Se zession

Konrad Lorenz

Autorenportrait Konrad Lorenz

Karlheinz Weißmann Weltanschauung und Politik

Thomas Bargatzky Die Natur des Menschen

Götz Kubitschek Todsünde Toleranz

Konrad Roenne Tierethik

Februar 2009 10 EURO ISSN 1611– 5910 www.sezession.de 28 Inhalt | Sezession 28 · Februar 2009

Sezession 1 Editorial Herausgegeben vom Thema Institut für Staatspolitik (IfS) 2 Autorenportrait Konrad Lorenz Unter Mitarbeit von Wolfgang Adolph Przybyszewski Dvorak-Stocker, Ellen Kositza, Götz Kubitschek (verantwortlich), 8 Verhaltensforschung und Politik Erik Lehnert und Karlheinz Karlheinz Weißmann Weißmann.

12 »Zwo Welten auf einmal« 7. Jahrgang Auf der Suche nach der Februar 2009, Heft 28 menschlichen Natur Sezession erscheint im Februar, Thomas Bargatzky April, Juni, August, Oktober und Dezember. Der Preis für das 16 Herausforderung Soziobiologie Einzelheft beträgt 10 € zzgl. Ver- Andreas Vonderach sandkosten. Wer Sezession für mehr als lesenswert hält, kann ein 20 Ernst Haeckel – zwischen Darwin Förderabonnement (75 €/sechs und Lorenz Hefte) zeichnen. Das normale Jah- Erik Lehnert resabonnement (sechs Hefte) kostet 45 €, ermäßigt 30 € (junge 24 Toleranz – Die 9. Todsünde der Leser in Ausbildung), jeweils inkl. zivilisierten Menschheit Versand. Auslandsabonnenten be- Götz Kubitschek zahlen zusätzlich 10,- € Porto im Jahr. Wird das Abonnement nicht bis Freier Teil zum 30. November gekündigt, ver- längert es sich um ein weiteres Jahr. 28 Verdammte dieser Erde – zur Problematik des Tierrechts Alle Rechte für sämtliche Artikel Konrad Roenne im Heft vorbehalten. Für Anzeigen- kunden gilt die Preisliste Nr. 8 30 Von der Natur des Schönen vom März 2008. Karlheinz Weißmann Manuskripte sind stets willkom- men und sollten für einen Kurzbei- 32 Ulfkotte gegen rechts trag 8.500, für einen Grundlagen- Christian Vollradt beitrag 14.500 Zeichen (inkl. Leer- zeichen) umfassen. 34 Philosophische Anthropologie – ein deutscher Denkansatz? Satz & Layout: Erik Lehnert [email protected] 35 Gerd-Klaus Kaltenbrunner ist siebzig Sezession Götz Kubitschek Rittergut Schnellroda 06268 Albersroda 36 Rezensionen Tel / Fax: (03 46 32) 9 09 42 48 Vermischtes [email protected] [email protected] Theorie www.sezession.de 52 Zertrümmerung – 100 Jahre Futurismus Postbank Leipzig Till Röcke BLZ 860 100 90 Kto 913 644 908 56 Begriffe ISSN 1611-5910 In der Mitte des Heftes finden Sie diesmal das Register für den Jahrgang 2008. Motiv der Titelseite: Fotomontage Informationen zu den Autoren in diesem Heft auf S. 7 Sezession 28 · Februar 2009 | Editorial

Editorial von Karlheinz Weißmann

Wer 2009, im »Darwinjahr«, von Konrad Lorenz spricht und dessen 20. To- destag zum Anlaß einer besonderen Würdigung nimmt, ist erklärungspflich- tig. Ohne Zweifel war die Leistung von Charles Darwin die bedeutendere, auch die folgenreichere. Er hat ein neues Verständnis der Natur begründet, das zwar bekämpft und ignoriert, aber in seinen Kernaussagen kaum erfolg- reich bestritten werden konnte. Die Konsequenzen waren erheblich. Auch wenn Sigmund Freud Grund hatte, Darwin für die erste große »Kränkung der menschlichen Eigenliebe« verantwortlich zu machen – bedingt durch die Einordnung des Menschen in das Tierreich –, darf man nicht verkennen, welche Faszination seine Theorie ausübte. Das gilt selbst für den kirchlichen Bereich, wo man nicht nur verbisse- nen Widerstand leistete, sondern es auch früh Versuche des Ausgleichs gab. Das gilt aber vor allem für die Interpretation von Geschichte und Gesell- schaft. Die führenden politischen Köpfe an der Wende vom 19. zum 20. Jahr- hundert waren mehr oder weniger alle »Social-Darwinisten«. Das gilt für die Linke, angefangen bei Karl Marx, der Darwin ein Widmungsexemplar des Kapitals schickte (das der offenbar nie gelesen hat), das gilt für die Libera- len, und das gilt für die Rechte, soweit sie nicht klerikal war. Dafür gab es je verschiedene Motive: Die Sozialisten glaubten vor allem, daß die Evolu- tion der Natur ihre Entsprechung im Fortschritt der Geschichte finde, die Liberalen sahen ihre Vorstellung von Marktwirtschaft gerechtfertigt durch die Lehre vom struggle for life und dem survival of the fittest, die Rechte schließlich fand in Darwins Konzept einen klaren Beweis dafür, daß Egali- tarismus unnatürlich ist, die Natur jedenfalls bloß hierarchische Organisa- tionsformen duldet. Von diesem Pluralismus möchte man heute natürlich nichts mehr wis- sen, sowenig wie von der sozialistischen Emphase für Eugenik oder der inti- men Beziehung zwischen Liberalismus, Imperialismus und Darwinismus im Europa und Nordamerika vor dem Ersten Weltkrieg. Zuletzt erscheint je- der Rekurs auf das Biologische »rechts« und das heißt heute selbstverständ- lich: Er erscheint verdächtig. Das hat auch ein Konrad Lorenz zu spüren be- kommen, wenngleich die Verleihung des Nobelpreises ein guter Schutz gegen allzu perfide Attacken war. Trotzdem wird man sagen müssen, daß seine Wirkung beziehungsweise die der von ihm begründeten Verhaltensforschung wie abgeschnitten ist. Das hat ganz wesentlich mit ihren politischen Implikationen zu tun. Man kann vielleicht Darwin so zurechtstutzen, daß er in das Weltbild des Humanitarismus paßt (das Programm der FAZ in diesem Jahr) oder ihn für persönliche wellness und Profitmaximierung nutzbar machen (das Pro- gramm des Focus), aber eine entsprechende Verharmlosung ist in bezug auf Lorenz und seine Disziplin kaum möglich. Selbstverständlich hat der große alte Mann der Ethologie auch Sätze von sich gegeben, die man pazifistisch, anarchistisch, sozialistisch oder radikal-ökologisch auffassen kann, aber es bleibt da doch zum Schluß ein unauflösbarer Rest. Das ist das Inkommen- surable an Lorenz, das rechte Kernelement: seine Annahme, daß die Aufhe- bung der natürlichen Selektion – der »grausam-bewahrenden Macht« – für den Menschen eben auch Nachteile mit sich bringt, die korrigiert werden müssen, und die Annahme, daß die Lehre von der Gleichheit aller Menschen eine Irrlehre ist. Jene wirkt um so fataler, als sie allgemein verbreitet ist und sie zu bestreiten »heute mancherorts ebenso gefährlich werden« kann »wie im Mittelalter die Behauptung, daß die Erde um die Sonne kreise und nicht diese um jene«.

Editorial 1 Thema | Sezession 28 · Februar 2009

Autorenportrait Konrad Lorenz von Adolph Przybyszewski

»Freuds Aggressionslehre und die Verhaltensforschung von Lorenz wer- den neuerdings immer häufiger für die Entwicklung einer konservativen Gesellschaftstheorie herangezogen«, konstatierte Der Spiegel im Jahr 1971 irritiert. Damals, als in der BRD der Siegeszug des Vulgärmarxis- mus durch die Institutionen anhub, hätten eigentlich »die Ergebnisse der Verhaltensforschung (Ethologie) eine gründliche Verunsicherung all jener bewirkt haben« müssen, »deren Vorstellungen sich noch immer in den überkommenen Denkschemata des 19. Jahrhunderts bewegen.« Diese Hoffnung äußerten hier nicht Konservative, sondern die jun- gen Vertreter eines akademischen »Neuen Nationalismus«: Mit den bio- Gert Waldmann: Verhal- tensforschung und ­Politik, logischen Wissenschaften sollte den auftrumpfenden Neomarxisten gesell- in: Junge Kritik 3: Euro- schaftstheoretisch der Wind aus den Segeln genommen werden. Das Ver- päischer Nationalismus ist Fortschritt, Hamburg trauen auf eine ernüchternde Wirkung der Verhaltensbiologie auf die west- 1973, S. 17-47. deutsche Linke, auf entsprechende Lernprozesse und damit auch die Auf- wertung der eigenen Position war illusorisch, was im Rückblick nicht über- rascht. Der Ansatz, sich im geteilten Deutschland gleichermaßen von einer »alten«, konservativen Rechten und einer theoretisch überholten Linken als blockfreier »neuer« Nationalismus mittels Rekurs auf jüngste naturwissen- schaftliche Erkenntnisse abzusetzen, erschien unzeitgemäß. Die politische Gesäßgeographie des 19. Jahrhunderts ist, weil herrschaftstechnisch bis- lang bewährt, in Deutschland stabil, die Linke blieb in ihrem Menschenbild einem ideologischen Behaviorismus verhaftet, sie bewegte sich geistig nicht. Dabei sind Überlegungen und Motive jener nationalistischen Intellektuellen bedenkenswert, zumal sie sich mit Konrad Lorenz eines Kronzeugen ver- sicherten, den der Spiegel (das »Sturmgeschütz der Demokratie«) damals nicht abschoß, sondern vielmehr zum »Einstein der Tierseele« adelte.

2 Przybyszewski – Lorenz Daß Lorenz 1973 zusammen mit seinen Kollegen Nikolaas Tinber- gen und Karl von Frisch der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie ver- liehen wurde, belegte die wissenschaftliche Bedeutung der Verhaltensbio- logie gleichsam amtlich. Es war keineswegs ein Mißverständnis, daß die unorthodoxen Nationalisten meinten, auf Lorenz und die Verhaltensfor- schung setzen zu können, denn der seinerzeit ungemein populäre Etho- loge selbst vertrat ohne Scheu politische Ansichten, die er mit seinen For- schungen begründete und dem zunehmend linksliberalen Zeitgeist entge- genstellte. Wenn er gegen die »pseudodemokratische Doktrin« wetterte, »daß der Mensch ein unbegrenzt modifizierbares Erzeugnis seiner Um- gebung sei«, wenn er beklagte, daß diese Doktrin »eine überragende po- litische Bedeutung erlangt« habe, liegt angesichts gegenwärtiger Debat- ten um gender mainstreaming und die Deformation des Bildungswesens sein anhaltender Provokationswert auf der Hand. »Begreiflicherweise«, so Lorenz 1971, müsse »diese Lehre allen jenen höchst willkommen sein, Konrad Lorenz: Ein Biologe widerlegt moderne in deren Interesse und Absicht es liegt, große Menschenmassen gezielt politische Schulen, in: zu manipulieren, und deshalb ist die pseudodemokratische Doktrin, von Das Tier 11 (1971), Nr. 7. amerikanischen, russischen und chinesischen Machthabern in merkwür- diger Einmütigkeit vertreten, beinahe zur Weltreligion geworden.« In Konrad Lorenz begegnet also nicht nur ein Klassiker der modernen Biolo- gie, sondern auch ein streitbarer Geist, dem es wie wenigen anderen gege- ben war, wesentliche Einsichten seiner Forschung einer breiteren Öffent- lichkeit fesselnd darzubieten. Da der Verhaltensbiologe von der Bedeu- tung seiner Wissenschaft für eine adäquate Erkenntnis der eigenen Lage durchdrungen war und er diese Lage für ernst hielt, wollte er über den El- fenbeinturm reiner Forschung hinaus wirken: Er werde deshalb langsam zum »Prediger«, schrieb er damals dem befreundeten Schriftsteller Carl Zuckmayer. Es ging ihm nicht nur um die Benennung konkreter Miß- stände, sondern stets auch um eine grundlegende Aufklärung im kanti- schen Sinn, die vor allem die Fähigkeit und den Mut fordert, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Auch deshalb wurde Lorenz einer der Väter je- ner modernen evolutionären Erkenntnistheorie, die die menschliche Ko- gnition evolutionstheoretisch zu verstehen und dabei diverse Disziplinen zu integrieren sucht. Wenn auch manche Forschungspositionen und -kon- zepte inzwischen fachwissenschaftlich überholt sind, bleibt Konrad Lo- Hanna-Maria Zippelius: Die vermessene ­Theorie. renz mit seinem geistigen Habitus, aber auch mit zentralen seiner Befunde Eine kritische Auseinan- neben Arnold Gehlen der wohl bedeutendste anthropologische Denker dersetzung mit der Instinkttheorie von jenes »realistischen« Spektrums, das man in Deutschland seit jeher eher Konrad Lorenz und »rechts« denn »links« verortet hat. ­verhaltenskundlicher Forschungspraxis, Geboren wurde Lorenz 1903 in Altenberg bei Wien, nahe dem im- Braunschweig 1992. perialen Zentrum der k.u.k. Doppelmonarchie, und ebendort, nahe der Hauptstadt der zweiten österreichischen Republik, starb er 1989. Dazwi- schen wurde Geschichte gemacht, der auch er sich nicht entziehen konnte und wollte. Als zweiter Sohn des international renommierten Arztes Adolf Lorenz, eines Pioniers der modernen chirurgischen Orthopädie, wuchs Konrad Lorenz im großbürgerlichen Wiener Milieu auf, zu dem nicht nur ein mondäner Kosmopolitismus, sondern auch eine einzigartige Verdich- tung künstlerischer wie wissenschaftlicher Intelligenz gehörte. Spielkame- rad in Kindheitstagen etwa war Karl Popper, der spätere Begründer ei- nes »kritischen Rationalismus«, mit dem er erst ein Lebensalter später als Klaus Taschwer, Benedikt Föger: Konrad Lorenz. Wissenschaftler wieder zusammentreffen sollte. Ein Studium der Medizin Biographie, Wien 2003. beendete Lorenz 1928 mit Promotion in Wien, inzwischen Hauptstadt der ersten österreichischen Republik, war dann als Assistent an einem der dortigen anatomischen Institute tätig, während er sich nebenher vor al- lem mit zoologischen Forschungen beschäftigte. Entscheidend für seine weitere Entwicklung wurde die Begegnung mit dem Ornithologen Oskar Heinroth, einem Verhaltensforscher avant la lettre, den Lorenz zeitlebens als seinen »großen Lehrer« verehrte. 1933 promovierte der Mediziner als Zoologe und habilitierte sich bald: Schon 1937 erhielt er die Venia legendi für Zoologie mit besonderer Berücksichtigung der vergleichenden Anato- mie und Tierpsychologie an der Wiener Universität. Lorenz, der sich in den 1920er Jahren auch als Motorradrennfah- rer versucht hatte, lebte jetzt ganz seiner ethologischen Forschung, die indessen auf wenig Gegenliebe stieß. Nach einem heftigen Bürgerkrieg zwischen austrofaschistischen Heimwehren auf der einen, Sozialdemo- kraten und Kommunisten auf der anderen Seite hatte sich in Österreich

Przybyszewski – Lorenz 3 ein von Mussolini unterstütztes auto- ritäres System als »Bundesstaat« an Stelle der Republik fest etabliert. Da dieser Austrofaschismus die Bemü- hungen der römisch-katholischen Kir- che um eine Rekatholisierung der Ge- sellschaft unterstützte, waren die Aus- sichten für eine Forschung, die Charles Darwin verpflichtet war, in Österreich nicht allzu rosig. Im nationalsozialisti- schen Deutschen Reich dagegen schien man biologischen Forschungen offen- kundig aufgeschlossen, wenn auch zum Teil aus ideologischen Mißver- ständnissen heraus. Als der Kleinstaat 1938 durch Hitler mit dem Reich fu- sioniert wurde, in der Folge mancher jüdische und politisch nicht konforme Kollege entlassen wurde, versuchte Konrad Lorenz sogleich, die für ihn und seine Forschungsrichtung gün- stige neue Konstellation bedenkenlos und zielstrebig zu nutzen. Schon seine Pläne in Wien, aber auch alle späteren Unternehmungen zeigen einen stets »sehr ehrgeizigen, ebenso anpassungs- bereiten, politisch eher naiven, wissen- schaftspolitisch aber geschickt agie- renden Forscher«. So bemühte er sich nach dem »Anschluß« schnell um Auf- nahme in die NSDAP und eine entspre- chende rhetorische Aufrüstung seiner Forschungspräsentation. Daß er sich dabei als »Deutschdenkenden« be- zeichnete und den österreichischen Klerikalfaschismus verdammte, war gewiß nicht karriere- und antragstechnischen Erwägungen, sondern kon- kreten historischen Erfahrungen geschuldet, also ernst gemeint. Den im Friedensvertrag von St. Germain ausdrücklich verbotenen Zusammen- schluß Deutschösterreichs, wie es anfangs hieß, mit dem Reich hatte die Mehrzahl gewollt; bekanntlich war dies, bis 1933, ein Anliegen gerade Christian Tilitzki: der österreichischen Sozialdemokratie gewesen. Auch an eine gewisse Die deutsche Universitäts- philosophie in der wissenschaftsfreundliche Modernität des nationalen Sozialismus wird Weimarer Republik Lorenz wie weltweit viele Naturwissenschaftler tatsächlich geglaubt ha- und im Dritten Reich, 2002. ben. Jedenfalls sicherten ihm seine Studien über die Haus- und Wild- gänse schnell einen exzellenten wissenschaftlichen Ruf: Aufsätze wie die schon 1935 im Journal für Ornithologie publizierte Studie Der Kum- pan in der Umwelt des Vogels oder die 1937 in den Folia Biotheoretica erschienene Abhandlung Über den Begriff der Instinkthandlung sollten Stefan Kühl: Die Interna- Marksteine der neuen Verhaltensbiologie bilden. Die Gründung des er- tionale der Rassisten. Auf- stieg und Niedergang der sten ethologischen Fachorgans, der Zeitschrift für Tierpsychologie, mit internationalen Bewegung seinem Kollegen und Förderer Otto Koehler zusammen bewies organisa- für Eugenik und Rassenhy- giene im 20. Jahrhundert, torische Rührigkeit und sorgte für eine gute Vernetzung in Fachkreisen. Frankfurt a.M./New York So erhielt er 1940 einen Ruf an die philosophische Fakultät der Königs- 1997. berger Albertina, auf Betreiben unter anderem Otto Koehlers, aber auch Arnold Gehlens, dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl Immanuel Kants er de jure nun wurde. Schon ein Jahr später, nach Beginn des deutschen Angriffs auf Stalins Sowjetunion, wurde Konrad Lorenz gezogen und als Heerespsychiater eingesetzt, bis er 1944 an die Ostfront kam und bei Witebsk verwundet für vier Jahre in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Nach seiner Ent- lassung kehrte er ins heimatliche Altenberg zurück, wo er 1949 sein erstes ethologisches Institut gründete. Bemühungen um eine Professur in Öster- reich scheiterten, doch nahm Tinbergen von Oxford aus Verbindung auf, während die Max-Planck-Gesellschaft ihm eigens eine Forschungsstelle für Vergleichende Verhaltensforschung im westfälischen Buldern einrich- tete. 1953 folgte eine Honorarprofessur an der Universität Münster, 1957 dasselbe in München; ein Jahr später übernahm er mit Erich von Holst

4 Przybyszewski – Lorenz zusammen als dessen Stellvertreter das neue Max-Planck-Institut für Ver- haltensphysiologie im oberbayerischen Seewiesen, das er schließlich von 1961 an bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1973 leitete. Wissenschaftshistorisch war eine wesentliche Leistung von Lorenz, daß er die Tierbeobachtungen zeitgenössischer Zoologen weiter- und zu- sammengeführt hatte. Dabei entwickelte er eine physiologische Instinkt- theorie, die es ihm ermöglichte, das Verhalten unterschiedlicher Tierarten zu vergleichen und daraufhin zu befragen, ob und welche Verhaltenswei- sen auf angeborenen, also vererblichen Dispositionen beruhten. Lorenz übertrug damit einen in der vergleichenden Anatomie geläufigen Zugriff auf den »psychologischen« Bereich. Gegen die seinerzeit dominierende Annahme, die komplexen Verhaltensabläufe der Tiere wären reizgesteu- ert, also rein reaktiv etwa an Umwelteinflüssen ausgerichtet, kam Lorenz zum Ergebnis, daß es angeborene Verhaltensweisen gab, die dem einzel- nen Tier schon vor dem ersten Gebrauch komplett ausgebildet zur Ver- fügung standen. Solche Verhaltenssequenzen werden nach Lorenz durch spezifische, in der Wahrnehmungsfähigkeit genetisch verankerte Schlüs- selreize ausgelöst und über nervöse Schaltungen zu sinnvollen Abläufen mit funktionalem Abschluß koordiniert. Mit diesen Theoremen verband sich sein später gern belächeltes, inzwischen überholtes Denkmodell einer Triebhydraulik, nach dem eine spontan produzierte Triebenergie so lange zunimmt, bis sie durch einen per Schlüsselreiz ausgelösten Handlungs- ablauf abgebaut wird, sobald eine spezifische Reizschwelle überschritten ist. Lorenz war sich freilich stets des Modellcharakters und der Hypo- thetik solcher Konzepte bewußt; sein Denkhabitus entsprach ganz dem Pragmatismus des Kindheitsfreundes Popper, für den Hypothesen – so- fern fruchtbar – so lange galten, bis sie theoretisch oder empirisch »falsifi- ziert«, dann aber auch leidenschaftslos preiszugeben waren. Im Vergleich exakter Verhaltensprotokolle verwandter und unterschiedlicher Tierarten wollte Lorenz nun belegen, daß nicht nur körperliche Eigenschaften Er- gebnisse stammesgeschichtlicher Prozesse sind, sondern analog auch die angeborenen Verhaltensweisen, die er stets auf ihre Funktion, ihre kon- kreten evolutionären Anpassungsleistungen befragte. Dies führte den Biologen schnell zu philosophischen Fragen und zur Auseinandersetzung mit einschlägigen Abschnitten von Kants Kritik der reinen Vernunft. Darin hatte er Raum, Zeit und Kausalität als Anschau- ungs- und Denkweisen gefaßt, die vor aller Erfahrung – a priori – im Menschen gegeben seien und diese allererst ermöglichten. Noch in Kö- nigsberg begann Lorenz 1941 mit der Abhandlung über »Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie« einen eigenen erkenntnis- theoretischen Ansatz zu entwickeln, den er in seinem »Russischen Ma- nuskript« während der Kriegsgefangenschaft fortführte. Ausgangspunkt war wieder die Annahme, daß der stammesgeschichtlich ausgeformten Anatomie und ihren Körperfunktionen bei allen Lebewesen angeborene Dispositionen entsprechen mußten, die individuelle Lernleistungen über- haupt ermöglichten. Demzufolge ist auch das Hirn erst in äonenlanger Wechselwirkung mit den Umgebungen zu jenem komplexesten menschli- chen Organ geworden, das die von Kant analysierten Denkprozesse zu- ließ. Für Lorenz wurde damit der »apriorische Apparat« Kants zu einem per Selektion optimal an die entsprechende Umwelt angepaßten stammes- geschichtlichen »a posteriori«. 1973 veröffentlichte er in dem Buch Die Rückseite des Spiegels eine von diesen frühen Überlegungen ausgehende evolutionäre Erkennt- nistheorie und philosophische Anthropologie, die sich auch für neuere Bernhard Irrgang: Lehr- buch der evolutionären Ansätze offen zeigte, damit selbst anschluß- und ausbaufähig blieb. In Erkenntnistheorie. Thesen, Anlehnung an die Ontologie des heute nur noch Spezialisten bekann- Konzeptionen und Kritik, ten Philosophen Nicolai Hartmann postulierte Konrad Lorenz die »Ein- München 2001. heit der realen Welt« als evolutionär entstandenes, in sich geschichtetes System. Die »Schichtenfolge« Hartmanns, der »das Anorganische, das Organische, das Seelische und das Geistige« unterschied, stimme, so die Pointe von Lorenz, »schlicht und einfach mit der Reihenfolge ihrer erd- geschichtlichen Entstehung überein«. Die naturgeschichtlichen Sprünge zwischen diesen Schichten führte Lorenz systemtheoretisch auf Kombi- nationseffekte zurück, die er als »Fulgurationen«, als blitzartige Neubil- dungen, bezeichnete: Wenn sich zwei Systeme mit ihren spezifischen Ei- genschaften zu einem neuen zusammenschließen, kann dieses plötzlich

Przybyszewski – Lorenz 5 Eigenschaften aufweisen, die sich aus den ursprünglich einzeln gegebe- nen nicht ableiten lassen, wobei deren Systemeigenschaften unverändert und modifiziert weiterwirken können. So vereint auch der Mensch als komplexes System und Folge diverser Fulgurationen die Eigenschaften der naturgeschichtlich früheren Schichten, im Kognitionsapparat ebenso wie in den stammesgeschichtlich selektierten Verhaltensdispositionen: Bibliographie (Auswahl): »Von Natur ein Kulturwesen« (Eibl-Eibesfeldt), ist er der Reflexion und Er redete mit dem Vieh, symbolischen Kommunikation, der Selbst- und Fremdsteuerung in höch- den Vögeln und den ­Fischen, Wien 1949. ster Abstraktion fähig, doch west in ihm eben auch das territoriale »Thier Mensch« (Nietzsche), dessen »Aggressionstrieb«, so Lorenz in Das so- So kam der Mensch auf genannte Böse (1963), ihm einst das Überleben in feindlicher Umwelt den Hund, Wien 1950. sicherte, heute aber unter Zivilisationsbedingungen primär schadet. In Das sogenannte Böse. Zur seiner Philippika Die acht Todsünden der Menschheit (1973) bewertete Naturgeschichte der Konrad Lorenz neuere kulturell erzeugte Effekte wie Überbevölkerung, Aggression, Wien 1963. Umweltschäden, Massenvernichtung von Mensch und Tier, die Zerstö- rung indigener Kulturen, den drohenden Rückfall hinter die europäische Der Vogelflug, Pfullingen 1965. Aufklärung und die Schrumpfung von Leistungseliten generell als nega- tive Folgen einer »positiven Rückkoppelung« evolutionär ursprünglich Die acht Todsünden der erfolgreicher Dispositionen. Angesichts dessen forderte er um so dring- zivilisierten Menschheit, München 1973. licher »eine auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sich aufbauende Selbsterkenntnis der Kulturmenschheit«. Bereits 1972 hatte er daher Die Rückseite des Spiegels. als Sprecher einer »Gruppe Ökologie«, der neben anderen sein Schüler Versuch einer Naturge- schichte des menschlichen Irenäus Eibl-Eibesfeldt und der bekannte Zoologe Bernhard Grzimek an- Erkennens, München 1973. gehörten, ein »Ökologisches Manifest« veröffentlicht, das lokale Fragen mit globalen Zusammenhängen wie der Überbevölkerung verband. So Über tierisches und menschliches ­Verhalten. wurde er zu einer – auch aktiven – Symbolfigur der grünen Bewegung in Aus dem Werdegang Österreich: Hier darf man von Lorenz tatsächlich als einem Konservati- der Verhaltenslehre. ­Gesammelte Abhandlungen ven sprechen, dem es um die Bewahrung unersetzlicher natürlicher und (2 Bde), München 1974. kultureller Bestände ging. Die Kritik der egalitaristischen Linken wiederum entzündete sich an Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal seiner Überzeugung, daß »auch im sozialen Verhalten des Menschen In- des Menschen, hrsg. von stinkthaftes enthalten sei, das durch kulturelle Einwirkungen nicht ver- Irenäus Eibl-Eibesfeldt, München 1978. ändert werden kann«. Zudem hielt er lebenslang daran fest, daß es eine gruppenspezifische Erhaltungs- und Fortpflanzungslogik gebe, das Prin- Vergleichende Verhal- zip der »Arterhaltung«, womit auch altruistische Verhaltensweisen plau- tensforschung. Grund- lagen der Ethologie, sibel werden sollten. Fachwissenschaftlich wurde dieser frühe evoluti- Wien/Neu York 1978. onsbiologische Ansatz schon zu seinen Lebzeiten entkräftet: etwa durch Richard Dawkins The selfish gene (1976) und das Konzept der Verwand- Der Abbau des ­Menschlichen, München tenselektion, das auch Altruismus zu erklären vermag. 1983. Obschon sich Lorenz etwa in seiner Kritik an der »Verhaustierung« als zivilisatorischer Dekadenzerscheinung immer korrekt auf die ganze Hier bin ich – wo bist Du? Ethologie der Graugans, Menschheit als zu erhaltende Art bezog, stellten ihn ehrenamtliche Ge- München/Zürich 1988. dankenpolizisten gern in einschlägige »Kontinuitäten«. Unter Verzicht auf jede historische Diskursanalyse, die ihren Namen verdiente, ope- Die Naturwissen- schaft vom Menschen. riert man dabei gern mit einschlägigem Reizvokabular der Eugenik, das Eine Einführung in die aus Lorenz’ frühen Texten exzerpiert und mit Passagen späterer Arbei- ­vergleichende Verhaltens- forschung. Das Russische ten verglichen wird. Eugenische Überlegungen sind zwar durch die mo- Manuskript 1944–1948. derne Gentechnik unter der Hand längst wieder »Gemeingut« geworden, Aus dem Nachlaß hrsg. v. Agnes von Cranach, was aber deswegen kaum skandalisiert wird, weil deren Begriffe längst München 1992. nicht mehr naiv-martialisch wie einst klingen. Gerade deshalb ist hier darauf hinzuweisen, daß sich Lorenz geistig seinerzeit keineswegs in ei- nem spezifisch nationalsozialistischen Kontext bewegte. Eher stand er in der Tradition sozialdemokratischen Fortschrittsglaubens: Im Kampf ge- gen »Lumpenproletariat« und »Lumpenbourgeoisie« zielte dieser darauf, zum Heil der Menschheit die Fortpflanzung genetisch Belasteter zu un- terbinden – bis hin zur »Unfruchtbarmachung der geistig Minderwerti- gen«. Nach den USA waren es damals ja gerade die sozialdemokratischen Länder Skandinaviens gewesen, die als erste überhaupt eugenische Ge- Michael Schwartz: setze und (Zwangs-)Sterilisation eingeführt und umgesetzt hatten. Die ­Sozialistische Eugenik. ­Eugenische Sozialtechno- gelegentlichen Versuche, die Humanethologie in historische Sippenhaft logien in Debatten und zu nehmen, haben damit nach allem also teil an jener von Lorenz be- ­Politik der deutschen Sozi- aldemokratie 1890–1933, nannten siebten »Todsünde«, der Indoktrinierbarkeit; sie offenbaren zu- Bonn 1995. dem aber auch die Notwendigkeit, das abgebrochene Projekt der europä- ischen Aufklärung genau hier, mit der Ethologie und den aus ihr erwach- senen neueren Forschungszweigen der Verhaltensökologie und Soziobio- logie, wieder aufzunehmen.

6 Przybyszewski – Lorenz Sezession 28 · Februar 2009 | Autoren

Autoren dieses Heftes

Thomas Bargatzky, 1946, studierte Ethnologie, Soziologie, Philosophie und Altamerikanistik und ist promoviert als Ethnologe. 1988 Habilitation in München. Seit 1990 Professor für Ethnologie an der Universität Bayreuth. Letzte Buchveröffentlichung: Mythos, Weg und Welthaus. Erfahrungsreligion als Kultus und Alltag, Münster 2007

Ellen Kositza, 1973, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, freie Publizistin. 2008 Gerhard-Löwenthal-Preis. Letzte Buchveröffentlichung: Gender ohne Ende. Was vom Manne übrigblieb, Schnellroda 2008

Götz Kubitschek, 1970, studierte Germanistik, Geographie und Philosophie. Seit 2002 selbständiger Verleger (Edition Antaios). Letzte Buchveröffentlichung: Provokation, Schnellroda 2007

Dr. Erik Lehnert, 1975, studierte Philosophie, Geschichte sowie Ur- und Frühgeschichte, promoviert in Philosophie. Letzte Buchveröffentlichung: Die Existenz als Grenze des Wissens. Grundzüge einer Kritik der Philosophischen Anthropologie bei Karl Jaspers, Würzburg 2006

Prof. Dr. Adolph Przybyszewski, 1945, Privatier und freier Publizist, lebt in Warschau und Berlin.

Till Röcke, 1981, studiert neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Germanistische Linguistik und Philosophie.

Konrad Roenne, 1979, studierte Linguistik und Bibliothekswissenschaft, Veröffentlichung von Essays und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien. 2003 Merkur-Essaypreis, 2005 Litarena-Literaturpreis, St. Pölten, 2007 Preis der Sezession.

Dr. Stefan Scheil, 1963, Studium der Geschichte und Philosophie, promoviert als Historiker. Letzte Buchveröffentlichungen: Revisionismus und Demokratie, Schnellroda 2008 Churchill, Hitler und der Antisemitismus. Die deutsche Diktatur, ihre politischen Gegner und die europäische Krise der Jahre 1938/39, Berlin 2008

Christian Vollradt, 1973, Studium der Geschichte und Evangelischen Theologie, freier Autor.

Andreas Vonderach, 1964, studierte Geschichte, Anthropologie, Geographie und Politikwissenschaft. Letzte Buchveröffentlichung: Anthropologie Europas. Völker, Typen und Gene vom Neandertaler bis zur Gegenwart, Graz 2008

Dr. Karlheinz Weißmann, 1959, studierte Geschichte und Evangelische Theologie und ist promoviert als Historiker. Letzte Buchveröffentlichungen: Deutsche Zeichen. Symbole des Reiches – Symbole der Nation, Schnellroda 2007 Das konservative Minimum, Schnellroda 2007 Das Hakenkreuz. Symbol eines Jahrhunderts, Schnellroda 2006

Autorenverzeichnis 7 Thema | Sezession 28 · Februar 2009

Verhaltensforschung und Politik von Karlheinz Weißmann

Wer in den siebziger Jahren ein westdeutsches Gymnasium besuchte, erinnert sich noch an die Schärfe der politischen Diskussionen im Unter- richt. Ob Deutsch oder Gemeinschaftskunde, Religion oder Geschichte, es ging immer ums Prinzipielle: die Überlegenheit oder Unterlegenheit der DDR im »Systemvergleich«, Recht oder Unrecht des RAF-Terrors, der »Berufsverbote« für Kommunisten, der militärischen Verteidigung, des Kapitalismus oder des Leistungssports. Man lebte in ideologisch gelade- ner Atmosphäre, und die Auseinandersetzungen wurden mit Vehemenz geführt, weil die Beteiligten überzeugt waren, daß es sich um Existenzfra- gen handele, eigentlich um die Entscheidung zwischen Gut und Böse. Ein Grund für die Intensität der Meinungskämpfe war auch die Stärke der gegnerischen Lager, der Linken einerseits, die in Folge von 68 Auftrieb erhalten hatte, der Bürgerlichen andererseits, die aus immer noch gefe- stigten Positionen fochten. Keine der beiden Parteien verließ sich nur auf die Mannstärke, es ging immer auch um argumentative Zurüstung, und damals – im Gegensatz zu heute – glaubten die Bürgerlichen an die Bedeu- tung von Weltanschauung und daran, einen Vorsprung auf diesem Feld zu haben. Der »Sukkurs aus der Wissenschaft« () spielte eine wichtige Rolle, die ätzende Kritik von Soziologen wie Arnold Geh- len, Helmut Schelsky, Helmut Schoeck oder Ernst Topitsch und Staats- rechtlern wie Ernst Forsthoff an den utopischen Erwartungen der Linken etwa, die kaum etwas übrigließ von der Hoffnung auf allgemeine Eman- zipation, Selbstbestimmung, freie Liebe und humanitären Sozialismus, samt Landkommunen und selbstverwalteten Industriebetrieben. Zu den Vorgaben dieses »neokonservativen« Denkens gehörte eine skeptische Anthropologie, die aus der Tradition hinreichend zu begrün-

8 Weißmann – Verhaltensforschung den war, aber – im Falle Gehlens etwa – auch auf neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften zurückgriff. Die boten vor allem im Hinblick auf die Intelligenz- und die Verhaltensforschung Argumente, die die Linke, die sich soviel auf ihre Rationalität und ihre Aufgeklärtheit zugute hielt, in Bedrängnis bringen mußten. In Deutschland hat man zwar die For- schungen des Amerikaners Arthur Jensen zu Leistungs- und IQ-Unter- schieden schwarzer und weißer Schulkinder nur zurückhaltend aufgenom- men, aber das Buch von Hans J. Eysenck mit dem programmatischen Titel Die Ungleichheit der Menschen entwickelte sich zum Bestseller, obwohl oder gerade weil man hier eine radikale Antithese zum neuen Egalitaris- mus fand. Ähnliches galt für die Arbeiten des Außenseiters Robert Ard- rey, der mit seinen allgemeinverständlichen Darstellungen zu den natür- lichen Ursachen von Territorialität, Kollektivität und Aggressivität des Robert Ardrey: Der Gesell- Menschen ganz entscheidend zur Popularisierung verhaltensbiologischer schaftsvertrag. Das Natur- gesetz von der ­Ungleichheit Erkenntnisse beigetragen hat. der Menschen, zuletzt Die Vorstellung, daß die Menschen wesentlich ungleich sind und München 1974. wesentlich durch das Unverfügbare – ihr biologisches Erbe – bestimmt werden, mußte einer »rechten« Position nützen. Die Richtung der Rezep- tion war allerdings nicht von vornherein festgelegt. Als Der Spiegel im Dezember 1965 eine Titelausgabe »Verhaltensforschung: Der Mensch und seine Instinkte« brachte, hatte das jedenfalls eher mit dem Geist des Positivismus und der Modernität zu tun, mit dem Bemühen, religiöse Vorbehalte gegenüber dem Tierischen im Menschen abzuschleifen oder der Lächerlichkeit preiszugeben. Im Kern ging es um die Behauptung, daß homo sapiens nachhaltig durch instinktive oder instinktartige Ver- haltensweisen determiniert sei, daß es insofern keinen qualitativen Unter- schied zum Tier gebe und die Vorstellung von einem »Geistwesen«, das sich mit Hilfe seines »freien Willens« von allen naturhaften Bindungen emanzipieren könne, obwohl in der abendländischen Tradition so tief verankert, als abwegig betrachtet werden müsse. Man wies auch auf das Streben der Verhaltensforschung nach einer Synthese hin, die ein neues Menschenbild schaffen und dem Politiker umfassende Systemsteuerung ermöglichen sollte, so daß er »… mit seinen gegnerischen Berufskollegen in gleichsam stillschweigender Übereinkunft diese agile, schwelende und explosive Masse Mensch planmäßig lenkt; der hier ableitet, dort befrie- digt, vielleicht sogar kleine Kriege und Revolutionen in Gang setzt oder duldet, um große zu verhindern« (Erich von Holst). Derartige Gedankenspiele entsprachen dem kybernetischen Zeitgeist der sechziger Jahre und hatten kaum mit konkreter Parteinahme zu tun. Die Politisierung der Verhaltensforschung kam auch nicht auf direktem, sondern auf indirektem Weg zustande, als eine Art Reaktion auf den Wandel der gesellschaftlichen Leitideen. Der Vorgang ist an den Stel- lungnahmen des Gründervaters der Ethologie, Konrad Lorenz, besonders deutlich ablesbar. Lorenz hatte sich zwar niemals nur an die Fachwelt gewandt, sondern mit Büchern wie Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen (1949) und So kam der Mensch auf den Hund (1950) und schließlich Das sogenannte Böse (1963) ein breites Publikum ange- sprochen. Aber die meisten seiner Aussagen waren unverfänglich. Das änderte sich drastisch nach Erscheinen seines »Hauptwerks«, das 1973 mit dem Titel Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens herauskam, und der Veröffentlichung einer scharfen Polemik, die Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit behandelte. Lorenz Rede von der »Domestikation« des Menschen wirkte ebenso aufreizend wie seine These, daß die moderne Industriegesellschaft eine »Involution« durchlaufe, das heißt nicht dem Gesetz des »Fortschritts«, sondern dem des »Verfalls«, auch und gerade des genetischen Verfalls, unterliege, da der Mensch ein zivilisatorisches Niveau erreicht habe, das den Druck der Selektion vollständig ausschalte. Als eigentliche Gefahr betrachtete die linke Intelligenz aber die Schaffung eines theoretischen Ansatzes, der als wissenschaftliche Basis der Gegenrevolution dienen konnte. Denn wenn die Grundannahmen der Ethologie zutrafen und akzeptiert wurden, standen alle Paradigmen, die man gerade durchgesetzt hatte, in Frage: die Idee, daß der Mensch als »weißes Blatt« auf die Welt komme, weshalb alle Menschen gleich seien, jedenfalls keine natürliche Verschiedenheit nach Geschlechtern oder Rassen bestehe, die Annahme

Weißmann – Verhaltensforschung 9 einer durchgängigen Vernunftbegabung und allmächtigen Sozialisierung, die im besten Fall zur Schaffung eines »neuen Menschen« in einer neuen, sozialistischen Gesellschaft führen werde, und die These, daß die eigene, die »zweite Aufklärung« einen Monopolanspruch auf Rationalität erhe- ben konnte. Umgekehrt hoffte die intellektuelle Rechte, daß die »Einsicht in die Invarianten und in die konstitutiven Depravationsgefahren der menschli- chen Natur, von der Lorenz’ Kultur- und Gesellschaftskritik ausgeht, … die Chance« eröffnete, »ein realistisch-anthropologisches Entfremdungs- theorem zu formulieren: Zwischen der Scylla der Sanktionierung eines jeden, beliebigen, politischen, sozialen, kulturellen Status quo unter Beru- fung auf vorgebliche ›Naturkonstanten‹ … und der Charybdis einer empi- risch nicht ausgewiesenen utopistisch-essentialistischen ›Entfremdungs‹- Heinrich Meier: Konrad Theorie hindurch, kann aus den anthropologisch-ethologischen Befun- Lorenz, in: Caspar von Schrenck-Notzing (Hrsg.): den eine Konzeption erarbeitet werden, die sich an historisch realisierten Konservative Köpfe, Mün- und ontogenetisch realisierbaren optimalen Möglichkeiten der mensch- chen 1978, S. 141-156. lichen Natur orientiert und deren Verlust, Verschüttung, Verfehlung in der Gegenwart als Entfremdung zu erfassen und darzustellen vermag.« (Heinrich Meier) Angesichts dieser Lage war es kein Zufall, daß die Verstrickung von Lorenz in den Nationalsozialismus erst nachträglich gegen ihn und die Verhaltensforschung ins Feld geführt wurde. In erster Linie ging es um die politische Bedeutung der Ethologie, deren »große Popularität« man als das entscheidende Problem betrachtete, die »Wissenschaftsgläubig- keit« der unkritischen Masse im allgemeinen und die Methode des »Tier- vergleichs« (Wolfgang Schmidbauer) im besonderen. Diese Frontstellung ergab sich zwangsläufig, weil die herrschenden intellektuellen Moden – der Marxismus, die Psychoanalyse, der Strukturalismus – in dem Punkt zusammenliefen, daß sie die naturhafte Seite des Menschen, eigentlich die Möglichkeit einer Anthropologie überhaupt, bestritten, sofern diese von Invarianten ausgeht. Denn wenn »Anthropologie … daran festhält, Jürgen Habermas: Art. gewissermaßen ›ontologisch‹ zu verfahren, nämlich nur das Wiederkeh- »Anthropologie«, in: rende, das Immergleiche, das Zugrundeliegende an Mensch und Men- Fischer Lexikon Philoso- phie, Frankfurt a. M. 1958, schenwerk zum Gegenstand zu machen, wird sie unkritisch und führt S. 18-35. am Ende gar zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen« (Jürgen Habermas), will sagen: politischen Konsequenzen, die der Linken nicht recht sein konnten. Die Linke hat sich letztlich – trotz der dürftigen und fehlerhaften Begründung ihrer Position – durchgesetzt, was ein kluger Beobachter der Entwicklung, Dieter E. Zimmer, schlicht auf die Attraktivität ihres »sozio- psycho-kulturpolitischen Gemeinverständnisses« zurückführte. Die Ein- schätzung war umso bemerkenswerter, als sich Zimmer ursprünglich selbst der Linken zurechnete, bevor er als Wissenschaftsjournalist über Dieter E. Zimmer: Unsere die »erste Natur« des Menschen zu arbeiten begann. Dabei wurde ihm erste Natur. Die biologi- schen Ursprünge mensch- klar, daß die Vorwürfe gegen die »Biologisten« oder »Nativisten« nicht lichen Verhaltens, zuletzt nur fehlende Sachkenntnis prägte, sondern auch ein kalkuliertes Miß- Frankfurt a. M. 1982. verstehen dahinterstand. Zimmer schrieb zwischen 1978 und 1982 eine Reihe großer »Dossiers« für die Zeit, in denen er mit allen Lieblingsvor- stellungen der linken Intelligenz abrechnete: der Idee prinzipieller Gleich- heit der Geschlechter, der Milieutheorie, der Möglichkeit die Menschheit zu pazifizieren oder sie in einem sozialistischen Weltstaat zusammenzu- führen, der Tragfähigkeit der Psychoanalyse oder den Verheißungen anti- autoritärer Pädagogik. Bedenkt man den Erscheinungsort der »Dossiers«, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Zeit Zimmer als eine Art Hofnar- ren betrachtete, der ungestraft Wahrheiten aussprechen durfte, die man ansonsten verbarg oder leugnete. Als er zu Beginn der achtziger Jahre zunehmend unter politischen Druck geriet und der Faschismus-Vorwurf schärfer formuliert wurde, versuchte er noch für eine Weile an der Vor- stellung festzuhalten, daß man den Gegner einfach besser informieren müsse. Sollte sich die Linke, so Zimmer in Verteidigung eigener Sache, Irenäus ­Eibl-Eibesfeldt: den neuen Erkenntnissen über die Biologie des Menschen verschließen, Krieg und Frieden aus der werde sie letztlich »ins Abseits geraten. Sie wird einfach nicht mehr rea- Sicht der Verhaltensfor- schung, zuletzt München litätsfähig sein.« Daß diese Erwartung trog, hatte mit Zimmers gutem 1997. Glauben zu tun, daß die Linke guten Glaubens sei. Es spricht aber mehr für die gegenteilige Annahme oder doch dafür, daß die Linke ihr Selbst-

10 Weißmann – Verhaltensforschung verständnis als »Menschenformer« (Otto Koenig) nicht beschä- digen wollte durch die Annahme biologischer Prädispositio- nen und sich dabei der Unterstützung all jener sicher war, die aus anderen Motiven auf die modernen Sozialtechnologien zur Steuerung der Gesellschaft setzten. Das erklärt, warum das »Anthropologieverbot« (Odo Marquard) im Laufe der achtziger Jahre etabliert und mit immer neuen Sanktionsdrohungen versehen werden konnte, die bis heute wirken und jede sachgerechte Auseinanderset- zung um die Natur des Menschen verhindern. Das erklärt auch, warum der Versuch eines Horst Stern, die Ökologie- Debatte um Argumente aus der Verhaltensforschung zu ergänzen, ohne Resonanz blieb, und warum Eibl-Eibesfeldt im Zusammenhang mit der Diskussion um die »multikul- turelle Gesellschaft« noch einmal gehört, aber dann kon- sequent ignoriert wurde, gerade weil der Hinweis auf die Natürlichkeit von Xenophobie oder die Probleme der »Pfer- chungsdichte« jede Duldung von Masseneinwanderung als unentschuldbaren Leichtsinn entlarvte. Und das erklärt weiter, warum es in Deutschland keine ernstzunehmende Beschäftigung mit der bell curve gegeben hat (die das Ende der Debatte über Erbe oder Umwelteinfluß bei der Intelligenz hätte bedeuten können) und schließlich, warum die Bücher eines Frank Salter (der politische Schlüsselfragen aus etholo- gischer Sicht analysiert) hier keinen Verlag finden. Dem widerspricht auf den ersten Blick, daß ein gewis- ser Naturalismus längst Platz gegriffen hat: Wir haben uns an die Idee gewöhnt, daß unser Erbgut Gesundheit, Lebens- dauer und Todesart bestimmt und daß man die Gefahr »genetischer Diskriminierung« im Blick behalten muß, oder daß jede Frau ihre persönliche Biopolitik treiben darf, wenn es um die Abtreibung ihres ungeborenen Kindes geht. Bezugspunkt hat aber stets die Menschheit in toto oder der einzelne zu sein, soweit es um die biologische Dimen- sion unserer sozialen Existenz geht, ist ein wirksames Tabu errichtet. Daher auch die Entspanntheit, mit der man hier- zulande auf die Soziobiologie reagiert hat, die ohne Zweifel wesentlich naturalistischer argumentiert als die Verhaltens- forschung, aber wegen ihrer Fixierung auf die Individuen (»das egoistische Gen«) einerseits und die Spezies anderer- seits, unter Ausschaltung der Zwischengrößen (»Arterhal- tung«) und wegen ihrer neodarwinistischen Tendenz unge- fährlich erschien, bestenfalls geeignet, den Kapitalismus zu rechtfertigen, aber ohne problematische, weil konservative Tendenz der Argumentation. Die ist der Verhaltensforschung inhärent. In einem Inter- view, das er 1974 gegeben hat, nahm Lorenz ausdrücklich und positiv auf die »Weltoffenheit« und not- wendige Orientierung des Menschen an der Kultur Bezug. Er konstatierte nicht nur ausdrücklich die Übereinstim- mung mit Gehlen (der oft fälschlich als sein Antipode genannt wird), sondern betonte auch die Fragilität der Kul- tur, die unter dem Druck von Selektionsprozessen wesent- lich schlechter standhalte als die naturhaften Größen. Da aber nur die Kultur die »Unsterblichkeit des Geistes« ver- bürge, müsse man die Gegenwart pessimistisch betrach- ten, weil die »Neophilie« – die Sucht nach dem Neuen – alles beherrsche: »Damit das genetische Erbe weitergegeben wird, bedarf es einer gewissen Rigidität des Genoms. Gibt es in einer Rezeption der Art zu viele Mutationen, führt das zur Entstehung von Monstren. Gibt ­Verhaltensforschung: oben ­Spiegel-Ausgabe es nicht genügend Mutationen, erhält man lebende Fossilien, wie etwa … (1965), Mitte Ausgabe von das Iguanodon. Das ist dasselbe im Fall der Kultur. Wie auf dem Gebiet Nouvelle Ecole (1974) und unten Ausgabe der Genetik gibt es eine Wechselwirkung zwischen den erhaltenden Fak- von Natur (1984) toren, der Unveränderbarkeit, und den verändernden Faktoren. In jeder Kultur hängt die Lebensfähigkeit vom Gleichgewicht zwischen diesen beiden Arten von Faktoren ab …«

Weißmann – Verhaltensforschung 11 Thema | Sezession 28 · Februar 2009

»Zwo Welten auf einmal« Auf der Suche nach der menschlichen Natur von Thomas Bargatzky

Was ist der Mensch? Johann Gottfried Herder hält eine schöne Antwort auf diese Frage bereit: Der Mensch sei der »Mittelring zwischen zwei in- einandergreifenden Systemen der Schöpfung«. Er schließt die Kette der »Erdorganisation als ihr höchstes und letztes Glied«; mit ihm beginnt aber zugleich »die Kette einer höhern Gattung von Geschöpfen«, deren niedrigstes Glied er ist. »Als Tier dienet er der Erde und hangt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich«. Der Mensch »stellet also zwo Welten auf einmal dar, und das macht die anscheinende Duplizität seines Wesens«. Es ist kein Zufall, daß Herder gerade im Schatten der heraufziehen- den Französischen Revolution versuchte, dem zwischen Tier und Engel stehenden Geschöpf einen festen Platz in der Ordnung der Dinge zuzuwei- sen. In Krisenzeiten hat die Frage nach dem Wesen des Menschen Kon- junktur. 1945, im Jahr des Endes der Verheerungen des Zweiten Welt- kriegs, veröffentlichte der amerikanische Ethnologe George Peter Mur- dock einen Aufsatz, in dem er 73 transkulturelle Universalien aufzählt, über die seiner Meinung nach jedwede Kultur verfügt. Man hielt gleich- sam nach Fixpunkten Ausschau, an denen das Bild vom Menschen neu ju- stiert werden konnte. George Peter Murdock: The Common Denominator of Heute liegt zwar keine mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbare zivi- Cultures, in: Ralph Linton lisatorische Katastrophe hinter uns, aber innerhalb von nur knapp zwan- (Hrsg.): Man in the World Crisis, New York 1945, zig Jahren mußten gleich zwei Großideologien Bankrott erklären: zuerst S. 123-142. der Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung, dann im Jahre 2008 der »Casino-Kapitalismus« – der »Kapitalismus als Religion«, wie ihn Walter Benjamin fast prophetisch 1921 vorausgesagt hatte. Auch in der Gegenwart ist daher von neuem der Wunsch nach Orientierung zu ver- spüren. Die Frage nach der menschlichen Natur gewinnt an Aktualität. Welche sozialen und politischen Ordnungen sind dem Menschen gemäß, welche nicht? Plausible Antworten auf diese Grundfragen tun not, gerade

12 Bargatzky – Auf der Suche angesichts einer »Zivilreligion« der political correctness cum Multikultu- ralismus und der Radikalemanzipation von der Natur in der Gestalt des gender mainstreaming, die sich als ideologisches Korrelat im Gefolge des globalisierten Casino-Kapitalismus ausgebreitet hat und uns tagtäglich in Presse, Rundfunk und Fernsehen gepredigt wird. Erstmals in der Ge- schichte der Menschheit rückt die Verwirklichung der Horrorvisionen Al- dous Huxleys (Brave New World) in den Bereich des Machbaren: die Er- schaffung des »Neuen Menschen« durch Indoktrinierung und durch Ma- nipulation des Genmaterials. Die These, dem Menschen komme ein bestimmtes Wesen zu, durch- zieht die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen in der Antike bis heute. Schon zu den Zeiten der Stoa wurde ihr jedoch widersprochen. Die frühneuzeitlichen Vertragstheoretiker und Empiristen (John Locke, David Hume) gaben dem Widerspruch schließlich sein modernes begriff- liches Gewand: Die menschliche Seele sei wie ein unbeschriebenes Blatt (tabula rasa), das nur im Nachhinein durch die Erfahrung gleichsam be- schrieben werde. Im Streit um behavioristisch-milieutheoretische Positio- nen wurde die Auseinandersetzung um die Frage nach der Natur des Men- schen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Mit der Ent- deckung des bedingten Reflexes ergab sich für die Verhaltenswissenschaf- ten die Möglichkeit, nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften Verhaltensexperimente an Mensch und Tier durchzuführen. Man hoffte, auf diese Weise zu einer Erklärung des menschlichen Verhaltens in seiner Gesamtheit zu gelangen. In den USA entwickelte sich auf dieser Grund- lage der Behaviorismus, dessen Vertreter voller Optimismus glaubten, alle Probleme des menschlichen Zusammenlebens durch Erziehung lösen zu können. Diesen Optimismus teilten sie übrigens mit den Ideologen des So- wjetkommunismus. Dirk Baecker (Hrsg.): Kapi- talismus als Religion, Schon dieser kurze ideengeschichtliche Überblick macht deutlich, daß Berlin 2003. die Frage nach der menschlichen Natur, wie alle die menschliche Existenz berührenden Grundfragen, nicht mit empirisch-wissenschaftlichen Mit- teln alleine zu lösen ist. Dies zeigte auch die Murdock-Liste, die im Grunde nicht mehr ist als ein Sammelsurium höchst unterschiedlicher Dinge. Sie stellt beispielsweise komplexe Institutionen und Glaubenssysteme (Eigen- tumsregeln, Arbeitsteilung, »government«, Mythologie, Magie, religiöse Rituale) auf die gleiche Ebene wie das Kochen und das Entwöhnen von Kleinkindern. Nur aus der philosophischen oder ideologischen Spekula- tion heraus kann man jedoch auch kein wirklichkeitsgerechtes Bild vom Menschen gewinnen, sondern nur ein Zerrbild. Die Verhaltensforschung (Ethologie), um die sich Konrad Lorenz so verdient gemacht hat, die auf Lorenz’ Werk aufbauende Humanethologie als Erforschung der Biologie des menschlichen Verhaltens, sowie die Eth- nologie als kulturvergleichende Wissenschaft halten eine Reihe von Er- gebnissen bereit, die uns in der Gesamtschau einen Weg zur Klärung der Frage nach der menschlichen Natur weisen und den dogmatischen Spiel- arten des behavioristischen Ansatzes widersprechen. Der Mensch ist eben nicht durch erzieherische Einflüsse beliebig formbar. Diese fundamentale Erkenntnis wird in der Gegenwart leider ignoriert, denn wieder einmal sind wir – in der Gestalt der Lehren des gender mainstreaming – mit einer totalitären Variante der Doktrin von der grenzenlosen Formbarkeit des Menschen im Sinne vorgegebener ideologischer Ziele konfrontiert. Umso gebotener ist es, uns die Tatsache ins Gedächtnis zu rufen, daß mensch- liches Verhalten in Teilbereichen eben auch durch stammesgeschichtliche Anpassungen beeinflußt ist. Die Resultate der entsprechenden ethnologischen und humanetholo- gischen Forschungen ergeben einen Befund, der sich in Form von vier Axi- omen dingfest machen läßt: 1. die biotische Einheit aller Menschen, 2. die psychische Einheit aller Menschen, 3. die erkenntnistheoretische Einheit aller Menschen, 4. die Kulturgeprägtheit des menschlichen Verhaltens. Thomas Bargatzky: Ethno- logie. Eine Einführung in die Wissenschaft von den Der Mensch ist die einzige Spezies, die auf allen Kontinenten und in urproduktiven Gesellschaf- allen Klimazonen verbreitet ist. Biologisch gesehen gehören alle Menschen ten, Hamburg 1997. der Jetztzeit der Art Homo sapiens sapiens an. Aufgrund der nahen Ver- wandtschaft von Mensch und Menschenaffen trifft man auf viele ana-

Bargatzky – Auf der Suche 13 tomische, physiologische und verhaltensmäßige Gemeinsamkeiten. Um nur einige zu nennen: Begrüßungsverhalten (Kuß, Ausstrecken der Hand), Drohmimik (Entblößen der Eckzähne), Territorialität, mimischer Aus- druck von Furcht, Wut, Lachen, Weinen; Rangordnungsverhalten, Rolle der Mutter-Kind-Beziehung, Klammerreflex des Säuglings. Die Humanethologie erforscht die universellen Grundlagen hinter den zahllosen Varianten menschlichen Verhaltens. Ihre Ergebnisse stüt- zen die These der psychischen Einheit der Menschheit. Wut, Haß, Angst, Ekel, Trauer, Überraschung, Freude, Liebe, Eifersucht, Neid, Scham sind ohne Zweifel menschliche Grundemotionen. Die einzelnen Kulturen un- terscheiden sich durch die Art und Weise voneinander, in der sie den Aus- druck und das Ausleben dieser Emotionen erlauben, verbieten und for- men. Denn menschliches Verhalten tritt uns niemals in reiner, »kultur- freier« Form gegenüber – es ist stets kulturgeprägt. Um einfache Bei- spiele zu geben: Trauer ist zwar eine menschliche Grundemotion, aber die Farbe, in der ihr Ausdruck gegeben wird, ist je nach dem kulturellen Mi- lieu Schwarz oder Weiß. Die Territorialität ist des weiteren eine stammes- geschichtlich ererbte Disposition des menschlichen Verhaltens, sie findet aber ihre jeweils spezifische kulturelle Ausprägung erst unter den akuten sozialen, geistigen und wirtschaftlichen Bedingungen. Anglo-protestanti- sche US-Amerikaner und Araber sowie Menschen aus romanischen Län- dern haben bekanntlich unterschiedliche Vorstellungen vom richtigen Ab- stand zwischen Personen, so daß der Amerikaner sich beim Gespräch von seinem Gegenüber immer wieder ein wenig entfernt, worauf der andere stets etwas nachrückt. Die von der Ethnologie ermittelte und beschriebene große Vielfalt der kulturellen Phänomene unterstreicht ferner, daß das Axiom der erkennt- nistheoretischen Einheit der Menschheit eine Grundvoraussetzung verglei- chender Kulturforschung ist. Aus diesem Axiom folgt die These von den sich überlappenden Inhalten verschiedener Denk- und Verhaltensmuster: Wären nämlich die Denkmuster in unterschiedlichen Kulturen tatsächlich völlig verschieden voneinander, so könnte man diese Unterschiede nicht einmal artikulieren, geschweige denn in unsere Vorstellungswelt »über- setzen« und erklären. Hanna-Barbara Die Kultur legt die Ziele fest, nach denen die Menschen streben sol- Gerl-Falkovitz: Die zweite Schöpfung der len und baut dabei auf biotisch vorgegebenen Verhaltensmustern auf, die Welt. ­Sprache, Erkennt- sie aber zugleich formt. Alles stammesgeschichtlich Ererbte ist beim Men- nis, ­Anthropologie in der ­Renaissance, Mainz 1994. schen nicht direkt faßbar, sondern kann nur in seiner je spezifischen kul- turellen Prägung dingfest gemacht werden. Daher kann der Mensch aus der Sicht der Biologie als physiologisch frühgeborene, unspezialisierte Art von extremer Anpassungsfähigkeit bezeichnet werden, die sich in natür- lichen Umwelten unterschiedlichster Ausprägung gleichsam einzuhausen vermag. Als Primat besitzt der Mensch ein stammesgeschichtliches Erbe – mit einem Bein steht er in diesem Sinne im Bereich der Natur. Zugleich lebt er aber in einer »Zweiten Schöpfung«, einer Welt der Symbole, Be- deutungen, Sinnstiftungen, Wertvorstellungen und technisch-materiellen Hilfsmittel. Durch Werte, Normen und Institutionen wird das Handeln ausgelöst und gelenkt; die als Handlungspotentiale vorhandenen Antriebe erhalten somit eine kulturgeprägte Richtung. Dies meint Arnold Gehlen mit seiner trefflichen Formel, der Mensch sei »von Natur Kulturwesen«. Im Verlauf seiner Einhausung in je besondere natürliche Umwelten entfaltete sich der Mensch als Schöpfer einer »Zweiten Welt« als darstel- lendes Wesen. Wie andere Primaten ist ja auch der Mensch zur analogen Kommunikation fähig, bringt diese Fähigkeit aber auf spezifisch mensch- liche Weise darstellend zur Anschauung. Der Mensch ist aber nicht nur zur analogen Kommunikation in der Lage, sondern darüber hinaus auch zur digitalen, also zur logisch-diskursiven Darstellung in Wissenschaft und Philosophie. Diese Gabe macht den Menschen zu einem Wesen, das sich selbst definieren kann, das zur Selbstreflexion und damit zur Selbst- distanzierung fähig ist. Arnold Gehlen: ­Urmensch Soweit trägt uns der empirische Befund. Einer Antwort auf die Frage und Spätkultur. ­Philosophische Ergebnisse nach der Natur des Menschen nähern wir uns jedoch erst durch seine rich- und Aussagen (5. Auflage), tige Deutung. Dazu müssen wir auf philosophische Kategorien zurück- Wiesbaden 1986. greifen, die zwar aus dem Befund nicht ableitbar sind, ihm aber Sinn ver- leihen. Wie gewinnen wir die angemessenen Kategorien? Wenn wir fest- stellen, daß in einem bestimmten Gesichtspunkt, der für unser Problem

14 Bargatzky – Auf der Suche von fundamentaler Bedeutung ist, zumindest zum Teil eine Konvergenz von ansonsten völlig verschieden gearteten philosophischen Systemen be- steht, können wir nicht ganz falsch liegen. In unserem Fall handelt es sich um die Handlungen des Menschen als Ausdruck einer besonderen Fähig- keit, für die es im tierischen Leben kein Gegenstück gibt: das Vermögen der Produktion. Karl Marx hat das Wesen der Arbeit auf den Punkt gebracht: »Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließ- lich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen man- chen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechte- sten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeits- prozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war«. An ande- rer Stelle hat Marx noch deutlicher gemacht, worin die Form der Arbeit besteht, die »dem Menschen ausschließlich angehört« und in der er sich die Natur aneignet. Es ist die Produktion: »Alle Produktion ist Aneignung der Natur von seiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer be- stimmten Gesellschaftsform«. Menschliche Arbeit setzt also immer schon Gesellschaft voraus. Ari- Georg Picht: Kunst und stoteles’ berühmte Formel vom Menschen als zoon politikon, eines We- Mythos, Stuttgart 1986. sens also, das gleichsam »von Natur aus« auf Gemeinschaft und Gemein- schaftsbildung hin angelegt ist, wird um die wichtige Bestimmung des Produktionsvermögens als Teil der menschlichen Natur erweitert. Lassen wir nun Marx hinter uns und verfolgen die Bedeutung des Wortes »Pro- duktion« bis zu seinen antiken Wurzeln zurück. Dazu begeben wir uns in die Gedankenwelt des evangelischen Philosophen Georg Picht. Eine über- raschende Entdeckung steht uns bevor: Das allgemeine Wesen der Dar- stellung heißt griechisch poiesis; das lateinische Wort dafür ist productio. Der Mensch ahmt nach, was die physis ihm vormacht. »Physis« ist hier mehr als »Natur« im modernen Wortverständnis – die neuzeitliche Natur- wissenschaft hat ihren Naturbegriff geradezu als Gegensatz zum griechi- schen Physis-Begriff entwickelt. Anders als »Natur« steht »Physis« für all das Materielle und Immaterielle, was hervortritt, wächst, sich zeigt und auch wieder vergeht. Der Mensch, als Wesen in der Physis, teilt mit dieser das Schöpferische, das Vermögen der Produktion. Daher kann er in Form, Farbe, Klang, Wort, Schrift, aber auch in seinen sozialen und politischen Verhältnissen hervorbringen, was zuvor nicht vorhanden ist! Auf der Grundlage von Pichts Darstellung enthüllt sich also die Reinhart Maurer: Zum ­Begriff Kultur, in: ­Reinhard wahre Tragweite des Produktionsbegriffs für unser Verständnis von der Löw (Hrsg.): OIKEIO- Natur des Menschen als eines Wesens in der Physis, das aber dennoch SIS. Festschrift für Robert Spae­mann, S. 171-187, keine Art wie jede andere ist, da es sich als »Kulturwesen von Natur aus« Weinheim 1987. mit Notwendigkeit in einer »Zweiten Schöpfung« aus eigener Kraft be- wegt, die aber doch an die Natur zurückgebunden ist. Natur, schreibt der Philosoph Reinhart Maurer, heißt nämlich anthropologisch, daß auch am Menschen nicht alles plastisch, veränderbar, manipulierbar, kurz: mach- bar ist. Aus diesem Grund ist eine kulturelle Radikalemanzipation aus der Natur »zwar kurzzeitig und partiell möglich, aber auch so nur um den Preis einer Devitalisierung und schließlich des Untergangs, da der irdisch lebendige Menschengeist … gekoppelt ist an natürliche Lebendigkeit«. Für den Gläubigen ist freilich die Natur auch Gottes Schöpfung. Die Befreiungsidee als Grundnenner der neuzeitlichen Geistigkeit, schreibt Jo- seph Ratzinger, hat sich heute mit der feministischen Ideologie verschmol- zen. Dabei geht es nicht etwa nur um die Befreiung aus gesellschaftlichen Rollenzwängen, sondern letztlich um eine Befreiung von der biologischen Bedingtheit des Menschen. »Dahinter steckt ein Aufruhr des Menschen gegen die Grenzen, die er als biologisches Wesen in sich selber trägt. Es handelt sich letztlich um einen Aufstand gegen unsere Geschöpflichkeit. Der Mensch soll sein eigener Schöpfer sein – eine moderne Neuauflage des uralten Versuchs, selber Gott – wie Gott – zu sein«. Es bleibt jedem unbenommen, den Menschen an die Natur oder auch an einen Schöpfer hinter ihr rückzubinden. Die Behauptung, es gebe keine menschliche Natur, ist jedenfalls nicht nur sachlich falsch, sie leistet im Prinzip auch der Rechfertigung einer totalitären Fremdbestimmung des Menschen Vorschub.

Bargatzky – Auf der Suche 15 Thema | Sezession 28 · Februar 2009

Herausforderung Soziobiologie von Andreas Vonderach

Noch zu Lebzeiten von Konrad Lorenz wurde die Verhaltensforschung, wie er sie betrieben hatte, durch eine neue, spektakuläre Theorie heraus- gefordert, die Soziobiologie. Die grenzt sich bewußt von der klassischen Verhaltensforschung ab und stellt zentrale Annahmen von Konrad Lorenz in Frage. Die Soziobiologie besteht in der konsequenten Anwendung des Dar- winschen Modells der Evolution auf das Sozialverhalten von Tieren und Menschen. Ihre Ursprünge liegen in den sechziger Jahren in Großbritan- nien und den USA. Den Durchbruch bedeutete das 1975 erschienene Buch Sociobiology: The New Synthesis, des an der renommierten Harvard Uni- versität lehrenden Ameisenspezialisten Edward O. Wilson (geb. 1929). Die Soziobiologie hat seitdem weltweit Anerkennung gefunden und sich an zahlreichen Universitäten als Forschungsrichtung mit eigenen Lehrstüh- len etabliert, ist aber auch nach wie vor sehr umstritten. Das gilt insbe- sondere für die Humansoziobiologie, das heißt für die Untersuchung der Frage, inwieweit die Modelle der Soziobiologie auch für die Erklärung des menschlichen Verhaltens herangezogen werden können. Die Soziobiologie geht von folgenden Grundannahmen aus: 1. Die Eckart Voland: Grundriß Angehörigen einer Population pflanzen sich mit unterschiedlich großer der Soziobiologie, zuletzt Heidelberg 2000. Nachkommenschaft fort, 2. die Individuen unterscheiden sich in ihrer gene- tischen Ausstattung, 3. das Verhalten der Individuen ist zumindest teil- weise genetisch beeinflußt, und schließlich 4. die für die Fortpflanzung notwendigen Ressourcen sind nur begrenzt vorhanden. Solche Ressour- cen sind zum Beispiel Nahrung, Brutplätze, Geschlechtspartner, elterliche Fürsorge und soziale Unterstützung durch andere. Aus diesen Vorausset- zungen resultiert die Konkurrenz unter den Mitgliedern einer Population: Einige Individuen vermögen aufgrund ihrer Eigenschaften die Ressourcen für sich besser zu erschließen und in Fortpflanzungserfolg, im soziobiolo-

16 Vonderach – Soziobiologie gischen Jargon Fitneß genannt, umzusetzen als andere. Das Ergebnis ist, daß Gene, die ihre Träger besser für die Konkurrenz ausgestattet haben, in der Population zunehmen. Dieser Vorgang wird in der Evolutionsbio- logie »Anpassung«, und sein Ergebnis »Angepaßtheit« genannt. Unsere heutigen Eigenschaften sind nach die- ser Auffassung das Ergebnis von Optimierungsprozes- sen in der Vergangenheit, in denen sie sich reproduktiv durchsetzen konnten. Das zentrale Paradigma der Soziobiologie ist das von der »Genzentriertheit« der Selektion. Die Selektion setzt zwar am Phänotyp der Individuen an, die eigent- liche Ebene der biologischen Anpassungsvorgänge ist aber das Gen, nicht das Individuum und auch nicht die Population oder die Art. Nur in den Genen ist die stam- mesgeschichtliche Erfahrung generationenübergreifend gespeichert. Allerdings sind die Gene der Soziobiolo- gie weitgehend hypothetisch. Es dürfte sich auch weni- ger um einzelne DNS-Sequenzen, als vielmehr um das Zusammenspiel mehrerer Gene handeln, die das Ver- halten beeinflussen. Diese »Gene« sind die tendenziell unsterblichen »Replikatoren«, die sich unendlich oft reproduzieren können, während die Individuen, also auch wir, nur ihre zeitweiligen Vehikel sind, die den Zweck haben, ein optimales Medium zur Replikation der Gene zu sein. Die Macht des Glaubens: Karfreitagsprozession in Nicht um das Wohlergehen der Individuen geht es in der Evolution, son- Spanien, 1965 dern um das Überleben der Gene. Das Verhalten von Tieren und Menschen läßt sich nach der Vorstel- lung der Soziobiologie auf zwei unterschiedlichen Ebenen erklären. Auf der »ultimaten«, letztlich ausschlaggebenden Ebene, ist immer die »Fit- neßmaximierung« das Ziel, das heißt das Überleben und die maximale Verbreitung der eigenen Gene. Sie erklärt, wieso ein Verhalten evoluieren konnte beziehungsweise welchen Fitneßvorteil es hatte und gegebenenfalls immer noch hat. Das heißt, das unbewußte Generalziel des tierischen und menschlichen Verhaltens ist immer die Maximierung der Gesamtfitneß. Die andere, »proximate« Ebene, das sind die physiologischen Regelme- chanismen, wie die Auslösemechanismen für ein Balzverhalten oder die Hormone, die die Bedürfnisse steuern, etwa nach Nahrung, Zuwendung oder Sex. Beim Menschen gehören zur proximaten Ebene auch die gesell- schaftlichen Normen und das kulturelle Milieu, Sozialisationserfahrun- gen, ökonomischen Interessen und überhaupt alle bewußten Vorstellun- gen und Handlungsmotive. Im Mittelpunkt der soziobiologischen Theorie steht das Konzept der Verwandtenselektion. Ausgangspunkt war das Problem des Altruis- mus. Wie kann man es erklären, wenn zum Beispiel ein Tier durch sei- nen Warnruf seine Artgenossen vor einem gefährlichen Räuber warnt, wodurch die sich in Sicherheit bringen können, es aber dessen Aufmerk- samkeit dadurch auf sich selbst zieht? Die Soziobiologie erklärt solchen phänotypischen Altruismus mit dem Konzept der Verwandtenselektion: Die beinhaltet, daß sich altruistisches Verhalten dann genetisch behaup- ten kann, wenn der Altruist durch sein Verhalten die Reproduktionschan- cen seiner Blutsverwandten erhöht. Voraussetzung ist, daß die sogenannte Hamilton-Ungleichung erfüllt ist: K < r x N. Die Kosten (K) für den Altru- isten müssen geringer sein als der Nutzen (N), den der oder die Nutznie- ßer des altruistischen Verhaltens haben, gewichtet mit dessen beziehungs- weise deren Verwandtschaft zu dem Altruisten. Der Grad der Verwandtschaft wird durch den Verwandtschaftskoef- David S. Wilson: Darwin’s fizienten r( ) ausgedrückt. Der ist ein Maß für die gemeinsamen Gene, die Cathedral – Evolution, Religion, and the Nature of zwei Individuen haben, bezogen auf die Variabilität einer Population (die Society, Chicago 2002. etwa 99 Prozent der Gene, die alle Menschen gemeinsam haben, interes- sieren hierfür nicht). Ein Individuum hat zu sich selbst einen Verwandt- schaftskoeffizienten von 1 und zwei nicht verwandte Menschen einen von 0. Eltern und Kinder bzw. Geschwister haben die Hälfte ihrer Gene gemeinsam (r = 0,5), Großeltern und Enkel und Onkel und Neffen 25 Prozent (r = 0,25) und Großeltern und Urenkel und Vettern 12,5 Prozent (r = 0,125). So kommt zu der direkten Fortpflanzung eines Individuums

Vonderach – Soziobiologie 17 (direkte Fitneß) noch der indirekte Fortpflanzungserfolg durch seine Ver- wandten (indirekte Fitneß) hinzu. Erst beides zusammen bildet den wirk- lichen Fortpflanzungserfolg eines Individuums, die »Gesamtfitneß«. Pla- kativ gesprochen besagt die Hamilton-Ungleichung, daß es sich genetisch »lohnt«, sich selbst zu opfern (K = 1), um zum Beispiel drei seiner Kinder (N = 3 x 0,5) oder fünf seiner Neffen (N = 5 x 0,25) zu retten. Michael Blume: Neben diesem nepotistischen Altruismus gibt es auch noch den Altru- ­Entstehungsgeschichte der ismus auf Gegenseitigkeit, den reziproken Altruismus. Bei diesem unter- Religion – Glauben stärkt Kooperation und Repro- stützen sich nichtverwandte Individuen, wenn sie davon ausgehen kön- duktion, in: Mitteilungen nen, daß der andere sich bei Gelegenheit erkenntlich zeigen wird. Ange- der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethno- borene Verhaltensmuster sorgen dafür, daß das Verhalten der anderen logie und Urgeschichte 29 Gruppenmitglieder beobachtet und »Betrüger« gemieden werden. Aller- (2008), S. 21-38. dings zeigen Untersuchungen, daß auch hierbei die gegenseitige Unter- stützung umso wahrscheinlicher ist, je enger Geber und Nehmer mitein- ander verwandt sind. Es ist den Soziobiologen mit ihren Modellrechnungen gelungen, Ver- haltensweisen zu erklären, denen die klassische Verhaltensforschung mit Unverständnis gegenüberstand. Dazu gehört zum Beispiel die Tötung von Artgenossen, etwa der Kinder von Rivalen oder von Gruppenfremden. Auch der soziale Wettbewerb steht demnach im Dienste der Fitneßma- ximierung. Alpha-Tiere und Männchen, die ihre Konkurrenten im Wett- kampf besiegen, haben bevorzugten Zugang zu den Weibchen und geben ihre Gene überproportional an die nächste Generation weiter. Dieses Prin- zip stellt sicher, daß sich nur die Gene der gesündesten und stärksten Indi- viduen replizieren. Den gleichen Zusammenhang gibt es auch in tradi- tionellen menschlichen Gesellschaften. Untersuchungen zeigen, daß in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften und in bäuerlichen Gesellschaften wie in Europa bis ins 19. Jahrhundert der soziale und wirtschaftliche Erfolg positiv mit der Zahl der Nachkommen korreliert war. Auch in unserer modernen Gesellschaft besteht noch ein deutlicher Zusammenhang zwi- schen sozialökonomischem Status und sexuellem Erfolg, der sich aller- dings nicht mehr in Reproduktionserfolg umsetzt. Die Soziobiologen grenzten sich deutlich von der klassischen Verhal- tensforschung, wie sie Konrad Lorenz vertrat, ab. Nicht ganz zu Unrecht warfen sie ihr vor, in einem »naturalistischen Fehlschluß« aus der Natur Werte abzuleiten und dem in der modernen Zivilisation degenerierten Menschen quasi die Tiere als die besseren Menschen vorzuhalten. Der andere Konfliktpunkt war die Frage der Ebene, auf der die Selektion statt- findet. Die Verhaltensforschung hatte die Evolution von gruppendienli- chen Verhaltensweisen auf die Idee des Artwohls zurückgeführt. Dies zeige zum Beispiel die Schonung von Gegnern in Kommentkämpfen. Die Tötung von Artgenossen wurde als pathologische Erscheinung gewertet, die unter Domestikationsbedingungen auftrete und in der Natur rasch ausgemerzt würde. Es handelte sich gewissermaßen um ein »naives« Kon- zept der Gruppenselektion. »Naiv« deshalb, weil man darauf verzichtete, das Funktionieren der Gruppenselektion anhand von mathematischen Modellen nachzuprüfen. Da die Soziobiologen von Anfang an in dem Ver- Frank Salter: dacht standen, eine biologistische und rechte Ideologie zu vertreten, war ­Misunderstandings of Kin für sie besonders in Deutschland die Abgrenzung von der als konservativ Selection with Reference to the Immortality of Values geltenden Verhaltensforschung ein wichtiges Argument bei der akademi- and the Delay in Quan- schen Etablierung des Faches. tifying Ethnic Kinship,in: The Mankind Quarterly So galt das Konzept der Gruppenselektion seit den siebziger Jahren 48 (2008), S. 311-344 (mit als wissenschaftlich obsolet. In letzter Zeit mehren sich jedoch die Stim- einem Anhang von Henry Harpending). men, die für ein modifiziertes, auf populationsgenetischen Modellen beru- hendes Konzept der Gruppenselektion eintreten. An führender Stelle ist hier der amerikanische Evolutionsbiologe David Sloan Wilson (geb. 1949) zu nennen. Flankenschutz erhält er dabei ausgerechnet von dem Grün- dervater der Soziobiologie, Edward O. Wilson. Tatsächlich gibt es viele Beispiele für gruppendienliches, »ethnozentrisches« Verhalten bei Men- schen und Tieren. Allerdings ist es kaum möglich, das Funktionieren eines solchen Verhaltens im Sinne eines genetischen Vorteils für die Gruppen- mitglieder mathematisch zu belegen. Danach setzt es extreme Bedingun- gen, insbesondere sehr hohe extinction rates, das heißt die häufige Auslö- schung ganzer Gruppen, voraus. Zwar ist offensichtlich, daß Gruppen mit gruppendienlichem Verhalten einen Konkurrenzvorteil gegenüber ande- ren Gruppen haben. Zugleich sind solche Gruppen aber auch sehr anfällig

18 Vonderach – Soziobiologie für die Zersetzung durch »Trittbrettfahrer«, die sich dadurch einen gene- tischen Vorteil innerhalb der Gruppe verschaffen, daß sie das altruistische Verhalten nur vortäuschen. David S. Wilson zeigt nun, daß das Konzept der Gruppenselektion vor allem dann funktioniert, wenn es um kulturelle Faktoren ergänzt wird. Einen solchen Faktor sieht er in ethnozentrischen Ideologien, vor allem aber in der Religion. Um den Zustrom von Tritt- brettfahrern einzudämmen, ist eine starke soziale Normenkontrolle not- wendig. Indem sie einen unsichtbaren »strafenden Beobachter« installiert, gelingt der Religion eine wesentlich effizientere Normendurchsetzung und eine Erhöhung des Kooperationsniveaus innerhalb der Gruppe. Je größer eine Population ist und je geringer die Verwandtschaft ihrer Mitglieder, desto notwendiger ist eine starke Normenkontrolle. Gruppen, denen es gelingt, sich vor der inneren Zersetzung zu schützen, haben einen evoluti- Konrad Lorenz: ­Vergleichende Verhaltens- ven Vorteil vor anderen Gruppen und können sich entsprechend ausbrei- forschung. Grundlagen der ten. Die großen monotheistischen Religionen scheinen diesbezüglich effi- Ethologie, Wien 1978. zienter als die polytheistischen Systeme und die Naturreligionen zu sein und haben sich entsprechend erfolgreich ausgebreitet. Bei großen, mehr kulturell als genealogisch definierten Gruppen, kommt demnach zuneh- mend die Gruppenselektion zum Tragen. Übrigens hat auch Konrad Lorenz die Bedeutung der Kultur für die Gruppenselektion schon gesehen. »Wenn man irgend ein ausgesprochen ›altruistisches‹ Verhalten als Beispiel wählt«, heißt es bei ihm, »und sich fragt, warum nicht die Ausfallmutationen, die ein sol- ches Verhalten zweifellos von Zeit zu Zeit treffen müs- sen, wegen ihres offensichtlichen Selektionsvorteils als- bald in Menge herausgezüchtet würden, findet man keine Antwort. Die Frage, welche Faktoren ein gehäuftes Auf- treten sozialer Parasiten verhindern, ist auf der Ebene tierischer Sozietäten noch ziemlich ungelöst. … Auf der Ebene der menschlichen Kultur kennen wir keine ein- zige ethnische Gruppe, bei der nicht ein … komplexes System von Gesetzen und Tabus jeden sozialen Parasitis- mus unterdrückt.« Allerdings ist es schwierig, Gruppenselektion theore- tisch von Verwandtenselektion sauber zu trennen. Grup- penselektionistische Modelle können je nach Blickwinkel als Verwandten- oder als Gruppenevolution interpretiert werden. Letztlich sind ja die Mitglieder einer Gruppe meist miteinander verwandt. Wenn nur die Kosten-Nut- zen-Relation stimmt, rechnet sich altruistisches Verhalten auch bei der Unterstützung von entfernteren Verwand- ten. Hinzu kommt, daß unter dem Einfluß der Behaup- tung, Rassen hätten keine reale genetische Grundlage, die gemeinsame Verwandtschaft innerhalb von ethni- schen Gruppen lange Zeit unterschätzt worden ist. Der amerikanische Genetiker Henry Harpending hat den genetischen Die Macht der Liebe: Nutzen eines »ethnischen« Altruismus anhand einer erweiterten Hamil- Geschwisterpaar ton-Ungleichung berechnet. Die Frage ist dabei, wie viele Angehörige des eigenen Volkes durch die altruistische Tat eines Einzelnen vor ihrer Ver- drängung durch fremde Siedler bewahrt werden müssen, damit sich sein Opfer für ihn genetisch »lohnt«. Er kam zu dem Ergebnis, daß sich »eth- nischer« Altruismus in einem Konflikt zwischen relativ nah verwandten Engländern und Dänen (wie zum Beispiel zur Zeit Knuts des Großen im Mittelalter), erst bei der Rettung von 120 Volksangehörigen lohnt. Dage- gen rechnet es sich in einer Auseinandersetzung zwischen Schwarzen und Weißen, etwa im kolonialen Afrika, bereits, wenn nur 2,2 Angehörige der eigenen Gruppe gerettet werden. (Als Maß für die Gruppenunter- schiede legte Harpending die genetischen Distanzen aus Cavalli-Sforza, History and Geography of Human Genes, zugrunde). Gruppenkonflikte sind in der Geschichte des Menschen wahrschein- lich eher die Regel als die Ausnahme. So kann es nicht verwundern, daß unser Verhalten auch evolutiv stark von ihnen geprägt wurde. Mit Recht spricht der Soziobiologe Eckart Voland von »unserer in Zwischengruppen- konflikten evoluierten Psyche«. Sie gehört zu unserem genetischen Erbe, mit dem wir in einer gewandelten, modernen Welt zurechtkommen müssen.

Vonderach – Soziobiologie 19 Thema | Sezession 28 · Februar 2009

Ernst Haeckel – zwischen Darwin und Lorenz von Erik Lehnert

Am 12. Februar 1809 erblickte Charles Darwin das Licht der Welt. Fünf- Eine vernünftige Haeckel- biographie gibt es nicht. zig Jahre später, am 24. November 1859, trat er, als die Entstehung der Eine erste Orientierung bie- Arten erschien, erstmals mit seiner Theorie der Evolution der Lebewe- tet immer noch: ­Johannes Hemleben: Ernst Haeckel sen an die Öffentlichkeit. Ein Doppeljubiläum, das gefeiert werden will in Selbstzeugnissen und und die Verlage und Feuilletons seit geraumer Zeit in hektische Betrieb- Bilddokumenten, Reinbek 1967. Für Frühjahr 2009 ist samkeit versetzt. Das hat seine Berechtigung, denn immerhin haben wir angekündigt: Uwe ­Hoßfeld ihm die nachhaltigste »Kränkung der der menschlichen Eigenliebe« (Sig- (hrsg.): abolute Ernst mund Freud) zu verdanken. Seit Darwin, so jedenfalls die populäre Aus- Haeckel. legung, sind wir nicht mehr die »Krone der Schöpfung«, sondern haben Haeckels Werke ­liegen in ei- ner ­sechsbändigen Ausgabe uns mehr oder weniger zufällig von der einfachsten Form zum komple- vor: ­Gemeinverständliche xen Kulturträger entwickelt. Das schlug vor 150 Jahren wie eine Bombe Werke. Hrsg. von ­Heinrich Schmidt, Leipzig/Berlin ein, die Erstauflage war noch vor Erscheinen verkauft und bereits 1860 1924. erschien eine deutsche Übersetzung des Werkes. Damit begann eine Re- zeptionsgeschichte, die sich schnell verselbständigte, weil Darwin in Ernst Haeckel einen radikalen Weiterdenker fand, der sich mit den eher behut- samen Schlußfolgerungen des Engländers nichtzufrieden geben wollte und in Deutschland das schuf, was man als eine über die Wissenschaft hinaus- gehende Weltanschauung bezeichnet: den Darwinismus. Am 19. September 1863 hielt Haeckel auf der Naturforscherversamm- lung in Stettin einen Vortrag über die »Entwicklungstheorie Darwins« und machte deutlich, um was es sich dabei seiner Meinung nach han- delte: um einen Paradigmenwechsel der Wissenschaft. Wenn wir seinem engen Freund der späteren Jahre, Wilhelm Bölsche, glauben dürfen, war damit der Siegeszug der Entwicklungslehre in Deutschland eingeläutet. Denn Haeckel legte nach. Vorträge über die »Entstehung des Menschen- geschlechts« und den »Stammbaum des Menschen« folgten, über Dinge also, über die sich Darwin überhaupt noch nicht abschließend geäußert Wilhelm Bölsche: Aus der hatte. Die Generelle Morphologie der Organismen (1866) war ein Buch Schneegrube, Dresden 1922. für Fachleute, das seine Wirkung deshalb nicht entfalten konnte. Aber

20 Lehnert – Haeckel schon zwei Jahre später gelang Haeckel ein Massenerfolg mit der Natür- lichen Schöpfungsgeschichte, die auf Vorträge vor gemischtem Publikum zurückging. Bölsche erinnert sich an die Wirkung: »Zu ihrer Lektüre bil- deten wir als Gymnasiasten einen Geheimbund mit den rigorosesten Sat- zungen wie Vehme oder Freimaurer. In der verborgenen Hinterstube einer ziemlich anrüchigen Kölner Bierwirtschaft hielten wir Sitzungen ab, deren Mittelpunkt ›das Buch‹ bildete, mit seinen Embryo- und Monerenbildern, seinen Kühnheiten gegen Himmel und Kirche (wir wurden zwischendurch Abgedruckt in: ­Rosemarie Nöthlich (Hrsg.): Ernst konfirmiert!), nebenbei tranken wir das erste verbotene Glas Wirtshaus- Haeckel – Wilhelm bier, was den Reiz der Situation erhöhte. In den Debatten aber steckte eine ­Bölsche. Briefwechsel jugendlich-frische Inbrunst der Anteilnahme an einem jäh eröffneten un- 1887–1919, Berlin 2002. endlichen Gedankenreich …« Ernst Haeckel feiert in diesem Jahr auch seine Jubiläen, die etwas in Vergessenheit zu geraten drohen: am 16. Februar seinen 175. Geburtstag und am 9. August seinen 90. Todestag. Anfang des Jahres 1909 waren Postkarten im Umlauf, auf denen sowohl des 100. Geburtstags Darwins als auch des 75. Haeckels gedacht wurde. Daß das heute nicht mehr so ist, hat verschiedene Gründe, die nicht zuletzt in Haeckels Radikalität liegen. Haeckel hatte bereits während sei- nes Medizinstudiums an einer meereszoologischen Exkursion (nach Hel- goland) teilgenommen, bevor er 1857 zum Dr. med. promovierte. Da er den Arztberuf als wenig erstrebenswert ansah, begab er sich zunächst auf eine Forschungsreise nach Italien und widmete sich den Radiolarien (Strahlen- tierchen). Insbesondere seine Meisterschaft in der Zeichnung dieser ein- zelligen Meereslebewesen begründete seinen Ruf als Naturforscher und brachte ihm nach der Habilitation (in vergleichender Anatomie) auch die außerordentliche Professur in Jena ein, bald darauf die Professor für Zoo- logie. Er blieb dieser Universität bis zu seinem Austritt aus dem Lehramt 1909 treu. Über all die Jahre hinweg war er auf zahlreichen Auslandsrei- sen, die ihn bis nach Ceylon führten. Von Jena aus entfaltete er eine rege Vortrags- und Publikationstätigkeit, die ihn im Laufe der Jahre zum um- strittensten Wissenschaftler, aber auch zum erfolgreichsten Sachbuchautor des Kaiserreichs machen sollte. Haeckel hatte schon früh begonnen, die Entwicklungstheorie Darwins nicht nur als wissenschaftliche Theorie, die es jetzt zu beweisen oder widerlegen gelte, zu behandeln, sondern als Weltanschauung des modernen Menschen. Und das fiel, insbesondere seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland auf sehr fruchtbaren Boden. Die schlimmsten Mißstände der Industrialisierung waren durch die Sozialgesetzgebung gemildert worden, Deutschland prosperierte. Da- von profitierte auch die »Arbeiterklasse«, die jetzt Bedarf an geistigen Gütern an- meldete. Die Gründung von Arbeiterbildungs- vereinen, Volksbühnen und ersten Volkshochschulen war die Folge. Hinzu Deutscher Gelehrter: Haeckel an seinem kam, daß es in diesen Schichten (und nicht nur in diesen) eine Ablehnung Schreibtisch, 1914 des Christentums und insbesondere der Kirchen gab, gleichzeitig aber eine »vagierende Religiosität« (Thomas Nipperdey). Diese Konstellation nutzte Haeckel als bekanntester von zahlreichen Verkündern der neuen wissen- schaftlichen Weltanschauung. Andere, so der bereits erwähnte Bölsche, verdienten mit Vorträgen vor Arbeitern zeitweise ihren Lebensunterhalt. Auch Haeckel ging oft und gerne auf Vortragsreisen, um für die Sache zu werben. Auf einem dieser Vorträge gab er der Weltanschauung einen Na- men, der bald in aller Munde war: Monismus, der das »Band zwischen Re- ligion und Wissenschaft« bilden sollte. Als Haeckel diesen Begriff 1892 für Andreas W. Daum: Wis- senschaftspopularisie- seine Weltanschauung einführte, war er zwar bereits in Gebrauch, doch rung im 19. Jahrhundert. was darunter zu verstehen sei, war (und blieb) umstritten. Als beispiels- ­Bürgerliche Kultur, natur- wissenschaftliche ­Bildung weise 1908 ein opulenter zweibändiger Sammelband Monismus erschien, und die deutsche Öf- unterschied der Herausgeber 16 Arten des Monismus. fentlichkeit 1848–1914, Haeckel machte sich in der Folge daran, dieses Wort mit Inhalt zu fül- ­München 1998. len, vor allem in seinen, schlau betitelten, Weltbestsellern Die Welträtsel

Lehnert – Haeckel 21 (1899) und Die Lebenswunder (1904). Er verstand darunter eine Art me- taphysischen Naturalismus, der alle überhaupt vorhandenen Gebilde und Prozesse aus den Kräften der Natur ableitet. Es handelt sich dabei um lu- penreinen Materialismus, da alle Eigenständigkeit des Geistigen und die Möglichkeit von Gott als Person geleugnet werden. Den Naturgesetzen ist alles Sein und Werden unterworfen. So ergibt sich für Haeckel eine schlüs- sige Kausalkette: Wie die anorganischen Erscheinungen seien alle Erschei- nungen des organischen Lebens »dem universalen Substanzgesetz« unter- worfen. Das Substanzgesetz besagt nach Kant, daß die Quantität der Ma- terie unveränderlich ist. Haeckel geht jedoch weiter: »Wie für alle übrigen Ernst Haeckel: Die Lebens- Organe unseres menschlichen Körpers, so hat auch für das Gehirn, als das wunder. Gemeinverständ- liche Studien über biolo- ›Geistesorgan‹, das Biogenetische Grundgesetz unbedingte Geltung.« Das gische Philosophie (1904), von Haeckel aufgestellte biogenetische Grundgesetz besagt, daß die Ent- Gemeinverständliche Werke, Bd 4, Leipzig und wicklung des Individuums (Ontogenese) eine Stammesgeschichte (Phyloge- Berlin 1924. nese) im kleinen ist. Haeckel verfolgte mit der Formulierung eines solchen Gesetzes, das empirisch nicht zu belegen war, ein monistisches Ziel: Orga- nisches Leben sollte sich nicht vom Anorganischen und der Mensch sich nicht vom Tier unterscheiden. Das Bewußtsein sei wie jede andere »Seelen- tätigkeit« eine Naturerscheinung, die dem »obersten, alles beherrschenden Ernst Haeckel: Substanzgesetz unterworfen« sei. Es gebe auch »in diesem Gebiete keine Die Welträtsel. Gemeinverständliche einzige Ausnahme von diesem höchsten kosmologischen Grundgesetze ...«. ­Studien über monistische Unter Monismus verstand Haeckel daher eine auf diesen Gesetzen ba- Philosophie (1899), Gemeinverständliche sierende »einheitliche naturgemäße Weltanschauung«, verbunden mit der Werke, Bd 3, Leipzig und Forderung einer darauf basierenden »vernünftigen Lebensführung«. Berlin 1924. Einen weiteren Aufschwung der Kultur könne es nur geben, wenn die »vernünftige monistische Naturerkenntnis« zur allgemeinen Weltanschau- ung werde. Zu diesem Zweck gründete Haeckel 1906 den Deutschen Mo- Heiko Weber und Olaf nistenbund (DMB), der allerdings, als im Zuge von Weltkrieg und Nach- Breidbach: Der Deutsche Monistenbund 1906 bis krieg die harmonische Weltanschauung an Einfluß verlor, in der Bedeu- 1933, in: Arnher E. Lenz tungslosigkeit versank und 1933 schließlich verboten wurde. Doch das und Volker Mueller (Hrsg.): Darwin, Haeckel und die Verhältnis des Nationalsozialismus zu Haeckel war ambivalenter als es da- Folgen. Monismus in Ver- durch scheinen mag. Zu Lebzeiten war Haeckel der sozialdemokratischen gangenheit und Gegenwart, Neustadt am Rübenberge Vereinnahmung des Darwinismus entgegengetreten, indem er darauf be- 2006. standen hatte, daß die »zunehmende Ungleichheit der Menschen und ih- rer Lebensverhältnisse eine notwendige Folge der Kultur« und die »Selekti- onstheorie von Darwin« ein »aristokratisches Prinzip« sei. Politisch stand V. Franz: Haeckel im neuen Haeckel rechts, war Mitglied im Alldeutschen Verband und verstand Poli- Deutschland, in: Natur und Geist. Monatshefte für tik als fortgesetzte Biologie. Sein Eintreten für Erbgesundheit und Eutha- Wissenschaft und Lebens- nasie wurde nach 1933 zwar zur Pionierleistung hochgejubelt, konnte sich gestaltung 4 (1936). aber im Kaiserreich vor allem der Unterstützung durch »fortschrittliche« linke Kreise sicher sein. Mißtrauisch beäugt wurden vom NS auch sein Atheismus und Materialismus. Also wurde er von seinen Anhängern zum Gottsucher und Lebensphilosophen erklärt. Daß Haeckel mit diesen ideo- logischen Auseinandersetzungen nicht viel gemein hatte, sondern ein Kind des 19. Jahrhunderts war (das am 9. August 1919 starb), wurde dabei über- sehen. Um das zu verstehen, genügt es, sich einmal das restaurierte, von Haeckel als ganz im Jugendstil gehaltene Kultstätte der Wissenschaft kon- zipierte Phyletische Museum in Jena anzuschauen. Unabhängig davon hat sich eine Behauptung Haeckels als ganz be- sonders folgenreich für die Entwicklung der biologischen Wissenschaften überhaupt erwiesen. Die sogenannte »Evolutionäre Erkenntnistheorie« fin- den wir nicht erst bei Konrad Lorenz, sondern bereits bei Ernst Haeckel, der diesen Punkt zur Entscheidungsfrage »Kant oder Darwin?« erhebt: »Auch die absolut sicheren Erkenntnisse der Mathematik und Physik, die Bernd-Olaf Küppers: Nur Kant für synthetische Urteile a priori [vor jeder Erfahrung] erklärt, sind ur- Wissen kann Wissen beherrschen. Macht und sprünglich durch die phyletische Entwicklung der Urteilskraft entstanden Verantwortung der und auf stetig wiederholte Erfahrungen und darauf gegründete Schlüsse a Wissenschaft, Köln 2008. posteriori zurückzuführen.« Dies bedeutet: Unser Erkenntnisvermögen ist in Anpassung an die Welt entstanden und kann diese demnach erkennen, wenn auch nicht abschließend. 1941 veröffentlichte Lorenz seinen Artikel »Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie«, den Konrad Lorenz: Die Rück- er in seinem Buch Die Rückseite des Spiegels zu einer Evolutionären Er- seite des Spiegels. Ver- such einer Naturgeschichte kenntnistheorie ausbaute, dabei aber nicht im Naturalismus steckenblieb, menschlichen Erkennens, wie das noch bei Haeckel (und auch beim frühen Lorenz) der Fall ist, son- München/Zürich 1973. dern zu dem Schluß kommt, daß das »geistige Leben des Menschen eine neue Art von Leben« ist.

22 Lehnert – Haeckel Nur Latte-Macchiato-Rechte? lesen und handeln. BlaueNarzisse.de Thema | Sezession 28 · Februar 2009

Toleranz – Die 9. Todsünde der zivilisierten Menschheit von Götz Kubitschek

1973 veröffentlichte Konrad Lorenz Die acht Todsünden der zivilisier- ten Menschheit, eine kulturkritische, pessimistische Analyse der gesell- schaftlichen Verfallserscheinungen und Zivilisationskrankheiten seiner Zeit. Er schrieb diese Analyse entlang der wissenschaftlichen Grundsätze Konrad Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisier- der Ethologie, der von ihm mitbegründeten und ausdifferenzierten Lehre ten Menschheit, zuletzt vom Verhalten der Tiere und Menschen. Dieses Verhalten kann in seinem ­München 2005. rezenten, also jeweils aktuellen Zustand beobachtet und als die Funktion Als Tondokument: Die acht eines Systems beschrieben werden, »das seine Existenz wie seine beson- Todsünden der zivilisierten Menschheit (Originalauf- dere Form einem historischen Werdegang verdankt, der sich in der Stam- nahmen der Vorträge von mesgeschichte, in der Entwicklung des Individuums und beim Menschen, 1970 auf 3 CDs). in der Kulturgeschichte abgespielt hat« (Konrad Lorenz). Es steht also die Frage im Raum, warum wir Heutigen uns so oder so verhalten, und Lorenz betont an mehreren Stellen seiner Analyse, daß er erst über die Deformierung menschlichen Verhaltens zu der Frage gelangt sei, welche Notwendigkeit eigentlich hinter dem So-Sein des Menschen stehe: »Wozu dient der Menschheit ihre maßlose Vermehrung, ihre sich bis zum Wahnsinn steigernde Hast des Wettbewerbs, die zunehmende, immer schrecklicher werdende Bewaffnung, die fortschreitende Verweich- lichung des verstädterten Menschen usw. usf.? Bei näherer Betrachtung aber zeigt sich, daß so gut wie alle diese Fehlleistungen Störungen ganz bestimmter, ursprünglich sehr wohl einen Arterhaltungswert entwickeln- der Verhaltens-Mechanismen sind. Mit anderen Worten, sie sind als pa- thologisch aufzufassen.« In acht Kapiteln wirft Lorenz seinen ethologisch geschulten Blick auf anthropologische Konstanten und zeitbedingte Entwicklungen und kommt zu verheerenden Ergebnissen: Rundumversorgung und Massen- konsum, Verweichlichung und Überbevölkerung, Indoktrinierbarkeit und genetischer Verfall – all dies trage dazu bei, aus den Menschen eine dege- nerierende, leicht manipulierbare Masse zu machen. Vom Wunsch einer

24 Kubitschek – Die 9. Todsünde Höherentwicklung und Veredelung menschlicher Möglichkeiten bleibt nicht viel übrig. »Maßlos«, »Wahnsinn«, »Fehlleistungen«, »pathologisch«: Man hat Lorenz die Verwendung solcher Vokabeln vorgeworfen und beanstandet, er werte bereits durch seine Wortwahl den Gegen- stand, den er doch zunächst bloß zu beobachten habe. Der Vorwurf stimmt: Lorenz weist sich mit seinen Todsünden als konservativer Kulturkritiker aus, der dem Menschen als Masse nicht viel ab- gewinnen kann und aufgrund seiner Alltags- und Fallstudien einen Niedergang aus einstiger Höhe konstatieren muß. Was aber ist an der Beschrei- bung von Lorenz anders als an den vielen Kritiken und Analysen, die bis heute das konservative Feuil- leton füllen? Lorenz hat als Naturwissenschaftler harte Fakten zur Hand, mit denen er seine Beobachtun- gen und Ableitungen stützt. Er geht als Ethologe von Dispositionen aus, die den Menschen wie ein Korsett umklammern. Seinen Genen, seinen An- trieben, Reflexen und phylogenetischen Dispositio- nen kann er nicht entfliehen, er ist in Zwangsläu- figkeiten eingesperrt wie in einen Käfig. Auf Seite 56 in diesem Heft ist das unter dem Begriff »Ver­ hausschweinung« einmal polemisch durchdekli- niert: Die acht Todsünden sind voll von weiteren Beispielen. Wenn Lorenz etwa die dem Menschen typische Erhöhung der ökonomischen Umlaufge- schwindigkeit und die daraus resultierende Rastlosigkeit in Konsum und Bedarfsbefriedigung als »Wettlauf mit sich selbst« bezeichnet, stellt er als Erklärungsmodell das Prinzip des Regelkreises daneben und zeigt, warum lawinenartige Prozesse aufgrund ausschließlich positiver Rückkoppelung ins Verheerende und letztlich ins Verderben führen. Dasselbe gilt auch für die Überbevölkerung, die Lorenz als die zentrale Todsünde an den An- fang stellt und von der her er die meisten anderen Fehlentwicklungen ab- leitet, etwa auch »Das Abreißen der Traditionen«: Lorenz beschreibt, wie gefährlich es für die Entwicklung eines Kindes ist, wenn es bei seinen El- tern und in seiner nahen Umgebung vergebens nach rangordnungsmäßiger Überlegenheit sucht und in seinem Streben und seiner Entwicklung ohne (verehrungswürdiges) Ziel bleiben muß. Lorenz macht das Verschwinden unmittelbar einleuchtender Hierarchien zum einen an der modernen Ar- beitswelt fest: Die Austauschbarkeit von Mutter und Vater am Schreib- tisch ist ein revolutionärer Vorgang der letzten zwei Generationen. Der andere Grund liegt in der Übertragung einer Gleichheitslehre vom Men- schen auf möglichst alle Lebensbereiche: »Es ist eines der größten Verbre- chen der pseudodemokratischen Doktrin, das Bestehen einer natürlichen Rangordnung zwischen zwei Menschen als frustrierendes Hindernis für alle wärmeren Gefühle zu erklären: ohne sie gibt es nicht einmal die na- türlichste Form von Menschenliebe, die normalerweise die Mitglieder ei- ner Familie miteinander verbindet.« Während nun das gender mainstreaming – das Lorenz noch nicht so nennen konnte – Orgien der Gleichheit zelebriert, Mann und Frau also weiterhin auf Ununterscheidbarkeit getrimmt werden, scheint es mit der pseudo-demokratischen Doktrin nicht mehr überall so aussichtslos gut zu stehen, wie Lorenz es noch vermuten mußte. Wenn sich ihr Zeitalter in der großen Politik seinem Ende zuzuneigen scheint, hat man doch bis in den Kindergarten hinein die Durchsetzung des Abstimmungsprinzips bei gleicher Stimmgewichtung von Erwachsenem und Kleinkind festzustel- len. Dies alles scheint einem Abbau der Notwendigkeit einer Entscheidung zu folgen: Wenn die Zeit keine in ihrer Besonderheit wirksam herausmo- dellierten Männer und Frauen, sondern vor allem in ihrem Einheitsge- schmack und ihrer Funktionstüchtigkeit herausmodellierte Verbraucher erfordert, verhält sich die zivilisierte Menschheit wohl so, wie sie sich der- zeit verhält. Und wenn es nichts ausmacht, ob die Fähigen (etwa: die Er- zieher) oder alle (etwa: die Kleinkinder) mitentscheiden, dann hat man tat- sächlich alle Zeit der Welt und kann die Konsequenzen von Fehlentschei-

Kubitschek – Die 9. Todsünde 25 dungen immer wieder ausbügeln – und die beim Ausbügeln neu entstan- denen Falten wiederum, und so weiter. An Beispielen wie dem vom Verlust der Rangordnung und am Hin- weis auf eine pseudo-demokratische Doktrin hat sich die Kritik festgebis- sen. Neben vielen Reflexen gibt es bedenkenswerte Einwürfe, etwa den Friedrich Wilhelm von Friedrich Wilhelm Korff, der eine Neuausgabe der Todsünden mit ei- Korff: Zustimmung und ­Bedenken (Nachwort nem Nachwort versah. Er schreibt mit viel Sympathie über Lorenz’ provo- zur Ausgabe in der Reihe zierendes Buch und weist den Leser auf eine seltsame Unstimmigkeit, ein ­Klassiker des modernen Denkens, Gütersloh 2000). Pendeln zwischen zwei Ebenen hin. Auf der einen Seite nämlich lasse die aus dem unerbittlichen stammesgeschichtlichen Verlauf herrührende Fehl- entwicklung der zivilisierten Menschheit keinerlei Raum für Hoffnung: Etwas, das qua Gen oder Arterhaltungstrieb so und nicht anders ablau- fen könne, sei nicht aufzuhalten und nicht korrigierbar. Auf der anderen Seite finde sich Lorenz eben nicht mit der Rolle des kühl diagnostizieren- den Wissenschaftlers ab, sondern gerate ins Predigen und formuliere pro Kapitel mindestens einen Aufruf, aus der Kausalkette der zwangsläufigen Entwicklung auszusteigen. Lorenz selbst hat diese Verwischung der Kate- gorien »Wissenschaft« und »Predigt« in einem »Optimistischen Vorwort« für spätere Ausgaben aufzufangen versucht, indem er etwa auf die Brei- tenwirkung der Ökologie-Bewegung hinwies, von der bei Verfassen seiner Schrift noch nicht viel zu bemerken war. Im Grund aber bleiben die Tod- sünden bis heute ein starkes Stück konservativer Kulturkritik. Was also versuchte Konrad Lorenz mit seinem Buch? Er versuchte auf den permanenten Ernstfall hinzuweisen, den der »Abbau des Menschli- Konrad Lorenz: Der Abbau chen« (auch ein Buchtitel von Lorenz) verursacht: Das Erlahmen der Ab- des Menschlichen, zuletzt München 1995. wehrbereitschaft ist der Ernstfall an sich, und der Beweis, daß es längst ernst war, wird durch den tatsächlich von außen eintretenden Ernstfall nur noch erbracht: Kluge Prognosen konnten ihn lange vorher schon absehen. Es gibt kaum ein besseres Beispiel für dieses Erlahmen der Abwehr- bereitschaft als die Umdeutung des Wortes »Toleranz«. Die heutige Form der Toleranz ist die 9. Todsünde der zivilisierten Menschheit. Ob sie in der Notwendigkeit ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung liegt, vermag nur ein Ethologe zu sagen. Festzustehen scheint, daß ihr trotz vielstimmi- ger Warnrufe und glasklarer Fakten nicht beizukommen ist. Vielleicht ist diese weiche, pathologische Form der Toleranz tatsächlich ein wichtiger Indikator für einen an das Ende seiner Kraft gelangten Lebensentwurf, hier also: den europäischen. Toleranz ist nämlich zunächst ganz und gar nichts Schwaches, son- dern die lässige Geste eines Starken gegenüber einem Schwachen. Wäh- rend ich hier sitze und vermessen den acht Todsünden von Lorenz eine neunte aufsattle, toleriere ich, daß eine meiner Töchter im Zimmer über mir trotz angeordneter Bettruhe vermutlich einen Tanz einstudiert. Von Toleranz diesen rhythmischen Erschütterungen gegenüber kann ich nur sprechen, weil ich a) einen klaren Begriff von angemessenem Verhalten in mir trage und die Störung als Abweichung von dieser Norm erkenne, b) in der Lage wäre, diese Abweichung nicht zu tolerieren, sondern sie zu been- den, c) sie tatsächlich im Verlauf meines Vater-Seins schon unzählige Male nicht toleriert habe. Zur Verdeutlichung hilft es, mit allen drei Kriterien ein wenig zu spie- len: Wer a) nicht hat, also Angemessenheit und Norm nicht kennt, muß nicht tolerant sein: Er wird jede Entwicklung hinnehmen und sich einpas- sen oder verschwinden, wenn es gar nicht mehr geht; wer b) nicht kann, der empfundenen Störung und Beeinträchtigung also hilflos gegenüber- steht, kann keine Toleranz mehr üben: Er kann bitten und betteln und sich die Haare raufen oder über das Argument und die Mitleidsschiene den an- deren zur Rücksichtnahme bewegen. Das Kräfteverhältnis hat sich jedoch verschoben, und wenn der Störer keine Rücksicht nehmen will, bleibt dem Schwächeren nur übrig, sich mit seiner Unterlegenheit abzufinden. Und c)? Toleranz kann kein Dauerzustand sein. Wer den Regelverstoß dauerhaft toleriert, setzt eine neue Regel, weitet die Grenze des Möglichen aus, ak- zeptiert eine Verschiebung der Norm. Zur Toleranz gehört der Beweis der Intoleranz wie zur Definition des Guten das Böse. Toleranz ist also eine Haltung der Stärke, niemals eine, die aus einer Position der Schwäche heraus eingenommen werden kann. Wer schwach ist, kann nicht tolerant sein; wer den Mut zur eigentlich notwendigen Ge- genwehr nicht aufbringt, kann seine Haltung nicht als Toleranz beschrei-

26 Kubitschek – Die 9. Todsünde ben, sondern muß von Feigheit, Rückzug und Niederlage sprechen: Er gibt Terrain auf – geistiges, geographisches, institutionelles Terrain. Es kann – das versteht sich von selbst – ab einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll sein, sich zurückzuziehen und neue Grenzen der Toleranz zu ziehen. Sol- che Korrekturen und Anpassungen an den Lauf der Dinge hat es immer gegeben, und starre Gebilde haben die Neigung zu zersplittern, wenn der Druck zu groß wird. Aber eine Neuordnung in diesem Sinn ist ein Beweis für Lebendigkeit und nicht einer für Schwäche und das oben beschriebene Erlahmen der Abwehrbereitschaft. Auch der Spiegel-Kolumnist und Wortführer einer »Achse des Gu- ten« (www.achgut.de), Henryk M. Broder, hält Toleranz für ein gefähr- liches, weil sprachverwirrendes Wort. In seinem jüngsten Buch übt er die Kritik der reinen Toleranz und schreibt gleich im Vorwort Sätze, die an Henryk M. Broder: Kritik der reinen Toleranz, Berlin Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen: »In einer Gesellschaft, in 2008. der ein Regierender Bürgermeister die Teilnehmer einer SM-Fete persön- lich in der Stadt willkommen heißt; in einer Gesellschaft, in der ein rechts- kräftig verurteilter Kindesmörder Prozeßkostenbeihilfe bekommt, um ei- nen Prozeß gegen die Bundesrepublik führen zu können, weil er noch nach Jahren darunter leidet, daß ihm bei einer Vernehmung Ohrfeigen ange- droht wurden; in einer Gesellschaft, in der jeder frei darüber entscheiden kann, ob er seine Ferien im Club Med oder in einem Ausbildungscamp für Terroristen verbringen möchte, in einer solchen Gesellschaft kann von ei- nem Mangel an Toleranz keine Rede sein. Dermaßen praktiziert, ist To- leranz die Anleitung zum Selbstmord. Und Intoleranz ist eine Tugend, die mit Nachdruck vertreten werden muß.« Das sind klare Worte, die außerdem Broders Montagetechnik ver- anschaulichen. Sein Buch ist theoretisch schwach und lebt von Fundstüc- ken aus Presse und Internet – mal ausführlich beleuchtet, mal bloß anein- andergereiht. Jeder Schnipsel belegt den bestürzenden Zustand der Ver- teidigungsbereitschaft selbst der banalsten Werte unseres Volkes, unserer Nation, unseres kulturellen Großraums. Nicht ohne Grund stellt unsere Zeitschrift ihre Begriffsdefinitionen auf der letzten Seite unter ein Motto von Konfuzius: »Zuerst verwirren sich die Worte, dann verwirren sich die Begriffe und zuletzt verwirren sich die Sachen.« Broders Kritik der reinen Toleranz kann als Sammlung gefährlicher Wort- und Begriffsver- wirrungen gelesen werden, etwa wenn er neben die Toleranz ein anderes ruiniertes Wort stellt: Zivilcourage. Jeder will ja diese Eigenschaft besit- zen, will im entscheidenden Moment »Sophie Scholl« sein (jedoch ohne Fallbeil). Leute wie Wolfgang Thierse aber haben das Wort Zivilcourage bis auf weiteres kaputtgemacht, indem sie während eines Massenauflaufs gegen »Rechts« jedem Teilnehmer Zivilcourage attestierten. Neben ein- hunderttausend anderen Leuten zu stehen und eine Kerze zu halten, ist je- doch kein Beweis für Mut, es ist allenfalls ein Vorsatz, beim nächsten be- obachteten Glatzen-Angriff auf einen schwarzen Mitbürger intolerant zu reagieren. »Toleranz ist gefühlte Zivilcourage, die man nicht unter Beweis stellen muß«, schreibt Broder etwas verwirrend, aber er meint das Rich- tige, nämliche dasselbe wie Armin Mohler, der stets und vehement davon Armin Mohler: ­Liberalenbeschimpfung, abriet, Leute schon für ihre guten Vorsätze zu prämieren. zuletzt Essen 1992. Das Gebot der Stunde ist also die Intoleranz, oder besser: das Lehren und das Erlernen der Intoleranz dort, wo das Eigene in seiner Substanz be- droht ist. Hier können wir ein seltsames Phänomen beobachten: den Sieg der Erfahrung über die Theorie. »So ist es nicht der klassische Spießer, der überall sein fürchterliches Gesicht zeigt, sondern der chronisch tolerante Bildungsbürger, der für jede Untat so lange Verständnis äußert, wie sie nicht unmittelbar vor seiner Haustür passiert« (wiederum Broder). Dann aber! Dann aber! Dann kann man nur hoffen, daß aus Erfahrung klug wurde, wessen Vorstellungsvermögen nicht hinreichte, die Lage des Gan- zen (etwa: der Nation) zu seiner eigenen Sache zu machen. Broders Buch, Ulfkottes neue Schrift oder die Zurüstung zum Bür- Udo Ulfkotte: SOS Abend- land. Die schleichende gerkrieg von Thorsten Hinz: Die Beispiele für die verheerende Auswir- Islamisierung Europas, kung der reinen Toleranz auf die Verteidigungsbereitschaft und -fähig- Rottenburg 2008. keit auch nur unserer eigenen Nation sind längst gesammelt und können Thorsten Hinz: Zurü- gelesen und ausgewertet werden. Aber die Flucht in die 9. Todsünde, die stung zum Bürgerkrieg, ­Schnellroda 2008. Toleranz, scheint zu süß zu sein, und sie ist wohl angemessen für den Teil der Welt, der »schon Hemmungen hat, sich selbst ›zivilisiert‹ zu nennen, um die anderen nicht zu kränken« (ein letztes Mal: Broder).

Kubitschek – Die 9. Todsünde 27 Freier Teil | Sezession 28 · Februar 2009

Verdammte dieser Erde – zur Problematik des Tierrechts von Konrad Roenne

An der Liebe zum Tier kann man sich erwär- man lieber aus dem Weg geht. Auch auf seiten men. Mit ihr ist aber nichts getan – Milliar- der extremen und neueren Linken haben die dort den von Tieren befinden sich in der Gewalt von zum Großteil angesiedelten Tierrechtler und ve- Menschen, führen ein Leben unter Umständen ganen (also unter Verzicht auf jegliche tierische und in einer Umgebung, welche die Dantesche Produkte lebenden) Aktivisten einen schlechten Hölle locker in den Schatten stellen. Der austra- Stand: Regelmäßig wird ihnen ein latenter »Fa- lische Moralphilosoph Peter Singer diagnosti- schismus« unterstellt. Erschwerend hinzu kommt zierte in seinem 1975 erschienenen Buch Ani- z. B. Peter Singers Nähe zum Gedanken der Eu- mal Liberation eine der Ausbeutung und Ver- thanasie. Seine hiesigen Veranstaltungen wurden nutzung zugrundeliegende Diskriminierung der massiv gestört. Seitdem meidet er Deutschland – Tiere durch den Menschen, aufgrund der Spe- ein Land, das einmal, neben England und den zieszugehörigkeit, den »Speziesismus«, und ver- USA, das fortschrittlichste Land in Sachen Tier­ glich dies mit Rassismus und Sexismus. Der ethik war. Diskussionen um Tierversuche wur- Skandal war ihm sicher. Sein von Aufklärung den hitzig geführt, der Vegetarismus war, vor al- und Utilitarismus geprägter Ansatz – daß Tiere lem durch die Lebensreformbewegung, in weite in unsere ethischen Überlegungen eingeschlos- Teile der deutschen Gesellschaft vorgedrungen. sen werden müssen, da sie wie wir zu Lust und Und Deutschland besaß für kurze Zeit das fort- Unlust fähig sind und ihre Befreiung daher einen schrittlichste Tierschutzgesetz, am 24. Novem- moralischen Fortschritt darstellt – ist bis heute ber 1933 vom gleichgeschalteten Reichstag ver- einer der wichtigsten in der sogenannten Tiere- abschiedet. Dieser problematischen Konstel- thik. Ähnlich argumentiert der Amerikaner Tom lation widmet Daniel Heintz eine interessante Regan: Bestimmte Tiere besäßen einen Wert an Studie (Tierschutz im Dritten Reich, Müllheim: sich, sollten also auch Rechte genießen, da sie Wâra Verlag 2008. 317 S., 19.95 €), die sich erst- autonome Wesen mit auf die Zukunft zielenden mals in dieser Breite mit dem Thema beschäf- Wünschen seien. Beide Autoren werden in den tigt – vielleicht weniger kritisch als das heute, öffentlichen Debatten in Deutschland, wenn es wo die damalige Nähe von Nationalsozialismus um die problematische Behandlung und die Be- und Tierschutz als Totschlagargument taugt, wertung von Tieren geht, noch immer relativ sel- sonst der Fall sein dürfte. Bekannt ist, daß Hitler ten genannt. Selbst in einer gehobenen Sachbuch- die Tiere am Herzen lagen, auch wenn das man- publikation wie der von Markus Wild (Tierphi- cher als obszön empfinden mag. Treibende Kraft losophie zur Einführung, Hamburg: Junius Ver- auf höchster Ebene für die Sache des Tierschut- lag 2008. 232 S., 14.90 €) sind Singer und Re- zes war Hermann Göring. Dabei ging es bei dem gan in nur wenigen Absätzen vertreten – Derrida von ihm vorangetriebenen »Reichstierschutzge- und Heidegger scheinen für Tiere mehr zu bieten setz« nicht allein um ein Verbot des Schächtens zu haben. In vielen Redaktionen und Studierzim- und um eine verstärkte Ausgrenzung der Juden. mern ist der Begriff »Tierrechte« nicht angekom- Das Gesetz schützte »erstmals und laut amtlicher men. Es wird hartnäckig von Tierschutz gespro- Begründung gewollt das Tier nur um seiner selbst chen, was einen an aufopferungsvolle Rentnerin- Willen … und nicht aus auf Menschen bezogenen nen denken läßt, die für dringend benötigte Tier- sittlichen Gründen«. Doch gerade die starke Ein- heime werbend durch die Straßen ziehen. Tier- schränkung von Tierversuchen durch das Gesetz liebe ist bei uns durchaus gut beleumundet, Tier- wurde bald zurückgenommen. Man befürchtete rechte sind es nicht – ebenso das ernsthafte und internationale Nachteile beim Wettlauf um den konsequente Nachdenken über das Mensch-Tier- wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Verhältnis. Bei Singer und Regan beinhaltet es Um die ethische und wissenschaftliche Be- politische Konsequenzen, gar juristische, denen wertung von Tierversuchen ging es auch im No-

28 Roenne – Tierrecht Se zession

Se-izession Se zession

Ernst Jünger

Christian Vollradt Autorenportrait Wegbereiter Jörg Friedrich – Seismograph Siegmar Faust Karlheinz Weißmann DDR und ’68 Mohler und Jünger Konrad Roenne Ernst Niekisch Der Balkan in mir Der Waldgang Götz Kubitschek Alain de Benoist Unser Standpunkt Jünger und die Thorsten Hinz Martin Lichtmesz Der Zeitstau Der feldgraue Psychagoge

Februar 2008 April 2008 10 EURO 10 EURO ISSN 1611– 5910 ISSN 1611– 5910 www.sezession.de www.sezession.de 22 23 Se zession Se zession Register

Masse Autorenportrait Gerd Gaiser Autorenportrait Karlheinz Weißmann Peter Sloterdijk Postdemokratie Karlheinz Weißmann Günter Maschke Massenpolitik Julien Freund Frank Lisson Hans von Sothen Massentheorien Zivilgesellschaft 2008 Ellen Kositza Erik Lehnert Masse und Sexus War Rowohlt Nazi? Till Kinzel Abseits der Masse

Juni 2008 August 2008 10 EURO 10 EURO ISSN 1611– 5910 ISSN 1611– 5910 www.sezession.de www.sezession.de 24 25

Se zession Se zession

Europa Autorenporträt Alain de Benoist

Ulrich March Thomas Hoof Was ist Europa? Der deutsche Sonderweg

Andreas Vonderach Günter Zehm Wer ist Europäer? Wir Landtreter

Werner Mäder Stefan Scheil Staat Europa? Dresdens Opfer

Karlheinz Weißmann Christian Vollradt Was kann Europa? Appell von Blois

Randolf Jeß Was kostet Europa?

Oktober 2008 Dezember 2008 10 EURO 10 EURO ISSN 1611– 5910 ISSN 1611– 5910 www.sezession.de www.sezession.de 26 27

22 – 27 Inhalt Autor Titel Heft Seite

Böckelmann, Frank Die Maßregel der Gleichberechtigung – 24/2008 18 – 22 Von der grauen Masse zur Vielfaltsmasse Böhm, Michael Autorenportrait Alain de Benoist 27/2008 18 – 22 de Benoist, Alain Ernst Jünger und die Nouvelle Droite 22/2008 30 – 34 Faust, Siegmar Jenseits des Tellerrands – DDR und ’68 23/2008 12 – 15 Gespräch mit André Lichtschlag Staat! Nein! Doch! 27/2008 2 – 3

Grundlagen Hoof, Thomas Letzte Ausfahrt weiter hinten: der deutsche 27/2008 4 – 8 Sonderweg IfS »Man erfreut sich des Wohlstands und 23/2008 8 – 11 liest Böll« – Von der Heimatlosen zur Neuen Linken in der Bundesrepublik Kinzel, Till Abseits der Masse – eine Apologie der 24/2008 34 – 38 Absonderung Kositza, Ellen Im Schwarzen Loch – Masse und Sexus 24/2008 24 – 28 Kubitschek, Götz Autorenportrait Gerd Gaiser 25/2008 2 – 5 Kubitschek, Götz Unser Standpunkt – winterlicher Nachtrag 23/2008 30 – 32 zu einem sommerlichen Aufruf Lehnert, Erik Autorenportrait Peter Sloterdijk 24/2008 2 – 7 Lehnert, Erik Über Jünger zur Philosophie 22/2008 36 – 39 Lehnert, Erik War Ernst Rowohlt ein Nazi? 25/2008 18 – 21 Lichtmesz, Martin Der feldgraue Psychagoge. Jünger-Rezeption 22/2008 22 – 25 in der Subkultur Lisson, Frank Vom Wesen der Massen 24/2008 14 – 17 Mäder, Werner Staat Europa? 26/2008 16 – 19 March, Ulrich Die Grundlegung Europas 26/2008 6 – 9 Menzel, Felix Ikonen schaffen – Vom Kampf um 24/2008 30 – 33 Aufmerksamkeit Niekisch, Ernst Der Waldgang 22/2008 16 – 20 Röcke, Till Spätglühend, weite Räume – Gottfried Benn 25/2008 12 – 16 und die letzte Haltung Roenne, Konrad Der Balkan in mir – Zur Sehnsucht nach einer 23/2008 24 – 29 »Loslösung« vom Politischen Schmidt, Martin An den Grenzen Europas 26/2008 24 – 27 Scholdt, Günter Ein Vorspiel nur: der Züricher Literaturstreit 27/2008 24 – 29 1966 Scholdt, Günter Ernst Jüngers »Gläserne Bienen« 22/2008 26 – 28 Scholdt, Günter Stasimuseum Berlin 23/2008 16 – 19 Vollradt, Christian Wegbereiter – Seismograph 22/2008 6 – 9 von Sothen, Hans Becker Zivilgesellschaft – eine Deutung 25/2008 26 – 29 Vonderach, Andreas Die Europäer, die anderen und die 26/2008 10 – 14 asymmetrische Evolution Vonderach, Andreas Helboks Volksgeschichte 23/2008 20 – 23 Weißmann, Karlheinz Autorenportrait Jörg Friedrich 23/2008 2 – 6 Weißmann, Karlheinz Die Ökonomie und das Außerökonomische 27/2008 10 – 12 Weißmann, Karlheinz Europa in der postamerikanischen Welt 26/2008 20 – 23 Weißmann, Karlheinz Jünger und Mohler 22/2008 10 – 14 Weißmann, Karlheinz Massenpolitik 24/2008 8 – 13 Weißmann, Karlheinz Postdemokratie 25/2008 6 – 10 Wiesberg, Michael Unversöhnlich – Elie Wiesel zum 80. 25/2008 22 – 25 Wolfrum, Florian Autorenportrait Otto Depenheuer 26/2008 2 – 5 Zehm, Günter Wir Landtreter – eine Hommage 27/2008 14 – 17 an den ehrbaren Kaufmann

Bigalke, Daniel Masse und Mündigkeit 24/2008 40 – 41 Dvorak-Stocker, Wolfgang Zwei Flügel – Graz hat gewählt 23/2008 40 – 41 Müller, Baal Grausam und gemütlich – Ernst Jüngers 22/2008 42 – 43 Freundschaft mit Friedrich Hielscher Gerlich, Siegfried Heiner Müller und Ernst Jünger – 22/2008 40 – 41 eine deutsche Konstellation Jeß, Randolf Doppeltes Netto 26/2008 34 – 35

Kurzbeiträge Kositza, Ellen Anonyma – eine von zwei Millionen 26/2008 36 – 38

2 Register – Jahrgang 6 (2008) Autor Titel Heft Seite

Kositza, Ellen Männersachen: Stehpinkler und 27/2008 38 – 39 demoralisierter Patriarchalismus Kubitschek, Götz Masse und ökologische Frage 24/2008 42 – 43 Lehnert, Erik Wer war der Kaiser? 27/2008 32 – 33 Mann, Wiggo Brodkorbs Dilemma 25/2008 30 – 31 Maschke, Günter Erinnerung an Julien Freund 25/2008 32 – 33 Roenne, Konrad Der gemeinste Céline der Welt 25/2008 36 – 37 Scheil, Stefan Zur Moral des Bombenkrieges 27/2008 34 – 35 Schikora, Daniel Leon Robert Redeker und die islamophile Linke 23/2008 38 – 39 Schikora/Milojevic Kosovo – eine islamische Parallelgesellschaft 23/2008 34 – 35 wird zum »Staat« Uhrhammer, Torsten Strauß und die Konservativen – Überlegungen 27/2008 30 – 31 aus Anlaß seines 20. Todestages Voelkel, Martin Deutsche Geschichte, diffus 25/2008 34 – 35 Vollradt, Christian Appell von Blois 27/2008 36 – 37 Vollradt, Christian Ein Flügel – Landtagswahl in Niedersachsen 23/2008 42 – 43 Weißmann, Karlheinz Europa, relativ 26/2008 28 – 29 Weißmann, Karlheinz Freie Heroengemeinschaft 22/2008 44 – 45 Weißmann, Karlheinz Neues von Carl Schmitt 25/2008 38 – 39 Wilhelms, Jan Rußland besucht seine Geliebte – Stimmen 26/2008 32 – 33 zum Georgien-Konflikt 2008 Wolfschlag, Claus-M. Schwarze Utopien – Masse, Menge und 24/2008 44 – 45 Meute im Film Zirner, Kai Mehr als ein »guter Europäer« 26/2008 30 – 31

Kositza, Ellen Perspektive 27/2008 56 Kositza, Ellen Standpunkt 27/2008 56 Kubitschek, Götz Konservativ-Subversive Aktion 25/2008 56 Kubitschek, Götz Lage 22/2008 60

Begriffe Lehnert, Erik Abenteuer 22/2008 60 Lehnert, Erik Bild und Masse 24/2008 60 Mann, Wiggo Metapolitik 25/2008 56 Pfuscher, Jonas Geschichtsklittertortelette 23/2008 56 Pfuscher, Jonas Integration Süß-Sauer 23/2008 56 Pfuscher, Jonas Mügelner Krautsalat 23/2008 56 Sezession Führungswechsel 26/2008 56

Hinz, Thorsten Klausur in der Waffenkammer 22/2008 54 – 55 Hinz, Thorsten Der Zeitstau 23/2008 50 – 51 Hinz, Thorsten Schweigt die Mehrheit? 24/2008 54 – 55 nach Hinz, Thorsten Nicht böse, nur schwach 25/2008 50 – 51 Hinz, Thorsten Zweierlei Fußnoten 26/2008 50 – 51 Hinz, Thorsten Soldat oder Staatsbürger 27/2008 50 – 51 Blick Innen

Schüßlburner, Josef Afrikas Mangel an Patriotismus 22/2008 56 – 57 Schüßlburner, Josef Chinas unbewältigte Kulturrevolution 23/2008 52 – 53

nach Schüßlburner, Josef Ein König für die Masse 24/2008 56 – 57

Schüßlburner, Josef Japan minus Sozialdemokratie 25/2008 52 – 53 Schüßlburner, Josef Indien: Kastensystem und Demokratie 26/2008 52 – 53 Schüßlburner, Josef Türkei: Demokratie oder Verwestlichung 27/2008 52 – 53 Blick Außen

Sezession: Register 2007 22/2008 Zerstörung serbischer Kirchen im Kosovo 23/2008 Konservativ-Subversive Aktion 24/2008 Ehre den Gefallenen 25/2008 Grundrechte in Köln 26/2008

Bildtafeln Gegenöffentlichkeit 27/2008

Register – Jahrgang 6 (2008) 3 Inhalt Autor Titel Heft Seite

TeKos, Jünger-Freundeskreis, Jünger-Studien, 22/2008 58 – 59 Jünger-Rundbrief, Pour le mérite, Scheidewege

Zugang zum Machthaber, Günter de Bruyn, 23/2008 54 Klassische Vorträge, Denis de Rougemont, Dritter Weg? Vermischtes Die liberale Intelligenz, Hans-Dietrich 24/2008 58 – 59 Sander, Populismus, Solitäres Schaltwerk, Sprachwehmut, Tarnen und Täuschen, Über den abseitigen Kolumbianer, www.carl-schmitt.de

Wer ist der nächste?, Junker und Dünnhaupt, 25/2008 54 – 55 Deutsche Kriegsschuld, Todes-Tourismus, Hure Babel, Neue Reihen, Nachwuchswettbewerb, Vorreiter

Rechtsextremismus der Mitte, 26/2008 54 – 55 Nie Mittelmaß: Die Duse, Entvölkerte Mitte, Aus der Leibesmitte

Kapitalismus als höhere Vernunft: Ayn Rand, 27/2008 54 – 55 Feminismus reloaded, Adieu von Herzen, Günter Rohrmoser ist tot, Niger sum sed formosa, Depenheuer: wichtige Korrektur!

Kiesel, Schwilk, Perutz, Wagner, Benn, 22/2008 46 – 53 Mattheus, Castan, Fabiansson, Tielke, von

Jünger/Andres, Blumenberg/Carl, de Benoist, Forsthoff/Schmitt, Jünger/Schmitt, Schmitt/Feuchtwanger Bücher

Seitenbecher, Schüßlburner, Aly, 23/2008 44 – 49 Institut für Staatspolitik, Mohr, Brandmüller, Angenendt, Althaus, Böckelmann, Schurz, von Arnim, Nida-Rümelin/Özmen, Hoppe, Müller, Hamel, Wiederkehr

Ates, Bärfuss, Bigalke, Bollenbeck, Bude, 24/2008 40 – 49 Besprochene Ders. (Hrsg.), Genett, Gieselbusch/Moldenhauer/ Neumann/Töteberg, Greiner, Gretz, Hornung, Kaiser-Mühlecker, Kaube, Kinzel, Kolnai, Löwith, Mezdrea, Schlak, Schlink, Schramm

Musial, Gärtner, Wegner, Boveri/Jünger, 25/2008 40 – 48 Jünger/Heidegger, von Brück, Topper, Wagner, Heintz, Meindl, Ruggenthaler, Blackbourn, Normann, Koch, Wolle, Barck/Lokatis, Deines/Leppin/Niebuhr, Rothe, Skinner, Horst

König/Schmidt/Sicking, Bruckner, 26/2008 40 – 48 Zimmermann, Simon, Rippl, Thieme, Kaindl, Laqueur, Wohlrab-Sahr/Tezcan, Hormes, Bracher, Gebauer, Maxeiner/Miersch, Maier, Sandkühler, Fischer/Lorenz, Mäder, von Boeselager, Köhler, von Schulthess

Fröschle/Kuzias, Tellkamp, Wagner, Schlieper, 27/2008 40 – 48 Huber, Siggelkow/Büscher, Seibt, Wolfschlag, Eichenhain, Rosenkranz, Koehn, Jesse/Lang, von Ribbentrop, Biffi, Plickert, Häberle, Joissten, Koelbl/Ihlau

4 Register – Jahrgang 6 (2008) Dein Neffe, der Affe, Dein Vetter, das Schwein – Buchtitel von 1924

ger. Diesem gegenüber hält de Waal eine Art pa- ternalistisches Prinzip Verantwortung – in etwa: Tiere sind Schutzbefohlene, ähnlich Kindern und Behinderten – für sinnvoller als den ratio- nalistischen Tierrechtsgedanken. Marc Bekoffs Das Gefühlsleben der Tiere (Ein führender Wissenschaftler untersucht Freude, Kummer und Empathie bei Tieren, Bernau: animal learn Verlag 2008. 231 S., 20 €) hat eine ähnliche Tendenz wie de Waals Buch, was das Faktische betrifft. Nämlich: neu gewon- nene Erkenntnisse über das Verhalten von Tie- ren und wie dieses fundiert ist. Wie nah, ähn- vember 2008 bei der Debatte um die experi- lich oder fern sind uns Tiere? Dabei ist Bekoff mentellen Forschungen an Affen durch den Bre- wesentlich stärker als de Waal von Verhaltens- mer Hirnforscher Andreas Kreiter, dem kurz- forschern wie Lorenz und Tinbergen beeinflußt, zeitig dafür die Erlaubnis verweigert wurde. indem er deren Konzept zu einer »kognitiven Gerade die sogenannte Grundlagenforschung Ethologie« erweitert, die »vergleichende, evolu- an Tieren – mit oft qualvollen Experimenten – ist tionäre und ökologische Erforschung des Ver- aufgrund neuerer Erkenntnisse aus der Verhal- standes von Tieren«. Das Buch hat das Zeug zu tensforschung immer schwerer zu rechtfertigen. einem populären Standardwerk. Bekoff fragt Viele Tiere scheinen, was ihre Empfindungen be- nach den ethischen Konsequenzen, die sich aus trifft, uns Menschen näher zu sein, als bisher dem Wissen über die Tiere ergeben – ist es legi- angenommen. Zudem verfälschen die unfrei- tim, sie zu Nahrung und Bekleidung zu verarbei- willigen Probanden immer öfter die erwarteten ten, sie als Versuchs-, Vergnügungs- und Sport- Forschungsergebnisse – die nur für die Wissen- geräte zu nutzen? schaft gezüchteten Tiere können ihre Autono- Um die Frage der Nahrung geht es in dem mie nicht zügeln. Buch Gewissens-Bissen (Tierethik und Esskul- Frans de Waal, einer der wichtigsten Prima- tur, Innsbruck: Löwenzahn Verlag 2008. 238 tenforscher, beschreibt in seinem aktuellen Buch S., 19.95 €). Ein Veterinär, eine Rechtsphiloso- (Primaten und Philosophen. Wie die Evolution phin und ein Gourmet kommen zu Wort. Von die Moral hervorbrachte, München: Carl Han- Hermann Nitsch, dem für seine tierblutlastigen ser Verlag 2008. 224 S., 19.90 €) moralisches Happenings bekannten Künstler, stammt das Verhalten bei Menschenaffen, verschiedene For- Vorwort. Das sollte aber nicht von der Lektüre men des Altruismus beispielsweise. Die Ergeb- abhalten, die für interessierte Laien eine gute nisse seiner Forschung nutzt er allerdings, um – Einführung ins Thema bietet. Allerdings wird unter dem Primat der Evolutionstheorie – dem beim Werben der Autoren um Sensibilisierung Menschen einen natürlichen, entwickelten Be- eine der wichtigsten Antworten auf den Über- sitz von Moral und die innewohnende Mög- fluß an billigen und qualvoll produzierten Le- lichkeit zum moralisch guten Handeln zu un- bensmitteln vergessen: Verzicht. Als fanatisch terstellen. Kurz: Hobbes könnte sich geirrt ha- oder radikal möchte man hier halt auf keinen ben, der Naturzustand des Menschen bedurfte Fall gelten, und sollten die tierischen Verhält- des Gesellschaftsvertrags gar nicht. Verbrechen nisse erkanntermaßen noch so im argen lie- und andere Entgleisungen seien möglicherweise gen. Dahinter steckt auch eine geistige Träg- nur krankhafte Abweichungen. Dahinter steckt heit, wenn nicht gar uneingestandene Ignoranz, auch ein innerdarwinistischer Diskurs, eine Ge- die sich gern mit dem Verweis auf wichtigere zu genposition zur sogenannten Fassadentheorie lösende Probleme herausredet. Doch so etwas (Moral und Gesellschaft als bloße Fassade vor darf kein Argument sein, weder bei den Interes- dem Bösen des Naturzustandes) und zu Richard sen der Tiere noch sonst. Mit Robert Spaemann Dawkins »egoistischem Gen«. Im zweiten Teil gesprochen: »Zweitwichtigstes so lange zu un- des Buches wird de Waals Theorie von diversen terlassen, bis alles Wichtigste sich erledigt hat, Kommentatoren zerpflückt, auch von Peter Sin- wäre das Ende aller Kultur.«

Roenne – Tierrecht 29 Freier Teil | Sezession 28 · Februar 2009

Von der Natur des Schönen von Karlheinz Weißmann

Daß Schönheit im »Auge des Betrachters« liegt Was den ersten Punkt betrifft, so verweist oder sich über Geschmack nicht streiten läßt, Eibl-Eibesfeldt nicht nur auf Vorformen der die eine wie die andere Behauptung wirkt auf Kunst bei Menschenaffen, sondern auch auf den modernen Menschen wohlbegründet, fast deren Begrenztheit, insofern ein Schimpanse wie eine Selbstverständlichkeit. Jahrtausende zwar Farbe und Pinsel gebraucht – die ihm der der ästhetischen Debatte scheinen erledigt an- Mensch zur Verfügung stellt –, aber doch nur, gesichts der Vorstellung, daß alles und eben um bunte Kleckse zu erzeugen, ohne die dem auch das Schöne relativ ist, Konvention und Primitiven wie dem Kind naheliegende Nei- Konstruktion. Es irritiert deshalb, wenn jemand gung zu abstrakten Konzepten (etwa »Strich- überhaupt noch die Behauptung wagt, daß man männchen«). Damit ist schon die Verbindung Schönheit objektivieren kann, daß es sich jeden- hergestellt zu dem zweiten Aspekt, den die bei- falls nicht um einen Zufall handelt, sollte das den Autoren mit der Natur des Menschen erklä- Gesicht eines Models nach und nach weltweit ren: eine bestimmte Zahl »artspezifischer Vor- auf allen Umschlägen von großen Illustrierten urteile«, die schon in der Wahrnehmung selbst abgebildet werden, und daß es nicht einfach wirksamen Präferenzen und eine früh ausge- Tricks der Werbung sind, wenn allen bestimmte prägte »universale Grammatik menschlichen Körperproportionen attraktiv erscheinen, daß Sozialverhaltens«, zu der auch der künstlerische der Widerstand des gemeinen Mannes gegen Ausdruck gehört. die abstrakte Malerei ebenso begründet ist Der Ansatz von Eibl-Eibesfeldt und Sütter- wie die überraschende Ähnlichkeit künstleri- lin erklärt, warum in diesem Buch auf die üb- scher Konzepte aus weitentfernten Weltgegenden liche kunstgeschichtliche Systematik verzichtet oder die Kontinuität bestimmter Motive oder wird und man eine antike Schale, das Ornament Gestaltungsweisen über die Zeiten hinweg. eines Hochseeboots aus Neuguinea und ein Ge- Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibes- mälde von Hundertwasser nebeneinanderstellt, feldt und die Kunsthistorikerin Christa Sütter- um die durchgängige Ähnlichkeit in den Struk- lin haben sich zur Irritation entschlossen. Sie turen der Bilder aufzuweisen. Dieser Fixierung legen in dem Band Weltsprache Kunst (Zur liegt nach Meinung der Autoren eine »perzeptive Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kom- Konstanzleistung« unseres Gehirns zugrunde: munikation, Wien: Brandstätter 2008. 542 S., der Abgleich zwischen einer bestimmten Menge 590 farbige und SW-Abbildungen, 39,90 €) optischer Grundmuster mit dem, was uns vor- nicht nur große Mengen Materials vor, um ihre geführt wird, und die Befriedigung, wenn eine These von der Allgemeingültigkeit ästhetischer Übereinstimmung in bezug auf die »Gestalt« Kategorien zu belegen, sie bieten außerdem ein festgestellt werden kann. Eine Anschauung, theoretisches Konzept, mit dessen Hilfe sich die der »Evolutionären Erkenntnistheorie« von verstehen läßt, warum es künstlerische Darstel- Konrad Lorenz folgt, die die Möglichkeit ei- lungen gibt, die »wir alle und immer« verste- nes Wissens a priori postuliert, das uns nicht hen und die wir alle schön finden. Die Ursa- durch göttliche Eingabe, sondern »von Natur« che läßt sich ihrer Meinung nach mit Hilfe ei- zukommt. Damit wird nicht behauptet, daß al- ner »Ethologie universeller künstlerischer Mo- les Natürliche schön und alles Schöne natürlich tive« aufweisen, die eine Grundfähigkeit zum ist, auch nicht, daß die Ästhetik an Vorgaben künstlerischen Ausdruck annimmt und ein Sy- gebunden werden kann, die sich direkt aus der stem ästhetischer Grundformen identifiziert, Natur ableiten lassen, denn die Kunst gehört das von immer wiederkehrenden Regeln – etwa selbstverständlich zur Kultur und unterliegt in- der Präferenz für Symmetrie oder Rhythmus – sofern eigenen Gesetzen, aber die Natur bleibt bestimmt wird. doch als Ausgangsvoraussetzung einflußreich:

30 Weißmann – Von der Natur des Schönen Symmetrie und Goldener Schnitt als ästhetische Universalien

Eibl-Eibesfeldt weist allerdings darauf hin, daß deren Hervorbringungen nie populär geworden sind und ausführlicher Interpretation bedürfen, um überhaupt als Kunst verstanden zu werden. Auch das könne man unter Hinweis auf die ei- gentliche Schlüsselanforderung der Evolution – die Anpassungsleistung – interpretieren, aber die »Ästhetik des Häßlichen«, die in der jünge- ren Vergangenheit etabliert wurde, habe doch Aspekte, die man als sehr problematisch beur- teilen müsse, da sie in keine Auffassung von der »Natur« des Schönen paßt: »Es ist inzwischen für den Künstler, für das künstlerische Schaffen bekannt, daß die Stimmen der Abkehr von al- und für die Wahrnehmung des Werks. lem Schönen (und Verbindlichen) längst den Bör- Das heißt für den vorliegenden Fall, daß die sengang angetreten haben und von einem breiten Bedeutung eines Bildes nicht nur auf Überein- Kunstmarkt gestützt werden. (Damit ist die er- kunft und Erziehung beruht, sondern auf einer worbene Autonomie wieder abgegeben an neue vorkulturellen Basis, »Archetypen«, die in unser Seilschaften sowie ökonomische Interessen.) Ne- aller Gedächtnis gespeichert sind. Solche Urbil- gation, die einmal einen aufklärerischen An- der bestimmen auch unsere Idee von schön oder spruch der Verweigerung besaß, also eine Auf- unschön, bedeutsam oder bedeutungslos, und sie gabe und einen Gegner, ist zum Selbstläufer ge- gehen zurück auf jene elementare Symbolfähig- worden ohne weitere Funktion als die, ein blo- keit, die es dem Menschen überhaupt gestattet, ßes Label zu sein. Man wünscht der Schönheit irgend etwas mit »Sinn« zu verknüpfen. Eibl-Ei- – nicht nur den Magiern und den Ismen – wieder besfeldt sieht darin kein humanes Spezifikum – mehr Gemeinde in den Tempeln der Kunst.« Symbolgebrauch gibt es auf gewisse Weise auch Bezeichnenderweise wird hier nicht von ei- im Tierreich –, aber beim Menschen können die ner Degeneration im biologischen Sinn gespro- phylogenetischen Ursprünge zurücktreten, ent- chen, sondern von der Gefahr der Dehumanisie- stehen zahllose »vom Körper abgelöste Kommu- rung. Denn das Schöne habe – bei aller Vielge- nikationsträger« und bilden sich im Zuge von staltigkeit – doch eine einheitliche Wirkung: das, Ritualisierungen Verhaltensmuster aus, die zu- was Eibl-Eibesfeldt und Sütterlin mit dem alter- sammen mit der Vielzahl von Ausdrucksformen tümlichen Begriff der »Exuberanz« bezeichnen, unseren sozialen Kosmos strukturieren. Eibl-Ei- ein Empfinden des Überschwangs im Anblick besfeldt glaubt allerdings gerade nicht an dessen des Wohlgeratenen und Sinnvollen. Das Schöne Willkürlichkeit, an die Möglichkeit, vollkom- hebt für den Moment die Defizite und Widrig- men freier Setzung. Alles bleibt – so unnatürlich keiten der Welt auf: »Schönheit ›pazifiziert‹«. es wirken mag – Teil eines natürlichen Prozesses. Wo sie fehlt, wird auch ein Mangel an allgemein Insofern ist es für die Autoren auch nicht erwünschten Einstellungen und Verhaltenswei- schwer, die Diversität der künstlerischen Aus- sen merkbar: Muße, Gemeinsinn, Gespräch ver- drucksformen zu deuten, da es nach ihrer Mei- schwinden. Bezeichnenderweise werden schöne nung zur »Ausstattung des homo sapiens« ge- Plätze in den großen Städten seltener verschan- hört, »daß er in die Vielfalt tendiert und kultu- delt als häßliche oder rein funktionale; sie sind rell versucht, sich zu unterscheiden vom Nach- auch seltener Ort von Zusammenrottungen oder barn. Darum Stil, Geschichte, Dialekte und so Gewalttaten. weiter«. Diese natürliche Tendenz zur Kultur er- Es sei auf diese Überlegungen der Autoren kläre weiter die regelmäßige Verknüpfung des am Schluß hingewiesen, weil gegen die Verhal- Ästhetischen mit dem Außerästhetischen, etwa tensforschung immer wieder der Vorwurf laut des Kunstwerks mit politischen und religiösen wird, sie reduziere den Menschen auf seine na- Zwecken, dem Aufweis von Über- und Unterord- turhaften, tierischen Züge. Eher wird man an ei- nung, der Klärung von Zugehörigkeit und Nicht- nem Buch wie dem von Eibl-Eibesfeldt und Süt- zugehörigkeit. terlin ablesen können, wie weit heute eine inte- Ein echtes Problem stellt für diese Theorie grative Anthropologie kommen kann, die – ohne eigentlich nur die hochindividualisierte Kunst alles in allen Fällen zu klären – Erkenntnisse der dar, die sich im europäisch-nordamerikanischen Natur- und der Geisteswissenschaften ernst- Raum seit etwa hundert Jahren durchgesetzt hat. nimmt und in ein Modell zu überführen weiß.

Weißmann – Von der Natur des Schönen 31 Freier Teil | Sezession 28 · Februar 2009

Ulfkotte gegen rechts von Christian Vollradt

Einem kurzen Bericht auf Welt-online war am zur »Bürgerbewegung Pax Europa« (BPE) zu- 2. Dezember 2008 zu entnehmen, der Publi- sammengeschlossen. Nach der Fusion übte der zist Udo Ulfkotte habe die von ihm mitbegrün- bisherige BDB-Vorsitzende Willi Schwend dieses dete islamkritische Initiative »Pax Europa« we- Amt weiter aus, während Ulfkotte vor allem re- gen »ihres zunehmend extremistischen Kurses« präsentativ als »Ehrenpräsident« ohne Stimm- verlassen. Den Ausschlag für seine Trennung recht im Vorstand fungierte. habe die Weigerung der Vereinsspitze und einer Die Rolle als Zugpferd – ohne operativen Mehrheit der Delegierten gegeben, sich von ge- Ballast – schien dem ehemaligen FAZ-Redak- schmacklosen Karikaturen zu distanzieren, in teur wie auf den Leib geschneidert. Wegen sei- denen Moslems »im Stürmer-Stil« verunglimpft ner Erfahrung als Korrespondent im arabischen worden seien. Ulfkottes Forderung, der Vor- Raum, wegen seiner Kenntnisse der islamischen stand möge die Verantwortung wegen der ins Kultur und guter Kontakte zu Sicherheitsbehör- Internet gelangten Zeichnungen übernehmen den gilt Ulfkotte mit Recht als Experte. Vor al- und zurücktreten, war während der Mitglie- lem gehört er zu den wenigen Medienprofis, die derversammlung im November abgelehnt wor- das Augenmerk auf die Auswüchse multikul- den. Der Welt-Autor schlußfolgerte daraus, die tureller Fehlentwicklungen legen. Das hat ihm islamkritische Bewegung drohe »sich weiter zu neben Kritik, Verleumdung und sogar Gewalt­ radikalisieren«. androhung auch eine große Leserschaft beschert: Die ehemaligen Mitstreiter reagierten noch Sein aktuelles Buch SOS Abendland erfuhr seit am selben Tag mit einer Stellungnahme, in der Erscheinen im September 2008 die vierte Auf- sie die Vorwürfe zurückwiesen. »Pax Europa« lage und stand rasch auf den Bestseller-Listen betonte, man habe immer Wert darauf gelegt, von Focus und Spiegel. Der Verlust ihrer Gali- sich »von Rechtsextremisten und Ausländer- onsfigur könnte der Bürgerbewegung in der Tat feinden abzugrenzen«. Die Karikaturen seien einen Imageverlust bescheren. unautorisiert auf einem Weblog erschienen und Ulfkottes Distanzierung von »rechtsradika- auf Bitten des Vereins durch den Betreiber der len Radaubrüdern« in allen Ehren: Was stutzig entsprechenden Internetseite entfernt worden. macht, ist der zeitliche Ablauf des Austritts, der Nie seien die Bilder als Postkarten für die Ar- in einem gewissen Widerspruch zu seiner inhalt- beit von »Pax Europa« verwendet worden. Der lichen Begründung steht. Verein sehe seine »zentrale Aufgabe darin, die Wie aus informierten Kreisen zu erfahren Bürgerprotestbewegung auf Basis einer wissen- war, soll Ulfkotte im Oktober – also vier Monate schaftlich fundierten Islamkritik zu organisie- nach dem Auftauchen der geschmacklosen Kari- ren«, heißt es im Vorstandsschreiben. katuren und zwei Monate vor seinem Austritt – Ein Déjà-vu? Eine als konservativ, wenn seine Vereinskollegen schriftlich aufgefordert ha- nicht sogar rechts wahrgenommene Gruppie- ben, interne Streitigkeiten ohne Aufsehen auf ei- rung streitet über Abgrenzungsmodalitäten zum ner außerordentlichen Mitgliederversammlung Rechtsextremismus, dem sie von ihren Gegnern beizulegen. Denn eine Mehrheit im Vorstand ohnehin zugeordnet wird; es kommt zum öf- hatte den damaligen Pressesprecher des Vereins fentlichen Zerwürfnis der Führungsfiguren, zu zum Rücktritt aufgefordert, da dieser nach ihrer Austritten, Schmähungen und so fort. Meinung unter anderem ohne Legitimation eine Erst im Mai 2008 hatten sich der »Bun- Versammlung zur Gründung eines neuen Lan- desverband der Bürgerbewegungen zur Bewah- desverbands anberaumt hatte. Ulfkotte habe da- rung von Demokratie, Heimat und Menschen- vor gewarnt, der Verein könne angesichts dieser rechten« (BDB) und der von Ulfkotte zwei Jahre Personalie in ein Pro- und ein Kontra-Lager zer- zuvor ins Leben gerufene Verein »Pax Europa« fallen. Stattdessen sollten beide Seiten die Arbeit

32 Vollradt – Ulfkotte gegen rechts im Sinne der Vereinsziele fortsetzen und Schä- als Zeuge auftreten – gegen die von ihm gegrün- den in der Außendarstellung abwenden. Außer- dete Bewegung.« Das klingt dramatischer, als es dem warnte er seine damaligen Mitstreiter, der ist. Denn während die Wortwahl suggeriert, es Noch-Pressesprecher habe ihm (Ulfkotte) ge- sei Anklage gegen den Verein erhoben worden, genüber gedroht, Informationen über die Kari- war es tatsächlich umgekehrt. Im Februar 2008 katuren der Presse zuzuspielen, falls er von sei- hatte das LG Frankfurt am Main den Betreiber nem Posten abgesägt werde. eines Weblogs zu einer Schmerzensgeldzahlung Ausgerechnet Ulfkotte selbst machte diese verurteilt, weil er Ulfkotte und »Pax Europa« Drohung dann unmittelbar nach seinem Aus- in menschenverachtender Weise beleidigt hatte. tritt wahr. Sein in der Jungen Freiheit am 2. Der Beklagte hatte Berufung eingelegt; und ge- Dezember 2008 erhobener Vorwurf, die Mit- nau um die ging es in dem von der Welt erwähn- gliederversammlung habe »das strafrechtlich ten Verfahren. Die zum fraglichen Zeitpunkt relevante Verhalten des Vorstandes gebilligt«, nicht bestehende, erst aus der Fusion im Mai war Anfang Oktober offenbar noch nicht akut: 2008 hervorgegangene »Bürgerbewegung Pax denn damals – so war zu erfahren – lobte der Europa« stand da nicht zur Debatte. BPE-Präsident in seinem Schreiben an die »lie- Und doch soll besagter Prozeß auch mit ben Mitstreiter« noch ausdrücklich das schnelle dem Zerwürfnis zu tun haben: Dem Verneh- Eingreifen, nachdem die Karikaturen im Inter- men nach gab es unter den Islamisierungsgeg- net aufgetaucht waren, wodurch sich größerer nern intern Kritik an der Prozeßwut ihres Eh- Schaden habe abwenden lassen. renpräsidenten; die juristischen Kriegspfade – Beobachter der Vorgänge rund um die Mit- wie berechtigt auch immer – verschlangen näm- gliederversammlung mutmaßten, der Austritt lich eine Menge Geld. Diese Kosten könnten im des Ehrenpräsidenten gehe in erster Linie auf dessen Frustration zurück, keine Mehrheit im Verein hinter sich zu wissen. Viele einfache Mit- glieder hätten sich verärgert über manche Al- leingänge und Schnellschüsse ihres Aushänge- schilds gezeigt. Ulfkottes Sprunghaftigkeit war bereits frü- her thematisiert worden (siehe Sezession Nr. 19, August 2007). Götz Kubitschek kritisierte da- mals, der Journalist agiere »ohne Strategie«, zu spontan und strukturlos. Erwähnt wurde da- mals das Hin und Her beim Versuch, politisch Fuß zu fassen; sei es mittels (vorschneller) An- kündigung, innerhalb eines halben Jahres eine »konservativ-ökologische« Partei zu gründen, sei es mit der kurzfristig angenommenen (und bald wieder abgelehnten) Übernahme der Spit- zenkandidatur für die »Zentrumspartei« in Hamburg, die ihm vom Polit-Hasardeur Dirk Nockemann angetragen worden war. Ähnlich verliefen manche Operationen für »Pax Europa«: So sagte Ulfkotte 2007 eine ge- plante Kundgebung zum Ärger einiger Mitor- ganisatoren kurzfristig wieder ab, angeblich weil eine Unterwanderung durch rechtsextreme Teilnehmer gedroht habe. Dann nahm er Kon- takt zum parteilosen Bundestagsabgeordneten Erfolgsfalle theoretisch ausgeglichen werden, ja Henry Nitzsche auf, desavouierte diesen aber sogar dem Verein nützen, da Ulfkotte, wie im später dadurch, daß er öffentlich gegen den Köl- Fall des verurteilten Bloggers angekündigt, das ner »Anti-Islamisierungsgipfel« im September Geld (einen fünfstelligen Betrag) für die islam- 2008 – an welchem Nitzsche teilnahm – Stel- kritische Aufklärungsarbeit spenden wollte. Da- lung bezog. Seine daraufhin gemeinsam mit vor steht allerdings der Instanzenweg bis zu ei- Ralph Giordano organisierte Demonstration nem rechtskräftigen Urteil und die Ungewiß- »gegen rechtspopulistische Fremdenfeindlich- heit, ob der dann (eventuell) Verurteilte über- keit und reaktionäre Islamverteidigung« fiel an- haupt zahlen kann. gesichts linksextremer Krawalle nicht weiter ins Letzter Stand der Dinge ist, daß zumin- Gewicht. dest zwischen den Kontrahenten Ulfkotte und Im eingangs erwähnten Welt-Artikel ist zu- Schwend das Kriegsbeil begraben wurde. Man dem die Rede von möglichen juristischen Nach- rede wieder miteinander und bedauere die ge- wirkungen der Auseinandersetzung zwischen genseitigen Verletzungen. Im Zuge dieser Ent- Verein und Ex-Präsident: »Pikanterweise wird spannungsphase hat Udo Ulfkotte offenbar zu- vor dem Frankfurter OLG … ein Prozeß statt- gesichert, im Anhang seines Bestsellers weiter- finden, bei dem verhandelt wird, ob Pax Europa hin Werbung und Spendenaufruf für »Pax Eu­ volksverhetzend sei. Dort könnte Ulfkotte nun ropa« abdrucken zu lassen.

Vollradt – Ulfkotte gegen rechts 33 Freier Teil | Sezession 28 · Februar 2009

Philosophische Anthropologie – ein deutscher Denkansatz? von Erik Lehnert

Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert Portmann ist es vor allem Arnold Gehlen, der wurde das Wort »Anthropologie« zum Titel mit seinem Buch Der Mensch den Denkansatz einer philosophischen Disziplin innerhalb der rettet und ausbaut. deutschen Schulphilosophie. Sie emanzipierte Nach 1945 gab es sowohl für den Remi- sich von der theologischen metaphysischen Tra- granten Plessner als auch den »Belasteten« Geh- dition und fragt seitdem nach dem Wesen des len Probleme, was die Lehrstuhlbesetzungen Menschen jenseits von Metaphysik und experi- anging. Beide landeten schließlich auf soziolo- menteller Naturwissenschaft. Vor diesem Hin- gischen Lehrstühlen, was die Ausbildung einer tergrund läßt sich bei jedem bedeutenden Philo- philosophischen Schule behinderte, dafür be- sophen, egal welcher Zeit und welchem Ort er kam die Philosophische Anthropologie nach entstammt, so etwas wie eine »philosophische und nach ein anderes Gesicht. In der Philoso- Anthropologie« ausmachen, als eine genuin phi- phie gab es zwar noch Denker, die sich von die- losophische Frage nach dem Menschen, seinem sem Ansatz inspirieren ließen, wie Hans Blu- Wesen, seinem Maß und seiner Natur. menberg und Odo Marquard, viel eher herrschte Im Gegensatz dazu gibt es das rein deutsche jedoch ein Bemühen vor, ihn zu destruieren, sei Phänomen der »Philosophischen Anthropolo- es aus Richtung der Frankfurter Schule oder der gie«. Die Studie von Joachim Fischer Philosophi- Sprachphilosophie und Systemtheorie. Hinzu sche Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. kam erschwerend, daß sich die beiden Haupt- Jahrhunderts (Freiburg/München: Alber 2008. protagonisten bis zum Schluß (Gehlen starb 684 S., geb, 48 €), bereits 1997 in Göttingen als 1976, Plessner 1985) ablehnend gegenüberstan- Dissertation angenommen, behandelt die »Philo- den und das auch öffentlich äußerten. sophische Anthropologie« als einen Denkansatz Fischer, langjähriger Vorsitzender der Pless­ des 20. Jahrhunderts, der von der »philosophi- nergesellschaft und am Lehrstuhl von Karl-Sieg- schen Anthropologie« als einer Subdisziplin der bert Rehberg, dem Herausgeber der Gehlen-Ge- Philosophie zu unterscheiden sei. 1928 erscheinen samtausgabe, beschäftigt, versucht dagegen, die die beiden Werke, die den »Durchbruch« für die Gemeinsamkeiten zu zeigen. Das muß er auch, Denkrichtung bedeuten: Die Stellung des Men- da sonst seine These vom Denkansatz hinfällig schen im Kosmos von Max Scheler und Die Stu- wäre. Er macht einen Identitätskern aus, der in fen des Organischen und der Mensch von Hel- einer typischen Denkbewegung besteht, die die muth Plessner. Fischer entwickelt davon ausge- Selbstgewißheit des Geistes voraussetzt, jedoch hend die Realgeschichte dieses Ansatzes auf eine dort nicht einsetzt, sondern beim Objekt (dem gleichzeitig verständliche und spannende Art und Leben) und sich dann durch dessen Stufen hin- Weise. Zunächst konnte sich dieser Denkansatz auf zum Menschen bewegt, bei dem sie einen nicht konsolidieren, sondern blieb randständig. Bruch mit dem allgemeinen Lebenskreis konsta- Vor allem die Existenzphilosophie und die Spät- tiert. Der Bruch kann sich dann als »Handlung« ausläufer der Lebensphilosophie bestimmten die (Gehlen), »Weltoffenheit« (Scheler) oder »ex- philosophischen Debatten der nächsten Jahre. zentrische Positionalität« (Plessner) zeigen. So- Scheler war da bereits tot, doch für Plessner war weit überzeugt Fischers Argumentation, weil sie diese Nichtbeachtung bitter, zumal ihm noch un- denkansatzimmanent vorgeht. Was so nicht aus- terstellt wurde, von Scheler abhängig zu sein, was reichend deutlich wird, sind die Gründe für das er nicht war, wie Fischer zeigen kann. Scheitern des Ansatzes, warum er sich gegen die Die Entscheidung über die Tragfähigkeit des Konkurrenten nicht behaupten konnte. Immer- Ansatzes fällt in den Jahren zwischen 1934 und hin war Gehlen einer der wirkmächtigsten Den- 1944, als neue Autoren mit eigenen Ansätzen ker der Bundesrepublik und die Überzeugungs- hinzutreten: neben Erich Rothacker und Adolf kraft seiner Thesen nimmt zu.

34 Lehnert – Philosophische Anthropologie Gerd-Klaus Kaltenbrunner ist siebzig von Götz Kubitschek

Im August 2007 beantwortete der Privatgelehrte dem Boden der bürgerlich-liberalen Gesellschaft Gerd-Klaus Kaltenbrunner den Fragebogen der überhaupt mögliche Nihilismus. Daß große Teile Wochenzeitung . Für diejenigen, des liberalen Establishments diesen Nihilismus die sein Werk noch kennen, war es ein überra- nicht als Feind, sondern als ›eine neue Gelegen- schendes Signal, daß er sich zur Beteiligung an heit für glänzende Geschäfte‹ (Irving Kristol) an- der Häppchenkultur eines Fragebogens hinrei- sehen, ist eines der krassesten Symptome für die ßen ließ: Seine beiden letzten Werke nämlich, konstitutionell opportunistische und prinzipien- Johannes ist sein Name (1993) sowie Dionysius lose Haltung einer bürgerlichen Gesellschaft, die vom Areopag (1996), umfassen 490 und 1380 aufgrund der von ihr praktizierten Maximen un- Seiten, und einen langen Atem benötigt, wer in fähig ist, Selbstverwirklichung mit Selbstzerstö- diese Tiefen der Mystik hinuntersteigen möchte. rung nicht zu verwechseln.« Die Antworten auf den Fragebogen also das seit Kaltenbrunner gehört zu der seltenen Spe- langem erste profane Zeichen aus Kaltenbrun- zies, die nicht nur selber denken und irgendwo ners Klause bei Freiburg. mitmachen, sondern eigene Projekte aufzie- Wohin verschwand Kaltenbrunner (gebo- hen möchte. Er stieg mit hohem Einsatz in den ren 1939 in Wien) und von woher kam er? Er Kampf um den Bestand von Volk, Nation, rech- kam aus dem Zentrum der deutschen Rech- ter Weltsicht und konservativem Lebensstil ein. ten und verschwand in ein Haus am Ende eines Zwar hielt auch er den irrationalen Siegeszug Schwarzwalddorfs. Er trug den Ruf eines belese- der Neuen Linken nicht auf, aber er bewahrte nen, wortgewaltigen Publizisten der Konservati- die Flamme und wurde durch die Wende von ven, der Traditionen bewahrte, Themen setzte 1989 doch in einem entscheidenden Punkt bestä- und Fragestellungen auf den Punkt brachte. tigt. Dennoch scheint gerade diese Wende eini- Kaltenbrunner schrieb die Vorworte zu der von gen rechten Streitern die Kraft geraubt oder Ent- ihm über ein Jahrzehnt herausgegebenen Reihe täuschung bereitet zu haben – jedenfalls gingen Initiative des Herder-Verlags mit der Selbstsi- Männer wie Bernard Willms und eben Gerd- cherheit eines Mannes, der weiß, daß sich in ihm Klaus Kaltenbrunner von Bord. Lag es daran, Traditionslinien kreuzen. Neben den dickleibi- daß man nach einer kurzen Erwartungsspan- gen Bänden Europa. Seine geistigen Quellen in nung (wie während der Ouvertüre vor dem noch Portraits aus zwei Jahrtausenden ist es vor al- geschlossenen Vorhang) vom Bühnenbild total lem diese Reihe Initiative – gruppiert um das enttäuscht war und überall den alten Trott zu Schlagwort einer »Tendenzwende von rechts« –, konstatieren hatte? die in jede Bibliothek gehört (man kann sie sich Kaltenbrunner jedenfalls zog sich zurück im Internet zusammenkaufen). Kaltenbrunner und äußerte sich nicht mehr politisch. Er hat markierte mit dieser Reihe seinen Standpunkt über diesen Rückzug nie Auskunft erteilt, auch eines an der Vernunft, am Durchdachten orien- nicht auf Nachfrage. So bleiben die Fragen ste- tierten Konservativen. hen: Ist er gegangen, weil jeder, der heute noch Daß diese Betonung des besseren Arguments im Oberflächengeschäft der Politik tätig ist, seine einhergehen kann mit einem dringlichen Ton, Zeit vergeudet? Ist er gegangen, weil er sah, daß bewies Kaltenbrunner in den vielen Artikeln für selbst sein nicht geringer Einfluß als Herausge- Criticón und in den Büchern, die er herausgab ber und Publizist nichts austrug? Oder fragen oder selber schrieb. Eine Kostprobe aus dem Jahr wir falsch, und Kaltenbrunner hatte einfach al- 1974: »Der Hauptfeind der bürgerlichen Gesell- les gesagt, was er politisch zu sagen hatte? schaft ist nicht der orthodoxe Marxismus, der Wir wissen es nicht. Kaltenbrunner jeden- inzwischen ohnehin schon eine konservative Phy- falls wird am 23. Februar siebzig Jahre alt – wir siognomie angenommen hat, sondern der nur auf gratulieren herzlich!

Kubitschek – Kaltenbrunner 35 Rezensionen | Sezession 28 · Februar 2009

Belletristik genschaft. »Kaltenburg« und wissen nichts mehr zu tun. stammt wie Lorenz aus Wien Aber dann sammeln sie die Marcel Beyer: Kaltenburg, Ro- und kann nach dem Krieg in Toten ein, und Funk berichtet: man, Frankfurt a. M.: Suhr- Österreich aufgrund seiner NS- »Nichts wissen die Schimpan- kamp 2008. 393 S., 19.80 € Vergangenheit keine Professur sen von der Identifizierung ver­ antreten. Beide gründen ein storbener Angehöriger, nichts Wer über Vergangenes berich­ten Institut und stiften die Grund- von den Toten, die man in eine möchte, muß genau beo­bachten, lagen der Verhaltensforschung, Reihe im Gras bettet, und nichts die Beobachtungen redlich deu- die Romanfigur in derDDR , davon, wie man einen Leichnam ten und die Erkenntnisse in Lorenz ab 1950 in Westfalen. an Schultern und Füßen greift, Relation zu anderen Perspekti- Vergleichende Verhaltensfor- um ihn zu seinesgleichen zu ven stellen. Auch für den litera- schung: Beyers Roman ist ver- tragen. Und dennoch schließt rischen Erzähler mit histori- gleichendes und abgleichendes sich ein Affe nach dem anderen schem Anspruch sollten diese Schreiben, wobei dies vor allem dieser Arbeit an.« drei Regeln gelten. Schließlich den Verzicht auf das Grelle, den Ist das so geschehen? Wir wis- beansprucht er doch zu schrei- Effekt bedeutet. Wer genau sen es nicht, jedenfalls: Es hätte ben, wie es hätte ge­schehen beob­achtet, deutet und ver- so gewesen sein können. Beyer können. gleicht, kann unmöglich Gut läßt Funk im ersten Kapitel Beobachten, deuten, relativie- und Böse verteilen, schwarz diese apokalyptische Szene be­ ren: Mit diesem auf das Schrei- und weiß malen, richten und richten, weil in ihr eine grund- ben übertragenen wissenschaft­ freisprechen. Gelebt werden sätzliche Angst seines Erzählers lichen Kodex ist die literarische muß immer, das ist schon die gründet: die Auflösung des Verfahrensweise Marcel Beyers ganze Weisheit. Gewohnten im Extremfall, die markiert. Sein Roman über den Und so verbergen sich hinter Verwischung der Grenze zwi- berühmten Ornithologen Lud­ dem Projekt-Künstler Martin schen Mensch und Tier, die wig Kaltenburg kommt ohne Spengler und dem Tierfilmer traumatische Grundierung das Klischee aus. Er bedient die Knut Sieverding zwei Berühmt- eines Lebens. Funk verlor im Erwartungshaltung seiner Leser heiten, die als Deutsche im Bombardement seine Eltern. nach klaren Rastern nicht und Kriege und damit – so billig ist An diesem Schock des Verlusts darf als Gegenstück zu jener das heute – auf der falschen hat er sein Leben auszurichten. sensationsheischenden Beschäft­ Seite gedient haben: der Bord- Dorther rührt seine Urform der igung mit der Vergangen­heit schütze Joseph Beuys und sein Angst, und auch damit ist er gelten, die der junge Fran­zose Ausbilder Heinz Sielmann. wissenschaftlich bestens aufge- Jonathan Littell im vergangenen Jeder dieser Männer hat viel hoben bei Kaltenburg: »Urfor- Jahr zu seinem Erfolgsrezept er­lebt, hat handeln müssen, hat men der Angst« nennt Beyer machte – wie so viele vor ihm. leben, kämpfen, ja überleben das im Roman beinahe my- An solcherlei pfle­gen sich Feuil- müssen. Aber das wird nicht thisch aufgeladene Hauptwerk letonisten abzuarbeiten. klar erzählt, ausgeleuchtet, vor Kaltenburgs. An Kaltenburg kann man sich ein Publikum gezerrt. Beyer Ist Angst eine arterhaltende nicht abarbeiten. Die Ge- in­sistiert nicht, sondern deutet Kraft? Konrad Lorenz schrieb schichte beginnt im Warthegau an, und wenn sich der Leser in seinem Werk über Das soge- und endet in Dresden. Dazwi- sicher wähnt, daß nun die Be- nannte Böse der Aggression schen wird ein Forscherleben wältigungsflut losbricht, versic- diese Eigenschaft zu. Wie Lo- nachgezeichnet. Der gebürtige kert der Bericht. Wie es um eine renz überträgt Kaltenburg die Wiener Kaltenburg tritt erst- Figur steht, ist dann nur an aus der Tierbeobachtung ge- mals in Posen in Erscheinung, ihrem Verhalten ablesbar, und wonnenen Erkenntnisse auf das verschwindet dann als Gefan- selbst hier nur für den, der ver­ menschliche Verhalten und ver­ genenarzt in sibirischen Lagern gleichend blicken und redlich bindet sie zu einer Konstanten und bleibt nach der Entlassung deuten kann – wie Lorenz, wie des menschlichen Antriebs vor in Dresden, um im Villenviertel Kaltenburg, wie Beyer. jeder Geschichte. Loschwitz eine Forschungsan- Nur einmal wird es richtig grell. In solch großen Deutungsver- stalt für Ornithologie aufzu- Da berichtet Kaltenburgs Schü- suchen gründet der Ernst des bauen. ler Funk, der Erzähler des Ro- Lebens und des Erzählens: Das Kaltenburg ist charismatisch, mans, daß nach den Angriffs- individuelle Verhalten ist nicht erfolgreich, misanthrop, rätsel- wellen der alliierten Bomberge- mehr launisch oder eine kokette haft. Der Leser wird in ihm schwader auf Dresden eine Mode. Es gibt vielmehr in Ab- Konrad Lorenz wiedererkennen: Horde Affen aus dem brennen- schattierungen immer Auskunft Neben den Initialen teilen fik- den Zoo in den Großen ­Garten darüber, welche Angst (oder tive und historische Figur Ge- geflohen sei. Vögel fallen feder- bei Lorenz: welche Aggression) burts- und Sterbejahr, die Pro- los aus der glühenden Luft, und den Beobachteten treibt. fessur in Königsberg und lange die Menschen stehen auf den Jahre sowjetischer Kriegsgefan- Wiesen zwischen den Leichen Götz Kubitschek

36 Rezensionen POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

ISBN ISBN 978-3-902475-52-7 978-3-902475-61-9 Andreas Vonderach Albrecht Rothacher ANTHROPOLO- STALINS LAN- GIE EUROPAS GER SCHATTEN Völker, Typen und Medwedjews Gene vom Rußland und der Neandertaler bis postsowjetische zur Gegenwart Raum 448 Seiten, zahl - 336 Seiten, S/W- reiche Skizzen, Abbildungen, Hardcover Hardcover € 39,90 € 19,90

Was sagen Genetik, Archäologie und Sprach wissenschaft über den Mit dem Zerfall der alten Sowjetunion hat sich die politische Ursprung und die Entwicklung der europäischen Völker? Erstmals Landkarte nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Zentralasien faßt ein Buch den aktuellen For schungsstand zusammen. Der erste und im Kaukasus dramatisch verändert. Rothacher, Kenner dieser Teil des Buches untersucht die Entwicklung Europas von der Steinzeit Regionen, beschreibt dieses neu entstandene labile Gleichgewicht bis zur Gegenwart aus Sicht der Anthro pologie. Der zweite Teil wid- zwischen Moskauer Zentralgewalt und den Oligarchen sowie dem met sich den heutigen europäischen Völkern selbst. Woher kommen „nahen Ausland“ Rußlands und den neuen asiatischen sie, welche Prozesse haben sie geformt, von wem stammen sie ab und Bündnissen. wie nah sind sie miteinander verwandt?

ISBN ISBN 978-3-902475-59-6 978-3-902475-42-8 Björn Schumacher Rudolf von DIE Ribbentrop ZERSTÖRUNG MEIN VATER DEUTSCHER JOACHIM VON STÄDTE IM RIBBENTROP LUFTKRIEG Erlebnisse und „Morale Bombing“ Erinnerungen im Visier von 496 Seiten, S/W- Völkerrecht, Abbildungen, Moral und Hardcover Erinnerungskultur € 29,90 344 Seiten, ca. 30 S/W-Abbildungen, Hardcover € 19,90

Der planmäßige Bombenkrieg der Westalliierten wird immer öfter Außenminister Joachim von Ribbentrop gehört zu den historisch kontrovers diskutiert. Der Autor zieht Bilanz aus diesem heftigen umstrittensten Personen der neueren deutschen Geschichte. öffentlichen Disput der letzten Jahre und behandelt dabei besonders Erstmals versucht sein Sohn, Rudolf von Ribbentrop, viele der die moralische und völkerrechtliche Dimension der strategischen scheinbar festgefügten Urteile aus eigener Erfahrung zurechtzu- Flächenbombardements. rücken. Ein Buch von hohem zeitgeschichtlichen Wert.

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder gleich direkt im Versand über: ARES VERLAG Bücherquelle Buchhandlungsgesellschaft m.b.H., Hofgasse 5, A-8011 Graz, Tel.: +43/316/821636, Fax: +43/316/835612, www.ares-verlag.com E-Mail: [email protected], www.buecherquelle.at Juden und NS I reich, hochmütig, zugleich aber konzentriert und das spezifisch Moshe Zimmermann: Deutsche als schwerfällig und »nicht Deutsche daran herausarbeitet. gegen Deutsche. Das Schicksal schlau« im jüdischen Sinn. Ihr Dabei weist er Mitverantwor­ der Juden 1938 – 1945, Berlin: sozialer Absturz seit 1933 er- tungsvorwürfe an die deutschen Aufbau 2008. 315 S., 22.95 € zeugte so etwas wie Schaden- Juden zurück, die sowohl von freude. Es gab folglich starke jüdisch-orthodoxer wie zioni- Ein in den vierziger Jahren in Gegensätze, die sich teilweise stischer Seite erhoben wurden, Israel entstandener Witz macht bis in innerjüdische Feindselig- aber auch von »guten Deut- sich über stockende Bauarbeiten keiten noch in Konzentrations- schen«. Seiner begründeten in Tel Aviv lustig. Grund waren lagern äußerten. Wer es bis Ansicht nach gab es für das die Bauarbeiter, die sich keinen nach Palästina geschafft hatte, sich als deutsch empfindende, Backstein ohne kleine Verbeu­ so Zimmermann, traf auf eine häufig getaufte und bürgerlich gung und einen auf deutsch Ablehnung, die manchmal an verankerte Judentum, also für ge­murmelten Kommentar wei- die Sprache des Antisemitismus die Mehrheit des in Deutsch- terreichen konnten: »Bitte sehr, in Deutschland erinnerte. Auch land als Juden verfolgten Per- Herr Professor«, »Vielen Dank, aus diesen Gründen fand das sonenkreises, keine realistische Herr Oberstaatsanwalt«, ... Schicksal speziell der deutschen Möglichkeit zu Flucht oder Wi- Durchaus in diesem Sinn skiz- Juden in der Geschichtsschrei- derstand. Die Bürokratie schlug ziert Moshe Zimmermann das bung zur nationalsozialisti- erfindungsreich zu. Zimmer- Bild des deutschen Judentums schen Judenverfolgung nur am mann zeigt dies ohne Scheu innerhalb der jüdischen Ge- Rande Aufmerksamkeit. Die vor unbequemen Querverwei- meinschaft. Er schildert zahl- Holocaustliteratur befaßt sich sen, wie etwa jenem auf die reiche Anspielungen mit ähnli- in der Regel mit der innerdeut- Selbstmorde unter deutschen cher Zielrichtung, in denen sich schen Judenverfolgung bis zur Juden, die 1940 als »enemy das Unbehagen vieler osteuro- Reichskristallnacht 1938 und aliens« aus England nach Au- päischer und orientalischer wendet sich danach einer ge- stralien deportiert werden soll- Juden gegenüber den verfolgten samteuropäischen Perspektive ten. Ein gelungenes Buch, das Deutschen widerspiegelt. Sie zu oder speziell der Geschichte einen vernachlässigten Aspekt wurden bereits wegen ihrer der Ghettos und Lager. Es ist deutsch-jüdischer Symbiose in Sprache mit den nationalsozia­ Zimmermanns Anliegen, dies Erinnerung ruft. listischen Feinden in Verbindung durch eine Darstellung zu än- gebracht; sie galten als gebildet, dern, die sich auf ihr Schicksal Stefan Scheil

Juden und NS II Kriegsbereitschaft Hitlers, weist ment-Kurs Chamberlains ab- Stefan Scheil: Churchill, Hitler allerdings darauf hin, daß die lehnte und die wichtigsten und der Antisemitismus, Ber- anderen europäischen Staaten Köpfe der liberalen, linken und lin: Duncker & Humblot 2008. und die USA nicht paralysiert jüdischen Befürworter einer 335 S., 28.00 € auf Berlin starrten, sondern antideutschen Politik in Lon- zwischen 1933 und 1939 Gele- don vereinte. Der Vorwurf des »Relativis- genheit hatten, ihre eigenen Der Focus war auf einen Kon- mus« wiegt schwer. Er wurde Konzepte zu entwickeln und frontationskurs aus, der sich mehr als einmal gegen Stefan deren Verwirklichung vorzu- auch durch den Antisemitismus Scheil erhoben. Sieht man von bereiten. des NS-Staates gerechtfertigt den politischen (oder strafrecht­ Die Brisanz der Analyse Scheils sah, während man in Berlin lichen) Implikationen ab, geht liegt darin, daß er angesichts auch deshalb zu immer schär- es vor allem um ein grundsätz- des Pluralismus in den Politi- feren antijüdischen Maßnah- liches methodisches Problem: schen Klassen moderner Staa- men schritt, weil der Haß ge- Kann man historische Ereig- ten nicht nur die offizielle Re- gen jüdische »Drahtzieher« nisse verstehen und beurteilen, gierungspolitik in den Blick damit so etwas wie einen ra- ohne diese in »Relationen« zu nimmt, sondern auch die Be- tionalen Kern besaß: Jedenfalls bringen, das heißt ohne sie in strebungen der informellen trug dieser Nebenkonflikt zur Verbindung zu setzen mit an- Gruppen. So stehen einander Verschärfung des Hauptkon- deren historischen Ereignissen? gegenüber: die deutsche Reichs­ fliktes und damit zur Entste- Die Notwendigkeit eines sol- regierung, die sich nach Scheil hung der Lage im Sommer 1939 chen Relativismus wird eigent- im Frühjahr 1939 erst einmal bei, in der sich sowohl Sowjet­ lich nur in bezug auf die NS- als »saturiert« betrachtete, und union als auch USA als die Zeit ernsthaft in Frage gestellt. Warschau, das im Vertrauen Umworbenen sahen, die ange- Das gilt auch und gerade für auf die britische »Blankovoll- sichts des Zusammenpralls in die Analyse der antisemitischen macht« einem Krieg mit der Mitte Europas erst einmal Maßnahmen des NS-Regimes Deutschland hoffnungsvoll ent­ abwarteten, um schließlich als und die Vorgeschichte des Zwei­ gegensah. Entscheidende Ver- wahre Sieger aus dem Krieg ten Weltkriegs. antwortung für die »Blanko- hervorzugehen. Zwar hat auch Scheil keinen vollmacht« hatte wiederum die Zweifel an der prinzipiellen Focus-Gruppe, die den Appease­ Karlheinz Weißmann

38 Rezensionen Feldzug der Akademiker Akademischer Feldzug man unter »Bürgerlichkeit« ver­ (postheroisch) steht. Mit dieser Ungenauig- Marc Zirlewagen (Hrsg.): keit hängt auch Klärners Defi- »Wir siegen oder fallen«. Andreas Klärner: Zwischen nition derer zusammen, die er Deutsche Studenten im Ersten Militanz und Bürgerlichkeit. mit dem Etikett »rechtsextrem« Weltkrieg. Abh. zum Studen- Selbstverständnis und Praxis versieht. Die sogenannte »Neue ten- und Hoch­schulwesen, Bd. der extremen Rechten, Ham- Rechte«, Junge Freiheit oder 17, Köln: SH-Verlag 2008. 453 burg: Hamburger Edition Publizisten wie Heimo Schwilk S. m. Abb., 44 € 2008. 348 S., 25 € werden in einem Atemzug mit NPD und Freien Kameradschaf- Studierende Bürgerkinder, die Angeblich sei ein Großteil der ten genannt. Dies geschieht es nach langen Friedens- und Abnehmer moderner Antifalek- unter abermaliger Bemühung Wohlstandszeiten in einem An­ türe unter den dort »untersuch- des Diktums einer »Scharnier- flug von Politpathos und Sozial­ ten« Rechten selbst zu fin­den. funktion« (W. Gessenharter), romantik aus den Hörsälen Das würde den gelegent­lich die jene »rechtsextremen« In- treibt, die auf einmal den Pro- vorgebrachten Analphabetis- tellektuellenkreise ausübten. letarier entdecken, sich als mus-Verdacht entkräften. Es Als »rechts« gilt die CDU, als Avantgarde begreifen und zum spräche umgekehrt für die psy- »extrem« sämtliche publizisti- großen Kampf aufrufen: Das chologische Deutung linker So­ schen Auftritte, die jenseits klingt nach ’68, ist in diesem ziologen, daß Rechtsextreme eines »mittigen« Spektrums Fall aber August 1914. ein geringes Selbstbewußtsein einzuordnen sind. »Vordenker« Von den 60.748 Immatrikulier- zu kompensieren hätten – den hat Klärner in A-Stadt nicht ten des Sommersemesters 1914 eigenen Namen als Fußnote getroffen, wohl aber »Macher«. standen am Ende des Jahres vor­zufinden, mag als Vitalitäts­ Das »Scharnier« bleibt eine etwa 40.000 im Kriegsdienst. beweis dienen. Andreas Klär- Behauptung. »Eine ganze Studentengene­ ners Dissertation über Selbst- Rechtsextremismus wird als ration von zehn Semestern verständnis und Praxis der ex­ so­ziale Bewegung aufgefaßt. Er studierte mehrheitlich nicht tremen Rechten dient nicht als organisiere sich netzwerkartig, mehr in den Hörsälen, sondern Regalfüller für Profilneurotiker, greife statt auf formale Pro- auf den Schlachtfeldern«, heißt da er Objekte und (ostdeut- gramme auf ein breites Reper- es eingangs des jetzt erschiene- schen) Ort seiner Studie anony- toire an Aktionsformen zurück. nen Sammelbandes »Wir siegen misiert aufführt. Tapfer (ange- Unterschieden wird zwischen oder fallen.« Deutsche Studen- sichts der Gefahren, die er ver- koordinierender »Bewegungs- ten im Ersten Weltkrieg. mutete) zog er ins Feld, be- elite«, Aktivisten und Sympa- Im Unterschied zu den hedoni- waffnet nur mit seinen Butter- thisanten – Klärner geht davon stisch orientierten Revoluzzern wegges, Heitmeyers und aus, daß bundesweit bis zu 15 der Wirtschaftswunderfolge- Gessenharters – also: einschlä- Prozent (!) der Bürger zum »har­ jahre hatte die akademische giger Tendenzliteratur. Seine ten Kern«(!) mit rechtsextremi- Jugend ein halbes Jahrhundert »Orientierung im Feld« – die stischen Einstellungen gehören. zuvor allerdings einen hohen »Feld«-Terminologie ist allge- Weder »Gewaltverzicht« noch Preis für ihren Idealismus zu genwärtig – fand um 2001 »Zivilisierungsgebot« der entrichten: Mit 16.000 Gefal- statt, insofern kann kaum vom Rechten vermögen Klärner lenen – einem Fünftel aller aktuellen Stand der Dinge die hoffnungsfroh zu stimmen. Er Hochschüler – war ihr Anteil Rede sein. Auf tausend Klad- hält dies für strategische Be- an den Kriegstoten überpro- denseiten hielt Klärner fest, was mühungen und verdächtigt portional hoch, und jeder er bei Begegnungen mit Prota­ seine Gesprächspartner, nicht kennt Bilder der wie Garben gonisten der rechten Szene in aus Überzeugung, sondern aus hingemähten Studenten vor »A-Stadt« erlebte und, ja, Zweckmäßigkeitserwägungen Langemarck, die sangen, bevor fühlte. Immerhin stand auch gewaltfrei zu agieren. Damit sie fielen. die Auseinandersetzung »mit dürfte sich der Kreis schließen Obwohl einige Beiträge in Zir- eigenen Ängsten und Vorbehal- und die Frage beantwortet lewagens Zusammenstellung ten gegenüber Rechtsextremen« sein, warum ein Mensch (und auf bestimmte Korporationen auf der Agenda des wissen- seine Zuarbeiter: die Dankesli- oder Hochschulorte speziali- schaftlichen Kriegers. ste ist immens) Jahre damit siert sind, entsteht ein sicher Der Buchtitel »Zwischen Mili- verbringt, eine marginale und allgemeingültiges Bild vom tanz und Bürgerlichkeit« mar- – wie Klärner selbst sagt – öf- Erleben an der Front und in kiert nicht das Spektrum eines fentlich geächtete Gruppe zu der Heimat. Lobenswert, daß habituellen von – bis, sondern durchleuchten: Wenn Gewalt- dabei den zeitgenössischen einen Zwischenraum, der ge- losigkeit nur eine Show ist und Stimmen der jungen Akademi- rade diese Pole nicht tangiert. der Sympathisantenkreis Mil- ker – ob in Feldpostbrief oder Denn seine Gesprächspartner lionen Bundesbürger beträgt, Gedicht – der Vorrang vor zeigten sich weder gewalttätig dann steht uns Ungeheuerli- Kommentierungen eingeräumt (wenn ihnen auch potentielle ches ins Haus. Da seien Klär- wird. Gewaltbereitschaft unterstellt ner & Co. vor! wird), noch weisen sie Berüh- Christian Vollradt rungspunkte zu dem auf, was Ellen Kositza

Rezensionen 39 Ungezähmt: Der Bär Autoren, die sich mit der Zei- dabei um eine ebenso vitale chensprache des Menschen wie archaische Religiosität, die Michel Pastoureau: Der Bär. be­faßt, hat er immer Sinn für wesentlich älter war als die Geschichte eines gestürzten die Bedeutung der »longue germanischen Glaubensvor- Königs, Neu-Isenburg: Wun- durée« bewiesen, die »lange stellungen im engeren Sinn. derkammer 2008. 383 S., 22 Dauer« im Hinblick auf die Das ist auch am Berserkerkult farbige Abb. auf Tafeln, 29.95 € Symbole. Nur wenige Sinnbil- ablesbar: Dabei wird ein Mann der sind so geeignet das Ge- durch das Überwerfen eines »Wunderkammer« war der meinte zu illustrieren wie der Bärenfells zum Bären – ein Name für jene Räume in den Bär. Wandlungszauber, der auf sehr Schlössern der Vergangenheit, Pastoureau beginnt seine Dar- weit zurückliegende Wurzeln in denen Herrscher alles aus- stellung mit einem Rückblick verweist. stellten, was ihnen und ihren auf die »Bärenkriege« Karls Pastoureau glaubt, daß man es Zeitgenossen überraschend des Großen, der in zwei syste- hier mit einer späten Form der oder faszinierend, eben wun- matischen Feldzügen nach der im Paläolithikum entstand­enen derbar, erschien: Überbleibsel Niederwerfung der Sachsen Urreligion zu tun hat, deren des Einhorns und Waffen Jagd auf das große Raubtier »ältester Gott« der Bär war. legen­därer Helden, Fossilien machen ließ. Und er verweist Reste entsprechender Kulte und prunkvolle oder unschein- darauf, daß es dabei nicht in lassen sich bis heute in nördli- bare Gegenstände aus weiter erster Linie um praktischen chen Gefilden nachweisen. De- Ferne. In diesem Sinn hat sich Nutzen – etwa die Vernichtung ren Bestand wird in diesem der junge Wunderkammer-Ver- eines Nahrungskonkurrenten Buch auf ebenso kenntnisreiche lag vorgenommen, die Leser zu der Menschen – ging, sondern wie unterhaltsame Weise prä- überraschen, zu faszinieren und um eine Maßnahme, die in sentiert, erschlossen durch Re- mit dem Wunderbaren vertraut enger Verbindung mit der gister und illustriert mit Abbil- zu machen. Wenige Autoren Christianisierung der heidnisch dungen mittelalterlicher Dar- sind dazu so geeignet wie Mi- gebliebenen germanischen stellungen des »gestürzten Kö- chel Pastoureau, der französi- Stämme stand. Diese verehrten nigs«, der hier und da Reste sei- sche Mediävist und Meister den Bären – darin den skandi- nes Reiches verteidigen konnte. der Symbolgeschichte. navischen Völkern gleich – wie Anders als die Mehrzahl der einen Gott. Es handelte sich Karlheinz Weißmann

Zähmbar: Sexualität Weltmachtsbestrebungen – zu- boomenden SilverSex-Markt tage. Was das wohl im Umkehr­ für die Generation 60 plus – Robert Muchembled: Die Ver- schluß für unsre übersexuali- mit weicheren Normen kon- wandlung der Lust. Eine Ge- sierte, permissive Gegenwart frontiert, die dennoch als eine schichte der abendländischen bedeuten mag? Art »Gebotstafeln« wirken. Sex Sexualität, München: DVA Muchembled weist dem Sexual­ bleibt ein Druckmittel; einerlei, 2008. 400 S., 24.95 € trieb eine enorme und womög- ob man seine Wirksamkeit von lich überhöhte Bedeutung für innen oder äußere Infiltrierung Robert Muchembled, Ge- das »Menschenganze« zu. Wo betrachtet. schichtsprofessor in Paris, ist ihn die Quellenlage im Stich Schaut man auf die vielhundert den abendländischen Transfor- läßt, spekuliert er. Wenn zu Beispiele »ausgewählter Litera- mationen des sexuellen Begeh- manchen Zeiten Hinweise auf tur«, die Muchembled im An- rens nachgegangen. Er fokus- Vergewaltigungen, un- oder hang nennt, auf die lange siert sich dabei auf England vor­eheliche Schwangerschaften (Dankes-)Liste der ihn zum und Frankreich und beginnt mit rar sind, wird für die Kohorten Thema beratenden Freunde, dem 16. Jahrhundert. Seine unverheirateter junger Männer und rechnet noch die entspre- (nicht ganz neue, aber durch die entweder auf manische Selbst- chenden ungezählten Veröffent- quellenmäßig reiche Unterfütte- befriedigung, homosexuelle lichungen, Umfragen und talks rung immerhin lesenswerte) Praktiken oder Verkehr mit auf Boulevard-Niveau hinzu, These: gesellschaftliche Sexual­ Tieren geschlossen. Dann spre- dann darf man zeitgenössische repression habe zu einer Kanali­ che »die geringe Zahl verfolgter Sexualität als Patienten perso- sierung von Energie und Vitali­ Verfehlungen dafür, daß solches nifizieren, der hier zum Sezie- tät in andere Gebiete geführt. Verhalten stillschweigend ge- ren bereitgelegt wurde. Vom Sozusagen: Wo der Unterleib duldet wird.« Ein befremdli- Schummerdunkel übers Zwie- ein verbotenes Ventil darstellte, cher, wissenschaftlich nicht licht ins Hellgrelle: Wo mag sich mußte sich die dem Menschen astreiner Schluß. eigentlich Monsieur Sexus, die- innewohnende Dynamik den Wenn Sexualverhalten einst ser perfide Dämon, wohler ge- Weg durch Herz, Geist und strenger Reglementierung un- fühlt haben? Vielleicht tendieren Hirn bahnen. Die entsprechend terlag und sich häufig in Form moderne Gesellschaften auch mächtigen Erzeugnisse traten einer »Doppelmoral« Wege deshalb zum Zeugungsstreik. kulturell und künstlerisch so- brach, so sehen wir uns heute wie politisch – da vor allem in – von der Bravo bis hin zum Ellen Kositza

40 Rezensionen Europäer im Visier durch erbfeste morphologische nicht der Raum zur Verfügung, Merkmale unterschiedene – um Einzelheiten zu referieren, Andreas Vonderach: Anthro- Großgruppen innerhalb der aber es soll doch auf zwei As- pologie Europas. Völker, Spezies homo sapiens. pekte hingewiesen werden, die Typen und Gene vom Nean- Das wäre weniger problema- Vonderach betont: das hohe dertaler bis zur Gegenwart, tisch, wenn man von seiten der Maß an Kontinuität in der Be- Graz: Stocker 2008. 448 S., Wissenschaft – in diesem Fall völkerungsstruktur Europas zahlr. Abb., Karten und Skiz- der Anthropologie – festen und die Klarheit, mit der sich zen, 39.90 € Rückhalt hätte. Das ist leider ethnische Gruppen trotz der nicht der Fall. In der Öffentlich­ Wanderungen, Invasionen und Vor einiger Zeit erregte die Mel­ keit mißtrauisch beäugt, hat Grenzverschiebungen bis heute dung Aufsehen, daß das »Insti- man sich dort entschlossen, unterscheiden lassen. tut für Menschenrechte« – eine niedriges Profil zu zeigen. Um Seit der knappen Einführung, bis dahin eher unbekannte so überraschender, daß es ein- die Ilse Schwidetzky, die doy- NGO – die Forderung erhoben zelne gibt, die – wenngleich am enne der deutschen Anthropo- habe, die Verwendung des Be- Rande der scientific commu- logie, zu Rassen und Rassen- griffs »Rasse« überhaupt zu nity – unbeirrt daran festhal- bildung beim Menschen gelie- untersagen, und selbst der ten, daß man sagen muß, was fert hat, bis zum Erscheinen des Kampf gegen den »Rassismus« ist. Andreas Vonderach wird Buches von Vonderach ist kein müsse ohne seine Leitvokabel man zu dieser Minderheit zäh- Buch zu diesem ebenso komple- auskommen. Die Sache ist im len können. Er hat mit seinem xen wie wichtigen Thema von Sande verlaufen und erscheint Buch zur Anthropologie Euro- einem deutschen Wissenschaft- eher als Skurrilität. Dennoch pas eine Untersuchung vorge- ler verfaßt worden, das geeig- darf man nicht verkennen, daß legt, die dem Laien einiges an net wäre, über Mißverständ- wenigstens unter den Halbge- Konzentration und Ausdauer nisse aufzuklären und eine bildeten die Vorstellung Platz bei der Lektüre abverlangt, die sachgerechte Vorstellung davon greift, daß es so etwas wie dafür aber belohnt mit einer zu liefern, was es mit der Rasse menschliche Rassen eigentlich gediegenen wie umfassenden, des Menschen – in diesem Fall gar nicht gibt, vielleicht rassige gelegentlich enzyklopädischen, der Europäer – auf sich hat. Frauen und Rassegeflügel, aber Darstellung zur Bevölkerungs- eben keine hinreichend klar – geschichte Europas. Es ist hier Karlheinz Weißmann

Europa im Visier suche« versteht, »für die isla- Ulfkotte ernstgemeinte Be- mische Täter verantwortlich wunderung abringt: Ihm zu- Jürgen Elsässer: Terrorziel Eu- gemacht wurden.« Allein die folge hat Elsässers Werk »das ropa. Das gefährliche Doppel- akribische Recherche und die Zeug, den Autor zum deut- spiel der Geheimdienste, gute Lesbarkeit des Textes schen Michael Moore zu ma- St. Pölten / Salzburg: Residenz – kurzweilig und frei von Pole- chen«. Denn wie dieser stellt er Verlag 2008. 344 S., 21.90 € mik – nötigen Respekt ab. die richtigen, d. h. tabuisierten Vielmehr aber beunruhigen Fragen – und schildert am Bei- Wie ernst steht es um die Ge- Elsässers Ergebnisse durch ih- spiel von »Londonistan« Zu- fahr des islamistischen Terrors? ren frappierenden Befund: »In stände, die selbst einen James Einschätzungen und Mei­ fast allen Fällen spielten Agen- Bond zur Demission bewegen nungen hierzu sind vielfältig, ten oder V-Männer von Ge- würden. Hier nämlich schufen all­ein Fakten sind rar. Warum heimdiensten eine tragende militante Prediger »mit Ge- dies so ist oder wenigstens sein Rolle«. Diese fundamentale heimdienst-Lizenz die wichtig- könnte, zeigt Jürgen Elsässer. Einschätzung Elsässers offen- ste Schaltzentrale des europä- Er ist ein unbequemer investi- bart zugleich ihre Schwäche ischen Dschihad«. Folgerichtig gativer Autor aus dem Links- – denn tatsächlich, und das ist kommentierte Libyens Staats- milieu, der nicht zuletzt auf- irritierend genug, spielten in chef Muammar al Gaddhafi: grund seiner nationalen und nahezu allen islamischen Ter- »Ich bin wirklich verblüfft. anti-amerikanischen Positionen rorattacken oder Anschlags- (…) wenn Amerika es wirklich besondere Aufmerksamkeit versuchen V-Leute der Ge- ernst damit meint, den Terro- beansprucht. Manche seiner heimdienste eine Rolle. Sie aber rismus auszuschalten, sollte Haltungen mag man für du- in allen Fällen zugleich als die erste Hauptstadt, die es mit bios halten, und doch ist es »tragend« zu charakterisieren, Cruise Missiles angreift, Lon- lohnenswert, seine Äußerungen scheint doch ein der Insinua- don sein.« nicht »links« liegenzulassen. tion geschuldeter Überschuß Geradezu sträflich wäre dies zu sein. Sei’s drum: Das von Christian Dorn im Fall seiner jüngst erschiene- Elsässer offengelegte Bezie- nen Studie, die der Autor hungsgeflecht zwischen Staats- selbstbewußt als eine »Enzy- sicherheits-Diensten und Isla- klopädie aller europäischen misten ist eines, das auch Isla- Anschläge und Anschlagsver- mismus-Experten wie Udo

Rezensionen 41 Symbol I: Adler Symbol II: Hakenkreuz Symbol III: Zigarette

Geheimes Staatsarchiv Preußi- Elisabeth Weeber: Das Haken- K. Bittermann / F. Döbler scher Kulturbesitz (Hrsg.): kreuz. Geschichte und Bedeu- (Hrsg): Smoke smoke smoke Adlers Fittiche. Wandlungen tungswandel eines Symbols, that cigarette. Eine Verherrli- eines Wappenvogels, Berlin: Frankfurt a. M.: Peter Lang chung des Rauchens, Berlin: Duncker & Humblot 2008. 2008. 133 S., 53 Abb., 27.50 € Edition Tiamat 2008. 224 S., 109 S., 107 farbige und SW- 15.00 € Abbildungen, € 19.90 Bis vor kurzem hat es keine neu­ ere Darstellung zur Geschichte Der Rauch ist auch jenseits des Aus Anlaß des fünfzigjährigen und Bedeutung jenes Symbols Klimageredes aus der Gesell- Jubiläums der Stiftung Preußi- gegeben, das das 20. Jahrhun- schaft verbannt: Mit dem scher Kulturbesitz ist der vor- dert wie kein anderes prägte. Rauchverbot in Gaststätten, liegende schmale Band erschie- Das änderte sich in den beiden auf Bahnsteigen, in Flugzeugen nen, der die Geschichte des letzten Jahren: Kurz nachein- korrespondiert eine völlige preußischen Adlerwappens ander erschienen Bücher von Abwesenheit von Zigaretten in nach­zeichnet, das auf zwei Lorenz Jäger (Das Haken- Kinofilmen. Sah man in den Wur­zeln zurückgeführt wer- kreuz. Zeichen im Weltbürger- 60er Jahren noch Anna Ka- den kann: den roten Adler der krieg, Karolinger), des Rezen- rina, Belmondo oder Jean- Mark Brandenburg und den senten (Das Hakenkreuz. Sym- Pierre Léaud in Filmen von schwarzen des Herzogtums bol eines Jahrhunderts, Edition Godard und Truffaut stilvoll Preußen, der seinen Ursprung Antaios) und nun noch von Eli- und in Schwarzweiß rauchen, wiederum im Adlerschild auf sabeth Weeber über das findet sich die Zigarette heute dem Kreuz der Hochmeister Haken­kreuz. Das Buch von häufig nur noch als Ausdruck des Deutschen Ordens hatte. Weeber unterscheidet sich von des Versagens und Scheiterns Der preußische Adler ist dann den beiden anderen dadurch, verwendet. Der vorliegende wie auch der Landesname daß die Autorin Archäologin Sammelband des Tiamat-Ver- maßgeblich geworden und hat ist. Ihre Ausführungen konzen- lags stellt sich dieser Entwick- seit der Erhöhung Preußens trieren sich deshalb im Haupt- lung entgegen. »Eine Verherrli- zum Königtum, 1701, eine abschnitt auf eine Analyse von chung des Rauchens« heißt es bedeutende Rolle für die Re- Hakenkreuzfunden auf Samar- im Buchuntertitel. Man be- präsentation des Hohenzollern­ ra-Keramik, die im Übergang schwört die Ästhetik und das staates gespielt. Dies wird hier von der Jungsteinzeit zur Kup- Lebensgefühl des Rauchers, sorgfältig (wenn auch nicht frei ferzeit im Vorderen Orient ver- wenn etwa Heiko Werning von kleineren Ungenauigkeiten) breitet war. Da das Hakenkreuz wehmütig über (die abgeschaff- und mit Hilfe zahlreicher Ab- hier bevorzugt mit Frauen, ten) Raucherabteile der Bahn bildungen nachgezeichnet. Skorpionen, Fischen und Was- als letzten Zufluchtsort vor Bemerkenswerterweise eta- ser kombiniert dargestellt lärmenden und aufdringlichen blierte sich seit dem 18. Jahr- wurde, glaubt Weeber, daß es übrigen Fahrgästen schreibt. hundert eine nichtheraldische in diesem kulturellen Kontext Wiglaf Droste verbeugt sich neben der heraldischen Darstel- ein Fruchtbarkeits-, keinesfalls vor der rauchenden Frau, wäh- lung des preußischen Adlers, ein Sonnensymbol war. rend der wütende Beitrag Sa- die den Greifvogel im Aufflug Dieser Teil der Ausführungen rah Schmidts in den 68ern die zeigte. Das Grundmuster dafür Weebers, die auf eine Zulas- geistigen Urheber des Rauch- boten Allegorien, deren Motiv sungsarbeit der Verfasserin verbots entdeckt. Formal wei- man auch in die berühmten zurückgehen, ist ohne Zweifel sen die Beiträge eine große preußischen Armeefahnen der stärkste des Buches, wäh- Bandbreite auf, von Erzählun- Friedrich Wilhelms I. und rend die übrigen deutlich ab- gen, Polemiken und Essays bis Friedrichs des Großen über- fallen. Das macht sich beson- zum Gedicht, häufig untermalt nommen hat. Ab 1918 diente ders bemerkbar in der Darstel- von Bildern und Comics. Eine der nichtheraldische Adler als lung der Geschichte der Wie- dandyeske Pose zieht sich durch Wappen des Landes, nach 1933 derentdeckung und Rezeption den gesamten Band. Ein gelun- lediglich ergänzt um Haken- des Hakenkreuzes seit dem gener Versuch, eine Gegenöf- kreuz und Schwert. Mit der 19. Jahrhundert durch die west­ fentlichkeit zum etablierten Auflösung des Landes Preußen liche Esoterik, die völkische Bild des proletarischen und durch die Alliierten verschwand Bewegung und den National- unverbesserlichen Rauchers zu auch der preußische Adler in sozialismus. Weeber unterlau- schaffen! (Was ja sonst nur via seiner staatsrechtlichen Bedeu- fen in der Darstellung Unge- Einzelpersonen geht, es lebe tung. Erhalten blieb er in eini- nauigkeiten und Fehler, die den Helmut Schmidt!). Eine Hom- gen Biotopen, so als Signet der Gesamteindruck des Buches mage an den Genuß, der, wie Stiftung Preußischer Kulturbe- trüben. Der Versuch, auf die- es in Wernings Beitrag heißt, sitz oder als Firmenzeichen des sem Feld das Ganze zu erfas- »so schön gegen den Zeitgeist« hier verantwortlichen Verlags sen, ist eben nicht Sache der ist. Eine Hommage, die nicht Duncker und Humblot. Archäologie. nur Rauchern gefallen könnte.

Karlheinz Weißmann Karlheinz Weißmann Johannes Maximilian

42 Rezensionen Moral der Sieger Moral des Marktes Moral des Widerstands

Brigitte Neary (Hrsg.): Frauen Franz Kromka: Markt und Frank-Lothar Kroll: Intellek- und Vertreibung. Zeitzeugin- Moral. Neuentdeckung der tueller Widerstand im Dritten nen berichten, Ares: Graz Gründerväter, Grevenbroich: Reich. Heinrich Lützeler und 2008. 176 S., 19.90 € Lichtschlag 2008. S. 239, Lei- der Nationalsozialismus, Ber- nen, 29.90 € lin: Duncker & Humblot Thematisch wie methodisch 2008. 141 S., 16.80 € ähnelt das Buch der gebürtigen Freiheit, zumal die des Wirt- Deutschen, heute in den USA schaftens, steht im kontinenta- Gerne gerieren sich heutige lehrenden Soziologin Brigitte len Europa und namentlich in Rechte als Märtyrer in einer Neary der zeitgleich bei Propy- Deutschland nicht gerade hoch angeblichen Demokratur. Und läen erschienenen Freiwild-Do- im Kurs. Kalt und herzlos sei sie, in Relation zu anderen gesell- kumentation von Ingeborg höchstens etwas für selbstbe- schaftlichen Gruppen haben sie Jacobs. Beide Autorinnen lassen wußte Leistungsträger und rei- es heutzutage ja tatsächlich weibliche Zeitzeugen über das che Söhne, doch nichts für das schwerer. Ein Ausweg, wenn wenn nicht am eigenen Leib gemeine Volk. Ihr verführeri- man nicht resigniert, ist die Erduldete, so doch mit eigenen scher Antagonist, die Gleich- erzwungene Nische. Genauer: Augen Gesehene nach der Nie- heit, findet da schon mehr Zu- widerständiges Leben. Frank- derlage 1945 zu Wort kommen: neigung. In ihr kann man es Lothar Kroll nutzt das Leben Flucht, Vertreibung und sexu- sich bequem machen; mit ihr und Wirken des weithin in Ver- elle Gewalt, alltägliche Begeg- läßt sich qua moralisierender gessenheit geratenen rheini- nungen mit dem Tod und der je Empörung der Neid anregen schen Katholiken und Philoso- eigene Kampf ums Überleben – und die Linkspartei in die Par- phen Heinrich Lützeler, um um nichts weniger als dies krei- lamente tragen. Die weltweite Nischen des Widerstandes un- sen die Berichte. Nun ist die Finanzkrise tut ein Übriges, und ter ungleich gefährlicheren hier gepflegte Herangehens- schon ist auch mancher »rechts Bedingungen nachzuzeichnen. weise der oral history ein wei- der Mitte« von diesem Virus Selbst die totalitäre NS-Dikta- tes Feld. Während Jabobs die infiziert. Arbeiterführer Rütt- tur ermöglichte diese Freiräume Erinnerungen ihrer Frauen hin­ gers und Sozialpopulist Seeho- für nonkonforme Intellektuelle. sichtlich Lesbarkeit und Strin- fer sind die Wählermagnete der Freilich nicht in allzu offener genz aufbereitete und deren Be- Union. Rechtsaußen propagiert oder gar polemischer Gegner- richterstattung sorgsam führte, man einen »nationalen Sozialis- schaft. Subtilität ist in solchen hat Neary ihre Gespräche allein mus«, der schon fast wieder Zeiten schon gefragt. Und Hal- in eine monologische Form linksaußen in Pjöngjang an- tung. Halt und Haltung fand gefaßt und wörtlich aufge­ kommt. Dabei geben uns die Lützeler in seinem tiefen ka- schrie­ben. Unlogische Überlei- deutschen Gründerväter der tholischen Glauben, als »Inne- tungen der Gesprächspartne- sozialen Marktwirtschaft: Wil- rer Emigrant« auch in Max rinnen bleiben unaufgelöst, all­ helm Röpke, Alexander Rü- Scheler und Stefan George. Der gemeinpolitische Äußerungen stow, Alfred Müller-Armack, an Volk, Staat und Gemein- aus Sicht der Gegenwart drän- Walter Eucken, Franz Böhm schaft orientierte Lützeler be- gen sich bisweilen in den Vor- und Ludwig Erhard eine Theo- schrieb die Rolle jener Nischen- dergrund. Neary arbeitete zehn rie an die Hand, die sich auch kämpfer so: »Die in Deutsch- Jahre an den 15 kurzen Zeit- in der Praxis bewährt hat. Das land verblieben und dafür zeugenberichten. Anders als bei sieht auch der Soziologe Franz sorgten, daß Anstand, Mensch­ Jacobs überwiegt der Eindruck, Kromka so und erklärt im li- lichkeit und intellektuelles Ni- daß bei vielen Frauen über die bertären Lichtschlag-Verlag veau nicht ganz zugrunde gin- Ereignisse Gras gewachsen ist. (eigentümlich frei) den mit gen, mußten oft schweigen, oft Geblieben sind Gram und Bit- volkswirtschaftlicher Expertise sich anpassen, oft in kleinen terkeit – wer mag es ihnen ver- chronisch unterversorgten Dingen so tun, als ob. Versagen denken? Lesenswert das Vor- Deutschen die Marktwirt- wohnte dicht neben Unbeug- wort von Alfred de Zayas, der schaft. Dabei wird es diejeni- samkeit, Angst neben Mut – die Geschehnisse im deutschen gen, die gerne Kapitalismus, nicht selten im selben Men- Osten des Jahres 1945 unter Marktwirtschaft und Entgren- schen« und weiter: »Was aber das Stichwort »ethnische Säu- zung synonym verwenden, schließlich in Deutschland an berungen« einordnet. Er ruft erstaunen, wie stark sich die menschlicher Substanz noch Solschenizyn als Kronzeugen Väter der sozialen Marktwirt- gerettet wurde, war viel. Wir auf, der im Archipel Gulag schaft der Bindungen des Ein- standen nach dem Zusammen- schrieb: »Jeder von uns wußte, zelnen an Heimat, Familie, bruch nicht geistig arm da, daß, wenn die Mädchen Deut- Natur und Moral nicht nur weder in Politik noch Wissen- sche waren, sie vergewaltigt und bewußt waren, sondern sie in schaft«. Wenn wir heute totali- dann erschossen werden konn- eine interaktive, einander be- täre Anklänge finden, dann ten. Das war fast so etwas wie fruchtende Beziehung zum fin­den wir auch die Nischen, aus eine Kampfauszeichnung …« Markt setzten. denen Widerstand möglich ist.

Ellen Kositza Torsten Uhrhammer Torsten Uhrhammer

Rezensionen 43 Heimat, verloren und Heimat als Überlieferung Heimat als Erblast: versunken Deutsche und Franzosen Heinz Gollwitzer: Kultur – Die versunkene Welt. Ein ost- Konfession – Regionalismus. Peter Sloterdijk: Theorie der preußisches Dorf in Erzählun- Gesammelte Aufsätze, Histori- Nachkriegszeiten. Bemerkun- gen der Leute. Aufgeschrieben sche Forschungen, Bd 88, Ber- gen zu den deutsch-französi- von Klaus-Jürgen Liedtke, lin: Duncker & Humblot schen Beziehungen seit 1945, Frankfurt a.M.: Eichborn 2008. 340 S., 68 € Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 (Die andere Bibliothek; 2008. 72 S., 7 € 286). 425 S., 32 € Bereits im vergangenen Jahr hatte der Passauer Historiker Zeigt sich das Chamäleon Slo­ Das kleine Dorf Neu-Kermu- Hans-Christof Kraus ein mehr terdijk in diesem Vortrag von schienen im ostpreußischen als 600 Seiten starkes Buch mit seiner ethnopluralistischen Landkreis Darkehmen (Regie- Aufsätzen des 1999 verstorbe- Seite? Zumindest lautet seine rungsbezirk Gumbinnen) exi- nen Historikers Heinz Goll- These in bezug auf die deutsch- stiert seit 1977 nicht mehr. witzer herausgegeben. Hierin französischen Beziehungen, Was es aber gibt, sind die deut- waren Fragen zur Weltpolitik daß es aufgrund der Nach- schen Bewohner und deren und zur deutschen Geschichte kriegsentwicklungen keine Be- Nachkommen, die diesen Ort abgehandelt worden. Jetzt folgt ziehung zwischen beiden Län- auf der Flucht vor den Sowjets ein weiterer, etwas schmalerer, dern geben könne. Das Verhält- verlassen mußten. Der Schrift- aber ebenso sorgfältig edierter nis, formal im Freundschafts- steller Klaus-Jürgen Liedtke ist Band, der sich mit Spezialthe- vertrag besiegelt, sei als »Nicht- einer von ihnen, er war seit men beschäftigt, die unter den Beachtung« und »benigne Ent- 1987 auf der Suche nach Infor- Überschriften »Kultur«, »Kon- fremdung« zu bezeichnen, »wie mationen über seinen Großva- fession« und »Regionalismus« man sie manchmal zwischen ter, der aus dem Ort stammte. zusammengefaßt sind. Hervor- ehemaligen Liebespartnern Dabei besuchte er nach und gehoben seien neben dem eh- findet«. Womöglich will Sloter- nach alle noch lebenden Dorf- renden, aber keineswegs unkri- dijk hier aber auch die alte bewohner und deren Ver- tischen Nachruf Gollwitzers Volksweisheit »Was sich liebt, wandte und hörte sich ihre Ge- für seinen Lehrer Karl Alexan- das neckt sich« zum Ge- schichten an. Daraus formte er der von Müller zwei brillante schichtsgesetz erheben. Denn die Geschichte des Dorfes und Studien zur politischen Gei- seiner Auffassung nach war seiner Bewohner. Beim Lesen stesgeschichte, die sich mit dem das deutsch-französische Ver- weiß man nie, wer spricht. Historismus als kultur- und hältnis seit Napoleon von solch Doch immer geht es um die sozialgeschichtlicher Bewegung einer Haltung geprägt. Den acht Höfe und die Generatio- und mit der Deutung der mit- »Nachkriegszeiten« kommt in nen, die auf ihnen lebten, telalterlichen Kaiserpolitik im dem Zusammenhang so große manch­mal nehmen sich die 19. Jahrhundert befassen. Da- Bedeutung zu, weil sich die Na- Erzähler Fotos vor. Der Zeit- neben findet sich ein Muster- tion im Krieg durch Koopera- raum erstreckt sich von der beispiel für »weltliche Kirchen- tion unter großem Druck be­ Zeit vor dem Ersten Weltkrieg geschichte«, die »Vorüberle- währen muß, was für die Verlie- bis in die Zeit unmittelbar nach gungen zu einer Geschichte rer heißt, Ursachenforschung zu dem Zweiten Weltkrieg, als sich des politischen Protestantis- betreiben, um »im Dienste er- die geflohenen Bewohner in alle mus nach dem konfessionellen höhter Zivilisationstauglich- Himmelsrichtungen zerstreuten Zeitalter«. In den Bereich der keit« umzulernen. Die Franzo- und teilweise sogar nach Ka- von Gollwitzer selbst vertrete- sen standen 1945 zwar im La- nada auswanderten. Man er- nen konservativen Positionen ger der Sieger, hatten gegen die fährt viel über das Leben auf führt der letzte Teil der Samm- Deutschen aber verloren. Bei einem völlig abgelegenen Dorf, lung, der sich insbesondere mit ihnen setzte eine »Kriegsergeb- über die Auswirkungen des der Geschichte der deutschen nisfälschung« ein, bei den Krieges, über die Bewohner und Heimatbewegung beschäftigt Deutschen das Umlernen. Bei- ihre Geheimnisse. Das alles und die Sympathie erkennen des sehr erfolgreich, wenn auch ohne moralischen Zeigefinger, läßt, die Gollwitzer für deren unter umgekehrten Vorzeichen. Liedtke läßt die Leute erzählen. Zielsetzung empfand. Dies, Während Frankreich die Nach- Und so entsteht das Bild einer obwohl er zweifelte, daß es in kriegslüge in eine Wahrheit doppelt versunkenen Welt. Zukunft noch geben werde, transformiert habe, indem es Versunken ist sie ja nicht nur, was man über Generationen auf die Wehrhaftigkeit beson- weil es das Dorf nicht mehr gibt als »Heimat« verstand. Immer- deren Wert legt, sei Deutsch- oder dort keine Deutschen mehr hin empfehle es sich, »überlie- lands Umlernen zur Lüge gewor- leben, sondern auch, weil diese ferte Prägungen nicht vorzeitig den: die militärische Abhängig- ganze Welt dörflicherGemein - und d. h., bevor man mit eini- keit von anderen. Dieses »Syn- schaft versunken ist. Liedtkes ger Sicherheit Besseres und drom der anmaßenden Schwä- Buch ist deshalb im doppelten Gültigeres aufzuweisen hat, che« könne »kommenden Prü- Sinne notwendig und gut. preiszugeben«. fungen nicht standhalten«.

Erik Lehnert Karlheinz Weißmann Erik Lehnert

44 Rezensionen »Es lebe das heilige Deutschland!«

» Es lebe das heilige Deutschland « Das Vermächtnis des 20. Juli 1944

Die 28seitige Sonderbeilage der JUNGEN FREIHEIT zum 100. Geburtstag des Widerstandskämpfers Claus Schenk Graf von Stauˆ enberg. Mit einem Exklusiv-Interview mit Philipp Freiherr von Boese- lager, dem am 1. Mai 2008 im Alter von 90 Jahren verstorbenen Teilnehmer des 20. Juli 1944. EUR 1,50 Euro / Best.-Nr. 89788

Dieter Stein (Hrsg.) Helden der Nation Beiträge und Interviews zum 20. Juli 1944

Die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT widmet sich seit Anbeginn dem Widerstand, insbesondere Stauf- fenberg und dem 20. Juli 1944. Dieses Buch vereint erstmals alle wichtigen Beiträge und Interviews zum 20. Juli. Mit einem Geleitwort von Philipp Freiherr von Boeselager. 560 S., Pb. EUR 28,– / Best.-Nr. 89787

Eberhard Zeller JF-Plakat zum Geist der Freiheit 100. Geburtstag Stau enbergs Der 20. Juli

Unter den unzähligen Veröffentlichungen zur Mit dem geheimen Eid der Erhebung vom 20. Juli 1944 und Geschichte des 20. Juli gilt Eberhard Zellers 1952 erstmals erschienenes Werk „Geist der Freiheit“ bis dem Vermächtnis Stauˆ enbergs, das er dem Erschießungs- heute als Meilenstein der Widerstandsgeschichts- kommando entgegenrief: „Es lebe das heilige Deutschland!“ schreibung. Mit einem Geleitwort von Nina Grä† n von Stauˆ enberg, der Witwe des Attentäters, und Format: 59,4 x 84,1 cm, Qualitätsoˆ setdruck, Versand in einer einer aktuellen wissenschaftlichen Einführung von Dieter Stein. 568 Seiten, Pb. Papp rolle. EUR 28,– / Best.-Nr. 88498 EUR 9,90 / Best.-Nr. 89890

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Der Ordinarius für Deutsch­land ein Unternehmen richten, generiert die Finanz- Rechtsphilosophie (Passau) ist von zweifelhaftem Nutzen ge- krise eine unvorstellbare Nach- einem dankbaren Publikum als wesen sind. In diese Kerbe frage – nach Rettungs- und furchtloser Zeitgeistkritiker schlägt auch Patrick Buchanan Risikoschirmen, Hilfs- und bestens bekannt; auch seine mit seinem Buch über den »Un- Konjunkturpaketen. Ginge es Beiträge in der juristischen nötigen Krieg«, womit er in nach den aktuellen Wirtschafts­ Fachpresse ließen nie an Deut- erster Linie den Zweiten Welt- meldungen, dürfte schon bald lichkeit zu wünschen übrig. krieg meint. der Quartalsbericht durch das Die vorliegende, allgemeinver- Der Autor ist als Politiker der Quartalsgericht abgelöst wer- ständliche, bisweilen gar pole- christlich-konservativen Szene den. Selbst der Finanzminister misch geratene Schrift ist eine in den USA zuzuordnen und sieht eine Rezession nahen. Art Generalabrechnung mit wird von zwei Hauptmotiven Was könnte helfen? Vielleicht dem, was nach den beiden Kul- angetrieben: einem kategori- ein Buch, dessen Titel nicht we- turkatastrophen von 1933 und schen Antikommunismus und niger verspricht als den Weg 1968 vom ehemaligen Land der dem Glauben an den Wert der aus der Finanz­krise – und das Dichter und Denker übrigge- angelsächsischen Herrschaft jedem Finanzpolitiker und blieben ist. Am stärksten ist sie über den Globus. Explizit mit Bankier zur Pflichtlektüre an- dort, wo der Verfasser als Bezug auf den aktuellen Nieder­ geraten sei. Schließlich drohen Rechtsphilosoph zum Leser gang der USA stellt er die Frage, die staatlicherseits verfügten spricht und gegenwärtige Ent- wie England sein Empire und Maßnahmen zu einer enormen wicklungen in überkommene der »Westen« die Welt verlor, Zunahme der öffentlichen geistesgeschichtliche Begriff- und er findet deutliche Worte: Schuldenlast zu führen. Dabei lichkeiten einbettet. So zeich- während Hitler keinen Krieg werden neue Regeln und Vor- net er die ideengeschichtliche mit England wünschte, sei schriften oder größere Kontroll­ Entwicklung des Rechtsstaates Churchill bemüht gewesen, gremien nicht weiterhelfen. nach und zeigt daran, wie sich den Krieg mit Deutschland um Gerade die in Mitleidenschaft die aktuelle rechtspolitische jeden Preis loszubrechen. Er sei gezogenen Großbanken demon­ Entwicklung wieder Zuständen kein Christ, sondern ein ruhm- strierten, wie »perfekte Pro- annähert, die überwunden zu süchtiger Heide in antiker Ma- zesse zum perfekten Desaster« haben jeder aufrechte Demo- nier gewesen, zugleich ein Ras- führten. Der Grund dafür ist krat gleichzeitig in ahnungslo- sist, der auch angesichts von das Auseinanderklaffen von ser Hingabe beteuert. Ein Massentötungen kein Mitleid »Entscheid und Haftung«. Hauptgesichtspunkt ist dabei zeigte. An mehreren Stellen Heißt: Die Verantwortung die zunehmende Vermischung wird der britische Kriegspre- trägt kein Gesicht! So lautet von Recht und Moral zum mier mit Hitler gleichgesetzt. das Fazit des Euro-Klägers und Zweck der politischen Regelung Der Autor stützt sich auf eng- Vorsitzenden der Aktionsge- des Denkens bzw. des privaten lischsprachige Sekundärlitera- meinschaft Soziale Marktwirt- Raums – ein Rückschritt, des- tur und weiß von der kompli- schaft Joachim Starbatty, dem sen epochales Ausmaß durch zierten europäischen Szene sich die Idee zu diesem finanz- sinnbefreites, gleichsam staats- nichts. Das ist bei man­chem politischen Vademecum ver- theologisches Wortgeklingel englischsprachigen Universi- dankt. Mit Mark Aurel klärt kaschiert wird. Menschen neh- tätshistoriker nicht anders. er über die Kosten des Sozial- men Erkenntnisse der Hirnfor- Buchanan erwähnt ungeachtet staates auf und zitiert Marcus schung an, um sich der Last dieses Mankos Heikles, etwa Tullius Cicero (55 v. Chr.), der der Willensfreiheit zu entledi- die tschechische Provokation in eine gewisse Zeitlosigkeit der gen, die sie wegen seelischer der Maikrise des Jahres 1938 Problematik demonstriert »Der Verwüstungen nicht mehr tra- als Ursache des Münchener Staatshaushalt muß ausgegli- gen können. Für Umfang und Ab­kommens. Seinen besonde- chen sein. (...) Die Zahlungen Technik der Gestaltung von ren Wert hat das Buch als pro- an ausländische Regierungen Handlungsfreiheit durch den vokante Darstellung Churchills müssen verringert werden, Staat ist aber entscheidend, ob und als Signal für geschichtspo- wenn der Staat nicht bankrott er es mit willensfähigen Indivi- litisches Umdenken in den USA. gehen soll.« duen zu tun hat.

Stefan Scheil Christian Dorn Florian Wolfrum

46 Rezensionen Lesenswerte Langeweile Vernünftige Vordenker Kuriose Kohlköpfe

Jürgen Große: Philosophie der Hans-Jörg Bücking, Eckhard Lutz Rathenow: Im Land des Langeweile, Stuttgart/Weimar: Jesse (Hrsg.): Deutsche Identi- Kohls. Illustriert von Tom Metzler 2008. 199 S., 39.95 € tät in Europa, Berlin: Duncker Meilhammer, Regensburg: Edi- & Humblot 2008. 255 S., 98 € tion Buntehunde 2008. 40 S., Auf die Frage, was der Mensch 19 Illustrationen, 13.90 € sei, gibt die Philosophie, insbe- Wenn uns in Jahrzehnten un- sondere die Philosophische An- sere hoffentlich zahlreichen Laut Nietzsche fühlt der lyri- thropologie, unterschiedliche Enkel fragen, ob denn unsere sche Genius eine »Bilder- und Antworten. Er sei ein »Män- heutige politische Klasse nicht Gleichniswelt hervorwachsen, gelwesen«, »weltoffen«, der um die Lage der Nation hätte die eine andere Färbung, Kau- »ewige Protestant« oder auch wissen können, so werden wir salität und Schnelligkeit als ein »exzentrisches Wesen«, mit Blick auf und in die Schrif­ jene des Plastikers und Epi- dem der natürliche Mittel- tenreihe der Gesellschaft für kers« besitzt. Diese aus der punkt fehle. Aus der Wirklich- Deutschlandforschung (www. Geburt der Tragödie gewon- keit des Alltags lassen sich gfd-berlin.de) antworten: »Ge- nene Einsicht korrespondiert diese Typisierungen nur indi- konnt hätte sie schon, doch das bei Lutz Rathenow mit dem rekt ableiten. Um so mehr be- Interesse war wohl eher mäßig.« irritierenden Lachen Zarathu­ gegnet man hier einem Phäno- Auch im bereits 95. Band man- stras, welches der modernen men, das dem Menschen ganz gelt es weder an wissenschaftli- Groteske zuzurechnen ist. Seit allein gehört: der Langeweile. chen Erkenntnissen noch an je ist der Autor verschieden- Der Berliner Philosoph Jürgen Lösungsvorschlägen für Pro- sten Formen des Bilderbuchs Große (Jahrgang 1963) geht in blemstellungen unseres Landes. zugetan, sein bekanntestes seiner etwas akademischen Dabei changieren die Einschät- Werk ist der mit dem Fotogra- Studie der Frage nach, was die zungen der Situation je nach fen H. Hauswald herausgege- Langeweile vor anderen Stim- Thema und Bearbeiter. Wäh- bene Bestseller Ostberlin. mungen auszeichnet und wa- rend Ekkehard Klausa die Idee Während bei diesem erstmals rum ausgerechnet sie das me- der Deutschen Leitkultur (wenn 1987 in Westdeutschland ver- taphysische Interesse auf sich auch nicht unter Verwendung öffentlichten Titel das MfS der gezogen hat. In dieser systema- des Begriffes) auf dem Vor- DDR eine Nachauflage zunächst tischen Frage nach dem Ort marsch sieht und Eckhard Jesse verhindern konnte, hatte es fünf der Langeweile wird bereits ein mindestens »subkutanes Jahre zuvor ohnmächtig zu- deutlich, daß es diesen nicht Nationalgefühl« im Zuge der schauen müssen. Da erschien – gibt. Was es gibt, sind ver­ Fußball-WM auf dem Weg zu parallel zur appellativen Phrase schiedene Deutungen der Lan- einem neuen Patriotismus er- von der »geistig-moralischen« geweile, die sich als ziemlich kennt, alarmieren Helmut Jen- Wende – Rathenows illustrierte moderner Zugang zur Philoso- kis und Stefan Luft mit der Groteske Im Land des Kohls. phie herausstellt. Große belegt Aufbereitung unserer demo- Die in limitierter Kleinstauflage das anhand der Etablierung graphischen Gegenwart und bei einer Westberliner Hand- der Anthropologie als Theolo- Zukunft. Gerade Luft weist presse veröffentlichte Slapstick- gieersatz im 18. Jahrhundert, aber auch Wege aus der Krise. Erzählung demonstrierte die die in der Gestalt Schopenhau- Optimistisch in Sachen Islam galoppierende Verblödung beim ers ihren vorläufigen Höhe- zeigt sich Ralf Egler, der einen verbissenen Kampf um die po- punkt erreichte. Seit Nietzsche aufgeklärten Euro-Islam für litische Macht. Die hier vorex- hat die Langeweile ihren festen möglich hält, wenn die mosle- erzierten urkomischen Konstel- Platz im Arsenal der Kultur- mischen Zuwanderer sich etwas lationen handelten indes nicht kritik, was Große unter Ge- weniger um den Koran scherten, nur von permanenten Mißver- schichtsmetaphysik subsum- als denn um andere Quellen ständnissen, sondern lösten miert. Auf diesem Weg liegen ihrer Religion. In jedem Beitrag selbige aus. Der erste Arbeiter- für ihn auch die Werke von ist ein pragmatischer Patriotis- und Bauernstaat auf deutschem Philipp Mainländer und mus spürbar, der nach dem Boden sah durch die Figur des Eduard von Hartmann, von Be­wahrenswerten Ausschau »Ministers für innere Ruheund- denen insbesondere letzterer zu hält. »Noch ist Deutschland ordnung« die Staatssicherheit Unrecht vergessen ist. Die Ver- nicht verloren!« – hielte sich die diffamiert. Im Westen wurde ortung der »neuzeitlichen Lan- Politik an die Expertise der GfD. dies fälschlicherweise mit Blick geweile im Dreieck von Liebe, Alle Autoren pflegen eine prä- auf die beginnende Regierungs- Arbeit, Macht« legt die Grund- zise und verständliche Sprache, ära Helmut Kohls gelesen. lagen der Massengesellschaft wie sie für echte Fachleute ge- Nach 25 Jahren – inzwischen frei: Der zum Bedürfniswesen boten sein sollte, aber dennoch unter »dem Mädchen Kohls« – degradierte Mensch muß die rar anzutreffen ist. Schade, erscheint die Groteske nun, illu­ Arbeit lieben, sich die Liebe sehr schade, daß diese hervor- striert mit schrägen Figuren aus erarbeiten und den Lebenssinn ragende Reihe so wenig er- der Kaiserzeit, erstmals auf dem im Augenblick suchen. schwinglich ist. gesamtdeutschen Buchmarkt.

Erik Lehnert Torsten Uhrhammer Christian Dorn

Rezensionen 47 Vermischtes | Sezession 28 · Februar 2009

Ausgerechnet: Kunst & Politik I liner Künstlers Dennis Rudolph. Rudolph wie- Irgendwie ausgesessen scheint mittlerweile ein derum ist ein quecksilbriger, feinnerviger Typ, Skandal, der um Weihnachten herum die Ga- der jegliche politische Vereinnahmung weit von zetten füllte: Ausgerechnet Alexej Beljaew-Gin- sich weist. Daß dies keine Attitüde ist, dürfte towt wurde in Rußland der mit 40.000 Euro do- wahr sein, ist aber schwer zu erklären ange- tierte Kandinsky-Preis zugesprochen, und aus- sichts der (handwerklich hohen) Kunst, die er gerechnet die Deutsche Bank ist Hauptspon- präsentiert: Zitatfetzen von Spengler, Nietzsche sor der Auszeichnung (http://de.youtube.com/ und Weininger wabern durch Raum und Bilder, watch?v=9HbYDx1wImc?). Daß es nun inner- und nicht zuletzt wäre da seine (bereits zum halb der sehr gespaltenen Jury ausgerechnet die allergrößten Teil verkaufte) düstere »Deutsche Stimme des Deutsche-Bank-Vertreters Friedhelm Ahnengalerie« mit Porträts deutscher Soldaten (www.aesthetischer-beobachter.de).

Abgerechnet: Kunst und Politik II Keinen Eintrag im Großfeuilleton dürfte es am 9. März zum 130. Geburtstag der ostpreußi- schen Dichterin Agnes Miegel geben. Lang- sam und schrittweise, aber keineswegs zufäl- lig ist die 1964 verstorbene Königsbergerin dem Vergessen anheimgefallen. Als zum 100. Ge- burtstag die Bundespost ihr eine Briefmarke verehrte, kannte jedes Schulkind Miegels Bal- lade der Frauen von Nidden. Heute ist die aus den Büchern weitgehend getilgt, und ihre Ver- fasserin gilt als Namensgeberin untragbar. Wer etwa unter www.Agnes-Miegel-Schule.de nachschaut, wird erklärungsfrei aufs Portal der neubenamsten Astrid-Lindgren-Schule in Willich verwiesen. Auch andernorts wird fleißig umben- annt. Daß die Dichterin sogar von Reich-Ranicky kanonisiert wurde und nicht nur die Zeit bezüg- lich ihres Schaffens von »höchster Meisterschaft« schwärmte, ist zwar das eine; daß Hitler Miegel auf eine »Gottbegnadetenliste« setzte und umge- kehrt sie dem »Führer« ein Poem widmete, ist das Hütte war, die den Ausschlag gab, sorgte dann andere. Ähnlich verhält es sich übrigens mit dem doch für »Empörung«. Wo? Halt bei denen, die Dichter Börries von Münchhausen, dessen Ge- über künstlerische Korrektheit wachen, weil sie burtstag sich ebenfalls im März zum 130. Mal die mit der politischen in eins setzen. Es ist so: jährt. Er war Freund und Förderer der Miegel. Beljaew-Gintowt pflegt einen heroischen Stil Bei seiner Familie kam sie nach der Flucht vor der und malt äußerst symbolträchtige Bilder. Das Roten Armee unter. Da hatte von Münchhausen ausgezeichnete Monumentalwerk heißt »Brüder selbst seinem Leben bereits ein Ende gesetzt. und Schwestern« und zeigt eine gebannt (Sta- lin?) lauschende Menschenmasse. Es wird nun vermutet, daß Hütte oder auch die Kuratorin Jahrgang 1973 des New Yorker Guggenheim-Museums die Iro- »Wir wollen Straßen, Städte, Länder, Menschen nie der Bildsprache honoriert hätten, doch da- ganz genau beseh’n«: Wer (unter Westdeutschen mit dürften sie weit gefehlt haben. Die Kunst- freilich) in den mittleren Siebzigern nicht fern- richtung, der sich der Geehrte – selbst ein Bild sehfrei frühsozialisiert wurde, dem wird die von einem Mann! – zurechnet, nennt sich aus- Melodie dazu noch in den Ohren klingen. End- gerechnet schön »Neue Ernsthaftigkeit«. Und lich gibt es 26 Folgen der ab 1973 für das ZDF mehr noch: Beljaew-Gintowt trägt Seitenschei- produzierten (Vorschul-) Kinderserie Kli-Kla- tel, zählt sich zu den Vordenkern des rechtsla- Klawitterbus auf DVD. Klar, mit der Nostal- stigen »Eurasischen Jugendbundes« und hegt gie ist das so eine Sache: Nicht auszudenken, megalomane Hegemonieträume, die abtrünni- daß die künftigen Enkel von den eigenen Kin- gen Sowjetstaaten betreffend. Sein Werk wird dern mal mit Doofies wie »Spongebob« oder nun in London und Kiew ausgestellt. Aufge- »Bob der Baumeister« traktiert werden würden fallen ist uns der Künstler erstmals als Beiträ- … Immerhin war rund um den Klawitterbus – ger im typoskriptisch wie kryptisch gehaltenen etwa bei den Marionetten Klicker, Elvira und Ästhetischen Beobachter des vielgefragten Ber- Klamotte (aus der Augsburger Puppenkiste)

48 Vermischtes und den knetfigürlichen »Wilden Männern« – die Welt (und die kindliche Kleidermode) noch sehr in Ordnung. Der hübsch gesungenen Auf- forderung, beim Glotzen mal zwischendurch tüchtig herumzuhopsen, kommt auch die Ge- neration 2003 gern nach. Die 68er waren da- mals in Bayern noch nicht wirklich angekom- men, trotz der ohrwurmtauglichen Erkenntnis: »Ich sag dir was: Krach macht Spaß!« Dagegen ist wenig zu sagen. 4 DVDs im Pappschuber, ca. 750 Min. Laufzeit, www.universumfilm.de

Schwarzweiß Wer heute ernsthaft (oder auch nur versehent- lich: wir haben noch die Watsche gegen den Lo- gistikunternehmer Klaus-Michael Kühne und seine »reinrassig deutsche« Firma vor Augen) von Rassen spricht, wenn er über Menschheit redet, gilt bestenfalls als Tolpatsch, schlimm- solche Exklusionsstrategie schon extrem mutig stenfalls als böswillig. Doch wer sind eigent- ist. »Sich im bürgerlichen Rahmen stark gegen lich die wahren Ignoranten angesichts der Tat- rechts machen, ohne gleich schwarze Kapuzen- sache, daß annährend 95 Prozent der starkpig- pullover zu tragen und Steine zu schmeißen, ist mentierten US-Bürger »ihren« Obama wähl- sehr schwierig«, klagte Restaurantchef und CSU- ten? Der Freiburger Mediziner Holger Schleip Mitglied Christian Mittermeier dem Frankfur- hat eine temperamentvolle und faktenreiche, an ter Stadtmagazin Prinz. Er selbst erlaubt auch maßgeblicher und neuester Literatur orientierte seinem »besten Gast« keine »vermeintlich klei- Studie veröffentlicht, die sowohl der, ja, »Ras- nen Alltagsrassismen«. Aber Unterschichten- senfrage« als auch geläufigen Rassismus-Defini- kram wie Mohrenköpfe oder Zigeunerschnitzel tionen nachgeht. Rushton, hilf! Moral, sprich! gibt’s bei Mittermeier in Rothenburg/Tauber eh’ Soziobiologie, klär auf! nicht, und über Abhörvorrichtungen an den Be- Holger Schleip: Braucht die Menschheit Ras- stegästetischen wiederum können wir nur mut- sen? Über biologische Vielfalt, Rassismus und maßen. Mittermeiers scharfes Abgrenzungspro- Antirassismus. Zu beziehen ist die vierzigseitige­, fil gegen rechts fußt auf der Selbstzuschreibung geheftete Studie für 10 € inkl. Versand bei dem »konservativ«– ach ja. Friedensforscher Alfred Mechtersheimer: Unser Land – Wissenschaftliche Stiftung für Deutsch- land e.V., PF 1555, 82305 Starnberg, Fax: Festschrift Maschke 08151/270705, E-Post: [email protected]. Über ein Jahr liegt der 65. Geburtstag von Gün- ter Maschke jetzt bereits zurück, der am 15. Ja- nuar 1943 in Erfurt geboren wurde. Mit eini- Die absolut Guten ger Verspätung traf die Festschrift bei uns ein, Ja, es ist wieder soweit. Nach einer Umfrage der die die spanische Zeitschrift Empresas políticas Initiative »Laut gegen Nazis« hatten 70 Pro- dem einzig wahren »Renegaten der 68er Genera- zent aller Gastronomen »in jüngster Zeit« »Pro- tion« (J. Habermas) gewidmet hat. In dem Band bleme mit Nazis«. Wir kapieren schon – es dürf- versammeln sich einige gültige Beiträge, die so- ten Neonazis gemeint sein, auch wenn eine re- wohl Maschke zur Ehre gereichen als auch den daktionelle Kurzumfrage unter uns Nachtkap- Leser belehren. Frank Böckelmann untersucht pen auf völlige (= 0 Prozent) Kenntnislosigkeit den Sieg der 68er auf seine Ausgangslage hin, solcher Vorgänge hinausging. Kneipen-, Bar- Ernst Nolte beschreibt die Weimarer Republik und Hotelbesitzer steht nun – unterstützt so- als ein aktuelles geschichtliches Paradigma, Ste- wohl von der einschlägigen Amadeu-Antonio- fan Dornuf druckt seinen Vortrag über »Rechte Stiftung und der weniger einschlägigen deut- Leute von links« (den er auf einer IfS-Akade- schen Nationalstiftung Helmut Schmidts – ein mie gehalten hat) ab, Manfred Lauermann wid- Aufkleber zur Verfügung, mit dessen Hilfe sie met sich dem Sinologen und Schmitt-Interviewer ihren Betrieb selbst entsprechend zertifizieren Joachim Schickel. Lorenz Jäger und Martin Mo- können: Rassisten und Antisemiten werden dort sebach tragen ebenfalls zu der rund 350seitigen nicht bedient. Die bislang sich beteiligenden Lo- Würdigung Maschkes bei, daneben einige spa- kalitäten befinden sich in Hamburg, Frankfurt, nischsprachige Autoren. Die Schmitt-Freunde Bochum, Hannover etc., sämtlich in Großstäd- kommen bei den Beiträgen von Piet Tommissen ten also, wo – ja, wie sollen wir’s sagen – eine (über Hugo Ball und CS), Gerd Giesler (über die

Vermischtes 49 Edition Maschke) und den drei Briefen Schmitts heute »Soziologie« nennt, hat Helmut Schelsky, an Maschke auch nicht zu kurz. In Deutschland Jahrgang 1912, die Gesellschaftskunde als Wis- für 26 € zu beziehen über www.antaios.de. senschaft etabliert. Jahrzehnte war der gebürtige Chemnitzer außerhalb konservativster Kreise na- hezu vergessen worden; erst seit ein paar Jahren ? erfahren – aufgrund des prognostischen Werts – Wenn erwachsene Menschen von ihren »Hob- seine soziologischen Forschungen zu Jugend, Fa- bys« reden, gerät unsereins ohnehin ins Grü- milie, Sexualität und Institutionen eine Renais- beln. Es verstärkt den Hang zum Misanthro- sance. Das einstige NSDAP-Mitglied, Assistent pen, wenn man lesen muß, was mit der viel zu und Schüler Arnold Gehlens, studierte in Königs- vielen Freizeit alles angefangen werden kann: berg und Leipzig, lehrte in Hamburg und Mün- surfen, fernsehen, stundenlang die da und dort ster und baute dann in Bielefeld – wo ihn die lin- aufgefundenen Rezepte nachkochen, Schuhe ken Herren später schmähten – die erste sozio- kaufen, nörgeln. Oder eben: Eine 606seitige logische Fakultät der BRD auf. Seine These von Dissertation über Das Weltbild der Intellektu- der »nivellierten Mittelstandgesellschaft«, in der ellen Rechten zu verfassen. Die Nerven und die nicht nur die Milieus, sondern auch Jugend und Zeit möchten wir haben! Der eigentliche Clou Erwachsenendasein verschwimmen, erweist sich an der Fleißarbeit von Klaus Kornexl ist, daß heute als gültig. Aufgrund ihres Erkenntnisreich- das 82 Euro teure Ding (Herbert Utz Verlag, tums immer noch lesenswert sind sowohl Die München) anhand der Junge-Freiheit-Ausgaben skeptische Generation (1957) als auch seine An- von 1986 – 1999 (!) verfaßt wurde. Sein Fazit: ti-68er-Intellektuellenschelte Die Arbeit tun die Nicht konservativ, sondern rechtsextrem, nicht anderen (1975). Am 24. Februar 2009 jährt sich »neu«, aber doch irgendwo »intellektuell« sei Schelskys Todestag zum 25. Mal. In der Januar- diese Rechte. Dieter Stein sagt nichts anderes Ausgabe der Zeitschrift Soziologie (Universität schon seit etwa 100 Jahren. Vielleicht berich- Leipzig, Institut für Soziologie, Beethovenstraße tet Kornexl ja 2019 darüber, wenn ihm immer 15, 04107 Leipzig; [email protected]) noch langweilig ist. würdigt Bernhard Schäfers aus diesem Anlaß das Werk des großen Denkers – wenn auch zuvörderst dessen Schriften ohne politische Implikation. Scheidewege Die Jahresschrift für skeptisches Denken und Konrad Lorenz passen, was die kulturkritische Gegengift Grundüberzeugung betrifft, eigentlich sehr gut Wer die konservative Szene ein wenig näher zusammen. Um so erstaunlicher, daß sich Lorenz kennt, weiß, daß moderne Rechte in nahezu al- nicht unter den Autoren findet, nicht einmal in je- len Feldern der gängigen »Lebensweltanalysen« ner Zeit, als er die Acht Todsünden der zivilisier- zu finden sind. Wir finden sie bei den Traditio- ten Menschheit schrieb. Als Referenzgröße dient nalisten genauso wie bei den Hedonisten, unter Lorenz hier gleichwohl häufiger – so auch im Yuppies wie Tagelöhnern. Wenn das nicht gleich neuesten, dem 38. Jahrgang, hier allerdings nur ein Zeichen von Subversion ist, so doch eines von am Rande. Der bekannte Biologe Josef H. Reich- erstaunlicher Buntheit, die sich auch auf dem holf (der in seinem aktuellen Buch die Seßhaft- Zeitschriftenmarkt niederschlägt. Wem man- werdung des Menschen mit dem Bier erklärt), be- che Periodika des sogenannten Konservatismus klagt sich über den Naturschutz. Nicht weil die- zu artig, zu theorielastig, zu konfessionell oder ser die Natur schützt, sondern weil er dem inter- zu hausbacken sind, mag an dem stets pünktlich essierten Menschen die Natur vorenthält: »Wäre zum 1. und zum 15. eines jeden Monats erschei- die Vergleichende Verhaltensforschung überhaupt nenden Din-A-5-Heft Gegengift seine Lesefreude entstanden, hätte es die heutigen Artenschutzbe- haben. Eine Zeitschrift wie ein guter Wein – sie stimmungen schon in der Kindheit und Jugend wurde mit den Jahren stets besser. Kurzweilig, von Konrad Lorenz gegeben?« Lesenswert: Nach- pointiert, doch nie oberflächlich kommentiert haltigkeit als Begriff der deutschen Forstwirt- hier ein breiter Autorenstamm unter der Redak- schaft des 18. Jahrhunderts (Ulrich Grober), Kri- tion von Michael Ludwig das politische, kultu- tik am Konsumismus (Ziad Mahayni und Chri- relle – oder auch mal private – Tagesgeschehen. stian Dries) und Sterben (Thomas Fuchs). Merk- Auf gehörigem Niveau wendet sich das knall- würdig: drei Elogen auf Hans Küng. Bezug über: rot gefaßte Heft an »Selbstdenker«. Zu den hier www.scheidewege.de und www.hirzel.de. vertretenen Edelfedern zählen Thorsten Hinz, Heimo Schwilk und Ulrich Schacht. Ein viertel- jähriges Probeabonnement der zweiunddreißig- Helmut Schelsky seitigen Zeitschrift gibt’s für 15 €, der Bezug für Wo das Wahre schwer greifbar geworden ist, ein Jahr kostet 60 € inklusive Versand. Kontakt: lohnt es sich, das Wirkliche zu erfassen. Weit Gegengift, Gerstenstraße 2, 85276 Pfaffenhofen, entfernt von dem schwammigen Feld, das sich E-Post: [email protected].

50 Vermischtes Werkstatt-Discorsi Briefwechsel zwischen Carl Schmitt und Hans-Dietrich Sander Hrsg. von Günter Maschke und Erik Lehnert 528 Seiten, gebunden, 44,00 € ISBN: 978-3-935063-28-9

Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Carl Schmitt und Hans-Dietrich Sander beginnt am 22. Mai 1967 mit einem kurzen Schreiben Sanders: Er sendet auf Empfehlung Armin Mohlers einen Aufsatz. Gut zehn Jahre und mehrere hundert Briefe später antwortet Schmitt am 9. August 1978 ein letztes Mal. Sander versucht bis 1981 vergeblich, den Faden wieder an- zuknüpfen. Was liegt dazwischen? Wir können einen Gedankenaustausch verfolgen, der präzise und ohne Floskeln die intellektuelle Arbeit zweier Geister und ihre Einschätzung der Lage nachzeichnet. Gleichzeitig dokumentieren die Briefe die Ausgrenzung Sanders aus der bundesdeutschen Diskussion und aus den Zei- tungen, in denen er zunächst noch schreiben konnte.

EDITION ANTAIOS

Rittergut Schnellroda • 06268 Albersroda Tel / Fax (034632) 90941 • www.antaios.de Theorie | Sezession 28 · Februar 2009

Zertrümmerung – 100 Jahre Futurismus von Till Röcke

Als Gottfried Benn mit seiner 1951 in Marburg anheimgegeben. Diesen Zustand nun abstellen gehaltenen Rede Probleme der Lyrik die poe- zu können ist die Angelegenheit der Stunde, die tologische Summe seines dichterischen Schaf- Torso gewordene Kunst, wenn schon nicht gänz- fens zieht, läßt er zu Beginn in einer knappen lich zurück in eine vormoderne »All–Einheit« zu Epochenschau die Stadien der literarischen Mo- führen, so doch an das mit eiserner Hand ord- derne Revue passieren. Beim Avantgardismus nende Regime zu binden – freilich als metaphy- angelangt heißt es: »Das Gründungsereignis der sisches Gestirn, der rein funktionalen Betrieb- modernen Kunst in Europa war die Herausgabe samkeit des Staates übergeordnet. des Futuristischen Manifestes von Marinetti, Benn sieht in der Modernität des (runder- das am 20.02.1909 in Paris im Figaro erschien. neuerten) Expressionismus alles angelegt, um ›Nous allons a sister à la naissance du Centaure die mythenschwere Dichtung des Gestern mit – wir werden der Geburt des Zentauren beiwoh- den Ansprüchen diverser zeitgenössischer Wis- nen‹ – schrieb er und: ›ein brüllendes Automobil senschaftsdiskurse zu versöhnen. »In diesem Fall ist schöner als die Nike von Samothrake.‹ Dies ist die Kunst nicht der manipulierte, sondern der waren die Avantgardisten, sie waren aber im manipulierende Wirt, der den implementierten einzelnen auch schon die Vollender.« Benn rech- Keimlingen, sprich: Sprachmaterialien unter- net dem Futurismus die Stellung des Gründungs- schiedlichster Herkunft erst Form und Gestalt mythos moderner Kunst zu und unterstreicht da- verleiht« (Wegmann). Oder anders ausgedrückt: mit eine Sichtweise, die er in ähnlicher Situation, Das technische Zeitalter erfährt seine ästheti- gleichwohl unter anderen politischen Rahmenbe- sche Disziplinierung. dingungen, 17 Jahre zuvor schon einmal artiku- Doch immer noch zu deutlich droht Nietz- liert hat: Im Gruß an Marinetti, vorgetragen am sches artistischer Größenwahn aus den Untie- Abend des 29. März 1934, anläßlich eines Emp- fen des 19. Jahrhunderts, sein Untergang im rein fangs der Union Nationaler Schriftsteller zu Eh- Geistigen, als daß Benn dieses Menetekel igno- ren des Futuristen Filippo Tommaso Marinetti. rieren kann. Seine moderne Vision braucht also Diese Rede stellt ein auch noch heute be- einen Kronzeugen, einen, der Deutschland zum merkenswertes Plädoyer für die moderne Kunst Vorbild dienen kann, einen, der möglichst das in Deutschland dar, als deren literarischer Vor- gleiche Ansinnen unter gleichen Umständen kämpfer sich Benn zu präsentieren sucht, um nur durchzusetzen gewußt hat. Es braucht einen wie wenige Monate später – man weiß es – Gewiß- Marinetti, den »Hersteller und Direktor des Fu- heit über sein gnadenloses Scheitern zu erlan- turismus« (Benn). Doch was hat es auf sich mit gen. Die Zeiten sind faschistisch, darin erkennt dem Futurismus in Italien? Was bewirkt seine Benn die historische Chance, dem gliedernden Kunst, was stellt er überhaupt dar? Machtstaat die Weiterentwicklung der avantgar- Bezeichnend ist die Nähe zur politischen Pra- distischen Periode, das Massieren ihrer durch xis, der die Strömungen der Avantgarde, freilich permanente Sprach-Zertrümmerung freigesetz- in unterschiedlicher Ausprägung, wie nie zuvor in ten poetischen Kräfte zu übertragen. Und diese der Geschichte der schönen Künste huldigen. In Phase des Aufstiegs ist unverzüglich zu nutzen, Rußland inspiriert der Futurismus Majakowski soll sich die tiefgreifende gesellschaftliche Um- und Tretjakow, in England den Vortizismus. Das wälzung realisieren, jene gesteigerte Lebenskul- deutsche Pendant, der Expressionismus, verliert tur als Voraussetzung der Übermenschen–Exi- hingegen nie eine gesunde Skepsis vor dem allzu stenz, der finalen Austreibung des europäischen Geharnischten aus dem Süden, zudem gesellt sich Nihilismus. Diese Moderne Kunst ist grundsätz- die Tatsache einer eigenständigen Entwicklung in lich, da eben modern, also ohne Einbettung in Literatur und bildender Kunst, die deutlicher in ein harmonisches Weltbild, der Zersplitterung der Tradition des 19. Jahrhunderts steht oder sich

52 Röcke – Futurismus an deren Einflüssen abarbeitet. Dennoch: Die Gesellschaft, das öffentliche Leben des noch jun- gen technischen Zeitalters mit dem Stimulans des Ästhetischen, also der Anschauung als scharfem Kontrast zur systematischen Prozedur der Auf- klärung, in irgendeiner Weise zu durchdringen, zu verändern – dieser heutigen Lesern mitunter kurios anmutende Aktionismus findet sich in al- len Schulen; im italienischen Futurismus am hef- tigsten und in seiner ganzen Absurdität. Die Literaturwissenschaft hat drei Phasen des Futurismus herausgestellt: Die erste Phase (1909 – 1915) ist ohne ernstzunehmende partei- politische Vorstellungen, dafür um so reichhal- tiger gesegnet mit einer metapolitischen Brisanz, die ganz avantgardistisch der Auflösung von Traditionen gewidmet ist. Nichts geringeres als das Ende der Geschichte stehe bevor, ein Aus- bruch aus dem »Käfig der Logik« und die Eta- blierung eines zukünftigen Lebensgefühls, dem Gestus der puren Bewegung. Der futuristisch er- leuchtete Mensch ahne bereits das befreite Ge- fühl der umfassend mobilisierten Gesellschaft, Rougena Zatkova »Portrait von Marinetti«, 1914 vorerst nur räumlich begrenzt, doch stehe er hierarchisch bereits über jenen noch geschicht- lichen Individuen, deren Dasein sich noch ganz spiel im Parteiensektor soll jedoch nicht lange im Rückständigen sammle. Gefordert wird ein währen. Die 1918/19 regional entstehenden fa- Hang zur Zerstörung, der als Katalysator im sci und deren Zusammenschließung zur Futuri- Krieg als »einzige Hygiene der Welt« auftrete, stischen Politischen Partei auf der einen sowie und keinesfalls imperialistische Ziele, sondern der 1919 ins Leben gerufene Frontkämpferver- einzig den Krieg als reinsten »Dinamismo«, als band der – zum Teil auch aus Futuristen beste- Beschleunigungsritual begreife. Der National- henden – Eliteeinheit der Arditi auf der anderen staat, der, dem Berichterstatter Marinetti fol- Seite sind noch im selben Jahr das Zünglein an gend, schon 1911 im Krieg gegen das Osmani- der Waage, als Mussolini die fasci di combat- sche Reich als Träger der futuristischen Ideen timento aus der Taufe hebt. Marinetti wird in fungierte; ja der ganze, sich wenig später im das Zentralkomitee gewählt und ist begeistert. Ersten Weltkrieg erneut leidenschaftlich entfal- Nun beschäftigen ihn die Reform des Beamten- tende Panitalianismus habe nur eine Existenzbe- tums oder die Durchsetzung des Achtstundenta- rechtigung: die Errichtung einer Weltordnung, ges. Doch noch im selben Jahr kriselt es, bei den die getragen werde von einem »begeisterten Ja Wahlen im November fährt Mussolinis Partei des Menschen zu der Form der Zivilisation, die eine herbe Niederlage ein, und im Jahr darauf ist sich unter unseren Augen gestaltet.« (Boccioni) endgültig Schluß: Eine zu große Distanz gegen- Was hier Raum greift, ist die »Schaffung eines über sozialpolitischen Ansätzen und ein sträfli- a-humanen Typus«, dessen Überlegenheit keine ches laisser-faire im Umgang mit der verhaßten Fragen offenlasse: »Gewissenspein, Güte, Ge- Monarchie sowie dem Klerus. Die Antithese ist fühl und Liebe stellen nichts als zerfressende offensichtlich, Marinetti sieht sich als individu- Gifte der unerschöpflichen vitalen Energie dar, ellen Anarchisten, Mussolini hingegen beginnt bloße Barrieren für den Fluß unserer mächtigen unverhohlen sein Streben nach größtmöglicher physiologischen Elektrizität.« (Marinetti). Der Machtfülle, die durch einen restriktiven Ein- Futurismus, so ist er sich sicher, werde den Men- parteienstaat erreicht werden soll. Ab 1920 mu- schen als riskiertes, auf Ordnung angewiesenes tiert der radikale und revolutionäre Faschismus und sich in seiner Existenz als historisch verste- zu einer durch taktisches Geplänkel und Kom- hendes Wesen endgültig eliminieren. Er schaffe promißbereitschaft geprägten Bewegung. Es eine maximale Todesnähe durch die ewige Wie- entsteht eine »charismatische Patronagepartei derkehr der Hochgeschwindigkeit, des perma- der politischen Rechten« (Stefan Breuer). nenten Überholvorgangs via Standstreifen. So Wer mit dem »Physiognomischen Zugriff« ist denn jene »literarisch-weltanschauliche Er- Armin Mohlers (Der faschistische Stil, zuletzt neuerungsbewegung« (Christa Baumgarth: Ge- Schnellroda 2001) vertraut ist, wird an jener schichte des Futurismus, Reinbek 1966) im Kern Sollbruchstelle zudem mehr als nur ein Ränke- die Übertragung einer bedingungslosen Affirma- spiel unter Polit-Hasardeuren erkennen. Es fin- tion des technischen Fortschritts in die Kunst. det eine Akzentverschiebung statt, weg vom ton- Die zweite Phase (1918 – 1920) zeichnet sich angebenden faschistischen Stil der Tatmenschen, durch einen pragmatischen Zug aus. In der Nach- hin zum etatistischen der Verwaltungscharaktere kriegszeit nimmt sich Marinetti gesellschaftli- und deren Status-quo-Prinzip. Dieser Stil bleibt cher Probleme an und geht auf Distanz zu seiner denn auch vorherrschend, bis zum Herbst 1943 höchsten Tugend, der Destruktion. Sein Gast- in der Republik von Salò, nach vorangegange-

Röcke – Futurismus 53 nem Bruch Mussolinis mit dem König, die Ab- gische Erörterung« vom Soziologen und Kenner wicklung des totalitären Apparates auch jenen der Materie Stefan Breuer (Nationalismus und ihn stützenden, funktionalen Typus wieder ins Faschismus, Darmstadt 2005), bietet den plau- zweite Glied treten läßt. Die nun »alle Verbür- sibelsten Zugriff, eben auch auf das Verständ- gerlichung, alle Verfilzung mit dem italienischen nis des Futurismus, der unter allen Umständen Establishment« (Mohler) abwerfende Nomen- Zukunft sein will, also Anti-Stillstandspolitik, klatura degeneriert auf ein Mindestmaß, und bei Vernachlässigung ideologischer Elaborate. es vollzieht sich die Rückkehr des faschistischen Er will global ausgerichtet agieren und betrach- Tatmenschen auf die Bühne der Öffentlichkeit. tet den Nationalstaat, wie erwähnt, als eine Art Doch zuvor, mit Beginn der dritten Phase Individuen-Beschleuniger, dessen Form selbst- (1923/24 – 1944), geschieht nach drei Jahren der redend der Überwindung anheimfallen wird, Abstinenz die Kehrtwende; Marinetti nähert sich wenn das »mechanische Nomadentum« (Ciotti) der Partei an und versucht, dem nunmehr zahn- erst einmal die Lebenswirklichkeit bestimmt. losen Futurismus wieder politisches Gewicht zu Folgerichtig bezeichnet Marinetti die Be- verleihen. Er erteilt politischen Alternativen, etwa ziehung von Futurismus und Faschismus als das dem Kommunismus, als einer »alten Formel für Verhältnis zwischen Maximal- und Minimal- Mittelmäßigkeit« eine klare Absage und dekla- programm – globales Endziel versus national- miert den sich durchsetzenden Faschismus als der staatliche Sicherung. Der Faschismus ist die po- futuristischen Anschauung am dienlichsten. Un- litische Filiale des Futurismus, das Komplement beirrt hält er bis zu seinem Tod 1944 am Glauben einer sich genuin als wirklichkeitsgestaltend ver- fest, daß sich die »wunderbare, uneigennützige, stehenden Avantgarde, die sich einer notwendi- kühne, antisozialistische, antiklerikale und an- gen Bindung an den Bezirk außerhalb der Ate- timonarchistische Seele von 1919« letzten Endes liers und Lesesäle – also den politischen Raum – doch im Faschismus verwirklichen lassen könne. ohne Zweifel und zu jeder Zeit bewußt ist. Zwar Aber vergebens – Mussolini festigt die 20er Jahre gerät dieser schon bald zu einem Dickicht, das hindurch seine Macht, hofiert die Eliten und gibt den Radius erheblich einschränkt, doch schmä- der klassisch orientierten Kunst den Vorzug. Die lert das die Absicht nicht. avantgardistische Kunst steht als politischer Fak- Es sei noch einmal an das ästhetische Prin- tor fortan im Abseits, wenn auch in ihrer Exi- zip erinnert, dessen Geist die »nominalistische stenz keinesfalls von Zensur bedroht und sich im Wendung der Neuzeit« gebar und das so charak- Geistesleben durchaus behauptend. teristisch für die Moderne eine Konzentration Die Gretchenfrage der Literaturwissen- auf das Besondere, Einzelne zur Folge hat, das schaft in bezug auf Marinetti ist seit jeher der als »Gestalt vom Gestaltlosen abgehoben wird« faschistische Lackmustest. Hat er oder hat er (Mohler). Jene Gestalt entsteht im Formungspro- nicht? Ist der Futurismus ein Trabant Mussoli- zeß, der keinen angestammten Platz mehr inner- nis, oder dessen Kraftquelle? Läßt man die mä- halb eines Systems benötigt, geschweige denn andernde Landschaft der Totalitarismustheorien eine egalitaristische Planung oder ideologisch vergangener Jahrzehnte in den Hintergrund tre- ausgetüftelte Agenda. ten, so leuchtet die Analyse ein, daß es sich beim Zum Reaktionären neigt, wer hier einen Wi- Faschismus um mehr als einen irgendwie vom derspruch erkennen möchte. Denn mit der natio- Bürgertum gesteuerten Abwehrkampf gegen wen nalen Formgebung entsteht erst das Trapez als auch immer, sondern um ein Phänomen handelt, Gerät der zukünftigen Aufgabe, des Hinaufka- dessen Erscheinung eine Gleichzeitigkeit zweier tapultierens der Menschheit und dessen Gestal- Prinzipien unbedingt voraussetzt: Idee und Af- tung als ein weltweites Kollektiv, einer »Neu- fekt. Abstrakter: eine Melange aus Ideologien konstruktion des Universums« (Balla). Freilich, und Interessen. Dabei verblaßt die handelsübli- ein kühner Plan. Bemerkenswert ist vor allem, che Erscheinung des Nationalismus als Ahnherr daß der in avantgardistischen Zusammenhän- des Faschismus, und es wird ein Widerstreit bei- gen gerne apostrophierte Friedrich Nietzsche un- der deutlich. Ersterer bewegt sich von einer gei- ter diesem Eindruck lediglich als moderner Souf- stigen Idee getragen in Richtung Politik, um dort fleur erscheint, vergegenwärtigt man sich dessen ohne Zugeständnisse an vorhandene Gegner Idee einer antik beseelten Züchtigung des neu- dieselbige umzusetzen. Zweiter wurzelt partiell zeitlichen Gedränges. Nicht den Nihilismus, also ebenfalls im Intellektuellen, setzt seinen Schwer- das gesellschaftlich-kulturelle Klima sollte der punkt aber im politischen Bereich, indem dieser gründlichen Revision unterzogen werden, son- den Rahmen der oben aufgeführten Melange bil- dern gleich der ganze Mensch mitsamt seines an- det und so einer ideologischen Starre wie einem gestammten Areals, der Erde. Das versteht Ma- Sektierertum die Grundlage entzieht. Denn im- rinetti ganz über den Schreibtisch hinaus, wenn mer ist in Bewegung, was nach vorne geht. er »Lamarcks transformistische Hypothese« er- Diese Darstellung ist als eine Erweiterung wähnt und das Organische wie selbstverständ- der Mohlerschen Physiognomie zu verstehen, lich zur Konkursmasse erklärt. Und Rettung die den faschistischen Stil als eine unter mehre- naht nur in Form der Ersatzteillager-Welt. So fin- ren, immer gleichzeitig auftretenden Verhaltens- det die Theorie ihre Verwirklichung im Prakti- weisen ausweist. Zwar später mit eindeutig ge- schen; Nietzsche scheiterte bekanntermaßen an schwächter Position im Machtkampf innerhalb genau dieser Umsetzung. des italienischen Regimes, doch von grundsätz- Daß sich diese Perspektive eher mit Ernst licher Tätigkeit. Dies durchgeführt als »typolo- Jüngers Arbeiter oder Oswald Spenglers Unter-

54 Röcke – Futurismus gang des Abendlandes verträgt, also das histo- und die Kunst – die Geburt des Zentauren hat- rische zugunsten eines globalen Bewußtseins zu- ten Sie in Ihrem Manifest verkündet: dies ist sie.« rückdrängend, ist der interessanteste Ansatz Ste- Wie es mit dem deutschen Staat weitergeht, ist fan Breuers (Anatomie der Konservativen Revo- hinlänglich bekannt. Der Formzwang der Kunst lution, zuletzt Darmstadt 2009). Die Differen- hingegen ist nicht historisch, ihr Status als Be- zen des ästhetisch unterlegten romanischen Mo- wahrungscharakter bedarf nach wie vor eines dells gegenüber dem eher militärisch orientierten schöpferischen Umfelds. Erst dann kann sich se- deutscher Machart sehr wohl erkennend, sieht er riös um den Kulturkreis bemüht werden. in der Kategorie der bedingungslosen Überwin- dung abgelebter Kategorien eine gewichtige Ge- meinsamkeit. Bei alledem bleibt irgendwann die Kunst auf der Strecke, was Marinetti und Entou- rage nicht weiter stört – sie wird eines Tages ihren Dienst getan haben. Dann, wenn gegen alle Klas- senschranken das Genie quer durch das Volk auf- gestiegen ist, das am technisch-zeitgenössischen Alltag, nicht am traditionellen Ideal der metaphy- sischen Formgebung geschult, unerbittlich Kunst betreiben wird. Das Kunstwerk ist dann Realität, sich ganz aus sich selbst heraus erklärend, sagen wir: aus einer flambierten Ölpumpe. Eine »Ver- leugnung der traditionellen Statthalterfunktion der Kunst« (Manfred Hinz: Die Zukunft der Ka- tastrophe, New York und Berlin 1985) degradiert alles Ästhetische zum Dinglichen, und es fallen Naturalismus und Formalismus zusammen. Diese Konsequenz muß sehen, wer im Fu- turismus eine Inspirationsquelle ausmacht – un- ter welchem Eindruck auch immer. Das soll den MANIFEST Stellenwert der Avantgarde nicht schmälern, im Gegenteil: Unersetzlich ist sie für die, deren wa- Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, cher Geist die Verwerfungen der die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. Zeit wahrnimmt, die ihre Bilder aber weder in Weimar bestellen, DES Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die noch im kommenden Jahrtausend Wesenselemente unserer Dichtung sein. aufhängen. Die Neue Sachlichkeit Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere etwa, und besonders die kommu- Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. nistischen Parteigänger der Litera- tur wie Johannes R. Becher, wis- Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige sen nur zu gut, woher sie gekom- Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige men sind, welches Anliegen das und den Faustschlag. dringendste ist. Im Rückblick faßt es Benn 1955 zusam- Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt. men: »Form und Zucht steigt als Forderung von Der Dichter muß sich glühend, glanzvoll und freigebig verschwenden, um die lei- ganz besonderer Wucht denschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren. aus jenem triebhaf- ten, gewalttätigen und Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann rauschhaften Sein, das kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefaßt werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen. in uns lag und das wir auslebten, in die Gegen- Wir wollen den Krieg verherrlichen – wart auf. Gerade der FUTURIS diese einzige Hygiene der Welt – Expressionist erfuhr die sachliche Notwendig- den Militarismus, den Patriotismus, keit, die die Handhabung der Kunst erfordert, die Vernichtungstat der Anarchisten, ihr handwerkliches Ethos, die Moral der Form.« die schönen Ideen, für die man stirbt, Ein Eindruck, der stellvertretend für viele gilt. und die Verachtung des Weibes. Auch für Marinetti, aber bei ihm einen gewal- Wir wollen die Museen, tigen Schritt zu weit gedacht. Genau dagegen die Bibliotheken und die Akademien stellt sich Benn, den Weg in die Aporie ahnend jeder Art zerstören und gegen und daher die transzendente Reißleine ziehend: den Moralismus, den Feminismus Er klammert die krude Poetik des Futurismus und jede Feigheit kämpfen, aus und setzt auf dessen gesellschaftspolitisches die auf Zweckmäßigkeit und Prinzip der Form – den Faschismus. Ihm stellt Eigennutz beruht. er seine abendländische Dichtung zur Seite, auf den Neuanfang des Kulturkreises hoffend: »Die ganze Zukunft, die wir haben, ist dies: der Staat MUS

Röcke – Futurismus 55 Begriffe | Sezession 28 · Februar 2009

Es gibt zahlreiche Begriffe und Wendungen, die Böse ist immer und überall« – nicht Nietzsche, Konrad Lorenz als wissenschaftliche Termini nicht Hannah Arendt, sondern die Erste Allge- einführte oder jedenfalls in ihrer populären Ver- meine Verunsicherung quäkte das in den Achtzi- wendung prägte. »Prägung« selbst wäre ein sol- gern. Schöner Kapellen-Name, eigentlich. ches Wort, aber auch der »Schlüsselreiz« oder die Ellen Kositza »Übersprungshandlung« – und eben das »soge- nannte Böse« und die »Verhausschweinung«. Verhausschweinung — Manche Begriffe, die man leichthin verwendet, hält man für so spre- Das sogenannte Böse — Lorenz erhielt nach chend und in ihrer Bedeutung für so leicht ver- Veröffentlichung seines Buches über Das soge- ständlich, daß man ein Mißverstehen schlechter- nannte Böse den Nobelpreis. Das war 1963, und dings nicht für möglich hält. Verhausschweinung: erst im Anschluß kam es zur Debatte über seine Was gäbe es da zu erklären? Es steckt darin die mutmaßliche Affinität zu NS-Ideologien. Der arme Sau, die zwischen den Bohlen ihres Kobens Untertitel des Werks erklärte, worum es Lorenz warm und fett und sicher lebt, die Abenddämme- ging: um eine »Naturgeschichte der Aggression«. rung unter einem Eichenbaum (den Rüssel trüf- Es sei ein natürlicher Trieb, ein Instinktverhal- felnd am Boden und die Ohren gespitzt ob des ten, das Mensch wie Tier zu aggressivem Verhal- möglichen Feindes) aber noch nie erleben durfte. ten gegenüber Artgenossen führe, meinte Lorenz. Verhausschweinung: Es steckt darin Nietzsches Innerhalb der je eigenen Art habe sich aggressi- letzter Mensch, der aus seinen Schweinsäuglein ves Verhalten – zur Selbstverteidigung, zum Aus- blinzelt und einen Wanst sein eigen nennt, wobei bau von Hierarchien – evolutionär durchgesetzt; das Schweinsäuglerische und das Wanstige nicht die »Natur« sei nicht demokratisch, sondern ge- im Körperlichen liegen müssen, sondern vor al- horche anderen, sprich: Führerprinzipien. Nun lem dann wahrnehmbar werden, wenn das Ge- wäre es eine Herabwürdi- hirn des letzten Menschen gung des Menschen, ihn auf Zuerst verwirren sich die ein Bäuerchen macht. Ver­ Instinkte und Triebverhalten Worte, dann verwirren hausschweinung: Das mag – zu reduzieren. Lebensformen sich die Begriffe, und mit Konrad Lorenz gespro- und Werte als ethische Be- schliesslich verwirren chen – die Tendenz des Men- zugspunkte vermittelte ihm sich die Sachen. (Konfuzius) schen sein. Aber weil Lorenz (schon vor dem Christen- mit bestimmter Absicht nicht tum) die Kultur, in der er von Veradlerung, sondern lebt. Eine verschärfte, besser: anders gewichtete eben von Verhausschweinung sprach, liegt schon Trennung von Gut und Böse besorgten die jünge- im Wort selbst die Aufforderung zum Wider- ren Geschwister Zivilisation und Moral. stand gegen diese Tendenz in uns selbst. Schon Spinoza begriff das Böse als individuelle Es ragt aus grauer Vorzeit noch immer und phylo- Kategorie: Was die Selbstbehauptung des Einzel- genetisch weitergereicht das Bild von der halbver- nen (oder der je wertenden Gruppe) hemme, nen- hungerten Menschenhorde in jeden von uns hin- nen die Betreffenden »böse«. Nietzsche hat sich ein: War das Wild erlegt, aß man, soviel man nur Jahre seines Lebens an dem »alten Wahn, der heißt konnte, ruhte die Jagdgemeinschaft nach unvor- Gut und Böse« abgearbeitet. In seinen Schriften stellbaren Strapazen, verendete zwei Felle weiter Jenseits von Gut und Böse und Genealogie der mit schrillen Schreien nach qualvollen Tagen der Moral hat er die Genese jener Kategorien gültig Mann, dem der Keiler den Schenkel aufgeschlitzt herausgestellt: »Was eine Zeit als böse empfindet, und das Knie zertrümmert hatte. Noch vor hun- ist gewöhnlich ein unzeitgemäßer Nachschlag dert Jahren saß am Abend dumpf der Stahlarbei- dessen, was ehemals als gut empfunden wurde«, ter am Tisch seiner Wohnung im dritten Hinter- schrieb er 1885. Die Metaphern des absolut Bö- hof und brütete über dem Glück, daß nicht sein sen treten gern personifiziert in Erscheinung. Bein in die Walze geraten war, sondern das seines Der Teufel, Loki, Hitler, jüngst Josef Fritzl – Schichtkollegen, der drei Häuser weiter wohnt – schwierig, dem zu widersprechen. Jenseits des ra- und sah dort schon die Frau des Amputierten dikal Bösen (Kant) dürfen wir auch mit stabilem bis in die Nacht hinein an einer Heißmangel ste- Wertefundament die Gut/Böse-Dichotomie als hen, damit es für ein paar Kartoffeln reichte. Wie Schwarzweißmalerei betrachten. In den Niede- sehr versteht man die bildlose Sehnsucht dieser rungen des Alltags ist sie auch im (mittlerweile Frau nach einem Kühlschrank und die des Man- überstrapazierten) »Gutmenschen« angekommen nes nach etwas, das dem OP-Saal in der Charité und umgekehrt im paragraphgewordenen Rela- des Jahres 2009 gleichen könnte, wie sehr ver- tivierungsverbot sogenannter »Menschheitsver- steht man die Tendenz zur Verhausschweinung. brechen«. Die Reflexe und Affekte (damit wä- Und wie sehr wünschte man sich, daß jeder ei- ren wir wieder bei Lorenz) sitzen diesbezüglich genhändig mit der Saufeder ein Wildschwein zu recht locker und verhindern eine Tiefenschau. erlegen hätte, bevor er – eingewickelt in eine Ver- Besser (Superlativ des »Guten«) wird’s nicht da- Di-Tüte und mit fettem Gesicht – für 8 Prozent durch, daß die Etiketten idiotensicher in Groß- mehr Lohn in seine Trillerpfeife grunzt. schrift gemalt sind – nicht mal harmloser. »Das Götz Kubitschek

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Seit dem 2. Februar freigeschaltet. www.sezession.de www.sezession.de Und was machte der Junge mit dieser Flöte? Er pfiff drauf. pfiff Er Flöte? dieser mit Junge der machte was Und mittun. er wollte eigentlich denn wehmütig, bißchen ein auch und fröhlich ihn machte Das zu. ihm winkte jeder Und eben. Mischung bunte eine Rechte, Neue und Freunde alte Aktionen, und Akademien Ideen, und Zeitschriften sehen: zu Dinge feinsten die bekam und Löchlein einzelnen die in blickte Er lag. Schreibtisch seinem auf die Flöte, einer zu er griff dann te, wuß weiter mehr nicht er und langweilte ihn es wenn Doch sitzen. zu Zeitung derselben Woche über jede Freiheit, die sich nahm der Junge, ein einmal war Es Parabel -