Wirtschaft der Verschwendung Die Biologie der Allmende

Andreas Weber

Öko-logisch: Die wahre Ökonomie der Biosphäre

Es gibt eine seit Milliarden von Jahren erfolgreiche Allmendewirtschaft: die Biosphäre. Deren Öko- logie ist jener irdische Haushalt von Energie, Stoffen, Wesen, Beziehungen und Bedeutungen, der die menschengemachte Öko-nomie enthält und erst ermöglicht. Licht, Sauerstoff, Trinkwasser, Klima, Boden, Energie versorgen auch den Homo oeconomicus der Gegenwart, der sich nach wie vor von Erzeugnissen der Biosphäre ernährt.

Die Natur ist das gemeinwirtschaftliche Paradigma par excellence. Damit meine ich nicht nur, dass der Mensch mit den übrigen Wesen während einer überwältigenden Zeitspanne nach den Standards einer Commons-Wirtschaft zusammenlebte. Ich bin vielmehr überzeugt, dass die Beziehungen innerhalb der Biosphäre nach Allmendegesichtspunkten verlaufen. Darum kann uns die Natur eine schlagkräftige Methodologie für die Allmende als eine neue natürliche und soziale Ökologie liefern. Eine solche »existentielle Ökologie der Allmende« soll hier skizziert werden.

Wirtschaftsliberalismus als heimliche Metaphysik des Lebens

Aber von welcher Natur ist die Rede? Um den Haushalt der Lebewesen ohne die Lasten der liberalistischen Ökonomie bzw. Natur-Metaphorik zu betrachten, ist es zunächst nötig, Öko-logie und Öko-nomie des natürlichen Haushaltens neu zu verstehen. Wir können dabei in der Natur eine Entfaltungsgeschichte der Freiheit erkennen, zu der hin sich autonome Subjekte in gegenseitiger Abhängigkeit entwickeln. Diese Auffassung steht freilich im Gegensatz zum gängigen Bild des Lebens und Stoffaustausches in Biologie und Wirtschaftslehre.

Wenige Modelle der Wirklichkeit waren in den letzten 200 Jahren so eng miteinander verschwistert wie die Theorie der Natur und die Theorie unseres Haushaltens. Beide Disziplinen fanden ihre heutige Form im viktorianischen England, beide prägten die entscheidenden Metaphern der jeweils anderen. Das führte dazu, dass Zustände der Gesellschaft auf den Kosmos abgebildet und die dort naturwissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse wieder auf die Gesellschaft projiziert wurden.

So lieferte Thomas Robert Malthus, ein politischer Ökonom, mit der Idee von Überbevölkerung und Ressourcenknappheit dem Biologen Charles Darwin das entscheidende Puzzlestück für die These vom »Überleben des Fittesten«. Diese erhob »Daseinskampf«, »Konkurrenz«, »Wachstum« und »Optimierung« stillschweigend zu Axiomen unseres Selbstverständnisses. Biologischer, technischer und sozialer Fortschritt werden allein aus der Summe einzelner Egoismen geboren: Im immerwährenden Wettkampf erschließen sich Arten (Firmen) ihre Nischen (Märkte) und erhöhen so ihre Überlebenschancen (Gewinnmargen), während schwächere (weniger effiziente) zugrunde gehen (Konkurs anmelden). Die daraus entstandene Wirtschafts- und Bio-Metaphysik enthält jedoch weniger eine »objektive Weltbeschreibung« als ein Urteil der Zivilisation über sich selbst. Die Ökonomie sah sich zunehmend als harte Naturwissenschaft. Sie leitete ihre Modelle aus Biologie und Physik ab – bis hin zum mathematischen Begriff des Homo oeconomicus. Dieser – ein maschinengleich seinen Nutzen maximierender kooperationsfeindlicher Egoist – entwickelte sich zum heimlichen Modell des Humanen.1 Umgekehrt profitierte auch die Evolutionsbiologie von ökonomischen Modellen. Das »egoistische Gen« ist kaum etwas anderes als ein auf die Biochemie

1 Zum Homo oeconomicus siehe den Beitrag von Friederike Habermann in diesem Buch (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 1 zurückgespiegelter Homo oeconomicus (vgl. Dawkins 1978).

Man könnte die Allianz zwischen Biologie und Wirtschaft eine »ökonomische Naturideologie« nennen. Diese regiert heute unser Verständnis von Mensch und Kosmos. Sie definiert sowohl unsere körperliche Seite (den Homo sapiens als gengesteuerte Überlebensmaschine) als auch unseren gesellschaftlichen Aspekt (den Homo oeconomicus als egoistischen Nutzenmaximierer). Die Ratio hinter dem Wettkampf ums Überleben ist immer rival und exklusiv2: Es geht darum, so viele Mitspieler wie möglich auszuschalten und sich das größte Stück vom Kuchen zu sichern, kurz: den anderen Leben zu stehlen. Geistesgeschichtlich war die Neuerfindung der Natur als ökonomischer Konkurrenz- und Optimierungsprozess eine zentrale Figur in der Einhegung der Allmende. Sie geht als geistige »enclosure« den realen Enteignungen und Vertreibungen voraus und legitimiert sie. Historisch fallen die ersten Umwandlungen von Gemeineigentum in Privatkapital in die frühe Neuzeit (ca. 1500-1800). In derselben Epoche brach sich im Denken die Vorstellung des französischen Denkers René Descartes Bahn, dass der menschliche Geist mit dem Körper nichts zu tun habe, dass dieser bloße Sache sei, ein mechanischer Automat, so wie alle übrigen nichtmen- schlichen Lebewesen auch. Eine solche Auffassung ist die Absage an jede Form der Verbundenheit. Die Natur ist hier das Reich blinder Kausalzusammenhänge und somit für die menschliche Selbsterfahrung als Bezugspunkt nicht mehr verfügbar – so wie der gräfliche Wald immer weniger für den zum Tagelöhner herabgestuften Bauern verfügbar war. Die Idee, dass die unmenschlichen Kräfte von Optimierung und Selektion das Reich der »bloßen Dinge« und damit letztlich auch uns beherrschen, ist nur die konsequente Steigerung dieses Grundmodells der Entfremdung, des Grundmusters einer seelischen Exklusion.

Die Einhegung der einst allen frei verfügbaren Natur reicht bis tief in unsere Psyche hinein. Unter Kontrolle geriet zunehmend auch die innere Wildnis des Menschen, der sich immer weniger als verkörperter Teil des wachsenden Ganzen versteht und sich somit in seinen Erfahrungen und Gefühlen vom Rest des Kosmos isoliert erfährt – bis hin zur heute gängigen Idee, Natur existiere nur als Begriff, nicht als Realität, während sie real zerstört wird.

Die ökonomische Naturideologie schließt Wildnis, die sich von selbst vervollkommnet und die keinem Wesen gehört, aus der menschlichen Empfindung aus. Keine über die Prinzipien von Konkurrenz und Optimierung hinausgehende Beschreibung kann noch Allgemeingültigkeit beanspruchen. Eine solche ist nichts als schöne Illusion, der »in Wahrheit« die Triebkräfte des erbarmungslosen Wettbewerbs zugrunde liegen. Liebe reduziert sich auf die Wahl des besten Fortpflanzungspartners, Kooperation erscheint als Trick im Ressourcenwettkampf und künst- lerischer Ausdruck als »Ökonomie der Diskurse«.

Die Enteignung bemächtigt sich des Homo sacer (Giorgio Agamben), jenes tiefsten Kerns individueller Unversehrtheit im Menschen, der die verletzliche Leiblichkeit, die pure Körper- existenz des Menschen enthält. In ihrer letzten Konsequenz droht die Einhegung der Allmende somit zu Biopolitik zu werden.

Natürlicher Antikapitalismus

Eine anderes Haushalten wird greifbarer, wenn sich nachweisen lässt, dass Biologie anders funktioniert als ein Optimierungswettkampf. Ein neues Bild ist tatsächlich überfällig, denn mittlerweile wird in der Biologie selbst die Geltung des Paradigmas »Alle gegen alle« in Frage gestellt. Der biologische Kosmos – und darin auch das Bild des Menschen – wandelt sich von

2 Die Begriffe »Rivalität« und »Exklusivität« werden im Beitrag von Silke Helfrich ab S. 85 erläutert (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 2 einem Schlachtfeld feindlicher Optimierungsmaschinen zu einem Reigen von Subjekten, denen ihr eigenes Existieren etwas bedeutet und die ihre Existenzen in einem bedingten Wettbewerb und unter »schwacher Kausalität« miteinander aushandeln.

Diese Wandlung ergibt für die Schlagwörter des »biologischen Liberalismus« folgendes Bild:

1. Effizienz: Die Biosphäre ist nicht effizient. Warmblüter verbrauchen über 97 Prozent ihrer Energie allein zur Unterhaltung des Körpers. Die Photosynthese erreicht einen lächerlichen Wirkungsgrad von rund sieben Prozent. Fische, Amphibien und Insekten müssen oft Millionen von Eiern legen, damit ein einziger Nachkomme überlebt. Statt effizient zu sein, ist die Natur redundant: Sie macht mögliche Verluste durch unvorstellbare Fülle und atemberaubende Verschwendung wett. Sie ist nicht sparsam, weil die Grundlage aller Arbeit, die Sonnenenergie, als Geschenk vom Himmel fällt.3 2. Wachstum: Die Biosphäre wächst nicht. Die Menge der Biomasse erhöht sich nicht. Der Durchsatz steigert sich nicht: Die Natur betreibt eine »Steady- State-Ökonomie«.4 Auch die Zahl der Arten vermehrt sich nicht notwendig, sie nimmt in manchen Epochen zu, in anderen wieder ab. Was sich aber erhöht, ist die Vielfalt von Erfahrung: Empfindungsarten, Ausdrucksweisen, Erscheinungs-varianten. Die Natur gewinnt somit nicht an Masse, sondern an Tiefe. 3. Konkurrenz: Noch nie ist nachweislich eine neue Art aus der Konkurrenz um eine Ressource entstanden. Arten werden vom Zufall geboren: Durch überraschende Mutationen, durch die Isolation einer Gruppe vom Rest ihrer Artgenossen, durch unerwartete Symbiosen, also durch Kooperation. Erhöhte Konkurrenz allein – etwa um einen begrenzten Nährstoff – bewirkt biologisch Verödung. 4. Knappheit: Die grundlegende energetische Ressource der Natur, das Sonnenlicht, ist im Überfluss vorhanden. Auch eine zweite entscheidende Ressource, die Zahl ökologischer Beziehungen und neuer Nischen, ist nach oben unbegrenzt. Eine hohe Zahl von Arten und die Vielfalt der Beziehungen zwischen ihnen führen in einem Lebensraum nicht zu verschärfter Konkurrenz und Dominanz eines »Stärkeren«, sondern zu mehr Beziehungen zwischen den Arten und damit zur Steigerung der Freiheit bei Zunahme gegenseitiger Abhängigkeit. Je mehr verschwendet wird, desto größer ist der Reichtum. 5. Eigentum: In der Biosphäre existiert er nicht. Nicht einmal der eigene Körper gehört einem Individuum – sein Stoff wechselt und wird dauernd durch Sauerstoff, CO2 oder Nahrung ersetzt. Sprache ist von der Gemeinschaft der Sprecher hervorgebracht worden. Die Wildnis des von selbst Gewordenen, über das der Einzelne nicht verfügt, durchzieht dessen innerste Identität. Jede Individualität, jedes inmitten anderem Leben gelungene eigene Leben, ist somit einer sowohl biologischen als auch symbolischen Allmende geschuldet.

Commons-Elemente der Biosphäre

Im Laubwald gelten andere Regeln des individuellen und des gemeinschaftlichen Gedeihens als in einer Trockenwüste, denn in der Natur entfalten sich Subjekte unter jeweils komplexen und lokal- spezifischen, immer wieder neu entstehenden Beziehungen. Die Gesamtheit dieser Entfaltungen ist der Lebensraum, den die Wesen nicht einfach nutzen, sondern dessen Bestandteile sie sind. Ihr Gedeihen ist an das Gedeihen des gemeinsam hervorgebrachten Systems gekoppelt. Dessen Gesundheit liegt auf einem von Augenblick zu Augenblick neu errungenen prekären Gleichgewicht

3 Weitere Beispiele finden sich im Gespräch zwischen Brian Davey, Silke Helfrich, Wolf- gang Höschele und Roberto Verzola in diesem Buch (Anm. der Hg.). 4 Zustand einer Wirtschaft, bei dem alle relevanten Größen relativ zueinander konstant sind (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 3 zwischen zu viel Autonomie des Einzelnen und zu strengen Zwängen durch das Ganze. Die jeweiligen Erscheinungsweisen dieser Balance sind die sinnlichen Formen der Natur – jene Schönheit des Lebendigen, welche die meisten Menschen mit dem Gefühl von Sinn und Zugehörigkeit erfüllt.

Die Natur als Ganze ist das Paradigma eines Haushaltes der Gemeingüter. Nichts ist in ihr Monopol, alles ist Open Source. Nicht das egoistische Gen ist die Quintessenz des Organischen, sondern der offenliegende Quelltext jeder genetischen Information. Auch die Gene, die heute patentiert werden, sind natürlicherweise nicht rival und nicht exklusiv, und nur so bringen sie Neuheit zustande. Die DNA konnte sich in so viele Spezies verästeln, weil alle ihren Code nutzen dürfen, weil jeder das für ihn Sinnvollste daraus basteln kann. So besteht das menschliche Erbgut zu etwa einem Fünftel aus den Genen von Viren. Wie es in der Natur kein Eigentum gibt, so gibt es auch keinen Abfall. Alle Verfallsprodukte sind Nahrung. Jedes Individuum macht sich, wenn es stirbt, einem anderen zum Geschenk, so wie es selbst durch die Gabe des Sonnenlichts seine Existenz empfangen hat. Zwischen Geben und Nehmen herrscht ein Zusammenhang, in dem Produktivität Verlust bedingt.

In der ökologischen Allmende stehen eine Vielzahl unterschiedlicher Individuen und Arten in mannigfachen Verbindungen – Kooperation und Konkurrenz, Partner- und Beuteschaft, Produktivität und Destruenz. Sie alle folgen jedoch einem übergeordneten Gesetz: Langfristig hat nur solches Verhalten Bestand, welches dem Ökosystem Produktivität ermöglicht und das Netz der Beziehungen nicht schlagartig zerstört. Das Individuum kann sich nur selbst realisieren, wenn sich das Ganze realisiert. Ökologische Freiheit gehorcht dieser Notwendigkeit. Je tiefer die Bezüge im Ganzen des Systems werden, desto mehr schöpferische Nischen bieten sich für die einzelnen Teilnehmer.

Allmende als Lebensbeziehung

Eine genaue Analyse der Ökonomie der Natur ist in der Lage, eine Ontologie der Allmende zu liefern; das heißt: eine allgemeine Theorie der Funktionsprinzipien oder Muster der Allmende5, welche die Unterscheidung zwischen »materiell« und »sozial« zu integrieren im Stande ist. Natürliche Prozesse definieren die Richtschnur, um den Umgang mit dem verkörperten, materiellen Aspekt unserer Existenz in eine »Kultur unserer Lebendigkeit« zu verwandeln. Der Begriff der »Allmende« (oder »Commons«) liefert das verbindende Element zwischen dem »Natürlichen« – der von selbst werdenden Welt der Wesen und Arten – und dem »Sozialen« oder »Kulturellen« – der Sphäre der vom Menschen mittels symbolischer Systeme, Diskurse und Praktiken gemachten Dinge. Die Natur in ihremgenuinen Allmendecharakter zu verstehen ist ein Weg, uns selbst neu zu verstehen, und zwar sowohl in unserer biologischen wie in unserer sozialen Lebendigkeit.

Wenn die Natur tatsächlich ein Allmendesystem ist, besteht konsequenterweise die einzige Möglichkeit, ein beglückendes Verhältnis zu ihr aufzubauen, in einem Haushalt der Gemeingüter. Die Selbstrealisation der Art Homo sapiens ist in einem Allmendesystem gut aufgehoben, da Kultur die arttypische Realisierung unserer Lebendigkeit ist. Eine Gemeinschaft (zwischen Menschen und nichtmenschlichen Akteuren) nach dem Prinzip der Commons zu organisieren heißt stets, individuelle Freiheit in und mit der Freiheit der Gemeinschaft zu erhöhen (siehe Tabelle).

Tabelle: Existenzielle Auswirkungen verschiedener Arten des Haushaltens

5 Zur Idee universeller Muster von Commons-Prozessen siehe den Beitrag von Franz Nahrada in diesem Buch (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 4 Neoliberalismus Darwinismus Allemende (ökologisch/sozial) Konzentration Verdrängung Vielfalt Abhängigkeit Ressourcenabhängigkeit Freiheit in Bezogenheit Fragmentierung Sequentielle Optimierung Integration Kunden Überlebenskämpfer Subjekt der Gemeinschaft Lokal vs. Global Lokal Lokal und global (holistisch) Gelingen = Verdrängung Gelingen = Verdrängung Gelingen = Kompromiss Patente Beute- und Open Source Abwehrmechanismen Sieger: wer am meisten Sieger: wer die höchste relative Sieger: wer am tiefsten mit der Ressourcen besitzt Nachkommenzahl hat Gemeinschaft verwoben ist Effizienz Effizienz Vielfalt der Ausdrucksformen Monopol Dominanz Selbstausdruck als Kultur Egos in feindlicher „Umwelt“ Arten unter „Selektionsdruck“ Prekäre Gemeinschaft der Individuen System der Trennung Netz der Teilhabe

Die Wirklichkeit ist, anders als unsere dem Dualismus verhaftete Kultur annimmt, nicht in die zwei Substanzen des deterministisch gedachten Materiellen, der Biophysik, und des freiheitlich verstandenen Immateriellen, der Kultur und Gesellschaft, gespalten. Lebendige Wirklichkeit hängt vielmehr immer und auf jeder Ebene vom Gelingen einer prekären Balance zwischen Autonomie und Bezogenheit ab – von einem schöpferischen Prozess, in dem historisch und lokal einmalige Prinzipien für die Steigerung des Ganzen durch die Selbstrealisierung des Einzelnen geschaffen werden und umgekehrt. Es sind Funktionsprinzipien, die eine stets fragile Balance zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft zum Ziel haben. Diese Grundsätze gelten für die Autopoiese, die Selbstherstellung des Organischen, ebenso wie für eine gelungene menschliche Beziehung, für das Gedeihen eines Ökosystems genauso wie für gelingendes Wirtschaften im Einklang mit den Stoffhaushalten der Erde. Es sind die Gesetze der Allmende.

Der Allmendegedanke ist somit das vereinende Band für eine Weltsicht, die nicht länger vom Gegensatz Natur – Gesellschaft/Kultur ausgeht, sondern von den vielfältigsten Gemischen zwischen Kulturen und Naturen. Er hebt die Konkurrenz zwischen dem Ökologischen und dem Sozialen auf. Im Kern einer jeden Existenz, die sich der Allmende verpflichtet, liegt die Problematik, wie das Gedeihen des Einzelnen unter Steigerung des ihn enthaltenden und tragenden Ganzen realisierbar ist. Genau an diesem Punkt kehren die theoretischen Überlegungen in die Praxis zurück, in die Rituale und Idiosynkrasien des Vermittelns, Kooperierens, Sanktionierens und Einigens. Auch hier ist die Praxis der Allmende nichts anderes als die Praxis des Lebens.

Literatur Dawkins, Richard (1978): Das egoistische Gen, Reinbek bei Hamburg.

Andreas Weber (Deutschland) ist promovierter Biologe, Philosoph und Autor. Sein Denken und Schreiben dreht sich um die Beziehung zwischen menschlichem Selbstverständnis und der Natur. Er lebt in Berlin und Varese/Italien. Seine Aktivitäten kann man unter http://autor- andreas-weber.de verfolgen.

Commons-Sommerschule 2012 5 Allmende: Von Grund auf eingehegt

Hartmut Zückert

Mit »Commons« hat in den modernen Sozialwissenschaften und in der interessierten Öffentlichkeit ein historischer Begriff Karriere gemacht wie wenige andere. Berühmt wurde dieser Begriff bekanntlich durch Garrett Hardin und seinen berühmten Aufsatz The Tragedy of the Commons, ins Deutsche übersetzt als Die Tragik der Allmende (Hardin 1968; 1970). Hardin hatte das historische Phänomen der Commons aus dem Zusammenhang der Einhegungen in England1 auf Parkplätze, Ozeane, Nationalparks, Wasser und Luft übertragen. Hier stellt sich die Frage, ob nicht ein ahistorischer Ana- logieschluss vorliegt, der zur Klärung der Gegenwartsproblematik wenig beiträgt.

Die Kritik an Hardins einflussreichem Essay machte klar, dass die historischen »Commons« keineswegs »open to all« und damit einer tragisch unabwendbaren Zerstörung gewidmet waren. Es gab vielmehr einen jeweils klar definierten Kreis von Berechtigten, die untereinander Regeln vereinbarten, um eine Degradierung der Ressource zu verhindern.2 Hardin verwendet einen weniger scharf umrissenen Begriff als Gordon, der in Bezug auf die Weltmeere von einer »common-property resource« spricht (Gordon 1954). Von Gemeineigentum könne aber nicht die Rede sein, wenn eine Besitzergreifung der jedermann zugänglichen Ressourcen gar nicht stattgefunden habe, meinten wiederum Gordons Kritiker.

Elinor Ostrom gibt die Eigentumskategorie als analytischen Ansatzpunkt auf und macht mit dem Ausdruck »common-pool resource« (der der Bezeichnung von Erdöl- oder Grundwasser- vorkommen entliehen ist) den Ressourcenbegriff zur Basis ihrer Untersuchung.3 Sie unterscheidet frei zugängliche von zugangsbeschränkten natürlichen Ressourcen. Hinsichtlich der frei zugänglichen, in niemandes Eigentum befindlichen Ressourcen hält sie Hardins Warnungen für zutreffend (Ostrom 1990: 183). Für Ressourcen mit beschränktem Zugang jedoch benennen Ostrom und andere eine Reihe von Beispielen gemeinschaftlicher Nutzungen, die zum Teil seit Jahrhun- derten bestehen und die Ressourcen erhalten. Hier kommt der Eigentumsbegriff wieder ins Spiel.

Ostrom und Schlager unterscheiden verschieden starke Bündel von Eigentumsrechten und deren Inhaber, nämlich 1. die Nutzungsberechtigten (»authorized users«), die nur das Recht auf Zugang und Entnahme haben; 2. die Inhaber (»claimants«), die darüber hinaus auch das Recht auf Ausschluss haben; 3. die Besitzer (»proprietors«) mit zusätzlichen Verwaltungsrechten; und 4. die Eigentümer (»owners«), denen schließlich auch das Recht auf Veräußerung zusteht. Je stärker nun das Bündel sei, desto weniger gefährdet sei der Bestand der »common-pool resources« (Schlager/Ostrom 1992).

Die Auffassung vom Eigentum als Bündel von Rechten ermöglicht eine Hierarchisierung: vom Nutzungsrecht über die Inhaberschaft und den Besitz zum Volleigentum. Eine Typologie kann durch die vergleichende Betrachtung weltweiter Fälle von Gemeingutverwaltung gewonnen werden. Oder auch, indem man sich die historischen Allmenden daraufhin ansieht, welche Formen der Verwaltung und der eigentumsrechtlichen Verfassung ihren jahrhundertelangen Bestand ermöglichten.

1 Der vorangehende Beitrag von Peter Linebaugh zeichnet den konkreten Hintergrund von Hardins historischer Referenz nach (Anm. der Hg.). 2 Ein Überblick über die Diskussion findet sich bei Lerch 2009. 3 Der Begriff »common-pool resource« wird als »Gemeinressource« oder »Allmendressource« übersetzt.

Commons-Sommerschule 2012 6 Allmenden historisch: wie es zu Einhegungen kam

Vor der mit der Industriellen Revolution verbundenen Agrarrevolution wurde der Grund und Boden in zweierlei Intensitäten genutzt (das Folgende nach Zückert 2003): durch eine intensive Bearbei- tung des Acker- und Wiesenlandes (Düngen, Pflügen, Säen, Eggen, Ernten, Be- und Entwässern), das sich daher in Privatbesitz der Bauern befand; und eine extensive Bewirtschaftung des Weide- und Waldlandes, auf das das Vieh getrieben und auf dem das Holz geschlagen wurde, das daher in gemeinschaftlichem Besitz blieb: die Allmenden (siehe Abb.). Die Zahl des Viehs, das man halten konnte, war von der Menge des Heus als Winterfutter und damit von den vorhande-nen Wiesen abhängig. Vom Frühjahr bis zum Herbst trieb man dann das Vieh auf die »Allmendweide«.

Die Agrarrevolution bestand im Grunde darin, dass man begann, Futterpflanzen wie Klee, Rüben und Kartoffeln anzubauen, so dass das Vieh im Stall gefüttert werden konnte und die unkultivierten Weiden entbehrlich wurden. Die Allmende wurde in Acker umgewandelt oder als Weide intensiver gepflegt, das heißt: sie wurde eingehegt. Die Waldweide wurde abgeschafft, die Wälder wurden intensivierter Holzwirtschaft gewidmet und ebenfalls privatisiert. Lediglich Residualnutzungen, die – wie die Alpwirtschaft – nur extensiv möglich waren, blieben gemeinschaftlich.

Die agrarischen Innovationen erforderten Investitionen: die Umstellung der Fruchtfolge, Saatgut für die Futterpflanzen, Zäune oder Hecken, Ställe und neues Gerät; daher waren Großbauern, Pächter und Gutsherren bei der Veränderung der Produktionsweise im Vorteil und trieben sie voran, während die Kleinbauern am tradierten Wirtschaften festhielten. Darauf beruhen die Auseinander- setzungen um die Einhegungen zwischen Gutsherren und Pächtern auf der einen und Kleinbauern auf der anderen Seite. Letztere mussten, da sie kaum konkurrenzfähig waren, den Kürzeren ziehen. Ohne die Haltung von ein wenig Vieh auf der Allmende konnten sie aber nicht existieren, und nachdem diese eingehegt worden war, wurden sie freigesetzt und standen den Einhegungs- gewinnern in ihren Großbetrieben als Landarbeiter zur Verfügung. Das war die wahre »tragedy of the commons«.

Die Eigentumsverteilung nach den Einhegungen entsprach in ihren Grundzügen zunächst der Eigentumsordnung, die sich zuvor herausgebildet hatte. Eigentum war unter der Feudalherrschaft immer geteiltes Eigentum: Der Bauer erhielt seinen Hof mit dem dazugehörigen Land vom Adligen oder vom Kloster zur Leihe, er musste dafür Fronarbeit, Natural- oder Geldabgaben leisten und war der Gerichtsbarkeit der Herrschaft unterworfen. Da die Allmende zum Hofland gehörte, unterstand auch sie dem Grundherrn; »lord of the soil of the common« nannte er sich in England. Die Herrschaft trieb wie die »commoners« Vieh auf die Allmendweide und schlug Holz im Wald. In welchem Maße dies geschah, hing in Europa davon ab, in welchem Umfang die Herrschaft selbst einen Landwirtschaftsbetrieb führte oder hauptsächlich Abgaben bezog.

Östlich der Elbe mussten die Bauern bis ins 19. Jahrhundert hinein Fronarbeit auf den Gutsäckern leisten und hatten nur Nutzungsrechte an der Allmende. In England oder im Rheinland hingegen wurden die Gutshöfe verpachtet und die dominierende Pachtwirtschaft sorgte für eine Dominanz in der Weidennutzung gegenüber den anderen Allmendgenossen. Infolge der gewerblichen Nachfrage nach Wolle überfluteten in England die Schafherden der Grundherren die Commons. Im Rheinland zogen die »Meistbeerbten«, also die Pächter, die Verwaltung des Waldes immer mehr an sich. In Südwestdeutschland und in der Schweiz wurden die Gutsäcker an die Bauern verliehen, die Herrschaft zog sich auf die extensiven Wirtschaftszweige wie Holzwirtschaft oder Schafhaltung zurück und konkurrierte mit den Bauern um die Allmenden.

Dementsprechend entwickelten sich die Eigentumsrechte verschieden. In Südwestdeutschland

Commons-Sommerschule 2012 7 wurde das Feudaleigentum der Herren immer mehr zurückgedrängt, und um 1800 hatten die Bauern faktisch Eigentum an ihren Höfen und an der Allmendweide und festgeschriebene Nutzungsrechte am Wald, oft auch Gemeindewälder. Östlich der Elbe dagegen hatten die Bauern nur Besitzrechte an ihren Höfen und nur Nutzungen an der Allmende. Entsprechend fielen die Ergebnisse der Einhegungen aus. In England sicherten sich die Lords und ihre Pächter den Löwenanteil an den Commons – ein Skandal, den schon Thomas Morus 1516 in der Gesellschaftskritik, die er seiner Utopia voranstellte, mit dem berühmten Diktum anprangerte: »Schafe fressen Menschen«. Adlige und Äbte nähmen den Bauern »das schöne Ackerland weg, zäunen alles als Weide ein, reißen die Häuser nieder, zerstören die Dörfer, lassen nur die Kirche als Schafstall stehen« (Marus 1964: 28f). Östlich der Elbe war es ärger, die Gutsherren eigneten sich das Gemeinland an und speisten die Bauern mit minimalen »Entschädigungen« ab. Die durch die Aneignung des Gemeinlandes zu Großgrundbesitz angewachsenen Güter wurden mit halbfreien, der Knute des Gutsherrn gehorchen- den Landarbeitern betrieben. Der Staat spielte den Geburtshelfer der neuen Eigentumsordnung in England mit den »parliamentary enclosures« (also Einhegungen durch Parlamentsgesetze; circa 1760-1820) oder in Preußen 1811/21 mit den Gemeinheitsteilungsordnungen. In Südwest- deutschland dagegen fielen die Allmendteilungen in einem lang währenden Prozess zugunsten der Bauern und Gemeinden aus.

Allmenden historisch: von der Genossenschaft verwaltet

Eigentumsrechtlich waren die Allmenden an den Ackerbesitz gebunden; wer Acker besaß, durfte sein Vieh auf die Allmende treiben. Der Ackerbau wurde genossenschaftlich betrieben, und die Dorfgenossenschaft hatte die Regelungshoheit über die Allmenden. Eine wichtige Regelung betraf den Abschlusstermin der Ernte, so dass das Vieh in die Stoppeln getrieben wurde und den Acker- boden düngte. Nach der Getreide- und Heuernte wurden also auch Äcker und Wiesen Allmenden, das Privateigentum ruhte und war bis zum Frühjahr gemeinschaftlicher Besitz.

Das Vieh des ganzen Dorfes wurde gemeinschaftlich auf die Weide getrieben, entweder im Reihedienst der Bauern, das heißt, dass der Reihe nach jeder diese Aufgabe übernahm, oder indem die Genossenschaft einen Hirten beschäftigte, der darauf zu achten hatte, dass das Vieh nicht in die Felder lief. Als bei der Zunahme der Viehmenge die Gefahr der Übernutzung der Weide entstand, weil mehr Vieh ausgetrieben wurde, als Gras wuchs, erließ die Genossenschaft eine Weideordnung in einem sogenannten »Weistum« oder »bylaw«4. Sie beschränkte die Viehzahl, legte Bußen fest gegen jene, die dagegen verstießen, und trieb sie – etwa mittels des Pfändungsrechts – ein. Ähnliches galt bei anderen Regelungen und Verstößen. Wenn der Holzeinschlag überhandnahm, wurden Kontingente festgelegt. Es waren demnach genossenschaftliche Institutionen nötig: erstens eine Genossenschaftsversammlung, die die Regeln beschloss; zweitens ein Bauer-(Bürger-)meister, der die Allmendeordnung exekutierte; und drittens ein Dorfgericht, das Streitfälle entschied. Die Gefährdung der Allmende hatte für die Genossenschaft einen Zuwachs an Kompetenzen zur Folge.

Dazu gehörte auch die Aufsicht über die innere Allmende, also den gemeinschaftlichen Grund und Boden im Innern des Dorfes, auf dem Gemeinschaftseinrichtungen wie Hirtenhaus, Schmiede, Backhaus oder Badehaus standen. Bau und Brennholzversorgung solcher Einrichtungen bestritt die Gemeinde aus dem Allmendwald. Zu derartigen Zwecken konnte sie auch Allmendgrundstücke ver- äußern. Die Genossenschaft war also rechts- und vermögensfähig, sie bildete gemeindliche Institutionen.

Genossenschaft heißt, dass das Wirtschaften des einzelnen Eigentümers ermöglicht wird durch das Zusammenwirken aller. Daher rührt die (später mythologisierte) genossenschaftliche Devise: »Einer

4 Von lokalen Autoritäten erlassene Gesetze und Bestimmungen.

Commons-Sommerschule 2012 8 für alle, alle für einen!«

Ein Eigentumsrecht an der Allmende hatten nur die Ackerbesitzer. Es gab im Dorf aber neben den Bauern noch Handwerker, auf deren Dienste die Bauern angewiesen waren, und Arbeitskräfte, die von den Bauern in Arbeitsspitzen, vor allem der Ernte, beschäftigt wurden und die im Übrigen mit Spinnen und Weben ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Genossenschaft räumte diesen Nicht- Bauern ein, eine Kuh auf die Allmende zu treiben und Bruchholz im Wald zu sammeln. Aus dem Aufeinanderangewiesensein im Dorf entstanden diese Nutzungsberechtigungen. Mit der Zunahme der Zahl der Spinnerinnen und Weber in den Dörfern während der Frühindustrialisierung summierte sich die Zahl ihres Viehs mancherorts derart, dass es die Allmende überlastete. In diesen Industrie- dörfern kam es tatsächlich zu einer Krise der Allmende, da die unterbäuerliche Schicht ohne Ackerbesitz einseitig auf die marginale Allmendnutzung angewiesen war, während doch die Allmenden eigentlich das Pendant zum Ackerbau waren.

Je gefestigter die Eigentumsrechte der Bauern am Acker und infolgedessen an der Allmende gewesen waren, desto stärker war ihre Selbstverwaltung. Im Gericht des Dorfes waren nicht mehr die Interessen der Herrschaft ausschlaggebend, sondern die der Bauerngenossenschaft. Der herrschaftliche Schultheiß wurde zum Gemeindeorgan, aus dem Gutsgericht wurde das Gemeindegericht. Es entwickelte sich ein entsprechendes Denken, genossenschaftliche Grundsätze wurden zur Norm erhoben. In den Abstimmungen der Genossenschaftsversammlung war die Größe der Höfe der jeweiligen Bauern nicht von Belang, sondern jeder hatte eine Stimme, es galt: »Ein Mann, ein Wort!« Und das Gewinnstreben des Einzelnen war immer so weit begrenzt, dass nicht das Auskommen aller dadurch beeinträchtigt wurde; das war der Sinn der Begrenzung der Viehzahl auf der Allmende. Der »gemeine Nutzen« war die oberste Norm dieser genossenschaftlich geprägten Gesellschaft. Und keineswegs lokal beschränkt. Da diese Norm weithin anerkannt war, wurde sie auf allgemeine gesellschaftliche Belange übertragen: als Forderung an den Fürsten, den Staat darauf auszurichten, dass der gemeine Nutzen gefördert würde, und an die Kirche, diese Werte zu predigen (Blickle 2008).

Es gab ein reges Gemeindeleben mit jährlich festlichem Umzug die Gemarkungsgrenzen entlang, dem feierlichen Umtrunk nach der Revision der Gemeindekasse und anderem mehr. Volksbräuche verbanden sich mit der Allmendweide. Die Glocke, die der Dorfbulle auf der Weide um den Hals trug, tönte in den Ohren der Bauern: »Der Schulte kömmt, der Schulte kömmt« (Der Schultheiß hielt den Zuchtbullen für die Gemeinde). Zu Neujahr bliesen die Hirten im Dorf auf ihren Hörnern, gingen von Tür zu Tür und sangen ihr Lied, das die Bauern aufforderte, ihnen etwas zu geben – am besten die geräucherten Würste herauszurücken. Die Gaben galten als Ausdruck der Wertschätzung der Bauern für den sorgsamen Umgang der Gemeindeangestellten mit ihrem Vieh (Zückert 2001).

Die Allmenden gehörten einer Wirtschaftsweise an, die nach dem Entwicklungsstand der landwirtschaftlichen Produktionsverfahren nicht anders als gemeinschaftlich sein konnte. Damit verbunden war eine soziale und kulturelle Hartmut Zückert — Allmende: Von Grund auf eingehegt Interaktion, die umso vitaler war, je mehr die Genossenschaft dieses Wirtschaften selbst verwaltete. Und dies wiederum hing eng mit den Eigentumsrechten der Genossenschaft an den Gemein- ressourcen zusammen.

Allmenden von heute?

Der historische Allmendebegriff deckt ein breites Spektrum der gemeinschaftlichen Besitzer- greifung ab: von der bloßen Nutzung einer in herrschaftlichem Eigentum befindlichen Ressource über die Selbstverwaltung und den Ausschluss Dritter bis zum Recht der Veräußerung. Er hat den

Commons-Sommerschule 2012 9 gleichen Umfang wie der von Ostrom vornehmlich an der Untersuchung von natürlichen Ressourcen gewonnene.

Demgegenüber bezieht sich der Gemeingutbegriff, wie er in der aktuellen Debatte verwendet wird, auch auf natürliche Ressourcen mit freiem Zugang.5 Allerdings enthält dieser Gemeingutbegriff keine Option, wie diese Güter erhalten werden können.

Sind aber die Definitionsmerkmale der historischen Allmenden – oder eines ähnlichen Gemein- eigentumbegriffs – auf Gemeingüter mit freiem Zugang, gar auf globale Ressourcen übertragbar? Ciriacy-Wantrup und Bishop waren überzeugt, dass Gemeineigentumsinstitutionen zur Lösung von Gegenwartsproblemen natürlicher Ressourcen beitragen können und es bereits tun. Ein Beispiel sei die Hochseefischerei: Die Festlegung einer Fischereisaison, um der Überfischung entgegenzu- wirken, habe eine Parallele in der Weidesaison auf den Allmenden; die Ausdehnung der nationalen Fischereizonen auf 200 Seemeilen vor der Küste habe eine Analogie in den Grenzen des Weide- landes eines Dorfes und der Bestimmung, wer darin Weiderechte habe; die Festlegung von nationalen Fangquoten wie auch der anteiligen Fangquoten der einzelnen Fischer habe eine Parallele in den Viehauftriebsbeschränkungen auf der Allmende. Ähnliche Institutionen zur Regulierung der Nutzung der Luft würden entstehen. Folge man denen, die unter anderem die Weltmeere als gemeinsames Erbe der Menschheit betrachteten, könne man diese Ressourcen als »a giant commons« behandeln, die treuhänderisch von einer internationalen Agentur wie den Vereinten Nationen verwaltet werden könnten (von Ciriacy-Wantrup/Bishop 1975: 721-724).

Der historische Allmendebegriff ist ein Eigentumsbegriff. Wenn man die Commons-Debatte der Gegenwart historisiert und den historischen Commons- bzw. Allmendebegriff ins Spiel bringt, ist das zu berücksichtigen. Doch es muss überlegt werden, ob die Eigentumsfrage in der Lösung der globalen Problematik überhaupt die zentrale Frage ist. Und wenn ja, wie Gemeineigentumsrechte heute ausgestaltet werden können.6

Literatur

Blickle, Peter (2008): Das alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München. Gordon, H. Scott (1954): »The Economic Theory of a Common-Property Resource – The Fishery«, in: The Journal of Political Economy 62, S. 124-142. Hardin, Garrett (1968): »The Tragedy of the Commons«, in: Science 162, 1968, S. 1243- 1248; dt.: »Die Tragik der Allmende«, in: Lohmann, Michael (Hg.): Gefährdete Zukunft. Prognosen angloamerikanischer Wissenschaftler, München 1970, S. 30-48. Lerch, Achim (2009): »Die Tragödie von der ›Tragedy of the Commons‹«, in: Helfrich, Silke (Hg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München, S. 85-95. Morus, Thomas (1964): Utopia, übersetzt von Gerhard Ritter, Stuttgart. Ostrom, Elinor (1990): Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge; dt.: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen 1999.

5 Mehr noch, in der modernen Commons-Debatte werden häufig alle Dinge und Ressourcen, die nicht von einem Einzelnen hergestellt sind oder die der Allgemeinheit geschenkt wurden, als Gemeinressource oder Allmende bezeichnet. Ganz gleich, ob sie nun natürliche oder kulturelle Ressourcen sind, ob sie der Zugangsbeschränkung bedürfen oder nicht. Die Wissensallmende etwa gedeiht dann am besten, wenn freier Zugang zu Wis- sen und Informationen gewährt ist (Anm. der Hg.). 6 Für Diskussionen und Denkanstöße danke ich Julio Lambing.

Commons-Sommerschule 2012 10 Rösener, Werner (1985): Bauern im Mittelalter, München. Schlager, Edella/Ostrom, Elinor (1992): »Property-Rights Regimes and Natural Resources: A Conceptual Analysis«, in: Land Economics 68, S. 249-262. von Ciriacy-Wantrup, Siegfried/Bishop, Richard C. (1975): »Common Property as a Concept in Natural Resource Policy«, in: Natural Resources Journal 15, S. 713-727. Zückert, Hartmut (2001): »Gemeindeleben in brandenburgischen Amtsdörfern des 17./18. Jahrhunderts«, in: Zückert, Hartmut/Rudert, Thomas (Hg.): Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.-18. Jahrhundert), Köln, S. 141-179. Zückert, Hartmut (2003): Allmende und Allmendaufhebung. Vergleichende Studien zum Spätmittelalter bis zu den Agrarreformen des 18./19. Jahrhunderts, Stuttgart.

Hartmut Zückert (Deutschland) ist promovierter Historiker, war 1995-1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Max-Planck-Arbeitsgruppe Ostelbische Gutsherrschaft an der Universität Potsdam. Veröffentlichung: Allmende und Allmendaufhebung (2003).

Commons-Sommerschule 2012 11 Die Geschichte stottert oder wiederholt sich Neue Commons, neue Einhegungen

Hervé Le Crosnier

Die Geschichte der Commons spiegelt sich in der Expansion der Märkte und in der Zunahme privater Entscheidungen über Dinge, die zuvor gemeinschaftlich geregelt wurden. Die Technologien des späten 20. Jahrhunderts sind in dieser Hinsicht zweischneidig. Sie haben einerseits zu mehr Commons geführt, indem sie neue, marktferne Räume schaffen wie jenen der virtuellen Welt.1 Auf der anderen Seite sind sie geeignet, die private Aneignung der Gemeinressourcen zu verschärfen, wie im Falle der Lebewesen und der Biosphäre. Viele haben geglaubt, mit der Ausbreitung der Informationstechnologien würde sich eine neue Kernzone der Commons etablieren. Unendlich reproduzierbar bei gegen Null gehenden Grenzkosten2 – in diesem Licht erschien die Informa- tionstechnologie geradezu als Inbegriff eines unveräußerlichen Gemeingutes. Die ständig fortschreitende Miniaturisierung, die Einführung neuer Infrastrukturen für die Produktion von Gütern, an denen der IT-Anteil stetig zunahm (etwa durch 3D-Printer oder programmierbare Werkzeuge), machten eine Renaissance der Commons auch in der Industriewelt denkbar. Und erschien nicht schließlich vor allem das Lebendige durch seine Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren,3 lange als ultimatives Gemeingut? War es nicht allen Menschen gleichermaßen geschenkt? Boten nicht Tiere und Pflanzen die Chance zur uneingeschränkten Entdeckung bislang ungeahnter Stoffe, die dem Leben dienen könnten – von der Ernährung über Arzneimittel bis hin zur Bewahrung des ökologischen Gleichgewichts selbst?

Doch wer heute genau auf die Commons blickt und prüft, wie stark die gemeinschaftliche Organisation kollektiver Ressourcen wirklich ist und ob die beteiligten Akteure tatsächlich in gegenseitigem Einvernehmen entscheiden, der wird zahlreiche neue Bedrohungen ausmachen. Diese richten sich sowohl gegen die Gemeingüter der Biosphäre – etwa durch Genpatente, die die Hand noch nach der innersten Substanz des Lebendigen ausstrecken – als auch gegen die derzeit neu entstehenden Commons der Computer- und Kommunikationssphäre. Um in unserer sogenannten »Wissensgesellschaft« die Natur solcher Bedrohungen zu verstehen und geeignete Mittel des Widerstands zu identifizieren, ist es sinnvoll, sich zunächst über die wichtigsten Dimensionen dieser neuen Einhegungen klar zu werden.

Commons sind stets von Einhegung bedroht

Commons begegnen dreierlei Herausforderungen: Da sind zunächst Bedrohungen, die sich direkt gegen die Gemeinressourcen richten; dann gibt es solche, die indirekt wirken, indem sie die Gemeinschaften korrumpieren,4 und schließlich gibt es destruktive Prozesse, die das gemeinschaft- liche Handeln, also das »Commoning« selbst, unterbinden.

Zum Ersten können Gemeinressourcen schlicht der Verschmutzung oder der Übernutzung zum Opfer fallen. Sie können zudem (wie die sogenannten »Anti-Commons«)5 unternutzt oder gar nicht

1 Siehe vor allem die Beiträge von Christian Siefkes, Josh Tenenberg and Michel Bauwens in diesem Buch (Anm. der Hg.). 2 Dieser mikroökonomische Begriff bezeichnet die Kosten, die durch die Produktion einer zusätzlichen Einheit eines Produktes entstehen (Anm. der Hg.). 3 Vergleiche dazu die Argumentation von Roberto Verzola im Gespräch zwischen Davey, Helfrich, Höschele und Verzola über natürliche Fülle in diesem Buch (Anm. der Hg.). 4 Zum Thema der Vereinnahmung schreiben unter anderem Massimo de Angelis und David Bollier in diesem Buch (Anm. der Hg.). 5 Siehe dazu den Beitrag von Michel Heller zur Tragödie der Anti-Commons (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 12 genutzt werden, was gleichfalls heißt, dass sie nicht uns gemein(sam) sind. Sogenannte Trittbrett- fahrer nutzen Gemeinressourcen gern, ohne einen Finger für ihren Erhalt krumm zu machen. Derart bedrohte Ressourcen existieren insbesondere in den gerade erwachenden digitalen Commons. Ein Informations-Commons wie die Wikipedia ist zum Beispiel beständig von Vandalismus bedroht – etwa durch verleumderische Artikel, Propaganda oder Tatsachenverdrehungen. Dies verlangt von der Gemeinschaft der Wikipedianerinnen und Wikipedianer fortwährende Aufmerksamkeit. Es kostet permanent eine ungeheure Energie, die Fälle aufzuspüren, nachzuvollziehen und zu korrigieren. Diese Energie wird der Gemeinschaft entzogen und steht nicht der Verbesserung der Wikipedia zur Verfügung. Ähnlich kann ein Commons der weltweiten wissenschaftlichen Forschung vergiftet werden. Von privatem Karriereehrgeiz motivierter Betrug unterminiert das Vertrauen der Allgemeinheit in die akademische Forschung. Derselbe Ehrgeiz in abgeschwächter Form kann aber auch dazu führen, dass sich die Wissenschafts-Community in hochspezialisierten Sackgassen verfängt und dadurch wichtige Forschungen vernachlässigt, die den menschlichen Bedürfnissen direkter nützen würden.

Zum Zweiten richten sich die Bedrohungen der Commons nicht direkt gegen die Ressourcen selbst, sondern zunächst gegen die Gemeinschaften, welche diese pflegen. Dabei ist das Hauptangriffs- mittel oft schlicht die gewaltsame Zerschlagung der Gemeinschaften. In diesem Zusammenhang könnte man den Begriff »Petro-Gewalt« prägen. Er drückt aus, in welchem Ausmaß die Gier nach fossilen Brennstoffen die Lebensräume von Völkern zerstört, in deren Lebensräumen ausbeutbare Erdöl- und Gasreserven gefunden wurden. Durch neue und hocheffiziente Verfahren, auch noch die letzten Vorkommen aufzuspüren und diese selbst unter schwierigsten geologischen Bedingungen zu fördern – etwa im arktischen Eis oder in den Tiefen der Weltmeere – ist diese Petro-Gewalt dabei, sich gegen die globalen Commons der Lebensräume dieser Erde zu richten. Eine tragische Illustration für diesen Prozess liefert die desaströse Explosion der Ölplattform Deepwater Horizon im Sommer 2010, die nicht nur das marine Ökosystem im Golf von Mexiko, sondern mit ihm auch die von den Produkten dieser Lebensgemeinschaft abhängigen Küstenindustrien wie die Krabben- fischerei schwer geschädigt hat. Commons-Gemeinschaften können auch Opfer interner Konflikte werden, welche zunehmend dadurch entstehen, dass Akteure von außerhalb sich eine gemeinsam verwaltete Ressource teilweise aneignen. Biopiraterie kann hier als typisches Beispiel dienen. Es ist recht schwierig, eine klar umrissene »Gemeinschaft« zu bestimmen, die ein als »traditionell« bezeichnetes Wissen »besitzt« – etwa Kenntnisse über die medizinischen Wirkungen einer Pflanze. Der Austausch solcher Kenntnisse besteht seit alters her, keine Grenze hinderte die Menschen bislang daran, ihr Wissen frei weiterzugeben. Gerade deshalb bringen Versuche, in dieses Univer- sum eine marktökonomische Auffassung von »geistigem Eigentum« einzuführen, zwangsläufig interne Konflikte mit sich.6 Das gilt in besonderem Maße für das gegenwärtige Landgrabbing,7 in dessen Zuge Ländereien von manchen Dorfoberhäuptern an internationale Firmen oder fremde Staaten verkauft werden – zum Leidwesen der Menschen, die sie vorher gemeinsam genutzt haben. Schließlich tendieren auch Regelungen, wie sie etwa unter Vermittlung der WIPO (Weltorganisation für geistiges Eigentum) entstanden sind, dazu, ein Modell der Gewinnaufteilung (»benefit- sharing«) zu favorisieren, das zwar die »Gemeinschaften« und ihre »traditionellen Kenntnisse« berücksichtigt, aber häufig daran scheitert, dass gerade solche Entitäten sehr schwer zu definieren sind. So klassifizieren sich indigene Gemeinschaften selbst als »Völker«, ein Begriff, der bislang von den Vereinten Nationen anerkannt wird. Die Gefahr ist groß, über die in den Gemeinschaften entwickelten Formen der Repräsentation hinwegzugehen und es den Aneignern oder Privatisierern selbst, mitunter Biopiraten, zu überlassen, eine »begrenzte Gruppe« von Akteuren auszuwählen, mit der die Nutzung dieses traditionellen Wissens verhandelt werden kann.8 Hinzu kommt, dass die oft

6 Siehe dazu auch den Artikel von Carolina Botero und Juio C. Gaitán in diesem Buch (Anm. der Hg.). 7 Siehe dazu den Beitrag von Liz Alden Wily in diesem Buch (Anm. der Hg.). 8 Diese Strategie, häufig Begleiterscheinung des sogenannten »benefit-sharing«, auch im Rahmen der Internationalen

Commons-Sommerschule 2012 13 verschwindend geringen Ausschüttungen, die von den eigentlichen »Einhegern« an die ursprüng- lichen Nutzer gezahlt werden, kaum gerecht verteilt werden und so Missgunst, Zweifel, Verdäch- tigungen und schließlich sogar gewaltsame Konflikte heraufbeschwören können. Eine andere Form, Zwietracht von außen zu säen, besteht darin, einzelne wichtige »Mitspieler« zu kaufen und sie zu eigenmächtigem Handeln zu bewegen. Solche Spaltungsphänomene findet man sowohl in den klassischen wie in den neuen Commons, wo etwa Entwickler freier Software oder Universitätsforscher nach einem den Commons gewidmeten Karriereabschnitt in großen Firmen arbeiten, die ausschließlich proprietäre Produkte herstellen. Zu guter Letzt gibt es ganz direkte Bedrohungen für die Schaffung und Pflege der Commons. Sie entstehen nicht selten dadurch, dass einer betroffenen Gemeinschaft bestimmte Gesetze aufgezwungen werden. So akzeptieren etwa die Patentanstalten der Vereinigten Staaten und Japans seit den 1980er-Jahren, dass Informatikfirmen Patente auf Software und Verfahren anmelden. Sie begrenzen damit erheblich die Fähigkeit der globalen Gemeinschaft freier Softwareentwickler, Codes, Algorithmen und Wissen untereinander auszutauschen. Immer gibt es irgendein Patent, und sei es auch noch so vage und allgemein formuliert, dass die Benutzung einer bestimmten Methode oder eines Protokolls verhindert. Eine solche Wirklichkeit macht die internen Regeln obsolet, nach denen die Gemeinschaft freier Entwickler arbeitet, wie etwa die GPL (General Public License), welche die unbeschränkte Nutzung, Veränderung und Weitergabe von Softwarecodes regelt.9

Drittens wird auch der Prozess des gemeinsamen Handelns selbst – das sogenannte »Commoning« – behindert, und zwar immer dann, wenn ein Gut, dass zuvor von niemandem besessen werden konnte, plötzlich handelbar wird. Die Folgen zeigen sich etwa im Massentourismus, der eine Landschaft im Handumdrehen zum Gegenstand ökonomischen Interesses macht und die freie Nutzbarkeit einschränkt. Ein anderes Beispiel: Erkenntnisse, seien sie traditionell oder durch Forschung im Labor gewonnen, können nicht mehr frei verbreitet und universell zum Nutzen der Menschheit verwendet werden, wenn die Forscher selbst oder die Forschungseinrichtungen ihre Forschungsergebnisse patentieren lassen, wenn sie also selbst die Veräußerung vorantreiben, anstatt sich darauf zu konzentrieren, sie ihren Studenten zu vermitteln oder für die Gesellschaft fruchtbar zu machen.10

Die Quellen der neuen Einhegungen

Die Bedrohungen der Commons kommen aus drei Richtungen: dem Recht, den technologischen Entwicklungen und den von ökonomischen Interessen geleiteten Entscheidungen. Grundsätzlich gilt: Strukturen, die die Einhegung vorantreiben, stammen von außerhalb der Gemeinschaften, wirken aber aufgrund globaler politischer Verflechtungen und multilateraler Absprachen auf diese zurück. Das war bereits bei den »Kolonialgesetzen« so, welche sich quer über die zuvor bestehen- den Sozialstrukturen der unterjochten Länder legten. Heute nehmen die Regelungen zum »Geistigen Eigentum« die Rolle dieser Kolonialgesetze ein und alle, samt aller Widersprüchlichkeiten, die der Terminus »Geistiges Eigentum« an sich schon enthält, schlagen sie direkt auf die Praxis des Commoning durch.11

Einhegungen können sich zunächst aus dem Potential technischer Neuerungen selbst ergeben. So können Aneigner technologische Beschränkungen zum Zugriff auf eine (digitale) Ressource

Biodiversitätskonvention (CBD), führt regelmäßig zur Spaltung von Gemeinschaften, Regionen oder sozialen Bewegungen (Anm. der Hg.). 9 Für weitere Einzelheiten zur GPL siehe den Beitrag von Christian Siefkes in diesem Buch (Anm. der Hg.). 10 Christine Godt, Christian Wagner-Ahlfs und Peter Timmermann untersuchen in ihrem Beitrag für dieses Buch ein konkretes Beispiel: die Entwicklung von Medikamenten (Anm. der Hg.). 11 Beatriz Busaniche greift Fragen des »geistigen Eigentums« im Rahmen des internationalen Handels und der WIPO in ihrem Beitrag zu diesem Buch auf (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 14 installieren oder deren freie Weitergabe limitieren, die zugleich so kostengünstig sind, dass sie sich universell anwenden lassen. Das herausragende Beispiel hierfür ist die Digitale Rechteverwaltung (Digital Rights Management, DRM). Wer einen digitalisierten Inhalt verbreitet, kann mittels DRM überwacht werden – und das geschieht allzu oft zum Nachteil der Allgemeinheit, wie im Falle von Bibliotheken. Außerdem kann der Inhaber der digitalen Rechte die Hardware kontrollieren, auf der sich seine Medien abspielen oder lesen lassen, und die private Weitergabe von Kopien unmöglich machen, indem er die digitalisierten Inhalte verschlüsselt. Das heißt: Heute regeln nicht mehr Gerichte oder soziale Übereinkünfte den Zugang zu bestimmten Ressourcen, sondern allein der Umstand, ob ein Nutzer im Besitz des richtigen digitalen Dechiffrier-Schlüssels ist. Der Erwerb dieses Schlüssels gibt dem Einzelnen zwar einige Nutzungsfreiheiten, bindet ihn aber zugleich für immer an den Rechteinhaber. Die neuen Fassungen der Gesetzgebung zu Autorenrechten, die in den USA und in Europa in den letzten Jahren formuliert wurden, versuchen genau diese Abhängigkeit noch zu verschärfen. Das gilt für die Urheberrechtsrichtlinie 2001/29/EG in Europa (engl. European Union Copyright Directive, EUCD) ebenso wie für den Digital Millennium Copyright Act, DMCA, in den USA.

Das Modell eines in die Ressource selbst eingesetzten Zugangsschlüssels erobert auch das Reich der Lebewesen. Biologisches Rechtemanagement findet zunächst in allen gentechnisch veränderten Organismen statt, die ein Besitzlabel tragen. Verschärft wird es durch sogenannte »GURTs« (Genetic Use Restriction Technologies) – Verfahren, welche durch technologische Eingriffe die Vitalfähigkeiten der Pflanzen so blockieren, dass diese ohne Spezialbehandlung, etwa die Ausbrin- gung bestimmter Chemikalien auf dem Acker, gar nicht mehr funktionieren. Diese sogenannten »Terminator-Verfahren«, die das natürliche Reproduktionsvermögen (die Keimfähigkeit) von Pflanzen unterbinden, sind ein konkreter Fall von Restriktionstechnologie.

Derzeit erblicken eine ganze Reihe weiterer Verfahren das Tageslicht, die die Landwirtschaft noch stärker als bisher von bestimmten Herstellern eines entsprechend modifizierten Saatgutes und der dazu maßgeschneiderten Chemieprodukte abhängig machen. Die zunehmende Kopplung von Designersaatgut und den dazu notwendigen chemischen Startern stellt die über Jahrhunderte existierenden bäuerlichen Praktiken freier Weitergabe von Pfropflingen und Saatgut in Frage. Sie ist dazu angetan, die biologische Vielfalt der Kulturpflanzen radikal zu verringern – von einer möglichen militärischen Anwendung der agrarischen Wachstumskontrolle ganz zu schweigen.

Aber auch ganz neue Praktiken und Prozesse wirken sich zerstörerisch auf die Commons aus. Das bemerkenswerteste Beispiel dafür ist die industrielle Landwirtschaft mit den aus ihr resultierenden Notwendigkeiten einer flurbereinigten, homogenisierten Landschaft und der Produktion genormter und exakt kalibrierter Früchte und Gemüse, für die nur zertifiziertes Saatgut in Frage kommt, das wiederum den Einsatz maßgeschneiderter Chemiekomponenten erfordert. Eine solche Landwirt- schaft zerstört die gewachsenen Beziehungen, in denen Dorfgemeinschaften Saatgut tauschten und so die Biodiversität der Anbauflächen und die Anpassung der Produkte an das lokale Klima beständig pflegten und verbesserten.

Ironischerweise ziehen erfolgreiche Praktiken der Commons gerade solche Nutzertypen an, die weder die gemeinsamen Ziele noch die gemeinschaftliche Erfahrung der Commoners teilen. Solche Aus-Nutzer verwenden beispielsweise Freie Software aus reinem Konsuminteresse, eben weil diese »kostenlos« ist,12 und verschwenden im Gegenzug keine Mühe darauf, die Gemeinschaft der Nutzer und Unterstützer zu fördern, sei es durch Austausch von Wissen oder durch finanzielle Beiträge. Auch Touristen gehören zum Kreis solcher Ver- und Ausnutzer, indem sie hinnehmen, dass durch

12 Zur Philosophie der Freien Software vgl. die Beiträge von Federico Heinz und Christian Siefkes in diesem Buch. »Kostenlos« zu sein ist eben kein intendiertes Merkmal Freier Software (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 15 die für sie geschaffenen Infrastrukturen in vielen Gegenden gewachsene gemeinschaftliche Strukturen zerfasern. In tropischen Küstenländern hat dieser Prozess beispielsweise zur Folge, dass an den Küsten zum Schaden lebenswichtiger Mangrovenwälder neue Hotels entstehen – und sich parallel dazu eine neue lokale Führungsschicht bildet, die durch die Einnahmen aus dem Hotel- gewerbe finanziert wird. Solches Nutzungsverhalten führt in kurzer Zeit zur Zerstörung der natürlichen Gemeinressourcen. Sozial entwickelt sich in derartigen Regionen anstelle traditioneller gemeinschaftlicher Tätigkeiten schnell ein organisiertes Bettlertum, in das die ihrer früheren Versorgungstruktur beraubten schlechter gestellten Bevölkerungsschichten abdriften.

All dies ist nur ein Ausschnitt der vielfältigen neuartigen Mechanismen, die die Commons in einer technikdominierten Welt, in der die internationalen Beziehungen von tiefster Ungleichheit geprägt sind, bedrohen. Die neuen Einhegungen betreffen die natürlichen Gemeingüter genauso wie jene, die aus dem Teilen und Austauschen von Wissen und Informationen entstanden sind.

Generell gilt: Die Formen der Einhegung sind subtiler geworden. Deshalb sind sie schwerer zu erkennen. Die Technologie hat den Stacheldraht ersetzt. Aber die Logik der Zerstörung von Gemeinschaften, der Einengung kollektiver Praktiken und des Commoning, des gemeinschaftlichen Schöpfens, sind die gleichen geblieben.

Literatur

Duchatel, Julie/Gaberell, Laurent (Hg.) (2011): La propriété intellectuelle contre la biodiversité? Géopolitique de la diversité biologique, Genf.

Hervé Le Crosnier (Frankreich) unterrichtet und forscht an der Université de Caen, am Institut des Sciences de la Communication des CNRS (Paris) und unterhält einen Verlag. Er arbeitet zu den Auswirkungen des Internets auf die Gesellschaft und zu Fragen der Kultur im digitalen Raum. Er publizierte gemeinsam mit der NGO Vecam den Sammelband Libres Savoirs, les biens communs de la connaissance: http://cfeditions.com.

Commons-Sommerschule 2012 16 Globaler Landraub Die neue Einhegung

Liz Alden Wily

Wir schreiben das Jahr 1607. Seit Jahrhunderten betreiben die Engländer in Irland Landnahme. Das irische Gewohnheitsrecht, das im 7. Jahrhundert erstmals niedergeschrieben wurde, ist hoch entwickelt und wird noch immer von speziell ausgebildeten, traditionellen Magistraten, den Brehons, gepflegt. Doch die englischen Gerichtshöfe entscheiden schließlich in den Urteilen zu Gravelkind (1605) und Tanistry (1607) dagegen, Eigentumsrechte aus dem Gewohnheitsrecht ableiten zu dürfen. Familien, die bisher Eigentümer waren, werden nun zu Pächtern der etablierten englisch-irischen Eliten, und das Gemeindeland, das für Beweidung und Jagd unentbehrlich ist, wird zum ausschließlichen Eigentum der Eliten und der schubweise neu eingewanderten englischen und schottischen Siedler. Die irischen Gemeinden dürfen die Allmende nun nach dem Gutdünken der neuen Besitzer nutzen.

Amerika im Jahr 1823. Während seiner Amtszeit bringt der oberste Richter Marshall einen konstruierten Fall vor den Obersten Gerichtshof. Er hat ein privates Interesse, ein Gebiet an Bauunternehmer zu verkaufen, obwohl die eingeborenen Indianer gemäß ihrer »angestammten Rechtstitel« (»aboriginal title«) in rechtmäßigem Besitz von 43.000 Quadratmeilen des umstrittenen Landes sind. Marshall argumentiert, die Britische Krone sei durch die Eroberung zum Besitzer Nordamerikas geworden, sie habe »das Recht der Entdeckung«. Deshalb dürfe nur die Krone oder eine ihrer Verwaltungseinrichtungen rechtmäßig Land verkaufen oder zur Nutzung gewähren. Der Besitz des Landes durch die Indianer sei nach dem Gesetz lediglich Bewohnung und Nutzung und zähle nicht weiter. Vierzig Jahre alte Ansichten des Kronrates in London stützen Marshalls Argumentation. In den Jahren 1772 und 1774 werden Urteile gesprochen, die besagen, dass britisches Recht lokales Recht verdrängt und dass mit Blick auf die Eigentumsfrage Land »unbewohnt« (herrenlos) ist, wenn dort keine zivilisierten Menschen leben (McAuslan 2006).

England im Jahr 1845. Die Bewohner von Otmoor, Oxfordshire, haben den Kampf um den Erhalt ihres Gemeindelandes verloren, so wie Hunderte andere Gemeinden des Königreichs.1 Das Lehns- und Landrecht in England (wie im übrigen Europa) schrieb in der Tat jahrhundertelang (seit 1285) vor, dass nur diejenigen Eigentum an Land haben konnten, denen dieses Recht vom König gewährt worden war, das heißt: die adligen Lords. Die lokale Bevölkerung hatte lediglich Nutzungsrech- te. Erst im Zuge der Industrialisierung, des Landhungers privaten Kapitals und der reichlichen finanziellen Ausbeute, die aus dem Verkauf von Gemeindeland für den Bau von Eisenbahnlinien und Fabriken zu erzielen war, rückte diese rechtliche Sachlage auf einen Schlag in den Mittelpunkt. Das Parlament, bestehend aus wohlhabenden Grundherren, war auf Seiten der Lords und verabschiedete ab 1773 ein Gesetz nach dem anderen, um die Enteignung der Commoners zu legalisieren.

Die »Inclosure Act« von 1845 versetzt den Commoners schließlich den Gnadenstoß und beschleunigt den Enteignungsprozess. Natürlich wird behauptet, dass private Gewinne, die durch diese »parlamentarischen Einhegungen« erzielt werden, »dem öffentlichen Interesse« dienen.

Afrika im Jahr 1895. Ein Jahrzehnt zuvor einigen sich die Bevollmächtigten der Europäischen Mächte (wie sie sich selbst bezeichnen) darauf, auf dem ganzen afrikanischen Kontinent »wirtschaftliche Einflussräume« einzurichten. Die wichtigen Einfallstore, die Flüsse Niger und Kongo, machen sie zu freien Handelszonen. Deutschland ist als jüngste Industriemacht und mit

1 Siehe den Beitrag von Peter Linebaugh in diesem Buch (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 17 einem besonderen Augenmerk auf der Ausweitung seiner Handelsaktivitäten Gastgeber der Berliner WestafrikaKonferenz 1884-1885. Europa befindet sich in einer Wirtschaftskrise. Fabrikbesitzer suchen händeringend nach neuen Märkten für nicht verkaufte Textilien und andere Erzeugnisse. Unglaublich wohlhabende Unternehmer, mit einem riesigen Bestand an angesammeltem Kapital, »das Löcher in die Hosentaschen ihrer Besitzer brennt« (Hobsbawn 1987), suchen überdies neue Unternehmen, in die sie investieren können. Die neue Arbeiterklasse, die ihre Existenzgrundlage verloren hat und nun von den (in nicht ausreichendem Maße zur Verfügung stehenden) Fabrik- arbeitsplätzen abhängt, braucht ebenfalls neue Standorte, zu denen sie abwandern kann. Die Angelegenheit ist von so großer Bedeutung, dass die Mächte mit der Kongo-Akte von 1885 ein frühes internationales Handelsgesetz verabschieden. In der Praxis funktioniert die Öffnung von Märkten und Unternehmen in Afrika weniger gut als gedacht, der Freihandel bleibt auf der Strecke. Im Jahr 1895 ist aus dem wirtschaftlichen Gerangel um Afrika ein politisches Gerangel geworden, das zur Schaffung von Kolonien und Protektoraten führt, die neue Märkte schützen und den immer offensichtlicher werdenden Reichtum des afrikanischen Hinterlands an Rohstoffen und billiger Arbeitskraft anzapfen sollen. Ab 1890 geht es vorrangig um die Frage, wie so enorm große Ländereien auf günstige Art und Weise angeeignet werden können. Eine Zeit lang haben Händler, Profitjäger und Missionare Land von den Stammeshäuptlingen in den Küstenregionen gekauft, um Handelsstützpunkte, Häfen, Enklaven für die Mission und, etwas später, für Überwachungsposten gegen die Sklaverei einzurichten. Mit Rückendeckung der europäischen Regierungen haben Unternehmen dasselbe getan. Allein die British Royal Niger Company hat mehrere hundert Grundstücksverträge mit westafrikanischen Stammeshäuptlingen abgeschlossen, hauptsächlich, um Zugang zu Land für die kommerzielle Palmölproduktion zu sichern. Das Palmöl unterstützt die rasch wachsende Seifenindustrie in Europa. Die Häuptlinge verkaufen nun Explorationsrechte an Goldbergbauunternehmen. Diese Kaufgeschäfte legen nahe, dass die europäischen Regierungen sich sehr wohl bewusst sind, dass Afrika alles andere als herrenlos ist. Auch der sogenannte Bund von 1844 ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, ein bilateraler Investitionsvertrag, der zwischen »gleich starken Landesherren« entlang der Goldküste und der Britischen Krone geschlossen wird. Die Könige und Häuptlinge, die eine lange Geschichte der Sklaverei und des Warenhandels hinter sich haben und über gut eingeführte Handelsvertretungen sowie Botschaften in den europäischen Hauptstädten verfügen, sind keinesfalls naiv.

Glücklicherweise schaffen die alten europäischen Boden- und Lehensrechte und die Marshall- Regelung von 1823 Abhilfe. Diese bieten ein Bündel von Möglichkeiten zur Legalisierung großflächiger Enteignung. Rechtmäßigkeit ist den Kolonisatoren und ihren Parlamenten ein wichtiges Anliegen, nicht zuletzt, um humanistische Gruppen zu Hause zu besänftigen, die die Abschaffung der Sklaverei als ersten Erfolg werten. Aber das »Recht der Entdeckung« gewährt den Kolonisatoren das unangefochtene Eigentum an Grund und Boden. Dies mag in den Küstengebieten nicht ganz so gut funktionieren, kann aber in großem Maßstab im Landesinneren umgesetzt werden. Ohne es zu wissen, bereiten die Ureinwohner selbst den Weg dafür; viele von ihnen behaupten, dass nur Gott Grund und Boden besitzen kann oder dass ihre Gemeinden – wie schon in der Vergangen- heit und der Zukunft – die gegenwärtigen Besitzer seien. Zwar sind sie in ihren jeweiligen Besitz- mustern fest verhaftet, doch sie gestehen ein, dass der Grund und Boden selbst nicht verkauft werden kann, zumindest nicht ohne das Einverständnis der Gemeinschaften. Für die Europäer ist das Eingeständnis der fehlenden Übertragbarkeit und einer Tendenz zum Kommunalismus der »Beweis« dafür, dass die Afrikaner im Sinne des europäischen Eigentumsrechts nicht als Eigen- tümer ihrer Ländereien gelten.

Wo es zu Verkaufsverträgen kommt, wird den Ureinwohnern die Inbesitznahme und Nutzung garantiert – so lange wie Grund und Boden tatsächlich bewohnt und bewirtschaftet werden. Schließlich ist es unklug, den Ureinwohnern die Selbstversorgung zu erschweren.

Commons-Sommerschule 2012 18 Diese Bedingungen der Inbesitznahme und des Nutzens eröffnen den Europäern die attraktive Aussicht, Eigentum an mehreren Milliarden Hektar unbesiedeltem und nicht bewirtschaftetem Land zu beanspruchen. Die Rede ist von einem großen Teil der Commons. Haben nicht vor langer Zeit Smith, Locke, Mills und andere den Grundsatz aufgestellt, dass privates Eigentum nur durch Vermischung mit Arbeit erlangt werden kann? Rasch entwickeln sich die Kategorien von »tatsächlich besetztem Land« (in Form von Siedlungen oder bewirtschafteten Bauernhöfen) und »herrenlosem, brachliegendem Land«. Per Definition fällt nun Letzteres direkt an die Kolonialverwaltungen und wird zu deren Privateigentum. Falls doch noch ein Zweifel auf- scheint, so ist für die Kolonisten letztlich völlig klar, dass die ertragreichen Wälder, Feuchtgebiete und das Grünland Afrikas keinen Eigentumsrang haben, denn sie befinden sich in Gemeinbesitz; in Europa aber bedeutet Privateigentum individuelles Eigentum. Zudem ist Eigentum nur dann durch das Gesetz geschützt, wenn eine Einzelperson oder ein Unternehmen als Beweis ein entsprechendes Dokument vorweisen kann. Afrikaner haben solche Dokumente nicht.

Die legale Enteignung der Afrikaner ist mehr oder weniger umfassend, denn in der Praxis ist die Fähigkeit der Kolonialherren begrenzt, in jedem neuen Staat mehr als eine Million Hektar (Südafrika ausgenommen) zu besiedeln und zu »entwickeln«. Die Einheimischen bewohnen und nutzen weiterhin Grund und Boden, der ihnen nach dem Gesetz nicht mehr gehört. Im 20. Jahrhundert dringen die Kolonisatoren weiter in diese Gebiete vor. Überall entstehen mittlere und größere Städte. Sie sind nicht wegen des in Hektar gemessenen Landverbrauchs so bedeutsam, sondern wegen der Konflikte, die sie verursachen. Siedlungsprogramme sowie die Ausweitung von Plantagen, die von (quasi-)staatlichen oder privaten Unternehmen geführt werden, fordern einen höheren Tribut an Land. Dazu kommen die Vertreibungen, die aus der Vergabe an Konzessionen für Ölförderung, Bergbau und Holzeinschlag an ausländische Unternehmen resultieren. Für all das werden Gesetze verabschiedet, die bestimmte Ressourcen als Staatseigentum ausweisen; Mineralien (ob im jahrhundertelangen Tagebau oder unter unberührtem Land), Gewässer, Strände, Marschland, Berge, Wälder und Waldgebiete fallen wie Dominosteine an den Staat, ungeachtet der lokalen Besitzverhältnisse.

Afrika in den 1960er-Jahren. Mitte des Jahrhunderts beginnt die Befreiung von Europa. Seltsamerweise wird das von den Kolonialmächten geprägte Verständnis von Besitz in den meisten Gesetzen, die nach Erlangung der Unabhängigkeit zum Umgang mit Grund und Boden verabschiedet wurden, beibehalten. Vielleicht ist es aber auch gar nicht so ungewöhnlich. Mit den ländlichen Massen jederzeit kündbare Pachtvereinbarungen (»tenancy-at-will«) aufrechtzuerhalten, ist für die neuen afrikanischen Regierungen genauso nützlich wie für die Kolonialherren.

Klassenbildung und Landnahme gehen seit den 1940er-Jahren Hand in Hand. Die neue afrikanische Mittelklasse teilt mit den neuen Geberländern (den früheren Kolonialherren) und internationalen Organisationen nicht nur politische Macht und wirtschaftliche Interessen, sondern sie fühlt sich auch der marktwirtschaftlichen Entwicklung ebenso verpflichtet wie diese. Die in der Spätphase des Kolonialismus in wegweisenden Studien der englisch- und französischsprachigen Bürokratie formulierten Positionen werden – befördert von der Bodenpolitik der Weltbank (Land Reform Policy Paper 1975) – Bestandteil der Politik, die nun von den Nationalstaaten umgesetzt wird.

Die Inhalte lesen sich nur wenig anders als jene von Malthus und Lloyd: Die Privatisierung von Grund und Boden gilt als Voraussetzung für Produktivität.

Die Besitzordnung der Einheimischen und insbesondere gemeinschaftlicher Besitz von Grund und Boden müssen aufgehoben werden, weil sie ein Hemmnis für das auf das einzelne Individuum

Commons-Sommerschule 2012 19 ausgerichtete Wirtschaftswachstum darstellen. Damit wird sozial polarisiert: auf der einen Seite die landlose Klasse für die urbane Industrialisierung und auf der anderen Seite einige wenige größere einheimische Landbesitzer, die dabei unterstützt werden, Nahrung und Waren im großen Maßstab zu produzieren.

In ganz Afrika und in Asien werden Privatisierungsprogramme angestoßen. Sie haben zum Ziel, Häuser und Farmen vertraglich in den Besitz von Einzelpersonen zu übertragen und in Katastern zu erfassen (Alden Wily 2011). Wo diese Programme funktionieren, wie zum Beispiel in Kenia, wird Gemeindeland unter den wohlhabenderen Farmern aufgeteilt. Oder das Land wird den Regierungen für die Einrichtung von Naturschutzgebieten2 oder den Aufbau staatlich betriebener, kommerzieller Landwirtschaft übertragen. Die Reichweite dieser Privatisierungsprogramme ist allerdings begrenzt: 1990 gelten lediglich für ungefähr zehn Prozent der ländlichen Gebiete Afrikas rechtlich abgesi- cherte Eigentumsansprüche, und der größte Teil davon liegt in den vorrangig von Weißen besiedelten Gebieten Südafrikas. Doch dies stellt für die afrikanischen Regierungen kein Problem dar: Sie verfügen weiter selbst oder für private Interessen über Gebiete ohne eingetragene Eigentumstitel, die nach dem Gewohnheitsrecht auf der Basis von jederzeit auflösbaren Pachtvereinbarungen genutzt werden.

Afrika im Jahr 1990. Ungeachtet des Privatisierungsdrucks bleibt das Gewohnheitsrecht dominant. Um die Jahrhundertwende regelt eine halbe Milliarde Afrikaner ihre Beziehungen auf dem Land noch immer über Normen, die auf gemeinschaftlicher Nutzung basieren. Sie haben sich durch Gewohnheit herausgebildet, werden aber regelmäßig angepasst, um den sich verändernden Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Trotz bezeichnender Fehlschläge in den 1970er- und 1980er- Jahren halten die Regierungen unverdrossen an den mechanisierten Großbetrieben in der Landwirtschaft fest, um Wachstum zu erzielen. Indes mangelt es der kleinbäuerlichen Landwirtschaft weiterhin an Investitionen, obwohl die nach dem Gewohnheitsrecht wirtschaftenden Kleinbauern die überwältigende Mehrheit darstellen.

Familien bestreiten ihren Lebensunterhalt mit immer weniger landwirtschaftlicher Fläche pro Kopf. Der Konzentrationsgrad und die Landlosigkeit afrikanischer Kleinbauern ähnelt mehr und mehr der Situation in Südasien in den 1960er-Jahren. Aber dort, wo es weiterhin Commons gibt, können sie den Unterschied zwischen Armut und Überleben ausmachen. Wie in Linebaughs Dorf Otmoor über ein Jahrhundert zuvor liefert das nicht landwirtschaftlich genutzte Gemeindeland weiterhin eine Fülle von Dienstleistungen und Produkten, von »der Weide bis zur Waldmast der Schweine, von Fisch bis Wildgeflügel«, sowie das Wasser, das zur Bewässerung der Felder benötigt wird. Wälder und Forste sind besonders wertvoll und verdoppeln in vielen Gebieten das Auskommen der Armen (IUCN 2010). Die Armen machen etwa 75 Prozent der gesamten ländlichen Bevölkerung aus.

Die Demokratisierung in den 1990ern führt zu einer Neuordnung der Besitzverhältnisse, oft nach jahrelangen, erbitterten sozialen Konflikten. Eine Handvoll Regierungen, insbesondere Uganda, Mosambik und Tansania, erkennen an, dass Afrikaner nicht ewig Siedler ohne Rechtstitel auf ihrem eigenen Land sein können (Alden Wily 2011). Sie verabschieden neue Bodengesetze, die zum ersten Mal Gewohnheitsrecht mit der Rechtsverbindlichkeit des Eigentums ausstatten, und dies unabhängig davon, ob der jeweilige Besitz formal vertraglich gesichert und registriert ist oder ob er Einzelpersonen, Familien oder Gemeinschaften gehört. Letzteres ebnet den Dorfgemeinschaften den Weg, Tausende Hektar Gemeindeland als Gemeineigentum zu sichern. Doch das Vorgehen ist problematisch, denn die Gesetze sind rundum weitgehend auf Individualisierung ausgerichtet, zudem herrscht in Landfragen oft etwas anderes als das Recht. Die Strukturanpassungsprogramme

2 Die Einrichtung von Naturschutzgebieten ist nicht unbedingt commons-verträglich, wie Ana de Ita in ihrem Beitrag in diesem Buch darlegt (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 20 der Weltbank treiben private Landkäufe zu kommerziellen Zwecken voran – sei es durch ausländische oder einheimische Investoren –, was die Commons ganz direkt betrifft und weiter schwächt.

Stellen wir uns nun vor, es ist das Jahr 2011. Hunderte ländliche Dorfgemeinschaften in Afrika – sowie in Teilen Asiens und Lateinamerikas – sind mit Leib und Leben von Räumung, Vertreibung oder schlicht und einfach vom Entzug ihres Lebensunterhaltes und ihres Bodens bedroht, den sie gemäß Gewohnheitsrecht als ihr eigen vermuten. Insbesondere seit 2007 vergeben Regierungen bereitwillig riesige Flächen, bisher 220 Millionen Hektar, an vorwiegend ausländische Investoren.3 Zwei Drittel des Landes, das verkauft oder langfristig verpachtet wird, liegt im verarmten und investitionshungrigen Afrika. Es dominieren Geschäfte im großen Stil über Hunderttausende Hektar, doch der Verkauf kleinerer Flächen an einheimische Investoren hält damit Schritt (Weltbank 2010).

Es ist der globale Landrausch, angetrieben von Krisen auf den Öl- und Nahrungsmittelmärkten des letzten Jahrzehnts, verschlimmert durch die Finanzkrise. Letztere gibt Spekulationsgeschäften einen enormen zusätzlichen Aufwind. Die Krise bietet lukrative neue Anlagemöglichkeiten für staatliche Investitionsfonds, Hedge Fonds und die globale Agrarwirtschaft, kurz: den neuen Unternehmern mit dem »angesammelten Kapital, das Löcher in die Hosentaschen ihrer Besitzer brennt«.4 Die Verschiebungen in den globalen ökonomischen Machtstrukturen sind offensichtlich: Während westliche Akteure weiterhin die Landkäufe dominieren, werden die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) und die Ölstaaten mit ihrer unsicheren Ernährungslage im Mittleren Osten nunmehr aktive Konkurrenten. Allmählich kristallisieren sich regionale Schwerpunkte heraus; China und Malaysia dominieren den Landerwerb in Asien, während Südafrika künftig in Afrika dominant zu werden scheint. In Nigeria existieren bereits zwei südafrikanische Farmerenklaven, und Kongo-Brazzaville hat südafrikanischen Firmen 80.000 Hektar zur Verfügung und bis zu 10 Millionen Hektar in Aussicht gestellt. In mindestens 20 anderen afrikanischen Ländern finden Verhandlungen statt (Hall 2011).

Ausländische Regierungen und andere Investoren suchen vorrangig Land um den lukrativen Biokraftstoffmarkt mit Zuckerrohr, der Jatropha-Pflanze (Purgiernuss) und vor allem mit Ölpalmen im großen Stil zu beliefern.5 Sie streben außerdem den Anbau von Nahrungsmittelpflanzen und Viehzucht für die jeweils heimischen Märkte an, um die unzuverlässigen und teuren internationalen Lebensmittelmärkte zu umgehen.

Zusätzlich versuchen die Investoren, gewinnträchtige Projekte im Gartenbau, der Blumenzucht und im Kohlenstoffemissionsrechtehandel ins Leben zu rufen. Für all diese Geschäfte wird Folgendes benötigt: günstiges Land (in vielen Fällen 0,50 US-Dollar pro Hektar), die zollfreie Einfuhr der Betriebsanlagen, zollfreier Export der Produkte, Steuerfreiheit für das Personal und die Produktionsstätten sowie niedrig verzinste Kredite, die oftmals von lokalen Banken auf der Grundlage der neu erworbenen Landrechte gewährt werden.

Bei diesem Landrausch, der neuen Landnahme, bleibt es jedoch nicht. Lokale Banken, Verkehrswesen, Infrastrukturprojekte, Fremdenverkehrsunternehmen und die einheimische Industrie werden ebenfalls aufgekauft. Die Käufer profitieren von der neuen Marktliberalisierung, die Regierungen armer, agrarisch geprägter Länder nach jahrzehntelangem Gezerre mit internationalen 3 Siehe unter: http://www.landcoalition.org (Zugriff am 13.10.2011). 4 Zur Finanzialisierung natürlicher Ressourcen siehe den Beitrag von Antonio Tricarico und Heike Löschmann in diesem Buch (Anm. der Hg.). 5 Beispielsweise verwendet die Deutsche Lufthansa seit Juli 2011 als erste Fluggesellschaft Agrartreibstoff im regulären zivilen Flugverkehr.

Commons-Sommerschule 2012 21 Finanzinstitutionen nun vollziehen. Für die Geberländer gelten die ausländischen Investitionen als neue Entwicklungshilfe und ein Weg zu wirtschaftlichem Wachstum, was internationale Institu- tionen unterstützen (Daniel 2011). Jobversprechen sind mehr oder minder der einzige direkte Nutzen für die nationale Bevölkerung, und die Erfahrung lehrt zumindest bis dato, dass sich diese nicht erfüllen.

Außerdem ist das Phänomen keine Einbahnstraße. Die Ausweitung und Etablierung konkurrie- render »wirtschaftlicher Einflusssphären« steht ebenfalls auf der Tagesordnung. Neben Landgeschäften suchen ausländische Investoren nach bevölkerungsreichen Märkten für heimische Erzeugnisse. Dies zeigt sich am besten in dem von meist ausländischem Kapital betriebenen Zu- und Aufkauf sogenannter Spezieller Wirtschaftszonen (SWZ). Am weitesten entwickelt sind diese in Indien, doch sie sind auch anderswo zu finden, wie etwa im chinesischen »Shenzhen«. Ähnliches ist in acht afrikanischen Staaten geplant (Brautigam 2011). Falls sich diese SWZ entwickeln sollten, werden sie chinesischen Waren abgabenfreien Zugang im großen Maßstab und Produktionsstätten für chinesische Fabrikanten und Arbeiter bieten, die versuchen, den gesättigten Heimatmärkten zu entfliehen. Bilaterale Investitionsverträge, von denen in den vergangenen zehn Jahren fast 5000 zwischen Staaten des Nordens und des Südens abgeschlossen wurden, bieten den Regulierungs- rahmen für diese Entwicklungen.6

Kurzum, wirtschaftliche Krisen und Verschiebungen der politischen Machtverhältnisse führen einmal mehr zu seismischen Verschiebungen in der Frage, wer Land, Ressourcen und Produktions- anlagen besitzt und kontrolliert. Aber wo bleiben dabei die Armen und die Allmende?

Commons und Commoners

Die Antwort ist einfach. Ein großer Teil der Gebiete, die an Unternehmer verkauft oder verpachtet werden, befindet sich in Gemeinbesitz. Es ist jenes Land, welches oft genutzt, aber – meist absichtlich – nicht für die Agrarproduktion bewirtschaftet wird. Deswegen sind sie die Zielgebiete der Landkäufe. Regierungen und Investoren meiden besiedeltes Land, da dessen Enteignung mit großer Wahrscheinlichkeit auf Widerstand stoßen würde. Zudem versuchen sie, Ausgleichszah- lungen für Hütten, für die sich noch auf den Feldern befindliche Ernte oder für Umsiedlungen zu vermeiden. Nur das nicht landwirtschaftlich genutzte Gemeindeland – Wälder und Forste, Weideland und Feuchtgebiete – kann die Abertausenden von Hektar liefern, die Großinvestoren erwerben möchten. Dieses Gemeindeland wird als »frei und verfügbar« erachtet. Nach den Gesetzen der meisten Länder, die Land verkaufen, wird gewohnheitsrechtlicher Landbesitz und nicht bewirtschaftetes Land im Besonderen noch immer als »herrenlos, unbewohnt und brachliegend« behandelt. Als solches bleibt es Eigentum des Staates. Daher sind Weiterverkauf oder Verpachtung an private Investoren völlig legal. Tatsächlich würde sich ohne diese rechtliche Absicherung durch das heimische Bodenrecht sowie das investorenfreundliche internationale Handelsrecht auch kein internationaler oder lokaler Investor engagieren.

Doch Land in Gemeinschaftsbesitz ist selbstredend weder ungenutzt oder brachliegend noch herrenlos. Das Gegenteil ist der Fall: Nach lokalen Besitznormen ist buchstäblich kein Stück Land herrenlos, noch ist es je herrenlos gewesen. Das gilt trotz der jahrhundertelangen Nachrangigkeit solcher Gewohnheitsrechte, die lediglich permissiven Besitz begründeten (d.h. das Bewohnen und Nutzen von herrenlosen Flächen oder von Flächen in Staatsbesitz wird erlaubt).

In der Praxis ist gewohnheitsrechtlich begründetes Eigentum parzelliert, wobei das Hoheitsgebiet einer Gemeinde sich bis zu den Grenzen der nächsten erstreckt. Während der genaue Verlauf der

6 Siehe dazu auch den Beitrag von Beatriz Busaniche in diesem Buch (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 22 Grenzen zwischen den Gemeinden regelmäßig angefochten und bestritten wird, besteht kaum ein Zweifel darüber, bis zu welcher Örtlichkeit eine Gemeinde welche Parzelle besitzt und kontrolliert. Innerhalb einer jeden dieser Parzellen sind die Eigentumsverhältnisse komplex und vielfältig. Heutzutage wird die häufigste Unterscheidung zwischen auf Dauer angelegten Häusern und landwirtschaftlichen Betrieben und den Rechten über das verbleibende Gemeinschaftsland gezogen. Die Rechte über die Ersteren liegen zunehmend als ausschließliche Eigentumsrechte in der Hand von Familien, und sie sind zunehmend veräußerlich. Die Verfügungsrechte über das Gemeinschafts- land sind kollektiv, werden in gemeinsamer Teilhaberschaft gehalten, sind von unbegrenzter Dauer und im Allgemeinen unveräußerlich.

Dies ist nicht zuletzt darin begründet, dass der Eigentümer, die Gemeinschaft, eine dauerhafte, generationsübergreifende Einheit ist. Dies bedeutet nicht, dass unter entsprechenden Umständen Teile oder sogar der gesamte Gemeinschaftsbesitz einer Gemeinde nicht verpachtet werden können. Ob die Gemeinde dies möchte oder nicht, so glauben die Gemeinden, sei eine Sache, die die Commoners entscheiden müssen. Die meisten nationalen Rechtsbestimmungen stehen dem eindeu- tig entgegen und betrachten diese so wertvollen Besitztümer zunächst einmal nicht als Gemein- schaftsvermögen.

Das Ergebnis dieser ständigen Verneinung, dass es Besitz bzw. Eigentum auch außerhalb der Anerkennung durch die »importierten« Europäischen Gesetze gibt, spiegelt sich klar im gegenwärtigen Landrausch wieder. Nicht nur Gemeindeland, sondern auch bewohnte Höfe und Häuser gehen regelmäßig verloren, wenn Investoren anrücken. In der Demokratischen Republik Kongo haben beispielsweise Dorfbewohner mit im Wald verstreuten Gehöften ihren gesamten Bezirk an kommerzielle Getreidebauern verloren und campieren nun in einem angrenzenden Nationalpark, aus dem sie zu gegebener Zeit wohl ebenfalls vertrieben werden (Mpoyi 2010). In Äthiopien werden Dorfgemeinschaften bereits von 10.000 Hektar Land umgesiedelt, das an ein saudisch-äthiopisches Unternehmen vergeben wurde. Da dessen Pachtvertrag auf 500.000 Hektar erweitert wurde, werden viele weitere Umsiedlungen erwartet (Oakland Institute 2011). An anderen Orten werden Dorfgemeinschaften eng zusammengepfercht, wobei sie ihre Häuser und Höfe be- halten, jedoch ihre Wald- und Weideflächen verlieren. Investoren holzen die Wälder ab, stauen Flüsse auf und leiten Wasser von den Bewässerungssystemen der Kleinbauern um, was dazu führt, dass die Feuchtgebiete austrocknen, die für die Fischerei und je nach Saison für die Futtermittelgewinnung oder die Beweidung von großer Bedeutung sind; darüber hinaus werden Tausende von Hektar Weideland für die maschinenbasierte Bewirtschaftung und den Export freigegeben. All dies geschieht in Äthiopien, wo die Ernährungssicherheit ohnehin ein Thema ist und das Gespenst der Hungernot permanent über dem Land schwebt. Die äthio- pische Regierung erweitert indessen in einer weiteren Region die Flächen, die für Investoren in Ölförderung und Nahrungsmittelanbau für den Export ausgewiesen sind, um 900.000 Hektar.

Manchmal heißen die Dorfbewohner die Investoren zunächst einmal willkommen, in der Hoffnung, dass Arbeitsplätze, Dienstleistungen, Bildung und Geschäftschancen den Verlust ihrer angestamm- ten Ländereien und ihrer Existenzgrundlage ausgleichen werden. Die Realität kann jedoch ganz anders aussehen. Dorfbewohnern in Sierra Leone, Ruanda und Kenia wurde die Information vor- enthalten, dass der Kanalbau für die geplante industrielle Zuckerrohrherstellung ihre Feuchtgebiete austrocknen würde, welche von entscheidender Bedeutung für den Reisanbau, die Fischerei, das Sammeln von Schilfgras, die Jagd und die Beweidung waren.7 Deng (2011) berichtet über den Fall einer Dorfgemeinschaft im Südsudan, die eingewilligt hat, für einen jährlichen Betrag von 15.000 US-Dollar und die Bohrung einiger Bohrlöcher 179.000 Hektar an ein norwegisches Unternehmen

7 Fallstudien siehe unter: http://www.landcoalition.org/cplstudies sowie http://media.oaklandinstitute.org/publications (Zugriff am 01.10.2011).

Commons-Sommerschule 2012 23 zu übergeben; das Unternehmen kann mit Millionengewinnen rechnen und zwar sowohl durch die Förderung als auch durch Geschäfte mittels Kohlenstoffemissionsgutschriften.

In solchen Fällen treten traditionelle Anführer und lokale Eliten oft als Vermittler auf und verdienen sich nebenbei etwas Geld auf Kosten ihrer Dorfgemeinschaften. Es wimmelt diesbezüglich nur so von Berichten aus Ghana, Zambia, Nigeria und Mosambik. In aller Regel stärken ihnen dabei Beamte der Zentralregierung, Politiker und Unternehmer den Rücken. Solche Schilderungen wiederholen sich in ganz Afrika sowie in einigen asiatischen Ländern wie Indonesien und dem ma- laysischen Borneo, wo 20 Millionen Hektar für eine Umwandlung in Ölpalmenplantagen vorgesehen sind (Colchester 2011). Die Geschichte ist überall mehr oder weniger dieselbe: Gemeinschaftsrechte werden grob vernachlässigt, Bewirtschaftungssysteme auf den Kopf gestellt, Lebensgrundlagen vernichtet sowie in Wassernutzung und Umwelt auf eine Art und Weise eingegriffen, deren Nachhaltigkeit zweifelhaft ist.

Offensichtlich genügt heutzutage Besitz genauso wenig wie bei den englischen Dorfbewohnern während der Aneignungswelle im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Nur die rechtliche Anerkennung von Gemeinschaftsland als gemeinschaftliches Eigentum von Dorfgemeinschaften leistet wirklichen Schutz. Eine Handvoll Länder in Afrika (und einige mehr in Lateinamerika) sind diesen wichtigen Schritt gegangen. Sie sehen von der Übertragbarkeit und der formalen Registrierung als Voraus- setzungen für die Anerkennung als echtes Eigentum ab. Der Landrausch dagegen bietet Anlass zur Sorge, dass die fragilen Reformbemühungen nicht andauern. Die Regierungen scheinen den Ausverkauf des Landes ihrer Bürger zu gewinnträchtig für sich selbst und für die mit ihnen verbandelten Eliten zu finden und zu vorteilhaft für marktwirtschaftliche Wege zum Wachstum, als dass sie Gerechtigkeit oder die Vorteile von Gemeinschaftsbesitz akzeptieren würden.

Literatur

Alden Wily, Liz (2011): »The Law is to Blame. Taking a Hard Look at the Vulnerable Status of Customary Land Rights in Africa«, in: Development and Change, Volume 42 (3), S. 733-757. Brautigam, Deborah (2011): »African Shenzhen: China’s Special Economic Zones«, in: Africa Journal of Modern African Studies, 49, 1, S. 27-54. Colchester, Marcus (2011): Palm Oil and Indigenous Peoples in South East Asia. Forest Peoples Programme and International Land Coalition, Rom. Daniel, Shepard (2011): The Role of the International Finance Corporation in Promoting Agricultural Investment and Large-Scale Land Acquisitions, online unter: http://www.future- agricultures.org/index.php?option+com_docman &Itemid=971 (Zugriff am 19.10.2011). Deng, D. (2011): Land Belongs to the Community. Demystifying the »Global Land Grab« in Southern Sudan, online unter: http://www.future-agricultures.org/index.php? option=com_docman&task=cat_view&gid=1552&Itemid=971 (Zugriff am 19.10.2011). Hall, Ruth (2011): The Next Great Trek? South African Commercial Farmers Move North, online unter: http://www.future-agricultures.org/index.php? option=com_docman&task=cat_view&gid=1552&Itemid=971 (Zugriff am 19.10.2011). Hobsbawn, Eric (1987): The Age of Empire 1875-1914, London. IUCN (2010): Quantifying the Impacts of Barriers to Pro-poor Forest Management. Livelihoods and Landscapes Strategy. Markets and Incentives Discussion Paper, Gland, IUCN. McAuslan, Patrick (2006): Property and Empire. Paper Presented to Sixth Biennial Conference, The Centre for Property Law, School of Law, University of Reading, UK.

Commons-Sommerschule 2012 24 Mpoyi, Augustin (2010): Social and Environmental Dimensions of Large Scale Land Acquisitions in the Republic of Congo. Presentation to the World Bank Annual Land Policy & Administration Conference, April 26-27, 2010. Oakland Institute (2011): Understanding Land Investment Deals in Africa, Country Report: Ethiopia, online unter: http://media.oaklandinstitute.org/publications (Zugriff am 19.10.2011). The World Bank (2010): Rising Global Interest in Farmland, Washington.

Liz Alden Wily (Neuseeland) ist unabhängige Wissenschaftlerin und Beraterin für internationale Entwicklung. Sie ist Mitglied der Leiden Law School und der Rights & Resources Initiative in Washington. Sie lebt in Kenia.

Commons-Sommerschule 2012 25 Der Umgang mit sozialen Dilemmata Institutionen und Vertrauen in den Commons

Martin Beckenkamp

Die Spieltheorie ist ein mathematisches Instrument zur Analyse sozial interdependenter Entscheidungssituationen. So kann sich etwa beim Sport ein Team für eine offensive oder eine defensive Strategie gegen das andere Team entscheiden, und in der Wirtschaft kann ein Unternehmen in den Wettbewerb mit anderen Unternehmen treten oder mit ihnen kooperieren, wie das in einem Joint Venture geschieht.

Aus spieltheoretischer Sicht sind Commons sowohl eine Chance als auch eine Gefahr, denn sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie einerseits beachtliche Möglichkeiten bieten, Win-win- Situationen herzustellen, andererseits sind diese Konstellationen extrem instabil und anfällig, weil sie den gemeinsamen Willen zur Zusammenarbeit voraussetzen. Sobald ein Mitglied versucht, seinen eigenen Nutzen zu maximieren, gerät das Gemeingut in Gefahr, und die gemeinschaftliche Wohlfahrt wird zerstört, denn der Zugewinn des Abweichlers ist geringer als der Verlust der Gemeinschaft. Aus diesem Grund bezeichnet man Commons auch als soziale Dilemmata.

Diese extreme Anfälligkeit oder Verletzbarkeit der Commons erklärt, warum Vertrauen so enorm wichtig ist. Elinor Ostrom sagt dazu in ihrer Rede zum Nobelpreis 2009: »[D]ie jüngeren theoretischen Überlegungen über Lernprozesse und Normakzeptanz der Einzelnen können uns helfen zu verstehen wie Feedback-Mechanismen positive und negative Lernprozesse verstärken und wie Individuen mehr Vertrauen zueinander gewinnen, was letztlich zu verstärkter Kooperation und zu höheren Leistungen führt. Es geht nicht nur darum, dass Individuen Normen akzeptieren, sondern auch darum, dass aus der jeweiligen Struktur heraus genügend Informationen generiert werden über das wahrscheinliche Verhalten Anderer als glaubwürdige Gegenüber, die ihren Anteil an den Kosten zur Überwindung des Dilemmas tragen« (Ostrom 2009: 432)1. In kleinen Gruppen kann Vertrauen oft erarbeitet werden, weil die Menschen einander kennen und informelle Normen (oder Scham- und Schuldgefühle bei Normverletzung) das gemeinsame Wohl hinreichend gewährleisten. Was aber geschieht, wenn die Gruppen so groß werden, dass das persönliche Kennenlernen nicht mehr möglich ist?

Oft wird übersehen, dass Institutionen für die Bildung und Aufrechterhaltung von Vertrauen von herausragender Bedeutung sind. In der Geschichte des Handels gibt es zahlreiche Beispiele von Institutionen, die über Jahrhunderte hinweg entwickelt wurden, um von den Vorteilen des gegenseitigen Austauschs zu profitieren und Betrügereien sowie Piraterie vorzubeugen. Allerdings wurden Handelsinstitutionen vielfach auch dazu benutzt, Macht zu etablieren und auszubauen. Handel ist eine extrem anfällige Win-win-Situation, denn es bestehen sowohl auf Seiten des Käufers wie auf Seiten des Verkäufers starke Anreize, die je eigene Verpflichtung nicht zu erfüllen (d.h. Kauf- und Verkaufsbetrug). In der langen Geschichte des Handels wurden vielfältige Instrumente entwickelt, die genau das verhindern sollten, etwa durch öffentlich zugängliche Informationen zum guten Ruf der Verkäufer und Käufer (Reputationssysteme), Treuhänder, Zug-um-Zug-Abwick- lungen usw. Diese Entwicklungen spiegeln sich in modernen Institutionen wie eBay wie im Zeitraffer wider. In vielen Fällen moderner Commons, wie der Wikipedia oder in Open-Source- Projekten, wurden solche Institutionen jedoch nicht nur wiederholt oder wieder-erfunden, sondern auch an die speziellen Bedürfnisse angepasst, angereichert und ganz neu entwickelt.

Viele moderne Commons beginnen enthusiastisch. Jeder vertraut jedem, man nimmt sich viel vor

1 Übersetzung von Silke Helfrich.

Commons-Sommerschule 2012 26 und traut sich gegenseitig viel zu. Nach einiger Zeit und beachtlichem Wachstum gibt es dann Fälle von Kriminalität und Vandalismus, die bald nicht mehr ignoriert werden können. Commons sind gefährdet, wenn solche »Defektionen«2 und/oder Missverständnisse über vermeintliche Defektionen auftreten. Hier sind Lösungen gefragt, die einerseits schlagkräftig und glaubwürdig genug sind, um potentiellen Trittbrettfahrern und Übeltätern zu drohen, ohne Misstrauen gegenüber der ganzen Gemeinschaft zu signalisieren, die ja bereits mit beachtlichem Erfolg gemeinsam etwas geschaffen hat. Derart wohlwollende und zugleich durchsetzungsstarke Lösungen zu finden ist schwer. Daher gibt es auch viele Commons-Beispiele, die scheitern.

Elinor Ostrom entwickelte Designprinzipien, die beschreiben, unter welchen Bedingungen Commons langlebig und erfolgreich sind.

Designprinzipien für gelingendes Gemeingutmanagement

Diese Prinzipien hat Elinor Ostrom bereits 1990 in einem ihrer Hauptwerke, Governing the Commons (dt. Die Verfassung der Allmende), veröffentlicht. Sie werden seit Jahrzehnten weiterentwickelt. In ihrer Nobelpreisrede stellte sie eine von ihren Studenten Michael Cox, Gwen Arnold und Sergio Villamayor-Tomás präzisierte Fassung vor, die hier stichpunktartig wiedergegeben wird:

1. Grenzen Es existieren klare und lokal akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und Nicht- Nutzungsberechtigten.3 Es existieren klare Grenzen zwischen einem spezifischen Gemeinressourcensystem und einem größeren sozio-ökologischen System.

2. Kongruenz Die Regeln für die Aneignung und Reproduktion einer Ressource entsprechen den örtlichen und den kulturellen Bedingungen. Aneignungs- und Bereitstellungsregeln sind aufeinander abgestimmt; die Verteilung der Kosten unter den Nutzern ist proportional zur Verteilung des Nutzens.

3. Gemeinschaftliche Entscheidungen Die meisten Personen, die von einem Ressourcensystem betroffen sind, können an Entscheidungen zur Bestimmung und Änderung der Nutzungsregeln teilnehmen (auch wenn viele diese Möglichkeit nicht wahrnehmen).

4. Monitoring der Nutzer und der Ressource Es muss ausreichend Kontrolle über Ressourcen geben, um Regelverstößen vorbeugen zu können. Personen, die mit der Überwachung der Ressource und deren Aneignung betraut sind, müssen selbst Nutzer oder den Nutzern rechenschaftspflichtig sein.

5. Abgestufte Sanktionen Verhängte Sanktionen sollen in einem vernünftigen Verhältnis zum verursachten Problem stehen. Die Bestrafung von Regelverletzungen beginnt auf niedrigem Niveau und verschärft sich, wenn Nutzer eine Regel mehrfach verletzen.

2 Defektion ist ein Begriff aus der Soziologie, der eine Situation bezeichnet, in der Kooperation ausgeschlagen oder offen abgelehnt wird (Anm. der Hg.). 3 Diese schließt auch die ultimative Drohung eines möglichen Ausschlusses bei schädi- gendem Verhalten ein (M.B.).

Commons-Sommerschule 2012 27 6. Konfliktlösungsmechanismen Konfliktlösungsmechanismen müssen schnell, günstig und direkt sein. Es gibt lokale Räume für die Lösung von Konflikten zwischen Nutzern sowie zwischen Nutzern und Behörden [z.B. Mediation – S.H.].

7. Anerkennung Es ist ein Mindestmaß staatlicher Anerkennung des Rechtes der Nutzer erforderlich, ihre eigenen Regeln zu bestimmen.

8. Eingebettete Institutionen (für große Ressourcensysteme) Wenn eine Gemeinressource eng mit einem großen Ressourcensystem verbunden ist, sind Governancestrukturen auf mehreren Ebenen miteinander »verschachtelt« (Polyzentrische Governance) [zum Beispiel: selbstorganisierte Kommunalverwaltung regional vernetzte Institutionen Gruppen/Vereine überregionale, nicht-staatliche oder staatliche Strukturen — S.H.]. Silke Helfrich nach: Elinor Ostrom 2009

Ein genauerer Blick auf die ersten sieben dieser acht Prinzipien spiegelt diese Mischung aus Gutmütigkeit und Durchsetzungskraft wider. Die Prinzipien (1) und (7) drücken die Stärkung eines Commons durch Selbstbestimmtheit und Autonomie aus, Prinzip (5) ist eine Mischung aus Durchsetzungsstärke und Wohlwollen, während die Prinzipien (2) und (3) Vertrauen (also Wohlwollen) in die Kompetenz jedes Mitglieds ausdrücken, sowohl was ihre Kenntnisse der besonderen lokalen Umstände angeht als auch ihre Problemlösungskompetenz.

In gewisser Weise ist Ostroms Sicht der Self-Governance4 von Commons dialektisch, da sie sowohl die Notwendigkeit von Durchsetzungskraft und Autorität anerkennt als auch auf die Probleme von Top-down-Ansätzen oder dem Eingreifen externer Autoritäten hinweist. Dialektisch ist auch das wohlwollende Herangehen: Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Menschen willens und motiviert sind zu kooperieren, doch das ist kein Dogmatismus, sondern es wird auch berücksichtigt, dass einzelne Menschen – aus welchen Gründen auch immer – diese Grundannahme verletzen können.

Diese Betrachtungen mögen auf den ersten Blick trivial erscheinen. Doch aus ihnen ergeben sich erstaunliche Einsichten. Etwa jene, dass Vertrauen nicht nur eine Angelegenheit zwischen Personen ist. Vertrauen ist sowohl psychologisch als auch institutionell bedingt. Angemessenes und gutes institutionelles Design liefert den Rahmen, der Menschen gegenseitiges Vertrauen ermöglicht; unangemessenes institutionelles Design kann zwischenmenschliches Vertrauen erheblich stören. Die »Schnittstelle« zwischen Psychologie und institutionellem Design hat demnach herausragende Bedeutung, ähnlich wie die Schnittstellen, die die Benutzerfreundlichkeit eines Computer- programms festlegen. Es geht also nicht nur darum, dass bestimmte Funktionen gewährleistet sind oder zur Verfügung stehen, sondern auch darum, dass sich diese Funktionalität dem Menschen leicht erschließt. In Analogie zum Softwaredesign gilt daher auch für das institutionelle Design: Institutionen können mehr oder weniger »ergonomisch«, also nutzerfreundlich sein.

Unangemessene (aber im Prinzip funktionale) Institutionen, die übertrieben Stärke und Macht demonstrieren, provozieren Reaktanz (d.h. psychologische Reaktionen auf einen potentiellen Freiheitsverlust, vgl. Brehm 1966). Unangemessene Institutionen mit einem Mangel an Stärke und

4 In der Commons-Debatte wird mitunter der Begriff »Selbstorganisation« verwendet, der mit »Self-Governance« nicht identisch ist (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 28 Macht und übertriebenem Wohlwollen können aber zum Scheitern des Commons führen, weil Konflikte und schädigendes Verhalten eskalieren. Elinor Ostrom führt Beispiele von Gemeinden an, die mit Hinblick auf die Verteilungsregeln der erwirtschafteten Gemeingüter nicht streng genug waren und statt einer Zuteilung pro Familie eine Zuteilung pro Kopf vorsahen (Ostrom 1999). Diese Pro-Kopf-Zuteilungsregel führte in den gescheiterten Fällen zu starkem Bevölkerungswachstum, so dass die Tragfähigkeit der Gemeinressource überschritten wurde. Die Quintessenz der bisherigen Argumentation lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Kontrollen und Sanktionen sind zwingende Voraussetzung für erfolgreiche Commons.

Die interdisziplinäre Forschung zu institutionellen Arrangements zum Erhalt gemeinsam genutzter Ressourcen stellt sich die spannende Frage, wann Kontrollen und Sanktionen in der Evolution von Commons überhaupt entstehen bzw. eingeführt werden und wie die Bedingungen aussehen müssen, damit sie eingeführt werden können. Aus meiner Sicht ist neben anderen Faktoren entscheidend, dass die Nutzerinnen und Nutzer so viel systemisch-strukturelle Einsicht haben, dass sie wissen, dass gemeinsames Handeln sich lohnt (Win-win-Situation), ein Commons zugleich aber auch extrem anfällig ist gegenüber Personen, die sich auf Kosten anderer bereichern wollen. Die aktive Beteiligung an der Gestaltung der Institutionen (»Self-Governance«) beugt einer möglichen Reaktanz vor – und sie fördert Vertrauen.

Die Geschichte der Umweltprobleme zeigt, dass die Beteiligten das Potential zur Schaffung gemeinsamer Win-win-Situationen oft überhaupt nicht erkennen. Die Botschaft aus Wissenschaft und Politik »Nehmt weniger, und ihr habt mehr« scheint aus ihrer Sicht Geschwätz (das lässt sich zum Beispiel im lokalen Fischereikonflikt am Wattenmeer darstellen). Aus Sicht der einzelnen Stakeholder sprechen nämlich die objektiven Zahlen eine andere Sprache: Die Einzelnen kommen besser davon, wenn sie sich nicht um Kooperation und gemeinsame Wohlfahrt kümmern. Schlimmer noch: Dies nicht zu tun, während die anderen so weitermachen wie bisher, würde den Ruin des Nachgebenden besiegeln (wie im Fall sehr armer Fischer, die gerade noch so ihren Lebensunterhalt sichern können).

Dies führt zu einem zweiten Kernsatz: Commons können nur dann auf Dauer erfolgreich sein, wenn die Mitglieder einen substantiellen Einblick in die Win-win- Konstellation haben oder bekommen können. Der Begriff »substantiell« deutet an, dass es sich nicht um ein rein kognitives Problem handelt, sondern auch um eine Frage des Vertrauens. Das Gefühl der Relevanz für die eigene Lebenssituation und jene der Gemeinschaft, mit der man sich identifiziert, muss vorhanden sein, das Gefühl: »Das betrifft mich und uns.« Manch ein modernes Commons begann mit Enthusiasmus durch die Vorstellung, was man gemeinsam schafft und schaffen kann. Die Anfälligkeit gegenüber Fehlverhalten wurde weitgehend ignoriert. Dies war aus meiner Sicht bei Wikipedia der Fall. Zu Beginn des Projekts wurde übersehen, dass auf Dauer auch in der Wikipedia Kontrollen und Sanktionen notwendig sind. Mit dem vermehrten Aufkommen von Vandalismus und anderem schädigenden Verhalten mussten dann entsprechende institutionelle Arrangements gefunden werden. Wie überall.

Dies kann entweder dazu führen, dass Commons aufgelöst und privatisiert, oder aber, dass stabile Lösungen zum Erhalt des Commons gefunden und institutionalisiert werden, auch wenn sie zunächst der Commons-Idee zu widersprechen scheinen (etwa, dass es in der Wikipedia Eigentumsrechte bzw. Verfügungsrechte an den Bildern gibt; diese Rechte sollen aber nur verhindern, dass andere sich die allen zur Verfügung stehenden Bilder aneignen).5 Solche Regeln gewährleisten den langfristigen Erfolg.

5 Näheres zu den Lizenzen, auf die der Autor hier Bezug nimmt, ist in den Beiträgen von Mike Linksvayer, und Christian Siefkes nachzulesen (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 29 Damit kommen wir zum dritten Kernsatz: Auch moderne Commons bedienen sich institutioneller Arrangements samt Kontroll- und Sanktionsmechanismen, um ihre Idee und ihr Überleben zu sichern.

In der Laborforschung der experimentellen Psychologie, in der Politikwissenschaft und der Ökonomie versucht man, Teile der Commons-Strukturen abzubilden und Versuchspersonen einzuladen, im Rahmen solcher Strukturen Entscheidungen zu treffen. Häufig werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für ihre Entscheidungen mit Geld entlohnt (oder eben nicht), aber es gibt auch Experimente, die andere Anreize nutzen oder wo die Konsequenzen des eigenen Handelns nur vorgestellt werden sollen. Diese experimentelle Forschung bestätigt meine Argu- mente. Zudem zeigt sie, dass Menschen mit Einblick in Commons-Strukturen auch schon auf moderate Sanktionsdrohungen reagieren: Wo der Homo oeconomicus weiter defektieren würde, werden von den Beteiligten solcher Commons-Arrangements schon milde Sanktionen als Signal verstanden, dass man weiterhin gemeinsam das Potential des Commons nutzen und nicht ausnutzen möchte. Die Experimente zeigen deutlich, dass nicht nur Geldstrafen, sondern auch der Ausschluss aus einem Commons (»Ostrazismus«) wirksame Drohungen sind, die den Erhalt des Systems gewährleisten können. Wichtig dabei ist, dass nicht die konkrete Anwendung der Sanktionen notwendig ist, sondern dass schon die potentielle Androhung von Sanktionen wirkt, insbesondere wenn gemeinsam über die betreffenden institutionellen Arrangements entschieden wurde. Aus psychologischer Sicht entsprechen solchen Arrangements eher internalisierten als von außen verordneten Normen. In anderen Worten: Man folgt den Normen aus Überzeugung, nicht wegen des Drucks.

Vertrauen ist psychologischer und institutioneller Natur. Die institutionelle Ergonomie sowie die Interaktion zwischen Menschen und ihren Institutionen sind wichtig für das Verständnis und das Design langlebiger, erfolgreicher Commons.

Literatur

Brehm, Jack W. (1966): Theory of Psychological Reactance, New York. Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt, Tübingen. Ostrom, Elinor (2009): Beyond Markets and States: Polycentric Governance of Complex Economic Systems, Nobelpreisrede vom 8. Dezember 2009, online unter: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economics/laureates/2009/ost rom-lecture.html (Zugriff am 10.01.2012).

Martin Beckenkamp (Deutschland) ist Wirtschaftspsychologe mit Schwerpunkt auf Umweltökonomie. Er lehrt an der Universität zu Köln und an der BiTS Iserlohn und forscht am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn, derzeit in einem Projekt über Biodiversität unter dem Aspekt des sozialen Dilemmas.

Commons-Sommerschule 2012 30 Eine kurze Phänomenologie der Commons

Ugo Mattei

Die Ursprünge der modernen Wissensordnung

Die Teilhabe an Gemeingütern ist kein Zugeständnis. Sie stehen Menschen einfach zu, weil sie lebensnotwendig sind. Alle haben das Recht auf einen gleichen Anteil an ihnen. Daher muss die Gesetzgebung jeden ermächtigen, dieses gleiche und unmittelbare Zugangsrecht auch durchzusetzen. Zudem tragen alle gleichermaßen Verantwortung für die Gemeingüter wie Wasser, Land, Luft. Sie teilen die Verpflichtung, deren Reichtum an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Commons, als machtvolle Quelle von Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit, stehen heute im klaren Gegensatz zum Staat sowie zu jener Form des Privateigentums, die vom Markt hervorgebracht wird. Doch sie wurden vom positivistischen wissenschaftlichen Diskurs regelrecht verschüttet. Wir müssen daher den Commons durch eine neue, ganzheitliche Sichtweise wieder zu ihrem Recht verhelfen, damit sie ihr emanzipatorisches Potential entfalten können.

Gewöhnlich wird der Anspruch auf soziale Gerechtigkeit durch die »Menschenrechte der zweiten Generation« begründet, die der Staat in besonderer Weise verpflichtet ist zu respektieren und zu garantieren. In den westlichen Demokratien sind die (derzeit schwächelnden) Institutionen des Wohlfahrtsstaates für soziale Gerechtigkeit zuständig.

Die Vorstellung, vor allem der Staat habe soziale Rechte abzusichern, war für die Entwicklung der westlichen Rechtsprechung zentral. Seit der wissenschaftlichen Revolution und der Reformation wurden Fragen der sozialen Gerechtigkeit aus dem Kernbereich des Privatrechtes ausgeschlossen. Das scholastische Rechtsverständnis des 16. Jahrhunderts – das auf zwei Gerechtigkeitskonzeptio- nen beruhte, nämlich Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit – wurde mit der Entstehung des westlichen Rechtssystems aufgegeben. Im 17. Jahrhundert – etwa seit Grotius – begann man, Gerechtigkeitsfragen mit Fairness in vertraglichen Vereinbarungen zwischen Individuen gleichzusetzen. Das Problem der Verteilung galt als nur auf die ganze Gesellschaft anwendbar, nicht auf einzelne Teile. Verteilung wurde fortan als sozialer Tatbestand angesehen. Damit war die Rechtsprechung für Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr zuständig.

Eine weitere bedeutende Veränderung im 17. Jahrhundert war die sogenannte wissenschaftliche Revolution, die dem Positivismus und der modernen Wissensordnung zum Durchbruch verhalf (Capra 2009). Nach diesem Weltbild müssen Fakten von Werten getrennt werden, denn die »Welt, wie sie ist« sei klar von der »Welt, wie sie sein sollte« zu unterscheiden. Die Ökonomie, die sich im 18. Jahrhundert als autonomer Zweig der Wissenschaft entwickelte, folgte dieser Sichtweise (Blaug 1962). Verteilung wurde vollständig den politischen Werten zugeordnet (»was sein sollte«), und nicht dem Bereich messbarer Fakten (»was ist«). Damit war die Diskussion, wie Ressourcen in einer gerechten Gesellschaft zu verteilen sind, nicht nur aus der Rechtswissenschaft verbannt, sondern auch aus dem per Eigendefinition zur Wissenschaft erhobenen ökonomischen Diskurs.

Verteilungsgerechtigkeit wurde somit Gegenstand der Politik, die (wenn überhaupt) von staatlichen Institutionen des öffentlichen Rechts oder über ordnungspolitische Instrumente bearbeitet wurde. Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates im frühen 20. Jahrhundert galt als außergewöhnlicher staatlicher Eingriff in die Marktordnung. Er erfolgte hauptsächlich durch Besteuerung, die zum Ziel hatte, den schwächeren Mitgliedern einer Gesellschaft ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit zu garantieren. Soziale Gerechtigkeit konnte seit dieser Zeit im Westen nicht mehr bis ins Zentrum des rechtlichen Diskurses vordringen. Sie blieb den finanziellen Krisen ausgeliefert: kein Geld, keine

Commons-Sommerschule 2012 31 sozialen Rechte (Mattei/Nicola 2006)!

Die Idee der Commons bietet uns nun, rechtlich und politisch, genau jene Instrumente, die wir brauchen, um die zunehmende Marginalisierung sozialer Gerechtigkeit wieder anzusprechen. Weil die Commons jenseits des Duopols Staat und Markt angesiedelt sind, liefert ihr institutioneller Rahmen ein alternatives juristisches Denkmodell, das eine gerechtere Ressourcenverteilung ermöglicht.1 Da Commons die Menschen unmittelbar zum Handeln ermächtigen, können sie – falls theoretisch und politisch durchdacht – eine wichtige Rolle dabei spielen, die soziale Gerechtigkeit wieder ins Zentrum des rechtlichen und ökonomischen Diskurses zu rücken.

Die Commons wahrnehmen

Derzeit sieht es so aus, als würden die beiden Pole – »das Öffentliche« (der Einflussbereich der Regierung) und »das Private« (der Bereich von Markt und Privateigentum) – das ganze Spektrum der Handlungsmöglichkeiten abdecken. Diese starre Polarität ist eine Folge der modernistischen Tradition, die noch immer die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften dominiert. Sie entzieht die Commons der öffentlichen Wahrnehmung.

Commons erfüllen Aufgaben, die von ihren Nutzern oft für selbstverständlich gehalten werden: Viele, die von ihnen profitieren, schenken ihrem wahren Wert kaum Beachtung. Vielmehr erkennen sie ihn erst, wenn die Commons zerstört sind und Ersatz gefunden werden muss. Commons ähneln gewissermaßen der Hausarbeit, die erst dann wahrgenommen wird, wenn sie nicht erledigt wird. Wenn niemand das Geschirr spült, erkennt man den Wert dieses Tuns. Mit anderen Worten: Wir vermissen manche Dinge erst, wenn sie verloren gegangen sind – wie die Mangrovenwälder in den Küstenregionen. Wenn Entscheidungen über Entwicklungsvorhaben zu treffen sind, halten Menschen die Existenz der Mangroven für selbstverständlich. Sie denken nicht an deren Rolle für den Schutz der Küstenorte vor Tsunamis. Erst wenn der Tsunami anrollt und die Dörfer zerstört, wird die Bedeutung der Mangrovenwälder wirklich deutlich (Brown 2009). Einen gleichwertigen, künstlichen Schutzwall zu bauen, wäre extrem teuer.

Es ist politisch immens wichtig und auch für jedes ernsthafte wissenschaftliche Vorgehen unabdingbar, die Commons sichtbar zu machen und ihre Rolle für das Leben in Gänze anzuerkennen. Man kann sich dabei nicht mit einem beschränkten Begriffsverständnis der Analyse der Commons nähern. Weil genau dies aber getan wurde, konnten die vorherrschenden Sozialwissenschaften diese Null-Summen-Dualität von Markt und Staat verinnerlichen, und daher fehlt es ihnen auch an Werkzeugen für eine treffende Analyse der Commons.

Man könnte es so ausdrücken: Commons verschwinden, weil sie strukturell mit wesentlichen Aspekten des westlichen Rechtssystems unvereinbar sind. Die Rechtsprechung hat den Individualismus und die Dichotomie von Staat und Privateigentum miteinander verkoppelt und zu ihrer alleingültigen Grundlage gemacht. Schon im alten Rom, Jahrhunderte vor der Geburt des modernen Staates, haben mächtige Familien ihre Ländereien durch die Aneignung von Commons ausgeweitet. Engels beschrieb die private Aneignung der Commons als das grundlegende Muster der wirtschaftlichen Entwicklung Europas. Westliches Recht hat also bei der Zerstörung der Commons eine wichtige Rolle gespielt und keineswegs zu ihrem Schutz beigetragen. Auch der Wissenskapitalismus scheint diesem Muster noch zu folgen (Boyle 2003), man denke nur an die gerichtliche Verfolgung des Peer-to-Peer-Filesharing im Internet.2

1 Siehe dazu auch den Beitrag von David Bollier und Burns Weston in diesem Buch (Anm. der Hg.). 2 Filesharing bezeichnet die direkte Weitergabe von Dateien zwischen Internetnutzern unter Verwendung eines Peer-to- Peer-Netzwerks. Die Dateien befinden sich auf den Computern der Teilnehmer oder auf dafür zweckgebundenen

Commons-Sommerschule 2012 32 Für Commoners war es immer schwierig, eine Vertretung vor Gericht zu finden, um gegen jene zu klagen, die sich die Gemeingüter anzueignen versuchten. Schließlich nützen die Commons früher wie heute vor allem armen Bauern (oder jungen Internetsurfern), die kein Geld haben, den Rechtsweg zu beschreiten. Erinnern wir uns, wie leicht die Bauern in England in der entscheiden- den Phase des beginnenden Kapitalismus Opfer von Einhegungen, sprich: Landnahme, wurden und schließlich die notwendige Arbeitskraft für die aufstrebenden Manufakturen stellten. Sowohl die Einhegungen als auch die gewaltsame Rekrutierung der enteigneten Bauern für den Arbeits- markt wären ohne das Bündnis zwischen dem Privateigentum (als Rechtsinstitut) und dem Staat schlichtweg unmöglich gewesen (Tigar 1977).

Diese Ausgangssituation und die Struktur unseres westlichen Rechtsrahmens sind der Grund dafür, dass Commons heute ein kaum beachteter theoretischer Ausnahmefall zwischen entweder dem Markt oder dem Staat darstellen. So werden sozial konstruierte und politisch festgelegte Fakten zur unumstößlich erscheinenden Realität.

Die Markt/Staat-Dichotomie entzaubern

Privateigentum und Staat sind die beiden großen Institutionen in Recht und Politik, die die duale Weltsicht am Leben erhalten. Diskussionen, die diese Dichotomie reproduzieren, laufen in die falsche Richtung. Denn hier wird ein Unterschied konstruiert, der nicht existiert. Der Staat ist nicht mehr der demokratisch legitimierte Vertreter der Gemeinschaft aller Individuen, sondern längst ein Marktakteur unter vielen. Das Zusammenspiel oder gar die Verschmelzung staatlicher und privater Interessen lässt wenig Spielraum für eine Infrastruktur der Commons, so überzeugend die Belege für ihren Nutzen auch sein mögen.

Gemeinhin werden Markt und Staat heute als radikal miteinander im Konflikt stehende Institutionen dargestellt. Etwas kryptisch wird eine Null-Summen-Beziehung behauptet: mehr Staat bedeute weniger Markt, und weniger Markt bedeute mehr Staat. In dieser vereinfachenden Schematisierung stehen Staat und Privateigentum exemplarisch für die Pole »öffentlich« und »privat«. Dieses Bild ist falsch. Weder vor noch in der Moderne war es zutreffend, denn strukturell stehen die beiden Bereiche als soziale und lebendige Organisationen in einer symbiotischen Beziehung zueinander. Der behauptete Widerspruch ist ein Kunstprodukt. Er ist das Ergebnis einer ideologischen Entscheidung in der Tradition des Individualismus und trat als Konflikt bereits zu Beginn des liberalen Individualismus zu Tage, nämlich bei John Locke und Thomas Hobbes, den beiden bedeutendsten Verfechtern des Privateigentums einerseits und des Staates als Souverän andererseits.

Diese Reduktion auf den Dualismus Markt versus Staat verschleiert, dass Eigentum (Markt) und Souveränität (Staat) eine gemeinsame Struktur haben, die auf Machtkonzentration beruht. In privaten Strukturen (Unternehmen) konzentrieren sich die Entscheidungsmacht und die Macht, andere auszuschließen, in den Händen einer Person (dem Eigentümer) oder in einer Hierarchie (dem Geschäftsführer). Ganz ähnlich liegt in öffentlichen Institutionen (Bürokratien) die Macht in den Händen jener, die sich ganz oben in der Hierarchie befinden. Beide Archetypen ruhen auf dem gleichen Fundament: der Herrschaft eines Subjekts (eines Individuums, eines Unternehmens, der Regierung) über ein Objekt (ein privates Gut, eine Organisation, ein Territorium). Einen Gegensatz zwischen diesen Bereichen zu behaupten, obwohl sie genauso strukturiert sind, ist Ergebnis des modernen cartesianischen, reduktionistischen, quantitativen und individualistischen Denkens.

Das individualisierte Subjekt – einsam, narzisstisch und bedürftig – befriedigt nun seine Wünsche über Produkte, Waren und Objekte. Der Blick für die Beziehungsvielfalt ist leer geworden, was

Commons-Sommerschule 2012 33 auch zu unserer Entfremdung von der Natur geführt hat (»wir besitzen sie, also sind wir nicht Teil von ihr«). Die Natur wird nunmehr wissenschaftlich als »objektiv« konstruiert. Nach der dominanten Lehre zeigt sich diese Objektivität darin, dass jegliche menschliche Interaktion messbar wird – und zwar durch ein Preissystem, das den Wert der Dinge bestimmt. »Objektive« Preise müssen für die Befriedigung aller »Bedürfnisse« gezahlt werden – von den einfachsten bis zu den komplexesten, sie alle wurden kommodifiziert.

Diese typisch individualistische »Erzählung« in liberaler Tradition (wie im Mythos von Robinson Crusoe) weckt Bedürfnisse, die der Markt befriedigen soll, während Gemeinschaftserfahrungen aus unserem Bewusstsein verdrängt werden. Je mehr Bedürfnisse das einsame Individuum hat, umso mehr Geld kann man mit deren Befriedigung verdienen. So muss sich das qualitative Denken in sinnhaften Beziehungen einem quantitativen unterordnen.

Offenbar spielen Ökologie und systemisches Denken – Sichtweisen, die die zerstörerischen Auswirkungen individueller Akkumulation auf die Allgemeinheit sichtbar machen könnten – in der heutigen Politik keine Rolle. Das liegt auch daran, dass sie die Sozialwissenschaft als alleinigen Ideengeber ansieht (insbesondere Mikroökonomik, Politikwissenschaft und Marketing). Im Gegensatz zu der berühmten Aussage des Mikrobiologen Garrett Hardin über die »Tragik der Allmende« nach der »eine Allmende ein gesetzloser Ort ist, der der Zerstörung anheimfällt«, sind es heute Staat und Markt, die diese Zerstörung verantworten, indem sie sich ausschließlich auf das »Individuum« beziehen (Feeney et al. 1990).

Zwei grundverschiedene Weltbilder: Wettbewerb versus Kooperation

Die Grundannahme Hardins ist, dass der Mensch vom individuellen Eigennutz getrieben sei. Nur die sture Anwendung des Modells des Homo oeconomicus3 erklärt die Ergebnisse (und den akademischen Erfolg) der sogenannten »Tragik der Allmende«. Der Homo oeconomicus tauchte erstmals im Werk von John Stuart Mill auf und wurde im 18. Jahrhundert von Adam Smith und David Ricardo im Mainstream der politischen Ökonomie verankert. Beide legten ihr Hauptaugen- merk auf das Individuum als kurzfristigen Nutzenmaximierer. Hardins Parabel schloss an diese Tradition an, indem sie die Commons als gesetzlosen Ort beschrieb. Dort könne sich jeder nach Belieben gemeinsam zu nutzende Ressourcen aneignen, was Anreize für Opportunismus und das Anhäufen von Dingen schaffe. Das führe schließlich zu einem zerstörerischen und »ineffezienten« Konsum.

Hier wird also das Bild eines Menschen beschworen, der zu einem Buffet geladen ist, bei dem alle nach Belieben zulangen können: Statt die Fülle mit anderen zu teilen, setzt dieser Mensch alles daran, die Kalorienmenge zu maximieren, die er auf Kosten anderer zu sich nimmt, indem er so viel wie möglich so effizient wie möglich und so schnell wie möglich verschlingt.

Weist die »Tragik der Allmende« auf den Widerspruch zwischen zwei Weltbildern hin?4 Die dominante Weltsicht ist im Wesentlichen sozialdarwinistisch. Sie macht Konkurrenz, Kampf und Wettbewerb zwischen physischen und juristischen Personen zur Essenz unseres Seins. Ein ökologisches und ganzheitliches Verständnis der Welt, basierend auf Beziehungen, Kooperationen und Gemeinschaftlichkeit, wird dabei verdrängt. Dieses Modell, das in der Organisation von Gemeinschaften an der »Peripherie«5 noch lebendig ist, wird durch Strukturanpassungen und

3 Siehe dazu auch den Beitrag von Friederike Habermann in diesem Buch. 4 Den im Folgenden kurz benannten Widerspruch führt Andreas Weber in seinem Beitrag aus (Anm. der Hg.). 5 Der Begriff bezeichnet die ein Machtzentrum umgebenden Gesellschaften, die in der Regel in einem Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Zentrum stehen (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 34 umfassende »Modernisierungs- und Entwicklungspläne« der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds weiterhin gnadenlos unter Druck gesetzt. Wie viele der Beiträge in diesem Band belegen, fördern diese Bestrebungen die »Kommodifizierung« – das Zur-Ware-Werden – von Land und lokalem Wissen ebenso wie die kulturelle Anpassung, die durchgesetzt wird in Form von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit oder Geschlechtergerechtigkeit usw. und anschließend als rhetorische Rechtfertigung für die weitere Plünderung dient (Mattei/Nader 2008).

Elinor Ostrom und ihr Team von Sozialwissenschaftlern haben überwältigend viele empirische Beweise zusammengetragen, die zeigen, dass Gemeineigentumsformen erfolgreich sind und dass Individuen ihre gemeinsamen Ressourcen nicht notwendigerweise zerstören. Ostroms Arbeit stellt unbestreitbar einen entscheidenden Wendepunkt in der Wirtschaftstheorie dar. Sie widerlegt Hardins Tragik – aber sie übersieht, dass sich zwar nicht die Individuen, wohl aber Unternehmen und Staaten so benehmen, dass es tatsächlich eine Tragik gibt. Ohne Referenz auf die harten politischen und juristischen Kämpfe zwischen Commoners auf der einen und der unheiligen Allianz zwischen Staat und Privateigentum (Kapital) auf der andere Seite, die im Laufe der Geschichte ausgefochten wurden, bleibt die Anwendbarkeit von Ostroms Forschungen begrenzt.

Die sogenannte »ursprüngliche Akkumulation«, wie sie Marx beschrieb, hat sich längst institutionalisiert. Sie wird von zentralistischen staatlichen Strukturen und dem Kapital, das sich in Privateigentum und Konzernen konzentriert, gemeinsam fortgesetzt (und zugleich ideologisch legitimiert). Opfer dieser institutionalisierten Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit sind die einfachen (»nichtinstitutionellen«) Menschen. Das Phänomen bleibt keinesfalls auf die »par- lamentarischen Einhegungen«6 in England beschränkt. Die These von der terra nullius (dem Niemandsland), die von John Locke und anderen Gelehrten im Zuge der Kolonisierung untermauert wurde, unterstützte den institutionellen Charakter des »tragödienproduzierenden« Verhaltens (Mattei/Nader 2008). Der indigenen Bevölkerung wurde schlicht das »Menschsein« abgesprochen; sie wurden auf »den Naturzustand« reduziert, weil sie die zivilisierende Institution des Privateigen- tums nicht hinnahmen. Später waren die Herrschaftsmuster, die institutionellen Strukturen und die Grundformen der Einhegungen subtiler, aber nach wie vor verdrängen sie die Commons.

Hardins Parabel behält trotz ihrer theoretischen Mängel – etwa dass Commons gesetzlose Orte seien – eine erhebliche voraussagende Kraft, obwohl in der Regel »normale Menschen« (außerhalb moderner Institutionen) die Commons respektieren. »Institutionelle Personen« wie Staaten oder Unternehmen, die als Homo oeconomicus agieren, produzieren weiterhin tragische Ergebnisse. Daher scheinen auch Ostroms zahlreiche Beispiele von »Menschen aus Fleisch und Blut«, die ko- operieren statt zu konkurrieren, nicht machtvoll genug, um Hardins Argumente zu widerlegen. Nur unzureichend berücksichtigen sie die institutionellen Realitäten und die realen Machtverhältnisse. Das birgt die Gefahr, dass Ostroms Kritik an der »Tragik der Allmende« die Aufmerksamkeit von den Problemen ablenkt und machtvolle Akteure in Wirtschaft und Politik davor schützt, sich für diese Tragödien verantworten zu müssen.

Ein Großteil der Commons-Literatur sollte noch einmal sorgfältig und kritisch geprüft werden, damit wir nicht erneut einer mechanistischen Perspektive aufsitzen, die die Trennung zwischen Objekt und Subjekt reproduziert und letztlich zur Warenform führt (Rota 1991).

Den Alltagsverstand ernst nehmen

6 In England erforderten die »enclosures« wegen des Eingriffs in das auf Rechten und Pflichten von Landlords und Pächtern beruhende Feudalsystem einen separaten Parlamentsbeschluss für jedes einzelne Anwesen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden schließlich die Landlords durch sogenannte »Inclosure Acts« vom Parlament allgemein zur Einhegung ermächtigt (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 35 Ein phänomenologisches Verständnis der Commons zwingt uns, den reduktionistischen Subjekt- Objekt-Gegensatz zu überwinden, der beides zur Ware macht. Es hilft uns zu verstehen, dass Commons (Gemeingüter) – anders als private und öffentliche Güter – keine Waren (Güter) sind und nicht auf Eigentumsfragen reduziert werden dürfen. Sie drücken vielmehr eine qualitative Beziehung aus. Es wäre verkürzt, zu sagen, wir haben ein Gemeingut. Wir sollten eher darüber nachdenken, in welchem Maße wir (die) Commons sind, insofern auch wir Teil der Umwelt, eines städtischen oder ländlichen Ökosystems sind. Subjekt und Objekt sind untrennbar. Commons sind also ein unauflösbares Verhältnis, das Individuen, Gemeinschaften und das Ökosystem miteinander verbindet. Diese ganzheitliche Revolution hat tiefe historische Wurzeln, von Aristoteles’ Seinslehre bis hin zu jüngeren Philosophen wie Husserl und Heidegger, die Konzepte wie »Fundierung« (Heidegger) oder »Relevanz« nutzten, um das Ende der objektiven Welt zu bezeichnen, in der die Subjekte von den beobachteten Objekten getrennt werden und die Individuen von ihrer Umgebung. Auch in den Naturwissenschaften sind neue, ganzheitliche Ansätze entstanden, etwa in der Physik oder in der systemischen Biologie. Sie beruhen eher auf einer qualitativen Beschreibung von Beziehungen als auf quantitativen Messungen und dem positivistischen Reduktionismus eines Galilei, Descartes oder Newton (Capra 2004). Besonders die Quantenmechanik und Einsteins Relativitätstheorie haben eine erkenntnistheoretische Revolution ausgelöst, mit der sich die Kognitionswissenschaften oder die Bewusstseinsforschung auseinandersetzen. Die Sozialwiss- enschaften konnten sich dieser ganzheitlichen Betrachtung noch nicht wirklich öffnen.

Commons können nur aus einer phänomenologischen und ganzheitlichen Perspektive beschrieben werden, die mit dem Reduktionismus unvereinbar ist. Unvereinbar ist sie auch mit der Behauptung individueller Autonomie, so wie sie in der kapitalistischen Tradition aus der Idee individueller Rechte entwickelt wurde. Commons hingegen ist eine ökologisch-qualitative Kategorie, die auf Inklusion, freiem Zugang und gemeinsamer Verantwortung basiert, während Eigentum und staatliche Souveränität polit-ökonomisch-quantitative Kategorien sind, die auf Exklusion (produzierter Knappheit7) gründen: Die Rede von den individuellen Rechten geht mit der mitunter gewaltsamen Machtkonzentration in den Händen Weniger einher.

Dies sollte Juristen veranlassen, sich der schwierigen, aber drängenden Aufgabe zuzuwenden, die Fundamente einer neuen Rechtsordnung zu entwickeln, die den gegenwärtigen Dualismus (Eigentum/Staat, Subjekt/Objekt, öffentlich/privat) überwindet. Eine solche Ordnung muss die Dominanz des Privateigentums, des Individualismus und des Wettbewerbs hinter sich lassen und die Interessen der Allgemeinheit in den Blick nehmen. Wir brauchen Institutionen, die Nachhaltig- keit und die volle Teilhabe aller Commoners weltweit ermöglichen – auch die der Ärmsten und Verletzlichsten.

Ein politischer Paradigmenwechsel

Angesichts der globalen Erwärmung oder der Wirtschaftskrise bieten uns Commons die Chance, die Realität grundlegend anders wahrzunehmen. Das ist auch dringend geboten! Commons helfen uns, die Illusionen des modernen Liberalismus und Rationalismus zurückzuweisen. Deswegen reicht es nicht, sie einfach nur als dritten Weg zwischen Staat und Privateigentum zu beschreiben, wie das aktuell oft geschieht. Commons können nicht darauf reduziert werden, die Reste zu verwalten, die vom Bankett der westlichen Geschichte übrig sind – doch genau dies scheint gegenwärtig das Anliegen der Politik. Commons – nicht als dritter Weg, sondern als Konzept – brauchen einen institutionellen und einen rechtlichen Rahmen, der es ermöglicht, das Bündnis zwischen

7 Mit »produzierter Knappheit« setzen sich auch Brian Davey, Silke Helfrich, Wolfgang Höschele und Roberto Verzola in einem Gespräch in diesem Buch auseinander (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 36 Privateigentum und Staat aufzubrechen.

Die Veränderung, die wir politisch und theoretisch durchsetzen müssen, ist im Wesentlichen eine Veränderung der vorherrschenden Wissensordnung – statt von der absoluten Herrschaft des Subjekts (als Eigentümer oder Staat) über das Objekt (als natürliche Umwelt oder Territorium) auszugehen, sollten wir das Verhältnis zwischen beiden (Subjekt und Natur) in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen wieder neu begreifen, dass das Überleben jedes Individuums von seiner Verbundenheit mit anderen, mit der Gemeinschaft und mit der Umwelt abhängt. Die erste Veränderung hin zu einer holistischen Sichtweise ist die Umorientierung von der Quantität (einem zentralen Aspekt der wissenschaftlichen Revolution und der kapitalistischen Akkumulation) hin zur Qualität.

Ein Rechtssystem, das auf Commons aufbaut, muss die Vorstellung von Hierarchie zugunsten eines partizipatorischen und kooperativen Modells aufgeben. Eines Modells, welches die Konzentration von Macht verhindert und die Interessen der Gemeinschaft ins Zentrum stellt. Nur in einem solchen Rahmen kann der Anspruch auf soziale Rechte wirklich erfüllt werden. In dieser Logik sind Commons nicht einfach Ressourcen (Wasser, Kultur, das Internet, Land, Bildung), sondern eher eine mit anderen geteilte Wahrnehmung unserer Realität, die sich radikal dem scheinbar unaufhaltsamen Trend entgegenstellt, alles einer betriebswirtschaftlichen Logik zu unterwerfen. Trotz der dramatischen Krise von 2008 werden auch heute noch erhebliche öffentliche Mittel durch staatliche, angeblich keynesianische Eingriffe in den Privatsektor verschoben. Die Logik der Plünderung könnte offensichtlicher nicht sein.

Weniger Staat, weniger Markt, mehr Commons – das ist, so glaube ich, der einzige Weg, um einer anderen Erzählung von sozialer Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

Literatur

Blaug, Mark (1962): Economic Theory in Retrospect, Homewood/London. Boyle, James (2003): »The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain«, in: Law and Contemporary Problems, 66, S. 33-75. Brown, Lester . (2009): Plan B 4.0. Mobilizing to Save Civilization, New York/ London. Capra, Fritjof (2004): The Web of Life. A New Scientific Understanding of Living Systems, New York. Feeney, David/Berkes, Fikret/McCay, Bonnie J./Acheson, James M. (1990): »The Tragedy of the Commons: Twenty-Two Years Later«, in: Human Ecology, Bd. 18, Nr. 1. Hardin, Garrett (1968): »The Tragedy of the Commons«, in: Science, 13 December 1968, S. 1243- 1248. Mattei Ugo (2011): Beni comuni. Un manifesto, Laterza/Bari/Rom 2011. Mattei, Ugo/Nader, Laura (2008): Plunder. When The Rule of Law is Illegal, Hoboken. Mattei, Ugo/Nicola, Fernanda (2006): »A Social Dimension in European Private Law?«, in: The Call for Setting a Progressive Agenda, 45, New England, S. 1-66. Rota, Gian Carlo (1991): The End of Objectivity. The Legacy of Phenomenology, Lectures at MIT 1974-1991, 2. vorläufige Ausgabe in Kooperation mit Sean Murphy und Jeff Thompson, Cambridge. Tigar, Michael (1977): Law and the Rise of Capitalism, New York.

Commons-Sommerschule 2012 37 Ugo Mattei (Italien) ist Juraprofessor in Hastings und Turin, wo er das International University College koordiniert (http://www.iuctorino.it), dessen Schwerpunkt auf der multidisziplinären Erforschung der Commons liegt. Er ist (mit Laura Nader) Autor des Buches Plunder. When The Rule of Law is Illegal und veröffentlichte 2011 Bene Comuni. Un Manifesto. Er gehört zu den führenden Unterstützern des italienischen Referendums gegen die Wasserprivatisierung, das mit dem Slogan »Wasser ist Gemeingut« 27 Millionen Stimmen mobilisierte.

Commons-Sommerschule 2012 38 Hoffnung von unten Das besondere Prinzip des Zusammenlebens in Oaxaca

Gustavo Esteva

Von Juni bis Oktober 2006 gab es in Oaxaca de Juárez, einer Stadt mit 600.000 Einwohnern, keine Polizei, nicht einmal Verkehrspolizisten. Der Gouverneur der Provinz traf sich mit seinen Funktionären heimlich in Hotels oder Privatwohnungen; in ihre Büros wagten sie sich nicht. Die Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO), die Volksversammlung der Völker Oaxacas, hatte alle öffentlichen Gebäude sowie Rundfunk- und Fernsehstationen rund um die Uhr bewacht. Als der Gouverneur veranlasste, diese Wachen in den Nachtstunden anzugreifen, errichteten die Menschen Straßenbarrikaden.

Einige Beobachter dieser Ereignisse fühlten sich an die Pariser Kommune von 1871 erinnert, und so war mitunter von der Kommune Oaxacas die Rede. Die Analogie ist zwar einleuchtend, vielleicht aber auch etwas gewagt, sieht man einmal von der Reaktion ab, die beide Volksaufstände in den jeweiligen Zentren der Macht auslösten. Wie die europäischen Armeen, die die Pariser Kommune niederschlugen, schlug die von Armee und Marine unterstützte mexikanische Bundespolizei PFP (Policia Federal Preventiva) den Aufstand vom 25. November 2006 gewaltsam nieder. Natürlich konnten sie sich dabei nicht der Methoden des 19. Jahrhunderts bedienen, doch angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen kann das Vorgehen der Polizei nur als Staatsterrorismus bezeichnet werden.

Die APPO bleibt ein Rätsel, selbst für diejenigen, die ihr angehörten. Aus einer breiten Rebellion gegen einen tyrannischen Gouverneur entstand allmählich ein gesellschaftliches Experiment, das im Bundesstaat Oaxaca mit seinen 3,9 Millionen Einwohnern die Regierungsformen der indigenen Bevölkerung, die die Mehrheit der Menschen stellen, einführen wollte. Die brutale Niederschlagung des Aufstands bewirkte zwar eine Unterbrechung dieses Experiments, nicht aber dessen Ende. Es setzte sich in anderer Form in den Gemeinden und Stadtvierteln fort, überall dort, wo die Menschen auch weiter ihre politische Autonomie ausübten.

Nach wie vor prägt das gemeinschaftliche Zusammenleben die meisten der 13.000 Gemeinden in Oaxaca, ein Zusammenleben, in dem das Hauptgewicht auf den gemeinschaftlichen Verpflich- tungen, nicht auf den individuellen Rechten liegt. Keine wichtige Entscheidung kann ohne die ausdrückliche Zustimmung der Gemeindeversammlung getroffen werden, in der alle Familien beteiligt sind, einen Konsens herzustellen. Einige Ungleichheiten werden auf einfache Weise ausge- glichen. Kommt etwa jemand, der in den USA gearbeitet hat, mit vielen Dollars zurück, wird er als guter »mayordomo«1 die meisten davon auf der nächsten Fiesta ausgeben und sich dafür Ansehen in der Gemeinde erwerben. Jede Familie rechnet fest mit der Hilfe der Nachbarn. Viele Häuser werden in Nachbarschaftshilfe errichtet, ein Prinzip, das auch beim Feldbau und bei den Ernte-arbeiten Anwendung findet. Gerechtigkeit heißt, dass eine Straftat Trost und Entschädigung für das Opfer erfordert und nicht unbedingt die Bestrafung des Täters. Und dies wird durch die Weisheit der Gemeinschaft ermöglicht, nicht durch Gerichtsverhandlungen, Anwälte oder Gefängnisse. In den meisten Gemeinden ist jedes Ich immer noch ein Wir.

Der von zwei indigenen Intellektuellen aus Oaxaca geprägte Begriff der »comunalidad« könnte die Vitalität und Komplexität dieser Prozesse erklären helfen. »Comunalidad« kann übersetzt werden als Commonalität. Der Begriff ergibt sich aus der Nebeneinanderstellung von Commons und

1 Hier im Sinne von: eine Person, die sich um den Schutz des Hauses, des Habes, der Familie und der Gemeinschaft kümmert (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 39 Gemeinwesen und bezeichnet doch etwas Neues. »Comunalidad« definiert sowohl eine Reihe von Praktiken, die aus der kreativen Anpassung widerständischer Traditionen gegen den alten und neuen Kolonialismus entstanden sind, wie auch einen mentalen Raum oder Horizont, der verstehen lässt, wie man die Welt als ein Wir sieht und erfährt. Grundlage und eigentlicher Kern der »comunalidad« ist 1) das gemeinsame Territorium, auf dem 2) Autorität eine rein organisatorische Funktion erfüllt, die mit 3) gemeinschaftlicher Arbeit und 4) Festen beginnt und die Realität durch 5) eine vernakuläre Sprache2 erzeugt.

Da sind die abgestuften »cargos«, ehrenamtliche Gemeinschaftsdienste, an denen man schon sehr früh im Leben beteiligt wird. Die »tequios«, unbezahlte Gemeinschaftsarbeiten, die von jeder Familie geleistet, in den Gemeindeversammlungen festgelegt und von den örtlichen Autoritäten organisiert werden. Sie decken in den indigenen Gemeinden über die Hälfte der öffentlichen Arbeiten ab. Da ist die »guelaguetza«, ein komplexes System der Reziprozität, des Gebens und Nehmens, in dem gegenseitige Hilfe sowie der materielle, symbolische und emotionale Austausch eine Rolle spielen, insbesondere in den Schlüsselmomenten des Lebens, in denen sowohl gemeinschaftlicher Besitz wie auch persönliche Freiheit als ethische Prinzipien der »comunalidad« geprägt werden. »Guelaguetza« ist aber auch ein normativer Rahmen, der die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen verwebt, der neue Beziehungen erschafft – zwischen ihnen, den Göttern und den Toten – und so das gemeinschaftliche Territorium immer wieder neu begründet. In der »guelaguetza« sind das Geben und das Nehmen manchmal aneinander gebunden, um das Prinzip der wechselseitigen Verpflichtung zwischen zwei Personen oder Familien zu stärken; allgemein aber impliziert Reziprozität eine Haltung des offenen Gebens an andere und an die Gemeinschaft, getragen von dem Vertrauen, dass die anderen und die Gemeinschaft einem helfen, wenn man der Hilfe bedarf.

Das alles und mehr ist »comunalidad«, die trotz des von der Kirche, der spanischen Krone, dem mexikanischen Staat, der Marktwirtschaft und durch die Migration in die USA propagierten Individualismus in den meisten indigenen Gemeinden auch heute noch sehr lebendig ist. Die Kommune Oaxacas war ein gesellschaftliches Experiment mit dem Ziel, diesen Geist der Gemein- schaftlichkeit auf den ganzen Bundesstaat zu übertragen.

Das Land vor »Entwicklung« schützen

Diese Art des gemeinschaftlichen Lebens, die in jeder Gemeinde in Oaxaca eigene Züge trägt, hat in jüngster Zeit eine neue politische Dimension gewonnen. Wie in vielen anderen Teilen Latein- amerikas ist der Kampf um die Verteidigung des Territoriums neu und anders entbrannt.3 Die Menschen bringen ihr Wissen und ihren Widerstand zur Verteidigung ihrer Ressourcen zusammen, sie widersetzen sich »Entwicklungsprojekten« und drücken stärker ihre eigenen Vorstellungen dessen aus, was ein gutes Leben bedeutet.

Einige kämpfen nach wie vor für den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die für ein Lebensideal stehen, das einerseits den zeitgenössischen Entwicklungsbegriff prägte und andererseits zur Verlagerung einer einst traditionellen gesellschaftlichen Funktion auf die Regierungen,

2 In Ivan Illichs Neudefiniton bezeichnet der Begriff »vernakulär« »Aktivitäten von Menschen, wenn sie nicht durch den Kaufgedanken motiviert sind, also autonome, nicht mit dem Markt verbundene Handlungen, um die alltäglichen Bedürfnisse zu befriedigen – Handlungen, die aufgrund ihrer Natur der bürokratischen Kontrolle entgehen [...].« Und weiter: »Der radikale Wechsel von der vernakulären zur beigebrachten Sprache ist ein Menetekel des Wechsels von der Brust zur Flasche, von der Subsistenz zur Sozialhilfe, von der Produktion für die Nutzung zur Produktion für die Vermarktung [...]« (Illich 1981: 44, 3 Siehe dazu unter anderem die Beiträge von Dirk Löhr, César Padilla und Liz Alden Wily in diesem Buch (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 40 Unternehmen und Medien führte: zu definieren, was gutes Leben ausmacht. Staatliche Leistungen (der Bau von Straßen, Schulen und Gesundheitszentren, die Schaffung von Arbeitsplätzen usw.) werden nach wie vor als Grundvoraussetzung für die Beteiligung am sozialen Leben oder als Rechte wahrgenommen, die nicht aufgegeben werden dürfen. Legt man aber die verschiedenen Definitionen des guten Lebens zugrunde, das in Lateinamerika häufig als »Buen Vivir« bezeichnet wird,4 zeigt sich, dass sich immer mehr Praktiken ausbreiten, die diese Institutionen und Bedingun- gen quasi »umgehen«. In der Krise gewinnen sie an Sichtbarkeit, bieten kreative Überlebensmög- lichkeiten in schweren Zeiten an und widersetzen sich erfolgreich den Megaprojekten, die in den Regionen gefördert werden.5

In vielerlei Weise drücken die Menschen durch ihre Praxis souverän einen kollektiven Willen aus, der ganz offen die Befugnisse der Regierungen herausfordert – was gemeinhin als Autonomiebestrebung vorverurteilt wird. Sie ist von den indigenen Völkern insbesondere nach dem Aufstand der Zapatisten 1994 aktualisiert und neu formuliert worden, umfasst zunehmend auch andere gesellschaftliche Gruppen und hat de facto neue Institutionen hervorgebracht: Immer mehr Menschen kontrollieren ihr Territorium und regieren sich selbst auf ihre je eigene Weise (Esteva 2010). Mit unter 10 Prozent sind die Indígenas in vielen Gebieten Mexikos eine Minderheit. Doch in ländlichen Regionen – wie in Oaxaca – stellen sie bis zu 85 Prozent der Bevölkerung. Auch in den einfachen Großstadtvierteln sind sie stark vertreten.

Der Kampf um Autonomie

Bis 1993 erschien die neoliberale Globalisierung als unentrinnbare Realität. Was Politiker und Wissenschaftler anboten, waren verschiedene Variationen eines offenkundig allen Menschen drohenden Schicksals. Echte Alternativen gab es nicht. Erst die Zapatisten zeigten sie auf. Tatsächlich manifestiert sich der Kampf um Autonomie vieler Initiativen und Bewegungen Lateinamerikas am ehesten in dem, was die Zapatisten auf den 250.000 Hektar Land geschaffen haben, das sie seit 1994 im an Guatemala angrenzenden mexikanischen Bundesstaat Chiapas kon- trollieren. Sie begannen dort ein gesellschaftliches Experiment, das kein eindeutiges Vorbild kennt. Trotz größter Beschränkungen und nach 17 Jahren eigensinniger Zurückweisung jeglicher öffentlicher Mittel und trotz der Belagerung durch 30.000 Soldaten sowie unaufhörlicher Angriffe paramilitärischer Gruppen zeigen ihre radikalen sozialen Innovationen eine mögliche Form des Lebens in einer postkapitalistischen Welt (Esteva 1998, 2005).

Zapatistische Familien gestalten ihr Zusammenleben auf ihre eigene Weise. Sie nutzen traditionelle Praktiken und moderne Werkzeuge, um Grundnahrungsmittel, Kaffee und andere Produkte anzubauen, die sie im fairen oder solidarischen Handel verkaufen. Ihre Kinder gehen auf kostenlose »Schulen«, die auf gemeinschaftlichen Konzeptionen basieren und für die Gemeinschaft wichtige Themen – wie das ihrer eigenen Geschichte – aufgreifen. Sie nutzen traditionelle Heilverfahren, ergänzt durch eigene moderne Kliniken, wo sie Zugang zu anderen Heilmitteln und -verfahren haben. Sie errichten ihre eigenen Häuser und öffentliche Gebäude mit lokalen Baumaterialien und nach den lokalen Traditionen, angereichert durch Ideen aus anderen Teilen der Welt.

Eine der traditionellen Selbstverwaltung in den Gemeinden und Gemeinschaften Oaxacas vergleichbare Selbstverwaltung gibt es in Chiapas auch auf regionaler Ebene, und zwar in Form der »Juntas de Buen Gobierno« (Räte der Guten Regierung): Gewöhnliche Männer und Frauen, manche

4 Vgl. das Gespräch zwischen Gustavo Soto Santiesteban und Silke Helfrich über das Konzept des Buen Vivir in diesem Buch (Anm. der Hg.). 5 Vgl. auch die Beiträge von Gerhard Dilger (zu Brasilien) und von Vinod Raina (insbesondere zu Indien) in diesem Buch (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 41 davon noch sehr jung, üben zeitlich befristet die ranghöchste Autorität für mehrere autonome Gemeinden und Gemeinschaften aus.

Im zapatistischen Territorium ist Land keine Ware, sondern ein Raum der Verantwortung. Land zu besitzen ist nicht gleichbedeutend mit seiner Aneignung oder dem Innehaben eines Eigentumstitels. Denn eine kosmozentrische Einstellung gegenüber der Natur schließt die Möglichkeit aus, sich Land zum Eigentum zu machen. Innerhalb des gemeinschaftlichen Territoriums wird das Land ohne Gewährung privater Eigentumstitel, aber unter Anerkennung verlässlicher familiärer Nutzungsrechte an die Commoners verteilt.

Die Menschen delegieren ihre Macht nicht an Repräsentanten, sondern die lokalen Gremien regieren gehorchend (»mandar obedeciendo«, sie führen also, dem Mehrheitswillen gehorchend, die kollektiv getroffenen Entscheidungen und Beschlüsse aus). Sie sind demnach keine hauptamtlichen Politiker oder Bürokraten, sondern gewöhnliche Männer und Frauen, die temporär regieren und dafür mit klaren Mandaten und Verantwortlichkeiten ausgestattet sind. Und sie können jederzeit ersetzt werden. So verschwindet der Abstand zwischen den Regierenden und den Regierten. Gerechtigkeit bezieht sich nicht auf die Durchsetzung formeller Regeln, die den Experten überantwortet wird, sondern sie wird praktisch ausgeübt, wofür ein schriftlich nicht fixiertes normatives System die Grundlage liefert. Es beruht auf der Vitalität sich verändernder Gebräuche und auf dem direkten Gespräch miteinander.

Der Kampf der Zapatisten um Autonomie kombiniert die Freiheit der Selbstbestimmung mit dem ernsthaften Versuch, durch interkulturellen Dialog neue Wege der politischen und kulturellen Gemeinschaftlichkeit mit anderen zu erkunden. Diese Haltung des radikalen Pluralismus erfordert auf der Suche nach einer harmonischen Koexistenz verschiedener Völker und Kulturen auch einen rechtlichen und politischen Pluralismus, der nur schlecht mit dem Konstrukt des National- staates und der repräsentativen Demokratie zusammengeht.

Radikale Demokratie zapatistischer Prägung meint »Demokratie in ihrer grundsätzlichen Form, Demokratie in ihrer ursprünglichen Form [...]. [Sie] schafft Macht nicht ab; sie sagt, dass die Menschen sie haben sollen, dass die Macht ihre Freiheit sein wird [...]. Radikale Demokratie heißt, dass die Menschen im öffentlichen Raum versammelt sind, in dem weder der große paternalistische Leviathan noch die große maternalistische Gesellschaft über ihnen steht, sondern allein der leere Himmel – dass die Menschen die Macht des Leviathan wieder zu ihrer eigenen machen, frei sind zu reden, zu entscheiden, zu handeln« (Lummis 1996: 25- 29). Allein dadurch, dass es sie und ihre selbstorganisierte Verwaltung – entgegen aller Erwartungen – noch immer gibt, stellen die Zapatisten sowohl die dominanten Regierungsformen in Frage wie auch die Überzeugung, dass die Menschen sich nicht selbst regieren können und immer jemanden brauchen, der sie regiert. Während Mexiko im wahrsten Sinne des Wortes auseinanderfällt,6 während es regelrecht von der

6 Das US-Außenministerium hat Mexiko während der Entstehungszeit dieses Buches gemeinsam mit dem Kongo und Pakistan als »gescheiterten Staat« eingestuft. Die Katego-rie ist zwar unpräzise; Tatsache aber ist, dass die mexikani- sche Regierung große Teile des Landes nicht kontrollieren kann. Es ist zusehends schwierig, zwischen der Welt der staatlichen Institutionen und der Welt des organisierten Verbrechens, zwischen der Welt des Legalen und des Illegalen zu unterscheiden. Allein in den letzten vier Jahren (seit 2007) hat der »Krieg« gegen das organisierte Verbrechen in Mexiko direkt oder indirekt 50.000 Menschenleben gefordert. Zehntausend Personen sind spurlos verschwunden, und 250.000 wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Für die in der Öffentlichkeit sehr präsente »Bewegung für einen Frieden in Gerechtigkeit und Würde« (Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad) ist es prinzipiell falsch, ein Problem der öffentlichen Gesundheit mit militärischen Mitteln anzugehen, insbesondere angesichts der Korruption in den schwachen staatlichen Institutionen (einschließlich der Armee). Nach mehreren Jahrzehnten neoliberaler Politik haben acht Millionen junge Mexikaner weder einen Studien- noch einen Arbeitsplatz. Über die Hälfte aller Mexikanerinnen und Mexikaner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Gleichzeitig ist der reichste Mensch der Welt ein Mexikaner. Und während das Land in einem blutigen Bürgerkrieg versinkt, investieren er und viele andere Mexikaner, die auf der Fortune-Liste

Commons-Sommerschule 2012 42 Mafia in Wirtschaft und Politik zerlegt wird, versuchen die Zapatisten die Gesellschaft von unten zu reorganisieren. Sie legen großen Wert auf die Würde und Kreativität in der täglichen »Arbeit«, die sie in ein freies und lebendiges Tätigsein verwandeln wollen, frei von den Entfremdungen, die uns in den kapitalistischen Gesellschaften aufgezwungen werden. Unter den gegenwärtigen Beding- ungen ist es zwar unmöglich, solche Alternativen voll zu entfalten, aber es gibt Fortschritte. Ausgangspunkt ist die eigene Würde, das einzige, was ihnen geblieben ist.

Man kann die Zapatisten als eine Gemeinschaft von Lernenden sehen. Das Lernen steht im Zentrum ihres politischen Projekts. »Fragend schreiten wir voran« (»Preguntando caminamos«) heißt das Prinzip, das sie beständig anwenden – jenseits der Zwangsjacke irgendwelcher Ideologien oder Parteistrukturen. Es beinhaltet eine radikale Öffnung für den Austausch mit anderen sowie kontinu- ierliche Reflexion. Es beinhaltet die Entscheidung, das eigene Tun immer wieder neu zu überprüfen. All dies als Gruppe zu tun bedeutet, »in der Geschwindigkeit zu gehen, die der Langsamste vorgibt«, um aus ihrem Weg, ihren Ideen und ihren Praktiken ein wirklich gemeinsames Projekt zu machen. Als Ausdruck ihres Lernprozesses formulieren die Zapatisten eine eigene politische und erkenntnistheoretische Interpretation der Realität, was mit der Wiederaneignung der Sprache beginnt und die Befreiung von Kategorien verlangt, die ihnen in 500 Jahren des Kolonialismus aufgezwängt worden sind.

Die Zapatisten verändern auch die Art und Weise, Veränderungen zu erreichen. Der Veränderungs- prozess selbst, nicht nur dessen Resultat, sollte sich nach dem richten, was erreicht werden soll. Die Trennung zwischen Mitteln und Zweck wird aufgehoben. Wenn die Maxime lautet, dass die Menschen selbst über ihr Schicksal bestimmen, sollten sie selbst die Protagonisten der Veränderung sein – und nicht irgendeine Elite, ein Vorreiter, eine Partei oder eine Struktur.

Der Kampf um Autonomie bezieht sich auch auf die Suche nach einer neuen Form der gesellschaftlichen Organisation. Die Zapatisten haben kein Vorbild erschaffen, und es wäre absurd, das, was sie gegen massive Widerstände zuwege brachten, an irgendeinem Ideal zu messen. Sie beweisen aber, dass eine postkapitalistische Gesellschaftsordnung machbar ist. Das macht sie zu einer Quelle der Inspiration für all die Unzufriedenen, Rebellen und Träumer auf der Welt, die nach Belegen dafür suchen, dass ihre Träume eines grundlegenden gesellschaftlichen Umbaus realisierbar sind.

Archipel der Konvivialität

Es ist an der Zeit, die Ära des Homo oeconomicus7 hinter uns zu lassen; sie hinterlässt uns einen ruinierten Planeten. Mit ihr geben wir auch eine Wirtschaftsform auf – sei sie nun kapitalistisch oder sozialistisch –, die auf der Prämisse der Knappheit beruht.8 Wir geben zudem das Konzept des Nationalstaates samt seines Gewaltmonopols auf, das zum Fluch der modernen Gesellschaft geworden ist. Und wir überwinden die formelle Demokratie, ohne in neue Formen des Autori- tarismus zu verfallen. Die neue Gesellschaft, die von unten, von den Graswurzeln her, entsteht, zeichnet einen neuen politischen Horizont. André Gorz nennt ihn »Archipel der Konvivialität«: eine Gesellschaft, deren Grundbaustein nicht das Individuum ist, sondern das Commons.

Es gibt keinen Begriff, der die Vielfalt der gesellschaftlichen Kämpfe in Lateinamerika, in denen auf lokaler Ebene versucht wird, anders zu leben und zu regieren, voll erfassen könnte. So wie

7 Zum Werden des Homo oeconomicus siehe den Beitrag von Friederike Habermann in diesem Buch (Anm. der Hg.). 8 Im Kontext der Diskussionen um die Commons gibt es derzeit eine rege Auseinandersetzung über die sich widerstreitenden Konzepte von Fülle und Knappheit. Siehe dazu das Gespräch zwischen Davey, Helfrich, Höschele und Verzola in diesem Buch (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 43 Commons ein Oberbegriff für sehr unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Existenz ist, lässt sich auch die immense Reichhaltigkeit gesellschaftlicher Organisationsformen, die dort existieren oder im Entstehen begriffen sind, nicht auf eine formale Kategorie reduzieren.9 Sie alle, ob auf präkolumbianischen Traditionen basierend oder moderne Neuschöpfungen, liegen jenseits der Schwelle des Privaten und können gleichwohl nicht als öffentliche Räume oder gemeinschaftliche Spielwiesen definiert werden. Es geht auch nicht um spezifische Formen des Grundeigentums. Vielmehr ist die Art und Weise, wie Dinge getan werden, wie über sie gesprochen wird und wie sie gelebt werden, Ausdruck von kulturellen Traditionen und Innovation zugleich. Ihre genauen Grenzen (ihre Konturen und Radien) wie auch ihre internen Strukturen (ihre Zwangsjacken) sind noch unzureichend erforscht, doch sie gewinnen zusehends an Bedeutung und reichen über den herkömmlichen Entwicklungsbegriff hinaus.

Die Revolution, die ich hier zu illustrieren versuche, wurde von Menschen in Gang gesetzt, die ihre Lebensweise gegen Kolonialisten und Modernisierer verteidigen. Jetzt wird diese Revolution neu belebt und auf die gegenwärtigen Umstände angepasst. In diesem Prozess der Einhegung derer, die einhegen, verbünden sie sich mit denjenigen, die alternative Lebensweisen entwickeln und das Wasser, die Luft, die Wälder und die Natur zu schützen versuchen – wie Ivan Illich es vor 30 Jahren vorhersagte (Illich 1982). Gemeinsamen erschaffen sie eine Welt, in die viele Welten passen.

Literatur

Esteva, Gustavo (1998): »The Revolution of the New Commons«, in: Cook, Curtis/ Lindau, Juan D.: Aboriginal Rights and Self-Government, Montreal. Esteva, Gustavo (2005): Celebration of Zapatismo, Oaxaca. Esteva, Gustavo (2010): »From the Bottom-up: New Institutional Arrangements in Latin America«, in: Development, 53/1, März 2010, S. 64-69. Illich, Ivan (1981): Shadow Work, Boston und London. Illich, Ivan (1982): Gender, New York. Lummis, Douglas (1996): Radical Democracy, Ithaca und London.

Gustavo Esteva (Mexiko) bezeichnet sich als »entprofessionalisierten« Intellektuellen. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze und schreibt als Kolumnist für die Tageszeitung La Jornada in Mexiko sowie für The Guardian. Er hat sich aktiv an den Kämpfen der Indigenen, Kleinbauern und urbanen Marginalisierten zur Wiederaneignung der Commons beteiligt und kooperiert mit der Universidad de la Tierra in Oaxaca, die er mitbegründet hat.

9 Der spanische »Ejido« (das Land am Ausgang der Dörfer, das im 16. Jahrhundert von den Dorfbewohnern gemeinsam genutzt wurde), ist weder identisch mit der englischen Allmende noch mit den präkolumbianischen Gemeinschafts- ordnungen, dem modernen mexikanischen Ejido-System oder den sich herausbildenden neuen Commons.

Commons-Sommerschule 2012 44 Das Gemeinsame Erbe der Menschheit Eine kühne Doktrin in einem engen Korsett

Prue Taylor

Die Idee eines »Gemeinsamen Erbes der Menschheit« berührt die Ethik ebenso wie das internationale Recht. Sie bedeutet, dass manche Orte der gesamten Menschheit gehören und dass die Ressourcen dieser Orte allen Menschen zur Verfügung stehen sollten. Künftige Generationen und die Bedürfnisse der Entwicklungsländer müssten berücksichtigt werden.

Als die Idee – man kann auch von einem Konzept sprechen – eines »Gemeinsamen Erbes der Menschheit« in den 1960er-Jahren eingeführt wurde, gab es Kontroversen zu Fragen des Geltungsbereichs, des Inhalts und des Status sowie zu der Beziehung zu anderen Rechtsbegriffen. Und so ist es bis heute geblieben. Manche meinen, das Konzept sei nicht mehr aktuell, da es in der Praxis (etwa beim Abbau von Ressourcen am Meeresboden) nicht angewendet und von späteren modernen Umweltübereinkommen abgelehnt wurde. Andere hingegen halten es für ein allgemeines Prinzip des internationalen Rechts mit fortdauernder Bedeutung.

Die eskalierende globale ökologische Zerstörung unterstreicht die anhaltende Bedeutung des Konzepts vom »Gemeinsamen Erbe der Menschheit«, trotz mangelnder Akzeptanz seitens der Nationalstaaten. Belege dafür finden sich in den zahlreichen Bemühungen, das »Gemeinsame Erbe der Menschheit« auf das natürliche und kulturelle Erbe, die Ressourcen des Meeres, die Antarktis sowie globale ökologische Systeme wie die Atmosphäre (Taylor 1998) oder das Klimasystem an- zuwenden.

Ursprünge des Konzepts

Erörterungen zum Thema beginnen meist mit der Rede des maltesischen Botschafters Arvid Pardo (1914-1999) an die Vereinten Nationen im Jahre 1967. Pardo hatte vorgeschlagen, den Meeresgrund über den nationalen Zuständigkeitsbereich hinaus als gemeinsames Erbe der Menschheit zu betrachten. So wurde die Rede unter anderem der Auslöser für die späteren Verhandlungen zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS III) von 1982, weswegen man Arvid Pardo auch den »Vater des Seerechtsübereinkommens« nennt. Aber das Gemeinsame Erbe der Menschheit hat eine viel längere Geschichte, von der Pardo Gebrauch machte, als er es als Rechtsbegriff für die Ozeane entwickelte. Andere, darunter die Schriftstellerin und Umweltakti- vistin Elisabeth Mann Borgese1 (1918-2002), hielten das Gemeinsame Erbe der Menschheit für ein ethisches Konzept, das für eine neue Weltordnung zentral sei und auf neuen Formen der Kooperation, der Wirtschaftstheorie und der Philosophie aufbaue. Dieser Blick in die Geschichte ist wichtig, um den ethischen Kern des Gemeinsamen Erbes der Menschheit deutlich zu machen: nämlich die Verantwortung der Menschen, für die Umwelt – deren Teil wir sind – zu sorgen und sie für gegenwärtige und künftige Generationen zu schützen.

Ein Entwurf für eine Weltverfassung aus dem Jahre 1948 sah vor, dass die Erde und ihre Ressourcen zum gemeinsamen Eigentum der Menschheit gehören sollten und zum Nutzen aller zu bewirtschaften seien. Bedenken hinsichtlich der Nutzung der Nukleartechnologie für militärische und friedliche Zwecke führten zudem zu dem Vorschlag, sogar die nuklearen Ressourcen als gemeinsamen Besitz anzusehen, der gemeinsam bewirtschaftet werden sollte.

1 Elisabeth Mann Borgese, die Tochter von Katia und Thomas Mann, wurde in den 1970er-Jahren Pardos Ehefrau (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 45 Auch im UN-Weltraumvertrag von 1967 hat das Konzept des Gemeinsamen Erbes der Menschheit Spuren hinterlassen. Zwar regelt der Vertrag die staatliche Erforschung und Nutzung des Weltraums, des Mondes und anderer Himmelskörper. Doch erst im Kontext der Herausbildung des Seerechts bekam das Konzept tatsächlich Gewicht. Die World Peace through Law Conference von Genf im Jahr 1967 bezeichnete die Hochsee als das »Gemeinsame Erbe der Menschheit« und erklärte, dass der Meeresboden unter die Hoheit und Kontrolle der UNO gestellt werden sollte.

Das Seerecht revolutionieren

Es war die Sorge über die Auswirkungen neuer Technologien, über die Militarisierung, die Ausdehnung staatlicher Eigentumsansprüche (zum Beipsiel Festlandsockel- und ausschließliche Wirtschaftszonen), die wachsenden Disparitäten und die damit verbundenen Gefahren für die langfristige Sicherheit, die Arvid Pardo zu der Idee anregten, dass jeglicher Raum der Meere (das heißt die Meeresoberfläche, die Wassersäule, der Meeresboden und sein Untergrund sowie lebende Ressourcen) zum gemeinsamen Erbe der Menschheit deklariert werden sollten, gleichgültig, ob nationale Hoheitsansprüche bestehen oder nicht. Die Absicht war, den veralteten Rechtsbegriff der »Freiheit der Meere« zu ersetzen, indem man die Meere zu internationalen Commons erklärte. (Gebiete mit bedeutenden natürlichen Ressourcen, die jenseits der Hoheitsgebiete souveräner Staaten liegen, werden als internationale Commons bezeichnet.)

Der Rechtsbegriff »Freiheit der Meere«, entwickelt vom niederländischen Juristen Hugo Grotius (1583-1645), bedeutet auch freien Zugang, was eine Laisser- faire-Haltung in der Ressourcen- nutzung erlaubt. Die wenigen existierenden Restriktionen dienen hier lediglich dazu, die Interessen der Staaten sowie letztlich die freie Nutzung zu protegieren.

Eigentlich könnten der Meeresraum und seine Ressourcen jenseits einer bestimmten Grenze nicht Eigentum von Staaten sein, wenn sie als Gemeinsames Erbe der Menschheit, als Commons, begriffen würden. Das Meer wäre offen für die internationale Staatengemeinschaft, doch seine Nutzung würde einer internationalen Verwaltung im Interesse des Allgemeinwohls und der gesamten Menschheit unterliegen. Dort, wo Gebiete des Meeres und deren Ressourcen in nationalen Hoheitsgebieten liegen, würden Staaten die Nutzung regeln, doch auch hier zum Wohle der gesamten Menschheit und nicht nur im nationalen Interesse. Dieser Ansatz geht von der Einheit der Meere als ökologische Systeme aus und lehnt sowohl die Freiheit im Sinne des Laisser-faire als auch die uneingeschränkte staatliche Souveränität ab. Es gab auch Bemühungen, mit Hoheitsfragen so umzugehen, dass eine einzige Demarkationslinie zwischen nationalem und internationalem Meeresraum geschaffen würde – siehe den Entwurf zum Ocean Space Treaty von 1971 –, um sich allmählich ausweitende Ansprüche nationaler Hoheit zu unterbinden.

Das Konzept des gemeinsamen Erbes der Menschheit sollte ursprünglich das Seerecht revolutionieren, da es für alle Meere und Meeresressourcen gelten sollte. Aber Arvid Pardo erkannte bereits 1967, dass mächtige Staaten, die ihre Souveränität auf größere Gebiete des Meeres und mehr Ressourcen ausdehnen wollten, dies ablehnen würden. Indem man sich schließlich auf einen Rechtsstatus des weitaus stärker begrenzten »Meeresbodens« jenseits nationaler Hoheit konzentrierte, wollte man sicherstellen, dass der Begriff des Gemeinsamen Erbes der Menschheit innerhalb der UN zumindest Fuß fassen konnte.

Der Vorschlag von Malta aus dem Jahr 1967 führte zu einer Reihe wichtiger Entwicklungen – darunter die Erklärung der Grundsätze für den Meeresgrund und den Meeresuntergrund jenseits nationaler Hoheitsbefugnisse, die 1970 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Die Erklärung legte die zur Umsetzung der Idee eines gemeinsamen Erbes der Menschheit erforderli-

Commons-Sommerschule 2012 46 chen Grundsätze dar und half, einen Konsens für die Verhandlung einer neuen Seerechtskonvention, UNCLOS III, herzustellen. Das Ergebnis war letzten Endes aber eine weitaus eingeschränktere Anwendung des Konzepts, als jemals von seinen Befürwortern beabsichtigt gewesen war. UNCLOS III hat das gemeinsame Erbe der Menschheit auf ein paar Steine beschränkt (zum Beispiel minerali- sche Ressourcen wie Manganknollen), die auf dem Meeresboden der Tiefsee liegen.

Teil XI der Seerechtskonvention befasst sich mit dem Meeresboden jenseits der nationalen Hoheitsgebiete. Artikel 136 erklärt dieses Gebiet und seine Ressourcen (und nur das) als »Gemeinsames Erbe der Menschheit«. Sie dürfen nach Artikel 137 von keinem Staat und keiner Person eingefordert, angeeignet oder zum Eigentum erklärt werden. Alle Rechte an den Ressourcen gehören der gesamten Menschheit (Artikel 140). Die Internationale Meeresbodenbehörde (IMB) garantiert die gleichberechtigte finanzielle Teilhabe und Beteiligung an dem Nutzen aus Tätigkeiten in dem entsprechenden Gebiet, wobei die Interessen von Entwicklungsländern besonders zu berücksichtigen sind. Die Förderung der Forschung des Technologietransfers für Entwicklungsländer sowie der Schutz des ökologischen Gleichgewichts sind wichtige Aufgaben der IMB (Artikel 143-145).

Die Regelungen in Teil XI der Seerechtskonvention schaffen ein internationales Verwaltungs- und Managementregime für lediglich einen kleinen Teil der internationalen Commons: das Schutzgebiet und seine Ressourcen. Die Freiheit der Meere (Teil VII) wurde aber nicht ersetzt; die beabsichtigte revolutionäre Änderung des Seerechts kam nicht zu Stande. In den 1970er-Jahren war man der Überzeugung, die wirtschaftlich attraktivsten mineralischen Ressourcen dieses Gebietes seien Manganknollen. Daher war Pardo der Ansicht, dass das Konzept des Gemeinsamen Erbes der Menschheit in seiner Anwendung auf »hässliche kleine Steine, die in den dunkelsten Tiefen der Schöpfung herumliegen«, reduziert worden sei. Trotz dieser strikten Begrenzung war die Anwen- dung des Konzepts immer noch revolutionär genug, um die Vereinigten Staaten von Amerika – neben anderen Gründen – zu veranlassen, UNCLOS III zunächst nicht beizutreten.

Bis heute hat es keine kommerzielle Ausbeutung des Gebietes2 und seiner Ressourcen gegeben. Gleichzeitig besteht der fragmentierte Ansatz der Hoheitsrechte über verschiedene Bereiche des Meeresraums weiter, trotz der unwiderlegbaren Einheit ökologischer Systeme.

Der Mondvertrag von 1979

Obwohl sich Aspekte des Konzepts des Gemeinsamen Erbes der Menschheit im Weltraumvertrag von 1967 wiederfanden, gab es erst 1979 eine klare Aussage dazu im Mondvertrag. Der Mondvertrag regelt die Erforschung und Ausbeutung der Ressourcen des Mondes. Artikel 11(1) erklärt, dass der Mond und seine natürlichen Ressourcen das gemeinsame Erbe der Menschheit seien. Auseinandersetzungen über die Einzelheiten eines internationalen Systems zum Abbau der Ressourcen, darunter Bestimmungen zum gerechten Vorteilsausgleich, hat man durch Vertagung auf Verhandlungen über ein künftiges Managementregime gelöst. Der Mondvertrag wurde nur von wenigen Staaten ratifiziert; dennoch kam er bereits zur Anwendung, um Ansprüche auf Eigentums- rechte mit der Begründung zurückzuweisen, dass der Vertrag ein allgemeines Rechtsprinzip beinhalte, das auf die Gesamtheit der internationalen Gemeinschaft anzuwenden sei – und nicht nur auf jene Staaten, die den Vertrag ratifiziert haben.

Schlüsselelemente

Es gibt keine prägnante Definition des Konzepts des Gemeinsamen Erbes der Menschheit, über die

2 Gemeint ist »the Area«, das Schutzgebiet von UNCLOS (Anm. der Hg.).

Commons-Sommerschule 2012 47 vollständig Einigkeit herrscht. Entscheidend sind stets die Details des jeweiligen Vertragswerkes, das es zur Anwendung bringt. Allerdings gibt es eine Reihe von Schlüsselelementen:

• Kein Staat und keine Person darf sich Räume oder Ressourcen des gemeinsamen Erbes zum Eigentum machen (das Prinzip der Nicht-Aneignung). Man kann sie nutzen, aber nicht nach Belieben darüber verfügen, denn sie gehören als Teil des internationalen Erbes der gesamten Menschheit. Wenn sich das Gemeinsame Erbe der Menschheit auf Räume und Ressourcen innerhalb nationaler Hoheit bezieht, unterliegt die Ausübung der Souveränität der Pflicht, sie zugunsten des Allgemeinwohls zu schützen. • Nutzungen des gemeinsamen Erbes sollen kooperativ und zugunsten der gesamten Menschheit geschehen. Dies wurde so interpretiert, dass es einer treuhänderischen Beziehung für den expliziten Schutz der Interessen der Menschheit bedarf – die sich von den Interessen einzelner Staaten oder privater Einheiten unterscheiden. Die Erträge (finanzieller, technologischer und wissenschaftlicher Art) aus dem Gemeinsamen Erbe der Menschheit sollen gerecht geteilt werden. Dies schafft eine Basis für die Begrenzung öffentlicher oder privater kommerzieller Erträge und für die Priorisierung der Verteilung an Dritte, darunter Entwicklungsländer (intragenerationelle Gerechtigkeit). • Das gemeinsame Erbe soll friedlichen Zwecken vorbehalten sein (Verhinderung militärischer Nutzung). • Das gemeinsame Erbe soll künftigen Generationen in prinzipiell nicht beeinträchtigtem Zustand überliefert werden (Schutz der ökologischen Integrität und intergenerationelle Gerechtigkeit). • In den letzten Jahren haben diese Schlüsselelemente sichergestellt, dass das gemeinsame Erbe der Menschheit in der Arbeit internationaler Umweltjuristen weiterhin im Mittelpunkt steht. Sie alle sind der Ansicht, dass es viele wichtige Komponenten des Nachhaltigkeitskonzepts miteinander verbindet.

Auseinandersetzungen

Fast sämtliche Elemente des Gemeinsamen Erbes der Menschheit werden kontrovers diskutiert, da es alle Ressourcenmanagementregime von globaler Bedeutung in Frage stelle. Ganz gleich, wo sie sich befinden. Daher fordere es traditionelle Begriffe des internationalen Rechts heraus: etwa den Gebietserwerb, die Souveränität, die souveräne Gleichheit, die internationale Rechtspersönlichkeit oder die Allokation planetarer Ressourcen. Zugleich ist seit langem anerkannt, dass der für die Meere geschaffene Präzedenzfall das Potential hat, die Grundlage für die künftige Ordnung einer zunehmend verflochtenen Welt zu werden.

Doch inwieweit kann das gemeinsame Erbe der Menschheit die weitere Fragmentierung und Privatisierung der Commons (bzw. Einhegungen) verhindern und den rechtlichen Schutz des Allgemeinwohls an deren Stelle setzen? Die Meinungen gehen zum Beispiel darüber auseinander, ob das Element der NichtAneignung die Anwendung des Konzepts auf global bedeutsame Räume und Ressourcen (zum Beispiel Regenwälder) innerhalb des Territoriums souveräner Staaten verhindert oder nicht. Das Element der gerechten Nutzung (oder des gerechten Vorteilsausgleichs), welches vorschreibt, das Erträge aus der Nutzung des gemeinsamen Erbes gerecht geteilt werden müssen, hat sich ebenfalls als polarisierend erwiesen, insbesondere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern sowie Unternehmen. Entwicklungsländer halten dieses Element für den Schlüssel der Verteilungsgerechtigkeit. Industrieländer und kommerzielle Interessenten betrachten es als mögliches Hemmnis für Investitionen und Marktanreize. Sie favorisieren Lizenzvereinba- rungen, um privaten Unternehmen die Ressourcenausbeutung zu gestatten. Das Übereinkommen von 1994 zur Durchführung des Teiles XI der UN-Seerechtskonvention (eine Ergänzung der

Commons-Sommerschule 2012 48 Konvention) wird allgemein negativ bewertet, denn es habe die Verteilungselemente des ursprüng- lichen Regimes zugunsten kommerzieller Interessen ausgehöhlt. Deshalb und wegen der Erfahrun- gen aus anderen Debatten lehnen viele das Konzept des Gemeinsamen Erbes der Menschheit als Grundlage für UN-Vertragswerke zum Klimawandel oder zum Schutz der biologischen Vielfalt ab.

Die UN-Klimarahmenkonvention aus dem Jahr 1992 besagt, dass das Problem des Klimawandels »die ganze Menschheit mit Sorge erfülle«. Der ursprüngliche Vorschlag Maltas war ein Vertrag, der das Klimasystem zu einem Teil des Gemeinsamen Erbes der Menschheit erklärte, aber er wurde abgelehnt. Entwicklungsländer lehnten zudem die Verwendung des Konzepts im UN-Überein- kommen über die biologische Vielfalt aus dem Jahr 1992 ab, denn sie sahen ihre souveränen Rechte, die biologischen Ressourcen auf ihren eigenen Territorien nutzen und davon profitieren zu können, potentiell gefährdet. Sie hatten den Verdacht, dass das Argument des Umweltschutzes oder der (gemeinsamen) geistigen Eigentumsrechte nur als Vorwand für Einmischung dienen würde.

Anwendungen und Ausblick

Im Laufe der Jahre ist das Konzept des Gemeinsamen Erbes der Menschheit auf verschiedene Ressourcen und Räume angewandt worden: Fischgründe, die Antarktis, die arktische Landschaft, geostationäre Erdumlaufbahnen, genetische Ressourcen sowie Grundnahrungsmittel. In jüngster Vergangenheit hat die UNESCO viele Initiativen unterstützt (Erklärungen, Konventionen und Protokolle), die das natürliche und kulturelle Erbe als das Gemeinsame Erbe der Menschheit anerkennen. Das »natürliche und kulturelle Erbe« beinhaltet materielle und immaterielle Elemente, von archäologischen Stätten und historischen Monumenten über kulturelle Phänomene (etwa Literatur, Sprache und Sitten und Gebräuche) bis hin zu natürlichen Systemen einschließlich Inseln, Biosphärenreservaten und Wüsten. Ein neuer Bereich, auf den das Gemeinsame Erbe der Menschheit angewandt werden könnte, ist das menschliche Genom. Dies könnte seine Patentierung durch Unternehmen verhindern.

Aus ökologischer und intergenerationeller Sicht kann man argumentieren, dass es sich bei der Erde selbst um ein globales Commons handelt, das von jeder Generation zu teilen ist, und dass das Konzept des Gemeinsamen Erbes der Menschheit »auf alle internationalen natürlichen und kulturellen Ressourcen ausgeweitet werden soll, die für das Wohlergehen künftiger Generationen von Bedeutung sind, wo auch immer sie sich befinden« (Weiss 1989; Taylor 1998).

Kurzfristig und aus der Perspektive staatlichen Handelns sowie laufender Vertragsverhandlungen betrachtet, wird die künftige Anwendung des Konzepts wahrscheinlich begrenzt sein. Völkerrechtler sehen es – über UNCLOS III und den Mondvertrag hinaus – als lediglich politisch motivierten Ausdruck schöner Hoffnungen. Zu den Themen, die in Kürze die Verpflichtung von Staaten auf das Gemeinsame Erbe der Menschheit auf den Prüfstand stellen werden, gehören der Status der lebenden Meeresressourcen, Ansprüche auf den Meeresboden unter dem schmelzenden Eis der Arktis sowie der Status der Ölreserven unter dem Meeresboden der Tiefsee. In diesem Kontext ist das Gemeinsame Erbe der Menschheit gegenwärtig die einzige Alternative zur »Freiheit der Nutzung«, ergo der Aneignung durch einzelne Staaten. Das Prinzip erkennt die gegenseitige Abhängigkeit von Ökosystemen und menschlicher Nutzung an. Daher hat es viel mit Ansätzen zum Ökosystemmanagement gemein, deren Ziel es ist, fragmentarische, ressourcenspezifische Managementregime zu überwinden.

Das gemeinsame Erbe der Menschheit ist zudem relevant für die breitere Debatte über die Transformation der Rolle des Staates. Weg vom Fokus auf den Schutz nationaler Interessen, hin zur Gemeinsamen Verantwortung für den Schutz ökologischer Systeme, wo auch immer sie sich

Commons-Sommerschule 2012 49 befinden – im Interesse der ganzen Menschheit. Staaten mögen zurückhaltend sein, wenn sie gefordert sind, sich mögliche Anwendungen des Gemeinsamen Erbes der Menschheit zu eigen zu machen, aber das Völkerrecht ist nicht mehr die alleinige Domäne von Staaten und Völkerrechtlern. Die globale Zivilgesellschaft spielt eine zunehmende Rolle in der Entwicklung von und im Engagement für solche Ideen.

Das Gemeinsame Erbe der Menschheit verbindet sich mit dem wiedererstarkenden Interesse an Ideen wie Weltbürgerschaft, globale Verfassung, globale ökologische Bürgerschaft und Fairness. Sie alle sind Teil der Suche nach gemeinsamen ethischen Prinzipien für eine friedlichere und nachhaltigere Zukunft (The Earth Charter Initiative 2000).

Dieser Beitrag ist eine adaptierte Version von: Taylor, Prue (2011): »Common Heritage of Mankind Principle«, in: Bosselmann, Klaus/Fogel, Daniel/Ruhl, J.B. (Hg.): The Encyclopedia of Sustainability, Vol. 3: The Law and Politics of Sustainability, Great Barrington, MA: Berkshire Publishing, S. 64-69.

Literatur

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Verträge und Resolutionen

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Commons-Sommerschule 2012 50 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 2749 (XXV), Erklärung von Grundsätzen für den Meeresboden und den Meeresuntergrund jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse, U.N. GAOR, 25. Sitzung, Supp. No. 28, 24. U.N. Doc. A/8028 (1970). Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (abgeschlossen am 10. Dezember 1982, in Kraft getreten am 16. November 1994), 1833 UNTS 397. The Earth Charter Initiative (2000), online unter: http://www.earthcharterinaction.org/content/pages/Read-the-Charter.html (Zugriff am 02.08.2010). Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Biodiversitätskonvention, angenommen am 22. Mai 1992, in Kraft getreten am 29. Dezember 1993). Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (angenommen am 16. November 1972, in Kraft getreten am 17. Dezember 1975), 1037 UNTS 151. Übereinkommen zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten auf dem Mond und anderen Himmelskörpern (Weltraumvertrag, angenommen am 5. Dezember 1979, in Kraft getreten am 11. Juli 1984), 1363 UNTS 3.

Prue Taylor (Neuseeland) ist Juradozentin an der Universität Auckland und stellvertretende Direktorin des New Zealand Centre for Environmental Law. Sie forscht zu Fragen des Umwelt-rechts und zu ethischen Fragen. Sie ist Mitherausgeberin von Property Rights and Sustainability: The Evolution of Property Rights to meet Ecological Challenges (2011).

Commons-Sommerschule 2012 51 Ideen für den Wandel – der Institutionenvielfalt Sinn geben

Ryan T. Conway

Die Theorien und Ideen von Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom, die der Frage nachgeht, wie Menschen in Gemeinschaften kooperieren (oder auch nicht), haben zu einem eigenen Ort kollektiven Handelns inspiriert. Dieser »Ort« ist der Workshop in Political Theory and Policy Analysis an der Indiana University in Bloomington, Indiana, USA. Studenten und Wissenschaftler vieler Disziplinen arbeiten hier sowie Menschen, die aktiv am Management gemeinschaftlicher Wassernutzung, in Fischereiorganisationen, an der Bereitstellung städtischer Dienstleistungen und in Genossenschaften beteiligt sind.

Fasziniert von dem praktischen Ansatz und der Möglichkeit, das Instrumentarium des Workshops zu nutzen, sowie von der bunt gemischten Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern, bewarb ich mich 2010 beim Workshop als Doktorand. Das Team in Bloomington hat mit der Zeit fast 260 Gastwissenschaftler aufgenommen, weitere 18 kommen im laufenden akademischen Jahr hinzu. Eine derartige internationale und interdisziplinäre Vielfalt – die den Workshop seit seiner Gründung 1973 prägt – ist wahrlich eine Quelle der Inspiration. Und eine Seltenheit in der akademischen Welt.

Im Folgenden skizziere ich die Grundlagen des Workshops und beantworte aus meiner Sicht – die Frage, wie nützlich das dort entwickelte Instrumentarium für die Praxis und die wissenschaftliche Forschung ist. Meine Grundüberzeugung ist einfach: Geteilte Ideen und ein gemeinsames Grundverständnis von Situationen und Problemen sind sowohl für die Schaffung als auch für die Analyse von Institutionen unabdingbar.

Die klassische Sichtweise in Frage stellen

Im Workshop wird häufig gewarnt: »Es gibt keine Patentrezepte!« Das heißt: Es gibt für problematische Situationen keine »Lösung von der Stange«, und es gibt kein endgültiges Modell für eine soziale Ordnung, denn Verhaltensweisen und Umstände verändern sich fortlaufend. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, unsere Modelle der sozialen Ordnung stets auf den neuesten Stand zu bringen. Nur so können wir sie genauer beschreiben und – hoffentlich – nützliche Erkenntnisse für jene Menschen anbieten, die in der Komplexität des sozialen Miteinanders vor schwierigen Entscheidungen stehen. Diese kontinuierliche Anpassung ist nicht nur praxisrelevant, sie ist auch eine wichtige Sichtweise.

Ein Beispiel: Strategien zur »bestmöglichen« Nutzung der uns zur Verfügung stehenden Ressourcen auszuarbeiten und anzuwenden bedeutet, mit dem geringstmöglichen ideologischen Ballast zu »wirtschaften«. Jede Art zu wirtschaften – ob es sich nun um den internationalen kapitalistischen Markt handelt, ein zentral geplantes nationales Produktions- und Distributionssystem oder um eine Tauschgemeinschaft unter Nachbarn – geht mit ihrem eigenen Verständnis der Welt und einer Vorstellung davon einher, was »am besten« ist. Wenn sich demnach eine Gruppe auf gemeinsame Annahmen über die Welt einigt, etwa darüber, wie eine Volkswirtschaft funktionieren soll, kann sie den Dingen eine Ordnung geben. Mehr noch: Wenn sie solch ein gemeinsames Modell der Welt hat, kann sie einzelne Aspekte, Attribute und Beziehungen klären und weitere Ordnungsschichten hinzufügen.

Aber was ist ein Modell der Welt ohne die Menschen, die darin leben?1 Uns selbst mit

1 Fragen von Machtdisparitäten, Rasse, Klasse und Gender wurden nicht formal in den Analyserahmen des Workshops integriert, aber einige Beteiligte haben sie bearbeitet, etwa: Clemente 2010.

Commons-Sommerschule 2012 52 einzubeziehen erfordert Selbstreflexion. Es erfordert einen Prozess, in dem wir anerkennen müssen, dass unsere rationalen und sinnstiftenden Fähigkeiten zusammenwirken, um uns – und künftigen Generationen – das Überleben zu ermöglichen. Doch dabei können Probleme auftauchen: Wenn alle Beteiligten in einer bestimmten Konstellation versuchen, die zur Verfügung stehenden Ressour- cen einzeln zu nutzen, profitiert nicht immer die Gruppe davon – im Gegenteil. Und genau das geschieht, wenn Menschen kein gemeinsames Bild davon haben, was vorgeht oder was zu tun ist. Wenn wir Schwierigkeiten haben, unsere Ideen zu koordinieren, haben wir häufig auch Probleme zu kooperieren. Wir nennen solche Situationen »soziale Dilemmata«.

Eines der schwierigsten sozialen Dilemmata ist die sogenannte »Tragik der Allmende«. Zwar kann sich die Allmende (Commons) auf jegliche Art gemeinsamer Ressourcen und deren Nutzungsregeln beziehen, aber ein Großteil der Arbeit von Ostrom beschäftigt sich mit Ressourcen wie Land und Wasser, die von Gemeinschaften zur Existenzsicherung genutzt werden. Solche Ressourcen – etwa Fischressourcen oder Bewässerungssysteme – sind sogenannte »common pool resources« (CPRs), Gemeinressourcen, das heißt, sie sind in ihrer Verfügbarkeit begrenzt und nur schwer durch Eigentumsrechte zu managen.

Lange Zeit glaubten zahlreiche Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger, die einzige Möglichkeit, eine Tragödie zu vermeiden, sei, die Commons zu privatisieren oder durch den Staat zu verwalten. Aber davon ließ sich Ostrom nicht überzeugen. Ihre recht radikale Idee bricht mit der klassischen Sichtweise: Der Erhalt von Gemeinressourcen hängt weder davon ab, ob der Staat Gesetze erlässt oder Strafen auferlegt, noch davon, ob jedem Fisch, jedem Grashalm oder jedem Tropfen Wasser ein monetärer Wert zugewiesen wird. Stattdessen können Menschen sich zusammentun, ihre Sicht der Dinge teilen und ihre Ressourcen verwalten, indem sie selbst erarbeitete Normen und Regeln durchsetzen. Sie können, auch wenn das weithin als unkonventionell gilt, »jenseits von Markt und Staat« kooperieren (Ostrom 2010).

Das Instrumentarium des Workshops

Im Laufe vieler Jahre und zahlloser Untersuchungen über Erfolgs- und Misserfolgsfälle gemein- samer Ressourcenbewirtschaftung haben Elinor Ostrom und die am Workshop Beteiligten ein Instrumentarium entwickelt, um kollektives Handeln zu analysieren. Die so gewonnenen Erkenntnisse helfen den Praktikern und inspirieren die Wissenschaftler. Jedes Instrument kann genutzt werden, um die verschiedenen Arten und Weisen zu beschreiben, wie Gemeinschaften ihr Tun durch strukturierte Entscheidungsprozesse organisieren; das heißt: wie sie sich auf eine Art des Wirtschaftens einigen und wie sie wirtschaften. Im Folgenden die wichtigsten Instrumente:

• Die »Grammatik von Institutionen« ist eine Art Prüfwerkzeug; sie erlaubt dem Analytiker, jede soziale Norm oder Regel in kleinere Komponenten zu fassen und sie so leichter zu verstehen. Man könnte sie auch »Bausteine der Sozialbeziehungen« nennen. Dies reicht für die Analyse einzelner sozialer Gebote im Grunde aus, doch die meisten Menschen fällen Entscheidungen in Situationen, in denen sie mit mehreren und häufig konfligierenden Normen und Regeln konfrontiert sind. • Um die Analyse solch komplexer Situationen voranzubringen, wurde ein weiteres Instrument entwickelt: die Workshopper nennen es »IAD: Institutional Analysis and Development Framework« (Modell zur Analyse von Institutionen und Entwicklungsprozessen). Während die Grammatik von Institutionen am ehesten geeignet ist, um einzelne soziale Normen oder Regeln zu analysieren, so ist IAD am besten geeignet, ein ganzes Set von Normen und Regeln zu studieren, die in einer einzigen Entscheidungssituation zusammentreffen. Zugleich können die grundlegenden relationalen

Commons-Sommerschule 2012 53 Bausteine vieler sozialer Gebote mit diesem Modell analysiert werden. • Der »Social-Ecological Systems Framework« (SES, Modell zur Analyse Sozialökologischer Systeme) wiederum erlaubt dem Wissenschaftler, alle jene Variablen aufzulisten, die mit einem sozial-ökologischen System in Beziehung stehen. Obwohl dieses Modell etwas allgemeiner ist als die beiden anderen Instrumente, kann es sie integrieren.

Die Grammatik von Institutionen

Eine Stärke des Workshop-Instrumentariums ist, dass sämtliche Instrumente miteinander kompa- tibel sind, da sie von einem Hauptwerkzeug aus entwickelt wurden: der schon genannten »Grammatik von Institutionen« (Crawford/Ostrom 1995), mit dem die grundlegenden Bausteine sozialer Beziehungen identifiziert werden. Beim Workshop gibt es besondere Begriffe für diese Bausteine. Nehmen wir als einfaches Beispiel eine Wohngemeinschaft, deren Bewohner sich verschiedene Aufgaben teilen, die sie abwechselnd übernehmen müssen. Eine der Tätigkeiten ist die des »Abfallmanagers«. Dazu gehört der Umgang mit organischem Abfall: Am zweiten Freitag eines jeden Monats muss die oder der Verantwortliche alle Behälter mit organischem Abfall in die Haupttonne entleeren, und zwar ohne die Deckel der Behälter im Wohnbereich zu öffnen und den Abfall in der Wohnung zu »verteilen«. Die zweite Regel lautet: Wer das nicht wie vorgegeben erledigt, muss die Aufgabe für zwei weitere Monate übernehmen.

Wendet man die fünf beziehungsbezogenen Bausteine des Workshops an, könnte man das Beispiel des Abfallmanagers wie folgt analysieren:

• »Attribute« (für wen gilt die Norm bzw. Regel): den Abfallmanager der Wohngemeinschaft; • »Deontik« (darf, darf nicht, oder muss getan werden): muss der Verpflichtung nachkommen, den organischen Abfall zu entsorgen; darf die Deckel nicht im Wohnraum öffnen; darf keinen Abfall in der Wohnung hinterlassen; • »Ziele« (vorgesehene Handlungen): alle Behälter mit organischem Abfall sind in die Haupttonne zu entleeren; • »Bedingungen« (wann, wo und wie gilt die Regel): am zweiten Freitag eines jeden Monats, im Hauptgebäude; • »Sonst ...« (vereinbarte spezifische Strafen, wenn jemand die Vereinbarungen missachtet): sonst bleibt sie bzw. er für zwei weitere Monate Abfallmanagerin.2

Das Beispiel zeigt, wie wir die beziehungsbezogenen Bausteine kombinieren, um eine Norm oder eine Regel zu erstellen, die das Verhalten von Menschen in einer Situation kollektiven Handelns leiten. Im Workshop werden diese Kombinationen »institutionelle Aussagen« genannt, die in Form von Regeln, Normen oder gemeinsamen Strategien auftreten. Wenn eine Gruppe ihr Verhalten durch eine Aussage organisiert, die alle fünf Teile enthält, handelt es sich um eine »Regel«. Wenn die Gruppe keine Strafe – kein »Sonst ...« – festgelegt hat, handelt es sich um eine »Norm«. Wenn Mitglieder der Gruppe nur das Wissen über »Attribute«, »Ziele« und »Bedingungen« teilen – wer, was, wann, wo und wie man zu handeln hat – so setzt man nach diesem Ansatz 3 voraus, dass jede Person dieselbe Situation wahrnehmen und dieselbe Lösung entwickeln wird: dabei handelt es sich

2 Die englischen Begriffe für die Bausteine sind »attributes«, »deontics«, »aims«, »conditions« sowie »or else« und ergeben das Kürzel ADICO, mit dem im Workshop oft gearbeitet wird (Anm. der Hg.). 3 Diese Grundannahme gilt auch außerhalb des Workshops. Sie leitet sich aus umfangreichen Forschungen der »Spieltheorie« ab, nach der angenommen wird, dass Menschen Entscheidungen treffen, indem sie die Kosten und Nutzen einer jeden verfügbaren Option kalkulieren. Dieser Ansatz hat viele leistungsfähige mathematische Modelle geschaffen, aber er geht davon aus, dass jeder Mensch im Grunde auf dieselbe Art und Weise Entscheidungen trifft, was selbstverständlich stark umstritten ist.

Commons-Sommerschule 2012 54 um eine »gemeinsame Strategie«.

Die einfachste Möglichkeit, die Beziehung zwischen der Grammatik von Institutionen und den anderen Instrumenten des Workshops (IAD und SES) zu beschreiben, ist, sich die DNA vorzustellen. Genau wie Nukleobasen und Aminosäuren sich auf verschiedene Weise kombinieren, um viele unterschiedliche Proteine zu bilden, gibt es grundlegende Bausteine von Sozialbezie- hungen, die verschieden kombiniert werden, um unterschiedliches Gruppenverhalten zu generieren. Naturwissenschaftler brauchen bestimmte Instrumente, um genetische Bausteine zu identifizieren, und wieder andere, um die biologischen Strukturen, die sich aus diesen Bausteinen zusammen- setzen, zu kartieren. In den Sozialwissenschaften verhält es sich genauso: Wir benötigen bestimmte Instrumente, um die Bausteine der Sozialbeziehungen zu identifizieren, und wieder andere, um größere Sozialstrukturen abzubilden.

Das Modell für die Analyse von Institutionen und Entwicklungsprozessen (IAD)

Doch zurück zu unserem Abfallmanager. Die Aufgabe, den organischen Müll zu entsorgen, beinhaltet drei Entscheidungsebenen: Erstens, ein Plenum der Bewohner der Wohngemeinschaft entscheidet, die Rolle des Abfallmanagers in die Aufgabenliste aufzunehmen, und ernennt ein Komitee zur Erarbeitung der Details; zweitens, das Komitee entscheidet über die konkreten Pflichten und wie sie zu erfüllen sind; drittens, das Mitglied, das diese Aufgabe übernimmt, muss sich entscheiden, ob und wie es die Aufgabe ausführen will.

Ebene 1 ist eine »Entscheidung über eine Verfassung«: Die Mitglieder entscheiden darüber, wie Regeln aufgestellt werden sollen. Ebene 2 ist eine »Entscheidung über die Ausführungsregeln«: Die Mitglieder des Komitees stellen also unter Berücksichtigung der Wie-Leitlinie aus Ebene 1 die Regeln auf. Ebene 3 ist eine »Entscheidung über das Wie der Operation«: Das Mitglied entscheidet, wie es der Aufgabe des Abfallmanagers gerecht wird.

Abbildung 1: Die Handlungssituation

Jede Entscheidung, die auf einer dieser drei Ebenen getroffen wird, stellt in der Sprache der Workshopper eine »Handlungssituation« dar. Zur Erläuterung dieses Begriffs können wir untenstehende Abbildung nutzen. Betrachten Sie die sieben Hauptelemente: Akteure, Positionen, Handlungen, Information, Kontrolle, Nettokosten und -nutzen sowie potentielle Ergebnisse. Am Rande zeigt eine bestimmte Regel auf jedes der sieben Hauptelemente. Zum Beispiel bestimmt links unten eine »Entscheidungsregel«, welche Art Handlung eine Person ausführen kann.

Wenn wir uns nun erinnern, dass die Grammatik von Institutionen in der Lage ist, jede dieser Regeln zu analysieren, kann man erkennen, dass sie, je nachdem, wie spezifisch die Analyse sein soll, gemeinsam mit dem IAD sinnvoll genutzt werden kann. Die Beziehung zwischen den Modellen IAD und SES ist ganz ähnlich.

Dieses Modell für sozial-ökologische Systeme (SES) (Ostrom 2007) gibt eine umfassende Liste wichtiger Faktoren, Beziehungen und Variablen vor, die Berücksichtigung finden müssen, um zu verstehen, wie sich soziale Arrangements – etwa Normen und Regeln – mit natürlichen Beziehungen in einem Ökosystem überlappen. So wie das Modell IAD eingesetzt werden kann, um das Management einer einzelnen Gemeinressource zu analysieren, ermöglicht SES einem Forscher, mehrere Ressourcen in einem größeren Ökosystem zu identifizieren und deren Management zu vergleichen.

Commons-Sommerschule 2012 55 Da IAD drei Analyseebenen enthält und jede Ebene wiederum sieben Regeln, liegt es auf der Hand, dass es sehr schnell sehr kompliziert werden kann. Der Vorteil unseres Workshop-Instrumentariums ist allerdings, dass es bei sorgfältigem Einsatz ein gewisses Maß an Konsistenz und Ordnung in unser Nachdenken über diese unglaublich komplexen Situationen bringen kann. Überdies können die Instrumente auch unabhängig voneinander genutzt werden. Man sucht sich die jeweils passenden Werkzeuge nach den spezifischen Gegebenheiten aus.

Wem es nicht lohnend erscheint, sich durch dieses »Fachchinesisch« durchzuarbeiten, sollte sich die Vorteile noch einmal vergegenwärtigen: Wenn wir alle auf der Basis eines gemeinsamen Verständnisses zusammen-arbeiten – in unserem Beispiel auf der Basis der analytischen Instrumen- te des Workshops –, dann verbessern wir unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit.

Eine Variable fehlt: Wie Ideen und Worte einen Unterschied machen

»Aber«, könnten Sie fragen, »brauchen wir dieses neue Vokabular denn wirklich, um unsere ganz gewöhnlichen Erfahrungen zu beschreiben?« Ich denke Ja – und zwar aus einem einfachen Grund: Unser Denken und Sprechen strukturiert und bestimmt (teilweise) unser Verhalten, gleichgültig, ob wir kollektiv handeln oder darüber forschen. Wenn wir also lernen, Ideen miteinander zu teilen und sie mit denselben Worten zu beschreiben, werden wir uns einem Thema besser gemeinsam nähern können. Zudem bin ich überzeugt, dass sowohl die Praxis des kollektiven Handelns als auch die Forschung auf dem gründen, was Tomasello »gemeinsame Absicht« nennt und manche Politikwissenschaftler als »kollektive Ideenbildung« bezeichnen (Tomasello et al. 2005).

Mit anderen Worten: Effektives kollektives Handeln kann in der Praxis auf eine gemeinsame Vision angewiesen sein – sowohl eine Vision unserer Welt als auch der Ziele, die wir in ihr zu verwirklichen suchen. In einem Tauschsystem in der Nachbarschaft mag dies eine Idee davon sein, was die Nachbarschaft ausmacht oder welche Güter ausgetauscht werden können. Es kann auch ein explizites oder unausgesprochenes Ziel sein, wegen dem das System überhaupt ins Leben gerufen wurde. Im Workshop ist dieses Gemeinsame die Akzeptanz des Instrumentariums selbst. Es bildet den Ausgangspunkt für Konzepte und Modelle, die uns dabei unterstützen, Sozialverhalten zu erklären. Ohne gemeinsame Ziele wäre es für die Nachbarn schwierig, ein Tauschsystem zu organisieren; ohne die gemeinsamen Ideen und Begriffe würde der Workshop nicht funktionieren. Diese Behauptung ist durchaus kontrovers, und die Gründe dafür sind komplex.4 Aber der eigentliche Kern des Workshops liegt darin, die Grenzen unserer Instrumente kontinuierlich zu hinterfragen, auszuweiten und zu revidieren – und zwar aus so unterschiedlichen Perspektiven wie sie der Vielfalt der Workshopper entsprechen.

Egal, ob man Mainstream- oder Alternativökonomien betrachtet, man wird immer auf irgendein soziales Dilemma stoßen. Viele Wissenschaftler sagen, dass die Überwindung sozialer Dilemmata bedeute, das Problem kollektiven Handelns zu lösen. Das ist eine verallgemeinernde Art zu sagen: Wenn man Vorteile für alle Gruppenmitglieder wünscht, muss ein Teil der Menschen das Risiko akzeptieren, mehr zu zahlen. An diesem Punkt kommen die Ideen des Workshops zum Tragen. Gruppen können manchmal das Problem kollektiven Handelns lösen, indem sie Regeln, Normen und gemeinsame Strategien anwenden. Allerdings können weder institutionelle Aussagen noch ihre beziehungsbezogenen Bausteine einfach aus dem Nichts entstehen. Eine gemeinsame Absicht muss entwickelt werden – das heißt, ein »Problem der kollektiven Ideenbildung« muss überwunden

4 Wenige haben bislang die Spannung zwischen Ansätzen der Spieltheorie und der gemeinsamen Ideenbildung direkt thematisiert. Diana Richards hat hier beispielsweise interessantes Neuland mit der Gestaltung einiger eleganter formaler Modelle betreten. Sie versucht, die Auswirkungen gemeinsamer mentaler Modelle auf ihre Leistung im Umgang mit Dilemmata zu untersuchen und zu verstehen (Richards 2001).

Commons-Sommerschule 2012 56 werden, bevor5 Gruppen effektiv zusammenarbeiten können.

Kollektive Ideenbildung beinhaltet, gemeinsame Definitionen, kollektives Wissen und ein gemein- sames Verständnis einer Situation zu finden und sich darauf zu einigen. All dies ist erforderlich, um Institutionen zu schaffen. Crawford und Ostrom merken an, dass man durch die Konzentration auf das gemeinsame Verständnis von Erwartungen, Präferenzen und Verhalten die Falle vermeide, Institutionen als Dinge zu behandeln, die außerhalb des gemeinsamen Verständnisses und dem daraus resultierenden Verhalten der Beteiligten existierten (Crawford/ Ostrom 1995). Andere Wirtschaftswissenschaftler teilen dies. Denzau und North haben einen viel beachteten Artikel geschrieben, in dem sie erläutern, welche Bedeutung dieses gemeinsame Verständnis hat – sie reden von »mentalen Modellen« (Denzau/North 1994). Diana Richards, Whitman Richards und Brendan McKay haben dazu beigetragen, dass wir besser verstehen, wie mentale Modelle die Entscheidungs- findung beeinflussen, indem sie abbilden, wie gemeinsame Wissensstrukturen das Verhalten der Menschen in sozialen Dilemmata beeinflussen (Richards 2001; Richards et al. 2002).

Mentale Modelle zeigen, wie wir die Welt ordnen und verstehen. Sie sind nützliche, vereinfachte Versionen unserer sozialen und ökologischen Welten, genau wie eine Landkarte eine nützliche, vereinfachte Version eines Territoriums ist. Wenn wir jedoch unsere unterschiedlichen mentalen Modelle, zum Beispiel eines Fischereigebiets, nicht durchdiskutieren, gibt es kaum eine kollektive Ideenbildung, denn unsere Auffassungen über den Umgang mit unseren Ressourcen stehen durchaus miteinander im Konflikt.

Welcher Schritt folgt nun, nachdem wir anerkannt haben, dass gemeinsame Ideen und eine gemeinsame Sprache für die Entwicklung effektiver Institutionen wichtig sind? Manche Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Arbeit innerhalb einer Organisation besser wird, wenn man die Barrieren zwischen verschiedenen Fachsprachen durchbricht und mentale Modelle teilt. Des Weiteren wissen wir, wie schwierig es ist, Basisprojekte kollektiven Handelns zu gründen, auszuweiten oder zu kopieren, etwa Wirtschaftsgemeinschaften zwischen Landwirten und Verbrauchern, Tauschsysteme in der Nachbarschaft und andere. Der Erfolg solcher Vorhaben kann davon abhängen, wie viel Mühe man in die gemeinsame Ideenbildung steckt, bevor man beginnt, messbare Lösungen zum Problem des kollektiven Handelns zu entwickeln.

Wenn es dann gelingt, Gemeinsamkeiten mit Gruppen zu finden, die andere mentale Modelle und ein anderes Vokabular haben, wäre es für alle leichter, kollektiv zu handeln.

Dieser Beitrag ist die adaptierte und gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der zuerst im Grassroots Economic Organizing (GEO) Newsletter erschien: GEO Newsletter, Band 2, Ausgabe 9, Collective Action: Research, Practice and Theory.

Literatur

Clemente, Floriane (2010): »Analysing Decentralised Natural Resource Governan- ce: Proposition for a ›Politicised‹ Institutional Analysis and Development Fra- mework«, in: Policy Sciences 43(2), S. 129-156. Crawford, Sue/Ostrom, Elinor (1995): »A Grammar of Institutions«, in: American Political Science Review 89(3), S. 582-600. Denzau, Arthur/North, Douglass (1994): »Shared Mental Models: Ideologies and

5 Hervorhebung durch die Herausgeber.

Commons-Sommerschule 2012 57 Institutions«, in: Kyklos 47(1), S. 3-31. Ostrom, Elinor (2005): Understanding Institutional Diversity, Princeton. Ostrom, Elinor (2007): »A Diagnostic Approach for Going beyond Panaceas«, in: PNAS 104(39), S. 15181-15187. Ostrom, Elinor (2009): »A General Framework for Analyzing Sustainability of Social-Ecological Systems«, in: Science 325(5939), S. 419-422. Ostrom, Elinor (2010): »Beyond Markets and States: Polycentric Governance of Complex Economic Systems«, in: American Economic Review 100(3), S. 641-672. Richards, Diana (2001): »Coordination and Shared Mental Models«, in: American Journal of Political Science 45(2), S. 259-276. Richards, Whitman/McKay, Brendan D./Richards, Diana (2002): »The Probability of Collective Choice with Shared Knowledge Structures«, in: Journal of Mathe- matical Psychology 46, S. 338-351. Tomasello, Michael/Carpenter, Malinda/Call, Malinda/Behne, Tanya/Moll, Henri- ke (2005): »Understanding and Sharing Intentions: The Origins of Cultural Cognition«, in: Behavioral and Brain Sciences 28, S. 675-735.

Ryan T. Conway (USA) gehört zum Forschungsteam Managing the Health Commons am Workshop in Political Theory and Policy Analysis. Im Rahmen des Doktorandenprogramms für Politische Wissenschaft der Indiana University, Bloomington, erforscht er, wie mentale Modelle kooperatives Verhalten in Konkurrenzsituationen beeinflussen.

Alle Artikel bis hier her aus: Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) (2012): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Transcript Verlag, Bielefeld

Commons-Sommerschule 2012 58 Commons & Piraten Eine programmatische Schatzsuche

Silke Helfrich und Daniel Constein

Piraten im Commonstheater

Februar 2012. Die ewige Stadt präsentiert sich schneeweiß. Im Teatro Valle friert zwar das Publikum, doch das altehrwürdige Haus befindet sich keineswegs in einer Kältestarre. Im Gegenteil, es strotzt vor Kreativität! Das Valle, in phantastischer Lage zwischen Pantheon und Piazza Navona, ist seit 8 Monaten von Menschen besetzt, die Theater machen und lieben. Sie reklamieren es als bene comune, als Commons. Ein Theatercommons!? Das ist kein Ort, „zu dem man einfach geht, um sich ein Ticket zu kaufen und die Show anzusehen“, sagt der Theatertechniker und Mitbesetzer Valerio, denn: „Die wirkliche Show findet vor der Show statt.“ Im Ideenaustausch, in der gemeinsamen Arbeit, in Workshops und Gesprächen mit Leuten von draußen und drinnen. Eine von drinnen ist Irene. Die Fotografin versteht es, die Dinge ins Bild zu setzen: „Es ist heute sehr wichtig, dass wir lernen zu verstehen, dass alles unser ist. Auch die Probleme!“1 Die wirkliche Show – im Valle und anderswo – ist gemeinsames Handeln, damit das, was „unser ist“, auch unser bleibt. Wir nennen es Commoning. “There is no commons without commoning” (etwa: Es gibt keine Commons ohne Menschen, die sie machen.), hat der US- amerikanische Historiker Peter Linebaugh einmal gesagt und damit einen der wichtigsten Sätze der gegenwärtigen Commonsdebatte geprägt.

In diesen romverschneiten Tagen öffnet sich das Valle für Akademikerinnen, Politiker und Aktivistinnen aus ganz Europa. Wie wäre es, wird gefragt, wenn wir Commonsprinzipien in unseren europäischen Rechtsrahmen einschreiben? Die Theaterbühne füllt sich mit ACTA-Gegnern aus Polen und Bulgarien, Stadtforscherinnen aus Spanien, italienischen Rechtsprofessoren und vielen mehr. Eine Europäische Commons Charter2 soll auf den Weg gebracht werden, denn ab April 2012 gibt es in Europa die Möglichkeit, Gesetzesvorschläge durch Bürgerinitiativen einzubringen. In dem Land, in dem es bereits 2011 gelang, 27 Millionen Menschen zur Beteiligung am Bürgerbegehren für „Wasser als Gemeingut!“ zu bewegen, wird nun über europaweite politische Bündnisse für die Commons nachgedacht.

Auf der Bühne sitzt auch ein Pirat. Er gehört seit der Wahl vom 18. September 2011 der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus an. “Commons”, so sagt Alexander Spies, “mausert sich zum wichtigen Thema der Piratenpartei.” Und sein erster Bezugspunkt ist dabei nicht das Internet, sondern der Volksentscheid über die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe vom 13. Februar desselben Jahres. Im Theaterfoyer erzählt er später, dass er die angehende Kampagne für eine European Charter of the Commons so überzeugend fand, dass er sofort zugesagt habe, nach Rom zu kommen. “Interessant”, so die Rückfrage, “warum findet sich dann bei den Piraten kaum Explizites zum Thema?” Die Antwort war verblüffend: “Es ist doch klar, dass Commons für uns ein zentraler Ansatz ist! Vielleicht sollten wir das mal aufschreiben.” Die Idee ist gut! In diesem Beitrag gehen wir ihr nach. Wir setzen die Links zwischen Commonsdebatte und Piratenprogramm beziehungsweise -praxis und wir beschreiben, warum die Piraten das Potential haben, zu einer „Commonspartei“ zu werden.3 1 Zitiert nach dem Video Occupying the Commons, produziert von Saki Bailey, siehe unter: http://www.commonssense.it/s1/?page_id=938 (Zugriff am 19.02.2012) 2 Siehe unter: http://www.commonssense.it/ (Zugriff am 19.02.2012) 3 Wir nehmen also bewusst keine umfassende, kritische Analyse der politischen und programmatischen Diskussionen oder gar der gegenwärtigen Verfassung der Piraten vor, sondern zeigen, ob und inwiefern Commons als Lösungsansatz für die Steuerung der Gesellschaft (governance) in der Ideenwelt der Piraten bereits präsent ist. Dass es auch Vorschläge

Commons-Sommerschule 2012 59 Commons und die Prinzipien des Commoning Aus der Sicht von Nichtpiraten.

Der Begriff Commons wird häufig mit >Gemein-(schafts)güter< oder >Allmende< ins Deutsche übersetzt und vermittelt sich dadurch nur unzureichend, denn den Gütern haftet das Anfassbare und zu Verwertende an, der Gemeinschaft wiederum (insbesondere im deutschen Sprachraum) die Erinnerung an verordnete Kollektivität und der Allmende der romantisierte Klang von Kuhglocken auf Schweizer Almwiesen. Keine Übersetzung erfasst die Essenz des Begriffs. Es ist so, als sage man >Algorithmen< und meinte >freie Software<.4 Das Konzept der Commons dreht sich tatsächlich um so etwas wie >Algorithmen<. Allgemeiner gesprochen um Ressourcen, die niemandem allein gehören, weil wir sie ererbt haben (den genetischen Code, Wasser, Land und Biosphäre), weil sie niemand individuell produziert hat (Sprache und Kulturtechniken) oder weil sie der Allgemeinheit geschenkt worden sind (die Seitenbeschreibungssprache HTML oder der erste erfolgreiche Poliomyelitisimpfstoff). Das Wort Commons birgt auch den Träger des Konzepts: communities, Gemeinschaften und Netzwerke, die diese Ressourcen gemeinsam nutzen und/oder herstellen. Die konkreten Nutzungsformen können dabei bunt und vielgestaltig sein, wie die Charaktere, die derzeit das Valle bevölkern. Typischerweise unterliegen sie komplexen, selbstbestimmten und an die jeweilige Ressource angepassten Regeln, die niedergeschrieben sein können, aber nicht müssen. Die entscheidende Frage jenseits aller Regeln aber lautet: was macht >Algorithmen< zur >freien Software

Das sind die Voraussetzungen für eine Gesellschaft, in der sich die Freiheit des Individuums mit Gemeinsinn verbindet, in der die Entfaltung des Einzelnen Voraussetzung für die Entfaltung der anderen ist und umgekehrt. Eine Gesellschaft, die das Denken in schwarzweißen Dichotomien (Individuum oder Kollektiv, Kultur oder Natur, Mehrheit oder Minderheit, lehrend oder lernend, öffentlich oder privat) hinter sich lässt und die Dinge so analysiert wie sie sind: in Beziehung. Commons ist ein relationaler Begriff. Er sagt etwas aus über die Beziehungen der Menschen zueinander und zu unseren gemeinsamen Reichtümern. Commons sind also nicht einfach da. Sie werden immer wieder neu gemacht, erhalten und erweitert - in einem ständigen Prozess gemeinsamen Handelns, der so wenig konfliktfrei ist wie das Leben selbst. Die relevante Frage ist also nicht: Was sind Commons? Sondern: Wie gelingt Commoning?

Die Prinzipien (von lat principium = Anfang, Ursprung) des Commoning, um die es hier geht, sind so etwas wie der gemeinsame Nenner aller sozialen und kulturellen Praktiken, die Commons erzeugen und somit das, worin Commons ihren Ursprung haben. Es sind die fixen Regeln im Gegensatz zu den flexiblen. Jene, die uns „erlauben [...], das zu generalisieren, was funktioniert“, wie Franz Nahrada schreibt.5 Das Verständnis dieser Prinzipien kann die Strukturähnlichkeit entscheiden. 4 Obwohl die Berliner Piraten ihre Wahlantrittsrede vor der Bundespressekonferenz von einem Apple-Computer abgelesen haben, gehen wir davon aus, dass die Umsetzung der eigenen programmatischen Aussagen zum Thema Freie Software auch parteiintern stattfindet. Das Grundsatzprogramm der Piraten sagt dazu: „Insbesondere […] die gesamte Öffentliche Verwaltung sollen schrittweise darauf hinarbeiten ihre gesamte technische Infrastruktur auf Freie Software umzustellen, um so langfristig Kosten für die öffentlichen Haushalte und die Abhängigkeit von einzelnen Herstellern zu reduzieren.“ 5 Franz Nahrada in: Silke Helfrich und Heinrich Böll Stiftung: Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, transcript, 2012, S. 122 - 130

Commons-Sommerschule 2012 60 zwischen wichtigen Grundsatzpositionen der Piraten und den Commons aufzeigen und so den Kommentar erklären, der in einer Netzdebatte zum Politischen Denken der Piraten geäußert wurde: „Die Trias der Piratenpartei ist meines Erachtens: Netz, Allmende, Grundrechte“.6

Die Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom, die 2009 als erste Frau den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, hat in ihrem Hauptwerk, «Governing the Commons beyond Market and State»7 so genannte «Designprinzipien für langlebige Commons» formuliert. In ihnen ist jahrzehntelange Feldforschung verdichtet. Nach Ostrom sind gemeinschaftliche Entscheidungen durch all jene, die von einer Ressource berührt sind, ebenso unabdingbar für dauerhafte Commons wie das Monitoring durch die Nutzer selbst oder durch ihnen rechenschaftspflichtige Personen, verbunden mit angemessenen Sanktionen und einem Mindestmaß staatlicher Anerkennung des Rechts der Nutzer, ihre eigenen Regeln selbst zu bestimmen. Kurz: Es geht um das Recht auf und das Prinzip der Selbstorganisation, das große Versäumnis der klassischen Ökonomie. Der Wunsch und damit die Notwendigkeit, die eigenen Lebensverhältnisse nach möglichst transparenten, flexiblen und vor allem selbstbestimmten Vereinbarungen zu bestimmen, ist in allen Kulturen gegenwärtig. Je intensiver politische und ökonomische Strukturen als unübersichtlich, abstrakt und ‚weit weg von den realen Lebensverhältnissen‘ wahrgenommen werden, umso deutlicher bricht sich der Wunsch nach Rückgewinnung der Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen Bahn.

Selbst organisieren heißt auch selbst entscheiden. In Commons werden Entscheidungen idealerweise im Konsens gefällt. Das Konsensprinzip erfordert nicht, dass bei Abstimmungen alle „Ja“ zu sagen haben. Es drückt vielmehr aus, dass es keine Gegenstimmen geben darf und Menschen bereit sind, ihre Meinung zurück oder in einer neuen Diskussionsrunde auf den Prüfstand zu stellen. Damit verknüpft ist das Prinzip: Eine Person – eine Stimme, was die Relevanz der Bestimmung des Wir (wer gehört dazu, wer nicht?) in der Commonsdebatte verdeutlicht. Ostrom verweist in ihrem ersten Designprinzip auf diesen Aspekt. Dort zeigt sie, dass es für gelingendes Gemeingutmanagement förderlich ist, wenn die Ressourcengrenze ebenso klar definiert ist wie die Gruppe der Nutzungsberechtigten.8 Innerhalb dieser Grenzen gilt: Nicht die Anteile an verfügbarem Kapital entscheiden über die eigene Mitentscheidungsmöglichkeit, sondern einzig die Frage, ob ich auch mitentscheiden möchte. Etwa darüber, was mit den Dingen im gemeinsamen Pool geschieht, gleich ob das die Fische im Teich sind, die Informationen im Netz oder die Dukaten in der Schatztruhe der Piratenpartei. Je nach Eigenschaft der Ressource – es ist ein Unterschied, ob Wasser oder Algorithmen gemeinsam genutzt werden – sind die spezifischen Nutzungs- und Teilhaberegeln verschieden. Für globale Gemeingüter gilt prinzipiell: eine Person – ein Anteil. Egal ob jemand aus Deutschland kommt oder aus Guinea-Bissau, jeder Mensch hat die gleichen Nutzungsrechte an der Atmosphäre. Auch innerhalb lokaler oder regionaler Ressourcensysteme gilt dieses Prinzip. Bei Ressourcen, um die wir in der Nutzung nicht konkurrieren, ist es aus Sicht der Commons hingegen unnötig, den Zugriff zu begrenzen. Grundsätzlich gibt es bezüglich der Nutzungsrechte innerhalb eines Commons (und offenbar auch im politischen Denken der Piraten) einen Grundgedanken: den der Diskriminierungsfreiheit, nach der alle unabhängig vom sozialen Status oder anderen Merkmalen, die gleichen Teilhaberechte haben.

Der österreichische Autor und Commonsexperte Franz Nahrada beschreibt auch passive

6 Nutzername Stefan am 06.Oktober 2011 siehe unter:http://www.ctrl-verlust.net/das-politische-denken-der-piraten/ (Zugriff am 27.02.2012) 7 dt. Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende, Mohr-Siebeck, 1999. 8 Bei globalen Gemeingütern wie der Atmosphäre oder den globalen Fischbeständen entspricht diese Gruppe der Gesamtheit der Weltgemeinschaft.

Commons-Sommerschule 2012 61 Kompetenz9 als ein Grundmuster des Commoning, „das reflexiv das Teilen von Wissen mit »Nicht- Experten« und Außenstehenden bevorzugt [...]. Kein Commons kann ohne weit verbreitetes Wissen über seine Natur […] existieren.“ Dieses Grundmuster erklärt zum Teil die enorme Beteiligung am Wasserreferendum in Italien. 27 Millionen Menschen wissen intuitiv, dass der Umgang mit Trinkwasser nicht der gleichen Logik folgen darf wie der Umgang mit Eau de Toilette. Das führt direkt zum nächsten Prinzip, welches sich insbesondere auf jene Dinge bezieht, die überhaupt erst durch Leistungen der Gemeinschaft entstanden sind. Was öffentlich war oder öffentlich finanziert ist, muss öffentlich bleiben. Das bedeutet, dass es aus Commonsperspektive als illegitim gilt, wenn Einzelne sich aneignen (können), was eine Gemeinschaft erarbeitet, gepflegt oder finanziert hat.

Voraussetzung dafür, dass diese Prinzipien gelebt werden können sind unbedingte Transparenz. Nachvollziehen können was passiert – oder wie es die Piraten in ihrem Grundsatzprogramm formulieren - weg vom „Prinzip der Geheimhaltung“ und hin zum „Prinzip der Öffentlichkeit“ - ist entscheidend für gelingende Politik und gelingendes Commoning gleichermaßen. Entscheidender noch als Fehlerfreundlichkeit. Commoning ist kontinuierliche Bewegung, Versuch und Irrtum und permanentes Lernen aus Erfolgen und Fehlern: um herauszufinden, was funktioniert und was nicht. Dafür bedarf es der Iteration, das heißt der ständigen Wiederholung zur schrittweisen Entwicklung von programmatischen Aussagen, Verfahrensweisen oder technischen Hilfsmitteln mit Feedbackschleifen in allen Planungs-, Entwicklungs- und Anwendungsschritten.

Werden diese (und andere) Prinzipien berücksichtigt, dann ist es wahrscheinlicher, dass Ressourcen weder über- noch unternutzt werden und dass es nach dem Empfinden aller fair zugeht. Die konkreten Regeln – wer hat Zugang, wer darf nutzen, wer kontrolliert? – sind dabei (im Unterschied zu den Prinzipien) so verschieden wie die realen Lebenssituationen. Gleiches gilt für die Organisations- und Eigentumsformen. Gemein aber ist allen Commons das Fehlen einer, außenstehenden, ordnenden Autorität. Die Idee, Kontrolle zu zentralisieren (gleich, ob durch Staat oder Markt) widerspricht der Logik der Commons.

Piratenpolitik. Aus der Sicht der Commoners. Der Blick auf die Praxis

Das Handeln der Partei lässt erahnen (wenngleich nicht jederzeit und überall!), dass Commoning vielen Piraten vermutlich so vertraut ist wie den Besetzern des Teatro Valle, noch bevor man einen Blick ins Programm geworfen hat. Offene Diskussionsforen sowie Schreibwerkzeuge wie das Piratenpad und Wikis sind zentrale Instrumente der Programmformulierung. Sie stehen nicht nur Mitgliedern, sondern allen Internetnutzern zur Verfügung. Eine einfache Registrierung genügt, um Beiträge verfassen und eigene Positionen vertreten zu können. Zwar werden die Entscheidungen am Ende nur von den Parteimitgliedern gefällt, doch die Öffnung nach außen ist signifikant größer als bei anderen Parteien. Auch in der Kommunikation über Twitter und Facebook werden explizit alle zum Mitmachen eingeladen. Die Autorin Nina Pauer beschrieb in ihrem Beitrag zu dem Buch „Die Piratenpartei“ ihr Erleben dieser Mitmachmentalität: „Da bemühte sich jemand um unsere Stimme. Da sprach jemand unsere Sprache. […] Weil auch wir politisch etwas zu geben haben.“10

Diese grundsätzliche Offenheit folgt der Überzeugung, dass Schwarmintelligenz zu den besten Ergebnissen führt und daher niemand daran gehindert werden sollte, sich einzubringen. 9 Der Begriff »passive Kompetenz« kommt aus der Linguistik und bezeichnet die Fähigkeit, eine Sprache oder sprachliche Äußerungen zu verstehen, ohne (sie) notwendigerweise aktiv sprechen zu können. In unserem Kontext bedeutet passive (oder reflexive) Kompetenz, dass man versteht, was ein Experte tut, ohne notwendigerweise selbst Experte zu sein. 10 Nina Pauer in: Friederike Schilbach (Hrsg.): Die Piratenpartei, Berlin, 2011, S.167f

Commons-Sommerschule 2012 62 Ausgrenzung wäre hier – so die in der Piratenpraxis aufscheinende These – nicht nur unnötig, sondern geradezu kontraproduktiv. Weder Infrastrukturen noch Hierarchien verunmöglichen die gemeinsame Arbeit am Programm, das quasi als Gemeingut entsteht. Dazu passt, dass die Partei die einzige Deutschlands ist, die eine doppelte Parteimitgliedschaft zulässt. Mit der Software Liquid Feedback haben die Piraten 2010 begonnen, auch den innerparteilichen Entscheidungsprozess, also das Sortieren von „angeschwärmtem“ Input und das Informgießen von Politik zu “commonalisieren”. Die Software flexibilisiert und vereinfacht die (Programm-)Debatte; jeder Piratin und jedem Piraten steht es frei, darüber Anträge, Änderungsvorschläge oder anderes einzureichen. Anschließend reagieren die anderen Mitglieder, indem sie entweder die Ideen unterstützen oder Änderungen vorschlagen oder gleich eine Alternative benennen. Es gibt keine Moderation und niemand bekommt mehr Macht als andere.

Liquid Feedback fördert die Einigung nach dem Konsensprinzip sehr konkret, denn es ist technisch nicht möglich, einen Vorschlag einfach nur abzulehnen und damit zu blockieren. Entweder er wird unterstützt oder es muss ein Gegenvorschlag unterbreitet werden. Das Konsensprinzip ist gewissermaßen in die Software einprogrammiert. Stehen am Ende noch immer Vorschläge konträr zueinander, dann greift das Mehrheitsprinzip, das in anderen Parteien der Standardfall ist. Einen Mangel an Pragmatismus kann man den Piraten also gewiss nicht vorwerfen. Einen Mangel an Utopismus allerdings auch nicht. Mitentwickler der Software wie Andreas Nitsche sprechen begeistert vom immensen Potenzial der Software: Sie zeige, „dass mit Hilfe neuer technischer Mittel Demokratie heute neu erfunden werden kann.“11 Selbstredend ist die „Neuerfindung von Demokratie“ kein ingenieurstechnischer Vorgang, „Technologien [können] nicht autonom und quasi im luftleeren Raum soziale Verhältnisse formen“12, sie werden von Menschen aktiv und bewusst zu bestimmten Zwecken genutzt. Aber unabweisbar ist, dass Technologien den gesellschaftlichen Verhältnissen ihren Stempel aufprägen und Weichen stellen. Technisch betrachtet ermöglicht eine Software wie Liquid Feedback die Entkopplung der Debatten von bestimmten Orten und Zeiten. Die politische Diskussion wird auf diese Weise unabhängig(er) von realen Zusammenkünften und Bundesparteitagen. So könnte das Instrument helfen, eine der zentralen Forderungen der Commonsdebatte einzulösen: gemeinsames Handeln und Entscheiden als iterativen Prozess – wofür es mehr als der geeigneten Technologie bedarf – nicht nur in den Mittelpunkt zu stellen, sondern einfacher (das heißt nicht unbedingt „energiesparender“) zu machen. Kurz: Liquid Feedback vereinfacht die Kommunikation und verbessert gleichzeitig die Bedingungen für Commoning!

Damit einher geht die von vielen Piraten getragene Vorstellung von der Zukunft der Demokratie. Der Neuentwurf „Liquid Democracy“ siedelt irgendwo zwischen repräsentativer und direkter Demokratie. Liquid Democracy heißt: Jede und jeder bestimmt sein Stimmverhalten bei jeder anstehenden Entscheidung neu und muss sich fragen: Will ich mein Stimmrecht delegieren, da ich einer anderen Person mehr Kompetenz zurechne? Oder möchte ich selbst abstimmen? Eine ständige Bewegung zwischen Delegation und eigener Wahl ersetzt formaldemokratische Verfahren, in denen Mitsprache meist nur in Form von Stimmzettelkreuzen stattfindet. Damit verflüssigt sich auch das Delegationsverfahren, das in anderen Parteien dominiert – (eventuell bis hin zur Auflösungsgrenze von Parteien). Zwar erhebt auch das Delegationsprinzip Anspruch darauf, die Meinung der Gesamtheit abzubilden, doch dem Einzelnen wird das direkte Mitspracherecht bei Entscheidungen de facto genommen. Liquid Democracy rückt die demokratische Entscheidungsfindung und das bisherige Modell der repräsentativen Demokratie ein Stück mehr in Richtung Commoning als

11 Pressemitteilung der Berliner Piratenpartei, 03.01.2010, Piratenpartei revolutioniert parteiinternen Diskurs: interaktive Demokratie mit Liquid Feedback. 12 Josh Tenenberg: Technik und Commons, in Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung: Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Transcript 2012. S. 112 - 121

Commons-Sommerschule 2012 63 iterativen Prozess.

Und schließlich zeigt auch das Verständnis der Piraten von Infrastrukturen und Plattformen ihre Nähe zu den Commons. Dieses Verständnis ist ganz dem Netzneutralitätsgedanken verpflichtet, nach dem es nicht sein kann, dass etwa die Daten derjenigen schneller weitergeleitet werden, die über mehr Geld oder Einfluss verfügen, die Daten der anderen aber in die Warteschleife kommen. Michael Seemann spannt in der Analyse dieses Kernkonzepts der Piraten einen großen Bogen, um ihre originär-politische Essenz zu fassen: „Es ist also ganz einfach“, schreibt er, „die Piraten verstehen die öffentlichen Institutionen als Plattformen, die Teilhabe ermöglichen. Und auf jede dieser Plattformen fordern sie diskriminierungsfreien Zugang für alle, weil sie im Internet erfahren haben, dass sich nur so Wissen und Ideen – und damit auch Menschen – frei entfalten können.“13 Er bringt es auf den Punkt der Plattformneutralität. „Clever,“ so eine Antwort auf Seemanns Beitrag, “die Plattformneutralität ist der Gerechtigkeitsbegriff der Piraten.“14 Und Steffen Greschner resümiert: „fahrscheinloser ÖPNV ist die diskriminierungsfreie Beförderung von Personen, …, das bedingungslose Grundeinkommen ist eine diskriminierungsfreie Infrastruktur zur ökonomischen Teilhabe an der Gesellschaft,... und auch die Forderung der konsequenteren Trennung von Kirche und Staat ist eine Netzneutralitätsforderung“.15

Der Blick ins Programm

Was Piratenpolitik aus Commonssicht interessant macht, ist also nicht nur das Wie, sondern auch das Wohin. Zahlreiche piratige Positionen lassen sich so resümieren: Auch wenn nicht Commons draufsteht, sind Commons drin. Beim Thema Forschung ist es noch explizit, hier lautet der Kerngedanke der Piraten, dass über Steuergelder finanzierte Forschung der Öffentlichkeit erhalten bleiben muss. In der Realität hingegen werden die Ergebnisse öffentlicher Forschung häufig über exklusive Lizenzverträge für die Privatwirtschaft, über Patentierung und andere Verfahren dem Zugriff der Allgemeinheit entzogen. Die Position der Piraten zu dieser Praxis ist eindeutig. Sie fordern, „dass möglichst alle durch öffentliche Stellen erzeugten oder mit Hilfe öffentlicher Förderung entstandenen Inhalte der breiten Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht werden“. Diese Informationsfreiheit „setzt voraus, dass die dort anfallenden Informationen sofort, ungefragt, standardisiert, dauerhaft und frei verfügbar gemacht werden (Open Data). Den Bürgern als mittelbare Auftraggeber ist das Recht einzuräumen, öffentlich finanzierte Inhalte nach Belieben abzurufen, zu verwenden und weiterzugeben (Open Commons). […] Besonders im wissenschaftlichen Bereich muss die Vergabe von Fördermitteln an die freie Veröffentlichung der erlangten Erkenntnisse geknüpft werden (Open Access).“16 Das ist ein Commonsprinzip in Reinkultur: Was öffentlich war und öffentlich finanziert ist, muss öffentlich bleiben.

Was für die Wissensvermehrung gilt, die aus der öffentlichen Sphäre schöpft, findet seine Entsprechung in der Position zur Patentierung des natürlichen und kulturellen Erbes. „Wir lehnen Patente auf Lebewesen und Gene, auf Geschäftsideen und auch auf Software einhellig ab, weil sie unzumutbare und unverantwortliche Konsequenzen haben, […] weil sie gemeine Güter17 ohne

13 Michael Seemann: Das politische Denken der Piraten: http://www.ctrl-verlust.net/das-politische-denken-der-piraten/ (letzter Zugriff am 28.02.2012) Er bekam nach diesem Kristallisationsversuch viel positives F eedback von Piraten und Aspiranten . 14 Nutzer: Senficon, ebd. 15 Allesamt Forderungen, die im Grundsatzprogramm der Piraten erscheinen. Steffen Greschner: Sind die Piraten auf dem Weg zur „Commonspartei“? Siehe unter http://www.xpolitics.de/2011/11/24/sind-die-piraten-auf- dem-weg-zur-commonspartei/ (Zugriff am 28.02.2012) 16 Siehe in: Parteiprogramm Piratenpartei: Freier Zugang zu öffentlichen Inhalten: http://wiki.piratenpartei.de/Parteiprogramm (letzter Zugriff am 27.02.2012) 17 Diese Wortwahl im Piratenprogramm ist übrigens sehr gelungen. Sie aktiviert das “uns gemeine/gemeinsame“ und

Commons-Sommerschule 2012 64 Gegenleistung und ohne Not privatisieren und weil sie kein Erfindungspotential im ursprünglichen Sinne besitzen.“ Die Analyse der Piraten ist zutreffend: Hier ist „künstliche Verknappung“ von ansonsten „freien Gütern“ am Werk, die die Bausteine des Wissens und des Lebens dem gemeinen Besitz entziehen. Wogegen sich Generationen gewandt haben, die Einhegung oder die sogenannte „Enclosure“18 der Commons, ist heute im Gewand „intellektueller Eigentumsrechte“ auf neuem Terrain unterwegs. Daher tobt nicht nur bei den Piraten, sondern in der ganzen Gesellschaft die Debatte um den Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit, den Rechten der sogenannten Urheber und den (in der Regel kommerziellen) Interessen der Rechteverwerter. Die Piraten, die in dieser Auseinandersetzung die Interessen der Allgemeinheit stärken wollen, begründen ihre Position damit, dass „für die Schaffung eines Werkes in erheblichem Maße auf den öffentlichen Schatz an Schöpfungen zurückgegriffen [wird]. Die Rückführung19 von Werken in den öffentlichen Raum ist daher nicht nur berechtigt, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit der menschlichen Schöpfungsfähigkeiten von essentieller Wichtigkeit.“ Die Logik ist zwingend. Wer aus den Commons schöpft, muss zu den Commons beitragen! Diese Regel bezieht sich auf den Zugriff von außen auf die Commons der anderen.20

Dieser Analyse implizit Rechnung tragend, rücken die Piraten unter dem Stichwort “Reform des Urheberrechtschutzes” die Herstellung und Finanzierung von Musik, Software und anderen Werken in Richtung Commoning. Eine für alle tragbare Lösung ist hier noch nicht in Sicht.21 Doch das Problem wird von den Piraten zu Recht stark thematisiert, und vom Informationswissenschaftler und Commonsexperten Rainer Kuhlen ebenso zu Recht als „Stellvertreterdebatte“ bezeichnet. „Mit dem Urheberrecht werden ja stellvertretend am Beispiel Wissen und Information Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung sehr unterschiedliche Konsequenzen haben könnte. Zum Einen: ob sich Menschen und [...] Gesellschaften durch eine weitgehend freie Nutzung materieller und immaterieller Güter auf nachhaltige Weise entwickeln können. Oder zum Anderen, ob sie […] in ihren Möglichkeiten dadurch beschränkt werden, dass sich einige das als private Güter mit

drängt die sprachhistorisch spätere Bedeutung des „niederträchtigen/niedrigen“ in den Hintergrund. 18 Der Begriff (dt. Enzäunung/ Einhegung/ Einfriedung) bezeichnet in der Sozialgeschichte vor allem die Auflösung der Allmenderechte in Mittelengland, die ihren Höhepunkt zwischen 1760 und 1832 erreichte, der Prozess selbst ist aber viel älter und bezieht sich abstrakter auf die Trennung der Menschen von Ressourcen, die sie bislang gemeinschaftlich genutzt haben – gleich ob das Software oder Saatgut ist. Zur Einhegung der Wissensallmende sei der wegweisende Beitrag von James Boyle empfohlen: The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, 2003 empfohlen. Siehe unter: http://www.law.duke.edu/shell/cite.pl?66+Law+&+Contemp. +Probs.+33+%28WinterSpring+2003%29 Zugriff am 27.02.2012) 19 Der Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen kritisiert diese Formulierung auf seinem Blog und meint, dass „das Programm irrtümlich von ‚Rückführung‘ spricht, als ob die privaten Werke schon einmal im öffentlichen Raum waren.“ Blogbeitrag: Sorge um die Piratenpartei? Urheberrecht ist nur eine Stellvertreterdebatte, vom 12.11.2011 siehe unter: http://www.inf.uni-konstanz.de/netethicsblog/?p=470 (Zugriff am 27. 02.2012) Der Begriff Rückführung ist aber insofern zutreffend, als für die Schaffung jedes Werkes auf die kulturellen Leistungen ganzer Generationen zurückgegriffen wird/werden muss und Kulturechniken zum Einsatz kommen, die niemandem individuell gehören und deren sich jeder Mensch frei bedienen kann. Ähnlich wie für die Herstellung von Industrieprodukten, Wasser und Boden verbraucht (aber in der Regel nicht substituiert) werden. 20 Der Zugriff von außen auf die Commons von anderen ist nicht immer leicht identifizierbar. Im Grunde greifen wir schon darauf zu wenn wir einen Computer oder einen Flachbildschirm kaufen. Für die Verhältnisse in einem Commons (siehe oben) gilt dieses Prinzip nicht. Dort können Geben und Nehmen (z.B. in der Nutzung eines Bewässerungssystems), sie müssen aber nicht gekoppelt sein. So darf zum Beispiel jeder Mensch freie Software nutzen, auch ohne zum Programmcode beigetragen zu haben. Demgegenüber sollte jeder, der als Commons genutzte natürliche Ressourcensysteme mit dem Schlaraffenland verwechselt über kurz oder lang Probleme haben. Entscheidend ist die Fähigkeit und Möglichkeit, die Regeln zu verabreden und sich selbst zu organisieren. 21 Relativ vorsichtig ist im Parteiprogramm die Rede von einer „drastische[n] Verkürzung der Dauer von Rechtsansprüchen auf urheberrechtliche Werke“. Es finden an anderer Stelle auch Debatten um Konzepte der Kulturflatrate und die Pre-/Post-Finanzierung statt: http://wiki.piratenpartei.de/Kulturflatrate (Zugriff am 27.02.2012)

Commons-Sommerschule 2012 65 Eigentums- und Schutzanspruch aneignen, was im Grunde in der Verfügung aller sein sollte.“ Die Urheberrechtsdebatte sei, so Kuhlen, beispielhaft dafür, „wie in allen Politik-, Rechts- und Lebensbereichen die Verfügung über das, wovon alle Menschen abhängen, organisiert werden soll.“22 Wovon wir alle abhängen, das sind Wasser und Land, Saatgut und Software, Wissen und öffentlicher Raum, saubere Luft und Biodiversität, Beziehungsvielfalt, Kommunikation und vieles mehr. Wie in der Urheberrechtsdebatte hilft es in all diesen Bereichen nicht, an Stellschrauben zu drehen, solange die Grundsätze des Markt-Staat-Duopols (u.a. die Absolutheit privater Eigentumsansprüche auf Gemeinressourcen) unangetastet bleiben.

Auch deswegen trat der Streit um die Berliner Wasserverträge bei den Piraten offene Türen ein. Wenn der Staat in Kooperation mit Privatunternehmen versucht, die Bürger unter Ausnutzung eines angeblichen Informationsmonopols um ihre Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten zu bringen, dann lässt sich das nicht ein bisschen korrigieren, sondern nur grundsätzlich verändern. Hier ist bedingungslose Transparenz der machtvollste Hebel, um der verwertungsorientierten Verfügung über Trinkwasser zu begegnen und das Thema mit all seinen Problemen neu aufzurollen. Mit der Transparenz verhält es sich wie mit dem Kommentieren von Code in der Programmierung von Software: ist dem zweiten Programmierer nicht klar, welche Entscheidungen den Zeilen des ersten Programmierers vorausgehen, dann lässt dies beide mit weniger Gestaltungsmöglichkeiten zurück. Entsprechend muss den Bürgern klar sein, nach welchen Regeln das politische Betriebssystem organisiert ist und welche Ziele von wem angestrebt werden. Nur dann können sie „auf Augenhöhe“ kommunizieren und eigene Zielvorgaben machen.

Wenn Alexander Spies auf der Bühne des Teatro Valle die enormen Anstrengungen der Berlinerinnen und Berliner zur Offenlegung der Wasserverträge als Beispiel nutzt, dann verweist er auf die Notwendigkeit des freien Zugangs zu Informationen. Aus diesem Streit zogen die Berliner Piraten die Konsequenz, künftig dafür einzustehen, dass nur noch öffentliche (d.h veröffentlichte) Verträge des Landes Berlins rechtlich wirksam werden. Und damit nicht genug: der Informationszugang für die Bürger müsse außerdem „effizient, komfortabel und mit niedrigen Kosten“ ermöglicht werden, es bedürfe offener Formate und Standards („öffentliche Daten gehören den Berlinern, nicht den Archiven“) und jeder Bürger habe, „unabhängig von der Betroffenheit und ohne den Zwang der Begründung das Recht auf Akteneinsicht auf allen Ebenen“ (zitiert nach dem Grundsatzprogramm der Piratenpartei).

Die eigenen Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen, erfordert also mehr als den Ausbau der allseits beschworenen, bleischweren “Beteiligungsmaßnahmen”. Das System “Planung” und „Partizipation“ (wie aus der Durchsetzung kontroverser Baumaßnahmen bekannt) muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die Bringschuld für einfach gestaltete Partizipations- und vermehrte Selbstorganisationsmöglichkeiten liegt bei der Politik.23 Bei der Öffnung des stillgelegten Tempelhofer Flughafenfeldes zum Beispiel wurde ein kleiner Teil der Fläche “Pioniernutzern” zur Verfügung gestellt. Das dort entstandene „Allmendekontor“24 war Nährboden für unzählige Stadtgärten und andere Begegnungsprojekte. Eine in diesem Sinne verstandene Stadtplanung als Gemeinschaftsprojekt aller lässt hier völlig neue Möglichkeiten erahnen.

22 Rainer Kuhlen a.a.O. 23 Für eine so verstandene „Politik der Hilfe zur Selbstorganisation“ am Beispiel eines anderen Konzepts von Umweltpolitik argumentiert auch: Daniel Constein: Für eine commonsbasierte Umweltpolitik der Piraten. Oder: Wie politisch sind Gemeingüter?: http://commonsblog.wordpress.com/2012/01/29/fur-eine-commonsbasierte- umweltpolitik-der-piraten/#more-5465 (Zugriff am 28.02.2012) 24 Siehe unter: http://www.urbanacker.net/index.php?option=com_content&view=article&id=284:berliner-allmende- kontor-&catid=17:projekte&Itemid=3 (Zugriff am 27.02.2012)

Commons-Sommerschule 2012 66 Ein piratiges Betriebssystem zum Entern der Commons

In einem Beitrag der faz-Redakteurin Marie Katharina Wagner über Liquid Feedback klingt es beinahe abwertend, wenn die ehemalige Geschäftsführerin der Piraten, Marina Weißband, zitiert wird: „Die Piraten wollen den Bürgern kein Programm anbieten, sondern ein Betriebssystem.“25 Dabei ist gerade das eine große Chance für die Piraten, denen in schnöder Regelmäßigkeit vorgeworfen wird, sich nicht genügend um Inhalte zu bemühen. Wer die Rolle von Betriebssystemen kennt, wird unschwer erfassen, was für ein ungeheures Potential darin liegt, sich mit Liquid Feedback auf die Basissoftware (die Prinzipien demokratischer Prozesse) zu konzentrieren, statt einzig auf die Erweiterung der intellektuellen Software respektive des Parteiprogramms. Ein Betriebssystem lässt die Nutzerinnen und Nutzer bestimmte Dinge tun, während andere Dinge ausgeschlossen werden. Proprietäre Betriebssysteme, wie MacOS oder Windows, haben das Ausschlussprinzip perfektioniert. Ganz anders das freie Betriebssystem GNU/: jeder Mensch kann im Prinzip nachvollziehen, nach welchen Regeln es operiert. Nur freie Betriebssysteme ermöglichen die gesellschaftliche Kontrolle über die wichtigsten Produktionsmittel unserer Zeit – Hard- und Software! Piraten wissen das.

Die spannende Frage ist nun, welche Prinzipien in das von den Piraten angebotene Betriebssystem des Politikbetriebs eingeschrieben sind. Die Beantwortung dieser Frage markiert eine Scheidelinie. Ein Beispiel aus der Umweltpolitik macht das deutlich. Man kann beständig und mühevoll am Schornstein eines mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerks herumoptimieren, um den Schadstoffausstoß zu verringern. Oder man reduziert den Ausstoß auf Null durch den Einsatz regenerativer Energietechnologien. Man kann sich in der Verkehrspolitik für Lösungen einsetzen, die vom Grundgedanken der Förderung des Individualverkehrs ausgehen oder von dessen Reduzierung. Die Lösungen werden sehr unterschiedlich sein. „Ganz neue und vorher undenkbare Lösungsansätze“, wie sie das Grundsatzprogramm der Piraten verspricht, sind auch von der Wahl des Betriebssystems determiniert!

Die Zukunft wird zeigen, ob die (deutschen) Piraten die Prinzipien des commoning systematisch in ihrer Politik und in ihrem Tun verankern. Eine differenziertere Auseinandersetzung der Partei und des Parteiumfeldes mit dem „Betriebssystem des Freien Marktes“ wird dies allemal erfordern. Schließlich verweisen Commons im Kern auf Lösungen jenseits des Markt-Staat-Duopols. Die Chancen für eine deutlichere Hinwendung der Piraten zu den Commons stehen nicht schlecht. Einerseits bietet die offene Programmdebatte jederzeit Gelegenheit, eine Grundsatzdebatte anzustoßen. Andererseits verführt die anstehende Europawahl 2014 zu dem Gedanken, die Commons zum Kernbegriff eines europäischen Piratenprogramms zu entwickeln. Das wäre eine Innovation des Betriebssystems, die selbst den Theaterleuten im Teatro Valle imponieren würde. Warten wir ab, ob die Piraten den Schatz der Commons heben.

25 Marie K. Wagner: Der Piraten Kern. Eine Software ist das wahre Programm der Piraten – aber die Partei will sie nicht nutzen. In. Friederike Schilbach: Die Piratenpartei. Alles klar zum Entern?, Berlin 2011, S. 109.

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