das hat Vaclav Havel richtig charakterisiert. Einzelaktion!) (Beifall bei der CDU/CSU) Im Prager Frühling bestand wieder die Hoffnung Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und einer Begegnung zwischen Deutschen, Tschechen Herren, ich möchte noch etwas zu der Eingangsbe- und Slowaken. Sie wurde durch den Einmarsch des merkung des Kollegen Lowack sagen. Er hat bemän- Warschauer Paktes zunichte gemacht. Es waren die gelt, daß er nur fünf Minuten Redezeit hat. Ich glaube, Sudetendeutschen, die 1968 den Tschechen, die in daß das Präsidium angemessen reagiert hat. Denn wie unser Land kamen, in besonderem Maße Hilfe leiste- sind denn die Rechte der 661 anderen Abgeordne- ten und sie als Landsleute betrachteten. ten? Der sogenannte Prager Vertrag von 1973 trägt noch (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der die Unterschriften kommunistischer Politiker. Es ist F.D.P.) verständlich, daß man nach Wiedergewinnung der Freiheit auf beiden Seiten Verträge haben wollte, die Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Fritz Wittmann die Unterschrift demokratischer Politiker tragen. Man das Wort. wird aber fragen können, ob jetzt schon die Zeit reif war, einen solchen Vertrag zu schließen; denn der Motivenbericht der CSFR — selbst wenn er relativiert (CDU/CSU): Meine sehr verehr- Dr. Fritz Wittmann worden ist — zeigt doch, daß noch Vorstellungen ten Damen und Herren! Obwohl es dem Anlaß eigent- vorhanden sind von dem, was Vertreibung, Vermö- lich nicht angemessen ist, muß ich doch ein Wort zu genskonfiskation und sonstige Rechtsfragen ist, die meinem Vorredner sagen. Herr Kollege Lowack, wem kontrovers sind. verdanken Sie dieses Mandat? Der Vertrag ist in der Tat ein Dokument, zu dem die (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) einen sagen können, „ja, aber", die anderen aber Wieso haben Sie dieser Partei dann so lange angehört? sagen müssen „nein, aber". Es sind viele Dinge, viele Nur diese Frage stelle ich Ihnen. Mehr möchte ich auf Ansätze vorhanden, z. B. der Kopenhagener Standard Sie nicht eingehen, weil es sich wirklich nicht lohnt. der Minderheitenrechte, ein Standard, der weiter geht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- als der im deutsch-polnischen Vertrag. Aber es fehlt ordneten der F.D.P.) das innerstaatliche Instrumentarium in der Tschecho- slowakei, um diesen Vertrag im innerstaatlichen Bei diesen Verträgen und bei dieser Diskussion Bereich Wirklichkeit werden zu lassen. Wir hoffen, erleben wir, daß die Geschichte doch keine Schluß- daß das kommt mit dem Weiterbau des Rechtsstaa- striche ziehen kann, wie es manche — nicht aus tes. diesem Hause — im Zusammenhang mit dem deutsch- tschechoslowakischen Vertrag gemeint haben. Wir Die Deutschen, die jetzt im tschechischen und im wollen die Beziehungen auf eine neue Basis stellen. slowakischen Teil der Tschechoslowakei leben, erhal- Das ist wahr. Die Frage ist nur: Erreichen wir diese ten zum Teil ihr Vermögen zurück. Aber die Verstei- Basis? Ich glaube, wir müssen erst noch einiges aus der gerung des konfiszierten Vermögens geht weiter. Die Vergangenheit miteinander erörtern. Aufhebung der Dekrete des Jahres 1945 ist für die Die Tschechoslowakei ist ein verhältnismäßig jun- Sudetendeutschen nicht etwa das, was sie mit Eigen- ger Staat. Wir sollten alle miteinander akzeptieren, tumsrückgabe verbinden. Nein, es wäre ein Zeichen daß die Tschechen und die Slowaken auf ihren zur Wiederherstellung des verletzten Rechtsbewußt- jeweiligen Staat stolz sind; denn ihre Staatlichkeit ist seins. inzwischen Geschichte geworden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7647

Dr. Fritz Wittmann Die Sudetendeutschen sind nicht die Shylocks der Beide Verträge fanden am 6. Mai 1992 in diesem Weltgeschichte, die ihr Recht bis zum letzten Komma Hause wie auch beim ersten Durchgang im Bundesrat haben wollen. Wir wollen nur ein Zeichen sehen. und in den Ausschüssen erfreulicherweise eine breite Ich glaube, eine Entschädigung kommt jetzt nicht in Zustimmung. Ich werte dies als Ausdruck des Bewußt- Betracht. Ich sage persönlich: Nur der kann mit Recht seins für die wahrhaft historische Bedeutung, die dem eine Entschädigung oder Rückgabe verlangen, der Abschluß dieser Verträge zukommt. Mit ihnen und mit bereit ist, in diesem Lande zu investieren und wirt- den bereits unterzeichneten Verträgen mit Bulgarien schaftlich tätig zu werden und nicht Geld aus diesem und Rumänien schließt sich sozusagen ein Kreis. Lande herauszuholen. Dieser Kreis öffnete sich u. a., als Präsident Gorba- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tschow den Völkern Mittel- und Osteuropas die Frei- heit der Wahl versprach und die Menschen in War- Auch gilt ein Gesetz noch, das die Unrechtshandlun- schau, in Prag, in Budapest, in Dresden und in Berlin gen des Jahres 1945 rechtfertigen will. für ihre Freiheit und für Menschenrechte auf die Meine Damen und Herren, die Sudetendeutschen, Straße gingen. Herr Kollege Voigt, gehen nicht als Kapitalisten hin, In dieser Stunde vergessen wir auch nicht — das sondern als Kulturbringer. Die Gotteshäuser werden klang schon vorher einmal an —, daß es das ungari- wiederhergestellt. Es war für mich einer der bewe- sche Volk war, das mit großem Mut als erstes eine gendsten Momente, im vergangenen Jahr mit Tsche- Bresche in den Eisernen Vorhang schlug. chen und Deutschen an dem Patrozinium in meinem Heimatort, das erste seit 1945, teilzunehmen. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) Wir gehen davon aus, daß die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 14. Juli 1950 weiter gilt, Es hat unsere Mitbürgern in der ehemaligen DDR in wo es heißt: menschlicher Solidarität geholfen und damit die Das Prager Abkommen der DDR ist nicht verein- unaufhaltsame und unumkehrbare Entwicklung in bar mit dem Anspruch des Menschen auf seine Richtung deutsche Einheit in G ang gesetzt. Heimat. Der Deutsche Bundestag erhebt deshalb Der Höhepunkt dieser so nicht vorhersehbaren feierlich Einspruch gegen die Preisgabe des Hei- dramatischen Umbrüche in Mittel- und Osteuropa matrechts der in die Obhut der deutschen Bun- und in der ehemaligen Sowjetunion war für uns desrepublik gegebenen Deutschen aus der Deutsche die lang ersehnte Freiheit; für unsere Nach- Tschechoslowakei und stellt die Nichtigkeit des barn, die Polen, die Ungarn, die Tschechen und Prager Abkommens fest. Slowaken, war es die Befreiung von vier Jahrzehnten Abschließend heißt es dort: Unfreiheit, Unterdrückung, Zwang und Bevormun- dung. Auch daran denken wir heute anläßlich der Er — der Bundestag — richtet an die Gesamtheit abschließenden Lesung der beiden Verträge. der freien Völker den Appell, im Geiste der Atlantikcharta für eine Friedensordnung einzu- Wenn wir nach dem Zweiten Weltkrieg von Europa treten, in der die natürlichen Rechte auch der sprachen, meinten wir zu oft und zu leicht nur West- Deutschen gewahrt sind. europa. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Entfallen der jahrzehntelangen massiven Bedro- In diesem Sinne bitte ich zu verstehen, daß die hung des Weltfriedens eröffnete sich die Ch ance, Sudetendeutschen von der Bundesrepublik erwarten, wieder an das ganze Europa zu denken und für das daß sie weiterhin ihre Rechte vertritt. ganze Europa zu handeln. Prag, Warschau und Buda- Ich danke Ihnen. pest, Sofia und Bukarest kehrten auch in unserem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bewußtsein wieder dorthin zurück, wo sie immer hingehörten: in das eine, unteilbare Europa. (Beifall bei der F.D.P., bei der CDU/CSU, der Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Dr. Wittmann, SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Die beiden Verträge, um deren Ratifikation es heute Abgeordneten Dr. Glotz? — Nein. geht, sind bei dieser Rückkehr eine ganz wichtige Meine Damen und Herren, nunmehr hat der Herr Etappe. Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das Wort. In dieser europäischen Perspektive liegt neben den bilateralen Aspekten ihre tiefere geschichtliche Bedeutung. Durch sie wird ein bedrückendes Stück Nachkriegsgeschichte, für das auch wir Deutsche uns Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der mitverantwortlich fühlen müssen, endgültig abgelöst. Auf ihrer Grundlage kann eine hoffnungsvolle, neue Würdigung der Verträge mit der CSFR und Ungarn im europäische bilaterale Entwicklung in Gang kom- Rahmen der ersten Lesung im Deutschen Bundestag am 6. Mai 1992 verabschiedete sich Hans-Dietrich men. Genscher als Bundesaußenminister vom Deutschen Es muß deutlich gesagt werden, daß im deutsch- Bundestag. Die zweite und abschließende Lesung der tschechoslowakischen Vertrag nicht alle Fragen in Verträge — Herr Kollege Irmer hat darauf hingewie- einer für alle zufriedenstellenden Weise gelöst wer- sen — gibt mir heute, nur zwei Tage nach meiner den konnten; das ist schon angesprochen worden. Amtsernennung, im Bundestag die Gelegenheit, zum Angesichts der unterschiedlichen Auffassungen zu ersten Mal als Bundesaußenminister zu sprechen. den Vermögensfragen mußten wir uns darauf ver- 7648 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel ständigen, daß sich dieser Vertrag nicht damit befaßt. Meine Damen und Herren, der Vertrag mit Ungarn Wie im Vertrag mit Polen ist diese Feststellung im knüpft an die traditionell freundschaftlichen Bezie- ergänzenden Briefwechsel getroffen worden, der inte- hungen zwischen unseren beiden Völkern an. Er graler Bestandteil dieses Vertrages ist. Die Möglich- enthält eine in ganz Europa beispielhafte Regelung keit zur Niederlassung für Deutsche in der CSFR ist der Rechte deutscher Minderheiten. Auch für Ungarn ebenfalls durch den ergänzenden Briefwechsel in der gilt dasselbe wie für die CSFR, Polen, Rumänien und Perspektive der europäischen Einheit eröffnet wor- Bulgarien. Alle diese Staaten sehen ihre eigentliche den. Chance für den Anschluß an Europa im Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Den Weg für diesen Ich bin sicher — das wird auch von tschechoslowa- Beitritt zu ebnen, die Wartezeit zu verkürzen — auch kischer Seite bestätigt —, daß die zunehmende Annä- dies ist ein ganz wesentliches Ziel unseres bilateralen herung der CSFR an die Europäische Gemeinschaft Vertragsgeflechts mit unseren Nachbarn im Osten. auch in diesem Punkt — so hoffe ich jedenfalls; ich bin fast sicher — Bewegung bringen wird. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir müssen uns bei der Bewertung dieses Vertrages Natürlich müssen sie sich auch selber helfen, aber immer darüber im klaren sein, wie tief die Wunden auf sie brauchen unsere Unterstützung. Ohne diese beiden Seiten noch schmerzen und wie kurz erst die Unterstützung wird es nicht gehen. Die Perspektive Zeit der Versöhnung ist. Es bleibt wahrhaftig noch viel des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft, sobald aufzuarbeiten. Dies schaffen wir aber nur, wenn wir hierfür die wirtschaftlichen Voraussetzungen vorlie- nach vorne schauen. Nur so können wir eine dunkle gen, ist für unsere Nachbarn das Licht am Ende des Vergangenheit überwinden und den Weg in den Tunnels. Sie müssen möglichst bald wissen, daß sie Köpfen für eine bessere Zukunft freimachen. Von dazugehören. dieser Bereitschaft der Bürger auf beiden Seiten der (Beifall des Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt] Grenze — es geht in der Tat nicht nur um die [SPD]) Verträge —, die Chancen der Zukunft und nicht nur die Schatten der Vergangenheit zu sehen, wird es Deshalb hat die Europäische Gemeinschaft mit abhängen, wie schnell die relativ weit gespannten Polen, mit der CSFR und mit Ungarn im Dezember Ziele dieses Vertrages in der Praxis Wirklichkeit letzten Jahres Assoziierungsverträge mit Beitrittsper- werden können. Bereits jetzt gibt es eine breite spektive abgeschlossen. Mit demselben Ziel muß bald Zusammenarbeit der Menschen, die uns eigentlich auch mit den anderen Staaten Mittel- und Südosteu- Zuversicht verleihen sollte. ropas verhandelt werden. So kann die neue europäi- sche Architektur entstehen, die uns vom Nationalis- Gerade die Deutschen, die aus der angestammten mus, vom Vormachts- und Gleichgewichtsdenken Heimat vertrieben wurden, müssen hierin eingebun- weg zu einer neuen Kultur des politischen Zusammen- den und so zu einer Brücke der Verständigung wer- lebens in Europa bringen soll. den. Die Zukunft muß natürlich von der jungen Generation beider Länder gestaltet werden. Sowohl Ich möchte die heutige Gelegenheit meiner ersten das deutsch-tschechoslowakische wie auch das Rede als Bundesaußenminister im Deutschen Bundes- deutsch-ungarische Verhältnis werden bereits heute tag auch dazu nutzen, meinen festen Willen zu einer von vielfältigen Kontakten auf regionaler und kom- engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit munaler Ebene geprägt. dem Deutschen Bundestag und seinen Ausschüssen, auch und vor allem natürlich mit dem Auswärtigen Die Wirtschaftsbeziehungen entwickeln sich trotz Ausschuß, den ich gestern besucht habe, deutlich zu der schwierigen Anpassungsprozesse günstig. 1991 machen. waren wir erstmals größter Exportmarkt der CSFR und- Die Außenpolitik liegt in ganz besonderer Weise größter Handelspartner Ungarns. Damit tragen wir — Herr Voigt, Sie haben darauf hingewiesen — in der zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder bei, Gesamtverantwortung von Regierung und Parla- was auch eine ganz wesentliche Rolle spielt. ment. Der über Parteigrenzen hinweg erfreulicher- Die Grenzen sind offen; es gibt gegenüber der CSFR weise bestehende Konsens über die Grundlinien und Ungarn keine Visapflicht mehr. Neue Grenzüber- unserer Außenpolitik ist zu einem ganz wichtigen gänge wurden eröffnet. Bestandteil unserer politischen Kultur geworden. Mir liegt außerordentlich viel daran, daß dieser Grund- Das Goethe - Institut ist sowohl in Budapest wie in konsens so weit wie nur irgend möglich erhalten Prag vertreten, und das Engagement der politischen bleibt. Stiftungen hat sich erfreulicherweise gewaltig ver- stärkt. Das gilt auch für die Aus- und Weiterbildung (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der von Fach- und Führungskräften der Wirtschaft. Die SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnis Nachfrage nach deutschem Sprachunterricht — ich ses 90/GRÜNE) finde, das ist besonders erfreulich — ist so groß, daß sie Herr Genscher, mein politischer Ziehvater, hat die trotz Entsendung zahlreicher deutscher Lektoren Notwendigkeit der Kontinuität der deutschen Außen- kaum befriedigt werden kann. Hier sind dringend politik in den Mittelpunkt seiner Abschiedsrede noch zusätzliche Anstrengungen notwendig, Anstren- gestellt. Ich möchte Ihnen sagen — das wird Sie nicht gungen, die sich, wie ich meine, wirklich lohnen und wundern —, daß ich das auch so sehe. auszahlen werden. In dieser Zeit weltweiter Umbrüche müssen wir (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU selbstverständlich für neue Entwicklungen offen sein; sowie bei Abgeordneten der SPD) an unserer Verläßlichkeit und Berechenbarkeit darf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7649

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel jedoch kein Zweifel aufkommen. Die Zustimmung sowenig ausweichen können wie derjenigen in Osteu- unserer Nachbarn zu unserer Wiedervereinigung war ropa. ein ganz erheblicher Vertrauensvorschuß. Wir haben (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU nach der Einheit als größer gewordenes Deutschland sowie bei Abgeordneten der SPD) auch eine größere Verantwortung. Dieser Verantwor- tung und dieser Erwartungshaltung müssen wir, soll- Gegen die Weltwanderungsbewegung des Hun- ten wir entsprechen. gers und der Not werden wir — das ist ein Satz, den ich auch in der Innenpolitik in den vergangenen Jahren Deshalb werden wir auch in Zukunft keine natio- immer wieder gesagt habe, denn diese Weltwande- nale, sondern europäische und transatlantische Poli- rungsbewegung ist auslösendes Element auch unse- tik betreiben. Hierzu gibt es — ich glaube, da sind wir rer Asylproblematik -- auf Dauer nicht durch Gesetze uns alle einig — im Grunde auch gar keine Alterna- und Verwaltungspraktiken allein vorgehen können. tive. Wir dürfen und können uns in diesem offenen Europa und in diesem offenen Deutschland nicht abschot- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU ten. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Wir werden uns daher auch in Zukunft an die SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnis Wertbezogenheit unseres Grundgesetzes halten. Ich ses 90/GRÜNE) wiederhole etwas, was im Bundestag schon öfter gesagt wurde — aber gerade mir als bisherigem Es bleibt auch im neuen Amt mein Credo, daß Bundesjustizminister liegt sehr viel daran, daß Sie das unendlich viele Menschen auf dieser Erde praktisch auch von mir hören —: Die Wahrung der Menschen- von der Sekunde ihrer Geburt an nicht die geringste Chance haben, ein auch nur einigermaßen menschen- rechte hat für uns hohe Bedeutung. Deshalb werden wir uns weiter dafür einsetzen, daß die Chance für würdiges Leben zu führen. Die Welt ist zutiefst unge- recht. Wir müssen auch mit unserer Außenpolitik Freiheit und Demokratie östlich von uns nicht an sozialer Not und Umweltzerstörung zerbricht. versuchen — ich gebe zu, das ist nicht allein zu schultern und nicht allein zu bewegen —, dort zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU helfen, wo es irgendwie geht. sowie bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Bündnisses 90/GRÜNE) SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Last Es gibt auf Dauer keinen anderen Weg, als den der existentiellen Friedensbedrohung in gewissem Menschen in ihrer Heimat eine Lebenschance zu Sinne von dieser Welt gewichen. Hierdurch brechen geben. Das allerdings werden wir — ich wiederhole aber auch jahrhundertealte nationale Völkerkon- es — nicht allein schultern können. Es bedarf einer flikte wieder auf, die in der kommunistischen Ara gigantischen Anstrengung aller Industrienationen, quasi wie unter einer Eisdecke begraben lagen. Die nämlich derer, die in der Lage sind, wirklich vor Ort zu durch den Krieg in Kroatien und Bosnien-Herzego- helfen. Wir müssen uns sehr hüten, den Eindruck zu wina ausgelöste Massenflucht muß uns aufrütteln. Die erwecken, als wären wir in der Lage, das von der Bundesregierung wird morgen hochrangig an der von Bundesrepublik aus zu tun. Wir alle wissen, daß das Österreich einberufenen Flüchtlingskonferenz in nicht möglich ist. Aber es ist eben auch so, daß wir Wien teilnehmen. Hier ist eine übergreifende interna- unser Gewissen mit humanitären Gesten allein — so tionale Hilfsanstrengung erforderlich. Wir werden wichtig sie sind — auf Dauer nicht freikaufen kön- auch weiterhin darauf drängen, daß die Vereinten - nen. Nationen ihrer Verantwortung auf diesem Gebiet Die Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio nachkommen und gerecht werden. de Janeiro und die UNO-Menschenrechtskonferenz Der anhaltende Krieg in Kroatien und Bosnien- in Wien im nächsten Jahr müssen für die künftige Herzegowina ist ein Alarmsignal für den kommenden Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd eine neue KSZE-Gipfel in Helsinki. Wir müssen in Europa end- Grundlage schaffen — dies nicht im Sinne eines lich eine Lage schaffen, die es uns erlaubt, dieser Art Diktats des Nordens, sondern im Sinne einer wirkli- von Konflikten Herr zu werden, und zwar nicht nur im chen globalen Partnerschaft. Sinne einer Reparatur, sondern im Sinne der Vorbeu- Meine Damen und Herren, die Entwicklung der gung und der Konfliktverhütung. Hierfür müssen im Europäischen Gemeinschaft zur Politischen Union KSZE-Raum die Institutionen der neuen europäischen und längerfristig zu den Vereinigten Staaten von Architektur so ausgestattet werden, daß die neue Europa bleibt zwingend unser Kernziel. Die Verträge europäische Friedensordnung der Charta von Paris von Maastricht müssen ohne Verzug ratifiziert wer- Wirklichkeit werden kann. den. Da Ja zu Maas tricht ist unser Ja zu einem demokratischen, föderalen und bürgernahen Eu- Aber wir dürfen in Europa nicht nur Nabelschau betreiben. Die Welt hat sich gerade in den letzten ropa. Jahren beileibe nicht nur in Mittel- und Osteuropa Die deutsch-französische Freundschaft muß sich verändert, gleichsam atemlos, von niemandem so auch in Zukunft als Motor der europäischen Integra- vorhersehbar oder vorhergesehen. In der Dritten Welt tion bewähren. Ich habe mich am Montag bei meiner bleiben die gewaltigen sozialen und ökologischen ersten Auslandsreise unmittelbar nach Amtsüber- Herausforderungen eine Zeitbombe, der wir, auch nahme mit dem Kollegen Roland Dumas, einem engen wenn unsere Kräfte noch so angespannt sind, genau- Freund von Herrn Genscher, getroffen. Wir haben 7650 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel volle Übereinstimmung über eine unverändert gül- möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht, weil für eine tige, vertrauensvolle Partnerschaft und enge Abstim- Grundgesetzänderung, wie Sie und wie wir wissen, mung zwischen Deutschland und Frankreich erzielt. die Zustimmung der SPD erforderlich ist, in diesem Der vor uns liegende deutsch-französische Gipfel in Fall weniger für mehr halten könnten und ob Sie La Rochelle wird dies erneut bestätigen. deshalb nicht eine Zustimmung der SPD und aller Die Nordatlantische Allianz bleibt der unverzicht- Parteien zu UNO-Blauhelmeinsätzen oder möglichen bare Garant unserer Sicherheit. In ihr manifestiert sich zukünftigen KSZE-Blauhelmeinsätzen für den richti- die unauflösliche Werte- und Schicksalsgemeinschaft gen Schritt zu dieser Zeit, der ausreicht, zwischen den europäischen und den nordamerikani- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Und schen Demokratien. Die Freundschaft und Partner- später?) schaft mit den Vereinigten Staaten bleibt wie die zu halten könnten. Frankreich von prioritärer Bedeutung für die deutsche Außenpolitik. Ich möchte sehr, daß dies weiter gilt. Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Grundsätzlich stimme ich Ihnen darin voll zu, daß, was sowie bei Abgeordneten der SPD) Bundeswehreinsätze im UNO-Bereich anbelangt, Herr Verheugen, Sie haben eine Passage aus einem weniger besser ist als mehr. Über das andere lassen Interview, das ich in den letzten Tagen gegeben habe, Sie uns reden. Ich bin jetzt in meiner ersten Rede nicht angesprochen. Die Passage lautete etwa — ich habe in der Lage, Koalitionsmeinungen und Regierungs- den Wortlaut nicht dabei; deshalb kann ich ihn nur meinungen zu dieser Grundgesetzänderung wieder- sinngemäß wiedergeben —: Es wird leider nicht ganz zugeben. Aber ich darf doch als deutscher Außenmi- ohne Gewehre gehen. Diese Passage hat sich auf die nister meine, wie ich finde, vorsichtig geäußerte geplante Grundgesetzänderung hinsichtlich der Meinung sagen. Ich habe ja nur geglaubt, auf die UNO-Problematik bezogen. vorsichtige Kritik von Herrn Verheugen etwas sagen Mir ist jede kriegerische Handlung persönlich zu sollen. Wir werden uns darüber unterhalten. zutiefst zuwider. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der ten der CDU/CSU) SPD) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ich würde uns allen, auch mir selber, sehr, sehr Anlaß unserer heutigen Debatte zurückkommen. Die herzlich wünschen, daß es nie dazu kommt, daß im Ihnen heute zur Zustimmung vorliegenden Verträge Ernstfall die Bundeswehr mit dem Gewehr in Berei- sind Elemente einer umfassenden europäischen Frie- chen, um die es bei der Änderung des Grundgesetzes densarchitektur, die wir gemeinsam mit unseren geht, zum Einsatz kommt. Aber ich möchte deutlich Partnern und Freunden in der EG, im Atlantischen und klar sagen, daß ich der Auffassung bin, daß es, Bündnis sowie in Mittel- und Osteuropa schaffen nachdem wir uns wohl entschlossen haben, eine wollen. Grundgesetzänderung herbeizuführen, nicht ausrei- Nichts würde unser Bewußtsein um diese europäi- chen würde und wir unserer Verantwortung nicht sche Bedeutung der Verträge deutlicher unterstrei- gerecht werden würden, wenn wir eine so restriktive chen als ein klares zustimmendes Votum aus diesem Fassung des Grundgesetzes fänden, die es im Ernstfall Haus. Um dieses klare zustimmende Votum möchte ich Sie als neuer Außenminister herzlich bitten. bei UNO - Einsätzen und unter den bekannten Kaute- len der UNO-Aufsicht nicht möglich machen würde, Vielen Dank. daß die Bundeswehr letztlich auch mit dem Gewehr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU eingreifen könnte. - sowie bei Abgeordneten der SPD und des Ich persönlich bin der Überzeugung, daß wir der Bündnisses 90/GRÜNE) gewachsenen Verantwortung, die die Bundesrepu- blik auch durch die Wiedervereinigung gewonnen hat Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- — jetzt fassen Sie es bitte richtig auf, nämlich so, wie ten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen ich es sagen möchte , nicht gerecht werden können, liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. wenn wir in Zukunft nur mit der Blume im Gewehr Wir kommen zur Einzelberatung und Schlußabstim- auftreten könnten. Das ist meine Überzeugung. Ich mung über den von der Bundesregierung eingebrach- möchte alles tun, um das in der Praxis zu verhindern, ten Gesetzentwurf zu dem Vertrag mit der Tschechi- möchte aber deutlich sagen — diese Auffassung habe schen und Slowakischen Föderativen Republik über ich bisher auch als Bundesjustizminister vertreten —, gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusam- daß wir eine Grundgesetzänderung brauchen, die menarbeit. Dazu liegen Ihnen die Drucksachen nicht zu restriktiv sein darf. 12/2468 und 12/2612 vor. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zur Abstimmung liegen mir Erklärungen der Kolle- gen Sauer und Jagoda'), der Kollegen Dr. Riedl und Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, Rossmanith **), des Kollegen Dr. Wittmann und 19 gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Voigt? weiterer Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion ***) — Bitte sehr. sowie des Abgeordneten Jäger ****) vor.

*) Anlage 3 Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Bundesmi- **) Anlage 4 nister, weil Ihre Äußerung vorsichtig, aber dadurch in ***) Anlage 5 der Formulierung auch etwas uneindeutig war, ****) Anlage 6 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7651

Vizepräsident Helmuth Becker Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache F.D.P.-Fraktion gestimmt. Ein Großteil der Mitglie- 12/2621, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh- der der SPD-Fraktion hat sich der Stimme enthal- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf ten. zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Meine Damen und Herren, aus den (Zurufe von der CDU/CSU: Eindrucksvoll! — Reihen der CDU/CSU-Fraktion gibt es eine Reihe von Alle von der SPD!) Gegenstimmen. Enthaltungen? — Es gibt keine Ent- — Nein, nicht alle. — Der Entschließungsantrag ist haltungen. Der Gesetzentwurf ist damit angenom- abgelehnt. men. Wir stimmen jetzt über den von der Bundesregie- rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag (Beifall im ganzen Hause) mit der Republik Ungarn über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa ab. Es Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- handelt sich um die Drucksachen 12/2469 und schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und 12/2613. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf der F.D.P. auf Drucksache 12/2624. Dazu liegt mir Drucksache 12/2622, den Gesetzentwurf unverändert eine Erklärung der Abgeordneten Lüder, Schmalz- anzunehmen. Jacobsen, Hirsch, Baum und Starnick vor *). Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- men wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Die — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist ein- Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der stimmig angenommen. Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/2624 angenom- (Beifall im ganzen Hause) men.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/2623. Wer Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf: stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Die Beratung der Beschlußempfehlung und des Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschlie- Berichts der Enquete-Kommission „Aufarbei- ßungsantrag ist abgelehnt. tung der Geschichte und der Folgen der SED- Diktatur" (Zuruf von der SPD: Na? — Karsten D. Voigt a) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, [Frankfurt] [SPD]: Bei zahlreichen Enthaltun- SPD und F.D.P. gen aus der F.D.P.! — Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Herr Präsi- Einsetzung einer Enquete-Kommission „Auf- dent, das steht jetzt sowieso im Protokoll! Sie arbeitung der Geschichte und der Folgen der brauchen es nicht zu wiederholen!) SED-Diktatur" b) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Schwa- — Ich kann gerne hinzufügen: bei zahlreichen, nein, nitz, Markus Meckel, Angelika Barbe, weiterer bei wenigen Stimmenthaltungen aus der Fraktion der Abgeordneter und der Fraktion der SPD F.D.P. Einsetzung einer Enquete-Kommission „Poli- (Heiterkeit im ganzen Hause — Freimut tische Aufarbeitung von Unterdrückung in der Duwe [SPD]: Bei eindrucksvollen Stimment- SBZ/DDR" haltungen! — Hans-Dietrich Genscher c) zu dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/ [F.D.P.]: Bei wesentlichen Stimmenthaltun- GRÜNE gen!) Einsetzung einer Enquete-Kommission „Auf- arbeitung der Geschichte und der Folgen der — Meine Damen und Herren, wenn es da Mißver- SED-Diktatur" und Förderung außerparla- ständnisse gibt, können wir diese schnell klären. Ich mentarischer Initiativen zum gleichen frage noch einmal: Wer enthält sich dazu der Stimme? Thema — Das ist der größere Anteil der Mitglieder der F.D.P.-Fraktion; jedenfalls ist es jetzt von hier aus so zu d) zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea sehen. Lederer, Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Liste kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie- Einsetzung einer Enquete-Kommission „Poli- ßungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Druck- tische Aufarbeitung der DDR-Geschichte" sache 12/2625. Wer stimmt für diesen Entschließungs- antrag? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? e) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, — Für den Antrag haben die Mitglieder der Gruppe Anneliese Augustin, Jürgen Augustinowitz, PDS/Linke Liste gestimmt. Gegen diesen Antrag weiterer Abgeordneter und der Fraktion der haben die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion und der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg van Essen, Heinz-Dieter Hackel, Dirk Hansen, wei- *) Anlage 7 terer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P. 7652 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Vizepräsident Helmuth Becker Aufgaben der Enquete-Kommission „Aufar- Folgen war unser gemeinsames Schicksal. Deshalb beitung der Geschichte und der Folgen der sprechen wir in der Präambel unserer Beschlußemp- SED-Diktatur" fehlung von den gemeinsamen Aufgaben aller Deut- — Drucksachen 12/2230, 12/2152, 12/2220 schen, sich mit dem SED-Staat und seinen Folgen (neu) Buchstabe A, 12/2226, 12/2229, auseinanderzusetzen. Deshalb schlagen wir vor, der 12/2597 — Kommission folgenden Namen zu geben: Aufarbei- tung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur Berichterstattung: in Deutschland. Abgeordnete Dr. Dorothee Wilms Markus Meckel Die Kommission — die vorliegende Beschlußemp- Dirk Hansen fehlung zeigt es Ihnen — hat sich selbst ein sehr Gerd Poppe großes und umfassendes Arbeitsfeld zugewiesen. Dr. Dietmar Keller Erlauben Sie mir, aus der Fülle der Punkte nur zwei Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für anzusprechen, deren Aufnahme in die Beschlußemp- die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. — fehlung wir von der CDU/CSU-Fraktion für unver- Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so zichtbar gehalten haben: beschlossen. Das ist einmal die Frage nach den, wie es in der Ich eröffne die Aussprache und erteile unserer Präambel heißt, Wurzeln des in der SBZ/DDR errich- Kollegin Dr. Dorothee Wilms das Wort. teten diktatorischen Systems. Wir müssen diesen Wurzeln nachgraben, wenn wir die Strukturen und die Strategien der SED-Diktatur, aber auch die Instru- Dr. Dorothee Wilms (CDU/CSU): Herr Präsident! mente, deren sich die SED bediente, um Macht zu Meine Damen und Herren! Unsere tägliche Arbeit begründen, Macht zu rechtfertigen und zu zementie- hier im Deutschen Bundestag ist normalerweise auf ren, begreifen wollen. Gegenwart und Zukunft gerichtet. Die Enquete-Kom- mission soll sich vorwiegend mit der Vergangenheit Es geht hier auch nicht nur um das MfS, die Stasi, und ihren Wirkungen auf die Gegenwart beschäfti- sondern um die, denen die Stasi Schild und Schwert gen. Vergangenheit — so hat es Bundespräsident von war. Die DDR, die zweite Diktatur auf deutschem Weizsäcker einmal formuliert — könne man nicht Boden in diesem Jahrhundert, dieses System des bewältigen; sie lasse sich ja nicht nachträglich ändern sogenannten real existierenden Sozialismus, baute oder ungeschehen machen; wer aber vor der Vergan- auf Fundamenten auf, die eindeutig ideologischer genheit die Augen verschließe, werde blind für die Natur waren. Es mag sein, daß der eine oder andere Gegenwart. auch höhere SED-Funktionär das marxistisch-lenini- Dieses Wort, meine Damen und Herren, war auf die stische Einmaleins nicht mehr bis zur letzten Perfek- Jahre der nationalsozialistischen Diktatur in tion beherrschte oder beherrschen wollte. Aber Tatsa- Deutschland gemünzt. Aber ich finde, es besitzt auch che ist und bleibt, daß mit der Ideologie der Grund-

Gültigkeit, wenn wir auf die Jahre. der SED - Diktatur stein für alles gelegt wurde, was nach 1945 zunächst in in Deutschland blicken. Wir können diese 40 Jahre, der SBZ und dann in der DDR geschah. Deshalb die für ungezählte Deutsche Unrecht und Verfolgung werden und müssen wir uns mit ihr auseinanderset- mit sich brachten, die Leid, Demütigung, Entmündi- zen. Theorie und Praxis können nicht auseinanderge- gung und Entwurzelung bedeuteten, nicht „bewälti- rissen werden. Die Praxis folgte der vorgegebenen gen", weil sie sich ja nicht ungeschehen machen Theorie. lassen. Wir können uns ihnen nur stellen, uns mit ihnen auseinandersetzen, und das wollen und werden Zweitens erscheint es uns unabdingbar, die Aufar- wir in der Enquete-Kommission tun. beitung der DDR-Geschichte in den Rahmen der innerdeutschen Beziehungen und Verbindungen zu Wir tun dies vor allem um jener Deutschen willen, stellen, und zwar nicht nur der Beziehungen der die der SED-Diktatur unterworfen waren und zu deren Regierungen, sondern aller auf allen Ebenen: Welche Opfern wurden und die auf der Schattenseite deut- Rückwirkungen hatten die politischen, wirtschaftli- scher Nachkriegsgeschichte standen. Selbstverständ- chen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen lich können wir das Unrecht, das sie in über 40 Jahren Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutsch- erlitten haben, nicht in allem wiedergutmachen, land und der DDR auf die innere Entwicklung des schon gar nicht im materiellen Sinne, aber wir wollen SED-Staats? Das gleiche gilt auch umgekehrt. Es darf ihnen — so steht es in der Präambel unserer Beschluß- gerade auf diesem Feld, so denke ich, nichts ungeklärt empfehlung — Hilfen bei der Auseinandersetzung mit bleiben, es darf wegen der Menschen im vereinten der Vergangenheit, Hilfen bei der Bewertung eigener Deutschland nichts nachträglich verharmlost werden. und fremder Verantwortung und Schuld geben, Hil- Nur wenn wir so handeln, werden wir der Aufgabe fen, die heilend wirken sollen. Es geht darum, jenen, gerecht, die sich diese Enquete-Kommission setzt, die unter dem SED-Regime leben mußten, etwas nämlich Vertrauen zwischen den Menschen in zurückzugeben, was ihnen der allmächtige Staat Deutschland zu schaffen. brutal zu nehmen versucht hat: Selbstwertgefühl, Ehre, Identität. Lassen Sie mich noch einmal sehr deutlich sagen: Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit geht Letztlich müssen wir uns in all unseren Überlegungen aber alle Deutschen an; täuschen wir uns da nicht! So und in all unseren Projekten und Vorhaben an den ist der Auftrag dieser Kommission ein gesamtdeut- Menschen orientieren. Wir müssen die Menschen als scher Auftrag. Die Teilung Deutschlands mit all ihren Ausgangs- und Zielpunkt nehmen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7653

Dr. Dorothee Wilms Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundes- sion, die wir jetzt hinter uns haben, zu den Verträgen tagsfraktion wird dieser Beschlußempfehlung zustim- gemerkt. men, auch in der Erkenntnis, daß wir manches viel- leicht anders formuliert oder akzentuiert hätten. Aber Ich denke, in der Frage, wie wir mit der Geschichte wir haben uns um der Sache und um der Menschen umgehen, steht die Glaubwürdigkeit von Politik auf willen dem gesetzten Ziel untergeordnet, einen dem Spiel. Wir hoffen, in der Kommission einen gemeinsamen, zwischen uns allen unstrittigen Auf- Beitrag zur Versöhnung in Deutschland leisten zu trag zu formulieren. Ich denke, das ist gut so. können, zur, wie es heißt, Festigung des demokrati- schen Selbstbewußtseins und der Weiterentwicklung Danke schön. einer gemeinsamen politischen Kultur in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. land. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE) Die vorliegende Aufgabenstellung der Kommission ist kein schwacher Kompromiß der ursprünglichen Anträge. Ich denke sagen zu können — jedenfalls bin Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt ich der Meinung —, er ist besser als alle einzelnen unserem Kollegen Markus Meckel das Wort. Anträge, die von uns vorgelegt worden sind, da er die spezifische Aufgabe einer solchen Kommission besser und konzentriert verdeutlicht und gleichzeitig zeigt, Markus Meckel (SPD): Herr Präsident! Verehrte wie wir arbeiten wollen. Wir wollen — und ich denke, Kolleginnen und Kollegen! Als ich vor einem halben darauf sollten wir Wert legen — ein ergebnisorientier- Jahr den Vorschlag für die Einsetzung dieser Kommis- tes, differenziertes Arbeiten. sion machte und wir dann in einer kleinen Gruppe zusammensaßen, um den ersten Antrag dafür zu In dem Antrag steht dann auch, worauf wir als formulieren, als wir dann auch mit Kollegen aus praktische Konsequenzen hinaus wollen. Wir wollen anderen Fraktionen sprachen, glaubte ich nicht, daß Beiträge zur politischen und moralischen Rehabilitie- rung der Opfer und zur Überwindung der diktaturbe- es uns gelingen werde, diese Kommission wirklich einzusetzen. Als wir vor zwei Monaten die Kommis- dingten Schäden leisten. Wir wollen das Aufzeigen sion einsetzten, glaubten viele nicht, daß es uns von Möglichkeiten zur Überwindung fortwirkender gelingen werde, eine gemeinsame, von allen getra- Benachteiligungen in Bildung und Beruf und Beiträge zur Klärung der Problematik von Regierungskrimina- gene Aufgabenstellung zu erarbeiten, die dann auch lität in der DDR geben. noch Qualität hat. Ich denke, wir legen sie Ihnen nun vor, entgegen Der Erhalt, die Sicherung und die Öffnung der den Erwartungen vieler. Ich meine, das ist ein sehr entsprechenden Archive sind uns wichtig, auch die gutes Zeichen dafür, daß sich das deutsche Parlament, Verbesserung der historischen Arbeit an dieser der Deutsche Bundestag, mit großer Ernsthaftigkeit Geschichte. Es wird ganz wesentlich sein, Handlungs- diese Aufgabe vornimmt, um sich die belastete empfehlungen an den Deutschen Bundestag zu geben Geschichte der zweiten deutschen Diktatur dieses im Hinblick auf gesetzgeberische Maßnahmen und Jahrhunderts zum Thema zu machen, nach den Fol- sonstige politische Aktivitäten. Und dann etwas, das gen zu fragen, die sie für die Menschen hatte, und wir ganz gewiß auch im Hinblick auf unsere Naziver- auch danach zu fragen, was das für uns hier im gangenheit als Deutschland auch heute immer noch Deutschen Bundestag heißt. brauchen: Hinweise zur pädagogisch-psychologi- schen Verarbeitung auch der DDR-Vergangenheit. Daß wir Ihnen diese Aufgabenstellung heute vorle- gen, ist ein Zeichen für den Willen zum Konsens, ist Meine Damen und Herren, die Arbeit dieser ein Zeichen dafür, daß wir bereit sind, daß der Enquete-Kommission ist eine besondere gegenüber Deutsche Bundestag bereit ist, sich differenziert auf früheren und anderen Enquete-Kommissionen. Nur die Geschichte einzulassen und sie nicht als Holzham- die Aufgabe des Reichstagsausschusses, der sich wäh- mer zu mißbrauchen, mit dem dann möglicherweise rend der Weimarer Republik zwölf Jahre lang mit den eine Partei auf die andere einschlägt. Ich bin froh Folgen des Ersten Weltkriegs beschäftigt hat, ist mit darüber; denn insbesondere die Menschen im Osten unserer Aufgabe vergleichbar, und auch dieser Auf- Deutschlands erwarten, daß ihre Geschichte und sie trag war im Vergleich zu unserem noch begrenzt. mit ihrer Geschichte ernst genommen werden, daß diese Geschichte differenziert be trachtet wird und Wir werden uns also sehr auf die zentralen Fragen nicht auf Enthüllungsgeschichten reduziert. Deutsch- konzentrieren müssen, dürfen uns nicht verzetteln land braucht eine würdige Beschäftigung mit den und müssen, wie ich denke, mit einer klaren Konzep- Opfern von 45 Jahren Repressionsgeschichte. tion arbeiten. Besondere Aufgaben erfordern beson- dere Methoden und eine entsprechende Ausstattung. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nicht selten Darum wollen wir den Deutschen Bundestag dann hört man angesichts gerade anderen Umgangs mit auch bitten. dieser Geschichte heute schon sagen: Laßt doch die Vergangenheit, wir müssen uns der Zukunft zuwen- Wir haben erste Verabredungen über unsere den. — Ich möchte dagegen betonen: Die Art und Arbeitsweise getroffen: In der ersten Phase haben wir Weise, wie wir mit dieser Vergangenheit umgehen, uns zwei Veranstaltungen vorgenommen, in denen mit ihren Folgen, den Opfern und den Verantwortli- wir im besonderen Kontakt mit der Öffentlichkeit chen, wird sich ganz wesentlich auf unsere Zukunfts- bleiben wollen, mit der Öffentlichkeit im Lande, mit fähigkeit auswirken. Was Geschichte noch nach Jahr- Opfern und mit denen, die sonst noch mit der Aufar- zehnten bedeutet, haben wir gerade in der Diskus- beitung beschäftigt sind. 7654 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Markus Meckel Einmal wollen wir eine Anhörung zu dem Thema Vielen Dank. machen: Was ist politische Aufarbeitung? Hier wollen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der wir das Verhältnis zur juristischen Aufarbeitung klä- F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) ren: Welches Recht galt denn in der DDR, und was sind die Bewertungsmaßstäbe, mit denen wir hier umge- hen, wenn wir konkretes Handeln beurteilen wollen? Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Was ist persönliche Verantwortlichkeit, und was ist Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Dirk Han- durch die Struktur bedingt? Wo sind die Grenzen und sen. die Möglichkeiten juristischer Aufarbeitung, und wo liegt hier unsere Aufgabe? Dieser Frage wollen wir Dirk Hansen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen uns im Gespräch mit anderen stellen. und Herren! Es liegt Ihnen eine Beschlußempfehlung Ferner wollen wir im Gespräch sein mit den Initia- vor, die, wie bereits gesagt wurde, nach intensivstem tiven im Lande, den Dokumentationszentren, Arbeits- Bemühen in der Kommission einstimmig angenom- gruppen und Bürgerinitiativen, die sich das Thema men wurde. Der Text ist kein Kompromiß — das ist der Aufarbeitung zum Ziel setzen. Wir haben kein wohl wahr —, sondern er ist ein Konsens. Er macht Monopol auf Aufarbeitung und wollen es nicht haben. deutlich, wie ernst alle in der Kommission die Aufga- Dies geht nicht; wir können hier nur unseren Beitrag benstellung genommen haben. Wir wollen Wissen leisten. Dies wollen wir im öffentlichen Diskurs und im sammeln, Wissen aufbereiten und Wissen öffentlich Gespräch miteinander tun. nutzen. Aufklärung heißt unsere Aufgabe — und das ohne Tabus. Ferner brauchen wir das Gespräch mit den Opfern, Der Aufgabenkatalog ist lang und umfangreich. wobei in diesem Zusammenhang natürlich dieser Vielleicht erschreckt manche die Vorlage. Wir sind etwas diffuse Begriff genauer auszudifferenzieren ist. uns bewußt, daß in ca. zwei Jahren nicht alle aufge- Die Opfer müssen rehabilitiert werden, und sie bedür- führten Punkte intensiv bearbeitet oder gar dargestellt fen der Hilfe und Förderung. werden können. Der Bericht, vielleicht der vorläufige Teil und der Zwischenbericht im Jahre 1994 werden In knapp zwei Jahren wird wenigstens ein Zwi- Schwerpunkte klarmachen. In den kommenden zwei schenbericht auf dem Tisch liegen müssen. Wir wer- Jahren sind Konzentration und exemplarisches Arbei- den dafür sehr angestrengt arbeiten müssen. Dies ten nötig. erfordert ein ernsthaftes und methodisch reflektiertes Die Arbeit der Enquete-Kommission ist kein Ersatz Herangehen mit einer klaren Konzeption für den für die justitielle Bewältigung oder andererseits auch gesamten Zeitraum, was die Arbeitsweise betrifft. nicht für die wissenschaftliche Bearbeitung der The- Hier steht, wie ich denke, die Seriosität des Unterneh- men. Sie ist Teil einer öffentlichen — um mit Haber- mens auf dem Spiel. Über verschiedene Konzeptionen mas zu reden — ethisch-politischen Selbstverständi- läßt sich streiten. Wichtig ist jedoch, daß wir zu einer gung. Sie will nicht persönliche Schuld vor den Kadi gemeinsamen Konzeption in der Vorgehensweise zitieren. Sie will nicht Rache üben und verteufeln und kommen, zu einer Konzeption, die der Aufgabenstel- auch nicht strafrechtliche oder zivilrechtliche Präju- lung wirklich gerecht wird. dize schaffen. Manche Vorschläge — dies muß ich bekennen — zu Aber sie will vorbehaltlos Akten öffnen, kritisch die unserem Vorgehen, könnten, so denke ich, dazu Vergangenheit vergegenwärtigen, dem Zeitzeugen beitragen, die Seriosität der Arbeit der Enquete der Repression ein Forum bieten — Herr Meckel ist Kommission in Frage zu stellen. Ich meine, ein Pot-- soeben darauf eingegangen, daß wir gerade dazu als pourri von Themen und ein wechselweises Anspre- dem ersten schreiten werden —; sie will die staatli- chen von Themen, die man dann nicht wirklich chen und die gesellschaftlichen Mechanismen von bearbeiten kann, werden die Ernsthaftigkeit unserer Unterdrückung offenbaren, die Chancen von Opposi- Arbeit in der Öffentlichkeit in Frage stellen. Ich hoffe tion und Widerstand belegen, und sie will darauf sehr, daß es uns gelingt, in den nächsten Wochen auch verweisen, wie auch über 40 Jahre vor Abgrenzung in der Frage der Arbeitsweise zu einem gemeinsamen von Mauer hinweg die Deutschen in Ost und West ein Handeln zu kommen, das der Aufgabe gerecht wird. gemeinsames Schicksal erlitten haben. Die neue Ich hoffe, daß es uns gelingt, die Fragen so zu stellen, Benennung der Enquete-Kommission will dies kennt- daß die Menschen erkennen, daß es ihre Fragen sind, lich machen. die hier thematisiert werden, daß es ihre Bedrückun- Die doppelte Vergangenheit, die auch vor dem gen sind, die sie in der Vergangenheit schwer belastet Fragezeichen von Kontinuitäten oder Diskontinuitä- haben und die sie in ihrem Leben mit tragen. ten der Jahre vor 1945 steht — II. 8 etwa —, stand immer unter dem Vorzeichen wechselseitiger Ein- Ich hoffe, daß es uns gelingt, diese Fragen so zu flüsse und Verständigung. Aus ihr entsteht die stellen, daß wir sie auch durch die Art, wie wir sie gemeinsame Zukunft der deutschen Einheit. behandeln, so bearbeiten können, daß dies der Ernst- haftigkeit des Unternehmens gerecht wird. Manche fragen skeptisch, weil dem politischen Alltag und seinen Konflikten zugewandt: Wozu Histo- Meine Damen und Herren, wir haben uns auf einen rie? schweren Weg gemacht, der in der Parlamentsge- In diesem Zusammenhang finde ich es, wohl wis- schichte einzigartig ist. Gehen wir ihn so, daß wir send, daß die Enquete-Kommission eine Kommission anschließend mit Würde und vielleicht auch mit Stolz des Bundestags ist, schade, daß auf der Regierungs- auf diesen Weg zurückblicken können. bank sich nur zwei Vertreter dieser Frage stellen. Um Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7655

Dirk Hansen so dankbarer bin ich, daß eben diese beiden ihr mir gewünscht, daß Vorurteile in der Formulierung Gewicht deutlich machen. von zu bearbeitenden Problemstellungen hier und da (Beifall bei der F.D.P. — Heiterkeit bei der neutralisiert worden wären. Ich hätte mir gewünscht, SPD) der Verflechtung der Geschichte der BRD und der DDR und ihrem internationalen Umfeld und Bezie- Wozu Historie? Mir scheint: Die Erinnerung befreit. hungsgefüge einen größeren Stellenwert zuzumes- Sie macht Zukunft möglich. Sie ist Teil der Versöh- sen. Ich hätte mir auch gewünscht, daß Ursachen und nung. Sie ist Grundlage der Demokratie. Sich erinnern Wirkungen von Identifikationsverhalten von Bürgern heißt Wahrheiten suchen und sagen. Dies schafft der DDR stärker berücksichtigt worden wären. Aber Identität. solche und andere Wünsche haben auch die anderen Die Enquete-Kommission ruft auf: Machen wir uns Mitglieder der Enquete-Kommission in der Diskus- ans Werk! sion aufgeworfen. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Ich habe dem Antrag, der Aufgabenstellung in der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) Kommission zugestimmt. Auch in der Abstimmung hier im Bundestag würde ich zustimmen — wenn die Wahrnehmung eines anderen Termins mich daran Vizepräsident Helmuth Becker: Kollege Dr. Dietmar nicht hindern würde —: weil ich die Hoffnung auf eine Keller ist der nächste Redner. Bitte sehr. objektive Darstellung des Gewesenen — der Ge- schichte der DDR im Positiven und Negativen — ohne Vorbehalte habe; weil ich die bisherige Atmosphäre in (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Dr. Dietmar Keller der Enquete-Kommission für eine gewisse Gewähr dent! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kom- halte, daß sich die Mitglieder um die Suche der mission ist in gewissem Maß ein Experiment. Denn Wahrheit bemüht haben und auch weiterhin bemü- zum ersten Mal in der Geschichte des Deutschen hen werden; weil ich die Hoffnung habe, daß die Bundestags ist ihr Gegenstand ein politisch-histori- Arbeit der Enquete-Kommission zur Versachlichung sches, geistes- und ideologiegeschichtliches Thema, der Diskussion und damit letztendlich auch zur Ver- das seinen Hintergrund in einer unterschiedlichen söhnung beitragen kann, und weil ich noch daran machtpolitischen Entwicklung über fast ein halbes glaube, daß die Kultur des Umgangs miteinander in Jahrhundert deutscher Geschichte hat. Was die Deut- der Enquete-Kommission — und hoffentlich auch die schen nach dem 2. Weltkrieg auf verschiedene Art erreichten und noch vorzulegenden Ergebnisse — zur und Weise mitunter versäumt und vernachlässigt Verbesserung der politischen Kultur in diesem Hause haben, versucht jetzt eine parlamentarische Institu- beitragen kann. tion für die Nachkriegsgeschichte, ohne dabei andere Formen der Aufarbeitung der Geschichte zu vernach- Ich danke. lässigen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Die Enquete-Kommission unterliegt naturgemäß Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der — auch durch ihre Mitglieder — der Gefahr, persön- F.D.P. und des Bündnisses 90/GRÜNE) lich erlebte Geschichte und subjektive Eindrücke und Erlebnisse zur Geschichte zu machen. Wir sollten uns Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und in der Kommission gegenseitig davor warnen. Herren, ich erteile das Wort jetzt unserem Kollegen Deshalb begrüße ich den erreichten Konsens, daß Rainer Eppelmann. die Enquete-Kommission Forschungen und Archiv- studien nicht ersetzen kann und der Wissenschaft Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen nicht vorgreifen will. Die Wissenschaft steht vor einer und Kollegen! Wir erinnern uns sicher: Am 12. März großen Herausforderung und auf dem Prüfstand, dieses Jahres, als der Deutsche Bundestag beschloß, eigene Antworten zu geben. diese Enquete-Kommission einzusetzen, lagen vier Es ist auch zu begrüßen und angenehm, daß das verschiedene Aufgabenbeschreibungen auf dem Wort der Sachverständigen, die vor allem aus der Welt Tisch. Wir haben dann den Auftrag erhalten, bis zum der Wissenschaft kommen, in der Enquete-Kommis- heutigen Tag eine Beschlußempfehlung vorzulegen. sion gehört und ernstgenommen wird. Wir haben diese Aufgabe erfüllt, und zwar — wie die Vorrednerinnen und Vorredner das schon gesagt Die von der Enquete-Kommission hier unterbreitete haben — auf eine, wie ich finde, besondere Art und Aufgabe ist weder die Summe noch der Querschnitt Weise, die mir Mut macht, was die weitere Arbeit der vorliegenden Anträge der Koalition, der SPD, des dieser Enquete-Kommission angeht. Es liegt nur eine Bündnisses 90/GRÜNE oder der PDS/Linke Liste, Beschlußempfehlung vor, der die Mitglieder, die sondern der Versuch eines Konsenses, der in fairem Abgeordneten der Enquete-Kommission einstimmig Umgang miteinander unter weitestgehender Aus- zugestimmt haben. Ich bin besonders dem Abgeord- schaltung parteipolitischer Interessen erstritten neten Dr. Keller dankbar, daß das bis heute anhält. wurde. Danke dafür! Erlauben Sie mir deshalb auch ein Wort in eigener Einhellig haben wir u. a. — ich darf einige Zitate Sache. Die vorliegende Aufgabe entspricht in man- anführen — formuliert: chen Passagen nicht meinen persönlichen Vorstellun- gen. Das wird aber manchen anderen Mitgliedern der Die Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur Enquete-Kommission genauso ergehen. Sie hat auch in Deutschland politisch aufzuarbeiten, ist eine nicht die Zustimmung der Gruppe, der ich angehöre, gemeinsame Aufgabe aller Deutschen. der PDS/Linke Liste, gefunden. Ich persönlich hätte An anderer Stelle heißt es wörtlich: 7656 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Rainer Eppelmann Noch belastet das Erbe der SED-Diktatur das schen sollen erfahren, begreifen und immer wieder Zueinanderfinden der Menschen in Deutschland. mitbekommen: Es geht um ihre 45 letzten Jahre und Die Erfahrungen von Unrecht und Verfolgung, nicht nur um die von einigen ausgesuchten Persön- Demütigung und Entmündigung sind noch lichkeiten. lebendig. Viele Menschen suchen nach Aufklä- Wir wollen möglichst direkt und nah die Beschwer- rung, ringen um Orientierung im Umgang mit nisse und Eindrücke, das Leid der Betroffenen und die eigener und fremder Verantwortung und Schuld; Vorschläge der gleich uns Beschäftigten hören. Wir sie stellen Fragen nach den Wurzeln. wollen politisch analysieren, feststellen, urteilen und Ein weiteres Zitat: bewerten und, so erforderlich, dann praktische Kon- Die eingesetzte Enquete-Kommission ist den sequenzen für das Handeln dieses Hauses vorschla- Menschen in ganz Deutschland verpflichtet, vor gen. allem aber den Deutschen in den neuen Bundes- Wenn uns das wenigstens in Teilbereichen bis zum ländern, die über nahezu sechs Jahrzehnte hin- Frühjahr 1994 gelingen soll, dann sind wir ganz weg diktatorischen Regierungsformen unterwor- gefordert, mit Herz und Verstand, mit dem Willen zur fen waren; ihnen Hilfen bei der Auseinanderset- Gerechtigkeit und der Fähigkeit zum Verständnis und zung mit der Vergangenheit und bei der Bewer- zur Barmherzigkeit, vor allem aber als Ostdeutsche tung persönlicher Verantwortung anzubieten, und Westdeutsche. Denn, wer das noch nicht begrif- betrachtet der Deutsche Bundestag als ein fen hat, das gilt für dieses Haus und für die 80 Millio- wesentliches Anliegen der Kommission. nen Deutschen: Wir gehören zusammen, wir brauchen Der Deutsche Bundestag ist sich der Grenzen einander auch bei dieser Aufgabe. bewußt, die einer politisch-rechtsstaatlichen Auf- Danke schön. arbeitung gezogen sind. Um so wichtiger ist das (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der Bemühen, F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) — heute und auch weiterhin; wir dürfen uns davon nicht abbringen lassen — Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und verletztem Rechtsempfinden durch Offenlegung Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen des Unrechts und Benennung von Verantwort- Gerd Poppe. lichkeiten Genüge zu tun. Zugleich gilt es, einen Beitrag zur Versöhnung in der Gesellschaft zu leisten ... Die Arbeit der Enquete-Kommission Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! hat das Ziel, im Dialog mit der Öffentlichkeit zur Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission Festigung des demokratischen Selbstbewußt- hat ihre Arbeit zu einer Zeit aufgenommen, da viele seins und zur Weiterentwicklung einer gemeinsa- Menschen in Deutschland den Sinn einer öffentlichen

men politischen Kultur in Deutschland beizutra- Auseinandersetzung mit der SED - Diktatur bereits gen. wieder in Frage zu stellen beginnen. Zu diesem Vorrangig sind folgende praktische Konsequenzen beklagenswerten Umstand haben sowohl die Mystifi- ihrer Arbeit anzustreben: zierung des Staatssicherheitsdienstes als auch die zahlreichen neuentstandenen Legenden und aktuel- Beiträge zur politischen und moralischen — len Fehlbewertungen beigetragen. Rehabilitierung der Opfer und zur Überwindung der diktaturbedingten Schäden, Ich nenne noch einmal drei Beispiele dafür. Den Stasiakten könne keine Beweiskraft zugebilligt wer- — Aufzeigen von Möglichkeiten zur Überwin- - den, wird gesagt, der Stasioffizier aber, der sie ange- dung fortwirkender Benachteiligungen in Bil- legt hat, sei ein durchaus ernst zu nehmender Entla- dung und Beruf, stungszeuge. Beiträge zur Klärung der Problematik und — (Beifall bei dem Bündnis 90/GRÜNE, der Regierungs-Kriminalität in der DDR .. . CDU/CSU und der F.D.P.) Es heißt nachher weiter: Das fragwürdige Gespräch mit der Stasi wird nach- Die Arbeitsweise der Enquete-Kommission soll träglich zur einzigen Möglichkeit verklärt, damals u. a. folgende Elemente enthalten: etwas für die Menschen getan haben zu können. Bald, — Gespräche mit Betroffenen und Bürgergrup- so ist zu befürchten, werden sich diejenigen, die von pen vor Ort, dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht haben, — Dialog mit Wissenschaftlern und Initiativen, dafür entschuldigen müssen. die die DDR-Geschichte aufarbeiten, (Beifall bei dem Bündnis 90/GRÜNE sowie — öffentliche Anhörungen und Foren .. . bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Unser Bemühen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird sein, einerseits deutlich zu machen, daß nicht Gern wird auch behauptet, die Stasidiskussion würde alles Leid und Unrecht der 45 Jahre DDR aufgearbei- vom Westen aus forciert, um die letzten bewahrens- tet und zur Kenntnis genommen werden kann. Das werten Reste der DDR niederzumachen. geht leider nicht, zumindest nicht durch uns. Anderer- Genug der Legenden. Richtig ist sicher, daß die seits aber sind wir willens, den Eindruck zu vermitteln, aktuelle Diskussion sehr verkürzt geführt wird, da sie daß es uns um die ungefilterten Erfahrungen der sich überwiegend auf die Stasi bezieht, da immer noch vielen Unbekannten unter uns geht. Die 16 Millionen vor allem von den Helfern und Helfershelfern, wenig Ostdeutschen und die gut 60 Millionen Westdeut von den Hauptverantwortlichen und noch weniger Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7657

Gerd Poppe von den Opfern die Rede ist und da meist von einem Ich danke für die Aufmerksamkeit. rein ostdeutschen Problem ausgegangen wird. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Um diesen Defiziten zu begegnen, ist Aufklärung Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und vonnöten, Aufklärung durch Fakten. Das Ziel muß Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Jürgen eine umfassende Offenlegung der Herrschaftsstruktu- Schmieder das Wort. ren und Repressionsmechanismen in der SED-Dikta- tur sein. Die Enquete-Kommission wäre überfordert, wollte sie dies im Alleingang leisten. Sie kann und soll Dr. Jürgen Schmieder (F.D.P.): Herr Präsident! jedoch den öffentlichen Diskurs, die gesamtgesell- Meine Damen und Herren! Ich habe zu den Mit- schaftliche Auseinandersetzung anregen und fördern. initiatoren dieser Enquete-Kommission gehört, zu- Dies wird nicht den Identitätsverlust der Ostdeutschen mindest auf seiten der Liberalen. Im Prinzip bin ich zur Folge haben, sondern bietet ihnen die Chance, froh, daß wir diese Form der Aufarbeitung der politi- verlorenes Selbstbewußtsein neu zu entwickeln. Um schen Vergangenheit gefunden haben und daß wir das zu erreichen, ist ihnen gegenüber angesichts ihrer diese Form der Aufarbeitung dem Tribunal vorgezo- psychosozialen Situation allerdings ein hohes Maß an gen haben. Sensibilität entgegenzubringen. Ich freue mich, daß wir in der Enquete-Kommission eine einvernehmlich abgestimmte Konsenslösung für Wir müssen uns nicht nur auf exemplarische Weise den Auftrag der Enquete-Kommission gefunden den historischen Eckdaten der DDR-Geschichte haben. Insbesondere diese Konsenslösung spricht zuwenden, sondern auch dem Alltagsleben, den sub- nachhaltig dafür, daß in der Enquete-Kommission tilen Formen der Unterdrückung, den Erscheinungen eine sehr konstruktive, sachorientierte Zusammenar- von Anpassung und Resignation, den Möglichkeiten beit vorherrscht und daß wir in der Kommission einen der Verweigerung und des Widerstandes und dem sehr fairen Umgang miteinander pflegen. Ich beziehe Problem der persönlichen Verantwortung in der Dik- alle ein. Mein Dank richtet sich an die Vertreter der tatur. PDS. Wir müssen — aller Mystifikation zum Trotz — dem (Beifall bei der F.D.P.) öffentlichen Diskurs die z. T. abhanden gekommene Auf Grund dessen, daß wir eine Konsenslösung politische Dimension zurückgeben können. Dazu erzielt haben, spare ich es mir jetzt, auf bestimmte gehört auch, nach dem Fortleben diktatorischer Struk- thematische Inhalte einzugehen. Ich möchte mir turen in der Demokratie zu forschen und die Konse- erlauben, einen Schwerpunkt besonders herauszu- quenzen für die Entwicklung der Demokratie zu stellen: Hier geht es aus meiner Sicht um die vorran- ziehen. gige Rolle der Untersuchung der Bedeutung der Spätestens an dieser Stelle wird klar, daß nicht nur Ideologie im Zusammenhang mit integrativen Fakto- vom Osten zu reden ist; die Menschen im Westen ren und disziplinierenden Praktiken. Es gilt, die Funk- müssen sich endgültig vom überkommenen, bipola- tion und die Instrumentalisierung genau dieser Ideo- ren Denken verabschieden, anstatt etwas mitzubetrei- logie zu untersuchen, eigentlich die Dogmatisierung ben, was kürzlich in einem bemerkenswerten Essay und Verherrlichung zur Wissenschaft. Es geht darum, als „die geistige Wiedererrichtung der DDR" den Stellenwert und den Mißbrauch von Erziehung, beschrieben wurde. Bildung, Kunst, Kultur und Sport sowie den Umgang mit Karriereangeboten und diversen Privilegien zu Meine Damen und Herren, bei all dem dürfen wir untersuchen. Ich bin froh darüber, daß wir in der die Erwartungen, die sich an unsere Arbeit richten, Enquete-Kommission relativ einig waren und genau nicht zu hoch schrauben; die politische Auseinander- diesen Punkt ziemlich weit vorn plaziert haben, denn schafft noch keine Gerech- setzung mit der Diktatur das unterstreicht nachhaltig den Stellenwert, den ich tigkeit. auszudrücken versucht habe. Viele Opfer resignieren angesichts der Schwierig- Die Enquete-Kommission hat sich auf eine Arbeits- keiten der Justiz und der Tatsache, daß sich die Diener weise verständigt, die man eigentlich nur hochgradig des Systems sehr schnell unter den neuen Bedingun- begrüßen kann. Es wird Gespräche geben mit Betrof- gen zurechtfinden, während die Last der Aufarbei- fenen, es wird Gespräche geben mit Bürgergruppen, tung vor allem auf den Opfern selbst liegt. mit Wissenschaftlern und anderen Initiativen, die sich Sich auf die Sicht der Betroffenen, sich auf ihren gleichfalls den Auftrag gestellt haben, die politische sogenannten moralischen Rigorismus einzulassen, Vergangenheit, praktisch die DDR-Geschichte, auf- bedeutet in der Tat, die eigenen ein für allemal zuarbeiten. Natürlich — Vorredner haben es schon gesichert geglaubten Positionen einer erneuten kriti- geschildert — wird es auch öffentliche Anhörungen schen Überprüfung auszusetzen. Sie werden ihr nicht und Foren geben, und die Enquete-Kommission wird in jedem Fall standhalten. Aber davor sollte sich Gutachten und Forschungsarbeiten vergeben. niemand fürchten, ganz im Gegenteil: Je offener die Die Enquete-Kommission ist sich selbstverständlich gesamtdeutsche Debatte geführt, je intensiver die im klaren darüber, daß sie die gesamte Aufgabenstel- ostdeutsche Nachkriegsgeschichte als Folge und lung, die jetzt zur Abstimmung vorliegt, nicht selbst Bestandteil einer gemeinsamen deutschen Ge- erledigen kann. Sie kann im Prinzip nur Anregungen, schichte begriffen wird, um so aussichtsreicher wer- Empfehlungen, Hinweise und Beiträge liefern. Selbst- den die Bemühungen sein, die noch vorhandene Kluft verständlich wird sie am Ende der Legislaturperiode zwischen Ost und West zu überwinden. einen Bericht vorlegen. 7658 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Jürgen Schmieder Die Enquete-Kommission kann selbstverständlich gen und Erkenntnissen der Betroffenen, aber auch der nicht die strafrechtliche Aufarbeitung ersetzen, und Wissenschaftler sowie von denen, die in den Institu- sie kann natürlich auch nicht der historischen For- tionen und Strukturen der SED-Diktatur tätig waren, schung vorgreifen bzw. die historische Forschung Gebrauch machen. ersetzen. Die Enquete-Kommission möchte einen Bei- Forschungsaufträge müssen über den Kreis der trag zur Versöhnung leisten und versteht sich als ein dabei beteiligten Sachverständigen hinausgehen. Sie Instrument zur Aufarbeitung der politischen Vergan- sollten auch längere Zeiträume umfassen können als genheit der Ex-DDR. die zwei Jahre, die uns zugemessen sind. Es geht vor Danke schön. allem um die Verknüpfung von systematischen Frage- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- stellungen mit einzelnen Phasen der Geschichte des ten der CDU/CSU, der SPD und des Bündnis- SED-Staates seit 1945, wie wir dies im Abschnitt III ses 90/GRÜNE) noch einmal deutlich gemacht haben, damit bestimmte Gruppen von Betroffenen in spezifischer Weise herausgearbeitet werden können. Es werden Als letzter Redner in Vizepräsident Helmuth Becker: im großem Umfang — auch darüber sollten wir uns der Debatte hat jetzt das Wort unser Kollege Dr. Hart- keinen Illusionen hingeben — weiße Flecken bleiben, mut Soell. die von der Wissenschaft langfristig sehr viel genauer untersucht werden müssen. Dr. Hartmut Soell (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Ich Damit unsere Arbeit nicht nur an der Oberfläche möchte einige Bemerkungen zu den methodischen kratzt, sondern zu wirkungsvollen Handlungsemp- Problemen unserer Arbeit machen, ohne Wasser in fehlungen kommt, wollen wir unsere Arbeit in einigen den Wein zu gießen. Aber ich meine, daß wir uns Bereichen durch Arbeitsgruppen vorstrukturieren. Es bewußt bleiben sollten, daß wir hier — einige der soll erstens eine Arbeitsgruppe zur Sichtung der Vorredner haben es schon betont — auf einem Archive geben: Wir brauchen bald entsprechende schwierigen Feld zwischen einer Sachstandsenquete Untersuchungen über die Bestände und die Zugangs- und einer Mißstandsenquete befinden. Die meisten möglichkeiten. Erhebliche Bestände sind nach dem Enquete-Kommissionen, die wir bisher hatten, haben 9. November vernichtet worden. Auch darüber müs- sich durch mehr oder minder exakte wissenschaftliche sen wir uns ein Bild verschaffen, und zwar sehr Daten ihre Felder erschließen können, jedenfalls bald. wenn die methodischen Voraussetzungen jeweils Zweitens soll es eine Arbeitsgruppe geben, die sich geklärt waren. mit der Rolle der Stasi und den Akten, die sie Die Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Ge- hinterlassen hat, beschäftigt. Diese Arbeitsgruppe soll schichte und der Folgen der SED-Diktatur" muß sich die Arbeit der gesamten Enquete-Kommission vorbe- bei ihrer Arbeit, selbst wo sie im Konsens stattfindet, reiten, damit diese intensiver verläuft. Wir wissen dessen bewußt sein, daß sie bei der Auswahl der — davon hat der Kollege Poppe gesprochen —, daß Einzelthemen, der Fragestellungen und Methoden, sich die Stasi in Teilen der Öffentlichkeit inzwischen von der Bewertung ganz zu schweigen, weltanschau- als eine Art Mythos darstellt. Es wird nicht leicht sein, liche, also wertbezogene Vorprägungen zu eigen hat, diesen Mythos zu entmythologisieren, ohne die Wir- die immer durch öffentliche Diskussionen kontrolliert kung zu bagatellisieren. werden müssen. Das heißt, die Rückbindung an die Dabei können zwei Erfahrungen helfen. Ich möchte Arbeit der Foren, der Initiativen der Gruppen der hier einmal aus dem Nähkörbchen des Historischen Betroffenen muß immer wieder stattfinden. - Seminars plaudern. In jedem einzelnen Fall müssen Wir sollten uns auch nicht der Illusion hingeben, daß die kritischen Fragen, die mit „W" beginnen, gestellt wir hier gewissermaßen Objektivitätsgrade errei- und so umfassend wie möglich beantwortet werden: chen, die ja — jedenfalls nach dem ideologischen Wer hat was wie wann wo zu welchem Zweck Ende derer, die meinten, sie hätten die Geschichte gemacht? — Dabei wissen wir, daß es schon in und dadurch auch die historische Objektivität für sich rechtsstaatlichen, also sogenannten normalen Syste- gepachtet — für uns eigentlich überwunden sein men irreführend ist, wenn man nur auf eine Quellen- sollten. Es geht wesentlich um intersubjektive Ver- gruppe vertraut. Es kommt wirklich darauf an, weitere ständigung, die immer von neuem erfolgen soll. Wir schriftliche Quellen hinzuzuziehen sowie Beteiligte sind weder Oberrichter im strafrechtlichen noch im anzuhören und zu fragen, in welcher Rolle, Funktion politisch-moralischen Sinne. und Verantwortlichkeit sie sich befanden. Bei dieser Gratwanderung gibt es natürlich noch Eine zweite sehr persönliche Erfahrung: Wer wie ich eine weitere Möglichkeit, zu straucheln und abzustür- mit Polizeiakten, Ermittlungsakten, Aussagen von zen. Angesichts der Themenfülle können Erwartun- Spitzeln und Informanten in autoritären und totalitä- gen bei uns wie bei anderen ausgelöst werden, die wir ren Systemen einigermaßen Bescheid weiß — wenn in keiner Weise erfüllen können. Deshalb die stets zu auch nicht unbedingt umfassend; bei der Beschäfti- beachtende Einschränkung, die wir uns selber auf er- gung mit der Stasi gewinnen wir immer neue Erkennt- legt haben, nämlich daß wir historische Forschung nisse —, muß feststellen, daß diese Akten in der Regel weder vorwegnehmen noch gar ersetzen können. sehr, sehr viel mehr über die Verfasser dieser Berichte Zu den Konsequenzen unserer Arbeit, insbesondere und Akten, über die Mechanismen der Institutionen, den Handlungsempfehlungen, hat der Kollege in denen sie tätig sind, insbesondere auch über die Meckel schon einiges gesagt. Wir müssen während Hierarchien und Verantwortlichkeiten Auskunft ge- der Arbeit in erheblichem Umfang von den Erfahrun ben, als eine wahrheitsgemäße Darstellung von Tat- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7659

Dr. Hartmut Soell sacken enthalten. Sie sind zunächst allenfalls Indizien es rational keine Möglichkeit, den Biographien von dafür, daß Vernehmungen, Berichterstattungen und Menschen gerecht zu werden, die sich hier einstmals Denunziationen überhaupt stattgefunden haben. engagiert hatten" . — So steht es in der „Jungen Welt" Nur wenn wir mit solcher kritischen Sonde an die vom 6. Mai dieses Jahres. Stasi herangehen, die sich von außen angesichts ihres Das alles ist im Beschlußentwurf nicht enthalten. Perfektionsdrangs zunächst als eine sehr deutsche Zugleich gibt es zweifellos moderatere Töne als in den Mischung von Terrorinstrument auf der einen Seite ursprünglichen Vorlagen. Die Vokabel vom Unrechts- und wahnhaftem Zirkel auf der anderen Seite dar- staat kehrt nicht wieder. Am schlimmsten ist für mich stellt, können wir dazu beitragen, die Stasi zu ent- die Formel von „nahezu sechs Jahrzehnten diktarori- mythologisieren, ohne ihre fatalen Wirkungen zu scher Regierungsform" im Osten Deutschlands. bagatellisieren. Nur so wird es uns gelingen, die SED (Dirk Hansen [F.D.P.]: Das ist die Wahr und ihre Führung als die Hauptverantwortlichen der heit!) linken Variante totalitärer Versuchung in der jüngsten deutschen Geschichte zu entlegitimieren und so zur Diese Formel setzt den gescheiterten Sozialismusver- Bildung eines demokratischen Selbstbewußtseins such in der DDR Nazideutschland — wie auch immer beizutragen. Das ist neben der Beseitigung des verschleiert — gleich. Unrechts — soweit dies irgend möglich ist — eine der (Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: Hauptaufgaben dieser Kommission. Ich wünsche uns Quatsch! Unverbesserlich!) eine erfolgreiche Arbeit. Ungenügende Abrechnung mit dem Nazi-Faschis- Schönen Dank für das Zuhören. mus wird jetzt gutgemacht durch eine Abrechnung (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der mit den Sozialisten in der DDR. F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) Zweitens geht es mir auch um die Interessen, Wünsche, Hoffnungen und die Verzweiflung meiner Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Wähler und Anhänger in Ostdeutschland. Dort ver- Herren, bevor wir jetzt zur Abstimmung kommen, schärft sich die ökonomische und soziale Krise, gibt es hören wir zwei Erklärungen zur Abstimmung gemäß Massenarbeitslosigkeit, Abwicklung und Demüti- § 31 der Geschäftsordnung. gung von Hunderttausenden. Die Konflikte zwischen Zunächst hat zu einer Erklärung zur Abstimmung Ost und West spitzen sich zu. Viele Menschen ver- unser Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort. zweifeln am Sinn ihres Lebens. Verurteilung und Abstrafung erscheint als notwendige Konsequenz gegenüber schuldig gewordenen Handlangern einer Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Diktatur. dent! Meine Damen und Herren! Ich halte eine Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten für not- Der Kampf gegen Vereinigungsunrecht schöpft wendig, da das Mitglied meiner Gruppe und unser seine Kraft auch aus der eigenen Identität. Wer mit Vertreter in der Enquete-Kommission Dietmar Keller Scham und Schuldgefühl auf seine eigene Geschichte dem Beschlußvorschlag zugestimmt hat. Er trägt zurückblickt, der vermag auch nicht zu kämpfen. Es damit unseren Gruppenantrag nicht mehr. hilft auch nicht Trotz und Starrsinn. Es hilft nur wirkliche Trauerarbeit, die aber nicht im Geiste der Ich kannte Dietmar Keller bis 1990 nicht persönlich. Rache, des Siegesbewußtseins von außen geleistet Seitdem, seit über zwei Jahren, waren wir Seite an werden kann. Seite in den komplizierten Tagen der letzten Volks- (Dirk Hansen [F.D.P.]: Fangen Sie damit kammer und dann im Bundestag. Mich hat seine - Entscheidung schwer getroffen. an!) Für mich gibt es nicht nach wie vor vor allem zwei hat in einem Artikel gegen die Gründe, an meiner Ablehnung der Aufgabenstellung „Aufholjagd des Ostens" — „Frankfurter Rundschau" der Kommission festzuhalten, wie ich sie mit meiner vom 27. März 1992 — eine Identität des Ostens ein- Rede am 13. März deutlich gemacht habe. gefordert. Diese Identität kann ohne ein Annehmen Erstens wird mit dieser Aufgabenstellung histori- der Geschichte in ihrem ganzen Umfang, der Hoffnun- sche Gerechtigkeit verhindert. Wie schwer sie zu gen, der Kämpfe, der Schuld und des Unrechts nicht erlangen ist, wissen wir alle. Dieser Beschluß aber läßt erlangt werden. Sie zeigt sich heute auch in der zu vieles weg, als daß er ein Wegweiser für historische Verteidigung Manfred Stolpes, im Auftreten von Peter Gerechtigkeit sein könnte. Michael Diestel und anderer CDU-Abgeordneter Brandenburgs, die erklären: Ich war Ostdeutscher, ich Wir hatten in unserem Antrag gefordert, zugleich werde es immer sein. mit der Auseinandersetzung mit vielfältigen Unter- drückungsmechanismen zu beachten, daß es in der Ich werde in zwei Monaten 65 Jahre. Ich hatte und DDR auch Leistungen und Werte gab, die die Zustim- habe keinen politischen Ehrgeiz. Ich sehe es nur noch mung vieler Bürgerinnen und Bürger fanden. Die DDR als meine Aufgabe an, die Interessen derer zum war Staat und Gesellschaft. Wir sehen in der DDR Ausdruck zu bringen, die es mit diesem ungeheuren einen legitimen Versuch — wenn auch gescheitert —, -Umbruch in Ost-Deutschland schwerhaben, der MZ zu den aggressiven und antidemokratischen Traditio- Arbeiter in Zschopau, ebenso der Wissenschaftler der nen in Deutschland eine Alternative zu schaffen. Karl-Marx-Universität in Leipzig, meiner Wissen- Rudolf Bahro schrieb kürzlich: „Wenn die Schlacht schaftlerkollegen in Berlin, der vielen Rentner, die mit von Stalingrad und was dahin geführt hat, sozusagen Rentenbestrafung und dem Sinnverlust nicht fertig keine historische Legitimität konstitutiert, dann gibt werden, derer, die im demokratischen Sozialismus 7660 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Ber lin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Uwe-Jens Heuer immer noch eine Alterantive zum Kapitalismus sondern es muß auch einbezogen werden, daß insbe- sehen. sondere nach 1945 das Ziel einer sozialistischen (Zurufe von der CDU/CSU) Gesellschaft für viele Menschen eben eine gesell- schaftliche Alternative zum Kapitalismus darstellte. In der Beschlußvorlage ist davon die Rede, daß es gelte, „einen Beitrag zur Versöhnung in der Gesell- Viertens. Meines Erachtens müssen gerade auch schaft zu leisten" . Ich habe die Hoffnung noch nicht die innenpolitischen Entscheidungen in der Bundes- verloren, daß es auch in diesem Hause eine Möglich- republik Deutschland (alt) eine größere Rolle spielen, keit gemeinsamer Arbeit gibt. weil sie sich eben auch auf die innenpolitische Ent- wicklung der ehemaligen DDR konkret ausgewirkt (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Ihnen nicht!) haben. So war z. B. das System der ehemaligen DDR zu keiner Zeit so repressiv wie in der Zeit der Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und wirtschaftlichen Blockade und der Nichtanerkennung Herren, jetzt hat das Wort zu einer Erklärung Frau der ehemaligen DDR durch die BRD. Kollegin Andrea Lederer. (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ CSU]: Das ist doch Unsinn! Das ist absoluter Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Unsinn!) Meine Damen und Herren! Vorab: Ich habe keinerlei Das muß ebenfalls einbezogen werden. Das läßt sich Veranlassung, mich von meinem Kollegen Dietmar auch ohne Probleme nachweisen. Keller zu distanzieren. Ich bin sehr froh, daß er in der Ich setze sehr auf die Wissenschaftler in dieser Enquete-Kommission mitarbeitet, und betone, daß ich Kommission. Aber aus den genannten Gründen werde als Westlerin sehr, sehr viel gerade von ihm über die ich heute der Beschlußempfehlung nicht zustim- DDR gelernt und erfahren habe. men. Dennoch möchte ich ganz kurz begründen, warum Ich danke für die Aufmerksamkeit. auch ich der Beschlußempfehlung nicht zustimmen werde. Für mich hat dies vier inhaltliche Gründe, die (Beifall bei der PDS/Linke Liste) in meinen Augen zu einer politischen Schieflage in der Aufgabenstellung führen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Erstens. Die Einleitung enthält eine Reihe von Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über die bewertenden Feststellungen, die, wenn überhaupt, Beschlußempfehlung der Enquete-Kommission „Auf- doch nur das Ergebnis der Untersuchung sein können. arbeitung der Geschichte und der Folgen der SED- Eine Vorwegnahme erschwert in meinen Augen eine Diktatur", Drucksache 12/2597. Wer stimmt für diese wirklich offene Untersuchung. Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung Zweitens. Für fatal halte ich auf jeden Fall die bei vier Gegenstimmen der PDS/Linke Liste und einer indirekte Gleichstellung des deutschen Faschismus Enthaltung aus den Reihen der SPD angenommen. mit dem gesellschaftlichen System der ehemaligen DDR. Diese spiegelt sich in der bereits zitierten Ich möchte Sie noch über folgendes unterrichten: Formulierung wider, wonach die Menschen in den Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 neuen Bundesländern „nahezu sechs Jahrzehnte lang des Grundgesetzes scheidet der Kollege Rudolf Kraus diktatorischen Regierungsformen unterworfen" wa- als stellvertretendes Mitglied aus. Die Fraktion der ren, wobei z. B. die demokratischen Ansätze in der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Kollegen DDR unmittelbar nach 1945 einfach unterschlagen Eduard Oswald vor. Sind Sie damit einverstanden? — wurden. Diese Gleichstellung bedeutet, daß die Sin- Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Damit ist der gularität des Faschismus bestritten und damit an die Kollege Eduard Oswald als stellvertretendes Mitglied unsägliche sogenannte Historikerdebatte angeknüpft im Vermittlungsausschuß bestimmt. wird. Drittens. Versöhnung erfordert Differenzierung. Es Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 5 auf: trägt eben gerade nicht zu einer wirklichen Erkennt- Aktuelle Stunde nis über die ehemalige DDR bei, sondern verzerrt von Wirtschaftliche Lage der Frauen in den neuen vornherein, wenn schon durch die Fragestellung aus- Ländern schließlich Negativerscheinungen dieses Systems Gegenstand der Untersuchung sein sollen. Das hat Die Fraktion der SPD hat eine Aktuelle Stunde zu überhaupt nichts mit DDR-Nostalgie zu tun, sondern dem genannten Thema verlangt. das ist gerade eine Erfahrung, die ich wiederum als Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Westlerin bei vielen Reisen in den neuen Bundeslän- unserer Frau Kollegin Ulla Schmidt das Wort. dern gemacht habe. Das DDR-System beruhte eben auch oft auf zumin- Ursula Schmidt (Aachen) (SPD): Herr Präsident! dest partieller Zustimmung, z. B. wegen der sozialen Meine Damen und Herren! Wir von der SPD haben und materiellen Sicherung von Frauen, wegen eines diese Aktuelle Stunde zur wirtschaftlichen Lage der wesentlich geringeren Einkommensgefälles als in der Frauen in den neuen Bundesländern beantragt, um BRD. Zur Lebenswirklichkeit gehörte auch das. Des- auf die katastrophale Situation aufmerksam zu halb gehört das auch zur Aufgabenstellung der Kom- machen und um die Regierung — ich bedaure sehr, mission. Es kann eben nicht nur um die „Offenlegung daß sie nicht anwesend ist — zu unverzüglichem des Unrechts und um die Benennung von Verantwort- Handeln aufzufordern. Ein politischer Anfang ist mehr lichkeit" gehen, wobei das natürlich auch Aufgabe ist, als überfällig; denn wir halten es für politisch unver- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7661

Ursula Schmidt (Aachen) antwortlich, weiterhin auf die Selbstheilungskräfte nisse und sind praktisch eine andere Form der Warte- der Wirtschaft zu setzen. schleife, die den Beginn der vorhersehbaren Dauerar- Den Ausspruch von Bundeskanzler Kohl im Ohr, beitslosigkeit zeitlich etwas hinauszögert. niemandem würde es nach der Vereinigung schlech- Für die Frauen in der ehemaligen DDR war es ter als zu DDR-Zeiten gehen, frage ich mich, an wen er selbstverständlich, einer Erwerbsbeschäftigung nach- dabei gedacht haben mag. Für Frauen gilt diese zugehen. 94 % standen im Arbeitsleben und haben schöngefärbte Einschätzung auch nicht im entfernte- Beruf und Familie miteinander vereinbart. sten; sie gehören zu den klaren Verliererinnen der deutschen Einheit. (Zuruf von der CDU/CSU: Vereinbaren müs sen!) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE) Den offiziellen Verlautbarungen zufolge schwankt heute die Frauenarbeitslosigkeit zwischen 55 % in Wer trägt außer dem richtlinienbestimmenden Bun- Mecklenburg-Vorpommern und 62 % in Sachsen. deskanzler für die wirtschaftlichen Belange der Diese Zahlen, so dramatisch sie sind, verschlimmern die Verantwortung? Ist Frauen in den neuen Ländern sich aktuell immer stärker. Ich selber habe in den es Wirtschaftsminister Möllemann mit dem direkten ländlichen Gebieten von Mecklenburg-Vorpommern Bezug zur Treuhand? Ist es Bundesminister Blüm, in Gegenden besucht, wo die Frauenarbeitslosigkeit bei dessen Kompetenz Arbeitsmarkt und Arbeitsförde- fast 100 % liegt. rung, Umschulung und Arbeitslosigkeit fallen? Beiden ist zweifelsohne eine Zuständigkeit anzulasten. Die Ist dieser Regierung eigentlich bewußt, zu welchen Hauptzuständigkeit aber liegt bei Frauenministerin Verzweiflungstaten sich Frauen gezwungen sehen, , die noch dazu als gewählte Politikerin nur um einen Arbeitsplatz zu bekommen? Immer aus einem der neuen Bundesländer die Lebenssitua- mehr junge Frauen lassen sich sterilisieren. Die vom tion der Frauen vor und nach der Vereinigung aus Arzt bescheinigte Sterilisation macht die Bewerbung eigener Anschauung am besten kennen sollte und aussichtsreicher, wie ihnen von Arbeitgebern gesagt daher wie kein anderes Mitglied der Bundesregierung werden soll. Die Gleichstellungsbeauftragte von Mag- dafür prädestiniert ist, den unverantwortlichen Fehl- deburg hat mir diese Ungeheuerlichkeit erst heute in entwicklungen entgegenzuwirken. Auf sie als Hoff- einem persönlichen Gespräch bestätigt. Während es nungsträgerin haben viele Frauen im östlichen Teil im Jahre 1989 an der Medizinischen Akademie Mag- Deutschlands vertraut und sehen sich jetzt zutiefst deburg nur acht Sterilisationen bei Frauen gab, waren enttäuscht. es im Jahre 1991 in dieser einen Klinik bereits 1200 (Detlev von Larcher [SPD]: Sehr richtig!) Frauen — die meisten unter 30 Jahren —, die diesen hohen Preis, für immer auf Kinder zu verzichten, Wenn Frau Bundesministerin Merkel anwesend zahlen, nur um sich um einen Arbeitsplatz bewerben wäre, würde ich sie fragen, was sie bis heute unter- zu können. In benachbarten Städten verhielt es sich nommen hat. Konnte sie den verzweifelten Frauen im ähnlich. Erkundigen Sie sich bitte in Stendal, in Osten Deutschlands die Zukunftsängste nehmen? Dessau und wie die Städte heißen. (Detlev von Larcher [SPD]: Nein!) Ich habe in den letzten Tagen in den Presseverlaut- Hat sie den Versuch gestartet, für Millionen bereits barungen von Unionskolleginnen und -kollegen viele arbeitslose sowie die in der Vorarbeitslosigkeit ste- Worte zum Schutz des werdenden Lebens gehört. Ich henden Frauen — etwas anderes ist die Arbeitsbe- wünschte mir, daß genau aus diesem Kreis die Prote- schaffungs- und Umschulungsmaßnahme für Frauen ste dagegen mitgeführt würden, daß Frauen im Kampf nicht — auch nur die kleinste Perspektive aufzuzei- - ums wirtschaftliche Überleben gezwungen werden, gen? Ich behaupte: nein. Ich selbst habe von 35jähri- für immer auf Mutterschaft zu verzichten. gen Frauen hören müssen, daß sie für berufliche (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Qualfizierungsmaßnahmen zu alt seien und daß in dem Bündnis 90/GRÜNE) Anbetracht der horrenden Arbeitslosigkeit nicht die geringste Chance bestünde, in einem neu erlernten Hier feiert der Hochkapitalismus des 19. Jahrhun- Beruf einen Arbeitsplatz zu finden. derts späte Triumphe, wobei mir unter den zahlrei- Ich würde Frau Ministerin Merkel fragen, ob es sie chen Entgleisungen jener Zeit kein Fall bekanntge- unbeeindruckt läßt, wenn sich Frauen, die jünger als worden ist, daß jemals eine solche Bewirtschaftung sie selbst sind, zu einer verlorenen Generation zählen. des weiblichen Körpers vorgekommen wäre. Ich sage, Mich läßt das nicht unberührt. liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich gehe davon aus, daß es niemanden in diesem Saal gleichgültig sein (Beifall bei SPD, der PDS/Linke Liste und oder unberührt lassen kann, wenn die Bescheinigung dem Bündnis 90/GRÜNE) über Sterilisation als Eintrittskarte zum Arbeitsplatz Frau Ministerin hat gefordert, die Frauen müßten gilt. entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosenquote (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ an ABM und Umschulungsmaßnahmen beteiligt wer- Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE) den. Das ist richtig und gut. Aber sie muß wissen — wir alle müssen das wissen —, daß gerade diese Arbeits- Selbst wenn viele dieser Vorwürfe sich im einzelnen beschaffungsmaßnahmen für Frauen mehr als frag- nicht beweisen lassen, schlimm genug ist doch, daß würdig sind. Sie sind vom Ansatz her widersinnig. Sie eine Situation in den neuen Ländern vorherrscht, daß sind oft nicht effektiv; denn sie münden in der über- Frauen glauben, nur dann, wenn sie für immer auf ein wiegenden Mehrzahl nicht in Dauerarbeitsverhält- Kind und auf das Gebären verzichten, hätten sie eine 7662 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Ursula Schmidt (Aachen) Chance auf einen Arbeitsplatz und damit auf eine hinterher. Flankierende sozialpolitische Maßnahmen Sicherung der eigenen Existenz. sind notwendig, um Härten zu entschärfen. Mit einem Anteil von 60 % sind Frauen überdurch- Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin schnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Wir haben Schmidt, Ihre Redezeit ist abgelaufen. dies bereits in der letzten Sitzungswoche ausführlich diskutiert. Ich habe dabei auf Bemühungen hingewie- Ursula Schmidt (Aachen) (SPD): Ich komme zum sen, den mit knapp 40 % noch zu geringen Frauen- Schluß. Bedenken wir weiter: Frauenarbeitslosigkeit, anteil an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu erhö- Dauerarbeitslosigkeit endet in der Sozialhilfe. Wir hen. Ebenso wurde deutlich, daß der über 60prozen- können es nicht zulassen, daß wir die weibliche tige Frauenanteil an Fortbildungs - und Umschu- Bevölkerung in den neuen Bundesländern zu einem lungsprogrammen erfreulich hoch ist. Volk von Sozialhilfeempfängern machen. Wir müssen daran denken, daß die Perspektivlosigkeit die Gewalt Strukturelle Benachteiligungen von Frauen in der in den Familien und auch die Gewalt außerhalb ehemaligen DDR wirken sich auch heute noch ungün- fördert. Das wird in allen Gesprächen, die wir führen, stig auf ihre wirtschaftliche Situation aus. Typische immer wieder berichtet. Frauenberufe wurden schlechter bezahlt. Wir dürfen nicht verkennen, daß diese Hoffnungs- (Zuruf von der SPD: Es gibt keine typischen losigkeit Menschen auch dahin treibt, daß sie leicht Frauenberufe!) ein offenes Ohr für den Rechtsradikalismus bekom- men. Im Durchschnitt hatten Frauen ein Drittel weniger in ihrer Lohntüte als Männer. Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Hausfrauenarbeit wurde materiell ungenügend Schmidt, ich muß Sie bitten, Ihre Rede zu beenden. gewürdigt, und führende Positionen in Wirtschaft und Verwaltung waren in der Regel mit Männern besetzt. Ursula Schmidt (Aachen) (SPD): Gehen wir alle Frauen blieben auch da außen vor. Auch das ist sicher gemeinsam daran, diese Probleme zu lösen. Wir ein Grund dafür, daß Frauen die ersten sind, die werden dabei die Regierung unterstützen. entlassen werden, und die letzten sind, die man Vielen Dank. wieder einstellt. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Mit diesen strukturellen Nachteilen sind die Frauen dem Bündnis 90/GRÜNE) in den alten und neuen Bundesländern auch heute noch konfrontiert. Trotzdem: Es ist sichtbar, daß bei Vizepräsident Helmuth Becker: Liebe Kolleginnen, allen Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt positive liebe Kollegen, wir befinden uns in einer Aktuellen Akzente für Frauen gesetzt werden konnten. Stunde. Unsere Geschäftsordnung sagt: Redebeiträge (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wo?) bis zu fünf Minuten. Ich bitte, das wirklich zu beach- ten. Die Präsidenten hier oben haben keine andere Unbestritten stellt sich für einige Frauen die wirt- Wahl, als nach fünf Minuten zu unterbrechen. schaftliche Situation als schwierig dar. Ich denke z. B. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aber daß an Alleinerziehende. Nur, ich glaube, daß sich im sie die Regierung unterstützen will, mußte allgemeinen, aber insbesondere in der Familie, die gesagt werden! — Heiterkeit) materielle Situation von Männern und Frauen nicht gravierend unterscheidet. Als nächste Rednerin hat das Wort unsere Kollegin Claudia Nolte. Von „Verliererinnen der Einheit" zu sprechen halte ich in keiner Weise für gerechtfertigt. Wir können Claudia Nolte (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr auch das, was wir durch die Wiedervereinigung geehrte Kolleginnen und Kollegen! In dieser Aktuel- gewonnen haben, nicht allein in D-Mark bewerten. len Stunde soll die wirtschaftliche Situation von Frauen in den neuen Bundesländern beleuchtet wer- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Dagmar den. Bei der Be trachtung sind mir zwei Seiten wich- Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Darum geht tig. es doch überhaupt nicht!) Zum einen muß man die wirtschaftliche Entwick- — Wenn Sie die Wirtschaft meinen, geht es schon lung in den neuen Bundesländern und die Auswirkun- irgendwie darum. — Auch für Frauen brachte der gen auf die Menschen sehen. Andererseits bestehen Einigungsprozeß kurzfristige und weitreichende Ver- strukturelle Nachteile für Frauen unabhängig von Ost änderungen in der Ausdehnung persönlicher und oder West. politischer Freiheiten, insbesondere was Meinungs- Wer die wirtschaftliche Situation in den neuen pluralismus, materielle Wahlmöglichkeiten und Mo- Bundesländern bewertet, muß wissen, daß wir heute bilität angeht. Wer den freiheitlich-demokratischen die Suppe auslöffeln, die uns die SED eingebrockt Rechtsstaat ablehnt, muß sich als Verlierer der deut- hat. schen Einheit fühlen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Meine sehr geehrten Damen und Herren, 40 Jahre ordneten der F.D.P.) lang wurde in der ehemaligen DDR alles schöngere- Die Wirtschaftskraft in den neuen Bundesländern det. Die größten Mikrochips der Welt wurden als hinkt noch weit hinter der in der alten Bundesrepublik Erfolg verkauft. Aber in dem Maße, in dem früher alles Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7663

Claudia Nolte bis zum Überdruß verschönert wurde, wird heute um das 50. Lebensjahr. Wir dürfen nicht Hoffnungslo- übermäßig schwarzgemalt. sigkeit verbreiten, es gilt vielmehr, neue Lösungs- (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der wege zu finden, die durch den effektiven Einsatz der SPD) bereitgestellten Finanzmittel mehr Frauen in Arbeit bringen. Die Realität ist nicht schwarz-weiß. Zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern Im Rahmen der Maßnahmen der Bundesanstalt für sind der Meinung, es geht ihnen heute besser als vor Arbeit sollten Umschulung und Fortbildung ein noch der Wiedervereinigung. Sicherlich sind noch große größeres Gewicht erhalten. Anstrengungen erforderlich, aber die Lage ist tatsäch- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die fallen lich besser, als sie beschrieben wird. Daran, daß es doch weg, wenn die 6 Milliarden DM Bun aufwärts ging, haben Frauen einen großen Anteil. deszuschuß wegfallen!) Zu einem Drittel sind es Frauen, die öffentliche Die Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen Existenzgründerprogramme nutzen. Allein im ersten müssen noch gezielter auf Berufe orientiert werden, Quartal hat der Bund so etwa 700 Millionen DM für die einen dauerhaften Arbeitsplatz garantieren. Unternehmerinnen bewilligt. Über 40 % aller Unter- nehmungsgründungen in den neuen Bundesländern (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) geschehen durch Frauen. Es ist gut, daß Frauen mit Ich denke dabei insbesondere an Berufe wie Verkäu- ihrem Engagement zur Verbesserung der wirtschaft- ferin oder Kellnerin — hier möchte ich die Treuhand- lichen Situation in den neuen Bundesländern und zum anstalt bitten, die notwendige schnellst mögliche Aufschwung beitragen. Darin sind sie verstärkt zu Privatisierung der ehemaligen FDGB-Heime zu unterstützen und zu ermutigen. garantieren — oder Tätigkeiten im verwaltungstech- Danke. nischen Bereich wie beispielsweise in den Grund- buchämtern, wo Frauen eine sehr gute und wichtige (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Arbeit leisten könnten. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Thema ver- fehlt! Setzen!) ABM-Stellen sollten vorwiegend im sozialen und sozialpädagogischen Bereich genehmigt werden,

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat Frau Abge- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die streicht ordnete Dr. Eva Pohl. der Herr Waigel!) in dem die größte Gewähr gegeben ist, daß dauerhaft Arbeitsplätze entstehen. Ich denke hierbei beispiels- Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Sehr verehrter Herr Präsi- weise an Erziehungsberatungsstellen, die meines dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wohl Erachtens zwingend erforderlich sind, um Eltern und niemand in diesem Hohen Hause bestreitet, daß Kindern und insbesondere unseren Jugendlichen Rat die Frauen in den neuen Bundesländern die eigentli- und Hilfe angedeihen zu lassen. Viele Jugendliche chen Verliererinnen des wirtschaftlichen Umbruches sind in Gefahr, die Orientierung zu verlieren oder sind. haben sie bereits verloren. Das bereitet den Boden für (Zustimmung von der SPD) Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus, die es zu Wohl kaum jemand zieht in Zweifel, daß die Frauen in verhindern gilt. Ostdeutschland engagierte Frauen mit einer soliden Ich denke aber auch an ABM-Stellen im kommuna- beruflichen Ausbildung sind. Als Berufsgruppe sei das len Bereich, mittlere medizinische Personal genannt. Dennoch, - rund eine dreiviertel Million der Frauen in Ost- (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Die will der Waigel auch streichen!) deutschland sind derzeitig arbeitslos. Der Frauen- anteil an der Gesamtarbeitslosigkeit beträgt etwa z. B. in Wohngeldstellen. Denn die Kommunen sind 65 %. Die Ursache, das sozialistische Wirtschaftssy- derzeit nicht in der Lage, stem, ist hinlänglich bekannt. Die Gründe für den (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wer streicht Wai hohen Frauenanteil sind vielschichtig, etwa der gel!) Zusammenbruch ganzer Berufszweige, in denen fast ausschließlich Frauen beschäftigt waren, beispiels- die Kosten im dafür notwendigen Umfang aufzubrin- weise die Bekleidungsindustrie. Zudem streben Män- gen. ner in typische Frauenberufe, etwa im Versicherungs- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Dann sagen wesen, im Finanzwesen. Diese Tatsachen müssen wir Sie Herrn Waigel, er soll wieder 6 Milliarden zur Kenntnis nehmen. Unsere politische Aufgabe aber DM einstellen!) ist es, für diese Frauen Perspektiven zu eröffnen, damit sie wieder Eingang in das Berufsleben fin- Bei den Arbeitsmarktsgesprächen in den neuen den. Bundesländern haben wir uns als Bundestagsabge- ordnete und haben sich auch die Abgeordneten des (Beifall bei der F.D.P.) jeweiligen Landtags einzubringen, um neue Lösungs- Wir wollen auch niemanden darüber hinwegtäu- wege zu finden. Um dauerhafte Arbeitsplätze für schen, daß trotz aller Beschlüsse der Bundesregierung Frauen und Männer zu schaffen, ist es wichtig, daß wir und deren Vollzug der Flächenbrand nicht sofort zum darüber nachdenken, bereitgestellte finanzielle Mit- völligen Erlöschen gebracht werden kann. Es gilt, tel auch in anderer Form einzusetzen. So könnten Prioritäten zu setzen, und zwar vorwiegend für allein- beispielsweise Mittel aus dem Gemeinschaftswerk stehende Mütter und Frauen, aber auch für die Frauen „Aufschwung Ost" dazu verwendet werden um Kon- 7664 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Dr. Eva Pohl zepte zu einer überregionalen Wirtschaftsstruktur zu als diskriminierend, nunmehr auf staatliche Hilfe entwickeln, angewiesen zu sein. Aus Scham vor sozialer Ausgren- (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das will die zung nehmen viele von ihnen die Leistungen nicht F.D.P. wieder nicht!) wahr. Es wird in der Öffentlichkeit wenig dafür getan, den Frauen bewußt zu machen, daß sie nicht Almosen die garantieren, daß Frauen und Männer über in Anspruch nehmen, sondern einen Rechtsanspruch Beschäftigungsgesellschaften optimale und sichere auf die Leistungen haben. Im Westen nennt man Arbeitsplätze erhalten. dieses Phänomen schon seit langem verschämte (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das will Ihre Armut, ein harmloser Begriff für die tatsächlichen, Fraktion nicht!) existenzbedrohenden Auswirkungen. — Doch, das will unsere Fraktion. Laut Art. 31 des Einigungsvertrages ist es „Aufgabe Meine Damen und Herren, lassen Sie mich folgen- des gesamtdeutschen Gesetzgebers, die Gesetzge- des sagen: Frauen dürfen nicht in Angst vor Schwan- bung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und gerschaft geraten. Oder noch schlimmer: Es darf nicht Frauen weiterzuentwickeln" . In der Realität aber Sterilisation für Arbeitsplatzgarantie in Ostdeutsch- wurde mit der Überstülpung der Arbeits- und Sozial- land stehen. ordnung der Alt-BRD auf die neuen Bundesländer das (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der genaue Gegenteil bewirkt. Beispiele dafür sind die SPD und der PDS/Linke Liste) Abschaffung von Freistellungsrechten zugunsten der Betreuung von Kindern bei gleichzeitigem Abbau der Kindereinrichtungen, der Wegfall der zusätzlichen Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Petra Bläss, Sie haben das Wort. Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf den Rentenanspruch berufstätiger Frauen, die drastische Reduzierung der Freistellungszeiten im Falle er- Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! krankter Kinder, die rücksichtslose Kündigung von Meine Damen und Herren! Es ist mehr als überfällig, Frauen, die der Umstrukturierung der Wirtschaft im daß wir hier und heute über die wirtschaftliche Situa- Wege waren, sowie Abdrängen in Frühverrentung. tion von Frauen im Osten debattieren. Vor kurzem hat alle Fraktionen dieses Hauses ein Brief des frauenpoli- Von den offiziell registrierten 1,2 Millionen Arbeits- tischen Runden Tisches Berlin mit der Bitte erreicht, losen sind 750 000 Frauen. Nicht enthalten in dieser eine Aktuelle Stunde zum Thema „Frauenarmut im Zahl sind Frauen, die in AB-Maßnahmen, Umschulun- Osten Deutschlands " hier im Bundestag durchzufüh- gen, Kurzarbeit, Altersübergangsgeld oder Vorruhe- ren. Die Abgeordnetengruppe der PDS/Linke Liste stand sind, ganz zu schweigen von den Frauen, die hatte daraufhin am 14. Mai eine Aktuelle Stunde zur wegen fehlender bzw. nicht finanzierbarer Kinderbe- Frauenarmut beantragt. Wir wurden jedoch durch die treuungsmöglichkeiten nicht erwerbstätig werden Präsidentin davon in Kenntnis gesetzt, daß unserem können, aber nicht in der Arbeitslosenstatistik auf tau- Anliegen aus Gründen des Stärkeverhältnisses nicht chen. stattgegeben werden konnte. Ich hoffe, daß es bei der nunmehr durch die SPD beantragten, wenn auch Auch das den neuen Ländern komplett überge- meines Erachtens unter einer wesentlich diplomati- stülpte System der sozialen Sicherung bietet den scheren Überschrift laufenden Aktuellen Stunde zu Frauen in den neuen Bundesländern nur unzurei- einer sachlichen Debatte auch und gerade zu dem von chenden Schutz gegenüber sozialem Risiko, weil uns ursprünglich beantragten Thema „Drohende dieser Schutz geknüpft ist an in der Erwerbsarbeit Frauenarmut" kommt. gezahlte Beiträge und erworbene Anwartschaften. Die Bilanz für Ost-Frauen, anderthalb Jahren nach Dem patriarchalischen Ansatz im Sozialsystem ent- den Jubeltönen vom Oktober 1990, bietet alles andere spricht, daß keine eigenständige soziale Sicherung als Anlaß zur Freude. Spitzenreiterinnen sind sie nur vorgesehen ist, die einer typisch weiblichen Biogra- dort, wo es um die Herausdrängung aus bisherigen phie entspricht. Die Ehe als Versorgungsinstitution Arbeits- und Lebenszusammenhängen geht: bei bzw. lebenslage Unterhaltsgemeinschaft ist inzwi- Arbeitslosigkeit, Sozialhifebedürftigkeit und niedri- schen ebenso eine Fiktion wie Vollbeschäftigung und gen Renten. Schon längst hat sich herumgesprochen das vielgepriesene Normalarbeitsverhältnis. Dort, wo — wir haben es heute hier in diesem Saal schon Frauen überhaupt noch eine Chance auf einem gehört —, daß es vor allem Frauen sind, auf deren Arbeitsmarkt haben, handelt es sich zunehmend um Rücken die vielgepriesene wirtschaftliche Umstruktu- ungeschützte, schlecht bezahlte und befristete Be- rierung, die sogenannte Marktanpassung, ausgetra- schäftigungsverhältnisse. gen wird. Ich bin in den letzten Monaten in vielen Kreisen der Meine Damen und Herren, weitere Folgen der neuen Bundesländer, wo ich zu Hause bin, gewesen verschlechterten Arbeitsmarktchancen für Frauen und kann deshalb aus eigener Anschauung sagen, sind neben der ökonomischen und sozialen Ausgren- was diese wirtschaftliche Lage bedeutet. Frauen wer- zung zunehmender Wohnungsmangel und eine den aus der Erwerbsarbeit und von Lohnersatzleistun- schlechtere Gesundheitsversorgung, insbesondere gen ausgegrenzt. Zunehmend mehr Frauen müssen auf dem Lande. Unsicherheit und Zukunftsangst von Sozialhilfe leben. Doch der Gang zum Sozialamt drücken sich nicht zuletzt in dem drastischen Gebur- wird die um sich greifende Armut nicht aufhalten. tenrückgang und — das wurde in der Debatte schon Frauen, die es bisher gewohnt waren, für die Existenz- öfter erwähnt — in dem rasanten Anstieg der Sterili- sicherung selbst aufkommen zu können, empfinden es sationsrate im Osten Deutschlands aus. 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Petra Bläss Statt aber die Ursachen der Perspektivlosigkeit für des Geschlechts oder schlechtere Bezahlung für glei- Frauen zu bekämpfen, kommt die Bundesregierung che Leistung, so ist mit Nachdruck die Behebung auch noch mit Plänen zur Verschärfung des § 218. Mit dieser Mißstände zu fordern. Kriminalisierung und Zwangsberatung sollen Frauen zur Fortsetzung ungewollter Schwangerschaften ge- Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß diese Frauen bracht werden, ohne daß die Grundvoraussetzungen in der heutigen Diskussion im Mittelpunkt der Über- einer gesicherten Existenz für Frauen und Kinder legungen stehen sollen. Es wird vielmehr um die gegeben sind. Durch die Politik der Bundesregierung große Zahl der Frauen gehen, die in den neuen wird in zunehmendem Maße ein gesellschaftliches Ländern auch als sogenannte Familienfrauen voll Klima erzeugt, das diesen Zustand als Normalität berufstätig waren und heute arbeitslos sind. erscheinen läßt, frei nach dem Motto: Männer werden Bei einer Bewertung ihrer hohen Erwerbsbeteili- arbeitslos, Frauen werden Hausfrauen. gung darf man allerdings nicht außer acht lassen, daß diese für viele Frauen in der Regel nicht wirtschaftli- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- zeit ist abgelaufen. che Selbständigkeit bedeutete, sondern auf Grund der niedrigen Einkommensstruktur in der ehemaligen Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Ich habe aber eigent- DDR erforderlich war, die oft zwei volle Einkommen lich noch eine Minute. für den Lebensunterhalt notwendig machte. Die wirtschaftliche Lage dieser Frauen leitete sich Vizepräsident Hans Klein: Sie haben noch null Minuten. also schon damals aus dem gemeinsamen Familien- einkommen ab und läßt den Umkehrschluß zu, daß der Umfang der Arbeitslosigkeit, von der, wie wir alle Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Dann möchte ich zum Abschluß des Debattenbeitrages nur noch einmal wissen, Frauen besonders betroffen sind, nicht unbe- an die Forderungen des frauenpolitischen Runden dingt über ihre wirtschaftliche Situation Auskunft Tisches erinnern, die wir alle bekommen haben, und gibt. Wie oft führte und führt die gleichberechtigte daran, daß heute nachmittag auf dem Alexanderplatz Einbeziehung der Frau in das Erwerbsleben zu einer Tausende von Betroffenen gegen Sozialabbau prote- erheblichen Doppelbelastung, die auch bei Frauen in stiert haben, darunter eine Menge Frauen. Ich denke, der ehemaligen DDR mit Erreichen eines gewissen wir sollten ihren berechtigten Forderungen weiterhin Lebensstandards den Wunsch nach Teilzeit-Arbeits- Gehör verschaffen, sie als die eigentlichen Sachver- plätzen laut werden ließ! ständigen viel mehr anhören und gemeinsam . . . Hier ist mit aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, welch wichtige Beiträge unser Staat durch sozialpoli- Frau Kollegin! Vizepräsident Hans Klein: tische Maßnahmen gerade zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Familie und damit zur Petra Bläss (PDS/Linke Liste):... nachdenken über Konzepte, um die gegenwärtige Situation wieder Entlastung der Frauen leistet. verbessern zu können. Als dritte Gruppe sind die Alleinerziehenden zu (Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei nennen. überwiegend Frauen, die bei Arbeitslosigkeit Abgeordneten der SPD) tatsächlich in besonderer Weise betroffen sind. Daß hier verstärkte Hilfen in Ost und West notwendig sind, Vizepräsident Hans Klein: Ich muß das noch einmal ist allen damit Befaßten bekannt. sagen: wenn „0" und Rot aufleuchtet, ist die Redezeit abgelaufen, bei Gelb ist es noch eine Minute. Wenn Bei allen Überlegungen zur Erwerbstätigkeit der der Präsident sagt, die Redezeit ist abgelaufen, dann Frauen und ihrer wirtschaftlichen Lage dürfen wir uns noch einen Satz und nicht einen Absatz! Also bitte, nicht zu verkürzten Formeln verleiten lassen, die da wollen wir uns alle daran halten. lauten: Voll berufstätige Frauen = wirtschaftlich unab- Als nächste hat das Wort die Kollegin Ilse Falk. hängig = glücklich; oder umgekehrt: arbeitslos oder teilzeitbeschäftigt = arm = unglücklich. Ilse Falk (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema der heutigen Aktuellen Im Gespräch mit Frauen in den neuen Ländern wird Stunde in seiner zugleich verallgemeinernden wie in der Tat immer wieder dieser Ansatz formuliert: aber auch einengenden Formulierung macht es nötig, Frauen, die arbeitslos sind, fühlen sich minderwertig, sich zunächst zu verständigen, worüber wir eigentlich benachteiligt, betrachten es als eigenes Versagen, reden, erweckt es doch den Anschein, als könne man daß sie ihren Arbeitsplatz verloren haben. Was läge die gesellschaftliche Gruppe der Frauen in ihrer also näher, als durch Wiederherstellung des Verloren- Komplexität isoliert unter wirtschaftlichen Gesichts- gegangenen den seelischen Frieden wiederherzustel- punkten betrachten, aufzählen, wo Frauen benachtei- len? Also: „Recht auf Arbeit"; Kinderbetreuungsein- ligt sind, um dann Handlungswege abzuleiten. richtungen von 0 Jahren bis zum Ende der Schulzeit: von 6 Uhr bis 19 Uhr für alle Kinder — um nur zwei Zunächst ist doch zu klären: Wie kommt es denn Beispiele zu nennen. Meine Damen und Herren, das eigentlich zur „wirtschaftlichen Lage" von Frauen? kann doch nicht die Lösung sein! Da ist zunächst die alleinstehende berufstätige Frau. Deren Situation muß natürlich voll der des Sollten wir nicht endlich aufhören, alle Probleme, Mannes vergleichbar sein. Wenn es hier Benachteili- die sich aus einer total veränderten Situation ergeben, gungen gibt, z. B. schlechtere Möglichkeiten des wirtschaftlich und finanziell begründen und beant- Zugangs zu Ausbildung und Arbeitsplatz auf Grund worten zu wollen? Ist es nicht an der Zeit, daß wir die 7666 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Ilse Falk Frauen in den neuen Ländern in ihrem Selbstbewußt- Ministerien und der Treuhand, unterstützt durch die sein stärken, Medien — könnte frau wie folgt zusammenfassen: (Detlev von Larcher [SPD]: Selbstbewußtsein Erstens. Es ist sorgfältig der Eindruck zu vermeiden, durch Zureden!) daß der Geschlechterkampf in der BRD ein besonde- daß wir ihnen Mut machen, sich auch für Familie zu res und dringliches Anliegen sei. Es geht um die entscheiden, daß wir ihnen Freiräume schaffen, sich in Modernisierung der Wirtschaft, um die Demokratisie- der Gesellschaft zu engagieren, politisch, sozial, wie rung der Gesellschaft, um Freiheit und Wohlstand für auch immer, daß wir ihnen helfen, die vielfachen alle. Die Bundesregierung wird sich bei allen Gele- Formen der Lebenserfüllung zu erkennen und zu genheiten immer wieder besorgt über die sogenannte verwirklichen? Frauenfrage äußern und die Beachtung der Rechte der Hier liegen doch der Wert und die Chance der Frauen proklamieren. neugewonnenen Freiheit. Zweitens. Unter der Parole „Modernisierung der Hören wir doch auf, die Nöte der Frauen auf ihre Wirtschaft" ist die bestehende Wirtschaftsstruktur wirtschaftliche Lage zu reduzieren! Diese wirtschaft- aufzulösen. Vorrangig sind Betriebe mit einem über- liche Lage wird erst dann relevant, wenn sie die durchschnittlich hohen Frauenanteil zu schließen. Frauen in ihrer freien Entscheidung zwischen Beruf Der Personalbestand in den weiterexistierenden und Familie behindert und sie in eine Richtung Betrieben ist drastisch zu senken. Vorrangig sind zwingt, die sie eigentlich nicht wollten. Hier die Frauen, vor allem Mütter von noch betreuungspflich- notwendigen Voraussetzungen zu verbessern und tigen Kindern und Ehefrauen weiterhin erwerbstäti- zum Teil auch noch zu schaffen, muß unser gemein- ger Männer, zu entlassen. sames Anliegen sein, nicht nur in den neuen Bundes- ländern, sondern für alle Frauen in der ganzen Bun- Drittens. Es sind neue Be triebe zu gründen, die, vor desrepublik. allem in qualifizierten Tätigkeitsbereichen mit Lei- tungsfunktionen, vorrangig Männer einstellen. (Beifall bei der CDU/CSU — Hans Büttner

[Ingolstadt] [SPD]: Strukturkonservativismus Viertens. Die Berufs - und Tätigkeitsstruktur ist als letzte Weisheit!) grundsätzlich zu überprüfen. Berufs-und Tätigkeits- felder mit überdurchschnittlichem Frauenanteil sind abzugruppieren und zu entwerten. Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- ren! Es ist eine kleine Irritation entstanden. Ich will Fünftens. Das bestehende Normalarbeitsverhältnis Ihnen das erläutern. Hier gibt es einen gelben Knopf, ist so auszubauen, daß seine Leistungsanforderungen der aufleuchten kann. Über diesem Knopf steht in es den Männern objektiv unmöglich machen, sich an kleiner Schrift: „Letzte Minute". Wenn der rote Knopf der Alltagsbewältigung in den privaten Haushalten aufleuchtet, bedeutet das: Ende der Redezeit. Wie es angemessen zu beteiligen. Die Berücksichtigung der jetzt eingestellt ist, geschieht das nach genau fünf Lebensbedürfnisse der nachwachsenden Generation Minuten. Die Kollegin von der PDS hat vorhin sechs- und die Bewältigung des außerbetrieblichen Alltags einhalb Minuten geredet. Ich habe ihr also nicht eine werden hiermit zur Sache, und zwar zur Privatsache, Minute weggenommen, sondern anderthalb Minuten der Frauen erklärt. dazugegeben. Sechstens. Die nach den Regeln des Normalarbeits- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das war zuviel!) verhältnisses eingerichteten Arbeitsplätze sind vor- Da wir in der Zeit schon sehr weit fortgeschritten sind, rangig mit Männern zu besetzen. Als Ventil für zu bitte ich Sie — die Kollegin Falk hat gerade ein - befürchtenden Unmut der Frauen sind Teilzeit - und Beispiel gegeben --, auf die Sekunde zu reden. befristete Arbeitsplätze anzubieten, und zwar vorran- Als nächste Rednerin hat die Abgeordnete Christina gig in den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen. Die bei Schenk das Wort. den Frauen durch den Wechsel auf Teilzeitarbeit oder durch den Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit entste- henden Einkommensverluste werden durch über- Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsi- durchschnittliche Anhebung der Männerverdienste dent! Meine Damen und Herren! Auch ich meine, daß ausgeglichen. es an der Zeit ist, daß sich dieses Hohe Haus mit einem der dringendsten Probleme befaßt, die sich als direkte Siebtens. Außerhäusliche Kinderbetreuungsein- Folge des Anschlusses der DDR an die BRD ergeben richtungen werden drastisch reduziert. Die Öffnungs- haben, nämlich die wirtschaftliche Situation der zeiten werden von den betriebsüblichen Arbeitszeiten Frauen. entkoppelt. Gleichzeitig wird eine Kampagne für die Die Passagen im Einigungsvertrag, die explizit kindgerechte Be treuung und Erziehung in der Familie Frauen betreffen, sind, gemessen an der Realität der gestartet, deren Ziel die Desavouierung der außer DDR, außerordentlich dürftig. Aber es findet sich dort häuslichen Kinderbetreuung ist. zumindest ein Hinweis auf die Notwendigkeit, die Dieses Szenario, meine Damen und Herren, ist nicht Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und fiktiv. Es mag vielleicht nirgendwo schriftlich festge- Beruf zu gestalten. halten sein, bildet aber dennoch die Grundlage des In Umsetzung dieser Aufgabe in den ostdeutschen politischen Handelns dieser Bundesregierung. Bundesländern hat die Bundesregierung ihr eigenes Szenario entwickelt. Die Leitlinien der Politik der (Zuruf von der F.D.P.: Das ist barer Bundesregierung — umgesetzt von den diversen Unsinn!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7667

Christina Schenk Auch ist es die Intention, mit der seitens der Bundes- Danke schön. regierung die Rahmenbedingungen für die private (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Wirtschaft geschaffen werden. Wie real dieses Szenario ist, belegen die Analysen Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- Wir und Daten zur Arbeitsmarktsituation von Frauen. ordnete Evelin Fischer. erleben gegenwärtig die Neuauflage des sogenann- ten Nachkriegseffektes: Männer verdrängen Frauen aus der Produktion. Frauen, die es gewohnt waren, im Evelin Fischer (Gräfenhainichen) (SPD): Herr Präsi- Beruf ihren Mann zu stehen, stehen jetzt vor den dent! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Werktoren der Betriebe. Ausbildungsplätze, z. B. auf Bemerkung zur Abgeordneten Frau Falk machen. der Neptun-Werft in Rostock, sind nur noch männli- Gott sei Dank war es so, daß Frau und Mann in einer chen Schulabgängern zugänglich. Familie arbeiten mußten, und jetzt sind vielleicht alle Verschärft wird die Arbeitsmarktsituation für beide arbeitslos. Ein Arbeitsloser allein kann die Familie nicht ernähren. Gott sei Dank hat damals die Frauen zugleich dadurch, daß sie auch aus den Frau mitgearbeitet, nun sind es zwei, und nun kommt qualifizierten sogenannten frauentypischen Berufen ausgegrenzt werden. Damit wird bisherige Qualifika- die Familie eventuell durch. tion zunächst einmal massenhaft entwertet. Frauen, Es ist im Prinzip ein Teufelskreis, in dem sich die die bisher männertypische Tätigkeiten ausgeübt Frauen in den neuen Bundesländern zur Zeit befin- haben, die z. B. Kranführerinnen, Schlosserinnen, den. Sie waren als erste arbeitslos. Sie mußten als erste Tischlerinnen waren oder in Bauberufen tätig waren, überlegen, wo sie sparen müssen. Sie haben ihre werden nun zu Floristinnen, Sozialarbeiterinnen, Kinder aus den Kindergärten und -krippen herausge- Bürokauffrauen und ähnlichem umgeschult. Frauen nommen. Diese Krippen wurden dann geschlossen. mit Hochschulabschluß finden sich in Kursen zur Wenn diesen Frauen dann Qualifizierungsmaßnah- Steuergehilfin oder Altenpflegerin wieder. Qualifizie- men angeboten wurden, konnten sie sie einfach nicht rung wird auf diese Weise zur Dequalifizierung, wahrnehmen, weil dann ihre Kinder nicht mehr in den zumal wenn Frauen, wie dargestellt, massenhaft in Kindergärten oder Kinderkrippen untergebracht wer- Berufe umgeschult werden, in denen schon jetzt oder den konnten, denn die waren schon nicht mehr da. in Kürze das Angebot die Nachfrage übersteigen Von den Qualifizierungsangeboten — das muß ich wird. Ihnen sagen — sind manche der blanke Hohn. Nicht Die Strukutur des Weiterbildungsmarktes und die nur, daß die Qualifizierungsangebote für Frauen Entwicklung des Arbeitsmarktes sind also in keiner immer wesentlich kürzer sind oder daß die Frauen dort Weise aufeinander abgestimmt. Im Gegenteil, feh- keine Zertifikate bekommen, auch inhaltlich ist es lende Konzepte zur Wirtschafts- und Strukturentwick- manchmal einfach nicht mehr zu ertragen. Da wird lung in den Regionen machen diese Art von Dequali- Frauen, Näherinnen, aus einem Bankrott gegangenen fizierung überhaupt erst möglich. Betrieb angeboten, sich zu qualifizieren, und zwar als Näherinnen. Da werden Frauen aus einem Braunkoh- Über die Qualität der von den verschiedenen Trä- lentagebau Angebote gemacht, sich zu Verkäuferin- gern zumeist westdeutscher Herkunft angebotenen nen zu qualifizieren, während ringsherum Verkäufe- Kurse wäre noch extra zu reden. rinnen en gros auf die Straße gesetzt werden. Unter diesen Bedingungen herrscht eine große (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) Verunsicherung bezüglich des Weiterbildungsmark- tes. Fortbildung und Umschulung werden für viele so Die Frauen haben sich bei uns über die Arbeit zur verlängerten Warteschleife in die Arbeitslosigkeit. definiert. Diese Arbeit war zwar manchmal schwer, Indiz für diese tiefgreifende soziale Verunsicherung aber sie war nicht überflüssig und auch nicht nutzlos. von Frauen ist die Tatsache — wie hier schon erwähnt Sie kommen oft in mein Büro und sagen: Mein Gott, wurde —, daß sich jetzt ein bedeutender Teil der wir sind doch nicht auf die Straße gegangen, damit wir Frauen sterilisieren läßt. Existenzängste dieser Art, jetzt auf der Straße liegen! wie sie zur bundesdeutschen Wirklichkeit zählen, (Beifall bei der SPD) waren in der DDR unbekannt. Wie wahr dieser Satz ist, meine Damen und Herren, möchte ich nur an zwei Beispielen aus meinem Wahlkreis belegen. Da gibt es eine Elektroschmelze Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, die Rede- Zschornewitz. Dort wurden 84 `/o Frauen und 77 % zeit ist ein gutes Stück überschritten. Männer entlassen. Aber es kamen nur 31 % Frauen in die ABM und 69 % der Männer. Im Braunkohlentage- Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Gut, ein bau Bitterfeld werden noch 1992 10 000 Männer und Satz noch: Ich meine, daß die Bundesregierung es Frauen entlassen, darunter 2 500 Frauen; das sind bisher wirksam verstanden hat, die Probleme der 25 %, obwohl der Anteil der Frauen in diesem Betrieb Frauenerwerbslosigkeit zu ignorieren. Man kommt nur bei 18 % lag. Die 25 % Frauen, die jetzt entlassen zwingend zu dem Eindruck, daß Frauen sich endlich werden, können mit ABM nicht aufgefangen wer- mit dem ihnen zugewiesenen Status als Hausfrauen den. oder Teilzeitbeschäftigte, als schlecht Verdienende Ich gebe zu, daß anfangs viele Frauen einfach froh und vom Sozialamt Abhängige abfinden sollen. Daß waren, daß sie einmal eine Ruhepause hatten und von das nicht der Fall sein wird, geht insbesondere aus der der Arbeit ausspannen konnten. Sie haben auch gern, Demonstration hervor, die heute nachmittag auf dem wenn beide in einem Betrieb arbeiteten, dem Mann Alexanderplatz stattgefunden hat. den Vorrang gelassen und gesagt: Arbeite du doch 7668 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Evelin Fischer (Gräfenhainichen) weiter, dann bleibe ich eine zeitlang zu Hause. Sie Evelin Fischer (Gräfenhainichen) (SPD): Schade; begreifen aber jetzt allmählich, daß die Bundesregie- den Satz wäre ich gern noch losgeworden. Aber ich rung sie auf das Niveau des Westens bringen will, und gebe ihn zu Protokoll. diesmal ist das Niveau des Westens weitaus tiefer als (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke das Niveau des Ostens, denn im Westen arbeiten nur Liste) 51 % der Frauen. Ich kann die Ministerin Merkel — sie ist nicht anwesend — nicht verstehen, daß sie sich als eine gestandene Ostfrau auf dieses Niveau begeben Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- will; beim besten Willen nicht. Die Wähler, die sie ren, ich kann doch nicht bei jedem Redner nach gewählt haben, erwarten eigentlich etwas ganz ande- fünfeinhalb oder sechs Minuten sagen, daß die Rede- res; sie erwarten, daß sie an die Wirtschaft nicht nur zeit zu Ende ist, ohne daß der Redner aufhört zu reden. appelliert, sie erwarten, daß sie jetzt Maßnahmen Ich bitte Sie doch herzlich, sich innerhalb der Aktuel- ergreift, damit sich diese Situation der Frauen in den len Stunde an fünfminütige Redebeiträge zu halten. neuen Bundesländern endlich wendet, daß sie sich Als nächstes erteile ich der Abgeordneten Michalk verbessert. das Wort. (Beifall bei der SPD) Ich habe vorhin von diesem Teufelskreis „Arbeits- Maria Michalk (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr losigkeit" gesprochen und die Kindertagesstätten Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! erwähnt. Dazu muß ich sagen, daß in den Kinderta- Niemand bestreitet, daß von Beginn der Währungs-, gesstätten vorrangig Frauen gearbeitet haben, die Wirtschafts- und Sozialunion, also vom 1. Juli 1990, an wiederum arbeitslos sind. Das zieht sich wie ein roter die Entwicklung auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt Faden durch den ganzen Bildungsbereich: Frauen für die Frauen insgesamt ungünstiger verlief als für sind die ersten, die dort gehen müssen. die Männer. Besonders bei höherqualifizierter Tätig- Im Schulbereich sind es die Hortnerin und die keit ist ein überproportionaler Rückgang der Frauen- Unterstufenlehrerin. Im Hochschulbereich sind es beschäftigung zu verzeichnen. Das bedeutet aber besonders der Mittelbau und die Verwaltung. Ein nicht gleichzeitig, daß sich die wirtschaftliche Situa- Beispiel aus der MLU in Halle: 86%) der Frauen tion generell verschlechtert hat. Eine pauschalisierte arbeiten in der Verwaltung, 46 % als wissenschaftli- Betrachtung — so wie ich sie eben wieder gehört che Assistentin, 60 % sind Lektorin, aber nur 5 habe — ist ebenso fehl am Platze wie eine Verniedli- Professorin. Aber gerade in diesem mittleren Bereich chung der Entwicklung. ist der Personalabbau am größten. (Widerspruch bei der SPD) In der beruflichen Bildung werden die Mädchen Aufmerksamkeit seitens der Politik ist geboten. Aber immer mehr in die klassischen Frauenberufe das ständige Debattieren bringt den Familien, den gedrängt, in die, in denen sie später schlecht bezahlt Frauen, den Alleinerziehenden keine Verbesserung. werden, und in die, bei denen die Eltern sogar noch Vielmehr habe ich den Eindruck, daß Hilfen in Form die Ausbildung bezahlen müssen. von Beratung, daß das Informieren über die jetzt Im Regierungsbezirk Dessau hat erst ein Drittel der bestehenden Rechte der Frauen, daß das zielstrebige Schulabgänger überhaupt eine Lehrstelle. Vorausge- Durchsetzen gesetzlicher Regelungen zur wirklichen setzt, daß dieses eine Drittel von 50 % Mädchen und Gleichstellung der Frauen der Ansatz für die Lösung 50 % Jungen belegt ist, bekommen immerhin zwei sind. Drittel aller Mädchen keine Lehrstelle. Aber, meine Damen und Herren, die Tatsache, daß Noch eine letzte Zahl: In meinem Arbeitskreis sind z. B. weniger Teilzeitarbeitsplätze für Frauen angebo- jetzt im April 71,2 % arbeitslos gewesen. Das sind ten werden — zwei Zahlen: 1990 waren es 26 %, und genau 1 428 Schicksale. 1991 waren es 18 % —, ist nicht nur ein Signal für die Politik, sondern auch für die Wirtschaft. An der Notwendigkeit der materiellen Unabhängigkeit von Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- zeit ist ein gutes Stück überschritten. Frauen hat sich im letzten Jahr des Umbruchs — da stimme ich Ihnen zu — in den neuen Bundesländern nicht viel geändert. Der Wunsch, arbeiten zu gehen, Evelin Fischer (Gräfenhainichen) (SPD): Der letzte steht nach wie vor obenan. Aber auch das ist nicht Satz: Ich habe als Abgeordnete eine Verantwortung pauschal zu sehen. Auch Frauen haben unterschied- für diese 1 428 Frauen. liche Lebensgestaltungswünsche, und dem müssen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir Rechnung tragen. Alleinerziehende haben es z. B. unbestritten Vizepräsident Hans Klein: Das war ein Satz. schwerer als verheiratete Frauen. In den neuen Bun- desländern sind 20 % der Familien Alleinerziehende mit Kindern. Da Kündigungsschutzregelungen für Evelin Fischer (Gräfenhainichen) (SPD): Auch wenn Alleinerziehende nicht mehr gelten, sind Hilfen zum es mir persönlich gut geht und ich hier auf schall- Lebensunterhalt erforderlich. schluckenden Teppichen laufe und in Hotels über- Natürlich muß verhindert werden, daß Familien und nachte — — Alleinerziehende in soziale Randpositionen gedrängt werden. Die regionale Wirtschaftsförderung könnte Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- mit einer gezielten Mittelvergabe dazu beitragen, daß zeit ist zu Ende. ein höherer Anteil von qualifizierten Arbeitsplätzen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7669

Maria Michalk für Frauen bereitgestellt und flexible Arbeitszeiten wollen Sie mir erzählen, daß die wirtschaftliche Lage angeboten werden. Diese Frage ist nicht hier zu lösen, generell schlechter geworden ist! sondern da gebe ich die Verantwortung tatsächlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Wirtschaft weiter. Über den normalen Regelsatz von ca. 400 DM wird (Zurufe von der SPD und der PDS/Linke auch in den neuen Bundesländern ein Mehrbedarfs- Liste: Sache der Bundesregierung!) zuschlag von 20 % gewährt, den wir auf 30 % erhöhen Wir wissen, daß Frauen bei Umschulungs- und Fort- wollen. bildungsmaßnahmen bereitwilliger als ihre männli- Ich könnte die Beispiele noch weiterführen. Sie chen Kollegen sind. wissen genau, daß wir (Erneute Zurufe von der SPD) Ihre wirtschaftliche Lage stellt sich besser dar als Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, führen Sie das bitte nicht weiter. Auch Ihre Redezeit ist abgelau- oftmals bekannt — fen.

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Büttner, Sie Maria Michalk (CDU/CSU): Vielen Dank, es tut mir haben heute schon ein großes Kontingent an Zwi- leid; ich hätte gern noch den abschließenden Satz schenrufen. Ich glaube, es langt bald. gesagt, daß es in den Ländern auch Verantwortung gibt und Sachsen bei der Kindergartenregelung große Vorteile geschaffen und Beispiele gegeben hat, die nachzuahmen sind. Maria Michalk (CDU/CSU): — und als durch die öffentliche Meinung dargestellt wird. Danke. Nach dem AFG wird bei Fortbildungsmaßnahmen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) z. B. Unterhaltsgeld gezahlt. Neben dem Unterhalts- geld kann die BA bei Vorliegen der Voraussetzungen Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Uta Würfel, auch Kosten, die durch die Fortbildungsmaßnahmen Sie haben das Wort. entstehen, übernehmen. Man sollte heute auch ein- mal ein paar konkrete Dinge nennen, wenn man schon diese Debatte führt. Also Lehrgangskosten, Uta Würfel (F.D.P.): Verehrter Herr Präsident! Liebe Fahrtkosten, Kosten für die Arbeitsbekleidung, Kran- Kolleginnen und Kollegen! Meine erste Reaktion auf ken- und Unfallversicherung, Kosten für Unterkunft die Beantragung dieser Aktuellen Stunde war: Muß und ebenso Kosten für Betreuung des Kindes eines das sein? Haben wir diese Selbstbefassung schon wieder nötig? Eigentlich ist doch ein Parlament dazu Teilnehmers — bis zu 60 DM monatlich — werden da, Gesetze vorzubereiten. Braucht's das denn nun übernommen. wirklich, daß wir wieder so eine Polarisierung betrei- Diese Leistungen nach § 45 kann auch derjenige ben, unter Umständen Frauen gegen Männer — beantragen, der arbeitslos ist. Männer gegen Frauen? (Erneute Zurufe von der SPD) Aber ich bin dann zu dem Schluß gekommen, daß es Ich erinnere ebenso an die Einarbeitungszuschüsse. durchaus richtig und angebracht ist, sich hier heute in Berlin mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Die vorgenommenen Einschränkungen gelten eben nicht für Frauen. Warum sagt das hier keiner? Das ist (Beifall bei der SPD) in der Öffentlichkeit auch viel zu wenig bekannt. Denn in der Tat ist es so, daß im Gegensatz zu der Arbeitsmarktsituation in den alten Bundesländern in Alleinerziehende haben unbestritten eine große die Last zu tragen. Niemand kann behaupten, daß der den neuen Bundesländern Arbeitslosigkeit von Staat nicht gute Regelungen geschaffen hat, um die Frauen wesentlich höher ist. uns andere Länder beneiden. Auch das sollten wir Die Statistik weist aus, daß im April in den neuen heute hier sagen. Bundesländern insgesamt 753 000 Frauen ohne Erwerbstätigkeit waren. Es ist schon gesagt worden: Nun will ich ganz einfach ein paar konkrete Bei- Dies entspricht dem immens hohen Prozentsatz von spiele dazu nennen. Wer Arbeit hat, kann z. B. im 62,9 % aller Arbeitslosen. Lohnsteuerjahresausgleich als Sonderausgabe ohne Nachweis einen Pauschbetrag von 480 DM je Kind Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe davon sowie für das erste Kind bis zu 4 000 DM und jedes aus, daß es für jeden Menschen wichtig ist, sein Brot weitere 2 000 DM bei Einzelnachweis geltend eigenständig verdienen zu können. machen. (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ Wer aber keine Arbeit hat oder vielleicht sogar Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE) Sozialhilfeempfänger ist, wird nicht alleingelassen. Es erhöht das Selbstwertgefühl eines Mannes und Entsprechend dem Regelsatz mit Miet- und Heizko- ebenso einer jeden Frau, für sich selbst sorgen zu stenzuschüssen und einmaligen Beihilfen steht ein können und nicht von staatlichen Hilfen abhängig Betrag von 1 500 DM zu Buche. Ich erinnere, was ich sein zu müssen. Zwar geben die Statistiken zur selbst bekommen habe, als ich Kinder erzogen habe. Arbeitsmarktsituation absolute Zahlen und Prozent- Gegebenenfalls kommt noch das Erziehungsgeld von zahlen wieder; hinter diesen nackten Zahlen stecken 600 DM hinzu. Ich selbst habe 230 Mark in der Zeit jedoch Schicksale. Diese Arbeitsmarktsituation, wie bekommen, wo ich meine Kinder erzogen habe. Da sie im Osten besteht, löst Gefühle von allerhöchster 7670 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Uta Würfel Betroffenheit bis hin zu Mutlosigkeit und Hoffnungs- kann es einfach nicht begreifen, daß es ein derartiges losigkeit aus. menschenverachtendes Geschehen geben soll. Ich denke, wir alle sollten uns heute dazu bekennen, (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der daß wir mit den Menschen fühlen, die in einem PDS/Linke Liste) solchen Maße von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Frage, die wir uns alle stellen müssen, ist doch: Wie weit müssen Frauen getrieben worden sein, daß (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der sie sich die Möglichkeit, schwanger zu werden und PDS/Linke Liste) ein Kind gebären und aufziehen zu können, von Man mag es uns Frauen deshalb schon nachsehen, Arbeitgebern nehmen lassen? Diese Pressemitteilung daß wir als Politikerinnen speziell einen Blick auf die wirft ein bezeichnendes Licht auf die Situation von Frauen in den neuen Bundesländern werfen; denn sie Frauen in den neuen Bundesländern. sind, wie wir gehört haben, überproportional betrof- fen. Sie machen praktisch zwei Drittel aller Arbeitslo- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin — — sen im Osten aus. Ein Aspekt wurde bereits angesprochen: Es gibt im Uta Würfel (F.D.P.): Ja, ich sehe es. — Ich kann Osten wesentlich mehr alleinerziehende Frauen als abschließend nur sagen: Ich wünsche allen Frauen, im Westen. Somit ist es für diese Mütter von elemen- daß sie initiativ werden, daß sie für sich Nischen tarer Bedeutung, ihre Kinder weiterhin in Kinderbe- finden, daß sie ihre Kraft gestalterisch einbringen treuungseinrichtungen versorgt zu wissen, damit sie können. Ich wünsche ihnen Mut und Durchhaltever- überhaupt einem Beruf nachgehen können. Tragisch mögen. Was ich politisch dazu tun kann, ihre Situation ist es doch besonders dann, wenn der Arbeitsplatz zu erleichtern, will ich gerne tun. gehalten werden konnte und nun dieser Arbeit nicht (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der nachgegangen werden kann, weil die Kinderbetreu- PDS/Linke Liste) ungsmöglichkeiten weggefallen sind, oder wenn eine Arbeitsaufnahme nicht möglich ist, weil die Kinder- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- krippenplätze auf einmal weggefallen sind. ordnete Ulrike Mascher. Natürlich ist man geneigt, in einer solchen Situation ein halbvolles Glas als ein halbleeres zu betrachten. Ulrike Mascher (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen Deshalb darf bei dieser Debatte auch nicht der durch- und Kollegen! Es ist keine ungeprüfte Zeitungsente, aus positive Hinweis fehlen, daß die Bundesanstalt für was meine Kollegin Ulla Schmidt und auch noch Arbeit die Notwendigkeit des Erhaltes von Kinderbe- einmal Frau Würfel hier angesprochen haben. Wir treuungseinrichtungen erkannt hat und durch die haben das sorgfältig geprüft. Wir haben Klinikchefs in Förderung von AB-Maßnahmen in erheblichem Sachsen-Anhalt gefragt, die uns das leider bestätigt Umfang dazu beiträgt, solche Einrichtungen zu erhal- haben. ten. Vielleicht sollten wir mehr darauf hinweisen, daß Frau Michalk hat als Beispiel für die doch nicht so dies möglich ist. schlechte Lage der Frauen die Palette der Instrumente Die Kommunen sind darüber hinaus gefordert, für eine aktive Arbeitsmarktpolitik aufgezählt. Frau Weichenstellungen in die richtige Richtung vorzuneh- Michalk, diese Instrumente sind ganz gut. Nur, wenn men und ihrerseits den Bedarf an Kinderbetreuungs- der Bundesanstalt für Arbeit die Mittel zum Einsatz einrichtungen zu decken und diese vorzuhalten. dieser Instrumente gestrichen werden, dann sind Frauen zur Dauerarbeitslosigkeit verurteilt. Das ist ja Sollte es uns gelingen, den Gruppenantrag zur der Plan von Bundesfinanzminister Waigel. Regelung des Schwangerschaftsabbruchs zeitgerecht (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke zu verabschieden, greifen die sozialen Maßnahmen Liste) ab dem 1. Januar 1993 ebenso wie die rechtlichen Regelungen. Das bedeutet natürlich auch, daß im Ich möchte mich jetzt an eine Gruppe von Frauen Hinblick auf den Schutz des vorgeburtlichen Lebens wenden, deren wirtschaftliche Lage möglicherweise und auf den Schutz des geborenen Lebens zumindest noch schwieriger ist als die derjenigen, die noch im die Einrichtungen erhalten, ausgebaut oder neu Arbeitsleben stehen oder die noch die Chance haben, geschaffen werden müssen, die Frauen im Osten und wieder hereinzukommen; das sind die Rentnerinnen. Westen Deutschlands brauchen, um eine Erwerbstä- Viele Rentnerinnen, die den vollmundigen Erklärun- tigkeit sinnvoll mit den Familienpflichten verbinden gen des Bundesarbeitsministers: „Deutschland zu können. wächst zusammen, die Renten wachsen mit" vertraut haben, fühlen sich getäuscht, wenn sie die neuen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Rentenbescheide mühsam genug durchgearbeitet SPD) haben. Sie stellen fest, daß die durchschnittliche Frauenrente von 937 DM, die sich gegenüber der Wenn es uns gelingt, diesen Gruppenantrag durchzu- durchschnittlichen Frauenrente vor der Währungs- bringen, haben Frauen in Zukunft einen Rechtsan- und Sozialunion von 460 DM immerhin verdoppelt hat spruch darauf, ihre Kinder gut versorgt zu wissen, das anerkenne ich durchaus —, nicht ausreicht, um wenn dies in der Familie nicht möglich ist. ohne schwere Sorgen leben zu können. Die Mieten Als ich gestern die Pressemitteilung las, nach der steigen um ein Vielfaches und fressen trotz Wohn- sich Frauen in Sachsen-Anhalt offensichtlich auf den geldzahlungen große Teile der Renten auf. Der Kran- Druck von Arbeitgebern hin zur Sterilisation gezwun- kenkassenbeitrag muß gezahlt werden, die Heizko- gen sehen, konnte ich es einfach nicht glauben. Ich sten, die Kosten für die notwendigen Lebensmittel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7671

Ulrike Mascher oder der Preis für das Essen im Seniorenklub. Das alles gegen Arbeitslosigkeit und Armut zu ihrem Thema hat sich nicht nur verdoppelt, wie die Rente, sondern machen. es hat sich teilweise verzehnfacht. Ein Platz in einem (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Altenheim, der vor der Wende etwa 100 Mark kostete, dem Bündnis 90/GRÜNE) kostet heute 1 800 DM. Da bleibt, wie bei vielen Rentnerinnen im Westen, nur das Taschengeld für den Regine Hildebrandt, die Frauen- und Arbeitsministe- persönlichen Bedarf. rin aus Brandenburg, ist dafür ein ermutigendes Beispiel. Viele der alten Frauen, die während des Krieges Danke. und während 40 Jahren in der DDR schwer gearbeitet haben, empfinden es als demütigend, auf Taschen- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und geld angewiesen zu sein. Sie begreifen nicht, warum dem Bündnis 90/GRÜNE) ihre Ersparnisse bei der Sozialhilfe angerechnet wer- den oder warum die Einkommenssituation der Kinder überprüft wird. Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Ange- lika Pfeiffer, Sie haben das Wort. Noch stärker als bei den alten Frauen im Westen der Übrigens war die Kollegin Mascher in puncto Zeit Bundesrepublik ist die Scheu, zum Sozialamt zu einhalten auch ein ermutigendes Beispiel. gehen. Die Scham, ihre Armut offenbaren zu müssen, die Angst vor dem Rückgriff auf die Kinder, oft auch (Beifall bei der SPD) die Unkenntnis unseres schwierigen Sozialsystems führen dazu, daß Armut für viele alte Frauen im Ostteil unseres Landes das Markenzeichen des vereinigten Angelika Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident! Deutschland geworden ist. Meine Damen und Herren! Manchmal komme ich mir vor wie auf der falschen Veranstaltung, sehe ich (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ Frauen aus den neuen Bundesländern, die die ehema- CSU]: Das stimmt nicht!) lige DDR hochleben lassen und vergessen, was Und was geschieht von seiten der Bundesregierung, geworden wäre, wenn wir uns nicht zu einem Land damit das Versprechen des Arbeitsministers Wirklich- vereinigt hätten. keit wird? „Wer ein Leben lang gearbeitet hat, kann (Beifall bei der CDU/CSU — Horst Peter sich darauf verlassen, daß er als Rentner nicht in die [Kassel] [SPD]: Wie meinen Sie das? Wei Armut abgleitet" — sicher hat Herr Blüm auch Rent- terer Zuruf von der SPD: Das war wirr!) nerinnen gemeint. Bisher aber gibt es kein Konzept Auch ich bin eine Frau aus den neuen Bundeslän- der Regierung gegen die Altersarmut von Frauen. Die dern, und ich möchte Ihnen heute — das müssen Sie Arbeitslosigkeit der Frauen programmiert die Alters- mir gestatten; ich haben Ihnen auch ganz höflich armut der nächsten Generationen vor. Der Sozialzu- zugehört — meine Meinung darlegen. schlag, mühsam genug durchgesetzt, der eine Min- Gerade in unserer Zeit, in der über Anonymität und destrente von 600 DM für Alleinlebende festschreibt, zuwenig Mitmenschlichkeit geklagt wird, erfahren ist bis 1996 befristet. Frauen und Familie mit Recht eine neue Wertung, Angesichts der realen Armut von alten Frauen eine bessere Wertung, als es sie jemals in der ehema- schäme ich mich fast, auf die Erklärung des Bundes- ligen DDR gegeben hat. tages von 21. Juni 1991 zu verweisen, wo wir alle (Zuruf von der SPD: Was denn für eine?) gemeinsam für 1996 Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersarmut vereinbart haben. Die alten Frauen - Die eigenen Kinder müssen heute nicht mehr für die brauchen jetzt eine soziale Grundsicherung, damit die Altersversicherung ihrer Eltern aufkommen; dies lei- Sorge, die Angst vor der Zukunft nicht weiter stet nämlich die Rentenversicherung. wächst. (Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Linke Liste]: Das war doch vorher auch!) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE) So haben sich die Frau und die Familie zu einer Gemeinschaft entwickelt, die vor allem Halt, Gebor- Kann ich meine Miete zahlen? Reicht die Rente noch genheit und verläßliche Lebensbedingungen für zum Leben? Kann ich meine Kinder noch besuchen, Eltern, für die Kinder und auch oft für die Großeltern wenn ich kein eigenes Geld habe? Auch die Sorge: bietet. Familien brauchen ein familien- und kinder- Wer zahlt denn später das Begräbnis, wenn meine freundliches Klima in der Gesellschaft. ganzen Ersparnisse weg sind? (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) Sicher haben die Rentnerinnen in der DDR auch Ich will nicht sagen, daß das Klima hier so hervorra- kein leichtes Leben gehabt, aber das Gefühl einer gend ist. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, wie tiefen Unsicherheit, das heute bei vielen alten Frauen mies das Klima in unserem ehemaligen sozialistischen vorherrscht, hat ihr Leben bis zur Wende nicht Staat war. geprägt. Der Staat darf nicht in die Familie hineinreden. Das (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ hatten wir in der DDR. Das wollen wir nicht mehr. Das CSU]: Was?) ist Geschichte. Wir wollen das auch in dem neuen Ich wünsche mir deshalb, daß mehr Politikerinnen Deutschland nicht zulassen. aus Ostdeutschland, die ein Regierungsamt haben, Die Aufgaben der Hausfrau und Mutter werden z. B. Frau Merkel, die Sache der Frauen, den Kampf zwar in zahlreichen Gesetzen und Verordnungen 7672 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Angelika Pfeiffer anerkannt; noch immer aber ist nicht überall bewußt, Bei allen Schwierigkeiten sehe ich optimistisch in daß Familientätigkeit genauso viel wert ist wie die Zukunft der Familie und in eine Zukunft, die uns Erwerbstätigkeit. alle Voraussetzungen gibt, Familie zu leben. Wem es in den neuen Bundesländern zu langsam geht, den (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der werde ich daran erinnern, wem wir diese Situation zu SPD — Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: verdanken haben: In erster Linie denke ich an die Das wird von der SPD bestritten!) Genossen, auch an die ehemaligen Genossen in den Würde man den Wert der unentgeltlich erbrachten Reihen der SPD; davon gibt es genug, meine Damen Haushalts- und Familienarbeit in die volkswirtschaft- und Herren. liche Gesamtrechnung einbringen, stiege das Brutto- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Unver sozialprodukt um jährlich 600 Milliarden DM. schämtheit! — Weitere Zurufe von der SPD) Wer will, daß sich Frauen und Männer frei entschei- den können, wie sie ihr Leben gestalten, muß die Das gilt für all die Genossen, die im Reichstag sitzen entsprechenden Voraussetzungen schaffen. Eine freie und die sich zu DDR-Zeiten als Genossen anredeten Entscheidung ist nicht möglich, wenn die Familie und das jetzt wieder tun. materiell so schlecht gestellt ist, wie bei vielen Fami- (Lachen bei der SPD — Zuruf von der SPD: lien Was war denn das? — Weitere Zurufe von der SPD) (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Wie ist das mit den Alleinerziehenden?) — Ich freue mich, daß Sie so erregt sind, und danke Ihnen. — lassen Sie mich doch ausreden! — in den neuen Bundesländern. Dort ist diese Forderung nicht erfüllt; (Beifall bei der CDU/CSU) dort müssen beide Ehepartner arbeiten gehen. Sie können es aber nicht, weil Frauen, aber auch Männer leider Gottes von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Büttner, ich habe meinen Ehrgeiz dareingesetzt, möglichst keinen Hilfen für die Familien sind deshalb ein ganz Ordnungsruf zu erteilen. Aber auch bei Zwischenru- entscheidender Beitrag zur Lebensplanung von Müt- fen in Situationen, die einen ärgern, darf man die tern und Vätern. Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, Grenzen nicht überschreiten. Erziehungsjahre — ich will das nicht alles aufzählen; Als nächste hat die Abgeordnete Christel Hane- das haben Sie und meine Kollegen schon hervorra- winckel das Wort. gend gebracht —: Sie wissen selber, welche Möglich- keiten es gibt. Bei alldem, was ich eben aufzählte, dürfen wir aber Christel Hanewinckel (SPD): Herr Präsident! Liebe nicht vergessen, wie schwierig die Situation der Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Nolte und liebe Familien in den neuen Bundesländern ist. Angefan- Frau Pfeiffer, Sie haben ganz recht: Die DDR schön- gen bei meiner Schwester — ich darf Ihnen das zureden ist nicht okay. Nur, die Situation, die wir jetzt sagen —: Zwei Jahre arbeitslos, weil ihr Betrieb in haben, schönzureden hilft auch nicht. Konkurs gegangen ist; die jungen Leute von 30 Jah- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste ren leben von Sozialhilfe. Und doch würde meine — Zuruf von der CDU/CSU) Schwester um nichts in der Welt tauschen und zu den — Ja, Sie haben schöngeredet. Verhältnissen in der ehemaligen DDR zurück wol- len. - An manchen Stellen hatte ich den Eindruck — in der Tat auch bei dem letzten Redebeitrag, dem von Frau (Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Pfeiffer —: Ich bin auf der falschen Veranstaltung. Es Linke Liste]: Es geht doch gar nicht darum! geht doch nicht darum, daß wir jetzt hier ständig Hier pflegt doch niemand Nostalgie!) aufrechnen, wie es einmal in der DDR war und wie es jetzt ist. Ich denke, was jetzt gefragt und jetzt an der Sie weiß genau, daß sie die schwere Zeit überbrücken Reihe ist, ist, daß wir uns in der Tat der Situation der wird. Ich wollte Ihnen dies als Beispiel sagen. Frauen annehmen. Sie wissen aus Leipzig sicher ganz Innere Mauern brechen bei uns Menschen in den genauso oder Frau Nolte aus dem Harz oder woher sie neuen Bundesländern auf, und Gott sei Dank dürfen kommt, wie die Situation vor Ort ist. sie jetzt aufbrechen. Gerade in der Familie sollte man (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Thüringen!) aber darauf achten, daß es eine größtmögliche Konti- — Aus Thüringen. Entschuldigung, ich habe Sie nuität gibt. soeben verwechselt. Und doch, sehr geehrter Herr Präsident, meine Ich brauche hier nicht noch einmal Zahlen aufzuli- Damen und Herren: Die Frau und die Familie leben. sten. Ich möchte nur auf einzelne Punkte gesondert Ich selbst bin ein eifriger Verfechter von Frauen und eingehen, vor allen Dingen auf folgenden Punkt: Hier Familie und würde für langjähriges glückliches Fami- wird immer davon geredet, daß die Frauen doch bitte lienleben Orden verleihen. Das gefällt Ihnen sicher schön zusehen sollten, daß sie an Heim und Herd nicht; ich weiß, daß die Sozis ein bißchen lockerer wieder zurückfinden mögen, und wie gut das wäre. leben. Ich nehme für mich in Anspruch, daß ich hier eine (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Weil die das nicht Arbeit tue, für diese Arbeit bezahlt werde und daß ich können!) diese Arbeit gern tue. Ich gehe davon aus, daß dieses Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7673

Christel Hanewinckel Recht allen Frauen zusteht und daß es Frauen gibt, die sches Denken und politische Ideen tatsächlich in sagen: Ich entscheide mich anders. politisches Handeln umgesetzt werden? Aber wir als Verantwortliche in der Politik sind (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke gefragt, mit dafür zu sorgen, daß Frauen und Männer Liste) wirklich gleiche Chancen und gleiche Möglichkeiten Ich habe hier an verschiedenen Stellen gehört, daß haben. gute Ideen da sind. Wenn ich bestimmte Pressemittei- lungen lese, dann denke ich immer: Gut und schön. (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der Aber was folgt denn daraus? PDS/Linke Liste) (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das ist ein Pro Es haben hier schon verschiedenste Vorrednerinnen blem!) festgestellt, daß dies im Moment in unserem Lande so Ich möchte gern, daß es damit aufhört, daß wir uns nicht der Fall ist, daß Frauen nämlich nicht nur zwei regierungspolitische oder parteipolitische Fehler lei- Drittel der Arbeitslosen ausmachen, sondern daß sten. Vielmehr sollten wir gemeinsam etwas für die Frauen auch an vielen anderen Stellen in unserem Frauen tun. Damit tun wir nicht nur etwas für 53 % der Land wirklich die Benachteiligten sind. Bevölkerung, sondern für die gesamte Bevölkerung. Ich möchte eine Zahl zu den vielen Zahlen, die hier Jetzt mache ich doch einen Rückgriff auf die Zeit der schon genannt worden sind, hinzufügen; Frau Süss- DDR und möchte noch etwas dazu sagen, welchen muth hat sie genannt. Von den Sozialhilfeempfän- Wert Familie und Kinder dort hatten, Frau Pfeiffer. Bei gern in ganz Deutschland sind 81 % weiblichen einer Anhörung in unserem Ausschuß wurde von den Geschlechts. Experten einhellig mitgeteilt, daß für Frauen und (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ Männer in der DDR Familie und Kinder und auch die CSU]: In den Altländern!) Ehe mit die höchsten Werte darstellten. Das war für mich insofern verblüffend, weil unter den Wirtschafts- — 81 % der Sozialhilfeempfänger sind weiblichen bedingungen in der Bundesrepublik Deutschland Geschlechts. diese Werte offenbar nicht so einhellig im Vorder- (Horst Peter [Kassel] [SPD]: In ganz Deutsch grund stehen. land!) Ich frage dann schon: Bewirken wir mit unserer Politik, daß Familie, Kinder und damit auch die Frauen — In ganz Deutschland. immer mehr diskreditiert werden? Ich möchte daran Jetzt können wir uns, denke ich, leicht ausrechnen, keinen Anteil haben. Vielmehr möchte ich über Par- was das für die neuen Bundesländer bedeutet. Ich teigrenzen hinweg alles tun, daß Frauen, Familien gehe davon aus, daß wir uns über Parteigrenzen und vor allen Dingen auch Kinder ein wirklich würdi- hinweg einig sind, daß wir nicht dafür Politik machen, ges Leben in diesem Land führen können. Dazu daß mehr und mehr vor allen Dingen Frauen zu gehören auch eine wirkliche Arbeitsfähigkeit und Sozialhilfeempfängerinnen in diesem Land werden. wirtschaftliche Möglichkeiten für Frauen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) PDS/Linke Liste) Es geht vielmehr darum, politische Instrumente zu Nach 14 Rednerinnen in entwickeln, daß die Sozialhilfe wirklich wieder zu Vizepräsident Hans Klein: dem wird, wozu sie — das habe ich hier gelernt dieser Aktuellen Stunde kommt nun der erste Redner. - einmal entstanden ist und wozu sie gefordert und Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinz Rother. gefördert worden ist. Im Moment sieht es aber so aus, daß Frauen mehr und mehr in die Sozialhilfe abge- Heinz Rother (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine drängt werden. sehr verehrten Damen und Herren! Gleiche Rechte für Ich denke vor allen Dingen an die alleinerziehen- Männer und Frauen, wir haben sie im Deutschen den Frauen. Es ist eine Karriere nicht nur der Frauen, Bundestag. Sie sehen, ich rede hier zu dem Problem sondern vor allen Dingen auch der Kinder in der der Frauen. Ich bin dankbar, in der heutigen Aktuel- Sozialhilfe geradezu vorgezeichnet. len Stunde etwas zur wirtschaftlichen Lage der Frauen in den jungen Bundesländern sagen zu können und (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke auch zu der Behauptung, die Frauen seien die Verlie- Liste) rer der deutschen Einheit. Wir sind die, die dafür politisch verantwortlich sind. Die Rentnerinnen in den neuen Bundesländern Mit dieser Verantwortung möchte ich so umgehen, sind die Gewinnerinnen der deutschen Einheit. daß sie mich nicht noch weiter drückt. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb ist mein Appell an alle hier im Hause, vor Seit der Rentenangleichung zum 1. Juli 1990 sind die allen Dingen an die Frauen, insbesondere an Frau Versichertenrenten um fast 90 % gestiegen. Die Kauf- Merkel und Frau Rönsch, die beide heute leider nicht kraft der Renten hat sich trotz der gestiegenen Le- da sind, daß wir uns hier im Bundestag solidarisieren, benshaltungskosten im Vergleich zu 1989 bereits vor daß wir uns mit den Frauen im Lande solidarisieren der letzten Rentenanpassung zum Jahresbeginn 1992 und kämpfen. Wir müssen uns fragen: Was können wir um 45 % erhöht. Zum 1. Januar 1992 wurden die tun? Was können wir mit einbringen? Denn wer außer Renten um 11,65 % erhöht. Eine weitere Rentenerhö- uns hat solche Mittel und Möglichkeiten, daß politi hung tritt zum 1. Juli 1992 in raft. Sie wird netto 7674 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Heinz Rother 12,79 % betragen und damit die Kaufkraft der Rent- entstehenden Pflegekosten übersteigen selbst die nerinnen weiter verbessern. höchsten Renten. Aber dies ist kein Problem der Rentenversicherung, es ist auch kein Ausdruck von Weil die Frauen in Ostdeutschland im Durchschnitt Altersarmut. Es ist ein Problem, das dringend im deutlich mehr Berufsjahre haben als die im Westen, Rahmen einer eigenständigen Pflegeversicherung sind deren Renten auch höher. Die durchschnittliche gelöst werden muß. Versichertenrente von Frauen in Ostdeutschland beträgt nach der Rentenerhöhung zum 1. Juli 1992 (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 826 DM gegenüber 713 DM im Westen. Ich bin davon überzeugt, daß dies auch gelingen Für rund 700 000 Witwen hat sich die Witwenrente wird. seit Januar 1992 um durchschnittlich 290 DM im (Dr. Peter Struck [SPD]: Aha!) Monat erhöht. Aus diesen Darstellungen ergibt sich folgendes Diese Zahlen machen deutlich: Die Mär von der Gesamtbild: Es gibt keine generelle Frauenarmut in grassierenden Altersarmut der ostdeutschen Rentne- den neuen Bundesländern. Davor bewahrt die Rent- rinnen ist absurd. Sie stellt die Realität auf den nerinnen auch der Sozialzuschlag zur Rente, der bei Kopf. unzureichendem Einkommen gewährt wird. Er wird übrigens zum 1. Juli 1992 weiter erhöht, von 600 DM (Beifall bei der CDU/CSU) für Alleinstehende auf 658 DM, für Verheiratete von Auch nicht erwerbstätige Mütter werden heute 960 DM auf 1 054 DM. deutlich besser gestellt als zu DDR-Zeiten. Jetzt erhal- Wenn Frauen in eine materielle Notlage kommen, ten alle Mütter Erziehungsgeld, gleichgültig, ob sie dann sind dies in der Regel Einzelschicksale, die von vorher erwerbstätig waren oder nicht. der Sozialhilfe aufgefangen werden können und müs- sen. Unbestritten ist, daß die Frauen in den neuen Bundesländern vom Übergang von der sozialisti- schen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- besonders betroffen sind. Sie, meine Damen und zeit ist abgelaufen. Herren, kennen die Situation: Der Anteil der Frauen an der Zahl der Arbeitslosen liegt seit einigen Mona- Heinz Rother (CDU/CSU): Sofort, Herr Präsident. — ten über 60 %. Einmal arbeitslos geworden, haben es Die Frauen in den neuen Ländern sind überdurch- die Frauen ungleich schwerer, wieder eine Arbeit zu schnittlich von der Arbeitslosigkeit betroffen. Die bekommen. aktive Arbeitsmarktpolitik — — Ich kann die bitteren Gefühle jeder einzelnen Frau gut verstehen, wenn sie nach langjähriger Tätigkeit in Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, nach die- einem Betrieb nicht mehr gebraucht wird oder wenn sem Hinweis gibt es nur noch einen Satz. in Familien plötzlich beide Ehepartner ohne Arbeit sind, womöglich auch noch der Sohn oder die Tochter. (CDU/CSU): Wir sind noch nicht über Gerade dann macht sich das Gefühl der Resignation Heinz Rother den Berg, wir sind aber, so denke ich, auf dem breit. richtigen Weg. Lassen Sie uns gemeinsam daran Deshalb müssen die Frauen in starkem Maße vom arbeiten, diesen erfolgreichen Weg weiterzugehen! massiven Einsatz unserer arbeitsmarktpolitischen (Beifall bei der CDU/CSU) Instrumente profitieren. Die Arbeitsämter bemühen sich um eine Erweiterung des Maßnahmespektrums und um Frauenbeschäftigung auch in nicht typischen Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Parlamen- Frauenberufen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sol- tarischen Staatssekretärin Cornelia Yzer das Wort. len deshalb besonders im Bereich der sozialen Dienste (Zuruf des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] genutzt werden. Wir brauchen AB-Maßnahmen ins- [SPD]) besondere für Frauen — Eine Sekunde, Frau Parlamentarische Staatssekre- (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Der Waigel wird tärin! — Ich muß dem Kollegen Büttner sagen: Wenn sie streichen!) Ihr Rede- und Zwischenrufbedürfnis so groß ist, dann wenden Sie sich doch einmal an die eigene Fraktion. ab dem 45. Lebensjahr. Vielleicht werden Sie auch einmal auf die Rednerliste (Zuruf von der SPD: Ab dem 35.!) gesetzt. Ich glaube, das ist ein Irrtum. — Zur Verbesserung des Frauenanteils bei Arbeitsbeschaffungsmaßnah- Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- men wird auch die Entscheidung der Bundesanstalt desministerin für Frauen und Jugend: Herr Präsident! für Arbeit beitragen, bei Maßnahmen mit überwie- Meine Damen und Herren! Die Debatte hat natürlich gendem Frauenanteil weiterhin einen Zuschuß zu den gezeigt, daß wir in einer sehr schwierigen Zeit des Lohnkosten bis zu 100 % zu gewährleisten. Übergangs leben. Die Debatte hat aber auch bewie- sen, daß einige die Ursachen hierfür nicht mehr (Beifall bei der CDU/CSU) wahrhaben wollen. Dabei mull man sich immer die Es gibt allerdings eine Personengruppe, deren Vergangenheit vergegenwärtigen, wenn man Zu- materielle Lage vollkommen unzureichend ist. Das kunft bewältigen will. sind die Menschen, die in Pflegeheimen leben. Die (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7675

Pari. Staatssekretärin Cornelia Yzer Es war der Sozialismus, der uns das schlimme Erbe mehr Frauen finden den Weg in die Selbständigkeit. hinterlassen hat, an dem heute Frauen am schwersten Über 40 % der Selbständigen in den neuen Bundes- zu tragen haben. ländern sind Frauen. Nebenbei bemerkt: Im Westen (Ursula Schmidt [Aachen] [SPD]: Die Politik macht ihr Anteil bei den Selbständigen nur ein Drittel aus. der Bundesregierung!) Der Bund, die Länder und die Gemeinden unter- Frauen werden von den Vorteilen, die die Soziale nehmen große Anstrengungen, um den Übergang zur Marktwirtschaft bietet, profitieren. Rentnerinnen pro- Sozialen Marktwirtschaft so erträglich wie möglich zu fitieren schon heute davon. Ich halte nichts davon, gestalten. Dennoch ist es nicht leicht. Ich weiß, daß es Tatsachen zu zerreden. Die Rentenhöhe ist seit der gerade für die einzelne Frau, die von Arbeitslosigkeit Währungsunion im Durchschnitt fast verdoppelt wor- betroffen ist, schwer ist, anzuerkennen, daß ihr den. 150 000 Witwen erhalten erstmals eine Rente in Betrieb schließt und sie in ihrer bisherigen Position Höhe von 60 % der Rente ihrer Männer. nicht mehr gebraucht werden wird. Aber es gibt keine Auch das ist noch einmal zu betonen: Junge Frauen Alternative zur Sozialen Marktwirtschaft. Wer nicht- in den neuen Ländern können erstmals wählen, ob sie marktkonforme Lösungen anpreist, wie dies zum Teil sich, vielleicht nur für eine Übergangszeit, ausschließ- hier heute geschehen ist, lich der Familie widmen wollen. Wir haben den (Dr. Peter Struck [SPD]: Wer hat das denn Erziehungsurlaub auf drei Jahre verlängert und das gemacht?) Erziehungsgeld ab 1993 auf zwei Jahre. Die Frauen können im übrigen mit ihrem Partner vereinbaren, der versucht zu verschleiern, daß es gerade die daß er die Möglichkeit, sich ausschließlich der Familie nichtmarktwirtschaftlichen Instrumente waren, die zu widmen, wahrnimmt. Das zeigt, daß Frauen in den die Menschen in den neuen Bundesländern in ihre neuen Bundesländern freier leben können als in der wirtschaftliche Bedrängnis gebracht haben. Vergangenheit. Sie haben endlich die Wahlfreiheit, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die wir jeder Frau zubilligen wollen. Es steht außer Frage: Die Situation vieler Frauen in Die Bewältigung der Arbeitslosigkeit in den neuen den neuen Bundesländern ist außerordentlich schwie- Ländern ist eine soziale Herausforderung ersten Ran- rig. Der Anteil der Frauen an der Arbeitslosigkeit ges. Unsere Gesellschaft muß sich dieser Aufgabe mit beträgt 62,9 %. Von den ehemaligen landwirtschaftli- aller Kraft stellen. Ich bin sicher, daß sie diese Aufgabe chen Arbeitnehmerinnen finden sogar nur noch zwi- bewältigen wird, wenn wir wirtschaftliche Rahmen- schen 10 und 25 % weiterhin in landwirtschaftlichen bedingungen schaffen, die das ermöglichen. Dabei Betrieben Arbeit. Wir dürfen auch nicht hinnehmen, müssen wir aber darauf achten, daß der Arbeitsmarkt daß der Anteil der Frauen an der Arbeitslosenquote in der Übergangsphase nicht zu Lasten von Frauen ins doppelt so hoch ist wie der der Männer. Gleichgewicht gebracht wird. In der Übergangs- Gleichzeitig zeigen sich Probleme, die uns aus phase, in der der Aufschwung noch nicht „volle Fahrt" Westdeutschland bekannt sind: Zu wenig Teilzeitar- erlangt hat und sich noch nicht selbst trägt, müssen beitsplätze stehen zur Verfügung, und der Anteil von zunehmend allgemeine Fördermaßnahmen mit frau- Frauen auf der Leitungsebene von Verwaltung und enspezifischen Aspekten gekoppelt werden. Unternehmen ist viel zu gering. Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung sollten in Aber — auch das möchte ich deutlich betonen Arbeitsamtsbezirken mit einem besonders hohen wer nur eine Negativliste aufstellt, verzerrt die Reali- Anteil von arbeitslosen Frauen mit Anreizen gekop- tät. pelt werden, qualifizierte Arbeits- und Ausbildungs- plätze für Frauen zur Verfügung zu stellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich halte es für erfreulich, daß die Eintritte von Frauen Wir brauchen besondere Anstrengungen, um in Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung mit Beschäftigungsinitiativen für Frauen im ländlichen 60,8 % sehr hoch sind. Über 500 000 Frauen nahmen Raum zu entwickeln. AB-Maßnahmen, an denen 1991 an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen Frauen inzwischen zu rund 40 % teilhaben, können in teil. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind es der Übergangsphase hilfreich sein. Wir müssen aber über 200 000 Frauen, die neu in solche Maßnahmen auch betonen: Sie dürfen nicht zu Lasten von Dauerar- eingetreten sind. Das ist ein Zeichen, daß Frauen beitsplätzen gehen. bereit sind, die Chancen intensiv zu nutzen, die ihnen Wir müssen die Bereitschaft zur Selbständigkeit von hier geboten werden. Die Frauen in den neuen Frauen weiter fördern und mit Beratungsangeboten Ländern haben den Mut, sich den Umstrukturierun- unterstützen. Bisher konnten mit Hilfe der Bundesre- gen zu stellen. Sie bringen dazu auch gute Vorausset- gierung und aus ERP-Mitteln 115 000 Existenzgrün- zungen mit. 90 % haben eine Berufsausbildung. dungen ermöglicht werden. Dadurch wurde ein Inve- (Ursula Schmidt [Aachen] [SPD]: Aber kei- stitionsvolumen von 42 Milliarden DM in den neuen nen Arbeitsplatz!) Bundesländern freigesetzt. Der Bedarf an Facharbeitern und Fachkräften in den Aber nicht nur Staat und Politiker sind hier gefor- neuen Bundesländern steigt. Wir haben eine Vielzahl dert. Die Tarifparteien sind in gleicher Weise gefragt. von Frauen, die sogar über zwei Facharbeiterab- Arbeitgeber und Gewerkschaften müssen in Zukunft schlüsse verfügen. Im stark expandierenden Dienst- ihre Verantwortung gegenüber Frauen ernster neh- leistungssektor bieten sich für Frauen gute Beschäfti- men. Das gilt nicht nur bei Betriebsschließungen und gungsmöglichkeiten. Und auch das ist wichtig: Immer -neugründungen, sondern gerade auch bei der Aus- 7676 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Pari. Staatssekretärin Cornelia Yzer gestaltung der Arbeitsverhältnisse und für die Ein- Deutschen für die Menschenrechte langfristig den richtung von Teilzeitarbeitsplätzen. Boden entzogen und vor allem im Ausland mehr als Es geht jetzt darum, daß die Frauen in den neuen nur das schale Gefühl hinterlassen, daß sich deutsche Bundesländern eine gute Zukunftsperspektive sehen. Menschenrechtspolitik, wenn es darauf ankommt, Wir wissen alle: In einer Wirtschaft, in der die Kräfte eben doch auf leere Beschwörungsformeln be- des Marktes das Regulativ bilden, ist eine Stimmungs- schränkt. lage oftmals wichtiger als mancher gesetzliche Rah- Auch wenn der zweite Punkt unseres Antrags, mit men. Deshalb dürfen wir hier nichts zerreden: wir dem die Bundesregierung zur Wiederbewerbung um müssen Frauen einen Motivationsschub geben. Dabei die Menschenrechtskonferenz in Berlin aufgefordert sind wir alle gefordert, der Staat ebenso wie die werden sollte, inzwischen obsolet geworden ist, hal- Unternehmen und die Verbände. ten wir nach wie vor die im ersten Teil vorgeschlage- Wir wollen, daß die Interessen der Frauen auch in nen Feststellungen des Bundestages zum Verhalten einem schwierigen Umstrukturierungsprozeß ge- der Bundesregierung in dieser Frage und zum Stellen- wahrt werden. wert des Konferenzortes Berlin für aktuell und kon- sensfähig über alle Parteigrenzen hinweg. Das ist vor (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) allem das erschreckende Faktum, daß die Bundesre- gierung es bis heute nicht für nötig gehalten hat, ihre Vizepräsident Hans Klein: Die Aktuelle Stunde ist plötzliche Absage politisch nachvollziehbar zu beendet. begründen. Daran ändern auch die vom Auswärtigen Amt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: nachgeschobenen Kostenargumente nichts. Im Ge- Beratung des Antrags der Gruppe BÜND- genteil, die Kostenplanungen für die angeblich erfor- NIS 90/DIE GRÜNEN derlichen Notbauten um Kongreßhalle und Reichstag herum, die in der Kostenschätzung des Auswärtigen VN-Menschenrechtskonferenz in Berlin 1993 Amtes mit 40 Millionen DM zu Buche schlagen, wer- — Drucksache 12/2365 — den gänzlich unglaubwürdig, wenn man dieser Pla- Überweisungsvorschlag: nung die Möglichkeiten des Berliner ICC und des Auswärtiger Ausschuß (federführend) direkt angrenzenden Ausstellungsgeländes am Funk- Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit turm gegenüberstellt. Im Ältestenrat ist für die Ausprache eine Fünf- Will man uns denn für dumm verkaufen und ernst- Minuten-Runde vereinbart worden. — Dagegen haft behaupten, die Kapazitäten der Wiener City seien erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so umfassender und vor allem billiger zu nutzen als die beschlossen. des ICC, eines der größten und modernsten Konfe- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der renzzentren in Europa? Will man uns wirklich weis- Abgeordneten Vera Wollenberger. machen, ein privat angemieteter Pkw koste 1 000 DM am Tag, der zusätzliche Fuhrpark damit 5 Millionen? Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Prä- Hier sind die Kosten wohl nachträglich nach oben sident! Meine Damen und Herren! „Jeder blamiert manipuliert worden, um das eigene politische Versa- sich, so gut er kann" scheint das Motto der Regie- gen zu beschönigen. rungskoalition für den Rest der Legislaturpe riode Schon jetzt sind wir überzeugt, daß die nächste geworden zu sein. In einer Zeit, wo der Hund einer Blamage für die Bundesregierung mit Sicherheit ins unbekannten Justizministerin mehr von sich reden Haus steht, nämlich dann, wenn uns die Österreicher macht als die Inhaberin eines Schlüsselressorts der vorrechnen werden, wie man als kleines L and eine Regierung, ist die Staatskunst auf den Hund gekom- Konferenz von dieser Wichtigkeit und Dimension men. Die Blamage der Absage der Menschenrechts- erfolgreich finanziert und organisiert. Trübe Aussich- konferenz 1993 in Berlin ist ein weiteres Beispiel für ten für Bonn, aber auch für die Hauptstadt Berlin als die Instinktlosigkeit und die Politikunfähigkeit unse- den künftigen Standort internationaler Behörden und rer Regierung. Organisationen! Die Bewerbung Wiens war ein kluger politischer Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn Wien Schritt, mit dem Österreich uns vorgemacht hat, wie eine gute Alternative zu Berlin ist, die viele der man, jahrelang stigmatisiert durch die Präsidentschaft politischen Kriterien erfüllt, die auch für Berlin gegol- einer äußerst zweifelhaften Persönlichkeit, auf dem ten hätten, bleibt das Problem der Glaubwürdigkeit Gebiet aktiver Menschenrechtspolitik Glaubwürdig- der deutschen Menschenrechtspolitik bestehen. keit zurückgewinnt, alle Chancen nutzt, die mit der Ausrichtung dieser seit 25 Jahren ersten Menschen- So sehr wir uns gefreut haben, von Abgeordneten rechtskonferenz der UNO verbunden sind. aller Fraktionen Zustimmung zu unserem Antrag und Unterstützung signalisiert bekommen zu haben, so Flurschaden für die deutsche Menschen- Ist der wenig können wir nachvollziehen, daß uns jetzt die- den die für alle Betroffenen im In- und rechtspolitik, selben Kolleginnen und Kollegen drängen, den Ausland unverständliche Entscheidung des Außenmi- Antrag zurückzuziehen, und, Wien 1993 im Auge, zur nisters verursacht hat, damit aus der Welt? Keines- Tagesordnung überzugehen gedenken. wegs; denn die Beliebigkeit, mit der die überra- schende Absage seinerzeit mit an den Haaren herbei- Aber um unseren Kollegen von der Regierungsko- gezogenen Kosten-Argumenten zurechtgebogen alition zu ersparen, eine unentschuldbare Fehlent- wurde, hat dem offiziell beschworenen Eintreten der scheidung verteidigen zu müssen, und unseren Kolle- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7677

Vera Wollenberger gen von der SPD eine ebenso peinliche Stimmenthal- verändert hätte. Es gehört auch, meine ich, zum tung zu ersparen, haben wir uns entschlossen, unse- Selbstverständnis eines Parlaments, daß man nicht ren Antrag zurückzuziehen. versucht, Debatten immer wiede r zu wiederholen, Danke. ohne daß sich etwas Neues dazu ergeben hat. Wichtig ist für uns gemeinsam politisch eigentlich nur eines, nämlich daß aus der Absage der Veranstal- Vizepräsident Hans Klein: Als nächster hat der tung in Berlin nicht etwa geschlossen werden kann, Kollege Dr. Burkhard Hirsch das Wort, wiewohl sich die politische Bedeutung der Menschenrechtspolitik jetzt natürlich die Frage aufdrängt, ob die Diskussion für die Bundesregierung oder für die Bundesrepublik weitergeführt werden muß. hätte sich verändert; und wichtig ist nur, daß national (Rudolf Bindig [SPD]: Auch wir wollen jetzt und international kein Zweifel daran möglich ist, daß reden, wenn die reden!) wir diese Menschenrechtspolitik unverändert fortset- — Das ist ja in Ordnung. zen werden. Das auszusprechen wäre ein Sinn einer solchen Debatte. Vielen Dank. (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Dr. Burkhard Hirsch (Beifall bei der CDU/CSU) sehr geehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat eine etwas merkwürdige Situation, wenn man einen Antrag, den man zurückzieht, vorher begründet und Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Herr damit eine Debatte zwar eröffnet, aber gleichzeitig Kollege Rudolf Bindig. den anderen die Möglichkeit nehmen will, darauf zu entgegnen. Ich hätte geglaubt, daß die Sitzung in Rudolf Bindig (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- Berlin einen würdigeren Abschluß als ein solches ginnen und Kollegen! Nochmals haben wir Anlaß, uns Theaterbeispiel bekommt. mit der Fehlentscheidung der Bundesregierung vom Was an dem Antrag gut ist und was Sie etwas hätten Februar dieses Jahres zu befassen, die für Berlin ausführen können, Frau Kollegin, ist die umfangrei- vorgesehene UN-Menschenrechtskonferenz 1993 che und vorbehaltlose Würdigung der erfolgreichen plötzlich abzusagen. Menschenrechtspolitik aller Bundesregierungen, die Erinnern wir uns an den Vorgang: Im Mai vorigen Sie hier leider mit keinem Wort erwähnt haben. Jahres hat Außenminister Genscher dem UN-Gene- (Beifall bei der CDU/CSU) ralsekretär Berlin als Tagungsort der für 1993 geplan- Dieser Würdigung ist in der Tat nichts hinzuzufü- ten zweiten großen, weltweiten Menschenrechtskon- gen. Denn es gehört zu den elementarsten Entwick- ferenz vorgeschlagen. In der Tat wäre Berlin ein lungen der Völkerrechtsgemeinschaft nach dem idealer Konferenzort für eine solche Menschen- Zweiten Weltkrieg, daß gerade in der Menschen- rechtskonferenz gewesen. Berlin ist ein Symbol des rechtspolitik aus relativ unverbindlichen Formeln, Endes des Totalitarismus faschistischer wie kommuni- Grundsätzen, moralisierenden Normen Rechtssätze, stischer Prägung. Hier, entlang des Reichstages, ver- handlungsfähige organisierte Einheiten mit Durchset- lief die Mauer, die mehr als 250 Opfer gefordert hat. zungsmöglichkeit geworden sind. Die Kreuze für die Ermordeten mahnen uns, die brutale Gewalt nicht zu vergessen, die hier an Men- Das ist etwas, woran wir auch in diesem Haus schen ausgeübt wurde, die sich nach Freiheit sehnten. gemeinsam weiterarbeiten sollten. Nun, wo die Freiheit und die Geltung der Menschen- Seit dem Zweiten Weltkrieg ist etwas entstanden, rechte in ganz Deutschland hergestellt worden sind, was Kant in seiner berühmten Schrift „Über die Idee hätten wir die Symbolkraft dieses Ortes, dieser Stadt einer Geschichte der Menschheit" in der ebenso einsetzen können, um weltweit Bilanz über die Lage berühmten „Berlinischen Monatsschrift" 1789 veröf- der Menschenrechte zu ziehen und neue Perspektiven fentlicht hat, nämlich daß die Menschheit durch die für die weitere Verbreitung und Durchsetzung der Verrechtlichung des Zusammenlebens auch der Völ- Menschenrechte zu entwickeln. ker und Staaten aus dem Zustand der Wilden heraus- So haben es auch die anderen Mitgliedsländer der treten und sich zu einer Rechtsgemeinschaft organi- UN gesehen, und nach intensiven Bemühungen der sieren sollte. Das Entscheidende ist — das wurde vor deutschen Diplomatie hat die Generalversammlung 200 Jahren gesagt —, daß das Souveränitätsdenken dem Tagungsort Berlin zugestimmt. Damals erklärte der Staaten nicht mehr auf Dauer die Menschenrechte Außenminister Genscher, Deutschl and und Berlin des einzelnen überwuchern kann. seien sich der Verantwortung und auch der Ehre, die Das ist die entscheidende Entwicklung in den mit der Übertragung der Gastgeberrolle verbunden letzten 50 Jahren gewesen, die Sie in Ihrem Antrag sind, bewußt. Mit dem gefaßten Beschluß zur Ausrich- erwähnen und würdigen. Denn das ist nicht von allein tung in der Bundeshauptstadt würden die Vereinten entstanden. Es ist im Grunde genommen relativ Nationen die aktive Rolle würdigen, die Deutschland nebensächlich, ob eine Veranstaltung 1993 in Berlin international und im Rahmen der Vereinten Nationen oder anderswo stattfinden soll. Warum die Entschei- für die weltweite Anerkennung der Menschenrechte dung so getroffen worden ist, darauf will ich gar nicht spielt. Die Wahl Berlins als Konferenzort sei zugleich mehr eingehen. Das ist nämlich alles schon im Deut- ein Zeichen des Vertrauens und der Anerkennung schen Bundestag in einer Aktuellen Stunde behandelt gegenüber dieser Stadt, die wie kaum ein anderer worden. Ich sehe weder aus Ihrer Begründung noch Platz in der Welt mit dem Fortschritt der Menschen- aus Ihrem Vortrag hier, daß sich an dem, was damals rechte in den letzten Jahren verbunden sei. — Recht gesagt und vorgetragen worden ist, irgend etwas so! 7678 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Rudolf Bindig

Um so peinlicher war die plötzliche Absage der bar sind. Natürlich verfügt Wien als VN - Stadt über Konferenz. Sie war ein Affront gegen die UNO. Die ganz andere Einrichtungen und kann diese Konferenz Regierung hat eine große Chance auf kleinlich-pein- zu ganz anderen Bedingungen durchführen. liche Weise verspielt. Die aufmerksamen Beobachter Ich meine vielmehr, darauf hinweisen zu sollen, daß dieser Negativleistung haben denn auch einhellig der Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im festgestellt, daß die Prügel, die Genscher und die Gegensatz zu der Rede von Kollegin Wollenberger Bundesregierung im Bundestag für diese Fehlent- eigentlich den Geist der Menschenrechtspolitik, wie scheidung bereits erhalten haben, zu Recht verteilt wir sie sowohl im Unterausschuß als auch im Parla- wurden. ment hier pflegen, sehr gut wiedergibt, wie Kollege Peinlich auch die uns hier als sogenannte Begrün- Hirsch bereits sagte. Ich möchte noch einmal zitieren, dung vorgelegte dubiose Rechnung, wonach für die wie es in dem Antrag steht. Dort wird nämlich festge- ca. 15 000 Besucher angeblich ca. 100 Millionen DM stellt: Im Verbund mit ihren Partnern ist es den Kosten aufzubringen gewesen wären. Jetzt hat sich wechselnden Bundesregierungen gelungen, ein in- nach dem Absagedebakel Wien um die Durchführung ternational glaubwürdiges und konsequentes Bild der UN-Menschenrechtskonferenz beworben, wo die deutscher Menschenrechtspolitik zu zeichnen und Kosten auf ca. 80 Millionen österreichische Schilling während der vergangenen 20 Jahre die Instrumente — das sind fast 11 Millionen DM — veranschlagt und Standards des internationalen Menschenrechts- werden. Das ist, grob gerechnet, der neunte Teil des schutzes über die beiden Menschenrechtspakte hin- Betrages, den man uns weismachen wollte. aus mit Beharrlichkeit und Überzeugung weiterzuent- Nun, die Peinlichkeit ist geschehen; sie ist nicht wickeln. revidierbar. Jetzt ist es zu spät, Berlin nochmals formal (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ins Gespräch zu bringen. Wichtig ist uns, daß sich die Bundesregierung nun um so intensiver um die inhalt- Ich bedaure es fast, daß Sie die weitere Beratung liche Vorbereitung der Konferenz bemüht. Wir dieses Antrags jetzt nicht mehr ermöglichen, denn ich erwarten von der Bundesregierung, daß sie in Abspra- glaube, er war sehr gut. Aber wir haben ja noch che mit den anderen europäischen Ländern — auf der andere Möglichkeiten, unsere Politik konstruktiv wei- Konferenz in Wien einen operativen Vorschlag zur ter zu entwickeln. Daß wir dies tun, möchte ich daran Neuordnung des internationalen menschenrechtli- belegen, daß es der deutschen Delegation bei der chen Instrumentariums vorlegt mit der Zielsetzung, Interparlamentarischen Union gelungen ist, in die den geltenden Verträgen und Abkommen und vor Entschließung der Interparlamentarischen Union die allem den Kommissionen und Ausschüssen mehr Wünsche einzubringen — dies also nicht nur von den Rechte und Durchsetzungskraft zu verleihen. Es geht Regierungen, sondern auch von den Parlamenta- um den UN-Menschenrechtshochkommissar, um den riern —, die sich auf einen Hochkommissar für Men- UN-Menschenrechtsgerichtshof, um den internatio- schenrechte und einen Internationalen Menschen- nalen Strafgerichtshof und das Voranbringen der rechtsgerichtshof richten. Arbeit an einem internationalen Verbrechenskodex Ich darf die Debatte auch nutzen, um von hier aus für Straftaten gegen die Menschheit. Hier soll und mitzuteilen, daß es sich wirklich lohnt, sich für die muß die Bundesregierung zur Vorbereitung dieser Menschenrechte zu engagieren, daß dies nicht ver- wichtigen Konferenz initiativ werden. hallt und keine papierene Erklärung ist. Heute hatte (Beifall bei der SPD) ich die Freude, mit dem ehemaligen Präsidentschafts- kandidaten von Peru, Vargas Llosa, zu sprechen. Er sagte mir, daß die Entschließung des Deutschen Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Heri-- Bundestages zu Peru in Lateinamerika eine beachtli- bert Scharrenbroich, Sie haben das Wort. che Resonanz gefunden hat und daß er von Peru aus um Interviews zu dieser Entschließung des Deutschen Bundestages gebeten worden ist. Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU): Herr Präsi- Ich kann uns nur ermuntern, mit unserer Politik dent! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! weiter fortzufahren und immer wieder den Konsens zu Kollegin Wollenberger, die letzten Reden halten mich suchen, wie er erfreulicherweise im Unterausschuß davon ab, auf Ihren Anfangssatz einzugehen: Jeder Menschenrechte sehr gepflegt wird. Wir werden aller- blamiert sich, so gut er kann. Ich finde es vielmehr dings auch Wert darauf legen — das haben wir der erfreulich, daß wir jetzt doch die Debatte nutzen, um Bundesregierung im Unterausschuß mehrfach ge- über die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung sagt —, daß wir intensiv an der Vorbereitung dieser und dieses Parlaments zu sprechen. Menschenrechtskonferenz beteiligt werden. Mit der Es ist selbstverständlich, daß es auch für die Bun- Tatsache, daß diese jetzt in Wien stattfindet, ist desregierung — das hat Frau Staatsministerin Seiler überhaupt kein Hindernis gegeben. Albring in der Aktuellen Stunde auch schon deutlich Herzlichen Dank. gemacht — natürlich sehr ärgerlich ist, daß der Stand- ort Berlin nicht gehalten werden konnte. Herr Kollege (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Bindig, Sie haben richtig begründet, warum es wich- SPD) tig, interessant und wertvoll gewesen wäre, aber das wird natürlich der Menschenrechtspolitik der Bundes- regierung und des Parlaments überhaupt keinen Abbruch tun. Ich glaube auch, daß die Zahlenverglei- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Staats- che, die jetzt gemacht werden, überhaupt nicht halt- minister Helmut Schäfer. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7679

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen schen den Menschenrechten und der Entwicklung ist Amt: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu eine ganz wichtige Frage dort. später Stunde kann ich nur sagen: Ich bin froh, daß Herr Kollege Bindig, wir werden über die Forde- Frau Wollenberger erkannt hat, daß ihr Antrag nicht rung, die Sie aufgestellt haben, sprechen müssen. Ich mehr aktuell war. Man hätte uns das schon etwas bin mit Ihnen der Auffassung, daß die Bundesregie- früher sagen können. Wir hätten uns dann diese rung mit einer ganz klaren Konzeption in diese Debatte zu dieser Stunde gespart, um, vielleicht bei Konferenz hineingeht. Wir haben uns inzwischen vollerem Haus, zu Fragen der Menschenrechte sach- bemüht, Teilnehmer aus Staaten, die am wenigsten lich Stellung nehmen zu können, statt nachzukarten entwickelt sind — least developed countries — auch über ein Ereignis, das wir längst bedauert haben. Es durch einen freiwilligen Fonds der Bundesregierung geht um die Absage einer Konferenz, um die wir uns zu unterstützen, damit sie die Reise nach Wien bezah- sehr bemüht hatten. Aber Ihre Verschwörungstheorie, len können. Es ist eine sechsstellige Summe, die sie in die Sie aufgetischt haben, wir hätten vermeiden die Lage versetzen soll, an der Vorbereitung und der wollen, hier eine Menschenrechtskonferenz durchzu- Durchführung dieser Konferenz teilzunehmen. führen, ist nun wirklich kaum mehr überbietbar. Ich darf noch einmal ausdrücklich betonen, daß sich Warum hätten wir uns denn sonst darum bemüht, sie der Konferenzort zwar bedauerlicherweise geändert hierher zu bekommen? hat, daß wir in Wien aber mit der gleichen Entschie- Aber wir haben Folgen des Zusammenwachsens denheit, wie wir das in Berlin getan hätten, für dieser Stadt zu bedenken gehabt. Die Unkosten, die Fortschritte in dieser so entscheidenden Frage eintre- Ihnen schon im Februar von meiner Kollegin in der ten. Sie können sicher sein, daß uns die Opposition Aktuellen Stunde genannt wurden, waren sehr zumindest in dieser Angelegenheit keine Vorwürfe beträchtlich. Auch Ihre Lösung, die Sie jetzt servieren machen wird. — mit dem Internationalen Kongreßzentrum in Ber- Vielen Dank. lin — war nicht machbar. Ich will das jetzt nicht mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. im einzelnen darstellen. Es ist ausdrücklich gesagt sowie bei Abgeordneten der SPD) worden: Die Unkosten hätten nach unseren Berech- nungen 90 Millionen DM betragen. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- Es ist völlig richtig, daß Wien — darauf hat Herr che. Scharrenbroich hingewiesen —, ein sehr angesehe- ner und für viele Konferenzen der UN bereits erprob- Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat ihren ter Standort, den Zuschlag bekam; es hat vor allem die Antrag auf Drucksache 12/2365 zurückgezogen. Einrichtungen, die in Berlin provisorisch hätten Damit entfällt auch die in der Tagesordnung vorge- geschaffen werden müssen, und zwar ohne Nutzen für schlagene Überweisung. die Infrastruktur Berlins. Insofern liegen die Unko- sten, die immer noch erheblich sind, weit unter denen Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesord- in Berlin, ganz zu schweigen vom Bundeshaushalt, nungspunkt 9 auf: von dem wir alle wissen, daß er große Ausgaben leider Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ nicht mehr verkraftet. Linke Liste Ich bedaure das. Ich selbst hätte die Konferenz sehr Erarbeitung eines neuen Rentengesetzes gerne hier in Berlin gesehen und kann nur unterstrei- — Drucksache 12/2567 chen, was bereits gesagt worden ist. Lassen Sie uns —Überweisungsvorschlag: konzentrie- jetzt auf die Vorbereitung der Konferenz Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) ren; lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, Rechtsausschuß was wir auf dieser Konferenz an durchsetzbaren und Ausschuß für Familie und Senioren vertretbaren Standpunkten präsentieren sollten! Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit einer Fünf- Sie wissen, daß es nicht immer gut ist, wenn man die Minuten-Runde vereinbart worden. Erhebt sich dage- Menschenrechte stets nur in der Dritten Welt einklagt. gen Widerspruch? — Dies ist nicht der Fall. Dann ist Die Ereignisse in Europa nach dem Zusammenbruch das so beschlossen. des Kommunismus, insbesondere im ehemaligen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Jugoslawien, Ereignisse in Republiken der ehemali- Abgeordneten Petra Bläss. gen Sowjetunion und andere Vorkommnisse, geben uns zu denken. Bei der Menschenrechtsdiskussion Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Meine Damen und sollten wir Europäer nicht auf einem hohen Roß Herren! Fast auf den Tag genau vor einem Jahr fand sitzen. die erste von drei Anhörungen zum Rentenüberlei- Wir sollten auch zur Kenntnis nehmen, daß es tungsgesetz im Bundestag statt. Trotz massiven Pro- gerade Länder der Dritten Welt sind, die unsere tests von Sachverständigen und Verbänden wurde am gelegentlich rigiden Vorstellungen zu Menschen- 21. Juni letzten Jahres das Rentenüberleitungsgesetz rechten anders sehen und uns Kulturexport vorwer- durch den Bundestag gepeitscht; ich sage bewußt fen, uns vorwerfen, daß ihnen fremde Philosophien, „gepeitscht", weil es viele überlegenswerte Vor- fremde Ethiken sozusagen aufoktroyiert werden sol- schläge gab, die mit dem Vorschaltgesetz der SPD len. Das ist ein Vorwurf, mit dem man sich auseinan- bzw. unserem Antrag auf Verschiebung der Überfüh- dersetzen muß. Insofern bin ich froh, daß das gerade rung um ein Jahr hätten diskutiert und verarbeitet bei dieser Menschenrechtskonferenz in Wien ein werden können. Damit alles noch als letzter Akt vor wichtiges Thema sein wird: Der Zusammenhang zwi- der Sommerpause über die Bühne gehen konnte, 7680 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Petra Bläss wurde nur ein entschärfender Kompromiß verabschie- fehler beim Rentenüberleitungsgesetz zu beseiti- det. gen. Protest und Widerstand waren damit vorprogram- Lassen Sie mich hier einfügen: Uns ist schon miert, und er ist ausgebrochen, und er schwillt an, seit bewußt, daß unser Antrag an den Entschließungsan- die Rentnerinnen und Rentner der östlichen Bundes- trag vor einem Jahr bei Verabschiedung des Renten- länder im Winter ihre Rentenbescheide erhielten. überleitungsgesetzes anknüpft. Er tut das ganz bewußt. Heute, am 20. Mai 1992, war der traditionsreiche Die Alexanderplatz der Ort zur Äußerung des Unmuts Konstruktionsfehler des Rentenüberleitungs- gesetzes sind wirklich zu beseitigen, nicht nur weiter Tausender, die sich mit dem Wegfall von sozialen und zu entschärfen, wie sich das in jüngsten anderen Zuschlägen, Auffüllbeträgen, Pfennigerhö- Reformüber- legungen andeutet. Ist die Erweiterung des hungen, mit dem politisch motivierten Einfrieren oder Ausnah- etwa eine förderliche Reaktion auf die Kürzen von Rentenleistungen um die verdienten mekatalogs solidarischen Aktionen der verschiedensten Rentne- Früchte ihrer jahrzehntelangen Arbeit gebracht rinnen- und Rentnergruppen, denen es um eine prin- sehen. zipielle Korrektur geht? Ich füge an dieser Stelle hinzu: Ich habe auf dem Eine Herausnahme weiterer Gruppen von Leiten- Alexanderplatz heute eine unheimlich große Erwar- den aus der Begrenzung setzt weiter voll darauf, daß tung auf die heutige Debatte erfahren, und ich denke, das Schubkastendenken vertieft wird. Als Effekt für wenn die Protestierenden vom Alexanderplatz den den Vorschlag, nach der 1,4-Entgeltregelung als lei- leeren Saal hier sehen würden, wären sie noch ent- tend Eingestufte nicht auf 1,0 zu reduzieren, sondern täuschter, als sie es eh schon sind. bei 1,4 zu belassen, kann ich mir nur vorstellen, daß es (Dr. Ruth Fuchs [PDS/Linke Liste]: 17 Abge- damit die Betroffenen bei der Verfassungsbe- ordnete!) schwerde, die sie anstreben, schwerer haben werden. Also auch hier keine tatsächliche Lösung. Es ist beschämend wie die sich als Sozialstaat brü- Wir unterstützen deshalb den Appell der über stende Bundesrepublik die Rentnerinnen und Rentner 20 Verbände und Vereine an den Bundestag, den der ehemaligen DDR behandelt. diese selbst heute auf dem Alex, also faktisch vor Wir übersehen nicht die Schwierigkeiten bei der unserer Haustür hier in Berlin, mit ihren Füßen bekräf- Herstellung der Rechtseinheit bei Renten. Wie wenig tigten. Die fachliche Kompetenz der Betroffenenver- aber selbst Bundesminister Blüm von der eigentlichen bände sollten wir unbedingt nutzen. Logik des DDR-Rentenrechts begreifen will, zeigten Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemein- seine Ausführungen bei der von unserer Abgeordne- sam gesetzgeberisch tätig werden! Schieben Sie nicht tengruppe beantragten Aktuelle Stunde im Januar. die zum Teil hochbetagten Bürgerinnen und Bürger Wir meinen, Gegenläufigkeit der politischen Systeme auf die lange Bank des Rechtsweges von Widerspruch darf nicht auf dem Rücken der Existenz von älteren und Klage! Überfordern Sie nicht das Bundesverfas- und behinderten Bürgerinnen und Bürgern ausgetra- sungsgericht mit Entscheidungen, die hier im Bundes- gen werden. tag getroffen werden müssen! Oder — das muß man Daß es um die bloße Existenz im wahrsten Sinne des leider fragen — kalkulieren Sie makaber die biologi- Wortes geht, liegt in der eingleisigen Vorsorge in der sche Lösung ein? Denn monatlich sterben 15 000, DDR begründet. Dort war die Rente die grundlegende jährlich also 180 000, der von diesem Gesetz „be- und für viele die einzige Versorgungsform fürs Alter, glückten" — ich sage das „beglückten" bewußt in während sich in der Bundesrepublik drei Säulen Anführungsstrichen — Rentnerinnen und Rentner. ergänzen. Derartiges läßt sich aber von den älteren Soll das eine neue Spielart von Finanzsanierung auf Bürgerinnen und Bürgern der östlichen Bundesländer dem Rücken Wehrloser sein, — — nicht nachholen. Wir übersehen aber zugleich nicht, daß auch das Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Sie sind bundesdeutsche Recht grundlegender Veränderun- schon wieder ein Stück über die Zeit! gen bedarf. Erinnert sei nur an solche unsozialen, untragbaren Wirkungen wie die weibliche Altersar- (PDS/Linke Liste): Dann haben Sie sich mut und die jüngste, nicht einmal den Inflationsaus- Petra Bläss verrechnet. — Ich bin sofort fertig. gleich bringende Erhöhung der Westrenten um nur 2,7 %. Ich bin überzeugt, daß Protest und Widerstand nicht nachlassen werden. Gestehen wir gemeinsam hier im Den Rentnerinnen und Rentnern der ostdeutschen Bundestag Fehler ein! Korrigieren wir das Renten- Länder wurde der tatsächliche Wert des bundesdeut- überleitungsgesetz im Interesse eines würdigen schen Rentenrechts erst so richtig bewußt, als sie ihre Lebens im Alter. sogenannte anpassungsfähige Rente in den Beschei- Ich danke. den entdeckten, die für 83 % niedriger ist als die nach DDR-Recht gezahlte. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in Ost und West fordern wir deshalb die Erarbeitung eines neuen Vizepräsident Hans Klein: Erlauben Sie mir nur den Rentengesetzes. Es ist ein humanes Rentenrecht für kleinen Hinweis, daß es immer etwas problematisch soziale Gerechtigkeit bei sozialer Sicherheit zu fin- ist, wenn die Gruppe oder die Fraktion, die einen den, und es sind die grundlegenden Konstruktions- Antrag gestellt hat und selber mit ganzen drei Kolle- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7681

Vizepräsident Hans Klein gen im Raum ist, dann beklagt, daß das Haus so leer Unser Rentensystem hat sich in den 35 Jahren seit ist. 1957 bestens bewährt. Es ist gerecht und durch seine strenge Lohn- und Beitragsbezogenheit vor Willkür (Petra Bläss [PDS/Linke Liste]: Prozentual geschützt. sind wir noch die stärkste Fraktion) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Unabhängig davon halte ich die Situation, bei der das Präsidium langsam in der Überzahl ist, für einen Natürlich gibt es kleine Renten, die allein nicht zum Zustand, mit dem wir uns in den nächsten Tagen und Leben reichen. Aber das ist nicht nur in den neuen Wochen einmal sehr ernsthaft werden beschäftigen Bundesländern der Fall, sondern auch in den alten müssen. Wir können uns nicht dagegen wehren, die Bundesländern so. Die Gründe dafür sind vielfältig Zahl der Abgeordneten zu verkleinern, wenn wir, seit und liegen sehr oft im persönlichen Schicksal begrün- wir 662 Mitglieder haben, ein noch leereres Haus det. haben als je zuvor. Wir haben im vergangenen Jahr lange darüber diskutiert, ob wir eine Aufstockung von Kleinrenten (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie der auf einen bestimmten Mindestbetrag vornehmen sol- Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) len oder nicht. Wir haben das damals aus einer Reihe Dieser Vorwurf trifft natürlich nicht die, die hier von Gründen abgelehnt. Ich kann aus Zeitgründen sind. leider nicht auf diese schwierige Problematik der Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, als Altersarmut und der notwendigen Maßnahmen, die nächster hat der Kollege Alfons Müller (Wesseling) wir treffen müssen, um sie zu beseitigen, eingehen. das Wort. Aber mir ist es zu einfach, zu sagen: Zu Lasten der Rentenversicherung wird eine Grundsicherung allge- meiner Art ohne Beitragszahlung erforderlich. Das führt zu einer politisch gefährlichen Vermischung der Alfons Müller (Wesseling) (CDU/CSU): Herr Präsi- beitragsfinanzierten leistungsbezogenen Rentenver- dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich sicherung mit einer allgemeinen Grundsicherung möchte Ihre Behauptung, verehrte Frau Kollegin, wir durch die Sozialhilfe mit steuerfinanzierten Elemen- hätten hier vor einem Jahr etwas „durchgepeitscht", ten. Mir sind die Folgen für die Solidargemeinschaft mit Nachdruck zurückweisen. Wir haben hier schnell der Beitragszahler dabei einfach zu risikoreich. Es gehandelt, weil wir den Menschen helfen wollten. dürfte dabei auch Verfassungsprobleme geben. (Beifall bei der CDU/CSU) Was die Prämisse angeht, Kindererziehungszeiten und Pflegeleistungen zur besseren Alterssicherung Es ging doch darum, nicht nur die staatliche Einheit, von Frauen höher zu bewerten, so laufen Sie bei uns sondern auch die soziale Einheit zustande zu bringen. offene Türen ein. Kollegin Mascher hat schon auf die Das war das Motiv. Resolution vom 21. Juni 1991 Bezug genommen, die Nun wollen Sie mit Ihrem Antrag das Renten- wir gemeinsam verfaßt haben. Nachdem aber auf Reformgesetz 1990 und auch das Rentenüberleitungs- Betreiben meiner Fraktion in der Mitte der 80er Jahre gesetz wieder in Frage stellen. Mit dem Hinweis auf erstmals Kindererziehungszeiten im Rentenrecht ren- kleine Renten behaupten Sie, das bestehende System tenbegründend und rentensteigernd eingeführt wur- den, sind mit dem Rentenreformgesetz 1992 weitere der lohn - und beitragsbezogenen Rente müsse aufge- geben, zumindest aber wesentlich geändert werden. Verbesserungen erfolgt. Jetzt geht es darum, auf der Sie übersehen dabei, daß die 1957 unter Konrad Grundlage der eben erwähnten Entschließung wei- tere Schritte zur Anerkennung von Zeiten der Kinder- Adenauer geschaffene lohn- und beitragsbezogene - gesetzliche Rentenversicherung kein allgemeines erziehung und der Pflege zu tun, um die in der Familie Bedarfsdeckungssystem für soziale Notfälle ist. Dafür erbrachten Leistungen noch besser anzuerkennen müssen wir andere Instrumente einsetzen; denn unser und zu werten. Wir möchten sichergestellt sehen, daß Rentensystem ist an die persönliche Beitragsleistung auch die in der Familie erbrachten Leistungen genau des einzelnen Versicherten gekoppelt. Sie wissen wie Erwerbsarbeit berücksichtigt werden. Ich denke, genauso wie wir alle: Wer lange Zeit Beiträge in der damit schaffen wir einen eigenständigen Beitrag zur gesetzlich vorgeschriebenen Höhe zahlt, erhält im Lösung der Probleme der Altersarmut bei Frauen. Versicherungsfall eine höhere Rente als derjenige, (Zustimmung der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) der eine geringere Beitragsleistung erbringt. Ich Wir brauchen dabei nicht Ihren Antrag. Bereits der finde, das gebietet auch das Prinzip der Gerechtig- Verband der deutschen Rentenversicherungsträger keit. ist dabei, ein entsprechendes Konzept zu erarbeiten. Die dynamische Rentenformel stellt zudem sicher, Der Sozialbeirat hat sich mit der Problematik befaßt, daß die Renten immer auch der allgemeinen Lohnent- und auch das Bundesarbeitsministerium ist dabei, wicklung folgen. So nehmen auch die Rentner am entsprechende gesetzgeberische Initiativen zu erar- wirtschaftlichen Aufschwung teil. Die Steigerung in beiten. Ich denke, wir sollten an unserer Absicht Höhe von 11,25 % — am 1. Juli kommt eine weitere festhalten, noch in dieser Periode gesetzliche Rege- Erhöhung — macht deutlich, daß im Gegensatz zum lungen einzubringen und durchzusetzen. früheren System in der ehemaligen DDR die jetzige Rentenleistung keine Fürsorgeleistung ist, die vom Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Mül Wohlwollen der jeweils Herrschenden abhängig ist. ler - - (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) Alfons Müller (Wesseling) (CDU/CSU): Ich weiß. 7682 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Alfons Müller (Wesseling) Meine Damen und Herren, wir lehnen den Antrag daß man mit einem solch unterschiedlichen Herange- der PDS ab, weil wir ihn als einen Schritt in die falsche hen und auch einem gestaffelten Vorgehen vielleicht Richtung ansehen. Wir möchten unser bewährtes mehr für die Rentner und Rentnerinnen in Ostdeutsch- Rentensystem weiter und familiengerecht aus- land erreicht und vielleicht auch etwas schneller. bauen. Daß es Defizite in unserem sozialen Sicherungssy- Vielen Dank. stem gibt, sollte man, denke ich, nicht bestreiten. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sollten versuchen, gemeinsam daran zu arbeiten, die Situation zu verbessern. Wir werden Ihrem sehr allge- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Ulrike mein gehaltenen Antrag heute nicht zustimmen. Ich Mascher, Sie haben das Wort. hoffe aber, daß wir gemeinsam an der Verbesserung der Lebenssituation von Rentnern arbeiten können Ulrike Mascher (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- und da auch mit Unterstützung der CDU/CSU etwas ginnen und Kollegen! Fast ist man versucht, hier jeden durchsetzen und erreichen können. Ich hoffe, dafür einzelnen zu begrüßen. auch die Unterstützung der F.D.P. zu haben. Ich hoffe, ich habe alle Gruppen, die noch hier sind, und (Zustimmung der Abg. Petra Bläss [PDS/ Fraktionen gebührend zur Mitarbeit aufgefordert. Linke Liste]) Danke. Ich möchte nur die Äußerungen, die der Herr Präsident zu der Präsenz gemacht hat, dahin gehend (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der ein wenig korrigieren, daß ihm sicher auch die Pla- F.D.P. und der PDS/Linke Liste) nungen von Ausschüssen bekannt sind, die Sitzungen in Berlin und außerhalb von Berlin haben. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schreiner, Vizepräsident Hans Klein: Das tun Sie besser nicht, selbst das fromme Anschauen des Präsidenten kann Frau Kollegin, weil die Äußerungen des Präsidenten gefährlich werden, wenn es verbalisiert wird. keiner Kommentierung bedürfen, um nicht zu sagen, (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Für den daß das nicht zulässig ist. Präsidenten, Herr Präsident!) (Dr. Hartmut Soell [SPD]: Ex cathedra! — Als nächste hat die Kollegin Eva Pohl das Wort. Ottmar Schreiner [SPD]: Er darf nur fromm angeguckt werden! — Heiterkeit bei der SPD) Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem vorliegen- Ulrike Mascher (SPD): Frau Bläss, wir haben zu den Antrag versucht die PDS, sich als Fürsprecher der unserem Rentensystem schon mehrere grundsätzliche Rentnerinnen und Rentner zu profilieren — wahrlich Diskussionen geführt. Ich bestreite nicht, daß viele ein untauglicher, unglaubwürdiger Versuch. Denn es Rentnerinnen und Rentner auch angesichts der war doch gerade die SED/PDS, die die Rentner in der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesarbeitsministers sehr ehemaligen DDR im Stich gelassen hat. viel größere Erwartungen an das westdeutsche Ren- (Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ tensystem hatten, als es erfüllen konnte. Es ist auch Linke Liste]: Die SED war es vielleicht, die nicht zu bestreiten, daß die Rentensteigerungen nicht PDS nicht!) ausreichen, um z. B. die explosiven Mietsteigerungen, die als Folge der Marktwirtschaft auch im Bereich der Sieht man sich den Antrag der PDS genauer an, so Wohnungsversorgung insbesondere Rentnerinnen kann man nur der Aussage zustimmen, daß es sich bei mit niedrigen Renten betreffen, auszugleichen. Wir der Renteneinheit um die Zusammenführung zweier kalkulieren auch nicht mit dem Zeitablauf, um die sehr unterschiedlich entwickelter Rentensysteme Situation von Rentnern und Rentnerinnen zu verbes- gehandelt hat. Dies war eine schwierige und große sern. Aufgabe, die, so meine ich, im großen und ganzen und im breiten Konsens zufriedenstellend gelöst worden Die SPD-Fraktion hat am 4. Mai einen Antrag ist. eingebracht, um eine soziale Grundsicherung im Alter bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeit bereits jetzt (Beifall bei der F.D.P.) zu realisieren, und zwar für die Rentner und Rentne- Dies schließt natürlich nicht aus, daß im einzelnen rinnen in Ostdeutschland und für die Rentner und Fehler vorgekommen sind, die korrigiert werden Rentnerinnen in Westdeutschland, von denen jeden- müssen. Wenn ich vor wenigen Tagen einen Renten- falls bestimmte Gruppen von der Altersarmut betrof- bescheid gesehen habe, der bei 48 Arbeitsjahren ein fen sind. Wir wollen das jetzt machen, nicht erst 1996, Entgelt von 0 DM auswies, weiß jeder: Das kann nicht wie wir das gemeinsam in einer Entschließung festge- stimmen. Solche Fehler führen zu Irritationen bei den legt haben. Betroffenen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Irritationen hat es auch bei den aus Verwaltungs- Die SPD bringt nächste Woche einen Antrag ein, um gründen notwendigen Pauschalierungen der Hinter- das Rentenüberleitungsgesetz möglichst rasch mit bliebenenrenten und bei der Überführung der Zusatz- einigen Korrekturen zu versehen, von denen wir und Sonderversorgung gegeben. Wir haben in einem glauben, daß sie notwendig sind. Die SPD wird auch Gespräch bei der BfA Anfang dieser Woche noch ein Konzept für eine eigenständige soziale Sicherung einmal darauf gedrungen, die offenkundigen Fehler der Frau vorlegen, um den Auftrag, den wir uns schnell zu beseitigen und so rasch wie möglich insbe- gemeinsam gegeben haben, zu erfüllen. Ich glaube, sondere bei den älteren Mitbürgern die pauschalen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7683

Dr. Eva Pohl Rentenberechnungen durch die konkrete Nachbe- nern zu schaffen. Gerade die Rentenversicherung, die rechnung abzulösen. auf langfristigen Planungen und Erwartungen basiert, braucht ein hohes Maß an Verläßlichkeit, wenn sie auf Wenn heute so getan wird, als nähmen nur die Dauer ihre Akzeptanz behalten soll. Daran sollten wir Antragsteller die rentenrechtliche Situation der alle gemeinsam interessiert sein. Frauen im Bundesgebiet ernst, so ist dies falsch. Ich möchte an die gemeinsame Entschließung von CDU/ (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) CSU, SPD und F.D.P. anläßlich der Verabschiedung des Rentenüberleitungsgesetzes erinnern, mit der wir Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Herr eine bessere Berücksichtigung von Kindererzie- Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesmini- hungs- und Pflegezeiten, die Bekämpfung der Alters- ster für Arbeit und Sozialordnung, unser Kollege armut sowie Schritte in Richtung auf eine eigenstän- Rudolf Kraus. dige Sicherung der Frau gefordert haben. (Uta Würfel [F.D.P.]: Jungmannrede?) (Beifall bei der F.D.P.)

Die Forderung, die Rentenanpassung mindestens in Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Höhe der Inflationsraten vorzunehmen, ist sicherlich nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! populär. Aber Populismus ist keine geeignete Richt- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es besteht schnur für stabile Renten. Wer jetzt an dem vereinbar- aus unserer Sicht der Dinge keinerlei Notwendigkeit, ten Anpassungsmechanismus drehen, ihn aus ver- ein neues Rentenversicherungssystem einzuführen. meintlich guten Gründen modifizieren will, öffnet das Das bundesdeutsche Rentenversicherungssystem, Tor zu einer Entwicklung, die wir eigentlich abge- dessen Grundlagen bekanntlich 1957 gelegt worden schlossen glaubten, weil sie unter dem Stichwort sind, hat sich nach unserer Auffassung bewährt. Verschiebebahnhof den Finanzministern zwar kurz- Deshalb ist es nicht abschaffungswürdig oder vom fristig finanzielle Entlastung gebracht, längerfristig Prinzip her zu ändern. aber die Rentenversicherung diskreditiert und Unsi- cherheiten wegen der Sicherheit der Renten provo- Bereits damals wurden die Prinzipien beschlossen, ziert hat. die auch für die Zukunft maßgebend bleiben sollen: Lohn- und Beitragsbezogenheit, Lebensstandardsi- Ein Ziel der Rentenreform und dieses Anpassungs- cherung und Teilhabe der Rentner am Produktivitäts- mechanismus war und muß es auch bleiben, den fortschritt. Auf dieser Grundlage basieren auch das Gleichklang zwischen dem Anstieg der verfügbaren Rentenreformgesetz 1992 und das Renten-Überlei- Einkommen, der Beschäftigten und der Rentner tungsgesetz, die in breitem Konsens von Koalition und sicherzustellen. SPD verabschiedet wurden. (Beifall bei der F.D.P.) Von der deutschen Einheit haben in Ostdeutsch- land am schnellsten die Rentnerinnen und Rentner Von den Belastungen für die Rentenversicherung profitiert. und den Bundeshaushalt einmal ganz abgesehen: Hieran wird im übrigen auch deutlich, wie notwendig (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gerade im Interesse der Rentner und der Beitragszah- An dieser Tatsache gibt es für mich nichts zu rütteln. ler eine Politik der Konsolidierung und äußersten Darüber bin ich natürlich froh. Sie haben es sich Sparsamkeit ist. Von steigenden Inflationsraten wer- schließlich auch verdient; denn sie haben unter der den diese Bevölkerungsgruppen am stärksten betrof- Trennung am längsten gelitten. fen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jedermann, der sich ernsthaft mit der Problematik Um rund 90 % sind die Renten in den neuen der Zusatz- und Sonderversorgung beschäftigt hat, Bundesländern vom Juni 1990 bis Anfang 1992 gestie- weiß, wie komplex, wie schwierig diese Thematik war gen. Das Aufholen geht weiter. Zum 1. Juli 1992 und ist. Hier galt es, abzuwägen und zu entscheiden. werden die anpassungsfähigen Renten in Ostdeutsch- Es sollte alle, die jetzt Änderungen fordern, nach- land wiederum um 12,79 % erhöht. Damit werden sich denklich stimmen, daß die ostdeutschen Länder, die die Renten in den neuen Bundesländern gegenüber sich zu Recht als Sachwalter ihrer Bürger verstehen, dem Stand vor der Sozialunion im Juni 1990 im diesen Regelungen zugestimmt haben, wohl auch in Durchschnitt bereits verdoppelt haben; denn die der richtigen Erkenntnis, daß es keine perfekte, keine durchschnittliche Rente stieg in diesem Zeitraum von alle zufriedenstellende gerechte Lösung gibt. 425 DM auf 952 DM. Dasselbe gilt übrigens auch für die Kriegsopfer. Natürlich muß die Rentenversicherung immer wie- der den geänderten gesellschaftlichen, wirtschaftli- Die gemeinsame Rentenreform von Bundesregie- chen und demographischen Entwicklungen angepaßt rung und Opposition ist ein Musterbeispiel dafür, daß werden. Dabei ist es für uns entscheidend, daß die Politiker unterschiedlicher Parteien im Interesse der Grundprinzipien der Beitrags- und Leistungsbezo- Menschen erfolgreich zusammenarbeiten können. genheit nicht durch Mindestsicherungselemente Kurz einige Bemerkungen zu den einzelnen Prämis- weitgehend überlagert oder gar verdrängt werden. sen des Antrags. Erstens. Immer mal wieder taucht die Insofern halten wir nichts davon — kaum daß das Forderung nach Grundsicherung im Alter auf. Im Rentenreform- und das Renten-Überleitungsgesetz Jahre 1957 erfolgten unter die zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten sind —, Weichenstellungen für ein modernes, verpflichtendes jetzt wieder mit neuen Ankündigungen und Forde- Rentensystem. Die Rente ist keine Zuteilung. Sie ist rungen Verunsicherung bei Rentnerinnen und Rent- lohn- und beitragsbezogen. Sie ist dynamisiert. 7684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus Dadurch nehmen die Rentnerinnen und Rentner an 100 DM Rente im Jahre 1957 sind nach Abzug der Lohn ist der den Fortschritten der Volkswirtschaft teil. Preissteigerungsraten, also real 232 DM geworden. Maßstab für die Rente. Die Rente ist kein Akt der Die Rentner heute können sich also deutlich mehr als Barmherzigkeit. Sie ist gerechter Alterslohn für doppelt soviel von ihrer Rente kaufen wie die Rentner Lebensleistung. Kein Rentner braucht für seine Rente im Jahre 1957. Wären die Renten 1957 dagegen an die danke schön zu sagen. Auch für die Zukunft wollen Preissteigerungsrate gebunden worden, wäre ihre wir, daß der, der ein Leben lang gearbeitet und Kaufkraft nicht gestiegen, sondern gleich geblie- Beiträge gezahlt hat, eine andere Rente bekommt als ben. der, der weniger erwerbstätig war und weniger Bei- Wir brauchen kein grundsätzlich anderes Renten- träge gezahlt hat. recht. Wir brauchen Kontinuität in der Rentengesetz- Zweitens. Bereits bei der Verabschiedung des Ren- gebung. Die Menschen in unserem Land schätzen ten-Überleitungsgesetzes am 21. Juni 1991 hat der Verläßlichkeit der Rentenpolitik höher als kurzatmige Deutsche Bundestag einen Entschließungsantrag Vorteile. angenommen, wonach die Anerkennung von Zeiten Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß sich der Kindererziehung und der Pflege noch in dieser diese Auffassung bei den Beratungen des vorliegen- Legislaturperiode verbessert werden soll. Deshalb ist den Antrags in den Ausschüssen tatsächlich durchset- der Antrag auf Einsetzung einer Arbeitsgruppe völlig zen wird. überflüssig. Ich bedanke mich. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß das am 1. Januar 1992 wirksam gewordene einheitliche Ren- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tenrecht — anders, als die Antragsteller annehmen — erhebliche Verbesserungen gerade auch für viele Frauen in den neuen Bundesländern gebracht hat. Die Regelungen des früheren DDR-Rechts über die Aner- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- kennung von Kindererziehungszeiten waren nur auf che. dem Papier besser. Materiell wirken sie sich in vielen Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage Fällen überhaupt nicht aus. Das betone ich, weil uns auf Drucksache 12/2567 an die in der Tagesordnung manche glauben machen wollen, daß das frühere aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einver- DDR-Rentenrecht besonders frauenfreundlich gewe- standen? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sen wäre. so beschlossen. Drittens. Die Rente in der Bundesrepublik ist lohn- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir und beitragsbezogen. Sie orientiert sich eben nicht an sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. der Preisentwicklung. Das hat sich für die Rentner nur günstig ausgewirkt. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Mittwoch, 3. Juni 1992, 13 Uhr ein. die Entwicklung des Preisni- Bei einer Bindung an Die Sitzung ist geschlossen. veaus im Jahre 1957 wären die Renten heute nicht einmal halb so hoch, wie sie tatsächlich sind. Aus (Schluß der Sitzung: 20.37 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7685*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Dr. Wegner, Konstanze SPD 20. 05. 92 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Dr. Wieczorek, Norbert SPD 20. 05. 92 einschließlich Dr. Wieczorek CDU/CSU 20. 05. 92 Antretter, Robert SPD 20. 05. 92 (Auerbach), Bertram Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 20. 05. 92 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 20. 05. 92 Böhm (Melsungen), CDU/CSU 20. 05. 92* Wilfried * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Brandt, Willy SPD 20. 05. 92 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- Dr. Dregger, Alfred CDU/CSU 20. 05. 92 lung Gansel, Norbert SPD 20. 05. 92 Gattermann, Hans H. F.D.P. 20. 05. 92 Dr. Gautier, Fritz SPD 20. 05. 92 Anlage 2 Gries, Ekkehard F.D.P. 20. 05. 92 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 20. 05. 92 Zu Protokoll gegebene Rede Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 20. 05. 92 zu Tagesordnungspunkt 4 Dr. Hellwig, Renate CDU/CSU 20. 05. 92 (Erklärung der Bundesregierung - Vorbereitung Huonker, Gunter SPD 20. 05. 92 der VN-Konferenz „Umwelt und Entwicklung" vom Ibrügger, Lothar SPD 20. 05. 92 3. bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro - Klimaände Jaffke, Susanne CDU/CSU 20. 05. 92 rung gefährdet globale Entwicklung. Zukunft sichern - Jetzt handeln - Sofortverbot von ozonschädigen Kolbow, Walter SPD 20. 05. 92* * den Substanzen) Dr. Kübler, Klaus SPD 20. 05. 92 Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 20. 05. 92 Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Der Weltgipfel Leidinger, Robert SPD 20. 05. 92 der Vereinten Nationen in Brasilien wird seit fünf Lenzer, Christian CDU/CSU 20. 05. 92 Jahren vorbereitet. Er sollte zu ersten konkreten Lohmann (Witten), Klaus SPD 20. 05. 92 Vereinbarungen zur Lösung der Weltprobleme füh- Magin, Theo CDU/CSU 20. 05. 92 ren, die zum einen der Brundtland-Bericht über Dr. Matterne, Dietmar SPD 20. 05. 92 Umwelt und Entwicklung (1987) und zum anderen Dr. Mildner, Klaus CDU/CSU 20. 05. 92 von den Weltklimakonferenzen von Toronto (1988) Gerhard und Genf (1990) in aller Deutlichkeit aufgezeigt Müller (Schweinfurt), SPD 20. 05. 92 wurden. Doch so beispiellos aufwendig, wie die Kon- Rudolf ferenz vorbereitet wird, so groß scheint auch das Dr. Müller (Wadem), CDU/CSU 20. 05. 92 Fiasko zu werden. Die RIO-Konferenz droht zu einem Hans-Werner Gipfel der Heuchelei und Verantwortungslosigkeit zu Odendahl, Doris SPD 20. 05. 92 werden. Oesinghaus, Günther SPD 20. 05. 92 Der Planet Erde treibt auf einen kritischen Punkt zu, Opel, Manfred SPD 20. 05. 92 ** - dabei verbinden sich soziale und ökologische Pro- Pfuhl, Albert SPD 20. 05. 92 * bleme zu einem engen und dichten Problembündel. Poß, Joachim SPD 20. 05. 92 Die Hauptverantwortung für diesen Zustand tragen Rempe, Walter SPD 20. 05. 92 die Industrieländer: Sie sind für 75 % der energiebe- dingten Treibhausgase verantwortlich, auf sie entfal- Reschke, Otto SPD 20. 05. 92 len bei rund 23 % der Weltbevölkerung fast 80 % des Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 20. 05. 92 Bruttosozialproduktes der Erde. Sie sind die Haupt- Schmidbauer (Nürnberg), SPD 20. 05. 92 verursacher für die ökologische Verrottung der Welt Horst und sie nehmen den Entwicklungsländern ihre Schmidt (Salzgitter), SPD 20. 05. 92 Zukunftschancen, die allein zur sozialen Mindestsi- Wilhelm cherung mehr Energie und Rohstoffe brauchen. Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 20. 05. 92 Doch die ökologisch bankrotten Industrieländer Hans Peter spielen „schwarzer Peter" mit der Zukunft: Die USA Dr. Schulte (Schwäbisch CDU/CSU 20. 05. 92 läßt sich nicht auf verbindliche Obergrenzen für ihre Gmünd), Dieter Kohlendioxyd-Emissionen ein, die Japaner stimmen Dr. Sonntag-Wolgast, SPD 20. 05. 92 denen nur zu, wenn alle Industrieländer das ebenfalls Cornelie tun, und schließlich taucht auch die EG weg, die lange Stachowa, Angela PDS/LL 20. 05. 92 Zeit so getan hat, als wollte sie beim Schutz des Klimas Terborg, Margitta SPD 20. 05. 92 Taten zeigen. US-Präsident Bush verweigert sich, und Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 20. 05. 92 alle anderen fallen wie in einer dafür bereits aufge- Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 20. 05. 92 stellten Kette um. Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 20. 05. 92 Auch die Bundesregierung hat keine Veranlassung, Vosen, Josef SPD 20. 05. 92 sich als Vorreiter aufzuspielen. Von der 1990 ange- 7686* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 kündigten Reduktion der nationalen Klimagase um 25 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik bis 30 % bis zum Jahr 2005 ist bis heute nichts Deutschland und der Tschechischen und Slowaki eingelöst worden. Im Gegenteil: Selbst bescheidene schen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft Finanzhilfen zur Energieeinsparung sind von Finanz- und freundschaftliche Zusammenarbeit minister Waigel gestrichen worden. Bauministerin (Drucksachen 12/2468, 12/2612, 12/2621) Schwaetzer hat bis heute keine Neufassung der Wär- meschutzverordnung vorgelegt. Der Bundesver- Das Herstellen eines guten Verhältnisses zwischen kehrswegeplan von Straßenminister Krause spricht Deutschland und seinen Nachbarn im Osten ist ehrli- allen ökologischen Anforderungen Hohn, und Land- ches und aufrichtiges Anliegen und Ziel, um eine wirtschaftsminister Kiechle denkt bis zuletzt an die dauernde Befriedung Europas und eine für alle Men- Agrarlobby. Von daher verwundert es nicht, daß das schen glückliche Zukunft in Freiheit und Gerechtig- Bundeskabinett Ende 1991 bruchlos einen Beschluß keit zu erlangen. zur Energiepolitik gefaßt hat, der auf den Klimaschutz keine Rücksicht nimmt: Danach sollen die CO2- Das wünschen wir als aus Schlesien Heimatvertrie- Emissionen des Jahres 1990 im Jahr 2010 nahezu bene insbesondere auch für alle von Flucht, Vertrei- stabil bleiben. Nach außen wird der Anschein insze- bung und Zwangsansiedlung getroffenen Men- niert, aber tatsächlich sieht es böse aus. schen. Der ökologische Umbau muß endlich als Zukunfts- Dies wird unseres Erachtens aber nicht durch die chance begriffen werden, nicht mehr mit dem hekti- Zementierung der Unrechtsgrenze an Oder und Gör- chen Klein-Klein, sondern mit einem mutigen Pro- litzer Neiße (wohl letztes sichtbares Zeichen Stalins) gramm nach vorn. Durch langfristig angelegte, in den gegenüber Polen erreicht werden und auch nicht nächsten Jahren stetig steigende Benzin- und Ener- gegenüber der Tschechischen und Slowakischen giepreise können 50 bis 60 Milliarden DM jährlich für Föderativen Republik durch die Verfälschung der ein ökologisches Zukunftsinvestitionsprogramm mo- Beschlüsse von Jalta und Potsdam hinsichtlich der bilisiert werden. Damit ließen sich die notwendigen Vertreibungsverbrechen an den Sudetendeutschen. Maßnahmen zur rationellen Energieverwendung, Bei allen Vertragspartnern wäre die Einsicht nötig Durchsetzung der Solarenergie und für ein effizientes gewesen, daß nur durch volle Beachtung der mittler- Verkehrssystem mobilisieren. Etwa 30 Milliarden DM weile international kodifizierten Prinzipien der Men- jährlich für den Umbau des Energiesektors, davon schenrechte ein neues und zukunftsgerichtetes Kapi- anfangs 20 Milliarden DM für die Energieeinsparung tel im Buch der Geschichte unserer Völker aufgeschla- und 10 Milliarden DM für die Sonnenenergie, bis gen werden kann. dieses Verhältnis in den nächsten Jahren zugunsten der Sonnentechnik umgedreht wird, und etwa 25 Mil- Die Sudetendeutschen haben die von den National- liarden DM jährlich für den Ausbau des öffentlichen sozialisten in deutschem Namen an den Tschechen Nahverkehrs und die Sanierung und Verbesserung begangenen Untaten vielfach nicht nur bedauert, der Bundesbahn. sondern in aller Form verurteilt. Während der kommu- nistischen Diktatur dort wurden diese Erklärungen Ein derartiges Programm bietet konkrete Perspekti- niemals erwidert. ven: Es entlastet die Umwelt, schafft neue Werte und Arbeitsplätze, eröffnet Zukunftsmärkte und hilft den Hoffnungsvoll und befreiend waren daher die klä- Entwicklungsländern. Die Bundesregierung wird auf- renden Worte des nach Ende der kommunistischen gefordert, sich auf jeden Fall in Rio auf ein derartiges Diktatur ersten frei gewählten Staatspräsidenten nationales Klimaschutzprogramm zu verpflichten. Vaclav Havel und des dem Erstunterzeichner seit über Dadurch könnte das folgenlose Gequatsche endlich- 15 Jahren persönlich bekannten damaligen Erzbi- überwunden und hoffentlich ein ökologischer Domi- schofs von Prag, Kardinal Tomaschek, gegenüber den noeffekt ausgelöst werden. Das konkrete Beispiel Sudentendeutschen. Bundesrepublik veranlaßte andere Länder, dem nach- Verschiedene durch das Vertragswerk zu erwar- zutun, und setzte die Länder unter Legitimations- tende Verbesserungen sind zu würdigen. Dennoch zwang, die dies nicht tun. Nur so könnte in Rio noch sind die Opfer von Flucht und Vertreibung zu Recht etwas erreicht werden, sonst droht die Konferenz zum bitter enttäuscht, wenn nach den Eingeständnissen Startsignal für gewaltige Verteilungskonflikte zwi- der Schuld und des Unrechts von deutscher und schen Industriestaaten und Entwicklungsländern zu tschechoslowakischer Seite die verantwortlichen Re- werden. Doch es ist fraglich, ob Bundeskanzler Kohl, gierungen bei der Vertragsgestaltung nunmehr nicht der bei der deutschen Einheit schon die Wahrheit die rechtliche und politische Umsetzung der morali- verdrängt hat, nunmehr, wo die Herausforderung schen Erkenntnis vornehmen. noch viel größer ist, zu derartigen Taten fähig ist. - 1. Die Prager Regierung lehnt es ab, die völker und menschenrechtswidrigen Präsidialdekrete jenes Dr. Benes aus dem Jahre 1945 zurückzunehmen und aufzuheben, der sich bereits 1943 als Erfinder der Massenvertreibung der Deutschen und Hauptanreger Anlage 3 von Vernichtungsappellen an die Zivilbevölkerung hervorgetan hatte. Erklärung gemäß § 31 GO der Abgeordneten Helmut Sauer (Salzgitter) und 2. Der Vertrag gedenkt zwar der Opfer der Vertrei- Bernhard Jagoda (beide CDU/CSU) zur Abstimmung bung und des schweren Leides, das vielen unschuldi- über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom gen Menschen zugefügt wurde, verzichtet aber auf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7687* eine Verurteilung der furchtbaren Massaker und zum Mit Duldung des andauernden Vertreibungsun- Teil bewußten Tötungsaktionen gegenüber 240 000 rechts und versuchter Legitimierung von Vertrei- Landsleuten, was dazu führt, daß diese Vertreibung in bungsverbrechen wird keine Zukunft gesichert. Die der CSFR als „Aussiedlung" umgedeutet und im Wiedergutmachung dieser Verbrechen muß behut- CSFR-Regierungsbericht als „in dieser Form völlig sam, mutig, rechtsbewußt und das heißt selbstver- legitim" bezeichnet wird. ständlich gewaltlos gemeinsam erarbeitet und durch- geführt werden. Es gilt immer noch: „Nichts ist auf 3. Der Vertrag ist mehrfach durch Doppeldeutigkei- Dauer geregelt, was nicht gerecht geregelt worden ten auch in anderen Bereichen geprägt, wie z. B. ist." Auch wenn wir den Vertrag in dieser Fassung durch die Formulierung zum Münchener Abkommen, ablehnen, so wünschen wir unserem Nachbarvolk, die im CSFR-Regierungsbericht als Ungültigkeit „ex das der Erstunterzeichner — wie sein Geburtsland tune" interpre tiert wird, während die Denkschrift der Schlesien — seit 1967 (!) mehrmals besucht hat, eine Bundesregierung von einem völkerrechtlich gültigen glückliche Erneuerung seiner Gesellschaft in Freiheit Zustandekommen jenes Abkommens ausgeht. und innerem (!) wie äußerem Frieden sowie eine erfolgreiche Neuorientierung in Europa. 4. Doppeldeutig ist auch die Erklärung, Vermögens- und Eigentumsfragen seien ungelöst und ausgeklam- Die Völker Europas wollen ein neues Europa einan- mert. (Dadurch wird in der Bundesrepublik Deutsch- der achtender rechts- und wahrheitsbewußter freier land zur Beruhigung der Vertriebenen gesagt: „Wir Völker und somit ein Europa, aufgebaut auf den haben die Frage offenhalten können"; in der CSFR zur Grundlagen von Menschenwürde, Menschen-, Völ- Beruhigung: „Diesen deutschen Wunsch haben wir ker-, Heimat- und Selbstbestimmungsrecht. nicht erfüllt. Der deutsche Außenminister will diesen Sack auch gar nicht öffnen. ") Gleichzeitig werden mit Sehnlichst erhoffen wir uns in absehbarer Zeit einen staatlicher Genehmigung Versteigerungsaktionen ehrlichen und aufrichtigen Dialog mit den Sudeten- über deutsches Eigentum in der CSFR mit der soge- deutschen und dann gerechte Regelungen und für alle nannten Reprivatisierung vorgenommen. Und dies betroffenen Volksgruppen akzeptable Lösungen. geschieht, obwohl doch gerade die Regierung in Prag — wie auch die in Warschau — die Hilfe Deutschlands zum Beitritt in die Europäische Gemeinschaft erwar- tet. Festzustellen, daß damit frühere Regierungsverein- Anlage 4 barungen (SPD/F.D.P.) gebrochen werden und dieser Regierungsvertrag (CDU/CSU-F.D.P.) bereits in aller Erklärung gemäß § 31 GO Öffentlichkeit unterlaufen wird, bevor er überhaupt der Abgeordneten Dr. Erich Riedl und Kurt J. Ross Gesetzeskraft erhält, muß erlaubt sein. manith (beide CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. Fe Wir sehen uns daher nicht in der Lage, dem vorlie- bruar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutsch genden Vertrag in dieser Fassung und bei der Praxis land und der Tschechischen und Slowakischen Föde der Prager Regierung unsere Zustimmung zu geben, rativen Republik über gute Nachbarschaft und und lehnen ihn ab. freundschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 12/2468, 12/2612, 12/2621) Die Zukunft wird erweisen, daß eine ehrliche Freundschaft zwischen unseren Völkern nur auf der Basis der geschichtlichen Wahrheit unter Wahrung - Das tschechische und das deutsche Volk haben über aller völkerrechtlichen Grundprinzipien sowie dem Jahrhunderte hinweg friedlich und freundschaftlich guten Willen auf beiden Seiten erreicht werden miteinander und nicht nur nebeneinander gelebt. kann. Durch tragische politische Ereignisse und Unrecht von beiden Seiten verkehrte sich in diesem Jahrhundert Von einer demokratisch gewählten Regierung in dieses Miteinander ins Gegenteil und führte zur Prag hätte man bei der Vertragsabfassung die Aufhe- Vertreibung von 3,5 Millionen Sudetendeutschen aus bung der menschenverachtenden Benes-Dekrete, das ihrer Heimat. Als Deutsche, die im Sudetenland gebo- Bemühen um die Durchsetzung des Rechts auf die ren sind und deren Vorfahren dort seit vielen Jahrhun- Heimat und Vorschläge zur Eigentumsrückgabe bzw. derten beheimatet waren, fühlen wir uns dem Werk den Willen zu gerechten Lösungen in den Vermögens- der Aussöhnung zwischen unseren Völkern in beson- fragen erwarten müssen, gerade auch, weil dieses derer Weise verpflichtet. Land die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft anstrebt. Diesen Willen zur Aussöhnung unterstellen wir auch dem tschechischen Volk, erklärte doch Staats- Verbitterung wächst aber zusätzlich, wenn die Pra- präsident Vaclav Havel kurz nach seinem Amtsantritt, ger Regierung zwar Entschädigung für geschädigte er erblicke in der Vertreibung der Sudetendeutschen tschechoslowakische Bürger erwartet und deutsche eine „zutiefst unmoralische Tat". Steuergelder zum wirtschaftlichen Aufbau jeweils aus So anerkennen wir auch im vorliegenden Vertrag moralischen Gründen fordert, zugleich aber jegliche als Fortschritt, daß berechtigten Eigentumsansprüche der Sudetendeut- schen ablehnt und der moralischen Verurteilung der — in der Präambel des Vertrages die Vertreibung „Aussiedlung" keineswegs individuelle Wiedergut- erstmals in einem zwischenstaatlichen Dokument machung folgen lassen will. als solche bezeichnet wird, 7688* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992

— den in der CSFR lebenden Deutschen individuelle Wir erwarten deshalb, daß — unter Beteiligung Minderheitenrechte eingeräumt werden und de- der Betroffenen — zwischen der Bundesrepublik ren Geltendmachung in einem zwischenstaatli- Deutschland und der Tschechischen und Slowaki- chen Streitbeilegungsverfahren ermöglicht wird, schen Föderativen Republik alsbald Gespräche auf- genommen werden über — kein endgültiger Schlußstrich unter die sudeten- deutschen Fragen gezogen und damit der Weg zu — die Schaffung von Modellen für die Verwirkli- ihrer Regelung einschließlich der Vermögensfra- chung des Rechts auf die Heimat, denen Tsche- gen offengehalten wird, chen und Sudetendeutsche zustimmen können, — die Tschechische und die Slowakische Republik — eine sozial- und wirtschaftsverträgliche Regelung den mit tschechoslowakischer Staatsangehörig- der Vermögensfragen und eine sofortige Einstel- keit in der CSFR noch lebenden Deutschen entzo- lung der im Widerspruch zu der vereinbarten genes Vermögen unabhängig von dem Vertrag Offenhaltung der Vermögensfragen stattfinden- teilweise zurückgibt, den Versteigerungen, die ohne unverzügliche Maßnahmen dem totalen Verfall anheimgegeben — das Bekenntnis zur jahrhundertelangen fruchtba- sind. ren Tradition gemeinsamer Geschichte und die verschiedenen Perspektiven bezüglich kultureller Zusammenarbeit auch den Sudetendeutschen die Möglichkeit gibt, ihre heimatliche Tradition fort- zusetzen. Anlage 5 Wir müssen jedoch mit Bedauern zur Kenntnis Erklärung gemäß § 31 GO nehmen, daß der Abgeordneten Renate Blank, Wolfgang Ehlers, — das Recht auf die Heimat keinen Eingang in die Horst Gibtner, Dr. Wolfgang Götzer, Josef Hollerith, Vereinbarung gefunden hat, Georg Janovsky, Dr. Egon Jüttner, Hartmut Koschyk, Eduard Lintner, Rudolf Meinl, Dr. Günther Müller, — bezüglich des Begriffs „Vertreibung" in dem Dr. Gerhard Päselt, Angelika Pfeiffer, Dr. Peter Ram Regierungsbericht für die Föderalversammlung sauer, Christian Schmidt (Fürth), Dr. Harald Schrei der Tschechischen und Slowakischen Föderativen ber, Karl-Heinz Spilker, Erika Steinbach-Hermann, Republik vom 6. März 1992 versucht wird, die Herbert Werner (Ulm), Dr. Fritz Wittmann (alle CDU/ Vertreibung als „Aussiedlung" mit dem sogenann- CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset ten Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 zu zes zu dem Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen „legitimieren" , der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechi schen und Slowakischen Föderativen Republik über — der offene Dissens über die mit den Folgen des gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusam Münchener Abkommens zusammenhängenden menarbeit (Drucksachen 12/2468, 12/2612, 12/2621) Fragen fortgesetzt wird,

— die Tschechische und Slowakische Föderative Zu dem Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Republik der Europäischen Menschenrechtskon- Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen vention und den Zusatzprotokollen zwar beigetre- und Slowakischen Föderativen Republik über gute ten ist, das Individualbeschwerderecht zum Eigen- Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenar- tumsschutz jedoch ausgeschlossen hat, beit stellen wir fest: — zwar individuelle Entschädigungen für geschä-- Es ist ein Fortschritt, daß digte tschechoslowakische Bürger erwartet wer- — in der Präambel des Vertrages die Vertreibung den, jegliche Ansprüche Sudetendeutscher auf erstmals in einem zwischenstaatlichen Dokument Eigentumsrückgabe, Entschädigung oder sonstige als solche bezeichnet wird, Schadenersatzleistungen aber abgelehnt wer- den, — den in der CSFR lebenden Deutschen individuelle Minderheitenrechte eingeräumt werden und de- — das tschechoslowakische Gesetz vom 8. Mai 1946, ren Geltendmachung in einem zwischenstaatli- wonach „eine Handlung, die in der Zeit vom chen Streitbeilegungsverfahren ermöglicht wird, 30. September 1938 bis zum 28. Oktober 1945 vorgenommen wurde und deren Zweck es war, — kein endgültiger Schlußstrich unter die sudeten- einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewin- deutschen Fragen gezogen und damit der Weg zu nung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zu ihrer Regelung einschließlich der Vermögensfrage leisten, oder die einer gerechten Vergeltung für offengehalten wird, Taten der Okkupanten und ihrer Helfershelfer — die tschechische und die slowakische Republik zum Ziele hatte, ... auch dann nicht widerrecht- den mit tschechoslowakischer Staatsangehörig- lich (ist), wenn sie sonst nach den geltenden keit in der CSFR noch lebenden Deutschen entzo- Vorschriften strafbar gewesen wäre", nicht zu- genes Vermögen unabhängig von dem Vertrag rückgenommen wird. teilweise zurückgibt, Diese Gründe sind so schwerwiegend, daß wir uns — das Bekenntnis zur jahrhundertelangen fruchtba- nicht in der Lage sehen, dem am 27. Februar 1992 ren Tradition gemeinsamer Geschichte und die unterzeichneten Vertrag unsere Zustimmung zu verschiedenen Perspektiven bezüglich kultureller geben. Zusammenarbeit auch den Sudentendeutschen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 7689*

die Möglichkeit geben, ihre heimatliche Tradition Anlage 6 fortzusetzen. Erklärung gemäß § 31 GO Wir bedauern jedoch, daß des Abgeordneten Claus Jäger (CDU/CSU) zur — das Recht auf die Heimat keinen Eingang in die Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu Vereinbarung gefunden hat, dem Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen — bezüglich des Begriffs „Vertreibung" in dem und Slowakischen Föderativen Republik über gute Regierungsbericht für die Föderalversammlung Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammen der Tschechischen und Slowakischen Föderativen arbeit (Drucksachen 12/2468, 12/2612, 12/2621) Republik vom 6. März 1992 versucht wird, die Vertreibung als Aussiedlung mit dem sogenannten Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 zu Dem Vertrag mit der Tschechoslowakei vermag ich „legitimieren", nicht zuzustimmen. Ein so umfassend angelegter Vertrag, der nicht auch die Vermögensfragen der — der offene Dissens über die mit den Folgen des vertriebenen Deutschen regelt, wird bestehende Münchener Abkommens zusammenhängenden Wunden im Verhältnis der beiden Völker weiter Fragen fortgesetzt wird, schwären lassen und damit jenes langfristige Vertrau- ensverhältnis nicht herstellen können, das sein Ziel — die Tschechische und Slowakische Föderative ist. Trotz vieler positiver Abmachungen in dem Ver- Republik der Europäischen Menschenrechtskon- trag, die ich begrüße, ist damit die Basis für eine vention und den Zusatzprotokollen zwar beigetre- ten ist, das Individualbeschwerderecht zum Eigen- Zustimmung zum Ratifizierungsgesetz für mich nicht gegeben. tumsschutz jedoch ausgeschlossen hat, — zwar individuelle Entschädigungen für geschä- digte tschechoslowakische Bürger erwartet wer- den, jegliche Ansprüche Sudetendeutscher auf Anlage 7 Eigentumsrückgabe, Entschädigung oder sonstige Schadenersatzleistungen aber abgelehnt wer- Erklärung gemäß § 31 GO den, der Abgeordneten Wolfgang Lüder, Cornelia Schmalz-Jacobsen, Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burk — das tschechoslowakische Gesetz vom 8. Mai 1946, hard Hirsch und Dr. Jürgen Starnick (alle F.D.P.) zur wonach „ eine Handlung, die in der Zeit vom Abstimmung über den Entschließungsantrag der 30. September 1938 bis zum 28. Oktober 1945 CDU/CSU und F.D.P. zu dem Entwurf eines Gesetzes vorgenommen wurde und deren Zweck es war, zu dem Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewin- Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen nung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zu und Slowakischen Föderativen Republik über gute leisten, oder die eine gerechte Vergeltung für Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammen Taten der Okkupanten und ihrer Helfershelfer arbeit (Drucksachen 12/2468, 12/2612, 12/2621) zum Ziele hatte, ... auch dann nicht widerrecht- lich (ist), wenn sie sonst nach 'den geltenden Wir stimmen den anstehenden Verträgen mit Vorschriften strafbar gewesen wäre", nicht zu- Ungarn und der CSFR uneingeschränkt zu. Deswegen rückgenommen wird. lehnen wir den Antrag der Koalitionsfraktionen einer Wir erwarten, daß — unter Beteiligung der Betrof- Zusatzentschließung zum CSFR-Vertrag ab. Der Ver- fenen — zwischen der Bundesrepublik Deutschland - trag ist ausgewogen, verständlich und zukunftswei- und der Tschechischen und Slowakischen Förderati- send. Er spricht für sich, deswegen sollte er auch für ven Republik alsbald Gespräche aufgenommen wer- sich stehen. den über Die Resolution erweckt den unbegründeten An- — die Schaffung von Modellen für die Verwirkli- schein, deutsche Interessen seien hier zu kurz gekom- chung des Rechts auf die Heimat, denen Tsche- men. Das setzt ein falsches Signal sowohl für Deutsch- chen und Sudentendeutsche zustimmen können, land und unsere Bürger als auch für die CSFR und unsere tschechischen und slowakischen Nachbarn. — eine sozial- und wirtschaftsverträgliche Regelung Die Entschließung ist überflüssig, weil wir als Deut- der Vermögensfragen nach Einstellung der im scher Bundestag erst vor kurzem in dem Beschluß zur Widerspruch zu der vereinbarten Offenhaltung der Drucksache 12/2311 vom 19. März dieses Jahres Vermögensfragen stattfindenden Versteigerun- unsere Position zu den aus Osteuropa Vertriebenen gen, deutlich gemacht haben. — die Erhaltung von Kulturdenkmälern, die ohne Die Entschließung ist falsch, weil sie ein falsches unverzügliche Maßnahmen dem totalen Verfall Bild der Vergleichbarkeit von Unrecht zeichnet. anheimgegeben sind. Wir können nicht zum deutsch-tschechoslowaki- Die Völker und Volksgruppen der Tschechischen schen Verhältnis sprechen, ohne zur völkerrechtswid- und Slowakischen Föderativen Republik können ver- rigen Besetzung von Teilen des Landes, ohne zum sichert sein, daß wir mit unserer Person dafür bürgen, politischen Überfall durch Deutschland, ohne zu den daß Deutschland ihre Lebensrechte und einen friedli- Kriegsverbrechen der Deutschen, ohne zu Lidice und chen und rechtsstaatlichen Weg in die Zukunft mit Judenmorden Klartext zu reden. Eigenes Unrecht darf sichern wird. nicht weniger deutlich beim Namen genannt werden 7690* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 93. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Mai 1992 als fremdes. Dieser Maxime, die unser Bundespräsi- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dent in seiner Rede in Prag erwähnte, wird die Drucksache 12/1782 Entschließung nicht gerecht. Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Deswegen stimmen wir mit Nein. Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen hat: Finanzausschuß Drucksache 12/2257 Nr. 3.3 Ausschuß für Familie und Senioren Anlage 8 Drucksache 12/2257 Nr. 3.62 Amtliche Mitteilungen Ausschuß für Gesundheit Drucksache 12/1838 Nr. 3.4 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Drucksache 12/2144 Nr. 2.15 Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- Auswärtiger Ausschuß schätzung Drucksache 12/1968 Drucksache 12/1612 Nr. 2.11 Ausschuß für Gesundheit Drucksache 12/2101 Nr. 3.47 Drucksache 11/1479 Drucksache 12/2257 Nr. 3.70