EINSPRÜCHE. Studien zur Vereinnahmung Eine Reihe der von Theologie durch die Bundesarbeitsgemeinschaft1 Kirche + Rechtsextremismus extreme Rechte

Heinrich Bedford-Strohm Liane Bednarz Johann Hinrich Claussen Grußwort Rechte Christentumsdiskurse – Retro-Utopie: Völkischer ein Überblick Protestantismus. Über die Theologie von Karlheinz Weißmann

INHALT

5 Grußwort von Heinrich Bedford-Strohm

6 Vorwort von Henning Flad

8 Rechte Christentumsdiskurse – ein Überblick von Liane Bednarz

24 Retro-Utopie: Völkischer Protestantismus. Über die Theologie von Karlheinz Weißmann von Johann Hinrich Claussen

5

Grußwort

Die populäre rechte Kampfparole von der »Rettung des christlichen Abendlandes« stellt die Kirchen vor eine deutliche Auf- gabe. Sie müssen sich damit auseinander- setzen, dass rassistische politische Kräfte versuchen, christliche Traditionen und Werte für ihre Zwecke zu instrumentali- sieren. Die Kirchen weisen in aller Klar- heit auf die Unvereinbarkeit von christ- lichen Grundorientierungen mit extrem rechtem Denken hin. Sie müssen sich des- wegen wüster Attacken und Diffamie- rungsversuche durch die AfD und ande- rer rechtspopulistischer, neurechter und rechtsextremer Akteur*innen erwehren. Umso mehr müssen die Kirchen sich der Aufgabe stellen, sich kritisch mit rechten theologischen Ideologieangeboten auseinanderzusetzen.

Die extreme Rechte macht nicht nur ein politisches Angebot. Sie macht mit ihrer ganze Menschengruppen herabsetzenden Ideologie auch ein Sinnangebot. Das Sinnangebot der Kirche könnte nicht gegensätzlicher sein. Die Liebe und Men - schenfreundlichkeit Jesu Christi gilt jedem Menschen und sie gibt keinen Men- schen auf.

Deswegen ist es einerseits Aufgabe der Kirche, Räume der Begegnung, des Ge- sprächs und der Versöhnung zu bieten. Andererseits braucht es aber auch Klar- heit in der Sache. Die kirchliche Botschaft steht in fundamentaler Spannung zu Rassismus, Antisemitismus und allen Formen Gruppenbezogener Menschen- feindlichkeit – auch dann, wenn sie in intellektuellerem oder vermeintlich christlichem Gewand daherkommen.

Es ist eine große Bereicherung für die kirchliche Debatte, dass sich die Bundes- arbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K+R) an dieses schwie- rige Thema heranwagt – ein Thema, das in der Forschungsliteratur bislang wenig erschlossen ist.

Ich wünsche der BAG K+R viel Ausdauer und Kraft in diesen schwierigen Aus- einandersetzungen und dieser Broschüre und den folgenden Publikationen ein breites Interesse in den Kirchen und darüber hinaus. Mögen von ihr wirksame Impulse ausgehen, die argumentative Auseinandersetzung mit extrem rechten Ideologieangeboten zu stärken, die das Christentum für sich zu instrumentali- sieren versuchen.

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Vorsitzender des Rates der EKD 6

Vorwort

Ob im Rechtpopulismus oder in der sogenann- Auseinandersetzung mit rechten theologisch ten »Neuen Rechten« – zentrale Autor*innen orientierten Ideologieangeboten auch men- greifen seit langem auf religiöse Motive zurück. schenfreundliche theologische Alternativen Führende Ideolog*innen beziehen sich offen po- aufzuzeigen. sitiv auf das Christentum – etwa der neurechte Publizist Martin Lichtmesz in seinem Pseudo- Damit können manche Aspekte dieser Analysen nym – oder haben wie Karl-Heinz Weißmann für die Kirchen schmerzhaft sein – »neurechte« und David Berger Theologie studiert. In Fach- Theologie entstand nicht in einem Vakuum, veröffentlichungen ist wenig analysiert, dass sondern greift oft auf wichtige theologische christliche und vermeintlich christliche Elemen- Stimmen aus der kirchlichen Ideen- und Theo- te für das Denken von weiten Teilen der »Neuen logiegeschichte zurück. Auch diese Bezugspunk- Rechten« identitätsstiftend sind. te gilt es kritisch in den Blick zu nehmen. Dabei ist insbesondere zu untersuchen, wie theologi- Mit der vorliegenden Broschüre beginnt die sche Ideologieelemente mit Rassismus, Sexis- Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechts­ mus und anderen Formen gruppenbezogener extremismus (BAG K+R) die Publikationsreihe Menschenfeindlichkeit verknüpft werden. »Einsprüche. Studien zur Vereinnahmung von Theologie durch die extreme Rechte« mit dem In der nun begonnenen Reihe wird jedes Jahr Ziel, dieses Thema weiter zu erschließen. Die eine neue Broschüre mit zwei oder drei Beiträ- BAG K+R wendet sich dabei nicht ausschließlich gen zum Themenfeld erscheinen. Die erste Aus- an den kirchlichen Raum, denn die Analysen gabe wird eröffnet von einem Beitrag von Dr. der Reihe können den Blick aller Interessierten Liane Bednarz. Sie führt ins Thema ein mit ei - auf neurechte und rechtspopulistische Ideologie nem Überblick: Warum ist für die »« erweitern und schärfen. Für die Kirchen ist das der christliche Bezug so wichtig? An welchen Thema gleichwohl besonders relevant: Der An- Themen und Personen zeigt sich dies in beson- griff von rechts auf sie wird nicht nur politisch, derer Weise? Wie wird argumentiert? sondern auch theologisch begründet. Im Um- gang mit rechten Ideologien sollten die Kirchen Im Anschluss untersucht Dr. Johann Hinrich daher auch die theologische Dimension kennen Claussen die Texte einer Schlüsselfigur der »neu- und sich mit ihr auseinandersetzen. rechten« Publizistik, Karl-Heinz Weißmann, auf ihren theologischen Gehalt hin. Welche theo- Das Ziel der Publikationsreihe ist es, einen Über- logischen Kerngedanken lassen sich ausma- blick zu geben über rechte Instrumentalisie- chen und welche ideengeschichtlichen Bezüge rungen des Christentums. Die Bedeutung von lassen sich identifizieren? Und wie christlich (pseudo-)christlichem Denken für rechte Ideo- sind diese Texte überhaupt? logien soll aufgezeigt werden. Das kann bei- spielhaft am Wirken wichtiger Akteur*innen Ihnen eine gute Lektüre der ersten Beiträge analysiert werden, aber auch entlang von the- aus der Reihe »Einsprüche. Studien zur Verein- matischen Fragestellungen. Zudem werden so- nahmung von Theologie durch die extreme wohl evangelische als auch katholische Perspek- Rechte«. tiven einbezogen. Schlussendlich geht es neben der Analyse aber auch darum, in der kritischen Henning Flad, Projektleitung Bundesarbeits- gemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus 7

1 8

Liane Bednarz Rechte Christentums- diskurse – ein Überblick

Die Neue Rechte hat es in den letzten Jahren geschafft, ihre Denkfiguren und Diskurse auch in Teilen des bürgerlich- ­ konservativen Milieus zu verankern. Dabei spielt ihr strategisch- instrumenteller Rekurs auf das Christentum eine zentrale Rolle.

In der Corona-Krise glaubt man, den eigenen zialen Medien Stimmung gegen die staatlichen Augen nicht zu trauen. Ausgerechnet ein Teil Schutzmaßnahmen, vor allem gegen die Mas- des betont frommen christlichen Milieus, dar- kenpflicht. Statt die Nächstenliebe und die Sor- unter vor allem strenggläubige Katholik*innen ge um Vorerkrankte und andere Risikogruppen und Evangelikale, die sich sonst bei jeder Ge- in den Fokus zu rücken, bezeichnen sie Masken legenheit für den »Lebensschutz«, d. h. gegen etwa als »Unterwerfungssymbol« gegenüber Abtreibung und Sterbehilfe aussprechen, ma- der Merkel-Regierung und posten vielfach Ar- chen praktisch seit Beginn der Krise in den so- tikel auf rechtspopulistischen Blogs, die die Einschränkungen ebenfalls ablehnen.

Hinter diesem Verhalten verbirgt sich ein milieu- Liane Bednarz typischer Zielkonflikt zwischen »Lebensschutz« ist Publizistin und promovierte Juristin einer- und der seit Jahren, vor allem seit der mit dem Schwer- Flüchtlingskrise, bestehenden manifesten Ab- punkt Neue Rechte lehnung der als zu liberal erachteten Bundes- und religiöse kanzlerin Angela Merkel andererseits. Zumin- Bewegungen. Sie dest der Lautstärke nach setzte sich in diesen ist regelmäßige Zirkeln das Ressentiment gegenüber Bundes- Gastkommentatorin (online) beim SPIEGEL. Weitere Texte kanzlerin Angela Merkel durch. Das ging so wurden im Tagesspiegel, in der NZZ, weit, dass manche sogar bei den »Querdenker«- der FAS und dem »Freitag« publiziert. Demos gegen die Schutzmaßnahmen mitliefen 2018 erschien im Droemer-Verlag ihr oder zumindest zur Teilnahme daran aufriefen. neuestes Buch »Die Angstprediger – In den Beschränkungen sehen sie nichts ande- Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern«. res als einen weiteren Beleg für das angebliche autoritäre »Merkel-Regime«, gegen das es »Wi- derstand« zu leisten gelte. RECHTE CHRISTENTUMSDISKURSE – EIN ÜBERBLICK 9

Nicht anders wird im Großteil der Neuen Rech- führende Köpfe, die dezidiert als Christ*innen ten argumentiert. Das wirft die Frage auf, wie auftreten. Drittens haben die beiden Großkir- es zu einer solchen gedanklichen Annäherung chen das Thema lange vernachlässigt und die kommen konnte. Dieses Phänomen, also die christlich eingehüllten Thesen der Neuen Rech- Übernahme (neu)rechter Ideenwelten durch ten keiner theologischen Analyse unterzogen. einen Teilbereich des christlich-konservativen Milieus ist keineswegs auf die Haltung in der Corona-Krise beschränkt, sondern manifestiert Die Neue Rechte in sich auch bei anderen Themen, etwa in der Flüchtlingsfrage oder bei Genderthemen. Deutschland verfügt über diverse führende ­Köpfe, Bei der Suche nach den Gründen dafür, warum die Neue Rechte insgesamt in Teilen des kon- die dezidiert als servativem Bürgertums, also auch über betont Christ*innen auftreten. fromme Milieus hinaus, derart anschlussfähig werden konnte, wird nach wie vor zu wenig der Blick darauf gerichtet, welche entscheidende Rolle die Instrumentalisierung des Christen- Welche große Relevanz dem Thema zukommt, tums dabei spielt. Demgemäß ist diese Thema- hat die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung erkannt. tik auch in weiten Teilen der Öffentlichkeit In ihrer Reihe »Argumentation kompakt« – Ein kaum bekannt. Service der Hanns-Seidel-Stiftung für politische Entscheidungsträger« erschien im Februar 2019 Für diesen Mangel gibt es im Wesentlichen drei das Papier »Religion und Rechtspopulisten« der Gründe. Zum einen ist das Gros der Journa- drei Autoren Oliver Hidalgo, Philipp W. Hild- list*innen und Wissenschaftler*innen, die sich mann und Alexander Yendell1. Diese wiesen mit der Neuen Rechten beschäftigen, politisch darin gleich zu Beginn zusammenfassend da- selbst eher links oder linksliberal verortet und rauf hin, dass dem »Thema Religion eine Schlüs- demgemäß in der Tendenz kirchenkritisch. Das selrolle« in »der politischen Auseinandersetzung wiederum hat zur Folge, dass das Interesse an mit dem Rechtspopulismus« zukomme. Ihre der Inanspruchnahme des Christentums durch Untersuchung führte für sie zu dem folgenden Rechte entsprechend gering ist oder mangels Fazit: »Kulturchristentum, Heimatglaube, Feind- eigener fundierter theologischer Kenntnisse bild Islam − die diffuse Inanspruchnahme der nicht als Problem erkannt wird. Zweitens christlichen Religion durch Rechtspopulisten herrscht vielfach immer noch die Vorstellung nimmt diverse Gestalten an, läuft aber stets auf vor, dass Rechte per se nicht christlich, sondern ein Ziel hinaus: Das ›Abendland‹ gegen ›Fremd- heidnisch, vor allem heidnisch-germanisch aus- gläubige‹ zu verteidigen und eine ausgrenzende, gerichtet seien. Das trifft für die neonazistische religiös-nationalistische Identität zu schaffen«. Szene fraglos nach wie vor zu. Für die Neue Rechte in Deutschland aber nicht. Sie verfügt, wie noch näher aufzuzeigen ist, über diverse 1 www.hss.de/download/publications/Argu_­ Kompakt_2019-3_Religion.pdf 10 LIANE BEDNARZ

Die instrumentelle Inanspruch­ Herausforderung« anzusehen seien. Und zwar nahme des Christentums als deshalb, weil »ein erfolgreicher Schulterschluss ­»Identitätsmarker« zur Unterfütte- mit der Religion […] dem Rechtspopulismus einen rung von rechten Feindbildern Zuwachs an Legitimität versprechen [würde], der seine Ziele erheblich begünstigen könnte«. Auch wenn die Studie explizit nur von »Rechts- Daraus ziehen die Autoren den ebenfalls rich- populisten« spricht, gelten ihre Befunde ohne tigen Schluss, dass man »entsprechend präzise« weiteres auch für die innerhalb des rechten analysieren müsse, »warum die Berufung auf Denkens noch weiter rechts stehende, intellek- das Christentum oder besser die Inanspruch- tuelle Neue Rechte. Mit der Wendung »diffuse nahme des christlichen Erbes gepaart mit einer Inanspruchnahme der christlichen Religion« strikt antiislamischen Rhetorik ein Hauptmerk- charakterisieren Hidalgo, Hildmann und Yen- mal« so gut wie »fast aller rechtspopulistischen dell die positive Bezugnahme von Rechten auf Parteien und Bewegungen in Europa« sei. Zu- das Christentum sehr treffend. Denn dahinter dem arbeiten sie einen entscheidenden Aspekt steht keine durchdachte, in sich konsistente heraus, den man bei der Betrachtung der ein- Theologie. Vielmehr herrscht eine Rosinenpi- zelnen christlich verpackten rechten Diskurse ckerei vor, mittels derer Rechte zur Bestätigung stets im Hinterkopf haben sollte, weil er den des eigenen Weltbilds Bibelstellen nach eige- instrumentellen Charakter näher beschreibt, nem Gusto herausgreifen und in ihrem Sinne den das Christentum für Rechte hat: interpretieren. Im Vordergrund stehen dabei die zentralen rechten Feindbilder der angeblichen »Auch wenn religiöse Hintergründe für die »Islamisierung« sowie der als solche bezeichne- Konstituierung rechtspopulistischer Denkmus- ten »Genderideologie«. ter durchaus eine Rolle spielen, ist die Stoßrich- tung doch eine andere: So neigen Rechtspopulis- Aus Sicht von Theolog*innen, vor allem solchen, ten dazu, ihre politischen Ziele – z. B. die Einheit die wissenschaftlich tätig sind, mag diese Form der Nation, die Gemeinschaft des Volkes oder die der Instrumentalisierung einzelner Bibelstellen Beschwörung eigener kultureller Größe – selbst plump wirken und das ist sie vielfach auch. Je- zum Gegenstand (pseudo-)religiöser Verehrung doch sollte man sie in ihrer Wirkung keines- zu erheben. Für gewöhnlich rückt der Rechts- falls unterschätzen, da sie in Teilen des konser- populismus daher von den inhaltlichen Kern- vativ-christlichen Milieus beider Konfessionen botschaften des christlichen Glaubens ab und leider durchaus auf einen sehr fruchtbaren bemüht die Religion lediglich als Iden­titäts­mar­ Boden fällt, gerade auch weil alles so scheinbar kie­rung. Mit dieser lassen sich ethnische, sprach- eindeutig dargestellt wird und somit anschluss- liche und kulturelle Unterschiede in eine ver- fähig an das in diesen Kreisen ohnehin ausge- meintlich höhere Dimension transportieren und prägte manichäische Weltbild ist. Demgemäß radikal verabsolutieren«. weisen Hidalgo, Hildmann und Yendell zu- treffend darauf hin, dass »die beobachtbaren Auch Johann Hinrich Claussen hat den instru- Schnittmengen in den Agenden, Programma- mentellen Charakter, den das Christentum für tiken und Strategien religiöser und rechtspopu- neurechte Denkschablonen hat, am Beispiel von listischer Akteure« als »eine große politische Karlheinz Weißmann, einem zentralen Vorden- RECHTE CHRISTENTUMSDISKURSE – EIN ÜBERBLICK 11 11

ker des Milieus, treffend benannt, wenn er in hat sich Weißmann von dem Umfeld Kubit- dieser Broschüre schreibt, dass »ein Christen- scheks losgesagt und ist u. a. regelmäßiger Autor tum, das der nationalen Identitätsstabilisierung der »Jungen Freiheit« und des rechten Monats- dienen soll, instrumentalisiert und seiner uni- magazins »CATO«, das zum Milieu der »Jungen versalistischen Perspektive beraubt wird«. Es Freiheit« zählt. verliere, so Claussen weiter, so »sein Eigenrecht als Religion« und werde »zu einer bloßen Funk- Anlass für die hier interessierende Positionie- tion der nationalen Ordnung«. Beispielsweise rung von Weißmann in dem 2006 publizierten und um es in den Worten der Autoren der Studie Gesprächsband ist Kubitscheks so bezeichnete der Hanns-Seidel-Stiftung zu sagen, »entspringt »Ausgangsfrage« nach Weißmanns »Position das Gedankengebäude des Rechtspopulismus gegenüber der französischen ›Neuen Rechten‹, insgesamt einem säkularen, keinem religiösen wenn man so will, in ihrer ursprünglichen Ge- Impuls«, was sich namentlich »bei der sakralen stalt«. Darauf antwortete Weißmann (Unter- Einkleidung von Ideen wie ›Nation‹, ›Kultur‹ streichung durch die Verfasserin): oder ›Volk‹« zeige. »Was mich von Anfang irritierte, waren die Schlüsselinhalte – positive Wertung des Rationa- Die neurechte Publizistik und ihre lismus, die Fixierung auf das Indoeuropäische, Berufung auf das Christentum: die Feindseligkeit gegenüber dem Christentum, Grundlagen die Begeisterung für die ›Biopolitik‹ –, fasziniert war ich dagegen von dem Projekt, eine Gegen- Im Gegensatz zu der französischen »Nouvelle ideologie aufzubauen, um der Linken Paroli zu Droite«, die sich Ende der 60er Jahre unter ih- bieten. Das war etwas anderes als die lenden- rem Vordenker formierte, das lahme Traditionspflege oder der Rekurs auf den Christentum ablehnte und heidnisch ausge- gesunden Menschenverstand bei den Bürger­ richtet war, spielt das Christentum wie bereits lichen.« 3 angedeutet für signifikante Teile ihres deut- schen Pendants traditionell eine wichtige Rolle. Alain de Benoist hat das Christentum in der Tat Das wird vor allem in einer Äußerung von wiederholt kritisiert. So stört ihn etwa, dass sich Karlheinz Weißmann in dem 2006 erschienenen damit »der Individuo-Universalismus in Europa Gesprächsband »Unsere Zeit kommt« deutlich, wirklich« habe »durchsetzen« können4. in dem Weißmann Fragen von Götz Kubitschek, dem auf dem sachsen-anhaltinischen Rittergut Sich selbst verortete Weißmann gegenüber Ku- Schnellroda ansässigen Verleger und spiritus bitschek wie folgt: »Parole: Geheimes Deutsch- rector des völkisch-radikalen Teils der Neuen land! Hauptfeind: Die Dekadenz. Köpfe: Fried- Rechten, beantwortet2. Beide waren damals rich Nietzsche, Ernst Jünger, Arnold Gehlen, enge Weggefährten. Seit ein paar Jahren aber

3 Ebd, S. 37. 2 Karlheinz Weißmann, Unsere Zeit kommt, 4 Alain de Benoist, Mein Leben – Wege eines Götz Kubitschek im Gespräch mit Karlheinz ­Denkens, Verlag GmbH & Co. KG, Weissmann, Antaios 2006. 2014, S. 393. 12 LIANE BEDNARZ

Armin Mohler«5. Bei handelt es tums seien u. a. Erik von Kuehnelt-Leddihn und sich um den Ahnherrn des rechten Denkens Thomas Molnar gewesen, während allen voran nach 1945 in der Bundesrepublik. Wenngleich der bereits erwähnte Mohler sowie Caspar von Weißmann im Gespräch mit Kubitschek betont, Schrenck-Notzing ihren Widerpart bildeten11. dass er Mohler viel verdanke6, distanziert er sich Der Dissens, so Steber weiter, sei »in ›Criticón‹ von ihm doch in einem für die hiesige Analyse offen ausgetragen worden.«12 entscheidenden Punkt. Mohlers »Heidentum«, so Weißmann, sei ihm »immer fremd« gewesen7.

Das Beispiel Mohlers zeigt, dass keineswegs alle In der »Bibliothek zentralen Protagonist*innen der deutschen Neu- des Konservatis- en Rechten Christ*innen sind. Das ändert aber nichts daran, dass ein signifikanter Teil unter mus« treten das ihnen, und zwar vor allem in der Publizistik, »Who is Who« der dezidiert als christlich auftritt. Man kann also sagen, dass das Milieu insoweit hierzulande gemäßigten Neuen gespalten ist. Zu diesem Befund kommt auch Rechten, aber auch die Historikerin Martina Steber in ihrem 2017 veröffentlichten Buch »Die Hüter der Begriffe – ­bürgerliche Politische Sprachen des Konservativen in Groß- ­Protagonist*innen mit britannien und der Bundesrepublik Deutsch- land«8. Dort macht sie bereits in den »Netzwer- Rechtsdrall auf. ken um die rechten Zeitschriftengründungen der 1970er Jahre« wie »Konservativ heute«, »Criticón« und »Zeitbühne« bzw. in einem »sich Der 2009 verstorbene Caspar von Schrenck- auf der Rechten verortenden Konservatismus«9 Notzing sollte Jahrzehnte später mit seiner einen »Riss« aus, den sie wie folgt beschreibt: Privatbibliothek von über 20.000 Büchern den »Auf der einen Seite standen solche Publizisten, Grundstock für die 2012 eröffnete und im Um- die den Konservatismus als intrinsisch mit dem feld der »Jungen Freiheit« angesiedelten »Biblio- Christentum verbunden sahen, auf der anderen thek des Konservatismus« legen, die in der Nähe Seite jene, die dies ausdrücklich ablehnten.«10 des Kurfürstendamms in ihr Zuhause hat »Wortführer« der Befürworter des Christen- und mit diversen Veranstaltungen einer der zentralen Orte des rechten Denkmilieus ist. Getragen wird sie von der gemeinnützigen 5 Ebd., S. 46. »Förderstiftung Konservative Bildung und For- 6 Ebd., S. 52. schung«, die wiederum 2000 von Schrenck- 7 Ebd., S. 46. Notzing gegründet worden war. In ihr treten 8 Martina Steber, Die Hüter der Begriffe Politische Sprachen und Konservativen in Großbritannien vor allem das »Who is Who« der gemäßigten und der Bundesrepublik Deutschland, Veröffent­ Neuen Rechten, aber auch bürgerliche Protago- lichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 2017. 9 Ebd., S. 289. 11 Ebd. 10 Ebd., S. 292. 12 Ebd. RECHTE CHRISTENTUMSDISKURSE – EIN ÜBERBLICK 13

nist*innen mit Rechtsdrall auf. Die Abgrenzung »Junge Freiheit« etwa lehnt den Begriff »Neue gegenüber dem völkisch-radikalen Schnellroda- Rechte« für sich sogar explizit ab. Selbst völki- Milieu ist zwar grundsätzlich vorhanden, wird sche Neurechte wie Götz Kubitschek reklamie- aber nicht konsequent durchgehalten. Das war ren den Begriff für sich. Das macht es ihnen zu sehen, als im August 2019 mit der Publizis- leichter, in bürgerliche Milieus vorzustoßen. tin Caroline Sommerfeld eine Vordenkerin der Diese Strategie geht auf Armin Mohler zurück. »Identitären Bewegung« und Stammautorin von Er schrieb bereits Anfang der 70er folgenden Götz Kubitscheks »Sezession« dort auftrat13. Satz: »Die Definition, was ›konservativ‹ sei, ist bereits ein politischer Akt«17. Und weiter: »In Die Bibliothek spielte darüber hinaus eine we- der Politik will niemand mehr rechts sein, man sentliche Rolle in der causa rund um den frühe- will ›in der Mitte‹ stehen oder allerhöchstens ren sächsischen Landesbischofs Carsten Rent- etwas rechts von der Mitte«, weshalb man sich zing. Dieser trat im Oktober 2019 zurück, nach- höchstens »konservativ« nenne.18 Schuld dar- dem bekannt geworden war, dass er von 1989 an seien die »alliierten Besatzungsmächte« und bis 1992 Redakteur der extrem rechten Zeit- »ihre willigen Helfer in Medien und Politik«. schrift »Fragmente – das konservative Kultur- Damit offenbarte Mohler de facto, wie strate- magazin« war und dabei, so der Publizist Arnd gisch er selbst schon mehr als zwei Jahrzehnte Henze auf »tagesschau.de«, »in einer Reihe von zuvor vorgegangen war. Denn auch seine 1949 Aufsätzen seine Verachtung für die liberale erschienene Dissertation trug den Titel »Die Demokratie« ausgedrückt und »ein autoritär- konservative Revolution in Deutschland 1918– elitäres und völkisches Staatsverständnis« ver- 1932«. In dieser versuchte er, die Rechtsintellek- treten habe14. Desgleichen kam heraus, dass tuellen der Weimarer Republik wie Carl Schmitt, Rentzing 2013 einen Vortrag in der »Bibliothek Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck des Konservativismus« gehalten hatte15. Deren oder Edgar Julius Jung von jedweder geistigen Leiter Wolfgang Fenske wiederum war ebenso Verstrickung mit dem Gedankengut der Natio- wie Rentzing früher Redakteur eben jener Zeit- nalsozialisten reinzuwaschen. schrift »Fragmente«16. Dem Historiker Volker Weiß zufolge verfolgte Mohler damit den Zweck, »mit der Erfindung Exkurs: Begriffsabgrenzung einer ›Konservativen Revolution‹ der durch Na- ­»konservativ« versus »rechts« tionalsozialismus, Shoah und Kriegsniederlage belasteten deutschen Rechten wieder zu einer Die Selbstbezeichung »Bibliothek des Konser- vatismus« ist kein Zufall. Vielmehr verwendet das neurechte Milieu den Begriff »konservativ« aus strategischen Gründen ganz bewusst. Die 17 Armin Mohler, Der Konservative in der technischen Zivilisation. in: ders. 1974, S. 14; zitiert nach Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Klett-Cotta 13 www.youtube.com/watch?v=E-UFRRRUZqU 2017, S. 62. 14 www.tagesschau.de/investigativ/bischof-­ 18 Armin Mohler, »Brief an einen italienischen rentzing-101.html Freund«, in: ders., »Von rechts gesehen«, Busse- 15 Ebd. Seewald Verlag 1974, S. 43, zitiert nach Volker 16 Ebd. Weiß, a. a. O., S. 59 f. 14 LIANE BEDNARZ

positiven Tradition [zu verhelfen]« 19. Das sei in der Bundesrepublik und dort vor allem in jedoch nur durch »einige gewagte Konstruktio- den entsprechenden Flügeln der beiden Uni- nen, Auslassungen und Legenden« 20, möglich onsparteien herausgebildet hat. Dieser Konser- gewesen und selbst nichts weiter als eine »Le- vatismus sollte nicht mit dem rechten Denken gende«21. Weiß zieht zutreffend zudem das Fazit, gleichgesetzt werden, weshalb man insoweit dass Mohler »mit der Erfindung der ›Konserva- auch eine klare begriffliche Trennung vollzie- tiven Revolution‹ der Geisteswelt des Faschis- hen sollte. Statt von zwei »Varianten des Kon- mus unmittelbar nach dessen Niederlage ein servativen« zu sprechen, sollte man antagonis- Refugium geschaffen« habe und es ihm »unter tisch klar von »konservativ« und »rechts« spre- großzügiger Auslegung des Begriffs ›konserva- chen. Andernfalls macht man es Neurechten tiv‹ gelungen« sei, die Legende einer bedeuten- zu leicht, den Begriff »konservativ« in der Tra- den, gegenüber dem Nationalsozialismus un- dition Mohlers zu kapern und mit ihren Vor- empfänglichen Strömung innerhalb der deut- stellungen aufzuladen. schen Rechten zu installieren22. Auch Martina Steber kommt zu dem Schluss, dass Mohler »aus der deutschen antidemokratischen Tradi- tion des Denkens schöpfend, ein radikales anti- Man sollte liberales Gegenprogramm«23, und zwar »in Nachfolge der Weimarer Rechten«24, zum bun- ­antagonistisch klar desrepublikanischen Konservativismus mit von »konservativ« und seiner Westorientierung geschaffen habe. Wie »rechts« ­sprechen. Steber weiter ausführt, sollten diese »beiden Varianten des Konservativen die politische Kultur der Bundesrepublik fortan prägen – bis in unsere Gegenwart hinein«25. Gleichsam hebt Anhand der genauen Abgrenzung zwischen Volker Weiß hervor, dass Mohlers Ansatz »der dem bundesrepublikanischen Konservatismus extremen Rechten der jungen Bundesrepublik und dem rechten Denken lässt sich auch be- die Möglichkeit des Neubeginns« eröffnete, »von stimmen, ab wann Ideenwelten im konservativ- dem sie bis heute zehrt« 26. christlichen Spektrum die Grenze zu rechten Vorstellungen überschreiten. Das gilt nament- Das, was Neurechte unter »konservativ« verste- lich für drei Zentralthemen: für den Lebens- hen, unterscheidet sich fundamental von dem schutz, den Umgang mit Genderthemen und Begriff des Konservativen, wie er sich nach 1945 den Islam.

Zentral für den bundesrepublikanischen Kon- 19 Volker Weiß, a. a. O., S. 44. servatismus ist die Einbindung in die liberale 20 Ebd. und pluralistische westliche Werteordnung. Das 21 Volker Weiß, a. a. O., S. 47. bedeutet vor allem, dass eigene thematische 22 Ebd. 23 Martina Steber, aaO, S. 155. Schwerpunkte wie Heimat, Familie, und Nation 24 Martina Steber, aaO, S. 157. für Konservative und somit auch für konser- 25 Ebd. vative Christ*innen zwar wichtig sind, aber 26 Volker Weiß, a. a. O., S. 48. RECHTE CHRISTENTUMSDISKURSE – EIN ÜBERBLICK 15

jeweils nicht überhöht oder ausgrenzend in- zunächst als Schülerzeitung in Freiburg gegrün- terpretiert werden. So wird etwa auch Zuwan- det wurde und innerhalb des neurechten Mi- derer*innen zugestanden, dass sie hierzulande lieus als publizistisches »Mutterschiff« ange- eine neue Heimat finden können, während sehen wird. In ihrer politischen Ausrichtung sich der AfD-Rechtsausleger Björn Höcke »ein wurde sie im Laufe der Jahre weniger radikal, Deutschland« wünscht, »das wieder eine echte ist aber auch weiterhin eine rechte und keine Heimat für Deutsche« ist«27. Desgleichen halten konservative Zeitung, was sich etwa an wohl- Konservative zwar die Idee des Nationalstaats wollenden Texten über die Pegida-Demonstra- hoch, bekennen sich aber zum europäischen tionen oder die »Identitäre Bewegung«, nicht Friedensprojekt und befürworten dementspre- zuletzt durch den Chefredakteur chend die Verankerung Deutschlands in der selbst zeigt28. EU. Zugleich pflegen sie die deutsche Erinne- rungskultur. Das unterscheidet sie fundamen- tal von Rechten, die selbige als »Schuldkult« diffamieren oder Deutschland insoweit einen Das rechte Denken »Selbsthass« unterstellen. Letzteres ist auch basiert neben der unter Christ*innen mit Rechtsdrall verbreitet. »Schuldkult«-­These auf Das rechte Denken ist nicht etwa eine ver- drei ­Säulen: dem Antipluralis- schärfte Form des bundesrepublikanischen mus, dem Antiliberalismus Konservatismus, sondern unterscheidet sich von diesem fundamental. Es basiert neben der und dem Ethnopluralismus. »Schuldkult«-These im Kern auf drei Säulen: dem Antipluralismus, dem Antiliberalismus und dem Ethnopluralismus, die bei der Vor- Die »Junge Freiheit« räumt dem Christentum stellung der genannten Zentralthemen von ausdrücklich eine große Bedeutung für ihre Christ*innen mit Rechtdrall am Ende dieses Ausrichtung ein. So ist selbiges in dem 2011 ver- Texts noch genauer erörtert werden. öffentlichten Leitbild der Zeitung ausdrück- lich aufgeführt und wird wie folgt erläutert: »Die europäische und deutsche Kultur sind mit Die neurechte Publizistik und ihre dem Christentum auch in seiner säkularen Berufung auf das Christentum: Form unauflöslich verwoben. Wir begegnen »Junge Freiheit« religiöser Indifferenz durch einen festen, christ- lichen Standpunkt, der im Jahreslauf wieder- Karlheinz Weißmann steht mit seinem dezi- kehrend einen deutlichen Vorrang erhält.«29 diert christlichen Auftreten gewissermaßen pars pro toto für die »Junge Freiheit«, die 1986

28 jungefreiheit.de/debatte/streiflicht/2019/die-­ geaechteten-aktivisten/ 27 Björn Höcke, Facebook-Posting 29 assets.jungefreiheit.de/2013/08/leitbild-der-jf-2. vom 30. Dezember 2016. jpg 16 LIANE BEDNARZ

den Katholik*innen etwa für die Genderkriti- Die »Junge Freiheit« kerin Birgit Kelle, den Journalisten und Lebens- schützer Martin Lohmann, seinerseits bis 2017 räumt dem Christentum acht Jahre Vorsitzender des »Bundesverbands ausdrücklich eine große Lebensrecht«, Jürgen Liminski, bis zu seiner Pen- sionierung Redakteur des »Deutschlandfunks« Bedeutung für ihre und nach eigenen Angaben Opus Dei-Mitglied, ­Ausrichtung ein. und für den früheren sachsen-anhaltinischen Ministerpräsident Werner Münch.

Dieser Ansatz zeigt sich vor allem in regelmä- Auf protestantischer Seite ist neben Weißmann ßiger Abtreibungskritik und dabei vor allem in neuerdings auch Helmut Matthies immer wie- der jährlichen, ausführlichen Berichterstattung der mit Gastkommentaren vertreten. Matthies zum »Marsch für das Leben« sowie in der pau- war jahrzehntelang bis 2017 Chefredakteur des schalen, ablehnenden Haltung zu Gendertheo- evangelikalen Wochenmagazins »idea spek­ rie. Passend zur Abtreibungskritik der Zeitung trum« und Leiter der evangelikalen Nachrich- enthält auch die »Bibliothek des Konservatis- tenagentur »idea«, deren ehrenamtlichen Vor- mus« einen »Sonderbestand Lebensrecht«, der standsvorsitz er im Februar 2018 übernahm31. nach Angaben der Bibliothek selbst in »Koopera- Dass er nun auch für die »Junge Freiheit« tion mit der Stiftung Ja zum Leben (Meschede)« schreibt, ist keine Überraschung. Denn bereits errichtet wurde30. Diese wurde von den beiden 2009 erhielt er den Gerhard-Löwenthal-Ehren- inzwischen verstorbenen Katholik*innen Jo- preis, der von der bereits erwähnten »Förder- hanna Gräfin von Westphalen und ihrem Sohn stiftung Konservative Bildung und Forschung« Friedrich Wilhelm Graf von Westphalen gegrün- in Kooperation mit der »Jungen Freiheit« und det und ist ihrerseits Mitglied im »Bundesver- Dr. Ingeborg Löwenthal gestiftet wird32. band Lebensrecht e. V.«, der den jährlichen »Marsch für das Leben« organisiert. Schaut man sich diese Verbindungen an, ist es zudem wenig verwunderlich, dass Matthies in Die Betonung des Christentums dürfte ein ent- den Jahren 2014 und 2015 die auch von der scheidender Grund dafür sein, dass die Lektüre »Jungen Freiheit« wohlwollend behandelte der »Jungen Freiheit« in christlichen Kreisen »Pegida«-Bewegung gleich drei Mal in seinen mit Rechtsdrall, die sich selbst für lediglich kon- Editorials in der Zeitschrift »idea spektrum« servativ halten, fast schon zum guten Ton ge- verteidigt hat. Zwar kamen insoweit immer hört. Doch es geht noch weiter: Zahlreiche be - wieder auch kritische Stimmen zu Wort, aber kannte Publizist*innen aus betont glaubens- die eigene Positionierung des Chefredakteurs treuen Milieus beider Konfessionen sind regel- mäßige Autor*innen der Zeitung. Das gilt unter 31 www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/­ menschen/2018/02/02/helmut-matthies-neuer- idea-vorsitzender/ 30 www.bdk-berlin.org/ueber-uns/sonderbestand- 32 www.bdk-berlin.org/stiftung/gerhard-loewent- lebensrecht/ hal-preis/preistraeger/ RECHTE CHRISTENTUMSDISKURSE – EIN ÜBERBLICK 17

wurde so eher noch deutlicher. Das war vor al- Andalusien.35 Im Gespräch mit dem Publizisten lem im November 2015 der Fall, als Matthies die Michael Angele für die Wochenzeitung »Der Pegida-Bewegung zum dritten Mal in Schutz Freitag« bezeichnete sie sich sogar ausdrück- nahm und offenbar ausblendete, wie sehr diese lich als »praktizierende Christin36«. Auch sym- sich mittlerweile längst radikalisiert und mehr- bolisch setzt Kositza auf Christliches. So trug fach den radikal neurechten Götz Kubitschek sie in ihrer Video-Besprechung auf dem You- als Redner zu Gast hatte. Anstatt sich darüber Tube-Kanal »Kanal Schnellroda« des bei Antaios zu empören, ärgerte sich Matthies lieber über erschienenen, hochumstrittenen rechtsradika- den kritischen EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich len Buchs »Finis Germania« des Kulturhistori- ­Bedford-Strohm und schrieb: »Wenn nun der kers Rolf Peter Sieferle eine Kette mit einem EKD-Ratsvorsitzende ›Pegida‹ und die AfD mit silbernen Kreuz37. Und als sie im August 2018 den härtestmöglichen Worten des Rechtsradi- das Buch »Die Benedikt-Option« des US-Ame- kalismus verdächtigt, treibt er die Demokratie- rikaners Rod Dreher zum Thema machte, fiel das verdrossenheit weiter voran.«33 ganze Setting des Videos ins Auge, sah man im Hintergrund auf einer Fensterbank doch wohl angeordnete Ikonen, Weihwassergefäße und Die neurechte Publizistik und ihre einen Rosenkranz38. Berufung auf das Christentum: »Schnellroda« Götz Kubitschek geht noch weiter und gibt in- haltliche Auskünfte über sein eigentümliches Auch im Umfeld von Götz Kubitschek, der auf völkisches Glaubensverständnis. Besonders einem Rittergut in dem sachsen-anhaltinischen deut­lich wurde er in einem Gespräch mit der Dorf Schnellroda ansässig ist, stößt man auf Sendung »Kulturzeit« auf 3Sat. Darin wurden Autor*innen, die ausdrücklich als Christ*innen er und Ellen Kositza explizit als »Kirchgänger« auftreten. Das trifft vor allem auf Götz Kubit- vorgestellt und es wurde ein großes Kruzifix schek selbst und auf seine Ehefrau, die neu- gezeigt, dass im Gutshaus an einer Wand hängt. rechte Publizistin Ellen Kositza, zu. Beide sind Im Gespräch sagte Kubitschek sodann Folgen- Katholik*innen und betonen dies seit einigen des: »Wenn Sie das jetzt von einem gläubigen Jahren auch immer wieder. Christen hören wollen: Das deutsche Volk ist eben ein Entwurf Gottes, und es ist eine be- Der von Kubitschek betriebene Verlag heißt sondere Art, durch die Geschichte zu gehen, mit »Antaios«. Außerdem ist er für die neurechte allen Höhen und Tiefen.« Auch weiß man in- Theoriezeitschrift »Sezession« verantwortlich, zwischen, dass das Christentum für Kubitschek die mit »sezession.de« zudem über einen Online- tatsächlich eine Halt vermittelnde Funktion Auftritt verfügt. Dort schrieb Kositza im Mai 2017 über die »Firmung der mittleren Kinder«34 und 2016 über einen Messbesuch im Urlaub in 35 Ellen Kositza, Das war’s – Diesmal mit Kindern, Küche, Politik, Verlag Antaios, 2017, S. 178 ff. 36 www.freitag.de/autoren/michael-angele/die- 33 www.idea.de/spektrum/detail/die-guten-und- rechte-in-der-richte die-rechten-92703.html 37 www.youtube.com/watch?v=qoROmWiInlw 34 sezession.de/57247 38 www.youtube.com/watch?v=w5jk3oCpoxc 18 LIANE BEDNARZ

hat. So ließ er sich bei einem Auftritt bei der Der Fall Matussek zeigt überdeutlich, wie sehr »Jungen Alternative Brandenburg«, der Ju- sich selbst ein vormals etablierter Journalist gendorganisation der AfD, als Antwort auf die von den katholischen Sirenengesängen der Frage nach dem Halt in seinem Leben wie folgt Neuen Rechten verführen lassen kann. Bei ihm ein: »Mich macht das kräftiger, auf eine Art. geht das so weit, dass er im Juni 2018 sogar (…) Gott wiegt mich nicht auf Erden, er wiegt sein damals neu erschienenes Buch »White mich, wenn ich ankomme«39. Rabbit oder der Abschied vom gesunden Men- schenverstand« in dem damals noch existenten Der Katholizismus spielt augenscheinlich auch »patriotischen Hausprojekt« des Hallenser Ab- für den Österreicher Martin Lichtmesz und da- legers der »Identitären Bewegung« vorstellte.41 mit für einen langjährigen Weggefährten Kubit- scheks eine große Rolle. Das zeigt sich bereits in seinem an den katholische Festtag »Mariä Licht- Apologetik des rechten mess« angelehnten Pseudonym »Lichtmesz«, ­Christentums einem Anagramm aus seinem Geburtsnamen »Semlitsch«. Lichtmesz publizierte 2014 in Ku- Neben der Inanspruchnahme des Christentums bitscheks »Antaios-Verlag« das Buch »Kann nur durch zentrale neurechte Publizist*innen haben ein Gott uns retten?«, das der einst hochange- zwei weniger bekannte Autoren, die gelegent- sehene, inzwischen aber weit nach rechts abge- lich in Götz Kubitscheks »Sezession« Texte pu- driftete, betont katholische Journalist Matthias bliziert hatten, 2018 und 2019 jeweils Sammel- Matussek 2017 in der schweizerischen »Welt- bände herausgegeben, in denen sie ihre welt- woche« hymnisch feierte. Für Matussek stellt lichen Zentralthemen christlich grundieren. Es Lichtmesz die Frage »nach unserer christlichen handelt sich um den katholischen Theologen Kultur mit einem Brennen, das die Diskussions- und Politikwissenschaftler Felix Dirsch und den runden unserer katholischen Akademien ver- evangelischen Theologen Thomas Wawerka. blassen« lasse40. Und fügte Folgendes über das Letzterer ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Werk hinzu: »Im Grunde ist sein Buch ein ein- eigene berufliche Laufbahn infolge des Ab- ziger tief melancholischer Klagegesang über driftens gen rechts Schaden nehmen kann. Verluste, über weggerissene Verankerungen und die öden Triumphe der Moderne. Wer sind Wawerka war bis zum August 2016 als Pfarrer wir, wohin sind wir unterwegs? Lauter Fragen, auf Probe in der Evangelisch-Lutherischen Lan- doch ›kein Besinnlicher fragt sie mehr‹, dichtete deskirche Sachsen tätig. Zu einer Übernahme bereits Gottfried Benn.« Der Text, in dem diese in den regulären Dienst kam es dann aber nicht. Passagen eingebettet waren, stellte vor allem Nach Angaben der »ZEIT im Osten« hat die Kir- eine Art Loblied Matusseks auf die »Identitäre che bestätigt, dass dabei Kommentare Wawer- Bewegung« dar, der Lichtmesz nahesteht, auch kas im Internet zur Flüchtlingspolitik eine Rolle wenn er nie formelles Mitglied war.

39 www.youtube.com/watch?v=KHOYqxOZagg 41 staatspolitik.de/7-staatspolitischer-salon-in-­ 40 www.weltwoche.ch/ausgaben/2017_1/­ halle-saale-am-6-juni-2018-white-rabbit-oder- hintergrund/rechts-na-und-die-weltwoche-­ der-abschied-vom-gesunden-menschenverstand- ausgabe-12017.html mit-matthias-matussek/ RECHTE CHRISTENTUMSDISKURSE – EIN ÜBERBLICK 19

gespielt haben.42 Diese hatte er unter Texten auf auch Volker Münz hätte gebunden sein müssen, »sezession.de« verfasst, deren Autor er später durfte Caroline Sommerfeld, wie erwähnt eine werden sollte. Schlagzeilen machte Wawerka, Vordenkerin dieser Gruppierung, einen Beitrag als er im Talar nach dem islamistischen An- zum Buch »Rechtes Christentum« beisteuern. schlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Der Titel lautet »Gegen Allahu akbar hilft nur Breitscheidplatz im Rahmen einer von der AfD Deus vult««, womit man bei der Kreuzzugsrhe- organisierten Mahnwache eine Andacht hielt. torik angekommen ist. Das Vorwort der drei Das Tragen des Talars wurde von der Evange- Herausgeber von »Rechtes Christentum?« ist, lisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen aus- was Sommerfelds Beitrag angeht, regelrecht drücklich missbilligt43. Zu der Mahnwache hat- enthusiastisch: ten auch die »Identitäre Bewegung« und die neurechte Organisation »einprozent.de« aufge- »Manche betrachten Caroline Sommerfeld als rufen. Präsent war unter anderem auch Götz die prominenteste Theoretikerin der »Identitären Kubitschek. Bewegung«. Ihr Text bietet einen intimen Ein- blick in Selbstverständnis und Wahrnehmung der Die beiden Bücher, die Wawerka gemeinsam noch jungen und derzeit wohl bedeutendsten mit Felix Dirsch im österreichischen »ARES«- politischen Jugendbewegung Europas. Sommer- Verlag, der deutlich rechts der »Jungen Freiheit« feld veranschaulicht, wie ein sich als ›ecclesia steht, herausgegeben hat, heißen »Rechtes Chris- militans‹ aufgefasstes Christentum, historisch im tentum? Der Glaube im Spannungsfeld von ›tausendjährigen Abwehrkampf gegen den Islam‹ nationaler Identität, Populismus und Humani- konkretisiert, zur lebendigen Quelle einer ›gro- tätsgedanken« (2018) und »Nation, Europa, ßen Erzählung‹ und zur metapolitischen Ressour- Christenheit – Der Glaube zwischen Tradition, ce für die Ausbildung einer Haltung, einer Ori- Säkularismus und Populismus« (2019). Aller- entierung und schließlich bestimmter Aktions- dings gibt es jeweils noch einen dritten Heraus- und Protestformen werden kann. Leidenschaft- geber: Volker Münz, den kirchenpolitischen lich wird auf die vorkonziliare katholische Tra- Sprecher der AfD. Der wiederum veröffentlich- dition zurückgegriffen, selbstbewusst wird sie te im Mai 2020 gemeinsam mit Joachim Kuhs, sich angeeignet und mit Verve umgesetzt.« dem Sprecher der »Christen in der AfD« sowie dem AfD-Mitglied Holger Schmidt überdies ein Nicht erwähnt wird hingegen, dass die später Buch mit dem Titel »Mut zur Wahrheit – Warum durch das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD für Christen mehr als eine Alternative als »gesichert rechtsextremistisch« eingestufte ist«. »Identitäre Bewegung« diesem bereits beim Erscheinen des Buchs im Herbst 2018 als Ver- Trotz des Abgrenzungsbeschlusses der AfD ge- dachtsfall für Rechtsextremismus galt, und genüber der »Identitären Bewegung, an den zwar schon seit dem Juni 2016, was öffentlich bekannt war44.

42 www.zeit.de/2016/51/evangelische-kirche-pfarrer- afd-entlassung 44 www.weser-kurier.de/deutschland-welt/deutsch- 43 www.evangelisch.de/inhalte/140990/23-12-2016/ land-welt-politik_artikel,-verfassungsschutz-­ kirche-kritisiert-missbrauch-von-talar-auf-afd-­ erklaert-identitaere-bewegung-zum-beobach- demo tungsobjekt-_arid,1844046.html#nfy-reload 20 LIANE BEDNARZ

Zentrale rechtschristliche Diskurse Der Antiliberalismus des rechtschristlichen Milieus deckt sich ebenfalls mit jenem von sä- Die für Christ*innen mit Rechtsdrall zentralen kularen Neuen Rechten. Man verachtet die Diskurse lassen sich gut der ideenweltlichen Moderne als »dekadent« und empfindet diese rechten Trias aus Antipluralismus, Antilibera- als gegen die »natürliche Schöpfungsordnung« lismus und Ethnopluralismus zuordnen. gerichtet. Das äußert sich vor allem in einem in Dauerschleife erfolgenden Jammern über den Der Antipluralismus ist ein Kernelement rech- »Zeitgeist«. Der darin liegende Kulturpessimis- ter, vor allem auch rechtspopulistischer Denk- mus ist gewissermaßen die DNA des rechts- weisen. Der Politologe Jan-Werner Müller hat das in seinem 2016 publizierten Essay »Was ist Populismus?« treffend umrissen, indem er in Der Antiliberalismus diesen Milieus eine »moralischen Alleinvertre- tungsanspruch« erkennt. Und zwar in der dort des rechtschristlichen vorherrschenden Haltung, dass nur man selbst Milieus deckt sich mit »das wahre Volk« repräsentiere45. Diese Attitüde stößt unter jenen Christ*innen auf fruchtba- jenem von säkularen ren Boden, die dazu neigen, die eigenen christ- ­Neuen Rechten. lichen Vorstellungen dergestalt auf die Politik zu übertragen, dass sie damit den rein religiösen Wahrheitsanspruch der Bibel bzw. des Chris- christlichen Milieus. Statt sich im besten christ- tentums in die Sphäre der Politik übertragen. lichen Sinne als »Salz der Erde« zu begreifen, Das führt zwangsläufig zu einer politreligiösen jammert und wehklagt man lieber und bedient Haltung. Man akzeptiert nur das, was man, sich einer ausgeprägten Verfallsrhetorik. Dazu etwa in puncto »Ehe für Alle« oder Migrations- gesellt sich nicht selten ein politreligiöses Ele- politik, selbst für richtig erachtet und trifft sich ment, was insofern kurios anmutet, als man so mit Rechten, die glauben, die einzig »wahre beiden Großkirchen und dabei vor allem der Stimme des Volkes« zu sein. EKD gerne eine Politisierung vorwirft.

Damit einher geht eine Verächtlichmachung Der dezidiert politreligiöse Ansatz zeigt sich Andersdenkender. Ganz ähnlich den Rechten ganz besonders bei Gabriele Kuby, einem Star sind deshalb auch unter Christ*innen mit Rechts- der rechtskatholischen Szene. Sie ist eine zum drall Begriffe wie »Lügenpresse«, »Lückenpres- Katholizismus konvertierte Autorin, die glei- se«, »Mainstreammedien« oder »Altparteien« chermaßen unter Evangelikalen mit Rechts- en vogue. Für sich selbst reklamiert man Mei- drall beliebt ist. Im Jahre 2017 veröffentlichte nungsfreiheit, diffamiert aber schamlos An- sie ein Buch, das den politischen Kampf sogar dersdenkende. im Titel trägt. »Christliche Prinzipien des poli- tischen Kampfes« lautet er. Kuby postuliert darin eine »Dringlichkeit« für Christ*innen, »die Gesellschaft neu- und mitzugestalten«, da »of- 45 Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? fensichtlich« sei, »dass sie zusehends kulturell, Ein Essay, Berlin 2016, S. 19. RECHTE CHRISTENTUMSDISKURSE – EIN ÜBERBLICK 21

46 sozial, rechtlich und geistlich verfällt« . Zu- Andreas Laun, bis zu dem schreibt sie, dass sich die Demokratie »vor unseren Augen und unter unseren Händen […] seiner Pensionierung in eine neue Tyrannei [verwandelt], in welcher ­Weihbischof in Salzburg, die politische Klasse die Massen manipuliert und das von ihr definierte politisch Korrekte stellte »Gender« auf eine mit sozialen Sanktionen und zunehmender Stufe mit dem Holocaust Kriminalisierung abweichenden Verhaltens erzwingt« 47. und dem Gulag.

Kuby zählt auch zu jenen christlichen Autor*in- auch er ein Star der Szene, und bis zu seiner nen, die seit Jahren vor einer angeblichen »Ho- Pensionierung Weihbischof in Salzburg, 2017 mosexualisierung« von Schulkindern warnen, völlig hemmungslos in einem Hirtenbrief Fol- einem ebenfalls unter rechten Christ*innen gendes und stellte damit »Gender« auf eine beliebten Phantasma, mit dem sie den Sexual- Stufe mit dem Holocaust und dem Gulag: kundeunterricht diskreditieren48. »In unserer Zeit hat es bereits zwei besonders Das Thema der »Homosexualisierung« wiede- teuflische Auseinandersetzungen zwischen Gott rum ist unter rechten Christ*innen ein Teilas- und Seinem und unserem Feind gegeben, den pekt all dessen, was sie als »Genderideologie« Nationalsozialismus und den Kommunismus, die oder »Genderwahn« ausmachen. Dabei handelt unendlich viel Leid über die Menschen brach- es sich um ein groteskes Aufbauschen. Tatsäch- ten. Beide gründeten in gewaltigen Lügen über lich ist das Thema differenziert zu sehen. Grob Gott und die Menschen. Man hätte es bis vor gesagt geht es beim »Gendermainstreaming« einigen Jahren nicht geglaubt, aber heute ist wie- um den Abbau der Diskriminierung zu Lasten der eine grauenhafte Lüge groß und mächtig von Frauen, bei der »Gender-Diversity« um sel- geworden. Sie nennt sich Gender, sie greift die bigen zu Lasten von nicht-heterosexuellen Men- Menschen in ihrer Intimsphäre an.«49 schen. Gewiss kann man insoweit differen- zierte Debatten führen, etwa zu Frauenquoten, Wer den Begriff »Ethnopluralismus«, der die zur Art und Weise des Sexualkundeunterrichts dritte Säule des rechten Denkens verkörpert, in Schulen oder zur Gendersprache. Daran zum ersten Mal vernimmt, könnte meinen, aber hat das rechtschristliche Milieu kein In- dabei handele es sich um »Diversity«-Vorstel- teresse. Es diffamiert einfach alles, was in diese lungen. Tatsächlich geht es um das glatte Ge- Richtung geht, als »Genderideologie«. Und ist genteil. Im Unterschied zum nationalsozialis- dabei hemmungslos. So schrieb Andreas Laun, tischen Konzept der Herrenrasse ersetzt der »Ethnopluralismus« das Konzept der »Rasse« semantisch durch »Kultur« und spricht sich 46 Gabriele Kuby, Christliche Prinzipien des politischen dafür aus, dass sich Kulturen möglichst nicht Kampfes, fe-Medienverlag 2017, S. 22 f. 47 Ebenda, S. 9. 48 jungefreiheit.de/sonderthema/2007/auf-dem- weg-zum-neuen-menschen 49 www.kath.net/news/58970 22 LIANE BEDNARZ

untereinander vermischen. Daraus folgen Pos- Aus dem Ressentiment dem Islam gegenüber tulate wie die »Verteidigung des Eigenen«. Im dürfte sich auch erklären, warum die im Herbst rechtschristlichen Diskurs führt dies vor allem 2014 gegründete Pegida-Bewegung, deren Ak- zu einer Ablehnung des Islams, der wahlweise ronym für »Patriotische Europäer gegen die als »kulturfremd« oder »politische Ideologie« Islamisierung des Abendlands« steht, von An- diffamiert wird. Demgemäß sprechen Oliver fang an bei vielen strenggläubigen Christ*innen Hidalgo, Philipp W. Hildmann und Alexander Sympathien und teilweise sogar Verteidigungs- Yendell in ihrer eingangs erwähnten Studie zu- reflexe hervorrief. Vor allem deren Kampfbe- treffend davon, dass es stets darum gehe, »das griff der angeblich drohenden »Islamisierung« ›Abendland« gegen ›Fremdgläubige‹ zu vertei- war schon Jahre zuvor Thema in ultrakonser- digen und eine ausgrenzende, religiös-nationa- vativen christlichen Milieus. Vor diesem Hin- tergrund ist auch die oben beschriebene Ver- teidigung der Pegida-Bewegung durch Helmut Der Islam Matthies nicht weiter verwunderlich. wird als ­»kulturfremd« Matthias Matussek wiederum echauffierte sich oder als »politische über die »Verurteilung der Pegida-Demonstra- ­Ideologie« diffamiert. tionen« durch Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache zum Jahr 2015 und nannte diese »überraschend undemokratisch«. listische Identität zu schaffen«. Statt zwischen Im gleichen Atemzug attestierte er den Pegida- einem zu bekämpfenden Islamismus und dem Kritiker*innen in »Politik und Presse« die »Ge- Islam als solchem zu unterscheiden, wird der sinnung von HJ-Pöbel«50. Der ebenfalls gen Islam oftmals pauschal als »kulturfremd« abge- rechts gedriftete katholische Pater Wolfgang lehnt. Christ*innen mit Rechtsdrall lehnen den Ockenfels beklagte auf dem Portal »kath.net« Islam oftmals rundherum als gewissermaßen eine »mediale Großoffensive gegen die Protest- falsche Religion ab und zeigen demgemäß kein bewegung Pegida.51 Interesse an einem Dialog mit Muslim*innen oder verwechseln diesen gar mit Synkretismus. Als Fazit bleibt damit festzuhalten, dass es eine Nicht selten wird dem Islam sogar die Religions- Fülle von Beispielen dafür gibt, wie gezielt die eigenschaft abgesprochen und behauptet, er sei Neue Rechte es in den letzten Jahren unter- stattdessen eine »politische Ideologie«. nommen und auch geschafft hat, ihre Ideen- welten auch in einem Teil des christlichen Bürgertums zu verankern.

50 meedia.de/2014/12/30/hj-poebeln-matthias-­ matussek-vergleicht-pegida-kritiker-mit- der-­ hitler-jugend/ 51 www.kath.net/news/49362 2 24

Johann Hinrich Claussen Retro-Utopie: ­Völkischer ­Protestantismus Über die Theologie von Karlheinz Weißmann

Die Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten ist auch eine theologische Herausforderung, die es ernst zu nehmen gilt. Am Beispiel von Karlheinz Weißmann, einem wichtigen ideen - politischen Stichwortgeber der AfD und ehemaligen evangeli - schen Religionslehrer, soll dies hier versucht werden.

1. Biographische Annäherung: Beispiel, dass manche in der Neuen Rechten Konservatives Luthertum und auch ein religiöses Anliegen verfolgen. Zugleich »Kultur der Niederlage« kann ein theologischer Zugang den kirchlichen Bemühungen, sich zum Rechtspopulismus zu Es lohnt sich, die Neue Rechte als intellektuelles, verhalten, die nötige Orientierung verschaffen. metapolitisches Brückenmilieu zwischen Kon- Dabei kann es allerdings zu Irritationen kom- servatismus und Rechtsextremismus auch theo- men. Denn in der evangelischen Kirche wird zu logisch zu betrachten. Dabei können wesent- wenig wahrgenommen, dass Rechtspopulist*in- liche Aspekte deutlich werden, die von der Poli- nen nicht einfach »die anderen« sind, sondern tikwissenschaft eher übersehen werden – zum sehr wohl zu »den eigenen Leuten« gehören bzw. gehört haben oder auf diese Einfluss nehmen.

Exemplarisch kann man dies am besten an Prof. Dr. Johann Hinrich Claussen, Kultur­ Karlheinz Weißmann vorführen. Er gilt seit Jahr- beauftragter des Rates der Evangelischen zehnten als einer der wichtigsten Ideengeber*in- Kirche in Deutschland. Geboren in Hamburg. Studium der Evangelischen Theologie in nen, Netzwerker*innen und publizistischen Ak­ Tübingen, London und Hamburg. Zahlreiche teur*innen der Neuen Rechten. Zugleich hat er Veröffentlichungen in Tageszeitungen sowie neben Geschichte auch evangelische Theologie von Sachbüchern. Zum Beispiel »Das Buch studiert und sein Berufsleben lang Religions- der Flucht. Die Bibel in vierzig Stationen« unterricht an einem Gymnasium, dem Corvi- (2018) oder zuletzt »Die seltsamsten Orte der Religionen« (2020). nianum in Northeim (Niedersachsen), gegeben. Inzwischen ist er vorzeitig pensioniert worden, RETRO-UTOPIE: ­VÖLKISCHER ­PROTESTANTISMUS 25

aber als Publizist und stellvertretender Kura- der Niederlage«2. Die Erfahrung einer epocha- toriumsvorsitzender der AfD-nahen Desiderius len und als Trauma erlebten Niederlage wird Erasmus-Stiftung weiterhin sehr aktiv. darin mit ideologischen und also auch theolo- gischen Gegenstrategien bearbeitet: Relativie- Es ist nicht leicht, Weißmann kirchlich einzu- rung eigener Verantwortung und Schuld, Um- ordnen. Seine Familie scheint religiös eher in- kehr von Täter- und Opferrollen, Ressentiments different eingestellt gewesen zu sein. Er aber gegen die Siegermächte, eine moralisierende muss als Jugendlicher aus eigenem Antrieb und zwar einseitig negative Geschichtsbetrach- regelmäßig am Gottesdienst teilgenommen, tung und Gegenwartsdeutung. Parallel dazu die Bibel und die Theologie Luthers studiert steht die Erfindung einer Retro-Utopie, die An- haben. Wichtig waren zudem Erfahrungen in maßung einer geheimen, geistigen Überle- der Jugendbewegung1, dann aber vor allem in der Deutschen Gildenschaft in seiner Göttinger Studienzeit. Hier ist er einem völkischen Kon- »Kulturen der servatismus begegnet und konnte folgenreiche Niederlagen« können Freundschaften schließen: mit Götz Kubitschek, seinem ehemals wichtigsten Mitstreiter und ­überaus erfolgreich sein, heutigen Antipoden, oder mit Dieter Stein, dem leisten sie doch Erhebliches Chefredakteur der »Jungen Freiheit«. Unklar ist, ob dabei bestimmte Einstellungen zum Chris- zur Stabilisierung des tentum eingeübt wurden. Heute beschreibt er verletzten Selbst. sein theologisch-konfessionelles Profil wie folgt: Er sei ein überzeugter, konservativer Lutheraner mit einer ausgeprägten Vorliebe für traditionelle, genheit, ein übersteigertes und zugleich tief »hochkirchliche« Gottesdienstgestaltung, der verletztes Elitenbewusstsein, das von der radi- in der heutigen evangelischen Kirche keine kalen Entwertung der »anderen« lebt, was sich Heimat mehr habe; vielmehr orientiere er sich in gewaltträchtigen Fantasien einer politi- an Theologen der Zwischenkriegszeit, die luthe- schen Umwälzung ausleben kann, manchmal rische Rechtgläubigkeit mit dem Engagement bis hin zum Terror. »Kulturen der Niederlagen« für eine liturgische Erneuerung verbunden können überaus erfolgreich sein, leisten sie hatten. doch Erhebliches zur Stabilisierung des ver- letzten Selbst. Aber sie sind mit hohen Kosten Aufschlussreicher als solche biographischen verbunden, denn sie verhindern eine realisti- Details ist eine Deutungsperspektive, die Wolf- sche Sicht der eigenen Situation und die nüch- gang Schivelbusch entworfen hat: die »Kultur terne Erarbeitung konstruktiver Lösungen für konkrete Probleme, von einer Versöhnung mit äußeren und inneren Feinden ganz abgesehen. 1 Vgl. Christian Vollrad: Das Denken mit dem Handeln verbinden. Karlheinz Weißmann wird sechzig, in: Junge Freiheit am 13. Januar 2019. 2 Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. https://jungefreiheit.de/kultur/2019/das-denken- Der amerikanische Süden 1865 – Frankreich 1871 – mit-dem-handeln-verbinden/ Deutschland 1918, Frankfurt 2007 (2. Auflage). 26 JOHANN HINRICH CLAUSSEN

Eine solche »Kultur der Niederlage« ist bestim- schen Publizistik, aber auch in bürgerlichen mend für Weißmanns historiographische und Parteien hatten damals konservative oder auch theologische Arbeit, sie hat bei ihm aber auch revisionistische Kräfte noch großen Einfluss. eine persönliche Seite. Denn eine publizistische Deren Entmachtung vollzog sich schrittweise Niederlage hat sein Leben geprägt: das Fiasko als von den 60er zu den 80er Jahren. Es wäre ver- Historiograf der NS-Diktatur. Der zuständige kürzt, dafür »1968« verantwortlich zu machen, Lektor der damals renommierten Reihe »Propy- wie Weißmann und rechte Empörungspubli­ läen Geschichte Deutschlands« hatte ihm auf zis­t*innen es um des polemischen Effekts tun. intransparente Weise die Chance gegeben, die- Es müssen neben der antiautoritären Revolte im sen entscheidenden Band zu schreiben. Die Ver- engeren Sinn auch andere Impulse genannt öffentlichung von »Der Weg in den Abgrund« werden. Diese waren nur zum Teil miteinander (1995) wurde zum Skandal. Die Herausgeber verknüpft, doch zusammengenommen sorgten distanzierten sich, die Fachwelt kritisierte das sie für eine starke Zurückdrängung einer kom- Buch als revisionistisch. Der Verlag zog es zu- promittierten protestantischen Rechten und die rück. Für Weißmann folgte der Ausschluss aus Integration des deutschen Protestantismus in dem Diskurs der akademischen Geschichtswis- die neue demokratische Wirklichkeit. Zu nennen senschaft und der anerkannten Publizistik, wären: schließlich die heikle Berufstätigkeit als poli- tisch unter Verdacht stehender Lehrer. Dabei er-  die Mitarbeit an der Integration von scheint Weißmann von seinem Habitus her wie 14 Millionen Flüchtlingen/Vertriebenen ein gebildeter, disziplinierter, höflicher Bürger und das Ende geschlossen-konfessioneller und hat doch einen Großteil seines Lebens im Regionen Keller einer rechten Gegenkultur zugebracht –  die historisch-kritische Bibelexegese wie ein Paria, ein Mensch ohne gesellschaftliche  die kirchliche Zeitgeschichte zu NS-Diktatur Anerkennung. und Kirchenkampf  die Generalrevision der theologischen ­Bestände angesichts der Shoa 2. Kirchengeschichtliche Einord-  die Unterstützung der Ostverträge durch nung: Der »große Kurswechsel« die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Um Weißmanns theologische »Kultur der Nie-  die Wiederentdeckung der liberalen derlage« in den Blick zu nehmen, ist eine kir- ­T h e o l o g i e chengeschichtliche Erinnerung notwendig.  die theologische Rezeption des Prinzips der Denn vergleicht man den deutschen Protestan- Menschenwürde und die Anerkennung tismus von heute mit dem von 1959 – Weiß- der Demokratie durch die EKD manns Geburtsjahr –, wird man sagen müssen,  die Frauenordination und die kirchliche dass das konservative Luthertum tatsächlich Frauenbewegung zu den Verlierern der neueren Kirchengeschich-  der Abschied vom Paradigma des te gehört. In kirchlichen Leitungsämtern und ­Autoritären in der kirchlichen Praxis auf theologischen Lehrstühlen, in evangeli- und in der Diakonie schen Bildungseinrichtungen, der protestanti- RETRO-UTOPIE: ­VÖLKISCHER ­PROTESTANTISMUS 27

 der Protest gegen die Apartheid und ihre in dauernder Abwehr gegen immer neue Mo- deutschen Unterstützer sowie der christ­ dernisierungswellen sieht. Dabei müssen »die liche Antikolonialismus anderen« und »die da oben« vollständig ent-  die kirchliche Umwelt- und Friedens­ wertet werden, weil sich nur so das eigene Selbst- bewegung bild aufrechterhalten lässt. Ressentiment und  die kirchliche Anerkennung homosexueller Gegenwartshass werden so zum Signum derer, Lebensgemeinschaften die sich konservativ nennen, aber immer weni- ger besitzen und beherrschen, was sie bewahren Mit diesem in der Tat »großen Kurswechsel«3 könnten. In dieses Milieu theologischer Moder- versuchte die Mehrheit des deutschen Protes- nisierungsverlierer muss Weißmann eingezeich- tantismus, Konsequenzen aus der Kriegsnieder- net werden – aber nicht als »Neuer Rechter«, lage und den Verbrechen der NS-Diktatur zu denn was er theologisch vorträgt, ist alt. Es wie- ziehen und in ein konstruktives Verhältnis zur derholt Auffassungen, die um 1959 – seinem demokratischen Moderne einzutreten. Damit Geburtsjahr – im deutschen Protestantismus vollzog sie keineswegs eine eilfertige Anpas- als Teil eines legitimen Meinungsspektrums sung an einen neuen »Zeitgeist«, denn jeder galten. dieser Richtungswechsel war das Ergebnis in- tensiver theologischer Arbeiten, langjähriger Bedenkt man jedoch, dass der demokratische kirchlicher Debatten, gemeinsam verantworte- Protestantismus inzwischen selbst erheblich an ter Kulturveränderungen, oft auch schmerzli- Bedeutung verloren hat und zu den Verlierern cher existentieller Auseinandersetzungen und der nächsten Modernisierungswellen zu wer- notwendiger konfliktiver Klärungen. den droht, fragt sich, ob jemand wie Weißmann, der sich bisher auf der Verliererseite sah, sich Doch eine Minderheit verweigerte sich dem zukünftig als Gewinner verstehen könnte. Des- »großen Kurswechsel«, blieb ihrer »Religion der halb ist es dringlich, seine theologischen Motive ›Lost Cause‹«4 treu und vollzog eine »spirituelle zu verstehen. Sezession«5. Dabei unterlief diese ehemalige mächtige Strömung im deutschen Protestantis- mus einen Prozess der Versektung. Sie organi- 3. Politische Theologie: sierte sich in vielfältigen Kleingruppen und Sehnsucht nach Autorität und schuf parallele Strukturen, die am Rand des Kulturpessimismus Mehrheitsprotestantismus eine geschlossene und aktive theologische »Kultur der Niederlage« Versucht man, sich einen Überblick über die entstehen ließen. Eine apokalyptische Grund- erstaunlich vielen Publikationen von Weiß- stimmung kennzeichnet dieses Milieu, das sich mann zu verschaffen, fällt bald zweierlei auf: 1. So viel er auch schreibt, so treu ist er sich doch über die Jahre in allen wesentlichen Punk- 3 Karlheinz Weißmann: Deutschtum und ten geblieben. Eine genauere werkgenetische ­Christentum, in: Sezession 44, Oktober 2011. Interpretation ist deshalb nicht nötig, es genügt 4 Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage, die wichtigsten, und immer gleichen, Aspekte S. 85f. zu erheben; 2. Zu genuin theologischen Themen 5 Ebd., S. 109. 28 JOHANN HINRICH CLAUSSEN

hat Weißmann sich vergleichsweise selten ge- stört haben. Zu ihr gehört auch der demokrati- äußert und dann vornehmlich in kurzen mei- sche Protestantismus. Aus diesem Grund ist nungsjournalistischen Texten, nicht in einer Weißmann übrigens nicht antimuslimisch, eigenständigen Monografie oder in längeren Er- denn sein wichtigstes Feindbild ist weniger örterungen. Er ist eben primär ein publizisti- der andersgläubige »Fremde« als der liberal- scher Ideenpolitiker. Das Theologische ist bei dekadente Mitbürger. ihm stets Teil seines übergreifenden Interesses an einer Renaissance des »Rechten«. Alle Elemente dieser Ideenpolitik hat schon Fritz Stern in seiner klassischen Studie »Kulturpessi- Dazu als erste Annäherung: »Rechts« ist für ihn mismus als politische Gefahr« (zuerst 1961) die Orientierung am »Reich«, am national Gan- analysiert.7 Weißmann bezieht sich ja ausdrück­ zen, Eigenen und seiner Ordnung, verstanden lich auf das dort untersuchte Ideenkonglomerat als organische Einheit, die zusammengehalten eines völkischen Antiliberalismus und dessen wird von Autorität und Hierarchie6. Zentral für Autoren: Paul Bötticher (»de Lagarde«), Julius dieses Ganze ist eine starke nationale Identität, Langbehn, Arthur Moeller-Bruck (»van den zu der auch eine evangelische Nationalkirche Bruck«). Stern versteht unter »Kulturpessimis- vor »1968« gehört. Das Theologisch-Kirchliche mus« eine modern-antimoderne Ideenpolitik, kommt also bei ihm nicht als eigenständige die zum Gegenangriff auf »den Liberalismus« Größe vor, sondern als Teil einer am starken ansetzt. In ihr artikuliert sich ein umfassendes Unbehagen an der Moderne: den Prinzipien der Aufklärung, der Idee universeller Menschen- Weißmanns rechte, dem freiheitlichen Verfassungsstaat, der repräsentativen Demokratie, der freien Markt- Haupt­gegner ist der wirtschaft, der offenen Gesellschaft, dem plu- ­»Liberalismus« ralisierten Kulturleben und der liberalisierten Religionskultur. Diesen allumfassenden Nieder- ­beziehungsweise gang beschreiben die Kulturpessimisten mit die »Dekadenz«. krisendiagnostischer Sensibilität und attackie- ren ihn mit massiver Polemik. Rätselhafter ist das, was sie ihm entgegensetzen wollen: die Staat orientierten Strategie. Es ist funktional vage Sehnsucht nach einer neuen Ordnung und untergeordnet. Weißmanns Hauptgegner ist Einheit, einer nationalistischen Glaubensge- der »Liberalismus« beziehungsweise die »De- meinschaft der Zukunft. kadenz«. Sie sind für ihn die alles bestimmende politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, Zwischen Weißmann und seinen Vorbildern kulturelle und religiöse Wirklichkeit, die die liegen nicht nur weitere Modernisierungswel- gute alte Ordnung der deutschen Nation zer- len, sondern auch die Epochenscheide der NS-

7 Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische ­Gefahr. 6 Vgl. Karlheinz Weißmann: Die preußische Dimen- Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, sion. Ein Essay, München 2001, bes. S. 97–178. Neuausgabe von 2005, Stuttgart 2018 (3. Auflage). RETRO-UTOPIE: ­VÖLKISCHER ­PROTESTANTISMUS 29

Diktatur. Auf sie liefen die von ihm verehrten tungsperspektiven von Stern auf Weißmann Ideologeme vielfach zu, in ihr ging manches anwenden, empfiehlt es sich, die theologischen von ihnen zugrunde. Es war Armin Mohler als Texte dieses verspäteten Kulturpessimisten da- Kulturpessimist der zweiten Generation, der raufhin zu untersuchen, welches Gewicht in diese ideologischen Impulse in die Bundesre- ihnen jeweils das Kritische und das Konstruk- publik zu retten versuchte. Dazu erfand er die tive besitzen. Tradition der »Konservativen Revolution«, die von der Niederlage und den Verbrechen der NS- Diktatur unberührt geblieben sein soll.8 Als 4. Deutsches Christentum: Die Mohlers treuester Schüler sieht sich Weißmann Emanuel Hirsch-Rezeption vor die Aufgabe gestellt, seine Ideen nicht nur gegenüber einer noch viel liberaleren Gesell- Weißmann hat als seinen wichtigsten theolo- schaft zu behaupten. Er muss zudem von dem gischen Gewährsmann Emanuel Hirsch ge- absehen oder von dem ablenken, was es in- nannt. 9 Das ist eine interessante Wahl. Hirsch zwischen als Realisierungsversuch der kultur- (1888 bis 1972) war für die evangelischen pessimistischen Sehnsüchte gegeben hat: die Theologie das, was Martin Heidegger für die NS-Diktatur. Weißmanns Kulturpessimismus Philosophie oder Carl Schmitt für das Staats- hat also die Geschichte seines Scheiterns schon recht gewesen ist: ein bedeutender Gelehrter hinter sich. Das ist der tiefere Grund, weshalb und faszinierender Denker, der persönlich als er Vorstellungen nur negativ, also bloß kultur- abgründig erscheint und politisch als hoch- pessimistisch formulieren kann. gradig kompromittiert gilt. Er hat grundlegende Arbeiten zur Bibelauslegung, zu Luthers Theo- Das zeigt sich auch in seinen theologischen logie und zur Philosophie des deutschen Idealis- Äußerungen. Jede anspruchsvolle Theologie ver- mus vorgelegt. Von ihm stammt eines der im- bindet ja Kritik und Konstruktion. Schon Fritz mer noch besten Werke deutscher Geistesge- Stern aber hatte gezeigt, dass den Kulturpessi- schichtsschreibung: die fünfbändige »Geschich- misten die Balance aus Kritik und Konstruktion te der neuern evangelischen Theologie«. Darin nicht gelingt. Ihre Krisenwahrnehmung hat lotet er die »Umformungskrise« aus, in die der gewisse plausible Momente, aber ihre Ziele sind Protestantismus seit dem 18. Jahrhundert ge- illusorisch: retrospektiv als Wiederbelebung raten ist. Diese Krise konstruktiv zu bewältigen, einer untergegangenen Orthodoxie oder pro­ ist das Leitmotiv seiner dogmatischen Publi- spektiv als Erfindung einer Religion der Zu- kationen, aber auch seiner praktisch-theologi- kunft. Sie können das, was sie wollen, deshalb schen Schriften, zum Beispiel seiner »Prediger- nur negativ vorstellen: als Gegenteil der gehass- fibel«. Zugleich war Hirsch für den National­ ten »Dekadenz«. Deshalb hat die Kultur- und sozialismus ideenpolitisch hochaktiv. Deshalb eben auch die Kirchenkritik bei ihnen eine so verlor er nach dem Untergang der Diktatur seine bedeutende Funktion. Sie muss eine zentrale Professur in Göttingen. Aus dem Abseits aber Leerstelle kaschieren. Will man also die Deu-

9 Karlheinz Weißmann: Deutschtum und 8 Hierzu Volker Weiß: Die autoritäre Revolte, S. 44ff. ­Christentum, in: Sezession 44, Oktober 2011. 30 JOHANN HINRICH CLAUSSEN

wirkte er weiter – publizistisch und durch eine und ist im Januar 2006 in der »Jungen Freiheit« klandestine Lehrtätigkeit im eigenen Haus. In- erschienen.10 Er beginnt mit einer Kritik der zwischen sind seine Gedanken in der evange - Redeweise von der »jüdisch-christlichen Tradi- lischen Theologie intensiv erforscht und disku- tion«. Zum einen sieht Weißmann darin eine tiert worden. illegitime Aufgabe des christlichen Absolut- heitsanspruchs. Zum anderen erkennt er da- Auch wenn Weißmann ihn selbst nicht mehr hinter »eine Generalrevision der historischen erlebt hat, wird er Hirschs Schriften in seiner Entwicklung…, die zur Scheidung von Juden- Göttinger Studienzeit wie selbstverständlich tum und Christentum führte.«11 Dabei aber begegnet sein. Mit sicherem Gespür für das, werde die Bedeutung des Heidentums für das was ideenpolitisch zu ihm passt, schließt Weiß- Christentum ausgeblendet. Nach der endgülti- mann positiv an Hirschs »Deutsches Christen- gen Trennung vom Judentum sei viel heidni- tum« an, dessen politische Theologie, die die sche Volksreligion ins Christentum eingezo- Krise des modernen Protestantismus dadurch gen und habe sich mit ihm innerlich verbunden. zu überwinden versuchte, dass sie ihn zu einem Deshalb plädiert Weißmann dafür, in Zukunft Teil einer radikal nationalistischen, antidemo- weniger das Jüdische als das Heidnische als kratischen und antisemitischen Diktatur um- Wesensbestandteil des Christentums zu un- formen wollte. Hieran schließt Weißmann an, tersuchen – vor dem Hintergrund seines Deut- ohne einen Hinweis auf das inhaltlich begrün- schen Christentums kann das nur heißen: die dete Scheitern oder gar die Schuld Hirschs zu »germanisch-christliche Tradition«. Das Chris- geben. Im Gegenteil, er zeigt sich beeindruckt, dass Hirsch nach 1945 nichts bereut hat. Doch worin besteht das Deutsche, das mit dem Christlichen verbunden werden soll, und wie Weißmann plädiert kann diese völkisch-protestantische Synthese dafür, weniger das gelingen? Jüdische als das An dieser Stelle ist die Frage nach einem mög- ­Heidnische als Wesens- lichen Antisemitismus bei Weißmann zu stel- bestandteil des Christen- len. Denn das völkische Christentum, an das er anschließen möchte, war von Beginn an nicht tums zu untersuchen nur positiv auf die eigene Nation bezogen, son- dern zugleich negativ auf ein Anderes, Fremdes, Feindliches fokussiert. Dieses war je nachdem tentum verdanke seinen Aufstieg zur Weltreli- das Französische, Katholische, Angelsächsi- gion der endgültigen Trennung vom Judentum sche, Slawische – vor allem aber das Jüdische, und der langen und vielfältigen Aufnahme welches ausgeschieden werden müsse, um ein von Heidnischem: »Diesen Prozeß rückgängig deutsches Christentum möglich zu machen. Dies zeigt sich in einem Artikel Weißmanns, der etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hat. Er heißt »Christentum, Judentum, Heidentum« 10 www.jf-archiv.de/archiv06/200602010661.htm 11 Ebd. RETRO-UTOPIE: ­VÖLKISCHER ­PROTESTANTISMUS 31

machen zu wollen, ist ein ebenso lächerliches ›Sachzwängen‹ und einem Erwartungsdruck, wie sinnloses Unterfangen, und wenn es wider der durch die antisemitische Rassenideologie Erwarten Erfolg hätte, würde es nur zerstören, immer neu aufgebaut und verstärkt wurde.«14 was die christliche Identität verbürgt. Das Zudem folgt Weißmann durchgehend der NS- Christentum als Christentum ist keine Variante Phraseologie. Er verzichtet darauf, einen eigenen des Judentums. Die Trennung beider lag im sprachlichen – und damit gedanklichen – Stand- Plan Gottes oder wenigstens in der Logik der punkt einzunehmen. Dazu passt, dass das ent- ge­schichtlichen Entwicklung.«12 Weißmanns scheidende Kapitel über die Ermordung des Christentum ist deutsch-heidnisch und nicht- europäischen Judentums – natürlich mit »Die jüdisch. Allerdings argumentiert er vorsichtig Endlösung« überschrieben – ausschließlich Zi- und umständlich, hält sich mit judenfeindli- chen Aussagen zurück. Er will das Programm eines völkischen, vom Jüdischen getrennten Weißmann verfolgt Christentums wiederbeleben, traut sich aber die Strategie der Neuen nicht die Explizitheit zu, mit der nationalsozia- listische »Entjudungstheologen« es getan haben. ­Rechten: Nationalsozialis­ Weißmann weiß sich dem »Zeitgeist« einer ent- tische ­Verbrechen werden nazifizierten Bundesrepublik anzupassen, in der ausdrücklicher Antijudaismus geächtet ist. nicht geleugnet, aber sie werden als Thema vermieden Auffällig ist schließlich, dass Weißmann die Gewaltträchtigkeit dieser Art von Theologie und – wenn dies nicht möglich nicht diskutiert. Er verfolgt eine Strategie, die ist – ­relativierend miterwähnt. schon Armin Mohler angewandt hatte und die für die Neue Rechte leitend ist: Nationalsozia- listische Verbrechen werden nicht geleugnet, tate von Tätern präsentiert15. Die Opfer werden aber sie werden als Thema vermieden und – ausgeblendet. So ist es mehr als eine infame wenn dies nicht möglich ist – relativierend Geschmacklosigkeit, wenn Weißmann dieses miterwähnt.13 Dazu lohnt ein Blick in seine entscheidende Kapitel mit einem langen, un- notorisch gewordene Geschichte der NS-Dikta- kommentierten Zitat aus Heinrich Himmlers tur. Darin wird die Shoa durchgängig herun- berüchtigter Posener Rede vor SS-Führern am tergespielt. Der Rassenhass sei eine fixe Idee 4. Oktober 1943 beschließt: Darin pries dieser Hitlers und ein wirkungsvolles Propaganda- bekanntlich die Leistung der SS-Männer in Instrument gewesen, zum Massenmord sei es ihrem mörderischen Tun »anständig geblieben eher ungeplant, als Folge kriegsbedingter Es- zu sein«.16 Der von Weißmann so bekämpfte kalationen gekommen: »Die ›Endlösung‹ war insofern das Ergebnis von selbst geschaffenen 14 Karlheinz Weißmann: Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933 bis 1945, Propyläen Geschichte Deutschlands Bd. 9, Berlin 1995, S. 430. 12 Ebd. 15 AaO., S. 422–432. 13 Volker Weiß: Die autoritäre Revolte, S. 67. 16 AaO., S. 432. 32 JOHANN HINRICH CLAUSSEN

»dekadente« Protestantismus hat im Unter- lich der Klassen 7 bis 9).17 Es ist didaktisch ver- schied dazu zumindest versucht, angesichts siert, wenn auch sehr konventionell gemacht. der Ermordung der europäischen Juden die ei- Interessant an ihm sind seine geschichtstheo- genen theologischen Bestände einer General- logischen Motive. Da ist zunächst ein wie aus revision zuzuführen und konstruktiv darüber der Zeit gefallener Wille zur Monumentalisie- nachzudenken, wie ein evangelisches Christen- rung. Unkritisch wird Luther als ein großer tum nach 1945 in einer offenen Gesellschaft Mann vorgestellt, der die Weltgeschichte ver- möglich ist. Genau dieses verweigert Weiß- ändert hat. Dabei fällt auf, dass Weißmann mann. Historiografisch und theologisch wird auf theologische Aspekte nur kurz eingeht bzw. man das als revisionistisch bezeichnen. über sie wenig Eigenes zu sagen hat. Auf eine Übersetzung oder existentielle Interpretation von Luthers Glaubenslehren verzichtet er. Viel 5. Geschichtstheologie: Lutherbild stärker ist er daran interessiert, den Reformator und »geheimes Deutschland« für einen deutschen Nationalismus zu verein- nahmen. Dabei kann er einige vereinzelte Äu- Das einzige Buch, das Weißmann explizit einem ßerungen des Reformators über Deutschland theologischen Thema gewidmet hat, ist eine zitieren. Doch das kann nicht darüber hinweg- Luther-Biografie zum Reformationsjubiläum für täuschen, dass er seinen Nationalismus unre- ein jugendliches Lesepublikum (wahrschein- flektiert in die frühe Neuzeit einträgt. Für die

Karlheinz Weißmann: Martin Luther für junge Leser. Prophet der Deutschen, Berlin 2017, S. 14/15. Weißmann zeigt hier unhistorisch den jungen Luther vor einem modern gekleideten Massenpublikum, das begeistert die schwarz- rot-goldene Nationalflagge der Bundesrepublik schwenkt. Originalillustration: Sascha Lunyakov. Foto: BAG K+R (Hermann Bredehorst).

17 Karlheinz Weißmann: Martin Luther für junge Leser. Prophet der Deutschen, Berlin 2017. RETRO-UTOPIE: ­VÖLKISCHER ­PROTESTANTISMUS 33

Karlheinz Weißmann: Martin Luther für junge Leser. Prophet der Deutschen, Berlin 2017, S. 18/19. Wie so eine ­Traditionslinie deutscher Helden in Weißmanns Augen aussieht, zeigt diese Bild-Konstruktion. Originalillustration: Sascha Lunyakov. Foto: BAG K+R (Hermann Bredehorst).

Darstellung der Reformationsgeschichte folgt anpreist und zwar vor einem modern geklei- daraus ein großer Schaden: die europäischen deten Massenpublikum, das begeistert die Zusammenhänge und globalen Wirkungen der schwarz-rot-goldene Nationalflagge der Bun- Reformation werden fast vollständig ausge- desrepublik schwenkt. blendet. So führt die Monumentalisierung zu Provinzialisierung und Verzwergung. Um das Ein ideologisch-existentielles – man könnte auch Profil von Weißmanns Lutherbild zu erfassen, sagen: geschichtstheologisches – Grundmotiv sollte man die Illustrationen des Buches be- von Weißmann ist da erreicht, wo er Luther in trachten. Sie greifen die unhistorischen und die Mitte einer Reihe einstellt, die von Armi- heroisierenden Bildklischees des 19. Jahrhun- nius über Widukind, dann Bismarck, Stauffen- derts auf, vergröbern diese und zeigen einen berg und schließlich zu einem namenlosen, finster dreinschauenden, markig auftretenden ostdeutschen Aufständischen des 17. Juni 1953 Helden, der sich nur an Deutsche wendet – so reicht.18 Damit nimmt er die alte Linienführung ein doppelseitiges Bild, das einen jungen Luther zeigt, der wie ein Marktschreier Flugschriften

18 Ebd., S. 18f. 34 JOHANN HINRICH CLAUSSEN

»Von Luther zu Hitler« auf, mit der nach 1945 Demonstration der begeisterten Menge vorge- die Schuld des deutschen Protestantismus his- tragen.20 Die Konstruktion eines solchen »ge - torisch nachgewiesen werden sollte, um ihr eine heimen Deutschlands« ist nicht ungeschickt. andere Wendung zu geben. Götz Kubitschek Sie erweckt den Eindruck, als gebe es eine von hat geschildert, wie Weißmann Mitte der 90er Niederlage und Schuld unberührte, großartige Jahre bei einer Feierstunde der Deutschen Gil- nationale Tradition. Zudem immunisiert sie denschaft eine Rede hielt, deren Kern diese ge- durch die Erwähnung von »KZ-Häftlingen« ge- schichtliche Linienführung war: »Er ließ an gen die Kritik des Geschichtsrevisionismus – den Hörern den historischen Zug der Deutschen wobei die Millionen Ermordeten allerdings un- vorbeiziehen, nannte Kaisergeschlechter, Bau- genannt bleiben. Dafür werden die deutschen ernführer, Siedler, Künstler, Denker, Epochen, Leiden hervorgehoben. Außerdem wird das alles selbstverständlich und vor allem ohne eigene revisionistische Projekt durch den Bezug Relativierung. Als er auf die Epoche des 3. auf Widerstandkämpfer von der NS-Diktatur Reichs zusteuerte, hielt der Saal den Atem an. abgerückt und moralisch geadelt – Geschichts- Und Weißmann rief die Frontsoldaten, die theologie der Niederlage. Männer des 20. Juli, die KZ-Häftlinge, die letz- ten Verteidiger der Ostgrenzen, die Vertriebe- nen und die Spätheimkehrer auf; ließ dann, 6. Die andere religiöse Spur: das ohne die Abfolge zu unterbrechen, die Arbeiter Interesse am Neuheidnischen

Intensiv hat sich Weißmann der historischen Das eigene revisionis- Erforschung von völkischen Mythen und Sym- bolen gewidmet. Ihr großer Umfang steht in tische Projekt wird einem signifikanten Kontrast zu seinen weni- durch den Bezug auf gen explizit theologischen Publikationen. Ge- nannt seien nur: »Die Zeichen des Reiches. ­Widerstandkämpfer von Symbole der Deutschen« (1989), »Schwarze Fah- der NS-Diktatur abgerückt nen, Runenzeichen. Die Entwicklung der poli- tischen Symbolik der deutschen Rechten zwi- und moralisch geadelt. schen 1890 und 1945« (1991), »Druiden, Goden, weise Frauen. Zurück zu Europas alten Göttern« (1991), »Mythen und Symbole« (2002), »Deutsche des 17. Juni 1953 folgen, um mit denen zu enden, Zeichen. Symbole des Reiches, Symbole der Na- die die Mauer eingerissen hatten. [...] Seit jenem tion« (2007). Hinzu kommen ungezählte kürzere Tag weiß ich, was das ›Geheime Deutschland‹ Essays und Rezensionen zum Thema. In neuerer ist.«19 Kubitschek hat diese Motive aufgegriffen Zeit hat er Broschüren zur Irminsul, der Doppel- und 2015 mit einigem Erfolg auf einer Legida- axt oder dem Rutenbündel im Selbstverlag he- rausgebracht. An diesen Texten fällt eine innere

19 Karlheinz Weißmann: Unsere Zeit kommt. Götz Kubitschek im Gespräch mit Karlheinz Weissmann, S. 10f. 20 Volker Weiß: Die autoritäre Revolte, S. 150. RETRO-UTOPIE: ­VÖLKISCHER ­PROTESTANTISMUS 35

Spannung auf. Einerseits widmet Weißmann des Nationalen, die Aussichten auf Erfolg ha- ihnen einen wesentlichen Teil seiner Lebens- ben will, stehen ihm nur die völkischen Erfin - arbeitszeit, andererseits legt er nicht dar, was dungen zur Verfügung. Er ist zu kundig und er damit bezweckt. Er stellt die Geschichten und distinguiert, um sie in einem emphatischen die gegenwärtigen Bedeutungen der unter- oder gar gläubigen Sinne zu präsentieren. Aber schiedlichsten völkischen Mythen und Symbole er kann auch nicht von ihnen lassen. Zu groß bis in die letzten Verästelungen dar, und zwar scheint seine Sehnsucht nach machtvollen auf eine historisch solide erscheinende Weise, Zeichen eines starken Deutschtums. Zu inten- weitgehend ohne Wertungen und Urteile. Zu- siv ist sein Wunsch nach einer germanisch- gleich muss er selbst zu genau wissen, dass es christlichen Kultursynthese, die er aber nicht sich hierbei immer um erfundene Gestaltungen konstruktiv beschreiben kann. Deshalb widmet einer hochideologischen Retro-Utopie han- er sich fortwährend diesen befremdlichen Ob- delt. Nie geht es hier um authentisch Germani- jekten, aber bloß im Gestus des positivistischen sches – über das es ja keine verlässlichen Über- Historikers. Er stellt sie scheinbar »nur« vor, lieferungen gibt –, sondern immer um fake- aber eben »ohne sie zu entzaubern.«21 Ist dies Mythologien und trash-Symbole. Eigentlich ein ehrliches Vorgehen, bei dem der Autor mit müssten Weißmann die Minderwertigkeit sich und seinem Programm im Reinen wäre? dieser Figurationen und ihr antichristlicher Ist Weißmann nicht bewusst, dass einige seiner Charakter bewusst sein. Warum also schenkt theologischen Vorbilder – die Theologen des er ihnen so viel mehr Aufmerksamkeit als vordemokratischen Luthertums – diese Zunei- zum Beispiel biblischen Geschichten und Ge- gung für Neuheidnisches entschieden verur- stalten? teilt hätten? Oder kann er dieser Versuchung deshalb nicht widerstehen, weil er viel zu genau die propagandistische Wirkung dieser Symbole in rechtsextremen Kreisen und Jugendkulturen Weißmann weiß kennt? Aber warum ist er dann nicht so ehr- um die dürre lich, sie affirmativ vorzustellen und gibt sich in seinen Veröffentlichungen so betont nüchtern? ­Unbestimmtheit seiner nationalistischen Idee, 7. Urteilsbildung: Kritik ohne deshalb muss er sie ­Konstruktion ­symbolisch aufladen. Will man Weißmanns Theologie eines völki- schen Christentums beurteilen, muss man zwei Diese Widersprüchlichkeit lässt sich nur so er- systematische Probleme benennen. Das erste klären: Weißmann weiß um die dürre Unbe- besteht darin, dass ein Christentum, das der stimmtheit seiner nationalistischen Idee, des- halb muss er sie symbolisch aufladen. Mit den Mitteln eines altlutherischen Christentums 21 So Martin Lichtmesz in einer Sammelrezension: Autorenporträt Karlheinz Weißmann, in: geht das nicht mehr. Für eine Sakralisierung ­Sezession 66, 2015, S. 5. 36 JOHANN HINRICH CLAUSSEN

nationalen Identitätsstabilisierung dienen soll, Die theologischen Ausführungen von Weiß- instrumentalisiert und seiner universalisti- mann fügen sich nicht zu einem konstruktiven schen Perspektive beraubt wird. Es verliert Programm, sondern bleiben unabgeschlossen sein Eigenrecht als Religion und wird zu einer und widersprüchlich. Ansätze zu einem ange- bloßen Funktion der nationalen Ordnung. So messenen Umgang mit der »Umformungskrise« ist es kein Zufall, dass Weißmann zu konkreten des Christentums in der Moderne finden sich Fragen einer christlichen Frömmigkeit heute bei ihm nicht. Stattdessen bearbeitet Weiß- nichts zu sagen weiß. mann die inhaltlichen Probleme und offenkun- digen Leerstellen seiner politischen Theologie Das zweite Problem besteht darin, dass die über polemische Abkürzungen. Er unterzieht Hoffnung der älteren völkischen Theologie und sich nicht den Mühen einer konstruktiven theo- von Weißmann, das krisenhafte Christentum logischen Arbeit, sondern entfaltet ausführlich durch die Bindung an den Nationalismus zu und massiv eine von Ressentiments gesteuerte festigen, äußerst trügerisch ist. Das Christen- und politisch motivierte Kritik des demokrati- tum als Inbegriff des Überweltlichen wird an schen Protestantismus. Diese entwertende Kir- eine weltliche, ambivalente und höchst ideo- chenkritik ist der Versuch, aus einer antimo- logieanfällige Größe gebunden und dadurch dernistischen Verbitterung heraus die evan- einer neuen Verunsicherung ausgeliefert. Wenn gelische Kirche als Stimme eines christlichen ein Grundproblem des neuzeitlichen Christen- Humanismus in der demokratischen Öffent- tums in der Historisierung seiner Grundlagen lichkeit zum Schweigen zu bringen.22 besteht, dann wird dieses durch die Verknüp- fung mit der Idee der Nation eben nicht bewäl- Natürlich kann man am heutigen Protestantis- tigt, sondern nur gesteigert. mus, der evangelischen Theologie und Kirche vieles grundsätzlich und im Detail kritisieren. Doch was Weißmann mit einigem rhetorischen Weißmann Effekt vorführt, ist eine Ideologiekritik der pro- blematischen Sorte. Sie beschränkt sich – in ­unterzieht sich nicht der Manier altlinker Ideologiekritik – darauf, den Mühen einer das falsche Bewusstsein der anderen vorzu- führen, um so die Richtigkeit der eigenen ideo- ­kon­struktiven logischen Position zu erweisen. Damit verbin- ­theologischen Arbeit, den sich drei systematische Probleme. Erstens kann er so nicht sachlich erklären, warum sich sondern entfaltet eine von Ressentiments ­gesteuerte und politisch motivierte 22 Eine bündige neuere Zusammenfassung der Hauptmotive seiner Kirchenkritik findet sich in Kritik des demokratischen Karlheinz Weißmann: Kanzelschwalben und ­»Halleluja-Schwalben«. Der Rücktritt des sächsi- Protestantismus schen Landesbischofs und der Niedergang des Protestantismus durch Politisierung, in: Cato 1/2020, S. 44–51. RETRO-UTOPIE: ­VÖLKISCHER ­PROTESTANTISMUS 37

das von ihm Abgelehnte durchsetzen konnte, tierten Christentums, der sein Programm weder das von ihm Vertretene aber verloren hat. Seine prinzipiell begründen, inhaltlich ausführen Kritik des Mehrheitsprotestantismus – ebenso noch religiös-ästhetisch gestalten kann: Poli- wie seine Gegenwartsdiagnose – ist deshalb tische Theologie ohne Theologie. Dennoch ist bloß moralisierend: Die Position der anderen es wirksam. Ein Beispiel dafür, dass es ein Pu- wird nie für sich wahrgenommen und gedeutet, blikum erreichen und politische Folgen zeiti- sondern immer sofort als »böse« markiert. Zwei- gen kann, bietet Weißmanns Schüler und tens ist seine Kritik des Mehrheitsprotestantis- langjähriger Weggefährte Benjamin Hassel- mus stets politisch motiviert, dient sie doch horn. Er hatte zum Reformationsjubiläum eine der Plausibilisierung eines entgegengesetzten ideenpolitischen Projekts. Das also, was rechte Empörungspublizist*innen am heutigen Protes- Weißmanns politische tantismus kritisieren, trifft in weitaus höherem Theologie ist hyper­ Maße auf Weißmann zu: Seine politische Theo- logie ist hypermoralisch, weil sie allein nach moralisch, weil sie allein dem Schema »gut/wir – böse/die anderen« ar- nach dem Schema »gut/ beitet, und sie ist überpolitisiert, weil sie einer ideenpolitischen Revanche dient. In all dem ist wir – böse/die anderen« Weißmanns Ideologiekritik des theologisch An- arbeitet, und sie ist über­ deren, drittens, dezidiert unlutherisch. Denn Luther war – wenn man seine polemischen politisiert, weil sie einer ideen- Ausfälle beiseitelässt – darin ein radikaler Ideo- politischen Revanche dient. logiekritiker, dass er die Ideologiekritik immer auch als Selbstkritik verstanden und betrieben hat. Das meint bei ihm Bußfertigkeit: der eige- scharfe Kirchenkritik im Weißmann’schen Sin- nen Verlogenheit auf die Spur kommen, die ne veröffentlicht23 und war damit ein wichtiger eigene Ideologieanfälligkeit erkennen – und Stichwortgeber für die Kirchenpolitik der AfD nicht nur die der anderen. geworden.24 Überhaupt kann die Kirchenpolitik dieser Partei am besten vor dem Hintergrund Es gibt also vielfältige Gründe dafür, dass der politischen Theologie von Karlheinz Weiß- Weißmann über die Inhalte der evangelischen mann verstanden werden.25 Theologie, der persönlichen Frömmigkeit und des kirchlichen Lebens nichts Substanzielles und Konstruktives beizutragen hat. Darin zeigt sich eine gedankliche Schwäche überhaupt sei- 23 Benjamin Hasselhorn: Das Ende des Luthertums?, Leipzig 2017. nes ideenpolitischen Vorhabens einer Renais- 24 Vgl. Unheilige Allianz. Der Pakt der evangelischen sance der Rechten. Am Ende erscheint er als Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen, politischer Theologe eines neo-völkisch orien- hg. von der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, Juni 2019. 25 Eine ausführlichere Darlegung dieser Thesen ist im Rahmen eines theologischen Sammelbandes für das Frühjahr 2021 geplant. IMPRESSUM:

V. i. S. d. P.: Christian Staffa, Sprecher*innenrat der BAG K+R c/o Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. Auguststraße 80 | 10117 Berlin. www.bagkr.de

Autor*innen: Heinrich Bedford-Strohm | Liane Bednarz | Johann Hinrich Claussen Redaktion: Henning Flad | Martin Becher | Christian Staffa | Katja Teich

Gestaltung: ultramarinrot

Urheberrechtliche Hinweise © Copyright 2020 Alle Rechte vorbehalten. Diese Publikation wird für nicht-kommerzielle Zwecke kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Autor*innen behalten sich das Urheberrecht vor. Eine Weitergabe oder Vervielfältigung, auch in Teilen, ist nur nach ausdrücklicher schriftlicher Zustimmung der Herausgeber*innen gestattet.

Die BAG K+R ist ein Projekt von Aktion Sühnezeichen e. V. und wird gefördert im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben!« des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Die Veröffentlichungen stellen keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor/die Autorin bzw. tragen die Autoren/die Autorinnen die Verantwortung.