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VII. Das Kriegsende in Süddeutschland und die Konsolidierung der Militärregierung

1. Letzte Kämpfe

Ende Januar 1945, nach dem Scheitern der Offensive In den Ardennen und dem mächtigen sowjetischen Vorstoß von der Weichsel an die Oder, hatte die deutsche Kriegführung jegliche realistische Perspektive verloren. Nun war auch das in der poli­ tisch-militärischen Spitze des Reiches verbreitete, immerhin nicht gänzlich abwegige Kalkül dahin, die bedingungslose Kapitulation und der Untergang des Reiches ließen sich vielleicht doch noch irgendwie abwenden. Die Erklärung von Jalta und die Ver­ nichtung Dresdens setzten im Februar Ausrufungszeichen hinter das Menetekel. Im März, nachdem Eisenhower dem das Rückgrat gebrochen und den Rhein glatt forciert hatte, konnten in Deutschland weder Fachmann noch Laie weiterhin mit akzeptablen Argumenten behaupten, der totalen Niederlage im sechsten Jahr des tota­ len Krieges sei zu entrinnen. Die alliierten Stäbe waren über die verzweifelte Lage des Feindes genau im Bilde, dem neben der bedingungslosen Kapitulation nur noch eine einzige Handlungsmög• lichkeit geblieben sei, nämlich das bevorstehende Ende einige Augenblicke lang hin­ auszuzögern. [ Der SD kam in einer zusammenfassenden Analyse zur selben Erkennt­ nis: Der Zweifel am Sinn des weiteren Kampfes zerfresse die Einsatzbereitschaft und das Vertrauen der Bevölkerung: "Der bisher bewahrte Hoffnungsfunke ist am Auslö• schen".2 Dennoch war den Amerikanern Anfang April 1945 ebenso klar wie dem deutschen , daß es trotzdem nicht zur naheliegenden Konsequenz, der einer Aufgabe des aussichtslos gewordenen Kampfes, kommen würde: "Es wird nicht erwartet, daß Hitler in diesen letzten Tagen der nationalen Katastrophe einen Versuch macht, zu kapitulieren, abzutreten oder mit den Alliierten zu verhandeln", sagte die Intelligence des War Department Ende März 1945 voraus.) Nicht nur die Lage im Reichsgebiet, über dem die alliierten Bomberflotten weiter­ hin ihre Last abluden, auch die Entwicklung an ferner gelegenen Fronten hätte späte-

I Sixth Anny Group, G-2, Weekly Intelligence Summary v. 8. 4. 1945: "The enemy is completely restricted to a single capability: To delay his defeat." Zit. nach Sixth Anny Group History, Section I, Chapter IX, S. 254; NA, RG 332, ETO, Historical Division Program Files, Sixth Army Group, 1944-4~. Vgl. auch die Analyse des Joint Intelligence Committee von SHAEF v. 24. 3. 194~; zit. bei Harry S. Butcher, Drei Jahre mit Eisen­ hower, Bem 1946, S. 78 L 2 Zusammenfassender Bericht des SD von Ende März 194~; IfZ-Archiv, MA 660. Abgedruckt bei Marlis L. Steinert, Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf 1970, S. ~72. J War Department, Staff, Military Intelligence Division, G-2: "Expected Developments of April, 194~, in the German Reich" (o.D.), Analyse von Ende März 194~. Anlage zum Schreiben General Clayton BisseIls an den Direktor der Civil Affairs Division, General Hilldring, v. 2. 4. 194~; NA, RG 165, CAD 014. Ger­ many, 7-10-42, Sec. 12. Das folgende Zitat ebenda. 778 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland stens jetzt die Kapitulation zwingend nahegelegt. Mitte März war die Offensive der 6. SS-Panzerarmee Sepp Dietrichs am Plattensee liegengeblieben, bald darauf begann der Kampf um Wien, das am 13. April an die Rote Armee fiel. In Jugoslawien began­ nen die Partisanenverbände Titos Ende März ihre Generaloffensive, am 9. April star­ tete Feldmarschall Alexander in Italien den letzten Großangriff gegen die Heeres­ gruppe C. Ebenfalls Anfang April setzte die 1. Kanadische Armee zu Operationen an, die bald zur Befreiung großer Teile Hollands führen sollten. Die deutsche Kriegsma­ rine war am Ende, die längst zur quantite negligeable reduziert. "Übergangs• periode vom organisierten Widerstand zur endgültigen Niederlage" nannte das Kriegsministerium in Washington die Phase, in die das Deutsche Reich nunmehr ein­ getreten war. Hitler selbst zog sich ganz in den Bunker unter der Reichskanzlei zu­ rück, nachdem er am 20. März in einem letzten öffentlichen Auftritt einigen Hitler­ jungen das Eiserne Kreuz verliehen und dabei, wie Goebbels fand, "eine außerordent• lich sympathische und aufmunternde Ansprache"4 gehalten hatte. Drastischer noch als der Zusammenbruch der Fronten in Ungarn, Jugoslawien und Italien bestätigte die militärische Entwicklung im Westen während der ersten beiden Aprilwochen, als das Ruhrgebiet besetzt wurde und die Invasionsstreitkräfte an die 5 Eibe vorstießen , daß das War Department in seiner Prognose zu Recht vom unmittel­ bar bevorstehenden Zusammenbruch der gesprochen hatte. Trotzdem gab sich auch der Oberste Befehlshaber Dwight D. Eisenhower zu Beginn des letzten Kriegsrnonats nicht der Hoffnung hin, es sei mit einer Kapitulation der Wehrmacht noch vor der vollständigen Eroberung des Reichsgebietes zu rechnen6 und damit den Soldaten beider Seiten wie der einheimischen Bevölkerung die Besetzung Süd• deutschlands mit Waffengewalt zu ersparen. "Der Feind fiel auseinander, wartete aber darauf, überrannt zu werden", stellt Forrest C. Pogue dazu treffend fest. 7 Ebenso wie Norddeutschland waren auch Baden, Württemberg und Bayern in Eisenhowers Strategie des geraden Stoßes nach Osten freilich zunächst nur nebengeordnete Schau­ plätze. Die alliierten Operationen gegen Süddeutschland während der letzten acht Wo­ chen des Krieges begannen in etwa zeitgleich mit dem amerikanischen Vormarsch vom Rhein zur Eibe. Die im Süden der Westfront stehende Sixth Army Group unter General Jacob L. Devers hatte in den ersten Apriltagen vor allem zwar den Auftrag, die rechte Flanke der durch Mitteldeutschland vorgehenden Verbände Omar Bradleys 8 zu decken , doch die drei US-Armeen im Norden machten in Thüringen, Sachsen und Anhalt so rasche Fortschritte, daß die Armeegruppe im Süden bald nach ihrem

4 Tagebucheintragung v. 20.3.1945; zit. nach , Tagebücher 1945: Die letzten Aufzeichnun­ gen, mit einer Einführung von Rolf Hochhuth, Hamburg 1977, S. 265. 5 Vgl. V/I und VI/I. 6 Vgl. die Lagebeurteilung Eisenhowers für Roosevelt v. 31. 3. 1945, in der er die Vermutung äußerte, es werde an der Westfront wahrscheinlich nicht zu einer Kapitulation der Wehrmacht im üblichen Sinne kommen; Alfred D. Chandler (Hrsg.), The Papers of Dwight David Eisenhower, Bd. IV: The War Years, Baltirnore 1970, S. 2566 ff. 7 Forrest C. Pogue, The Suprerne Cornrnand, Washington 1954, S. 448. B Vgl. die beiden grundlegenden Befehle Eisenhowers an die drei alliierten Armeegruppen v. 25.3. 1945 und 2.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2541 f. und S. 25761. Im einzelnen ferner die folgenden Darstellun­ gen: Sixth Army Group History, Section I, Chapter IX, S. 246fl.; NA, RG 332, ETO, Historieal Division Program Files, Sixth Army Group, 1944-45. CharIes B. MacDonald, The Last Offensive, Washington 1973, S. 407fl. Dwight D. Eisenhower, Kreuzzug in Europa, Amsterdarn 1948, S.473. Omar N. Bradley, Clay Blair, A General's Life, New York 1983, S. 420. 1. Letzte Kämpfe 779

Rheinübergang ziemlich ungebunden operieren konnte. Zu Devers' Army Group, die im Sommer 1944 an der CDte d'Azur gelandet war und das Land zusammen mit fran­ zösischen Verbänden von Süden her freigekämpft hatte, gehörte zu Beginn ihrer rechtsrheinischen Offensive die 1. Französische Armee unter General Jean de Lattre de Tassigny9 und die 7. U.S. Army von General Alexander M. Patch. Die Premiere Ar­ mee Franr;:aise ("Rhin et Danube"), deren Wohl und Wehe ganz von amerikanischen Lieferungen abhing, kämpfte am rechten Flügel der Armeegruppe, die Truppen von Patch bildeten den linken, nördlichen, Flügel, der sich etwa auf der Linie Frankfurt­ Fulda-Meiningen-Coburg an General Bradleys Twelfth Army Group anlehnte. Die 7. Armee hatte mit ihrem XV. Corps den Rhein am 26. März nördlich und südlich von Worms bezwungen und sofort einen großen Brückenkopf gebildet!O; in den letz­ ten Märztagen setzten das XXI. und VI. Corps über den Strom, und bei Monatsende standen die amerikanischen Divisionen, die zunächst nur auf geringen Widerstand tra­ fen, bereits vor Aschaffenburg und an der Spitze des Main-Dreiecks bei Ochsenfurt. Mannheim und Heidelberg waren kampflos an sie gefallen. Wie in den letzten Kriegswochen üblich, war auch in Süddeutschland binnen weni­ ger Tage aus einem Brückenkopf ein gewaltiger Einbruch in das Hinterland geworden. "Wenn man die Karte betrachtet", notierte Goebbels am 31. März 1945 in sein Tage­ buch, "so könnte man den Eindruck gewinnen, daß es sich im Westen um den Beginn der Katastrophe handelt."!! Am selben Tag richtete Eisenhower einen Aufruf an die Zivilbevölkerung und die Wehrmachtsangehörigen, mit dem er den Deutschen die Hoffnungslosigkeit der militärischen Lage vor Augen führen und an die Vernunft je­ des einzelnen appellieren wollte. Die Bauern, sagte er darin, sollten ihrer Feldarbeit nachgehen statt zu kämpfen und die Soldaten die Waffen strecken, "um weiteres un­ nötiges Blutvergießen und Opfer an Menschenleben zu vermeiden"!2. Während sich im mittleren und nördlichen Abschnitt der "Westfront" der Vor­ marsch ins Reichsinnere so entwickelte, als seien Bevölkerung und Soldaten dem Ap­ pell des Obersten Befehlshabers gefolgt, entbrannten im unwegsamen, den Verteidiger begünstigenden Gebiet des nördlichen Baden, Württemberg und Bayern während der ersten drei Wochen im April noch einmal Kämpfe, deren Heftigkeit "zu diesem Zeit­ punkt des Krieges befremdlich deplaziert war"13. Stand den Amerikanern nach der am 1. April vollzogenen Umfassung der Heeresgruppe B im Ruhrgebiet, mit der eine riesige Bresche in die deutsche Front gerissen worden war, in Mitteldeutschland prak­ tisch kein Gegner mehr gegenüber, so hatte die links des Rheins vernichtend geschla­ gene Heeresgruppe G immerhin Teile der weitgehend zertrümmerten 1. Armee und der 7. Armee auf das Ostufer retten können. Da beide bestrebt waren, den im Norden fehlenden Anschluß doch noch zu finden, taten sich zwischen den Armeen, die mit ihren schwachen Kräften einen viel zu breiten Abschnitt zu decken hatten (die deut­ sche 19. Armee stand am Oberrhein), gefährliche Lücken auf.

9 Vgl. dessen Memoiren, Histoire de la Premiere Armee Fran~aise: Rhin et Danube, Paris 1949. 10 The Seventh United States Army, Report of Operations, France and 1944-1945, Bd. III, Heidel­ berg 1946, S. 741 ff.; HZ-Archiv, Material Henke. 11 Tagebucheintragung v. 31. 3. 1945; zit. nach Goebbels, Tagebücher 1945, S. 388. 12 Aufruf Eisenhowers v. 31. 3. 1945. Der an die Soldaten gerichtete Teil ist abgedruckt bei Erich Spiwoks, Hans Stöber, Endkampf zwischen Mosel und Inn. XIII. SS-Armeekorps, Osnabrück 1976, S. 419f. Vgl. auch Eisenhower, Kreuzzug in Europa, S. 465 f. 13 eharles B. MacDonald, The Mighty Endeavour, New York 1969, S.476. 780 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Aber was bedeutete in diesem Stadium des völligen Bankrotts noch das Wort von den "gefährlichen Lücken"? Eine wirkliche Kriegführung gab es im Westen seit dem Desaster der Wehrmacht links des Rheins nicht mehr, jedenfalls auf deutscher Seite nicht. Die gewohnten Termini der Befehle und Meldungen aus diesen Tagen, Begriffe wie "Kampfführung", "Schwerpunktbildung", "operative Ideen" vermitteln eine Illu­ sion von Kriegs-"Normalität" und Handlungsfähigkeit, die inzwischen längst dahin war. Eine ,,Armee" war Anfang April 1945 keine Armee, eine "Division" keine Divi­ sion mehr. Bei der Heeresgruppe G, die am 2. April von General Friedrich Schulz übernom• men wurde, verfügte "lediglich die 1. Armee noch über einzelne Divisionen, die ". noch eine wenn auch eingeschränkte Kampfkraft besaßen"14. Damit war nur gesagt, daß sie weniger gründlich demoliert war als die benachbarte, gänzlich zerfledderte 7. Armee. Wie es um die 1. Armee von General Foertsch im nördlichen Württemberg bestellt war, wird aus einem Lagebericht ersichtlich, den dieser Mitte März dem neuen OB West erstatte, zu einem Zeitpunkt also, als der 1. Armee die "ungeheuren Verluste l5 an Menschen und Material" (so deren ) im "Saar-Pfalz-Dreieck" erst noch bevorstanden: "Der materielle Ausrüstungszustand der Truppe entspricht zur Zeit etwa dem des Jahres 1918. Von den modernen Waffen sind meist nur noch wenige Museumsstücke vorhanden oder der Munitionsnachschub hat so gut wie ganz aufge­ hört", stellte Foertsch fest. "Die Beweglichkeit der Truppe wird durch Ausfall von L.K.W. und Mangel an Betriebsstoff immer geringer ... Insgesamt ist die Panzerab­ wehr gegenüber den starken feindlichen Panzerverbänden völlig unzureichend."16 Dem XIII. Armeekorps etwa, das den Odenwald sperren sollte, durch den die Ameri­ kaner dann aber im Handumdrehen bis zur Spitze des Main-Dreiecks vorstießen, stand nach dem Desaster in der Pfalz keine einzige Panzerabwehrkanone und kein einziger Panzer mehr zur Verfügung. Aber selbst an den Stellen, wo die 7. US-Armee noch einmal zum Kampf gezwungen werden konnte, hatte sie es mit einem bizarren Sammelsurium zu tun - Ausbildungskompanien, "Magenbataillone", Flughafenbesat­ zungen, Wehrkreisbedienstete, Hitlerjungen, Kampfgruppen mit klingenden Namen und erschöpften Soldaten sowie natürlich dem Volkssturm. Ähnlichkeiten mit einer halbwegs intakten Truppe waren nicht mehr zu erkennen. Freilich standen zwischen Main und auch das XIII. SS-Armeekops unter SS-Gruppenführer und der Waffen-SS Max Simon und die 1944 neu aufgestellte, zum Teil aus "Volksdeutschen" aus der UdSSR bestehende 17. SS-Pan­ zergrenadier-Division "Götz von Berlichingen". Simon, der seine militärische Karriere vornehmlich seiner strammen nationalsozialistischen Gesinnung verdankte, war einer der ärgsten Durchhaltegenerale, die in den letzten Kriegswochen auf deutschem Bo­ den noch einen großen Verband führten, unnachsichtig gegenüber seinen eigenen Soldaten und gnadenlos gegen die kriegsmüde Bevölkerung in Württemberg und Franken 17. Er prägte natürlich die Haltung der ihm unterstellten Kommandeure und

I' Studie B-703 des Gennan Foreign Military Studies Program ,, (22 March - 6 May 1945)", S. 12; MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. 15 Studie B-238 "First Anny (10 February - 24 March 1945)"; zit. nach MacDonald, Last Offensive, S. 264. 16 Studie T-123 "OB West, Part Three", S.79; MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. Zum Zustand des XlII. A.K. Ende März die bei MacDonald, Last Offensive, S. 412, zitierten Foreign Military Studies. 17 Vgl. die breite Presse berichterstattung und Kommentierung zu den Gerichtsverfahren gegen Max Simon; HZ-Archiv, Zeitungsausschnittsammlung, Nachkriegsprozesse B IV -Ansbach. 1. Letzte Kämpfe 781

Soldaten, den Stil der Kriegführung hier, und ganz gewiß zählte er nicht zu jenen deutschen Truppenführern, die im Westen in diesem Stadium des Krieges auf eige­ nem Territorium darum bemüht waren, "Verluste zu vermeiden und sinnlose Maß• nahmen, auch wenn sie befohlen wurden, zu boykottieren" 18. Sehr zustatten kam der deutschen Seite das unwegsame, von vielen Flußläufen durchschnittene Gelände zwischen Main und Neckar, das auch schwachen Kräften noch Verteidigungsmöglichkeiten bot. Allenthalben wurde hier denn auch der unver­ antwortliche Versuch gemacht, durch die "Verteidigung" aus Ortschaften und Städten heraus das Handikap mangelnder eigener Manövrierfähigkeit wettzumachen. Ernst­ hafte Verteidigung der Heimat unter Ausnutzung jedes Geländehindernisses, jeder Ortschaft und jedes "Stützpunktes" durch eine immobile und miserabel ausgestattete Truppe mußte bei der überwältigenden Feuerkraft des Feindes unweigerlich zur Zer­ störung der Heimat führen. Die verantwortlichen Kommandeure waren sich der ver­ heerenden Konsequenzen dieser Art der Kampfführung bestens bewußt, denn die meisten von ihnen kämpften seit Monaten gegen die Amerikaner und kannten deren Gewohnheit, bei geringstem Widerstand die feindlichen Stellungen mit Bomben und Granaten gründlich zu "saturieren". Die deutsche Kampfführung in Süddeutschland ist deshalb ein Paradebeispiel bedenkenlosen Soldatentums. Nach der problemlosen Rheinüberschreitung hatten die drei Corps der 7. U.S. Army zunächst zügige Fortschritte gemacht19 Am linken Flügel stieß das XV. Corps am schwer umkämpften Aschaffenburg20 vorbei zur Rhön vor, im Sektor des XXI. Corps ging am 6. April der viertägige, nicht weniger hartnäckige Kampf um Würz• burg21 (das vor allem durch den Bombenangriff vom 16. März verheerende Zerstörun• gen erlitten hatte) zu Ende. Auch bei dem an der Südflanke der Seventh Army operie­ renden VI. Corps von General Brooks ging es nach der Bezwingung des Rheins eine Woche lang über Heidelberg den Neckar aufwärts rasch voran, doch am 3./4. April waren die Tage der leichten Erfolge am Südflügel der Armee vorbei. An der hier ha­ stig improvisierten deutschen Verteidigungslinie wurden die amerikanischen Divisio­ nen, die mit keinem ernsthaften Widerstand mehr rechneten, mit einem Mal "abrupt gestoppt"22. Die deutsche "Verteidigungslinie" war keine zusammenhängende Abwehrfront; dazu reichten die Kräfte längst nicht mehr. Die Verteidiger machten sich hier ledig­ lich die natürliche Barriere der Flußläufe zunutze, an denen Schlüsselstellungen not­ dürftig befestigt und besetzt wurden. Nachdem es nicht gelungen war, den Odenwald entlang der Linie Miltenberg am Main und Eberbach am Neckar abzuriegeln, lief die neue "Sperrlinie" Anfang April in etwa von der Spitze des Main-Dreiecks bei Ochsen­ furt über Bad Mergentheim an der Tauber zum Jagst-Knie bei Dörzbach. In diesem

IB Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff, Soldat im Untergang, Frankfurt 1977, S. 180. 19 Die Skizze der Kämpfe im nördlichen Baden, Württemberg und Bayern während der ersten Aprilwochen stützt sich, falls nicht anders angegeben, im wesentlichen auf die folgenden Werke: Seventh United States Arrny, Report of Operations, III, S. 759ff. MacDonald, Last Offensive, S. 406ff. Friedrich Blumenstock, Der Einmarsch der Amerikaner und Franzosen im nördlichen Württemberg im April 1945, 1957, S. 35 ff. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 171 ff. 20 Ygl. die beiden Studien, in denen das Kriegsende in dieser Region minutiös rekonstruiert ist: Alois Stadt­ müller, Aschaffenburg im Zweiten Weltkrieg, Aschaffenburg 1971, sowie ders., Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, Aschaffenburg 1982. 21 Ygl. Hans Oppel! (Hrsg.), Würzburger Chronik des denkwürdigen Jahres 1945, Würzburg 1947. 22 Seventh Uni ted States Army, Report of Operations, I1I, S. 776. Das folgende Zitat ebenda, S. 789. 782 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland nördlichen Abschnitt war sie freilich weniger stabil als in ihrem südlichen Verlauf. Dort lief sie nämlich die Jagst entlang bis zu deren Mündung in den Neckar, von hier neckaraufwärts nach Süden. Schlüsselstellung war der Verkehrsknotenpunkt Heil­ bronn auf dem Ostufer des Flusses. Die Stäbe beider Seiten begannen vom ,Jagst­ Neckar-Bogen" zu sprechen, für die Amerikaner "die stärkste Verteidigungslinie, die der Feind im letzten Kriegsmonat noch aufbauen konnte". Zehn Tage lang - ihre Ka­ meraden im Norden hatten mittlerweile die Eibe erreicht - mühten sich hier die drei Divisionen des VI. Corps ab, das eigentlich nehmen und dann zügig durch die Löwensteiner Berge auf Stuttgart hätte vorstoßen sollen. Der deutsche Widerstand gegen die vom Rhein kommenden Einheiten der ameri­ kanischen 10. Panzerdivision und der 63th und 100th Infantry Division23 hatte sich schon im Raum der Jagst- und Kochermündung versteift, und der Kampf um Heil­ bronn wurde mit beinahe noch größerer Erbitterung geführt als zuvor die Gefechte um Aschaffenburg und Würzburg. "Die Schlacht um Heilbronn" ging als Großtat der U.S. Army in amerikanische militärhistorische Darstellungen und in das Erinnerungs­ schrifttum der Veteranen ein: "Dort lieferte der Feind eines der heftigsten Gefechte des ganzen Krieges", befand aus etwas reduziertem Blickwinkel beispielsweise die Ge­ schichte der 100th Infantry Division ("Story of the Century") im Jahre 1946.24 In den frühen Morgenstunden des 4. April begann die Division mit dem Übergang erster Kräfte über den Neckar den Angriff auf eine Stade', die bereits durch den Luft­ krieg "nahezu ausradiert"26 war. Fast 7000 Tote hatte ein einziger Luftangriff vier Mo­ nate zuvor gefordert, und es hat auch hier beinahe den Anschein, als habe es den deutschen Kommandeuren besonders wenig Skrupel bereitet, die bereits im Luftkrieg vernichteten Städte in Bodenkämpfen noch einmal besonders hartnäckig zu "verteidi­ gen". Die deutschen Verteidiger, das typische Truppenkonglomerat der letzten Stunde, fügten den angreifenden amerikanischen Regimentern empfindliche Verluste zu, und bald war den Amerikanern klar, daß Heilbronn nicht im Vorübergehen zu nehmen war wie all die anderen Städte links des Rheins und auch Mannheim und Heidelberg noch. Neun Tage, bis zum Nachmittag des 12. April, dauerten die Kämpfe in den Straßen, Häusern und Industrievierteln einer Stadt an, in der die verbliebenen Bewohner in Luftschutzkellern, Bunkern und Eisenbahntunnels zusammengedrängt das Ende des Spuks abwarteten. "SS-Leute verteidigten Heilbronn wie ,Hurensöhne' ", berichteten die "Stars and Stripes". Ein sagte dem Army-Blatt, es seien für seine Division die härtesten Kämpfe seit der Bezwingung des Westwalls ge­ wesen.27 Der verbissene Widerstand im zerstörten Heilbronn, der nicht zuletzt auch durch das terroristische Gebahren des Drauz28, eines üblen NS-Verbrechers, an-

23 Vgl. deren Darstellung der Kämpfe in Nordwürttemberg: Lester M. Nichols, Impact: The Battle Story of the Tenth Armored Division, New York 1954. Michael A. Bass, The Story of the Century (lOOth Infantry Division), New York 1946. Für die 63rd Inlantry Division liegt keine brauchbare Unit History vor. " Bass, Story 01 the Century (100th Infantry Division), S. 137. 25 So in der Unit History der lOOth Infantry Division. Blumenstock, Einmarsch, S. 93, nennt den 3. April als Tag des amerikanischen Übergangs über den Neckar. Er bietet (S. 901f.) die ausführlichste Darstellung des "Kampfes um Heilbronn". 26 Thomas Schnabel, Kommunalpolitik in einer zerstörten Stadt. Parteien und Wahlen in Heilbronn a. N. von 1945-1948, Examensarbeit an der Universität Freiburg 1975, S. 31. 27 The Stars and Stripes, 16.4. 1945. 28 Siehe VII/2. 1. Letzte Kämpfe 783 gefacht worden war, brachte den Kommandierenden General des VI. Corps auf den Gedanken, gleichzeitig mit der fortgesetzten Berennung der Stadt und der deutschen Stellungen an der Jagst eine spektakulär angelegte Umfassungsoperation einzuleiten: Die 10th Armored Division sollte in einem weiträumigen Raid bis nach Crailsheim die deutsche Verteidungslinie des Jagst-Neckar-Bogens umgehen, über 60 Kilometer tief im Rücken der Verteidiger auftauchen und dann von Osten her gegen Heilbronn vorstoßen. Der amerikanische Panzervorstoß quer durch Nordwürttemberg machte zunächst auch ganz die erwarteten Fortschritte.29 Die Combat Commands, die sich ihre Sporen im Dezember 1944 während der Ardennen-Offensive in Bastogne ver­ dient hatten, legten entlang des Jagst-Neckar-Bogens innerhalb zweier Tage über 120 Kilometer zurück und fuhren am Abend des 6. April, ohne auf nennenswerten Wider­ stand zu stoßen, in Crailsheim ein. Dieser unerwartete Einbruch zwischen dem deut­ schen XIII. Armeekorps und dem XIII. SS-Armeekorps bedrohte nicht nur die ge­ samte notdürftig aufgebaute nordwürttembergische Sperrlinie, er zerschnitt zugleich die Verbindungen zwischen Nürnberg und Stuttgart und eröffnete der 7. Armee eine glänzende Ausgangsposition für einen raschen Vorstoß in Richtung Ulm, Augsburg und München.30 Die 10th Armored Division versuchte, den schmalen Einbruchskor­ ridor zu festigen und sofort nach Westen über Schwäbisch Hall in den Rücken der Heilbronner Front vorzustoßen. Doch dazu reichten die Kräfte des Verbandes mit sei­ nen überdehnten rückwärtigen Verbindungen nicht mehr. Zehn Kilometer vor Schwäbisch Hall mußten die Panzerspitzen abdrehen, und es begann, wie es der Chro­ nist der "Tiger" nannte, "eine der frustrierendsten Gefechtsoperationen in der brillan­ ten Kriegsgeschichte der Division"31. Die erklärliche Tendenz in den amerikanischen Darstellungen, die Stärke der deut­ schen Verteidiger an Neckar,Jagst und Kocher herauszustreichen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich im Crailsheimer Einbruchsraum wiederum nur um jenes armselige Sammelsurium jammervoll unterlegener Kampfgruppen und Kompanien handelte, das von ihren Kommandeuren - ohne einen einzigen eigenen Panzer - gna­ denlos gegen Tanks der U.S. Army ins Feuer geschickt wurde. Dazu gehörten hier Mannschaften einer Genesenenkompanie aus Bad Mergentheim, 16- bis 17jährige Hitlerjungen der dortigen Oberschule (zum Teil aus Duisburg evakuierte Gymnasia­ sten), rückwärtige Dienste und Teile eines Regiments der Aufstellungsdivision ,,Al­ pen", ein Baubataillon, Ersatzeinheiten der Waffen-SS aus Ellwangen, ein aus Heil­ bronn herbeigeholtes Bataillon des Regiments "Rosenheim", darunter durch Zufall in

29 Die Beschreibung der Crailsheimer Operation fußt vor allem auf den folgenden Darstellungen: Die detail­ lierte Beschreibung bei Blumenstock, Einmarsch, S. 51 H. Nichols, Impact (10th Armored Division), S. 223 ("The Battle for Crailsheim"). Siehe auch die Darstellung im Report of Operations der Seventh Uni ted States Army, IIl, S. 783 H. Vgl. auch den Lagebericht der Gauleitung Württemberg-Hohenzollem (Stuttgart) v. 18.4. 1945 zu den Kämpfen in Nordwürttemberg; BA, Sammlung Schumacher, Nr. 248. Zahlreiche Schilderungen hierzu auch in HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. Ferner die Pfarr- und Dekanatsberichte im LKA Stuttgart, 311a, 1945. 30 Der Ia der Heeresgruppe G sah später in der Operation der amerikanischen 10. Panzerdivision eine "beson­ ders günstige Chance ... , den Gesamtwiderstand in Süddeutschland durch rücksichtslose Ausnützung des er­ zielten Durchbruches mit einem Schlage zu brechen". German Foreign Military Study B-703 von Horst Wi­ lutzky, "Der Kampf der Heeresgruppe G im Westen. Abschlußkämpfe in Mittel- und Süddeutschland bis zur Kapitulation (22. 3. 45-6. 5.45)", S. 39; MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. 31 Nichols, Impact (10th Armored Division), S. 252. 784 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland der Nähe auf dem Transport befindliche Truppen.32 Diese drückten nicht nur gegen die Stadt selbst, zwei Tage nach dem amerikanischen Einmarsch dort gelang es aus unwegsamem Gelände immer wieder überraschend vorgehenden deutschen Kampf­ gruppen, die nach Norden führende Nachschubstraße ("Kaiserstraße") zu unterbre­ chen. Mehrere deutsche Jäger und sogar neue Düsenflugzeuge vom Typ Me 262 tauchten zum ungläubigen Erstaunen der Amerikaner zeitweise am Himmel auf. Ge­ neral Piburn, Kommandeur des Combat Command A, hatte seit dem Feldzug in Afrika nicht mehr so viele deutsche Flugzeuge gesehen wie über Crailsheim33 , die 7. US-Armee seit ihrer Landung in Südfrankreich keine solche Luftwaffenunterstüt• zung mehr beobachtet wie bei den Kämpfen in Nordwürttemberg.34 Am 8. und 9. April begann die Lage für die abgeschnittenen amerikanischen Pan­ zerbrigaden "alle Charakteristika eines zweiten Bastogne anzunehmen"35, und selbst ein massiver Einsatz von Transportflugzeugen, die auf dem Flugplatz nahe der um­ kämpften Stadt landeten und große Mengen von Benzin, Munition, Verpflegung, auch Blutplasma, herbeischafften, konnte die Situation nicht entscheidend verbessern. Die Amerikaner, die keine Vorstellung davon hatten, wie stark die deutschen Kräfte, die ihnen hier zusetzten, tatsächlich waren, und die bei der Besetzung eines Landes, das den Krieg definitiv verloren hatte, keinerlei Wagnis eingehen wollten, brachen des­ halb das mißglückte Umfassungsmanöver an Jagst und Neckar ab, nahmen ihre Pan­ zerspitzen auf kurzem Wege um etwa 20 Kilometer nach Norden zurück und räum• ten Crailsheim am Abend des 10. April. Dieser Rückzug sollte als die einzige größere Schlappe der Invasionsarmee während ihrer Schlußoffensive gegen Deutschland in die Militärgeschichte eingehen. Die Ortschaften des Taubergrundes, der Hohenloher und Haller Ebene im Bereich des relativ schmalen amerikanischen Panzerkeils gegen Crailsheim, die bis dahin bei­ nahe ganz vom Krieg verschont geblieben waren, hatten den Widerstand der Wehr­ macht, der in diesem Stadium des Krieges durch nichts mehr zu rechtfertigen war, mit fürchterlichen Zerstörungen und zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung zu bezahlen. Etwa 40 Dörfer und Weiler waren allein hier im Raum Crailsheim von den gut zwei Wochen hin- und hergehenden Kampfhandlungen direkt betroffen, manche Ortschaften mehrfach. Nachweisbar ist, daß dabei mindestens 110 Zivilperso­ nen - vermutlich aber sehr viel mehr - ums Leben kamen, über 300 landwirtschaftli­ che Gebäude und etwa 300 Wohngebäude von amerikanischen wie deutschen Bom­ ben und Granaten total zerstört wurden. Eine noch viel größere Zahl wurde beschä• digt.36 Besonders verheerende Verwüstungen erlebte beispielsweise die Gemeinde

j2 Zu den in Crailsheim eingesetzten deutschen Truppen vgl. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 223 und S. 233. Blumenstock, Einmarsch, S. 48 und S. 71. Siehe auch die German Foreign Military Study B-348 ("Bericht über die Kampfhandlungen im Bereich der 1. Armee in der Zeit v. 24.3. bis 8.5. 1945"; Wolf Hauser), S. 11, und B-703 ("Der Kampf der Heeresgruppe G im Westen. Abschlußkämpfe in Mittel- und Süd• deutschland bis zur Kapitulation"); MGFA Freiburg, Dokumentenzentrale. J3 Vgl. Nichols, Impact (10th Armored Division), S. 243. H Seventh United States Army, Report of Operations, 1II, S. 777. " So stark überzeichnend Nichols, Impact (10th Armored Division), S. 239. 36 Berechnet für die Zeit v. 4. 4. bis 21. 4.1945 nach den Angaben bei Blumenstock, Einmarsch, S. 47ff. Die folgenden Angaben eben da, S. 179, S. 180, S. 62, S. 131 und S. 185fl. Vergleicht man die Angaben bei Blu­ menstock, Einmarsch, mit den Zahlen im Historischen Atlas von Baden-Württemberg, hrsg. v. der Kom­ mission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landesvermes­ sungsamt Baden-Württemberg, Stuttgart 1972-1988, so zeigt sich, daß die Zahl der Opfer insgesamt höher gewesen sein muß als noch bei Blumenstock Dorf für Dorf und Stadt für Stadt angegeben. 1. Letzte Kämpfe 785

Wolpertshausen, in der 34 Häuser und 60 Scheunen vernichtet wurden, oder etwa Ils­ hofen, wo 96 Gebäude in Trümmer gelegt wurden. Während der Beschießung des Weilers Gütach erstickten in einem Keller 16 Einwohner, die dort Schutz gesucht hatten; in dem kleinen Städtchen Niederstetten wurden bei taktischen Bombarde­ ments und Artilleriebeschießungen 18 Einwohner getötet, 86 Wohnhäuser, 40 Scheu­ nen, 20 Ställe und 9 andere Gebäude zerstört. Untergegangen war auch das alte Crails­ heim, das die Amerikaner am 21. April wiedereroberten. Nicht weniger als 570 der 1082 Gebäude waren durch Bomben, Granaten und Brände völlig vernichtet, die übri• gen fast alle stark beschädigt. Von den einst 10.000 Einwohnern hielten sich noch ganze 540 Personen in Crailsheim auf. "Die Stadt ist noch ein roter Feuerofen und der Brandgeruch dringt überall ein", schrieb eine Studienrätin in ihr Tagebuch, als in dem nordwürttembergischen Kreisstädtchen der Krieg schließlich vorüber war. 37 Jedoch, bevor die Nachkriegszeit begann und eine allgemeine Erleichterung über das Ende der Bedrohung durch Bomben und Granaten wie über das Ende der Bedro­ hung durch den Terror von Parteifunktionären, Kampfkommandanten und unerbittli­ chen SS-Führern38 die Oberhand gewinnen konnte, kehrten die Deutschen noch ein­ mal für zehn gespenstische Tage nach Crailsheim und in die umliegenden Dörfer zurück. Die wenigen hundert Menschen in den Trümmern der Stadt nahmen von der unerwarteten Rückkehr der "Verteidiger der Heimat" mit wenig Begeisterung Notiz. So zog im Morgengrauen des 11. April ein "großer ungeordneter Haufen" von Ge­ birgsjägern durch die Straßen, wie eine Lehrerin in ihrem Tagebuch festhielt: "Er­ schöpft, mutlos, fast waffenlos ziehen sie dem Feind entgegen. Nirgends ein Maschi­ nengewehr, etwa jeder fünfte hat ein Gewehr, hie und da baumelt eine Eier­ handgranate am Gürtel. Manche schieben den Tornister auf Kindersportwägen vor sich her. Keiner von den frierend am Straßenrand Stehenden freut sich über die Landsleute und darüber, daß wir ,wieder deutsch' sind. ,Die bringen uns feindliche Tieffliegerangriffe!' - ,Wenn es nur zu Ende wäre!'''39 Kurz nach dem Wiedereinzug der deutschen Truppen erscheinen auf dem Crails­ heimer Flughafen ein General und ein , die dort gründliche Untersuchungen an­ stellen. Sie wollen Offiziere und Mannschaften des Horstes vor ein Militärgericht stel­ len, weil die befohlenen Sprengungen nicht gründlich genug ausgeführt worden waren und die amerikanischen Transportflugzeuge hier fast ungehindert landen und starten konnten. Am 14. April wagt sich Hänel in die Stadt zurück, der inzwischen einen Nervenzusammenbruch hinter sich hat und vom Kampfkommandanten der Stadt, einem SS-Hauptsturmführer, selbst heftig unter Druck gesetzt wird. Wüste Drohungen mit Aufhängen und Erschießen gegenüber jedermann sind jetzt an der Tagesordnung. Alle arbeitsfähigen Männer werden zum Bau von Panzersperren in den Straßen und Gassen der Stadt befohlen, deren Sinn, zumal es keine Verteidiger für sie gibt, niemand mehr einzusehen vermag. Bei den amerikanischen Aufklärungsflugzeu-

" Tagebucheintragung der Studienrätin Elise Walter, Crailsheim, v. 22. 4. 1945; zit. nach Konrad Rahn, Kriegschronik der Stadt Crailsheim im Frühjahr 1945, masch., Crailsheim 1955, S. 141. In allen Details hat Werner Martin Dienei, dem ich für seine Unterstützung danke, die letzten Kriegswochen in Crailsheim be­ schrieben. Vgl. z. B. dessen Artikelserie "Es geschah vor 20 Jahren: Ende des Zweiten Weltkrieges im Kreis Crailsheim" vom April 1965 im Hohenloher Tagblatt. 38 Vgl. VII/2. 39 Tagebucheintragung der Studienrätin Elise Walterv. 11.4.1945; zit. nach Rahn, Kriegschronik, S. 133. Das folgende nach ebenda, S. 103 H. 786 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland gen und Spähtrupps muß freilich der Eindruck entstehen, Crailsheim werde in eine wahre Festung verwandelt, die um jeden Preis verteidigt werden soll. Von der Bevöl• kerung wird dieses Spiel mit dem Feuer "mit großer Erbitterung"40 verfolgt. Zu einer Verteidigung Crailsheims am 20. und 21. April 1945 ist es dann nicht mehr gekom­ men, aber es fand sich auch niemand, der die Stadt übergeben hätte. Der Kreisleiter der NSDAP und die SS-Truppen flüchteten, und nachdem die Amerikaner die Stadt mit fürchterlichen Bombardements und Beschießungen "sturmreif" gemacht hatten, zogen sie elf Tage nach ihrem überraschenden Rückzug erneut und nun auf Dauer in Crailsheim ein. Von den Bauern der umliegenden Ortschaften wurden die für einige Tage zurück• gekehrten deutschen Soldaten ebenfalls mit großem Argwohn betrachtet. Im ungefähr 20 Kilometer nördlich der Stadt gelegenen Blaufelden bestürmte der Bürgermeister die Verteidiger, den Ort "zu verlassen, da sie doch bloß Unglück brächten. Der Offi­ zier war darüber etwas aufgebracht, verstand aber doch, daß es hier um mehr ging als um militärische Gesichtspunkte. Er unternahm wenigstens nichts gegen die Bürger, die diese Wünsche vortrugen."41 In dem etwa auf halbem Wege zwischen Blaufelden und Crailsheim gelegenen Wallhausen wehte bereits ein schärferer Wind. Nach der Wiederbesetzung war hier ein Kaufmann erschossen worden, weil er angeblich "deut­ sche Soldaten verraten" hatte, und am Abend seiner Ankunft in Crailsheim rief Kreis­ leiter Hänel hier einen Mann seines Vertrauens an und befahl diesem, die Straße mit einer Panzersperre blockieren zu lassen - "auf Weigerung stehe der Kopf"42. In dem Dörfchen Roßfeld war der Bürgermeister, seit 38 Jahren im Amt und erst seit 1942 NSDAP-Mitglied, dem Feind bei der ersten Besetzung mit der weißen Fahne entgegengegangen und hatte damit eine Beschießung seiner Ortschaft verhin­ dern können. Dann kam die Wehrmacht nach Roßfeid zurück: "Die Parteigenossen jubelten über den ,Sieg' und die ,Befreiung"', einige Sodaten "nahmen den Einwoh­ nern ihre Fahrräder ab, ,um dem flüchtenden Feind nachzujagen"', schildert der evan­ gelische Pfarrer die Tage des deutschen Interims. ,,Aber jedem Einsichtigen war klar, daß die Amerikaner wiederkommen würden, und daß bis dahin erneut schwere Tage bevorstünden." Besonders hart traf es nun den Bürgermeister. Zwei deutsche Offiziere holten ihn nachts "unter den gemeinsten Umständen" aus dem Bett und brachten ihn nach Ellwangen, wo er von der SS verhört wurde. Von dort kam er in ein Stuttgarter Gefängnis. Unmittelbar vor dem Anrücken der Amerikaner wurde er mit anderen Ge­ fangenen und etwa 200 Zwangsarbeitern in einem der berüchtigten Fußmärsche nach Süden evakuiert. Über Friedrichshafen gelangte er Ende April schließlich wieder nach Roßfeld zurück; die Besatzungsmacht ließ ihn - "nach dem, was er erlebt habe" - im Amt. Zu welcher Dramatik sich die Ereignisse um Crailsheim herum gesteigert hatten, zeigte sich kurz vor der Wiederbesetzung durch amerikanische Truppen. Da traf in Roßfeld nämlich ein deutscher Meldefahrer mit dem Befehl an die Einwohnerschaft ein, "sie sollten beim Einrücken der Amerikaner ihre Häuser anzünden! Daß die

40 Umfangreicher ungezeichneter Bericht "Crailsheim in den letzten Kriegsmonaten" aus dem Jahre 1948; HStA Stuttgart, J 170, Gemeindeberichte 2. Weltkrieg, Büschel 4. " "Gemeinde Blaufelden. Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage im März und April des Jahres 1945" v. 15.9.1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 4. 41 "Orts-Chronik von Wall hausen 1945"; ebenda. 1. Letzte Kämpfe 787

Stimmung dementsprechend bei den Bauern gegen die Soldaten und vor allem gegen die SS war", berichtet der Pfarrer von dort, "läßt sich denken. Es waren das kritische Tage. Und die Nachrichten über Erhängung, Erschießung und Verschleppung deut­ scher Zivilisten durch eigene Truppen ließen Schlimmstes erwarten."43 Am 21. April zogen die Amerikaner, ohne daß es noch zu nennenswerten Kampfhandlungen ge­ kommen wäre, dann in Roßfeld ein. In Goldbach, einem westlichen Nachbarstädtchen von Crailsheim, hingen aus eini­ gen Fenstern noch weiße Tücher, als die Wehrmacht am 10. April in den Ort zurück• kehrte.44 Hier war es der evangelische Pfarrer, der mit viel Geschick versuchte, ein­ zelne deutsche Soldaten und Spähtrupps ebenso rasch wie huldvoll weiterzukompli­ mentieren. Er hatte damit offenbar auch einigen Erfolg, denn die SS-Einheiten be­ gnügten sich damit, überall die schreiend roten Plakate mit einer "Bekanntmachung" des Kommandierenden Generals des XIII. SS-Armeekorps Simon auszuhängen. Sie waren nach der am 10. April im nahegelegenen Brettheim erfolgten Erhängung dreier Bürger45 gedruckt worden und drohten allen "feigen, selbstsüchtigen und pflichtver­ gessenen Verrätern" und deren Familien mit der ,,Ausmerzung". Nahm irgendein Of­ fizier oder SS-Mann Anstoß an den weißen Fahnen in Goldbach, so konnte es hier zu denselben Terrormaßnahmen kommen. "Nicht wahr", sagte der der NSDAP mit Blick auf das Verhalten der Einwohnerschaft zu dem Pfarrer, "diesmal hat die SS noch Gnade walten lassen!" Außerdem bat er den Geistlichen, den selbst­ bewußten Goldbacher Bürgermeister doch schon einmal von dem Befehl Himmlers46 in Kenntnis zu setzen, in dem es hieß: ,,Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen." Keinerlei Gnade dagegen ließen jene Häscher walten, die vom 11. bis zum 19. April 1945 noch einmal in das wenige Kilometer flußabwärts von Crailsheim gelegene Kirchberg an der Jagst einzogen. Diese eine Woche benutzten -Beamte und ein SS-Kommando nämlich dazu, "Säuberungsaktionen gegen Ortsanwesende" durchzuführen, "die beschuldigt worden waren, mit dem Feind in Verbindung gestan­ den zu haben. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde auch der damals amtierende Bür• germeister Wirth von der SS abgeführt, weil der das Hissen weißer Fahnen angeordnet hatte. Am 14.4.45 wurden drei polnische und ein französischer Kriegsgefangener als der Spionage verdächtig festgenommen und noch am gleichen Tage ohne nähere Un­ tersuchung der einzelnen Fälle auf dem freien Platz in Kirchberg erschossen. Eine Frau Karszinskij wurde unter dem gleichen Verdacht von SS-Offizieren Verhören un­ terzogen und am 16.4. 45 außerhalb der Stadt an einer Feldscheuer ebenfalls erschos­ sen."47 Diese Ereignisse hätten großes Aufsehen und Empörung unter der Einwohner-

" Bericht des evangelischen Pfarramts von Roßfeld über die letzten Kriegstage an den Oberkirchenrat der württembergischen Landeskirche v. 5.6. 1945; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-45. 44 Vgl. die Darstellung des evangelischen Pfarrers zu den letzten Kriegstagen in Goldbach vom Oktober 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. " Vgl. hierzu Elke Fröhlich, Die Herausforderung des Einzelnen. Geschichten über Widerstand und Verfol­ gung, in: Bayern in der NS-Zeit, Bd. VI, hrsg. von Martin Broszat und Elke Fröhlich, München 1983, S.235ff. 46 Befehl Himmlers v. 29.3. 1945; BA/MA, RH 20-19/196. 47 "Kirchberg-Jagst. Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage und der Besetzung im April 1945", un­ gezeichneter Bericht vom Herbst 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 4. Der Name des weiblichen SS-Op­ fers wurde geändert. Vgl. auch den Bericht des evangelischen Stadtpfarramtes Kirchberg/Jagst an das Deka- 788 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland schaft erregt, "die keinerlei Gründe für eine derartige brutale Maßnahme finden konnte", heißt es in dem Bericht aus Kirchberg weiter. Der kampflose Einzug der amerikanischen Besatzungstruppen am 20. April, so steht darin ferner zu lesen, habe in der Bevölkerung "eine gewisse Beruhigung" erweckt, und zwar vor allem wegen des Bewußtseins, "daß damit wenigstens die Kämpfe ihren Abschluß gefunden haben". Mit der erneuten Besetzung von Crailsheim und Umgebung durch die U.S. Army ging ein im Verlaufe der amerikanischen Besetzung Deutschlands singuläres Inter­ mezzo zu Ende - die Rückkehr deutscher Soldaten und SS-Kommandos in ein Ge­ biet, in dem man den Krieg schon überstanden geglaubt hatte.48 Diese Episode läßt erahnen, was die kriegsmüden "Volksgenossen" erwartet hätte, wenn Wehrmacht und SS noch die Kraft besessen hätten, den Streitkräften Eisenhowers wirkungsvolleren Widerstand entgegenzusetzen und häufiger als nur ein einziges Mal in größerem Um­ fange "Gelände zurückzugewinnen". Dann hätte der Terror gegen die eigene Bevölke• rung, gegen die insbesondere die SS-Verbände manchmal nicht schonender vorgingen als zuvor gegen die Bevölkerung in den besetzten Ländern, ein Vielfaches an Blutop­ fern gefordert, dann hätten die Zerstörungen noch viel verheerendere Ausmaße ange­ nommen, und die Zahl der bei Kampfhandlungen umgekommenen Zivilisten wäre ungleich höher gewesen. Doch so blieben viele Orte verschont, und manchem Terro­ risten in Uniform fehlten einfach Zeit, Gelegenheit und die genügende Ermutigung, seine Drohungen auch in die Tat umzusetzen. Im Falle einer amerikanischen Besetzung erst nach einer Serie hin und herwogen­ der Gefechte hätten auch die Military Government Detachments in Deutschland nicht so problemlos Fuß fassen können, sondern viel länger und zunächst mit viel we­ niger Erfolg nach kooperationswilligen Männern und Frauen Ausschau halten müs• sen. In Crailsheim jedenfalls stieß die Militärregierung, wie einem After Action Report des XXI. Corps zu entnehmen ist, anfänglich auf für sie gänzlich ungewohnte Schwie­ rigkeiten: "Crailsheim war die erste Stadt", lesen wir in dem Bericht, "in der es auf be­ trächtliche Schwierigkeiten stieß, einen Bürgermeister zu finden, der sich bereit zeigte zu amtieren. Es wird angenommen, daß der Grund für das Zögern von Anti-Nazis, ein öffentliches Amt zu übernehmen, in der Tatsache zu sehen ist, daß die 10. Panzerdivi­ sion die Stadt genommen hatte und sich dann wieder zurückzog, mit dem Resultat, daß die Anti-Nazis, die Farbe bekannt hatten, Repressalien durch die Nazis ausgesetzt waren. Anscheinend zauderten sie aufgrund dieser Vorkommnisse, sich hervorzuwa­ gen."49 In den übrigen Städten und Landkreisen des bis um den 20. April 1945 herum um­ kämpften nördlichen Süddeutschland wiederholte sich zwar nirgends ein ähnlicher Vorgang wie im Raum Crailsheim, doch brachte das Kriegsende im Dreieck der Re­ gion Aschaffenburg-Ansbach-Heilbronn fast überall noch einmal Terror, Tod und Zerstörung im Übermaß. In einem Gemeindebericht aus dem unmittelbar an der württembergisch-bayerischen Landesgrenze gelegenen, noch zum Kreis Crailsheim gehörigen Hausen am Bach, das nicht von wechselnden Besetzungen heimgesucht,

natamt Langenburg v. 4. 5. 1945, in dem diese Ereignisse ebenfalls geschildert sind; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-45. 48 Im Herbst 1944 hatte die Wehrmacht im Westen unter ganz anderen Rahmenbedingungen lediglich einige kleinere Ortschaften des Saarlandes und des Gebietes südlich Aachens vorübergehend zurückgewinnen können. Siehe II/3. 49 XXI Corps, After Action Report for Week Ending 28 April 45 v. 28.4. 1945; NA, RG 407, Box 5272. 1. Letzte Kämpfe 789 aber dennoch furchtbar zerschossen wurde, ist die verzweifelte Lage vieler Ortschaften und Städte in Nordbaden, Nordwürttemberg und Nordbayern im April 1945 in die Sätze gefaßt: "Vor uns ein Feind, der rücksichtslos auch unsre wehrlosen Dörfer be­ schoß, und hinter uns der Terror der SS, die jeden Versuch, nutzloses Zerstören und Blutvergießen zu verhindern durch unsere Bevölkerung, als Verrat mit Erhängen be­ strafte! Schweigend und gedrückt erwartete man den weiteren Gang der Ereignisse."5o In den beiden Wochen zwischen der ersten (6. April) und zweiten Besetzung Crails­ heims (20./21. April) waren in den übrigen Abschnitten der 7. U.S. Army die Kämpfe gegen die Reste der Heeresgruppe G überall zügig vorangegangen. Die raschesten Er­ folge machte dabei das XV. Corps am linken Flügel der Armee, das bereits am 7. April Neustadt an der Saale am Fuße der Rhön erreichte und anderntags Kontakt zu den Verbänden General Pattons herstellte, die dabei waren, durch Mitteldeutschland zur Mulde vorzustoßen. Im mittleren Abschnitt der Armee von Alexander M. Patch hat­ ten die Divisionen des in Richtung Nordwesten vorgehenden XXI. Corps am 6. April Würzburg, am 7. April Bad Mergentheim und vier Tage später Schwein furt besetzt. Am 12. April war im Südabschnitt der Armee inzwischen Heilbronn an das VI. Corps gefallen. Mit der Eroberung der Stadt und dem Übergang der Amerikaner über Jagst und Kocher brach die deutsche Verteidigung auch hier zusammen. Durch die Löwen• steiner Berge stießen die 63rd und die 100th Infantry Division dann binnen einer Wo­ che nach Stuttgart vor. Am 17. April fiel Schwäbisch Hall, Schwäbisch Gmünd am 20. April. Die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung und die Zerstörungen, die der Wi­ derstand der zurückgehenden deutschen Heeresgruppe allein in Nordwürttemberg und Nordbaden provoziert hatte, waren (ähnlich wie in dem schmalen Crailsheimer Einbruchsraum) wiederum enorm.51 In den ersten drei Aprilwochen wurden allein im nördlichen Württemberg bis etwa zur Linie Stuttgart-Schwäbisch Gmünd und im äu• ßersten Norden Badens östlich des Neckars wenigstens 200 Städte, Dörfer oder Weiler von Kampfhandlungen unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen. Dabei fanden unter der Zivilbevölkerung insgesamt 2170 Männer, Frauen und Kinder den Tod, im Land­ kreis Heilbronn allein 596 Menschen. Nachweisbar ist ferner die totale Zerstörung von ungefähr 4500 Kirchen, Schulen, Wohnhäusern, Scheunen und Ställen. Manche Ortschaft fiel dabei in letzter Stunde in Schutt und Asche. In Baden traf es das vom Infanterie-Regiment 316, von Flak-Kampftrupps der SS-Kampfgruppe Dirnagel und 17jährigen Marinekadetten verteidigte Königshofen an der Tauber mit am schwersten. Nach der Besetzung durch die 4th Infantry Division waren 75 Prozent der Stadt, 612 Gebäude, völlig zerstört, 13 Einwohner kamen um.52 Das kleine Ödheim an der un­ teren Kocher, wo sich ebenfalls Waffen-SS verschanzt hatte, lag zehn Tage lang im Feuer. Es verlor dabei 35 Einwohner; 120 Gebäude, meist Scheunen, wurden völlig zerstört. Weinsberg, von wo aus die deutsche Artillerie in die Kämpfe um Heilbronn eingegriffen hatte, wurde am 12. April von amerikanischen Jagdbombern angegriffen

50 "Die letzten Kriegstage in Hausen am Bach im April 1945", ungezeichneter Gemeindebericht von Herbst 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. 51 Die folgenden Angaben basieren auf der Grundlage von Blumenstock, Einmarsch. Zugleich auf den Anga­ ben bei Heinz Badura, Kriegsschäden in Baden-Württemberg 1939-1945, in: Historischer Atlas von Ba­ den-Württemberg 1939-1945, VII, 11, Erläuterungen. " Vgl. Blumenstock, Einmarsch, S.44. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 208 f. Die folgenden Angaben nach Blumenstock, Einmarsch, S. 116 und S. 144f. 790 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland und in ein Trümmerfeld verwandelt. 280 Gebäude waren danach total zerstört, 1200 Einwohner obdachlos geworden, 14 Weinsberger starben, 70 Prozent der Altstadt wa­ ren vernichtet. Man schätzt, daß allein im nördlichen Württemberg und Baden etwa 2000 deutsche Soldaten gefallen sind, beinahe dreimal mehr als auf seiten der Amerikaner. Die in al­ len Belangen überlegene 7. U.S. Army verlor während des April- dem Monat, in dem sie gleichwohl die höchsten Verluste seit der Landung in Südfrankreich erlitt - in ih­ rem gesamten süddeutschen Operationsraum nur ungefähr die gleiche Zahl von Sol­ daten, die von den deutschen Kommandeuren allein zwischen Main und Neckar in den Tod geschickt wurde. 53 In den Tod geschickt deshalb, weil hier ein immobiles, miserabel ausgerüstetes und vollkommen ungenügend bewaffnetes Sammelsurium von Truppen ohne Panzerfahr­ zeuge und ausreichend Munition zum Kampf gegen eine turmhoch überlegene Ar­ mee befohlen wurde: Sie sollten Eisen mit Blut aufwiegen. Kein Kommandeur, der nicht gewußt hätte, daß dies nicht bloß ein ungleicher Kampf, sondern pures "Verhei­ zen" war. Argumente militärischer Vernunft, aus denen irgendein Sinn, irgendeine Be­ rechtigung für eine so hartnäckige Versteifung des Widerstands gewonnen werden konnten, gab es im Westen im letzten Kriegsmonat für keinen Befehlshaber und kei­ nen Kompanieführer mehr. Am 1. April war das Ruhrgebiet eingeschlossen; als die 10th Armored Division Crailsheim räumte, hatte die 9. U.S. Army die EIbe erreicht; am 16. April begann die Schlußoffensive der Roten Armee aus der Oder-Stellung her­ aus; als die Amerikaner sich Crailsheim wieder zu nähern begannen, gingen nach der Liquidierung des "Ruhrkessels" über 300.000 Soldaten der Wehrmacht in Gefangen­ schaft. Die Tatsachen sprachen jetzt eine unmißverständliche Sprache. Doch es waren inzwischen weniger denn je die nüchternen Tatsachen, an denen die deutsche politi­ sche und militärische Führung ihr Handeln orientierte.54 Eisenhower setzte mittlerweile sein strategisches Konzept Zug um Zug in die Rea­ lität um. Nachdem die erste Phase der Schlußoffensive der Allied Expeditionary Force mit dem Erreichen der EIbe am 11. April abgeschlossen war, legte der Oberste Be­ fehlshaber die Grundzüge für den zweiten Abschnitt des Vorstoßes fest. Es war Eisen­ howers letzte operative Entscheidung im Feldzug gegen Deutschland. Am 11./12. April besprach er sich mit den Generälen Bradley, Patton und Hodges55 und unter­ 56 breitete am 14. April den Combined Chiefs of Staff seinen Plan : Sein Ziel sei es, "die Niederlage der Deutschen in kürzest möglicher Frist zu vollenden". Dazu sollten die Armeen im Norden nach Lübeck vorstoßen und so Dänemark und Norwegen ab­ schneiden, wo noch mehrere deutsche Divisionen standen. Die Armeen an der EIbe und Mulde sollten ihre Positionen konsolidieren, die Verbände im Süden durch Bay­ ern entlang der Linie Nürnberg-Regensburg-Linz donauabwärts vorstoßen und den Kontakt mit der Roten Armee herstellen. Durch eine solche Operation könne auch

53 Berechnungen nach den Angaben im Report of Operations der 7. US-Armee, I1I, S. 1037 H. Zugleich nach Blumenstock, Einmarsch, S. 221. 54 Vgl. VII!2. " Vgl. Bradley, Blair, A Genera!'s Life, S. 426 ff. Vgl. auch George S. Patton, Krieg, wie ich ihn erlebte, Bem 1950, S. 210. 56 Telegramm Eisenhowers an die ces v. 14.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2604ff. 1. Letzte Kämpfe 791 der Verfestigung des deutschen Widerstandes in einer ,,Alpenfestung" ("National Re­ doubt")57 vorgebeugt werden. Schon am nächsten Tag wurde dieser Plan in den entsprechenden Befehlen an die drei Army Groups umgesetzt.58 Die Hauptrolle bei der Besetzung Süddeutschlands fiel der Third United States Army unter dem frischgebackenen Vier-Sterne-General George S. Patton am rechten Flügel der 12th Army Group zu. Die Seventh Uni ted States Army am linken Flügel der Group hatte deren Flanke zu decken und dabei ihrerseits in der groben Richtung Augsburg - Garmisch-Partenkirchen - Inns­ bruck vorzugehen. Die Trennungslinie zwischen den beiden Armeen lief von Darm­ stadt über Würzburg, Ansbach, Freising, Dorfen, Rosenheim zur österreichischen Grenze bei Kufstein. Eisenhowers Plan machte eine diffizile, aber rasch bewältigte Drehung der Angriffsachse notwendig, die bereits eingeleitet wurde, noch ehe der ent­ sprechende Befehl des Obersten Befehlshabers ausgefertigt war. 59 Die Corps von Ge­ neral Patton starteten am 19. April ihren Angriff in Richtung Regensburg; zuvor wa­ ren schon Kulmbach (13. 4.), Bayreuth (14. 4.) und Hof (15. 4.) gefallen. Bei der 7. US-Armee begannen - während im Südabschnitt General Brooks seinen Angriff ge­ gen Stuttgart startete - das linke und das mittlere Corps am 11. April von nordöstli• cher auf südöstliche Richtung zu drehen. Im Zuge ihres Vorstoßes von der Rhön auf Nürnberg wurde die 7. U.S. Army er­ neut in Kämpfe verwickelt, die westlich von Regnitz und Ludwigskanal für wenige Tage noch einmal ähnlichen Charakter annahmen wie die mühseligen Gefechte im nördlichen Württemberg und Baden. Wiederum war es das XIII. SS-Armeekorps un­ ter Max Simon - nach dem zähen Widerstand an Main und Neckar und dem "Sieg" 60 von Crailsheim in Selbstbewußtsein und Kampfmoral gestärkt -, das ungeachtet der militärischen Gesamtlage und ohne die geringste Rücksichtnahme auf die einheimi­ sche Bevölkerung jeden Weiler als willkommene VerteidigungssteUung mißbrauchte; vor allem die Einheiten des amerikanischen XXI. Corps bekamen es im Steigerwald und südlich davon mit Simons Truppen zu tun. Das zwischen Bamberg und Bayreuth operierende XV. Corps von General Haislip dagegen kam gegen die abgekämpften Einheiten des Generalleutnants Tolsdorf zügig in Richtung Nürnberg voran. Dabei konnten sich die 3rd und die 45th Infantry Divi­ sion aus der Perspektive der beinahe mit leeren Händen dastehenden Verteidiger schier unglaublicher Finessen bedienen. Zur Unterstützung des nächtlichen Vormar­ sches setzten die amerikanischen Verbände Flutlicht ein, tagsüber forderten sie Unter­ stützung durch tieffliegende Aufklärungsflugzeuge (P-51) an: "Dicht über dem Boden fliegend, meldeten die Piloten ihre Beobachtungen per Funk direkt an die Leitstelle des Corps, die dann die Informationen über Straßen, Brücken, Gewässer, Flußufer, feindliche Stellungen und eigene Linien weitergab. P-51-Piloten dirigierten auch Ar­ tilleriefeuer, leiteten Jagdbomber zu lohnenden Zielen und fotografierten auf Anfor­ derung ArtilleriesteIlungen, Truppenkonzentrationen oder Gelände. Die Negative

57 Siehe hierzu VII/4. ,. Telegramm an die 21., 12. und 6. Armeegruppe v. 15.4. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2611 f. ,. Vgl. MacDonald, Last Offensive, S. 421 und S. 425. 60 So die nützliche, aber schwer verdauliche Darstellung von Spiwoks, Stöber, Endkampf, S.233. 792 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland wurden zum Stützpunkt geflogen, entwickelt und beim Gefechtsstand des Corps ab­ geworfen."61 Am 13. April war Bamberg, am 14. Forchheim und am 16. Erlangen erreicht.62 Am selben Tag begann Haislips Corps den Angriff auf Nürnberg, den "Schrein der Nazi­ partei". Das benachbarte, aus dem Raum Schweinfurt-Kitzingen in Richtung Ansbach vorgehende XXI. Corps unter Generalmajor Frank W. Milburn wurde nach Durch­ querung des Steigerwaldes in den mittelfränkischen Landkreisen , Uffen­ heim, , Rothenburg ob der Tauber, Ansbach und Fürth - insbe­ sondere längs der Aisch und der Zenn - an mehreren Brennpunkten in Gefechte mit Einheiten und Kampfgruppen wiederum des XIII. SS-Armeekorps verwickelt.63 Man­ che von ihnen verfügten zwar noch über einige erfahrene Soldaten und eine Handvoll Panzerfahrzeuge, insgesamt aber standen im Corps-Abschnitt auf etwa 100 Kilometer Breite den drei mächtigen amerikanischen Divisionen nur mehr gut 3000 Mann ge­ genüber - wiederum die bekannte, für die deutschen Soldaten von Anfang an voll­ kommen aussichtslose, selbstmörderische Ausgangslage. Die Versteifung der Kämpfe hier im Vorfeld Nürnbergs wurde sowohl in der Wochenanalyse der Feindaufklärung von SHAEF wie vom Wehrmachtsbericht aufmerksam registriert.64 Am 14. April hatte Höchstadt an der Aisch noch gegen geringen Widerstand ge­ nommen werden können, doch an diesem und den drei folgenden Tagen wurden we­ gen der gewissenlosen Kampfführung der eigenen Truppen ähnlich wie zuvor schon in Mainfranken65 und in Nordwürttemberg auch hier zahlreiche vom Krieg bisher kaum gezeichnete Dörfer und Städtchen noch schwer in Mitleidenschaft gezogen. Bei vielen von ihnen glich das Resultat ganz den traurigen Bilanzen aus Baden und Würt• temberg. Im westlichen Steigerwald etwa wurden die Dörfer Hellmitzheim, Dorn­ heim und Neuzenheim stark betroffen, und Ulsenheim im Landkreis Uf­ fenheim zu Dreivierteln, Herbolzheim und die Kreisstadt selbst zu mehr als einem Drittel zerstört.66 Weiter südlich erlitten Cadolzburg, Groß-Habersdorf, Heilsbronn oder etwa Leutershausen schwere Schäden67 Dazwischen, in , Wilherms­ dorf und Neuhof an dem Flüßchen Zenn (wo die "Kampfgruppe Hobe" am 15. und

61 Seventh United States Anny, Report of Operations, III, S, 791 f. Das folgende Zitat ebenda, S. 790. 62 Hierzu Donald G. Taggart (Hrsg,), History of the Third Infantry Division in World War 11, Washington 1947, S. 352 ff. Leo V. Bishop, Frank J. Glasgow, George A. Fisher (Hrsg.), The Fighting Forty-Fifth. The Combat Report of an Infantry Division, Baton Rouge 1946, S. 170 ff. Zum Kriegsende in Erlangen vgl. auch Hildebrand Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung im Frühjahr 1945, in: Martin Broszat, Elke Fröhlich, An­ ton Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. IV: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C, München 1981, S. 656, 6, Die Situation auf der deutschen Seite nach Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 234 ff. Zugleich nach den Tages­ meldungen des Ia des Generalkommandos XIII. SS-A.K. an das Anneeoberkommando; BA/MA, R 52- 13/1. 64 SHAEF, G-2, Weekly Intelligence Summary v. 22. 4.1945; NA, RG 331, Intelligence Reports 1942-45, En­ try 13. Wehnnachtsbericht v. 16.4. 1945: "Unsere Front zwischen Neustadt an der Aisch und dem Neckar südlich Heilbronn hielt starken Angriffen stand." Die Wehnnachtsberichte 1939-1945, Bd. 3:Januar 1944 bis Mai 1945, München 1985. " Die Bilanz der sinnlosen Zerstörungen in Nordwestbayern ist in allen Einzelheiten der akribischen Studie von Stadtmüller, Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, zu entnehmen. 66 Vgl. Rainer Hambrecht, Geschichte im 20. Jahrhundert: Die Bezirksämter/Landkreise Neustadt a.d. Aiseh, Scheinfeld und 1919-1972, in: Landkreisbuch von Neustadt/Aisch- 1981, S.406. 67 Hans Woller, Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986, S. 55 f. 1. Letzte Kämpfe 793

16. April mit einigen hundert Mann und acht Panzern eine ihrer berüchtigten "Vertei­ digungslinien" aufbaute), brachte der von jedermann als nutzlos und gefährlich ange­ sehene deutsche Widerstand ebenfalls Schrecken und Verwüstung im Übermaß. In der Marktgemeinde , am 16. April heftigem Beschuß ausgesetzt, gelingt es, den Feind sieben Stunden lang aufzuhalten. Dabei verlieren 29 junge Sol­ daten, überwiegend des Jahrgangs 1926 oder 1927, ihr Leben.68 Im Nachbarort Neu­ hof an der Zenn gehen am 15. April ebenfalls ganz junge Soldaten der Waffen-SS, "Kinder-SS"69, in Stellung. Die Bevölkerung verkriecht sich in den Kellern, und am Abend beginnt die ganze Nacht hindurch anhaltender Beschuß durch die Amerikaner. Der Marktflecken geht in Flammen auf. Hitze und Qualm treiben die Schutzsuchen­ den schließlich aus den Kellern: "Durch Rauch und Asche, glühende Balken und Steine flohen wir aus dem brennenden Häusermeer hinaus aufs freie Feld", beschreibt eine Frau diesen Tag später. "Das erste was wir sahen, war eine Kette amerikanischer Soldaten, mit dem Gewehr im Anschlag. Deutsche verwundete Soldaten riefen im Hof und Garten bei K. um Hilfe. Wir machten die Amerikaner auf sie aufmerksam, damit sie sich ihrer annahmen. Uns wiesen sie an das Zennufer. Gegenüber auf der anderen Seite standen Panzer an Panzer, die immer noch in das lichterloh brennende Neuhof schossen."7o 75 Wohnhäuser, 62 Scheunen und 90 Nebengebäude waren ein Raub der Flammen geworden, sieben Männer, Frauen und Kinder starben. Für die größeren Städte westlich Nürnbergs ging der Einmarsch der U.S. Army dagegen rela­ tiv glimpflich ab. Neustadt an der Aisch wurde am 16. April besetzt1\ in Ansbach zo­ gen die Amerikaner am 18., in Fürth am 19. April ein, ohne daß es dort noch zu grö• ßeren Gefechten gekommen wäre {"schwacher Widerstand").72 Der Stoß des XXI. Corps auf Ansbach und Fürth war natürlich Teil der Operation der 7. US-Armee gegen Nürnberg, das vor allem durch den Bombenangriff vom Ja­ nuar bereits vollständig verwüstet war. Hitler hatte befohlen, die "Stadt der Reichspar­ 73 teitage" bis zum letzten Mann zu verteidigen , und in Karl Holz hatte er ausnahmsweise einen Reichsverteidigungskommissar, der solch einen Befehl wirklich wörtlich nahm, sogar persönlich Stoßtrupps gegen amerikanische Panzer anführte. Nach dem Fall der Stadt wurde er tot in einem Keller aufgefunden.74 Noch am 17. April hatte er in einem Gaulagebericht einerseits die Aussichtlosigkeit der Lage ange­ deutet, andererseits aber bekräftigt, "unter allen Umständen in Nürnberg zu bleiben

68 Vgl. die Dokumentation von Theodor Georg Riehert, Die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges im Gebiet des Sehulverbandes Wilhennsdorf (masch.); StA Nümberg, Bestand: Die letzten Tage des 2. Weltkrieges in Wilhennsdorf, Nr. 2454/4. 69 So tituliert Reinhold Maier, Ende und Wende. Das schwäbische Schicksal 1944-46. Briefe und Tagebuch­ aufzeichnungen, Stuttgart 1948, S. 232, die in Württemberg eingesetzten Einheiten der Waffen-SS. '0 Schilderung von Fränzi Reuter aus Neuhof; zit. nach Theodor Georg Richert, Neuhof an der Zenn im April 1945, in: Fürther Heimatblätter 17 (1967), Nr. 5, S. 160. Die Schadensangaben ebenda, S. 167. 71 Hugh C. Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Infantry Division. A Combat History of World War 11, Baton Rouge 1946, S. 841. 72 Die Besetzung beider Städte ist in allen Einzelheiten beschrieben bei Woller, Gesellschaft und Politik, S. 45 ff. Das Zitat aus dem Report of Operations der Seventh U.S. Anny, III, S. 795. 73 Vgl. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 254 und S. 301. Zu den Kämpfen um Nürnberg ebenda, S. 300ff. Vor allem auch Wolfgang Zorn, Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zum Bundesland, München 1986, S. 505 ff. 74 Eine ausführliche Schilderung von Kampfeinsatz und Ende der NSDAP-Gauleitung in Nürnberg gibt der Bericht ,,An Old Fighter" im Anhang 3 des Weekly Intelligence Summary Nr. 7 der 80th Infantry Division v. 10.7. 1945; NA, RG 407, Box 12004. 794 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland und lieber kämpfend zu fallen, als diese Stadt zu verlassen"75. Zwei Tage später stan­ den die Soldaten der 45th Infantry Division am alten Stadtmauerring, am Abend des 20. April 1945 hißten die Amerikaner die Stars and Stripes am Adolf-Hitler-Platz, auf dem der "Führer" bei den Reichsparteitagen die endlosen Vorbeimärsche abgenom­ men hatte. Der Symbolgehalt dieser Zeremonie hätte kaum größer sein können, und die Besatzungsmacht wußte das auszukosten. Am Tag nach der Eroberung des "Schreins des Nazitums"76 hielt das XV. Corps in Anwesenheit der Generäle Patch und Haislip auf dem weltberühmten Platz im Herzen der Stadt eine große Siegespa­ rade ab, ,Jagdbomber schlossen sich der Parade an, indem sie den Zug aus der Luft deckten"77. Am nächsten Tag sprengten die Amerikaner das große, die Parteitags tri­ büne überragende Hakenkreuz in die Luft. Über 90 Prozent aller Gebäude der Stadt waren zerstört, als in Nürnberg die Waffen schwiegen. 8076 Luftkriegsopfer waren zu beklagen, 371 Zivilisten hatten bei den letzten Kämpfen noch ihr Leben verloren.78 Mit dem Fall Nürnbergs und Stuttgarts war der Zusammenbruch des letzten Wi­ derstands in Süddeutschland besiegelt. Auch in stand die U.S. Arrny inzwi­ schen, in schoß sowjetische Artillerie bereits in das Stadtzentrum, jeden Tag war die Vereinigung der amerikanischen Divisionen mit den zwischen Oder und EIbe rasch vorankommenden Verbänden der Roten Armee zu erwarten; danach würde die Lage auf den Flügeln in Norddeutschland und in Süddeutschland "bedeutungslos" (Kesselring) sein.79 Damit war das Ende da. Hitler stellte das höchstpersönlich in jener Konferenz im Bunker der Reichskanzlei am 22. April 1945 fest, die mit seiner "Gene­ ralanklage gegen die Feigheit, die Niedertracht und die Treulosigkeit der Welt" be­ gann und mit dem Nervenzusammenbruch des "Führers" endigte. Hitler hatte sich jetzt entschlossen, in Berlin zu bleiben. Den Vorschlag der Wehrrnachtsführung, die im Westen verbliebenen Einheiten jetzt nach Osten zu werfen, lehnte er ab, da "doch alles auseinanderginge". Dem Kreis seiner militärischen Berater habe er nach einer AufzeichnungJodls an diesem 22. April zugerufen: "Was heißt: Kämpfen!, da ist nicht mehr viel zu kämpfen."80 Am selben 22. April 1945 war sich auch General Patton, dessen 3. Armee an die­ sem Tag zu ihrer Schlußoffensive beiderseits der Donau in Richtung Linz, zum "gro­ ßen Kehraus" startete, vollkommen darüber im klaren, daß jetzt das "Kriegsende in Sicht war"81. Auch im Bereich der benachbarten Seventh U.S. Arrny war mit dein Er­ reichen der Linie Stuttgart-Nürnberg bereits vierzehn Tage vor der bedingungslosen

75 "Lagebericht Gau Franken, 17.4. 1945, durchgegeben von Gauleiter Holz 23.30 Uhr", zit. nach Martin Broszat, Elke Fröhlich, Falk Wiese mann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. I: Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte, München 1977, S. 688. Am 20. 4. 1945 wech­ selten Hitler und der Gauleiter zwei letzte, heroisch-dramatisch gefärbte Funksprüche. Vgl. Report of Operations der Seventh U.S. Army, III, S. 795 f. Allgemein zum Kriegsende in Nürnberg: Erhard Mossack, Die letzten Tage von Nürnberg, Nürnberg 1952. Robert Fritzsch, Nürnberg im Krieg. Im Dritten Reich 1939- 1945, Düsseldorf 1984. 76 The Stars and Stripes, 21. 4. 1945. 77 Seventh Uni ted States Army, Report of Operations, BI,' S. 796. Siehe auch Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Fourty-Fifth (45th Infantry Division), S. 178 f. 78 Fritzsch, Nürnberg im Krieg, S. 107. 79 , Soldat bis zum letzten Tag, Bonn 1953, S. 392. 80 Zit. nach Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt 1973, S. 1007. Ebenda, S. 1006f., auch die übrigen Zitate. Zum Nervenzusammenbruch Hitlers vgl. auch Marlis G. Steinert, Die 23 Tage der Regie­ rung Dönitz, Düsseldorf 1967, S. 37. 81 Patton, Krieg, S. 221. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 795

Kapitulation das Ende militärischer Operationen, die diesen Namen noch verdienten, gekommen. Überall begann nun, was das Alliierte Oberkommando "Entwaffnung des Feindes durch Gefecht" nannte.82 Sogar der Generalstabschef des berüchtigten XIII. SS-Armeekorps, das in den ersten drei Wochen des April 1945 in Nordwürttemberg und Franken der Hauptwidersacher der Amerikaner gewesen war, räumte später ein, daß nach dem Fall Nürnbergs "infolge der eigenen Unterlegenheit und völligen Er­ schöpfung der Truppe kaum noch ernstlich Widerstand geleistet werden konnte"83. So waren die letzten Operationen der alliierten Armeen in Süddeutschland in der Tat weniger vom Widerstand der Wehrmacht als von den schwierigen Verkehrsbedingun­ gen auf den verstopften bayerischen Landstraßen bestimmt.84

2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus": Die Erschöpfungskrise in Wehrmacht und Bevölkerung

Ein Krieg bis "fünf nach Zwölf" Die Führung des Deutschen Reiches, an deren Spitze Hitler bis zu seinem Selbstmord unangefochtene Autorität ausübte, dachte nicht daran, die naheliegende Schlußfolge• rung aus dieser Kriegslage zu ziehen. Statt dessen setzte sie in einzigartiger Bedenken­ losigkeit und bewußtem Verrat85 am eigenen Volk den Anfang 1945 völlig aussichts­ los gewordenen Kampf auch tatsächlich "bis fünf nach Zwölf" fort - genau so, wie es Hitler immer angekündigt hatte. Wann immer der Moment anzusetzen ist, zu dem eine patriotisch gesinnte Staatsführung die Waffen spätestens hätte strecken müssen, im Januar 1945 war die Uhr jedenfalls abgelaufen. Jetzt war sogar die noch 1944 nicht gänzlich irreal erscheinende Chance dahin, wenigstens ein glimpfliches Kriegsende herbeizuführen. Der Entschluß zur Kapitulation nach dem Scheitern der Offensive im Westen und dem Durchbruch der Roten Armee im Osten hätte Hunderttausenden von Soldaten und Zivilisten das Leben gerettet und Dutzenden von deutschen Städ• ten und Dörfern die Vernichtung erspart. Doch - und auch hier zeigen Anfänge und Ende des Nationalsozialismus verwandte Züge - was ohne Hitler vorstellbar gewesen wäre, war mit ihm undenkbar. Da Hitler auch im Fall nichts von seiner Stärke, der "Verachtung der Wirklichkeit"86, eingebüßt hatte, diese, im Gegenteil, wieder in uner­ hörtem Ausmaße in den Vordergrund trat, war es für sein Handeln bedeutungslos, wie die wirkliche Lage des Reiches war. Ohne einen einzigen Gedanken der Einsicht in die Konsequenzen zu zeigen, die seinem Volk aus diesem monomanischen Starrsinn entstanden, folgte er allein dem Dogma seiner politischen Laufbahn, "niemals, nie­ mals" zu kapitulieren. Man kann das eine "Strategie des grandiosen Untergangs"87, "Zerstörungssucht"88, mit einigem Recht sogar ein Programm zur "Staatsvernichtung"

82 Seventh Uni ted States Army, Report of Operations, III, S. 805. 8J Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 309. 84 So Pogue, Supreme Command, S. 456. Zur militärischen Entwicklung in Süddeutschland während der letz- ten vierzehn Tage des Krieges siehe VII! 4. " Vgl. Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 185. 86 Fest, Hitler, S. 926. 87 Ebenda, S. 911. 88 Allan Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1967, S. 763. 796 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

und des "Volkstods"89 nennen, sicher ist, daß das Handeln der deutschen Führung im letzten Vierteljahr des Krieges an keinerlei realem, an der tatsächlichen Situation ent­ wickeltem Kalkül, sondern nur und ausschließlich an Dogmen, Axiomen und Illusio­ nen orientiert war. Die Entfremdung zwischen Führung und Volk erreichte jetzt noch einmal eine ganz neue Stufe. Vieles deutet darauf hin, daß Hitler ebenso wie sein Chef des Wehrmachtführungs• stabes, Jodl, schon 1942 keine Möglichkeit mehr gesehen hat, die deut­ schen Kriegsziele mit Waffengewalt zu erreichen.90 Die Rückschläge des Jahres 1943 konnten diese Einsicht nur bestätigen, und im Spätsommer 1944 war nach den Maß• stäben der Vernunft der Zeitpunkt gekommen, die Konsequenzen aus der katastro­ phalen militärischen Lage zu ziehen. Genau dies hatten die Feldmarschälle Rommel und von Kluge vor ihrem Tod dem Obersten Befehlshaber in eindringlichen Appellen auch nahegelegt ("Das deutsche Volk hat solch unsagbare Leiden erduldet, daß es Zeit ist, diesem Schrecken ein Ende zu bereiten."91). Auch Hitler selbst hatte in den Monaten zuvor keinen Zweifel daran gelassen, daß ein Einbruch des Feindes auf breiter Front im Westen in kurzer Zeit zu unabsehbaren Folgen führen müsse.92 Andererseits wird man in solchen Äußerungen weniger eine nüchterne Prognose als den Versuch Hitlers sehen müssen, seinen Soldaten die Be­ deutung der kommenden Schlacht im Westen möglichst eindringlich vor Augen zu führen. Im Spätsommer 1944 war der Oberste Befehlshaber dann zu dem Kalkül ge­ langt, in einer gewaltigen Anstrengung noch einmal alles auf eine Karte zu setzen und den Versuch zu wagen, mit einer letzten großen Offensive die Initiative zurückzuge• winnen. Hitler gelang es dann auch, für diesen Versuch in der Spitze des Reiches, bei der Armee und in weiten Teilen der Bevölkerung noch einmal Reserven zu mobilisie­ ren und Funken von Begeisterung freizusetzen. Dieser letzte Versuch, der sich in dem 93 Großangriff in den Ardennen manifestierte , hatte einige Logik für sich, und es ist wohl eine verkehrte Deutung, bereits in diesem von breiter Unterstützung getragenen Schritt ein Unternehmen zu sehen, mit dem Hitler das deutsche Volk bestrafen ("und zwar mit dem Tode") wollte.94 Mehr als fraglich ist es andererseits freilich, ob Hitler einen erfolgreicheren Verlauf der Winteroffensive im Westen tatsächlich zum Ausgangspunkt einer politischen In­ itiative gemacht hätte. Nach der Kriegswende von seinen Mitarbeitern und Beratern wiederholt gebeten, politische Schritte zur Rettung der Situation zu erwägen, hatte Hitler diesen sinngemäß immer entgegengehalten, es sei "natürlich kindisch und naiv"95, ohne militärischen Erfolg politisch initiativ zu werden. Selbst oder gerade dann, wenn es ihm gelungen wäre, dem Heer der Westmächte in Belgien eine uner-

89 Haftner, Hitler, S. 184 und S. 185. 90 Vgl. hierzu die Einleitung Percy Ernst Schramms zum Kriegstagebuch des OKW (Wehrmachtführungs• stab), Bd. IV/I, Frankfurt 1961, S. 55f. Siehe auch Haftner, Hitler, S. 181. 91 Abschiedsschreiben des OB West, Günther von Kluge, an Hitler v. 18.8. 1944; abge- druckt in: Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1573ft., Zitat S. 1576. 92 Siehe die Einleitung von Percy Ernst Schramm zum Kriegstagebuch des OKW, IV/I, S. 57 f. 93 Vgl. IV/I. 94 Vgl. Haftner, Hitler, S. 191 H., Zitat S. 196. 9> So in einer Lagebesprechung mit Generalfeldmarschall Keitel, Generalleutnant Krebs und Generalleutnant Westphal am 31. 8. 1944 in der Wolfsschanze; Helmut Heiber (Hrsg.), Hitlers Lagebesprechungen. Proto­ kollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942-1945, Stuttgart 1962, S. 614. Vgl. überdies Fest, Hit­ ler, S. 948 f. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 797 wartete Schlappe mit womöglich weitreichenden Folgen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten beizubringen, hätte wohl Hitlers prinzipielle Unfähigkeit zur Konsolidierung die Oberhand behalten. Während seiner ganzen politischen Laufbahn und noch während der ersten Kriegshälfte hatte er in Erfolgen, auch nach eigenem Bekenntnis, immer nur den Ausgangspunkt für den nächsten Schlag zu sehen ver­ mocht. Er hatte auch seine von vielen als theatralisch zugespitzte Tirade mißverstan• dene Maxime "Weltmacht oder Untergang" immer wortwörtlich gemeint. Dem "Füh• rer" und Reichskanzler war es prinzipiell unmöglich, in der einen wie in der anderen Richtung auf halbem Wege stehenzubleiben. Doch es war nicht Hitlers persönliche Unbedingtheit allein. Verhandlungen in diesem Stadium des Krieges nach dem stets verlachten bürgerlich-diplomatischen Muster - darüber wird sich in der Führungs• spitze mancher im klaren gewesen sein - würden selbst bei annehmbaren Resultaten fraglos das Ende einer Bewegung und eines Regimes bedeuten, die nichts mehr verab­ scheuten als den Komprorniß und vom Mythos heroischer Unerbittlichkeit lebten. Ein Einlenken hätte die Selbstentmachtung des Nationalsozialismus nur beschleunigt. Da Hitler weiterhin unangefochten an der Spitze stand, Staat und Streitkräften nach dem 20. Juli 1944 schärfer denn je diktierte, stand das rasch wachsende Lager der Kriegsmüden, Desillusionierten und Oppositionellen nach der Jahreswende 1944/45 vor der erschreckenden Erkenntnis, der Fortführung eines jetzt offenkundig sinnlos gewordenen und noch dazu auf eigenem Territorium auszufechtenden Kampfes bei­ zuwohnen, eine "lenkende Energie am Werk" zu sehen, "die gleichsam bewirkte, daß das Reich nicht einfach endete, sondern unterging"96. Für Hitler und Goebbels, für Teile der SS und für ein dahinschmelzendes Häuflein von Funktionären der NSDAP trifft die Diagnose des "Katastrophenwillens" und der "Untergangsromantik"97 gewiß zu. Das gilt schon nicht mehr für die meisten anderen Figuren des engsten Führungszirkels (weder für die Göring, Himmler und Ribbentrop oder gar für einen Speer), und selbstverständlich trifft für alle Schichten der kriegsmü• den deutschen Gesellschaft gerade das Gegenteil dieses Befundes zu, nämlich die Dia­ gnose eines unbedingten Willens, dieses Regime und diesen Krieg zu überleben. Ende Januar, Anfang Februar 1945 war für jeden, der keinem realitätsblinden Wunder- und Führerglauben anhing, einsichtig geworden, daß Wehrmacht, Staat und Partei über• haupt kein plausibles Ziel mehr verfolgten, sondern nur noch die eigene Existenz zu verlängern trachteten, ein sinnloses und verbrecherisches "Vabanque-Spiel auf Kosten der eigenen Bevölkerung"98 betrieben. In den Augen dieser Bevölkerung war das nach einem Bericht der SD-Außenstelle Schweinfurt von April 1945 nichts anderes als "hinhaltender Widerstand bis zur Katastrophe", einer Katastrophe, "die unsere Füh• rung aus naheliegenden Gründen möglichst weit noch hinausschieben möchte, da sie selbst dabei zu Grunde gehe"99. Angesichts derartiger Gewissenlosigkeit war die seit 1942/43 sich ständig erwei­ ternde Kluft zwischen Volk und Führung im letzten Vierteljahr des Krieges schließ• lich unüberwindlich geworden. Nun, da keinerlei Möglichkeit mehr bestand, den wei-

96 Ebenda, S. 988. 97 Ebenda, S. 996 und S. 997. 98 Manfred Messerschmidt, Die Wehnnacht in der Endphase. Realität und Perzeption, in: APuZ B 32/33 (1989), S. 38. 99 Bericht der SD-Außenstelle Schweinfurt an die Hauptaußenstelle Würzburg v. 22.4. 1945; zit. nach lan Kershaw, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980, S. 186. 798 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland teren Kriegsverlauf noch nennenswert zu beeinflussen, traten in der Propaganda, aber auch bei Hitler und seiner Umgebung, bizarre Dogmen und Motive vollends in den Vordergrund. Sie fanden keinen wirklichen Adressaten mehr, sondern dienten vor al­ lem der Autosuggestion einer Führung, die das Land in eine ausweglose Lage ma­ növriert hatte. Eine Karte, auf die die deutsche Führung nicht ganz ohne Berechti­ gung zu setzen schien, war die gegen Kriegsende immer häufiger wiederholte Prophe­ zeiung, die "unnatürliche Koalition" der beiden großen kapitalistischen Staaten mit der kommunistischen Sowjetunion werde über kurz oder lang an ihren inneren Wi­ dersprüchen zerbrechen. Das war die eingestandenermaßen "letzte politische Kriegs­ these" (Goebbels)100, an die sich eine deutsche Führung klammerte, die aus eigener Kraft nichts mehr zum Bruch der Anti-Hitler-Koalition beitragen konnte. Dies war nach dem Sommer 1944 aber kaum mehr als eine illusionäre Hoffnung, wie Hitler und seine Umgebung, die die strikten Forderungen und Erklärungen der Feind­ mächte genau kannten, geahnt haben müssen. Darauf die Fortführung des Kampfes zu gründen, bedeutete nach der geglückten Invasion der Alliierten nichts anderes, als Wunschdenken zur Grundlage der eigenen Entscheidung zu machen. Spätestens seit Frühjahr 1945 hatte sich überall im Volk die Überzeugung durchgesetzt, daß auch von den Konflikten innerhalb der gegnerischen Koalition kein Heil mehr zu erwarten war. Die Bevölkerung sehe keinen Ausweg mehr aus der gegenwärtigen Lage, hieß es Ende März in einem Stimmungsbericht aus Berlin: "Daß Kriegsmüdigkeit oder politische Gründe den Feind zum Aufgeben zwingen könnten, hält man allgemein für ausge­ schlossen. Ein Volk, das eine gut begründete Aussicht auf den Sieg habe, gebe nicht auf, wenn es auch noch große Opfer bringen müsse. Und bis Deutschland am Boden läge, würde das Bündnis der Alliierten schon halten, soviel Konfliktstoffe auch zwi­ schen den Feindmächten vorhanden wären."IOI Als die Alliierten den Rhein bereits auf breiter Front überschritten hatten, sugge­ rierte man sich in der Spitze des Reiches gegenseitig nach wie vor den abwegigen Ge­ danken, es werde vielleicht doch noch zu einer wunderbaren politischen Wende kom­ men. Der "Führer" vertraue "unentwegt auf seinen guten Stern", hielt der Propagan­ daminister am 28. März 1945 in seinem Tagebuch fest. "Man hat manchmal den Eindruck, als lebte er in den Wolken. Aber er ist ja schon so oft wie ein Deus ex ma­ china aus den Wolken herniedergestiegen. Er ist nach wie vor überzeugt, daß die poli­ tische Krise im Feindlager uns zu den größten Hoffnungen berechtigt."lo2 Noch wirklichkeitsfremder als die These vom Bruch des feindlichen Bündnisses wa­ ren bereits auf den ersten Blick zwei weitere ,,Argumente", die während der Schlußphase zur Rechtfertigung der Fortsetzung des Krieges herhalten mußten: zum einen die Behauptung, der Verlust des Krieges und der Sturz des Regimes sei gleich-

100 Eintragung v. 5.3.1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 95. Dieses Thema nahm den ganzen März über breiten Raum ein. Die Eintragung v. 22.3. 1945 nach einem Gespräch mit Hitler lautete hierzu: "Die feindliche Koalition wird unter allen Umständen zerbrechen; es handelt sich nur darum, ob sie zerbricht, bevor wir an der Erde liegen, oder erst dann, wenn wir schon an der Erde liegen. Wir müssen also unter al­ len Umständen dafür sorgen, daß ein militärisches Desaster bis zu diesem Zeitpunkt vermieden wird."; ebenda, S. 289. 101 ,,24. Bericht über den ,Sondereinsatz Bedin' für die Zeit vom 23.3.-29.3. 1945" der Amtsgruppe Wehr­ machtspropaganda im OKW v. 31. 3. 1945; zit. nach Volker Berghahn, Meinungsforschung im "Dritten Reich". Die Mundpropaganda-Aktionen der Wehrmacht im letzten Kriegsjahr, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1/1967, S. 114. 102 Eintragung v. 28.3. 1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 361. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 799

bedeutend mit der Vernichtung des deutschen Volkes, zum anderen die primitive Pa­ role, Glauben und Wille des einzelnen seien jetzt ebenso wie zur "Kampfzeit" Fakto­ ren, von denen der Ausgang des Krieges vor allem abhänge. 103 Nicht anders als sein Propagandaminister in einer Flut von Artikeln, verstand es auch Hitler selbst, diese bei den Motive eindringlich und scheinbar plausibel miteinander zu verknüpfen. Es sei nur eine Frage, "wer es länger aushält", sagte er einem hohen Offizier beispielsweise zur Jahreswende 1944/45. "Derjenige muß es länger aushalten, bei dem alles auf dem Spiel steht. Bei uns steht alles auf dem Spiel. Wenn der andere eines Tages sagt: Jetzt haben wir es satt, passiert ihm nichts. Wenn Amerika sagt: Aus, Schluß, wir geben keine Jungens mehr für Europa, passiert nichts; New York bleibt New York, Chicago bleibt Chicago, Detroit bleibt Detroit, San Francisco bleibt San Francisco. Es ändert sich gar nichts. Wenn wir heute sagen würden: Wir haben es satt, wir hören auf - dann hört Deutschland auf zu existieren."lo4 Offensichtlich war es Hitler im Eifer sei­ ner Argumentation entgangen, daß die souveräne Stärke der Vereinigten Staaten und die verzweifelte Schwäche Deutschlands in diesem Stadium des Krieges kaum an­ schaulicher gegeneinandergehalten werden konnte. Die mit allerlei Vergleichen aus der Geschichte umkleidete These von der Kraft des Willens und die Beschwörung des Endes deutscher Existenz, die in internen Bespre­ chungen bezeichnenderweise mit derselben Selbstverständlichkeit gebraucht wurden wie in der Propaganda und die den Vorzug hatten, einstweilen weder bewiesen noch widerlegt werden zu können, waren allzu gesucht und allzu offensichtlich aus der Ver­ legenheit geboren, keine näherliegenden Argumente präsentieren zu können, als daß solche luftigen Ausreden der Bevölkerung noch irgendwelche Impulse vermitteln konnten. Allein die von Goebbels weiterhin kräftig geschürte "Russenangst" war nach wie vor ein enormer psychologischer Faktor, obgleich auch eine Besetzung durch die Rote Armee von der Bevölkerung nicht mit dem Untergang des deutschen Volkes gleichgesetzt wurde. Prekär nahm sich die Lage 1945 vor allem für die Eliten des Re­ gimes aus. Der alten Garde der Partei, aber auch manchem Soldaten, Beamten oder Wirtschaftsführer blieb jetzt wenig mehr, als sich verzweifelt an die Hoffnung zu klammern, "daß der Mann, dem sie alles verdankten, doch noch einen Ausweg finden werde"lo5. Nach dem Rhein-Übergang der Alliierten bestätigte Hitler während einer der zahl­ reichen Lagebesprechungen erstmals und eher beiseite Dritten gegenüber, daß er 106 den Krieg verloren wußte - angesichts der militärischen Entwicklung im Westen (die inzwischen auch nach Auffassung des wahrlich nicht zum Fatalismus neigenden Goebbels "in ein außerordentlich kritisches, fast tödlich erscheinendes Stadium hin­ eingeraten"lo7 war) an sich keine überraschende Feststellung des Obersten Befehlsha­ bers der Wehrmacht, andererseits aber doch eine sensationelle Eröffnung für einen

103 Vgl. beispielsweise: Fest, Hitler, S. 915 und S. 987. Herfried Münkler, Machtzerfall. Die letzten Tage des Dritten Reiches dargestellt am Beispiel der hessischen Kreisstadt Friedberg, Berlin 1985, S. 54f!. 10' Besprechung Hitlers mit Generalmajor Thomale am 29.12.1944 im ,," bei Ziegenberg; zit. nach Kriegstagebuch des OKW, IV /2, S. 1647. 105 Bullock, Hitler, S. 766. 106 Das berichtete Kammhuber als Ohrenzeuge nach dem Krieg. Vgl. Walter Baum, Der Zusammenbruch der obersten deutschen Führung, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 10 (1960), S. 237. 107 Eintragung v. 25.3. 1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 310. 800 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Mann, "der lieber Millionen Menschenleben opferte, als seine Niederlage zuzuge­ ben"loB. Nicht einmal in engeren Führungszirkeln wurde dieses Eingeständnis vorerst freilich wirklich publik. Daß Hitler seine Sache verlorengegeben hatte, wurde den engsten Mitarbeitern erst klar, als der "Führer" am 22. April 1945 den erwähnten Nervenzusammenbruch erlitt. Zu dieser Zeit war Hitler, der keineswegs in einer "Scheinwelt" lebte und ebenso wie die Wehrmachtsführung genau wußte, "was die Stunde geschlagen hatte"I09, allerdings bereits seit drei, vier Wochen mit der Umsetzung seines "letzten Kriegsführungskon• zepts, der Strategie des grandiosen Untergangs" 110, befaßt. Neben den ungerührt er­ teilten Befehlen zur Zerstörung lebensnotwendiger Industrie- und Versorgungsanla­ gen 111 stehen die theatralischen und lächerlichen Details des Versuchs, einen Helden­ Mythos zu kreieren, steht die Neigung, "außerhalb der Realität nach Zeichen und Hoffnungen zu suchen". Und seine Umgebung folgte ihm, wie es von Joachim Fest so eindringlich beschrieben wurde, "auch jetzt noch nahezu widerspruchslos in die im­ mer durchsichtiger gewobenen Gespinste aus Selbsttäuschung, Wirklichkeitsverzer­ rung und Wahn". Dr. Ley sah in soeben erfundenen "Todesstrahlen" den Ausweg, Dr. Goebbels besorgte zwei günstige Horoskope, und als am 13. April die Nachricht von Roosevelts Tod in Berlin eintraf, kam im Bunker vierzehn Meter unter der Reichs­ kanzlei Sektlaune auf, wurden kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal schiefe Parallelen zu den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts gezogen. Außerhalb des Führerbunkers erwartete niemand mehr ein zweites "Mirakel des Hauses Brandenburg". Reinhold Maier notierte an diesem Tage, "nichts, gar nichts" spreche dafür, daß sich die Geschichte wiederholen werde. 112 Im Landkreis Aalen schrieb ein Lehrer, der durchaus national dachte und sich darüber hinaus auch einige Versatzstücke der nationalsozialistischen Propaganda zu eigen gemacht hatte, am 16. April entmutigt in sein Tagebuch: "Präsident Roosevelt von U.s.A. ist plötzlich ge­ storben. Damit ist einer der größten und einflußreichsten Kriegstreiber vom Schau­ platz des Krieges abgetreten. Leider ist unsere Niederlage schon so weit gediehen, daß dieser Todesfall kaum einen Einfluß auf den Krieg in Europa haben wird. Die Kriegs­ maschine läuft auch in den U.s.A. auf vollen Touren und so nahe an ihrem Ziele wird wohl niemand ihr Einhalt tun können und wollen. Wir werden das ganze Leid und Elend, in das wir hineingezerrt worden sind, durchstehen und durchkosten müssen. Wer hätte das noch vor einem Jahrzehnt gedacht, als Hitler auf der Höhe seines Ruh­ mes und seiner Macht stand."113 An diesem 16. April begann die Rote Armee mit zweieinhalb Millionen Mann und über 6000 Panzern ihre Offensive gegen Berlin, zwei Wochen später erschoß sich Hitler in seinem Bunker. Der "Führer" und Reichskanz­ ler hatte seine Prophezeiung wahrgemacht. Es gab kein zweites 1918. Alle konnten mit eigenen Augen sehen, daß das deutsche Heer im Felde und noch dazu auf eige­ nem Boden besiegt worden war.

108 Bullock, Hitler, S. 783. 109 Messerschmidt, Wehnnacht in der Endphase, S. 45. 110 Fest, Hitler, S.989. Die beiden folgenden Zitate S. 1000 und S. 994. Vgl. auch den Klassiker von Hugh Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, Frankfurt 1965. 111 Vgl. VII. 112 Maier, Ende und Wende, S. 209. 113 "Kriegstagebuch 1945 u. ff." eines Gewerbeschulrats a.D. aus Hofen im Landkreis Aalen; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 1. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 801

Wie die übrigen Verantwortlichen, so hatte auch die hohe Generalität in der eng­ sten Umgebung Hitlers, ein Keitel, Jodl oder Dönitz etwa, und im Westen Soldaten vom Schlage eines Model und Kesselring, nichts unternommen, um dem Untergangs­ kurs ihres Führers entgegenzusteuern. Dabei wäre es von den objektiven Einflußmög• lichkeiten her vor allem das hohe Offizierkorps gewesen, das dem "um fünf nach Zwölf" entfachten Blutbad unter dem eigenen Volk am ehesten hätte Einhalt gebieten können. Aber die Generalität, der nach dem Scheitern des 20. Juli das Rückgrat ge­ brochen war und gegen die Hitler einen elementaren Vernichtungshaß zu entfalten begann 11 \ fand insgesamt nicht mehr die Kraft zur mäßigenden Einwirkung. Ge­ wöhnlicher Opportunismus, inhaltsleer gewordene Loyalität, das Wissen um die ei­ gene Verstrickung in die deutschen Verbrechen, Angst vor dem Terror des Regimes und ein pervertierter Patriotismus, der dem Vaterland zu dienen meinte, aber nur der spätestens seit Anfang 1945 klar zutage liegenden Selbstzerstörungssucht Hitlers zuar­ beitete, lähmten alle Initiative einer militärischen Führung, die sich inzwischen längst jedes eigenen militärischen Urteils begeben hatte. Als der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht dann zur Inszenierung seiner Untergangsstrategie schritt, fanden sich zwar einige Generäle, die resignierten, sich abberufen, auswechseln und beurlauben ließen, aber in den Arm fiel dem Diktator keiner mehr. Zehn Tage nach der Kapitula­ tion fragte ein hoher amerikanischer Offizier der Army Air Force den Chef des Wehr­ machtführungsstabes, weshalb die Deutschen nach dem Rheinübergang der Alliierten Ende März nicht die Konsequenzen gezogen hätten. Generaloberst wußte nach den Aufzeichnungen im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht darauf nur zu antworten: "Politisch war es nicht möglich. Krieg hatte ganz andere For­ men als frühere Kriege angenommen. Für unsere Staatsführung blieb kein anderer Weg als bis zum letzten zu kämpfen."1l5 Unter den Truppenkommandeuren zeigte während der "apokalyptischen Phase"116 des letzten Vierteljahres des Krieges manch einer mehr Zivilcourage als seine Vorgesetzten. Auf heimischem Boden kämpfend, führte bei einer ganzen Reihe von Offizieren die erschütternde Erfahrung, daß die Be­ völkerung in den eigenen Soldaten nunmehr die größte Bedrohung erblicken mußte, zu einer von Augenmaß und dem Bestreben nach größtmöglicher Schonung der Hei­ mat bestimmten Operationsführung. Viele verantwortliche Truppenführer verstanden es, nun verantwortlich zu handeln, und taten wirklich "nur noch als ob", wie der Ge­ neralstabschef des OB West, Siegfried Westphal, nach dem Kriege schrieb. 117

114 VgJ. die Äußerungen Hitlers gegenüber seinem Propagandaminister unmittelbar nach dem Attentat vom 20. juli 1944; Eintragung v. 23.7. 1944, Goebbels-Tagebücher 1944, HZ-Archiv, ED 172. 1" Aufzeichnungen von Major i. G. joachim Schultz-Naumann über die Ausführungen des Generalobersten jodl bei den Lagebesprechungen 12.5.-20.5. 1945, Notiz v. 19.5. 1945; in: Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1506. 116 Dieter Rebentisch, Hitlers Reichskanzlei zwischen Politik und Verwaltung, in: ders., Kar! Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göt• tingen 1986. 117 VgJ. Siegfried Westphal, Erinnerungen, Mainz 1975, S. 333. Einer der ersten, der sich bereits im September 1944 nicht scheute, seine Division in diesem Sinne zu führen, war Generalleutnant Gerhard von Schwerin; er geriet deswegen zu Beginn der amerikanischen Besetzung Deutschlands in einen schweren Konflikt mit seinen Vorgesetzten. Ein abstoßendes Beispiel realitätsblinden Haltens und Durchhaltens, das noch im April 1945 zu sinnlosem Blutvergießen unter Soldaten und Zivilisten führte, lieferte das XIII. SS-Armee­ korps unter Generalleutnant der Waffen-SS Max Simon mit seiner Kampfführung in Nordwürttemberg und Mittelfranken. V gJ. VIII 1. 802 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Die Wehrmacht Seit sich die Wehrmacht auf heimischem Territorium zum Kampf stellen mußte, hatte der nun schon fünf Jahre währende Krieg noch einmal sein Gesicht gewandelt und Soldaten wie Zivilbevölkerung in eine ganz neue Situation versetzt. Die Propa­ ganda des Regimes beschwor sogleich das Volk als Quell eines neuen Kampfesmutes, die Vision eines engen Schulterschlusses von Volk und Armee, der beide Seiten beflü• geln und jene Kraftreserven mobilisieren werde, vor denen eine materiell und zahlen­ mäßig zwar überlegene, letztlich aber "seelenlose" feindliche Kriegsmaschinerie am Ende kapitulieren müsse. Zusammengeschmiedet würden Bürger und Soldat auch durch die politischen Leiter der NSDAP, die Wesen und Ziel dieses Ringens deuten und zugleich Gelegenheit erhalten würden, im Angesicht unmittelbarer Bedrohung durch den Feind ihre politisch-moralische Führerschaft unter Beweis zu stellen. War in den vom Luftkrieg besonders betroffenen Regionen seit 1942/43 die Bedrohung des Soldaten und des Zivilisten bereits einander ähnlicher geworden, so wurde ab Herbst 1944 die Unterscheidung Heimat - Front nach und nach gegenstandslos. Wehrmacht, Partei, Bevölkerung saßen jetzt überall (wenigstens einige Tage lang) "im gleichen Boot"118. Es war zunächst ungewiß, ob diese Notstandskonstellation die deutschen Verteidi­ ger lähmen oder beflügeln würde. Die Amerikaner taxierten, als sie den Westwall erreicht hatten 119, mit einigem Unbehagen die Möglichkeiten, die Hitler nun zur Ver­ fügung stehen mochten, um den Invasoren in einer von Patriotismus und Furcht be­ flügelten Kraftanstrengung von Partei, Volk und Armee entgegenzutreten. Die Ame­ rikaner erkannten freilich, daß dies nur die eine Seite war. Sie zogen von vornherein auch die düstere, für jedermann in Deutschland auf der Hand liegende Kehrseite der jetzt drohend bevorstehenden Verteidigung des Vaterlandes ins Kalkül. Den Krieg fortzusetzen und Deutschland nicht nur in fernen Ländern oder äußerstenfalls an den Landesgrenzen, sondern auf heimischem Boden zu "verteidigen", bedeutete, unge­ heure Opfer und Verwüstungen in Kauf zu nehmen und die Heimat verteidigend zu zerstören. Es würde jetzt sehr auf die Art und Weise der "Wechselwirkung" zwischen Zivilbevölkerung und Armee ankommen, wie auch Hitler und Goebbels bewußt 120 war . Entscheidend bestimmt war dieses Verhältnis einerseits von der Verfassung, "der Moral" der Truppe, die auf heimisches Territorium zurückgekehrt war, und anderer­ seits von "Stimmung und Haltung" einer Bevölkerung, die der Hauptleidtragende des Krieges im eigenen Lande sein würde. Es war klar, daß beides, die Moral der Soldaten wie die Haltung der Zivilisten, eng mit der Glaubwürdigkeit des Regimes und seiner Repräsentanten auf sämtlichen Ebenen, vor allem aber der "Bewährung" des mit weit­ reichenden Befugnissen ausgestatteten Parteiapparates der NSDAP verknüpft war. Ständiger Bezugspunkt dabei war das Ende des Ersten Weltkrieges, als gemäß der

118 Münkler, Machtzerfall, S. 9. Münkler versteht es, in subtiler Weise die während des Einmarsches der U.S. Army tausendfach ähnlich wiederkehrende Konstellation vor und nach der Besetzung eines Ortes zu be­ schreiben und sie in ihren wesentlichen, über lokale Besonderheiten hinausgehenden Grundzügen zu in­ terpretieren. 119 Vgl. I1!2. 120 Vgl. die Eintragungen von Goebbels in seinem Tagebuch unter dem 28. 3.1945 und dem 31. 3.1945; in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 356 und S. 389. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 803 nach wie vor gültigen Lesart die unbesiegt im Felde stehende Armee von der Heimat, in der Bolschewismus und Defätismus die Oberhand gewonnen hatten, um die Fruchte des Sieges gebracht worden war. Die Wehrmacht hatte schon mehrere Kriegsjahre hinter sich, als sich in ihrem Ge­ füge die ersten ernstzunehmenden Anzeichen von "Defätismus" bemerkbar zu ma­ chen begannen.121 Obwohl der Aderlaß an Gefallenen, besonders auch unter den jün• geren Frontoffizieren 122, längst nicht mehr auszugleichen war, obwohl die verlorenen Schlachten des Jahres 1943 und die schweren Niederlagen in Rußland und Frankreich im Sommer 1944 auch vom einfachen Soldaten als deprimierende Rückschläge emp­ funden wurden, und obgleich die materielle Überlegenheit der Gegner und die immer unzureichender werdende Ausstattung der eigenen Armee im fünften Kriegsjahr nicht mehr wegzudiskutieren waren, konnte von einer allgemeinen Desintegration der Wehrmacht auch im Herbst 1944 - als die Invasionsarmee der Alliierten am "West­ wall" auftauchte - noch keine Rede sein. Ein Befehl des Oberkommandos der Wehr­ macht sprach im September nach dem Zusammenbruch der Armee in Frankreich zwar von ,,Auflösungserscheinungen der Truppe"123 im Westen, doch nach der Stabi­ lisierung der Front im Grenzgebiet'24 wurden solche Erscheinungen wieder seltener. Bis Ende November, Anfang Dezember 1944 hatte die Masse der Soldaten des Westheeres nach den erstaunlichen Abwehrerfolgen dort wieder Mut geschöpft, machte sich bei ihnen, ähnlich wie bei einem Teil der Bevölkerung, eine "langsame Stärkung der Stimmung"125 bemerkbar. Die Hälfte der Wehrmachtssoldaten glaubte (nach amerikanischen Erhebungen unter den deutschen Kriegsgefangenen) zu diesem Zeitpunkt, es werde gelingen, die Alliierten wieder aus Frankreich zu vertreiben. Das war der höchste bei solchen Meinungsumfragen ermittelte Wert seit der Invasion. 50 Prozent glaubten nach eigenen Angaben noch an einen deutschen Sieg, und bei­ nahe zwei Drittel der Landser bejahten gar die Frage, ob sie nach wie vor Vertrauen in den "Führer" hätten; sechs Wochen zuvor, nach dem Fall Aachens, hatten auf dieselbe Frage nur gut 40 Prozent eine zustimmende Antwort gegeben. 126 Einen Höchststand in der Moral der gleichwohl angeschlagenen deutschen Truppe registrierten die Ame­ rikaner mit Beginn der Ardennen-Offensive I 27, bei der es nach den Worten von Ge­ neralfeldmarschall Rundstedt "ums Ganze" ging, ein ähnliches ,,Aufleuchten", das der

121 Die wohl eindringlichste Darstellung zur Situation insbesondere des Führerkorps der Wehrmacht in den letzten Kriegsmonaten bei Georg Meyer, Zur Situation der deutschen militärischen Führungsschicht im Vorfeld des westdeutschen Verteidigungsbeitrages 1945-1950/51, in: Roland G. Foerster, Christian Grei­ ner, Georg Meyer, Hans-Jürgen Rautenberg und Norbert Wiggershaus, Von der Kapitulation bis zum Ple­ ven-Plan, München 1982, S. 577 ff. 122 Hierzu Bernhard R. Kroener, Auf dem Weg zu einer "nationalsozialistischen Volksarmee". Die soziale Öff• nung des Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg, in: Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke, Hans Wol­ ler (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 673f. l2J Befehl des OKW v. 23.9. 1944; zit. nach Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 42. 124 Vgl. I1/1. m So der Tenor in der Berichterstattung der Oberlandesgerichtspräsidenten von Anfang Dezember 1944; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 527. 126 Die Befragungsergebnisse bei M. I. Gurfein, MorrisJanowitz, Trends in Wehrmacht Morale, in: The Public Opinion Quarterly 10 (1946), S. 81. Beide Autoren waren führende Mitglieder der Psychological Warfare Division von SHAEF, Gurfein Chief of Intelligence dieser Division. Vgl. III/3. 127 "First-Hand Report on the German Soldier", zusammenfassende Analyse des Verhaltens der Wehrmacht­ soldaten, in: 103rd Infantry Division, G-2 Periodic Report v. 23.4. 1945; NA, RG 407, Box 14545. 804 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

SD auch in der Bevölkerung zu beobachten meinte. [28 Zweifellos waren die meisten Soldaten subjektiv tatsächlich mit dem Bewußtsein in diesen Kampf gegangen, an ei­ ner Schlacht teilzunehmen, die den Ausgang des ganzen Krieges mitentscheiden konnte. Um so größer war dann die Ernüchterung, als die Offensive liegenblieb und im Januar 1945 der ursprüngliche Frontverlauf von den Alliierten in etwa wiederher­ gestellt war. Kriegsverlauf und Kriegsaussichten waren aber nur ein, und nicht einmal der we­ sentlichste Faktor, von dem die Kampfmoral der Wehrmachtsoldaten beeinflußt wurde. Wie bei anderen Streitkräften auch, hing der Kampfwert der Wehrmacht, so hatten Sozialforscher im Dienste des Alliierten Oberkommandos herausgefunden, in erster Linie vom Zusammenhalt in den Primärorganisationen der Armee, von der Ka­ meradschaft in den Spähtrupps, Zügen und Kompanien ab[29 - stärker jedenfalls als von der Gesamtlage des Krieges oder gar von der Bindung an das Regime. Bis Jahres­ beginn hatten sich in der inneren Struktur des Heeres offenbar noch nicht solche gra­ vierenden Verschiebungen ergeben, existierten wohl eine gerade noch ausreichende Anzahl gewachsener, in vielen gemeinsam erlebten Gefechten "zusammengeschweiß• ter" Einheiten, so daß es bis dahin noch nicht zu einem übermäßigen Verlust des Kampfwertes der Wehrmacht und einer offenen Desintegration kam. Ende Januar, Anfang Februar 1945 scheint dann aber der qualitative Sprung erfolgt zu sein, der die unaufhaltsame äußere und innere Auflösung der deutschen Streitkräfte binnen eines Vierteljahres einleitete. In den Ardennen waren viele der besten noch verfügbaren Regimenter und Batail­ lone vernichtet worden, durch die Mitte Januar beginnende überaus erfolgreiche so­ wjetische Großoffensive wurden noch einmal Hunderte von noch leidlich intakten deutschen Einheiten zertrümmert. Ab Februar 1945, als die Rote Armee ihre neue Front vor den Toren konsolidierte und im Westen Amerikaner und Briten ihre rasante Schlußoffensive starteten, hatten in der Wehrmacht gewachsene, über den notwendigen inneren Zusammenhalt verfügende Einheiten bereits Seltenheitswert. Befremdliche Konglomerate, zusammengewürfelte Haufen, in denen kein Kamerad­ schaftsgeist und kein Kampfgeist mehr entstehen konnten und in denen sich nun die Atmosphäre des Rette-sich-wer-kann auszubreiten begann, bildeten nunmehr das schwächliche Rückgrat einer geschlagenen Armee, die keinem ernsten Ansturm mehr trotzen konnte. Diese Diagnose war vom einfachen Soldaten nicht schwerer zu treffen als von einem Generalfeldmarschall. Die Psychological Warfare Division erkannte die Verfassung der Wehrmacht An­ fang Februar recht genau. "Eine Armee verfällt" überschrieb sie ihre Analyse für das Alliierte Oberkommando: "Ungeachtet der Effektivität militärischer Disziplin und der Gewalt von Zwang", schrieb PWD, "gibt es einen Punkt, an dem körperliche Strapa­ zen und Versorgungsschwierigkeiten selbst das Verhalten des automatisch gehorsa­ men Soldaten zu beeinflussen beginnen. Vereinzelte Zusammenbrüche ausgenom­ men, ist die deutsche Armee im Westen in der Lage gewesen, für die persönlichen

118 SO-Bericht von Ende März 1945; HZ-Archiv, MA 660. Der Tagesbefehl des Oberbefehlshabers West v. 16. 12. 1944 ist zitiert bei Steinert, Hitlers Krieg, S. 527. 129 Grundlegend hier der Aufsatz von Edward A. Shils und Morris Janowitz, in dem die Autoren ihre Erfah­ rungen als Offiziere der Psychological Warfare Division von SHAEF verwertet haben: Cohesion and Disin­ tegration in the Wehrmacht in the World War H, in: The Public Opinion Quarterly, Summer 1948, S.280ff. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 805

Bedürfnisse ihrer Männer leidlich zu sorgen. Aber man kann nicht umhin, bei Kriegs­ gefangenen den Eindruck zu gewinnen, daß die Mühsal ihrer Alltagsexistenz inzwi­ schen ihre Entschlossenheit und ihren Korpsgeist ernstlich untergraben hat. Die Tat­ sachen sind wohlbekannt. Manch Kriegsgefangener klagt darüber, daß die Kamerad­ schaft früherer Tage weithin aus der Wehrmacht verschwunden ist; jeder einzelne ist mittlerweile in erster Linie an seinem eigenen Überleben interessiert." Die Bindung der Soldaten zu ihren Vorgesetzten habe nachgelassen, erfuhren die Amerikaner, zu­ dem häuften sich Fälle von Disziplinlosigkeit und Vergehen gegen das Militärstraf• recht, die immer härter geahndet würden. Es gebe außerdem einen mächtigen Trend unter den Landsern, endlich zu ihren Familien nach Hause zurückzukehren. Deswe­ gen aber auf den bloßen Zerfall der Wehrmacht zu hoffen, so PWD zu den Offizieren einer Invasionsarmee, die im Linksrheinischen nach wie vor nicht recht vorankam, sei trotzdem nicht die richtige Strategie: "Eine Verschlechterung der Verhältnisse wird wohl nicht von selbst einen Zusammenbruch der Wehrmacht verursachen", fuhr Psy­ chological Warfare fort: "Der Boden ist bereitet, aber allein militärische Schwierigkei­ ten, als Folge unseres Drucks, werden den Gnadenstoß geben." Eine Woche später ließ PWD ihren Beobachtungen eine weitere Analyse folgen: "Bis zum Scheitern der Ardennen-Offensive", hieß es darin, "wurde die Ansicht, daß die Nazis den Krieg um ihres eigenen Lebens willen fortsetzten, nur von der Minder­ heit überzeugter Anti-Nazis vertreten." Eine nationalistische Einstellung, das vollkom­ mene Fehlen des Bewußtseins, an diesem Krieg schuld zu sein, und der Glaube daran, daß ein Sieg errungen werden müsse, wenn der einzelne Deutsche irgendwelche wirt­ schaftliche oder politische Sicherheit gewinnen solle, habe die Distanz zur Führung nicht allzu groß werden lassen. Im Laufe des Januar 1945 habe aber die Ansicht an Bo­ den gewonnen, die Nationalsozialisten kämpften nur noch, um ihr eigenes Leben zu retten - "nicht zum Wohle Deutschlands, sondern zur Rettung der Nazis"IJo. Der doppelte Schock des militärischen Scheiterns im Westen und des Verlustes von Ostdeutschland an die Rote Armee verschärfte Ende Januar, Anfang Februar das Krisenbewußtsein in der Bevölkerung und bei den Soldaten dramatisch. Auch die Schwäche des Heeres - die Luftwaffe war seit langem abgeschrieben - lag nun vor al­ ler Augen. Die Chancen, doch noch einen glimpflichen Ausgang des Krieges zu er­ kämpfen, waren angesichts der offenkundigen Überlegenheit der gegnerischen Koali­ tion jetzt auch im Kalkül der Soldaten von einer Woche zur anderen rapide gesunken. Nach diesen neuerlichen verheerenden Rückschlägen waren die "psychologischen Re­ serven Deutschlands erschöpft"131; wer die bevorstehende Niederlage nun noch im­ mer nicht wahrhaben wollte, dem blieb kaum ein anderer Ausweg als die Flucht ins Wunschdenken, in illusionäre Vorstellungen und irrationale Hoffnungen. Der größte Teil der Wehrmachtssoldaten war dazu nicht mehr bereit. Die Befragun­ gen deutscher Kriegsgefangener durch die Psychological Warfare Division weisen aus, daß das entscheidende Absacken der Kampfmoral und des Vertrauens in die Führung in der Endphase des Krieges bei den Soldaten im Westen zwischen Mitte Januar und Anfang März 1945 erfolgte, als der Feind der Wehrmacht im Osten wie im Westen schwerste Schläge zugefügt, Rhein und Oder aber noch nicht auf breiter Front über-

00 SHAEF, PWD, Weekly Intelligenee Summary for Psychologieal Warfare Nr. 19 v. 3. 2.1945 und Nr. 20 v. 10.2. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Exeeutive Seetion, Deeimal File 1944-45, Entry 87. 131 Gurfein, Janowitz, Wehrmacht Morale, S. 82. 806 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

schritten hatte. Einen Endkampf im Innern des Reiches hielten offenbar die wenig­ sten für militärisch gerechtfertigt und politisch vertretbar. Bereits Anfang März 1945, als die Vernichtung der Masse des Westheeres rechts des Rheins erst noch bevorstand, bekundeten nur noch 31 Prozent der Befragten Vertrauen in den "Führer" (Anfang Januar: 62 Prozent), 83 Prozent (gegenüber 47 Prozent im Januar und 30 Prozent Ende November 1944) hatten inzwischen die Hoffnung begraben, die Alliierten wie­ der aus Frankreich bzw. aus Westdeutschland hinauswerfen zu können. Vor der Ar­ dennen-Offensive, Ende November 1944, hatten noch 50 Prozent der befragten Sol­ daten an einen deutschen Sieg geglaubt, in der ersten Januarhälfte noch immer 44 Prozent; Anfang März 1945 besaßen diesen Glauben nur noch 11 Prozent. Ende März lagen diese Quoten noch niedriger. 132 Offenbar war eine Mehrheit der Soldaten, die seit mindestens zwei Jahren nur Rückschläge und Niederlagen erlebt hatten, erst dann nicht mehr bereit, den Kampf wie gewohnt fortzusetzen, als er nach menschlichem Ermessen endgültig aussichtslos geworden und deshalb gerade auch nach den Maßstä• ben des soldatischen Ethos nicht länger zu rechtfertigen war. Die politische und mili­ tärische Führung des Deutschen Reiches hatte solche Maßstäbe freilich längst über Bord geworfen. Als sich die Rückschläge an den Fronten ab 1943/44 zu häufen begannen, unter­ nahm die deutsche Führung alle Anstrengungen, der bedrohlicher werdenden Lage durch zahlreiche "Maßnahmen zur inneren Stabilisierung der Wehrmacht" Herr zu werden. Dieses "Krisenmanagement größten Stils" (Messerschmidt), das nun als Ge­ gensteuerung zur beginnenden Erosion der Streitkräfte vorgenommen wurde, offen­ barte besonders seit dem Herbst 1944, wie unverantwortlich weit sich die Verantwort­ lichen an der Spitze des Reiches inzwischen auch hier von allen gültigen Maßstäben einer ruhigen Lageanalyse und eines zivilisierten Umgangs mit den Menschen ent­ fernt hatten, Eigenschaften und Werten, mit denen die Funktionsfähigkeit gerade ei­ ner modernen Massenarmee stand und fiel. Verstärkte Indoktrination und verschärfter Terror hießen die beiden Pfeiler, die die angeschlagene Armee stützen sollten. Als eigenes Instrument, um in der Wehrmacht endlich "ein Höchstmaß an natio­ nalsozialistischer Erziehung und Festigkeit" zu erreichen 133, wurde um die Jahres­ wende 1943/44, als sich bei den Fällen von Fahnenflucht eine steigende Tendenz zeigte, von Hitler der Nationalsozialistische Führungsoffizier (NSFO) ins Leben geru­ fen und von der Führungsspitze der Wehrmacht bis hinab zur Divisionsebene instal­ liertY4 Naturgemäß läßt sich über die Wirksamkeit der NSFO-Propaganda auf die Truppe wenig sagen, doch war allen Soldaten klar, daß die Schaffung eines Kommis­ sarsystems nicht nur einen weiteren Schritt in Richtung auf eine "nationalsozialisti­ sche Revolutionsarmee" (Besson) und eine bedrohliche Verschärfung des ideologi-

lJl SHAEF, PWD, Weekly Intelligenee Summary for Psychologieal Warfare Nr. 29 v. 16.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Exeeutive Seetion, Deeimal Files 1944-45, Entry 87. Die Zahlen für Ende März 1945, die auf der Basis einer Befragung von 485 Kriegsgefangenen ermittelt waren, lauteten: Vertrauen in den Führer - 21 Prozent ,Ja", 72 Prozent "Nein"; deutscher Sieg - 7 Prozent ,Ja", 89 Prozent "Nein". IJJ Waldemar Besson, Zur Geschichte des Nationalsozialistischen Führungsoffiziers (NSFO), in: VfZ 9 (1961), S. 78. Das folgende Zitat ebenda, S. 82. 134 Zur Installierung des NSFO vgl.: Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktri­ nation, Hamburg 1969, S. 441 ff. Arne W. G. Zoepf, Wehrmacht zwischen Ideologie und Tradition. Der NS-Führungsoffizier irn Zweiten Weltkrieg, Frankfurt 1988, S. 81 ff. Bemerkungen über die Wirksamkeit der NSFO-Propaganda macht Joachim Bruckner, Kriegsende in Bayern 1945. Der Wehrkreis VII und die Kämpfe zwischen Donau und Alpen, Freiburg 1987, S. 31 f. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 807 sehen Konfonnitätsdruckes bedeutete, sondern daß damit auch ein eigenes Spitzelsy­ stem installiert war, das in Kombination mit der stetigen Verschärfung des "Durch­ halte-Terrors"135 in der Erschöpfungskrise der Armee für jeden einzelnen Wehr­ machtsangehörigen eine gefährliche Bedrohung war. Bereits in der ersten Bespre­ chung mit dem neu ernannten Chef des NS-Führungsstabes beim OKW hatte Hitler gesagt, er halte "eine langsame Durchsetzung der ganzen Wehrmacht mit dem natio­ nalsozialistischen Gedankengut für das Wichtigste, was es überhaupt gibt". Es müsse von vornherein klargestellt werden, "daß jedes Kritisieren und Nörgeln an Anordnun­ gen, die auf weltanschaulichem Gebiet ergehen, genauso geahndet wird wie das Kriti­ sieren an taktischen oder sonstigen militärischen Dingen, daß das den betreffenden Offizier Stellung und Kragen kostet"136. Unterlagen des NSFO-Stabes bei der Anfang April 1945 dann im "Ruhrkessel" ein­ geschlossenen und vernichteten Heeresgruppe B unter Generalfeldmarschall Model geben einen Einblick in das hohe Selbstverständnis und die recht parterre Kleinarbeit der NS-Führungsoffiziere zu einer Zeit, als die Krise der Streitkräfte im Westen auf dem Höhepunkt war. Nationalsozialistische Führung bedeute "in diesem Augen­ blick", schrieb der NSFO Models Mitte Februar, "den Dingen in ihrer entscheidenden Brutalität hart und fest ins Auge sehen ... Wir politischen Offiziere sind Führer in die­ sem Weltanschauungskampf. Wir tragen dabei höchste Verantwortung vor der deut­ schen Geschichte und werden nur dann bestehen können und dem deutschen Volk den Sieg erringen, wenn wir den fanatisierten Horden des Bolschewismus unseren ei­ genen Fanatismus und eine in Schwung und Tatkraft der nationalsozialistischen Idee kämpfende Truppe gegenüberstellen. Fanatisieren ist die Parole." Das müsse nicht nur gegenüber den "Bolschewisten" geschehen, sondern auch gegenüber den Engländern und Amerikanern: "Die Angloamerikaner geben durch ihre Angriffe dem Bolschewi­ sten erst die Möglichkeit zu solchen Greueltaten und sind somit genauso dafür verant­ wortlich. Fanatischer Haß gegen alle unsere Feinde, auch gegen die scheinheiligen Menschheitsbeglücker aus dem Westen, muß in jedem deutschen Soldaten empor­ schlagen und ihn zum Kampf bis zum Äußersten entflammen!"137 Zur Entflarnmung des Landsers waren sattsam bekannte Losungen wie "Sieg oder Sibirien!", "Mit dem Führer durch dick und dünn!" oder "Glaube und Wille machen uns unüberwindlich!" vorgesehen. Die praktischen Mittel zur Vermittlung der Bot­ schaften der Führung standen nicht selten in skurrilem Gegensatz zum tönenden In­ halt der Propaganda. Anweisungen des NS-Führungsoffiziers der Heeresgruppe B zur moralischen Aktivierung des rückwärtigen Frontgebietes zeigen nicht nur die naive Gläubigkeit und die Karl-May-Mentalität des Verfassers, sie scheinen trotz der theore­ tisch weitreichenden Rechte doch auch eine gewisse Armseligkeit seines tatsächlichen Status inmitten "richtiger" Soldaten und innerhalb der Stabsstrukturen zu verraten.

IJ' So Wolfram Wette, Durchhalte-Terror in der Schlußphase des Krieges. Das Beispiel der Erschießungen in Waldkirch am 10./11. April 1945, in: Rolf-Dieter Müller, Gerd R. Ueberschär, Wolfram Wette (Hrsg.), Wer zurückweicht wird erschossen. Kriegsalltag und Kriegsende in Südwestdeutschland 1944/45, Freiburg 1985, S. 70. 1J6 Protokoll der Besprechung Hitlers mit General Reinecke am 7.1. 1944 in Anwesenheit u.a. von Keite!, Schmundt und Scherff, abgedruckt in der Dokumentation von Gerhard L. Weinberg, und der NS-Führungsoffizier (NSFO), in: VfZ 12 (1964), S. 443fl. Zitate S. 454 und S. 448. 137 Oberkommando der Heeresgruppe B, NS-Führung, Hinweis für die NS-Führung Nr. 3/45 v. 11. 2. 1945; BAIMA, RH 19 IX/47. Hervorhebung von mir. 808 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

"Das 6. Kriegsjahr stellt die strenge Forderung an uns, Aktivisten und Propagandisten zu sein", heißt es in der Instruktion. l3B "Hier muß der Hebel einsetzen! Auf diesem Gebiet ist bisher noch gar nichts geschehen." Überall müßten jetzt Flugblätter verteilt, Plakate geklebt und Parolen angebracht werden. "Wenn dem Landser immer wieder, wo er auch hinkommt, die politischen Schlagzeilen unserer Flugblätter in die Augen springen, dann bekommt er jedesmal einen Rippenstoß, auch wenn er vor Kälte im Schnee herumtrampelt. Es ist nicht anders, wie in der Kampfzeit der Bewegung. Auch damals hatten wir nichts als unseren Glauben." Dann folgten die praktischen Rat­ schläge: "Mit Improvisieren haben wir den Ost-Winter 41/42 überdauert und - ge­ wonnen. Es gibt viele Parteigenossen unter den Männern, die genügend Erfahrungen aus der harten, aber schönen Kampfzeit der Bewegung dazu mitbringen. Man kann eine Parole an die Wand malen. Schön säuberlich und gerade mit Kalk oder Farbe, wo diese Rohprodukte und ein Maler da sind. (Kalk findet sich in den zerstörten Ort­ schaften mehr als man glaubt. Nachsehen.) Man kann aber auch einen Mauerbrocken oder einen Ziegelstein nehmen und damit Buchstaben zeichnen. Es liegt ja genug Schutt herum. Leider. Man kann die Buchstaben aus Zeitungspapier ausschneiden und an die Wand frieren lassen. Es geht, es ist erprobt. Nicht erst Papier und Tusche anfordern, diese Dinge haben wir nicht. Keine großen ,Bauvorhaben'. Improvisieren. Lesen muß man es können, auf Schönheit kommt es nicht an. Man kann an schrägen Hängen Parolen in den Schnee malen. Bis zum nächsten Neuschnee hält das." Mancher Landser mag diese Art Indoktrination belächelt haben, lustig machen konnte er sich darüber nur unter Lebensgefahr. Die deutsche Wehrmachtsjustiz, in deren Wirken ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Zielsetzungen des Natio­ nalsozialismus zum Ausdruck kam, war vom ersten Kriegstage an ein "potentiell allge­ genwärtiges Straf- und Disziplinierungsinstrument"139 gewesen. Bereits bis Mitte 1944 waren wohl mehr als 25.000 Todesurteile gegen Soldaten und Wehrmachtsbeamte er­ gangen, vor allem wegen "Fahnenflucht" und "Zersetzung der Wehrkraft". Die or­ dentliche Militärgerichtsbarkeit, deren angebliches Versagen im Ersten Weltkrieg von Hitler immer in direktem Zusammenhang mit der Niederlage von 1918 gesehen wurde, erfüllte damit in zunehmender Ideologisierung neben ihrer genuinen Aufgabe "der Absicherung der Funktionstüchtigkeit der Streitkräfte ebenso die Absicherung des Nationalsozialismus" 140. Ein Kennzeichen der Pervertierung dieser Institution war dabei, daß es nach und nach Übung geworden war, beispielsweise auch Erschöpfungserscheinungen drako-

138 Oberkommando Heeresgruppe B, NSFO, Anweisung v. 18. 1. 1945: ,,Aktivierung der NS-Führung und der propagandistischen Arbeit"; BA/MA, RH 19 lX/47. 139 Manfred Messerschmidt, Fritz Wüllner, Die Wehrmacht justiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstö• rung einer Legende, Baden-Baden 1987, S. 50. Die Zahlenangaben ebenda, S. 77ff. Siehe auch Manfred Messerschmidt, Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Hans-Jochen Vogel, Helmut Si­ mon, Adalbert Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des Andern. Festschrift für Martin Hirsch, Baden-Baden 1981, S. 111 ff. Auch zum folgenden. Nach den Richtlinien des Chef NSFO der Luftwaffe v. 1. 11. 1944 war der Tatbestand der Wehrkraftzersetzung mit jeder Äußerung erfüllt, "die geeignet ist, mutlos zu machen", und zwar unabhängig davon, ob eine "zersetzende Wirkung tatsächlich eingetreten ist", und auch dann, wenn sie lediglich einer einzigen Person gegenüber gemacht wurde. Vgl. Das Wehrmachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg. Sammlung der grundlegenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, bearb. v. Rudolf Absolon, Kornelimünster 1958, S. 90ff. 140 Messerschmidt, Wüllner, Wehrmachtjustiz, S.305. Die genannten Zahlen für 1945 eben da, S.79 und S.86. Die folgende Kennzeichnung bei Messerschmidt, Militärgerichtsbarkeit, in: Vogel, Simon, Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des Andern, S. 117. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 809

nisch zu ahnden. Seit Herbst 1944, als die Truppen der feindlichen Koalition Reichs­ gebiet betreten hatten, fand sich dazu besonders reichlich Gelegenheit. Der justitielle Durchhalteterror nahm jetzt noch einmal in ungeahnter Weise an Intensität zu. Nicht allein die Standgerichte arbeiteten nun auf Hochtouren. Was in den letzten vier Kriegsmonaten hinzutrat, war eine durch keinerlei Justizförmigkeit mehr gedämpfte brachiale Vernichtungswillkür, und zwar nicht nur in der SS, sondern auch innerhalb der regulären Truppe. Man schätzt die Zahl der Todesurteile der ordentlichen Militär• gerichtsbarkeit zwischen Januar und Mai 1945 auf ungefähr 4000, die viel schwerer zu ermittelnde Ziffer von Todesurteilen, die von Standgerichten ausgesprochen wurden, lag im gleichen Zeitraum wahrscheinlich bei 6000-7000. Wieviel abgekämpfte Solda­ ten - es könnten ebenfalls Tausende gewesen sein - 1945 auf dem Höhepunkt der Er­ schöpfungskrise der Wehrmacht von ihren Kameraden oder SS-Kommandos kurzen Prozesses, d. h. "auf der Stelle" niedergestreckt worden sind, wird immer unbekannt bleiben. Vielleicht sind dem Durchhalteterror seit Januar 1945, als die totale Nieder­ lage definitiv besiegelt war und sich die Desintegration der Wehrmacht in unerhörtem Maße beschleunigte, noch einmal annähernd halb so viele Soldaten zum Opfer gefal­ len wie in den fünf Kriegsjahren zuvor. Da die Führung nicht im Stande gewesen war, den Krieg vom Territorium des Rei­ ches fernzuhalten, mußte sie ihn nun im eigenen Lande führen. Gerade umgekehrt wie es die Propaganda suggerierte und die Angreifer es fürchteten, entstand aus dieser Situation eben kein zusätzlicher Motivationsschub bei den Soldaten. Die seit Herbst 1944 vorgenommene barbarische Verschärfung von Strafbestimmungen und Strafpra­ xis, mit der die Führung die eigene Armee nun in Schach zu halten versuchte, be­ weist, daß Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht den Zustand ihrer ausge­ brannten Truppe sehr realistisch beurteilten. Im Effekt förderten die sich nun über• schlagenden drakonischen Befehle die Disziplin und "Manneszucht" nicht nur nicht, sondern sie beschleunigten die Entsolidarisierung in einer Armee nur noch, deren Desintegration seit Januar 1945 immer offener zutage trat. Diese Art von Barbarei ge­ gen die eigene Truppe, die schlecht zu dem Propagandabild von der "Unerschütter• lichkeit" des deutschen Soldaten paßte und die von einer Vielzahl von Kommandeu­ ren bis zum Schluß bereitwillig mitvollzogen wurde, war auch deshalb genau das verkehrte Mittel zur Stabilisierung der Streitkräfte, weil sie der Berechenbarkeit der Maßnahmen der Vorgesetzten und damit dem noch verbliebenen Vertrauen in die Führung weiteren Boden entzog, der Rechtsunsicherheit und schließlich der reinen Willkür Tür und Tor noch weiter aufstieß. In diesem Dschungel von politischem Faustrecht, persönlicher Revanche und gefährlicher Bezichtigung - in der Auswir­ kung letztlich beinahe ein rechtsleerer Raum - konnte, selbst wenn der Feind keinen einzigen Schuß abgab, kein Soldat das Gefühl haben, seines Lebens noch sicher zu sein. Der Furor der Endphase schwächte die Streitkräfte nicht nur, weil er dem ausge­ bluteten Heer durch Peloton und unmittelbaren "Schußwaffengebrauch" zusätzlich noch Tausende von Soldaten entzog. Diese ideologisierte Raserei, die allen Maßstäben verantwortlichen Soldatenturns spottete, heizte die Atmosphäre noch an, in der kein Gedanke besser keimen konnte als der Wunsch, "endlich Schluß zu machen". Man muß die zwischen Herbst 1944 und Frühjahr 1945 ergangenen Richtlinien, Befehle und Verordnungen Punkt um Punkt aufzählen, um sich das Maß an Brutalität und Hilflosigkeit eines Regimes vor Augen zu führen, dessen Perspektiven sich 1945 810 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland auf die beiden Dogmen Hitlers "Kein zweites 1918" und "Kampf bis fünf nach Zwölf" verengt hatten. Als die zerschlagenen deutschen Verbände nach dem Zusam­ menbruch der Heeresgruppe Mitte in der Sowjetunion im Sommer 1944 über die ost­ preußische Grenze zurückfluteten, befahl Hitler in einem "Führerbefehl", mit allen Mitteln dafür zu sorgen, daß diese "unverzüglich wieder die Formen militärischer Ordnung annehmen, die das deutsche Volk von seiner Wehrmacht erwartet"141. We­ nige Wochen danach strömte die nicht weniger mitgenommene Frankreich-Armee über die "Siegfried-Linie" zurück, und die Kämpfe am Westwall und um be­ gannen.142 Am 16. September 1944 gab das OKW den Hitler-Befehl heraus, jeder Häuserblock und jedes Dorf müsse zur Festung und in fanatischer Kampfführung ver­ teidigt werden. Jeder, der sich daran nicht unter vollem Einsatz seines Lebens betei­ lige, sei zu "beseitigen". Eine Woche später wurde Gerichtsherren und Standgerichts­ herren das Recht eingeräumt, Todesurteile dann unmittelbar zu bestätigen, wenn "die sofortige Vollstreckung der Todesstrafe zur Aufrechterhaltung der Manneszucht und aus Gründen der Abschreckung geboten" sei. 143 Mitte November 1944 (Aachen war gefallen, die Vorbereitungen für die Ardennen-Offensive liefen auf Hochtouren) ord­ nete das Oberkommando der Wehrmacht auf Weisung Hitlers "Maßnahmen gegen Überläufer" an. Einige ehrlose Elemente seien zum Feind übergelaufen, um "ihr arm­ seliges Leben in Sicherheit zu bringen". Das Volk verach te solche "eidbrüchigen Lumpen" und erwarte, daß "rücksichtslos gegen sie und ihre Sippe vorgegangen" werde. Deshalb sei auf Überläufer "das Feuer sofort aus allen Waffen" zu eröffnen. "Die Sippe rechtskräftig zum Tode verurteilter Überläufer", so der Befehl weiter, "haf­ tet für das Verbrechen der Verurteilten mit Vermögen, Freiheit oder Leben. Den Um­ fang der Sippenhaftung im Einzelfalle bestimmt der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei. Hierzu sind die Vorgänge dem Reichssicherheitshauptamt unmit­ telbar zuzuleiten."144 Die 79. Volks-Grenadier-Division, bei der in den beiden ersten Januarwochen 53 Mann übergelaufen waren, ließ sich die Belehrung über diesen Be­ fehl durch ,,Abverlangung der Unterschrift jedes einzelnen Mannes" bestätigen.145 Ende Januar 1945, als der Wehrmacht definitiv das Rückgrat gebrochen war, wurden ihren erschöpften Soldaten die Daumenschrauben des Durchhalteterrors ein Stück weiter festgezogen. Jetzt ließ das OKW die bekannten "Bestimmungen über das Ver­ halten von Offizier und Mann in Krisenzeiten" hinausgehen, in denen Führer und Unterführer, die "mit äußerster Härte" durchzugreifen hatten, unter anderem ver­ pflichtet wurden, "von der Waffe Gebrauch zu machen, wenn die Lage oder die Man­ neszucht nicht anders wieder hergestellt werden kann". Bei den Standgerichten wurde das Bestätigungsrecht bei Todesurteilen noch weiter nach unten verlegt; jetzt konnten sie sogar bei Offizieren von jedem Regimentskommandeur bestätigt werden. 146 An-

141 Befehl Hitlers v. 10.8. 1944; zit. nach Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 42. 142 Vgl. 11/1. 143 Befehl Hitlers v. 16.9. 1944 und OKW-Befehl v. 23.9. 1944; beide zit. nach Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 43 und S. 42. 144 OKW-Befehl v. 19.11. 1944, in: Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg, S. 97f. 145 Meldung der 79. Volksgrenadierdivision an das LXXXV. Armeekorps v. 16. 1. 1945; BAIMA, RH 26-79/97. Vgl. auch die schriftliche Meldung des Volksgrenadierregiments 226 "Erfahrungen der letzten Kämpfe" v. 30. 12. 1944; ebenda, RH 26-79/98. 146 Befehl des OKW v. 28. 1. 1945, in: Wehrmachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg, S. 93ft. Vgl. auch Messer­ schmidt, Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 307. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 811 fang Februar sollte nach einer Anweisung des Chefs des Oberkommandos der Wehr­ macht nun auch "die Sippe" von Wehrmachtsangehörigen zur Verantwortung gezo­ gen werden, die nach dem 15. Dezember 1944 - also nach Beginn der für kriegsent­ scheidend erklärten Ardennen-Offensive - in Kriegsgefangenschaft "Landesverrat" begangen hatten. Die Konsequenzen im einzelnen bestimmte wiederum Himmler.147 Der Reichsführer-SS, Innenminister und Befehlshaber des Ersatzheeres war es auch, der um dieselbe Zeit die Gerichtsbarkeit hinter der Front faktisch ganz aufhob und die Jagd auf jeden Soldaten freigab, der nicht sofort und genauestens nachweisen konnte, daß er sich nicht eigenmächtig von der Truppe entfernt hatte. Er hatte näm• lich den Höheren SS- und Polizeiführern befohlen, "durch dauernde Kontrolle und schärfstes Zupacken alle Versprengten und allenfalls Deserteure zu erfassen, sowie Plünderer und Deserteure auf der Stelle zu erschießen."148 Nach dem Debakel bei Remagen 149 folgten weitere Verschärfungen. Ein "Führer• befehl" bestimmte lapidar: "Wer in Gefangenschaft gerät, ohne verwundet zu sein oder nachweislich bis zum äußersten gekämpft zu haben, hat seine Ehre verwirkt. Die Gemeinschaft der anständigen und tapferen Soldaten stößt ihn von sich. Seine Ange­ hörigen haften für ihn."150 Da mit dem Zusammenbruch des Widerstands links des Rheins das "Versprengten"-Problem erneut zunahm, wurde hier sofort auch von der Wehrmacht ein scharfer Pflock eingerammt. In Umsetzung eines ähnlichen Befehls der Heeresgruppe Nord, wo im Februar binnen einer Woche 58 standrechtliche Er­ schießungen vorgenommen worden waren, galt auf Anordnung des Oberbefehlshabers West, daß alle Soldaten, die ab dem 15. März "abseits ihrer Einheit auf Straßen, in Ort­ schaften, Ziviltrecks, auf Verbandsplätzen ohne verwundet oder abkommandiert zu sein, angetroffen werden und angeben, Versprengte zu sein und ihre Einheit zu su­ chen, standrechtlich abzuurteilen und zu erschießen" seien. l51 Am 9. März war per "Führererlaß" ein "Fliegendes Standgericht" geschaffen worden, das sogleich zusam­ mentrat. Es unterstand Hitler unmittelbar, erhielt von ihm seine Aufträge, war für An­ gehörige aller Wehrmachtsteile und der Waffen-SS ohne Unterschied des Ranges zu­ ständig, hatte uneingeschränktes Bestätigungsrecht und traf auch die Vollstreckungs­ entscheidungl52 ; das Gnadenrecht entfiel. Seine ersten Opfer waren, wie der Wehr­ machtsbericht unter namentlicher Nennung der Delinquenten bekanntgab1B, fünf Offiziere, die für die Nichtsprengung der Rheinbrücke bei Remagen verantwortlich gemacht wurden. Dönitz ordnete für die Marine im März ebenfalls eine "Sofortjustiz" an. 154 Nach dem Desaster rechts des Rheins schritt die Suspendierung selbst rechtsförmi• ger Verfahren weiter voran. Generalfeldmarschall Model befahl: "Gegen Zersetzungs-

147 Erlaß des OKW v. 5.2.1945, in: Wehnnachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg, S. 98ff. 148 Weitergabe dieses Befehls durch den HSSPF Südwest an die unterstellten Befehlshaber und Komman- deure durch Schreiben v. 19.2.1945; BA/MA, RH 20-19/196. Hervorhebung von mir. 149 Vgl. IV/2. 150 "Führerbefehl" v. 7.3.1945, in: Wehrmachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg, S. 100. 151 Zitat nach dem Befehl des Armeeoberkommandos 19 v. 8. 3. 1945; BA/MA, RH 20-19/196. Bereits am 10. 10. 1944 hatte das OKW durch seine sechste Verordnung zur Ergänzung der Kriegssonderstrafrechts­ verordnung die Spanne, in der sich ein von der Truppe abgekommener Soldat zurückzumelden hatte, von drei Tagen auf 24 Stunden verkürzt; vgl. Wehnnachtstrafrecht im Zweiten Weltkrieg, S. 62. 152 "Führererlaß" v. 9. 3. 1945, in: ebenda, S. 221 f. 153 Wehrmachtsbericht v. 18.3. 1945. 154 Vgl. Messerschmidt, Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 86. 812 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

und Sabotagehandlungen auf dem Gefechtsfeld ohne Unterschied, ob der Täter Soldat oder Zivilist ist, ist mit der Waffe einzuschreiten." Wo es die Kampfhandlungen nicht zuließen, war bei der Bestrafung von Soldaten nicht einmal mehr ein Standgericht ein­ zuschalten. 155 Auch die Aufpasser befanden sich jetzt, wenn sie nicht scharf genug aufpaßten, unter ständiger Todesdrohung. Generalfeldmarschall Kesselring, dem ge­ meldet worden war, daß manche "Ordnungsorgane" nicht mit der befohlenen Härte gegen "Versprengte und Drückeberger" vorgegangen waren, "verlangte" am Tag, als sich General Patton zur Überschreitung des Rheins anschickte, "daß jedes Versagen von Ordnungsorganen jeden Dienstgrades sofort an Ort und Stelle standgerichtlich geahndet wird"156. Ins Uferlose ausgedehnt wurde die Bedrohung jedes einzelnen Sol­ daten mit der zur selben Zeit bekanntgemachten Bestimmung "zur Abschreckung der Schwachen und Lauen", nach der jeder, der es unterlasse sofort auf Überläufer zu schießen, "gleichfalls erschossen"157 werden sollte. Von Mitte April 1945 schließlich seien zwei letzte wahnwitzige Befehle erwähnt. Der erste stammte vom Oberkommando der 19. Armee, die in Südwestdeutschland gegen die Verbände General de Lattres kämpfte. In kabarettreifer Diktion bestimmte die Anordnung: "Gegen Soldaten, die ohne Waffen und ohne Grund aufgefangen wer­ den, ist mit schärfsten Mitteln - Todesstrafe - einzuschreiten"158; Hitler befahl zwei Wochen vor seinem Selbstmord in seinem berühmten "Aufruf an die Soldaten an der Ostfront" vom 15. April 1945: "Wer euch Befehle zum Rückzug gibt, ohne daß ihr ihn genau kennt, ist sofort festzunehmen und nötigenfalls augenblicklich umzule­ gen."159 Daß der deutsche Reichskanzler und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht wie ein Räuberhauptmann von "umlegen" sprach, symbolisiert, wie komplett sich antizivilisa­ torische Hemmungslosigkeit und brutalste Vernichtungsideologie durchgesetzt hat­ ten. Es zeigt den vollständigen Bankrott abendländischen Rechtsdenkens in dem in Kriegszeiten wichtigsten staatlichen Machtinstrument. Allein die Wortwahl Hitlers wirft daneben schon ein Licht darauf, daß das innere Gefüge der ausgelaugten Armee, das wenigstens ein Minimum an Berechenbarkeit zu garantieren hat, schon minde­ stens ein Vierteljahr vor Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde vollständig kolla­ biert war. Gerade in dem Augenblick, als es politisch und militärisch keinerlei Sinn mehr hatte, wurde die Nötigung zur Selbstaufopferung am stärksten, und zwar zu ei­ ner Selbstaufopferung, die von jedermann sofort und unmittelbar als sinnlos erkannt werden konnte. Dadurch wurde die seit Mitte 1944 "wachsende Diskrepanz zwischen Soldaten und militärischer Führung"160 1945 zur unüberwindlichen Kluft. Allenfalls noch bei jüngeren, im HJ-Geist Aufgewachsenen genoß diese weiterhin ein gewisses Maß an Vertrauen, nicht mehr jedoch bei der Masse der erfahrenen Soldaten, die ge-

'55 Befehl des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe B; zit. nach dem Befehl der 353. Infanteriedivision v. 20.3. 1945; BA/MA, 353. 1.0., Nr. 77607. 156 Befehl des OB West v. 22. 3.1945; zit. nach dem Befehl des Armeeoberkommandos 19 v. 23.2.1945; BA/ MA, RH 20-19/196. '" 353. Infanteriedivision, "Besondere Hinweise für Belehrung zur Straffung der Kampfmoral", 18.3. 1945; abgedruckt bei Messerschmidt, Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 312. 15' Befehl des Armeeoberkommandos 19 v. 13.4. 1945; zit. nach Müller, Ueberschär, Wette, Wer zurück• weicht wird erschossen!, S. 106. Hervorhebung von mir. 159 Aufruf Hitlers v. 15.4.1945; abgedruckt im Kriegstagebuch des OKW IV/2, S. 1589f. Hervorhebung von mir. 160 Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 41. Das folgende Zitat eben da, S. 44. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 813 nau die Grenze kannten, wo Tapferkeit und Tollkühnheit aufhörten und Torheit und Wahnwitz begannen. So grimmig ernst die Durchhaltebefehle gemeint waren, sie konnten nicht mehr ernst genommen und als legitim anerkannt werden. Obwohl das Damoklesschwert so locker wie nie über allen hing, fanden viele Solda­ ten in tausend Fällen die Möglichkeit, befehlswidrig, nach Vernunft und gesundem Menschenverstand zu handeln, ohne sich deshalb immer sofort selbst zu gefährden. So waren in der Atmosphäre des Durchhalteterrors der Gebrauch des gesunden Men­ schenverstandes und befehlswidriges Verhalten ein und dasselbe geworden - ein Zu­ stand, der jede Armee in kürzester Frist ruinieren mußte. Die Geschichte der "Endphase-Verbrechen" in den Streitkräften ist noch nicht geschrieben; Manfred Messerschmidt weist jedoch ganz richtig darauf hin, daß die Endphase unter anderem auch deshalb nicht "zum nationalen traumatischen Erlebnis wurde, weil auch der Ver­ nichtungswahnsinn nicht mehr voll funktionierte". Wie so vieles, war auch der Durch­ halteterror im letzten Vierteljahr des Krieges nur noch begrenzt durchsetzbar, standen für das von der Führung verlangte Blutbad nicht mehr genügend Handlanger bereit. In erster Linie rein von Zufällen und der jeweiligen Situation abhängig, funktionierte er in sehr vielen Fällen freilich immer wieder doch noch, wandten sich die Führung, die vielen kleinen Führer und die ihnen verbliebenen Komplicen gegen die eigenen Soldaten, die ebenso wie diese wußten, daß solche Taten "fünf Minuten nach Zwölf" durch nichts mehr, am wenigsten durch militärische Notwendigkeiten oder gar durch Erfordernisse des soldatischen Ethos', zu rechtfertigen waren.

Bevölkerung und Partei Die deutsche Zivilbevölkerung war in den letzten Kriegsmonaten vom Endphaseter­ ror des niedergehenden Regimes nicht minder gefährlich bedroht und "vogelfrei" als die Angehörigen der Wehrmacht, insgesamt freilich nicht so direkt zu fassen und um­ standslos zu vernichten. Genauso wie das Wüten gegen die erschöpften Soldaten of­ fenbarte auch das immer brutalere "Einschreiten" gegen die kriegsmüde Bevölkerung nur den dramatischen Verfall der spätestens seit 1943 unaufhaltsam schwindenden Legitimation des NS-Regirnes!6! Anzeichen von Kriegsmüdigkeit begannen sich bereits zu zeigen, als mit dem Stok­ ken des Vormarsches in Rußland die beiden Jahre der bequemen Blitzsiege und des "eleganten"!62 Krieges vorüber waren. Schon 1941/42, als die Zahlen der Gefallenen, Verwundeten und Gefangenen in die Höhe schnellten, war Friedenssehnsucht "zum absolut beherrschenden Element der Volksstimmung"!63 geworden. Das Stalingrad­ Desaster markierte das Ende der "Mobilisationsfähigkeit" (Broszat) des Regimes, die Bürde der Kriegslast und die Härten des Bombenkrieges wurden jetzt bis in die noch kaum tangierten Regionen des Reiches fühlbar. So machte sich wegen der Auswirkun­ gen des Luftkrieges in Nordbayern bereits im Herbst 1943 eine böse Mißstimmung breit. Man solle "den Krieg einstellen, wenn man nicht in der Lage sei, Angriffe auf

161 Martin Broszat, Grundzüge der gesellschaftlichen Verfassung des Dritten Reiches, in: ders., Horst Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, München 1983, S. 62. 162 So der Begriff in einem Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SO an Reichsschatzmeister Schwarz v. 23.3. 1944; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 446. 163 Broszat, Grundzüge, in: Broszat, Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich, S. 62; das folgende Zitat ebenda. 814 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland die Städte und Industriezentren zu verhindern", hieß es hier unter anderem. 164 Das als beschämend empfundene Versagen der Luftwaffe schadete dem Nimbus des Regimes empfindlich, der Groll gegen die Funktionäre der NSDAP wuchs. Empfindungen und Reaktionen solcher Art hatten sich unter der Wucht der eskalierenden Bombarde­ ments und unter dem Eindruck der im "Krisenjahr 1944"165 reichlich zu vermelden­ den Niederlagen an allen Fronten noch weiter verschärft, doch erst nach der Jahres­ wende 1944/45 brach die Erschöpfungskrise in Wehrmacht und Bevölkerung voll auf: Deutschlands Reserven waren erschöpft, materiell, personell, psychologisch. Kündigte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in "dramatischen Sprüngen" (Messerschmidt) an 166, so waren es seit dem Beginn der amerikanischen Besetzung im September 1944 namentlich zwei Schwellen des Niederganges, an denen der kriegsmüden Bevölkerung der bevorstehende Fall des Regimes besonders eindringlich angekündigt wurde: die militärischen Katastrophen des Januar im Osten und die kaum weniger verheerend wirkende Rhein-Überschreitung der Alliierten Ende März 1945.167 Beide Katastrophen haben im internen Berichtsmaterial der NSDAP und staatlicher Stellen entsprechenden Widerhall gefunden. Ausgesprochen sachlich formulierte noch der Generalstaatsanwalt in Düsseldorf seinen Januarlagebericht für Justizminister Thierack: "Die Stimmung ist nach dem Aufschwung in Folge des Dezemberangriffes im Westen durch die letzten Ereignisse im Osten und die Fortdauer der Luftangriffe, auf deren erfolgreiche Bekämpfung in weiten Kreisen des Volkes gehofft worden war, stark gedrückt."168 Ein geradezu ver­ zweifeltes, als Geheime Kommandosache laufendes Telegramm dagegen sandte unge­ fähr zur gleichen Zeit der bei der "Heeresgruppe Oberrhein" in einem Sondereinsatz stehende SS-Hauptsturmführer d'Alquen an seinen Bruder in Berlin, den Standarten­ führer Gunter d'Alquen, Kommandeur der Standarte "Kurt Eggers" und Haupt­ schriftleiter des SS-Organs "Das Schwarze Korps". Von der Truppe wie der Bevölke• rung werde die allgemeine Lage als "so kritisch" betrachtet, telegraphierte er, "daß die nächsten Wochen bereits über unser Schicksal entscheiden könnten". Er fühle sich verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, "ein erlösendes Wort aus dem Führer• hauptquartier zu erreichen", das dann über geeignete Propagandakanäle zur Front und in die Bevölkerung durchdringen könne. "Vielleicht ist es möglich", appellierte der SS-Hauptsturmführer an seinen hochgestellten Bruder, "zunächst über Kreise, die mit dem Führer zusammen sind, festzustellen, ob der Führer seiner engsten Umgebung die Frage, was nun werden soll, beantwortet hat."169 Ein gangbarer Weg aus der Er­ schöpfungskrise konnte von dieser Führung nicht mehr gewiesen werden, wie die Be-

164 Bericht des Oberlandesgerichtspräsidenten in Bamberg v. 27. 11. 1943; zit. nach Kershaw, Hitler-Mythos, S. 179. Differenziert und über frühere Auffassungen hinausführend zum Komplex der Auswirkung des Bombenkrieges das gesamte Kapitel "Endphase des Krieges und Zusammenbruch: Die Aufzehrung des Führermythos", ebenda, S. 176 ff. 165 So Elke Fröhlich, Hitler und Goebbels im Krisenjahr 1944. Aus den Tagebüchern des Reichspropaganda­ ministers, in: VfZ 38 (1990), S. 195 ff. 166 Messerschmidt, Wehrmacht in der Endphase, S. 33. 167 Eine bemerkenswerte zeitgenössische Reflexion zu den verschiedenen Stadien des Niedergangs 1944/45 spricht aus dem Bericht des Archivars der Gemeinde Wachbach/Landkreis Bad Mergentheim v. 20. 10. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 12. 168 Lagebericht des Generalstaatsanwaltes in Düsseldorf für Januar 1945 an Reichsjustizminister Thierack v. 1. 2. 1945; HZ-Archiv, MA 430/6. 169 Telegramm von SS-Hauptsturmführer Rolf d'Alquen an SS-Standartenführer Gunter d'Alquen v. 26. 1. 1945; BA, NS 19 neu, Nr. 2454. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 815 völkerung im zerstörten Berlin im Februar längst schon erkannt hatte: "Im allgemeinen sind ein gewisser Fatalismus, eine gewisse Gleichgültigkeit und Dumpfheit festzustel­ len", konstatierte ein Stimmungsbericht aus der Reichshauptstadt. Zum Beleg zitierte er unter anderem die einfache Einsicht eines ausgebombten Geschäftsmannes, die vom Großteil der Bevölkerung inzwischen zweifellos geteilt, aber in dieser Freimütigkeit nur selten ausgesprochen wurde: "Es sei Wahnsinn, den Krieg weiterzuführen."17o Wer zu diesem Zeitpunkt die Illusion einer irgendwie wundersamen Wende des Kriegsglücks noch nicht verloren hatte oder, in den remoteren Regionen des Reiches, auf eine erfolgreiche Verteidigung der "Rhein-Barriere" vertraute, dem ist der Wahn­ sinn der sinnlosen Kriegsverlängerung endgültig vielleicht erst Ende März 1945 auf­ gegangen, als die Armeen der Alliierten den Strom problemlos überwanden. "Der Feind im Osten wie im Westen muß und kann wieder geschlagen werden. Das glau­ ben wir nicht, das wissen wir auch ... Nirgendwo in Deutschland, weder an der Front noch in der Heimat, wird deshalb resigniert"171, schrieb am 25. März ein Goebbels im "Reich", der, wie seine Tagebucheintragungen von diesem Tage ausweist, selber von den schlimmsten Befürchtungen geplagt wurde. Die ihm unterstehenden Propaganda­ ämter sprachen davon, im Westen herrsche in der Bevölkerung teilweise eine absolute "Untergangsstimmung"172. Und in einer letzten großen Lageanalyse kam der SD Ende März zu dem Resultat: "Das Vertrauen zur Führung ist in diesen Tagen lawinenartig abgerutscht."173 In den bislang frontferneren Gebieten bot sich inzwischen das gleiche Bild. Am 27. März berichtete eine SD-Außenstelle nach Stuttgart, die Nachrichten von der Rhein-Front hätten bei der Bevölkerung "schockartig" gewirkt: ,,Allgemein ist man der Ansicht, für uns in Württemberg sei der Krieg in Kürze zu Ende. Teils sind die Volksgenossen über das rasche Vordringen der Anglo-Amerikaner an der West­ front bestürzt, zum großen Teil aber ist die hiesige Bevölkerung ,beinahe froh, daß die­ ser Krieg endlich ein Ende für sie nimmt'." Angst vor den Amerikanern und Englän• dern bestehe "nirgends", denn man wisse aus den bereits besetzten Gebieten, daß es "den dortigen Bewohnern unter der alliierten Besetzung gut gehe"l74. In Bayern zeig­ ten die Lageberichte der Verwaltung denselben Tenor. Der Gendarmerieposten im mainfränkischen Mellrichstadt teilte dem Landrat mit, "infolge der unerwarteten Ge­ schehnisse an der Westfront" sei bei der Bevölkerung "eine Änderung in ihrer bisheri­ gen Stimmung wahrgenommen" worden. Viele redeten "von der Aussichtslosigkeit des Endsieges", wogegen einige noch immer "auf das große Wunder" harrten. "Man spricht davon, daß der Krieg sich auch noch über unser Kreisgebiet hinwegziehen wird."175 Im mittelfränkischen Gunzenhausen meldete die Polizei: "Unter der gesam­ ten Bevölkerung hat sich in den letzten Tagen durch den Massenansturm im Osten und Westen tiefste Bestürzung ausgelöst." Die Stimmung sei "auf dem tiefsten Stand der ganzen Kriegsdauer angelangt", ein günstiger Ausgang des Krieges werde nicht

170 ,,19. Bericht über den ,Sondereinsatz Berlin' für die Zeit vom 14.2.-20.2. 1945" v. 23. 1. 1945; zit. nach Berghahn, Meinungsforschung, S. 104 f. 171 Das Reich, 25.3. 1945. 172 Wöchentlicher Tätigkeitsbericht des Leiters der Propagandaabteilung im Propagandaministerium für Goebbels v. 21. 3. 1945; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 565. 173 Zusammenfassende, undatierte Analyse des SD·Inland von Ende März 1945; HZ-Archiv, MA 660. 174 Bericht der SD-Außenstelle an den SD-Leitabschnitt Stuttgart v. 27. 3. 1945; StA , KIlO, Bü• schel 58. 175 "Lagebericht für März 1945" des Gendarmeriepostens Mellrichstadt an den Landrat in Mellrichstadt v. 25.3.1945; StA Würzburg, LRA Mellrichstadt, Nr. 1091. 816 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland mehr erwartet. 176 Der Gendarmeriekreisposten in Eichstätt kam am selben Tag zu dem Schluß: "Die Frontlage verstärkt bei der Bevölkerung die Auffassung, daß es nicht mehr gelingt, den Feind abzuwehren."177 Ähnliche Betrachtungen gingen auch im Voralpenland in die amtlichen Akten ein: "Die Bevölkerung ist im allgemeinen der Ansicht, daß der Krieg für uns verloren ist und daß es besser wäre, wenn sich die Heeresleitung zum Einstellen der Feindseligkeiten entschließen würde", beobachtete die Gendarmerie in Bad Aibling bei Rosenheim. 17B Auch der Regierungspräsident von Oberbayern ließ es Anfang April an ungeschminkten Worten nicht fehlen: "Durch militärische Ereignisse der letzten Wochen im Westen und Osten Schockwirkung bei gesamter Bevölkerung hervorgerufen, wie sie seit Kriegsbeginn noch nicht zu ver­ zeichnen war." Man rechne nunmehr mit einer vollständigen Besetzung des Reichsge­ bietes. "Kriegsmüdigkeit stark zugenommen. Baldiges Kriegsende fast allgemein er­ sehnt." Der Glaube an den etwaigen Einsatz "neuer Geheimwaffen" sei stark gesun­ ken, Aufrufe und Appelle der Führung fänden kaum noch Widerhall, die Rundfunk­ propaganda werde größtenteils abgelehnt, "da sie als mit den augenscheinlichen Tatsa­ chen in Widerspruch stehend empfunden wird". Da die ,,Angst vor den Russen" größer sei als die vor den Truppen der Westalliierten, werde das Vordringen der Ame­ rikaner "mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen, da Besetzung durch diese Gegner als kleineres Übel empfunden wird"179. Mit der erneuten Verwandlung der militärischen Lage des Reiches Ende Januar, Anfang Februar 1945 hatte sich auch die "einmalig erfolgreiche"IBo Wunderwaffen­ propaganda weitgehend erschöpft. Beinahe zwei Jahre lang hatte diese raffiniert kalku­ lierte Kampagne ihren kaum zu überschätzenden Anteil daran gehabt, den Glauben an eine Wende des Krieges zu Deutschlands Gunsten wachzuhalten. Einsetzend nach Stalingrad, verstanden es die Propagandisten des Regimes in ebenso gewissenloser wie ingeniöser Manier, der wachsenden Kriegsmüdigkeit mit der Verheißung eines Einsat­ zes völlig neuartiger Waffen zu begegnen. Sie gaukelten der Bevölkerung damit die Existenz einer grundlegenden Alternative zu dem mittlerweile auch technisch überle• genen Potential der Engländer und Amerikaner vor und hatten verblüffenden Erfolg dabei, den strapazierten Menschen den Gedanken einzupflanzen, die sich häufenden Niederlagen auf den Schlachtfeldern seien nicht nur bequem wettzumachen, sondern der ganze Krieg sogar mit einem vernichtenden Schlag für Deutschland zu entschei­ den. Dabei kam es der Glaubwürdigkeit der Propaganda fraglos sehr zugute, daß das Regime auf manch eine wissenschaftlich-technische Bravourleistung in der Vergan­ genheit verweisen konnte. Ursprünglich waren die "Wunderwaffen" konzipiert wor­ den, um Großbritannien einem unerträglichen Terror aus der Luft auszusetzen und es auf diese Weise aus dem Krieg zu drängen. 1944 waren die zu Defensivzwecken un­ tauglichen Waffen obsolet geworden.

176 Lagebericht des Gendarmeriepostens Gunzenhausen an den Landrat in Gunzenhausen v. 27. 3. 1945; StA Nümberg, LRA Gunzenhausen, Abgabe 61, Nr. 4346. 177 "Lagebericht für Monat März 1945" des Gendarmeriekreispostens Eichstätt an den Landrat in Eichstätt v. 25.3. 1945; StA Nümberg, Best. NSDAP, Nr. 40. 178 Lagebericht des Gendarmeriepostens Bad Aibling an das Landratsamt in Bad Aibling v. 25.3. 1945; StA München, LRA 113 813. 179 "Monatsbericht des Regierungspräsidenten in München (März 1945)" v. 7.4. 1945; Bay HStA München, MA 106696. 180 Hans Dieter Hölsken, Die V-Waffen. Entstehung - Propaganda - Kriegseinsatz, Stuttgart 1984, S. 214. Auf diese Studie stützt sich der folgende Abschnitt vor allem. Vgl. auch Steinert, Hitlers Krieg, S. 490ft. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 817

Das in scheinbar siegesgewisser Unerschütterlichkeit und "bewußter Undeutlichkeit" (Hölsken) komponierte Lügenszenario konnte seine Wirksamkeit aber nur entfalten, weil in weiten Teilen der Bevölkerung ein hohes Maß an illusionärer Gläubigkeit, an Wunschdenken oder einfach eine Art trotziger Entschlossenheit zu der Hoffnung be­ stand, die bisherigen Opfer könnten unmöglich umsonst gebracht worden sein. Die Gläubigen und Hoffenden konnten sich diese orakelnden Visionen, die der Phantasie keine Grenzen setzten, begierig zu eigen machen. Den Skeptischen und Zweifelnden fehlten lange Zeit die rechten Gegenargumente, denn immerhin war die "Vergeltung" nicht nur von einem Goebbels, sondern wiederholt auch von Hitler selbst angekündigt worden. Mit der Propagierung der "V-Waffen", die im entscheidenden Moment alles zum Besseren wenden würden, verschaffte sich das Regime, das inzwischen keine mili­ tärischen Erfolge mehr vorzuweisen hatte, nicht nur das Jahr 1943 über ein Gutteil sei­ ner "Legitimation" und Stabilität. Mit ihrer Behauptung, sie besäße "nicht nur politi­ sche, sondern auch militärische Voraussetzungen des Sieges"181, konnte die deutsche Führung in viel höherem Maße, als die reale Lage rechtfertigte, ihr Gesicht wahren. Sie stellte damit einen Wechsel auf die Zukunft aus, von dem lange Zeit außerhalb des engsten Machtzirkels niemand sagen konnte, ob er gedeckt war oder nicht. Im Oktober 1943 legte der SD eine Analyse vor, in der es hieß, die "Mehrzahl der Volks­ genossen" erwarte "die entscheidende Wendung des Krieges" von den Vergeltungs­ waffen, und zu Jahresende kam der Sicherheitsdienst zu dem Befund: "Vergeltung und Kriegsentscheidung werden heute vielfach gleichgesetzt." Es bedurfte freilich im­ mer stärkerer, in Presse, Rundfunk und ge zielten Mundpropagandaaktionen verab­ reichter Dosen, um den Glauben an die Wunderwaffen lebendig zu halten. Hitler selbst warf zu Jahresbeginn 1944 sein noch kaum geschmälertes Prestige erneut in die Waagschale, als er versicherte, die Stunde der Vergeltung werde kommen. Der Moment des Vergeltungswaffeneinsatzes war in den Augen der Bevölkerung (deren Illusionsbereitschaft bereits Ernüchterung und bissigen Witzeleien Platz zu machen begann) unwiderruflich gekommen, als die Invasionsarmee Anfang Juni 1944 in der Normandie auf dem Kontinent Fuß faßte. Und tatsächlich, zehn Tage nach der Landung der Alliierten meldete der Wehrmachtsbericht, Südengland und das Stadtge­ biet von London seien "mit neuartigen Sprengkörpern schwersten Kalibers"182 belegt worden. Das war in sehr zurückhaltender Form die seit mehr als einem Jahr erwartete Sensationsnachricht. Die Reaktion beim Großteil der Bevölkerung war nach allen vor­ liegenden Berichten wahrhaft überschäumend. "Man kann wohl sagen, daß das deut­ sche Volk seit langem keinen so glücklichen Tag erlebt hat wie diesen", hielt der Reichspropagandaminister am 17. Juni in seinem Tagebuch fest. Und tags darauf: "Das deutsche Volk befindet sich fast im Fieberrausch ... Zum Teil werden bereits Wetten abgeschlossen, daß der Krieg in drei oder vier oder acht Tagen zu Ende gehe."183

'81 Rede vOn Joseph Goebbels in Kassel am 5. 11. 1943; zit. nach eben da, S. 100. Die beiden folgenden Zitate aus SO-Berichten v. 18. 10. und 27. 12. 1944; zit. nach ebenda, S. 98 und S. 101. S. 101 ff. auch zum folgen­ den. 182 Wehrmachtsbericht v. 16.6. 1944. '83 Goebbels-Tagebücher, Eintragungen v. 17.6. und 18. 6. 1944; IfZ-Archiv, EO 172. Der folgende Stim­ mungsbericht der NSOAP-Kreisleitung BuchenlOdenwald an die Gauleitung Baden v. 1. 11. 1944 in: GLAK, 465d, Nr. 24. 818 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Einige Tage später ersann Hans Schwarz van Berk, einer der fähigsten und leichtfer­ tigsten Wunderwaffenpropagandisten, das von Goebbels und Hitler sogleich akzep­ tierte Markenzeichen "V 1". Diese Bezeichnung der Flugbombe Fi 103 war insofern ein weiterer ingeniöser Einfall, als damit allen, die noch die Versprechungen der Füh• rung im Ohr hatten, die "Vergeltung" werde die Entscheidung bringen, signalisiert wurde, "V 1" sei nur der Einstieg in den Einsatz einer Serie "kriegsentscheidender" Waffen. Damit brauchte der enttäuschende Effekt der "Vergeltung" nicht nur nicht eingestanden werden, damit konnten die enttäuschten Hoffnungen jetzt sogar auf die noch folgenden Wunderwaffen höherer Seriennummer gelenkt werden. Gänzlich überzeugen konnte dieser Trick freilich nicht, und die anfängliche Begei­ sterung begann rasch abzukühlen. Auch die propagandistische Behandlung der V­ Waffen wurde so zurückhaltend, daß die Mitteilung über den Einsatz der V 2-Rakete erst im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 9. November herausgegeben wurde, zu einem Zeitpunkt, als bereits acht Wochen lang mehrere hundert A 4-Pro­ jektile verschossen waren. Diesmal war die Resonanz in der Bevölkerung noch kurzle­ biger als im Sommer, denn schließlich hatte niemand übersehen können, daß es dieser Sommer 1944 gewesen war, der dem Deutschen Reich trotz V 1 und V 2 im Luft­ krieg, an der Ostfront wie an der Westfront, in Italien wie auf dem Balkan die verhee­ rendsten Rückschläge beschert hatte. Eine Woche vor der Nachricht über den V 2- Einsatz hatte die Kreisleitung der NSDAP in Buchen im Odenwald an die badische Gauleitung durchgegeben: "Der Glauben an Wunderwaffen ist dahin, und man sagt sich heute in den meisten Kreisen, daß alles nur Propaganda gewesen ist, um den Feind zu bluffen (gegnerische und böse Menschen sagen sogar, wir sind belogen wor­ den)." Auch wenn der Wunderwaffenglaube seit Jahresbeginn stark nachgelassen hatte, so hatten sich selbst jetzt noch längst nicht alle Hoffnungen und Illusionen verflüchtigt. Bis Ende 1944 blieb in Teilen der Bevölkerung die Bereitschaft aktivierbar, Verhei­ ßungen einer wunderbaren Wende anzunehmen. Der großen Lügenstrategie des Regi­ mes verblieb sogar noch nach den militärischen Katastrophen des Sommers und dem Schock, den das Vordringen feindlicher Truppen auf das Reichsgebiet ausgelöst hatte, ein Rest von Plausibilität. Fingen die Sensationsmeldungen über die V 1 zeitweilig die Enttäuschung über die geglückte Invasion ab, so fielen die Nachrichten über die V 2 in die Wochen zwischen der amerikanischen Eroberung des westlichen Grenzgebietes und dem letzten Wunder, das das Dritte Reich der Bevölkerung bieten konnte, die Großoffensive in den Ardennen. Jedesmal resultierte daraus insofern ein Stabilisie­ rungseffekt, als die Skeptiker vorübergehend widerlegt und verunsichert, die illusions­ bereiten Volksgenossen in ihrem Glauben bestätigt und bestärkt wurden. Im Herbst 1944 war freilich sogar einem Goebbels bewußt, daß nach dem V 2-Verschuß, der die Alliierten weder aufgehalten noch gar eine Wende des Kriegsglücks eingeleitet hatte, in den deutschen Arsenalen keine "Vergeltungs"-Waffen höherer Seriennummer mehr lagerten. Technikern, Wissenschaftlern, Militärs, auch Rüstungsminister Speer war bei der Wunderwaffenpropaganda - die für die Lebensverlängerung des Regimes freilich unver­ zichtbar war - nie ganz wohl gewesen. Obgleich Speer seine Feststellung vor anderem Publikum bezeichnenderweise nicht wiederholte, vertraute er Anfang Dezember 1944 einigen seiner Mitarbeiter angeblich an, "daß wir über eine Wunderwaffe nicht verfügen 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 819 und wohl auch nie verfügen werden"184. Hitler selbst hat sich über den militärischen Wert der V 1 und V 2 gewiß keinen Illusionen hingegeben. Im Januar 1945 sagte er, die V 1 könne "den Krieg leider nicht entscheiden"; das galt für die V 2 ebenso. 185 Aber selbst jetzt profitierte das Regime noch einige Wochen von seinem bedenken­ losen Gaukelspiel, hinter dem längst nichts anderes mehr steckte als die Absicht, ein Volk bei der Stange zu halten, dem es lange einfach an Vorstellungskraft dafür fehlte, die eigene Führung könne ein so unerhörtes Spiel treiben, Sehnsüchte und Wunsch­ vorstellungen nicht nur auszunützen, sondern durch glatte Lügen Durchhalteillu­ sionen sogar selbst noch zu erzeugen. Wie sehr Hoffnungen und Ängste bei einigen auf die Verheißung der "Vergeltungs"-Waffen fixiert waren, läßt der emphatische, sich gegen eine Ernüchterung noch sträubende Appell erahnen, den SS-Hauptsturmführer Rolf d'Alquen Ende Januar 1945 aus dem oberrheinischen Frontgebiet an seinen pro­ minenten Bruder in Berlin richtete. ,,Alle Gedanken kreisen, wie wir bei der Truppe und Bevölkerung festgestellt haben, immer wieder darum", telegraphierte er, "daß die entscheidende Wendung niemals mehr durch die bisherigen Mittel erfolgen könne, sondern daß die Antwort auf die entscheidende Frage nur so lauten könne: Wir wer­ den und müssen die Front noch eine kurze Zeit mit den alten Mitteln halten, dann aber kommt eine Waffe zum Einsatz, die alles Erduldete und alle Rückschläge unge­ schehen macht und an den Fronten selbst die entscheidende Wendung bringt." An­ dernfalls, so d'Alquen weiter, erachte er es für seine Pflicht, darum zu bitten, daß diese Stimmung dem "Führer" bekanntgemacht werde. 186 In der Führung des Deutschen Reiches war diese Stimmung seit langem wohlbe­ kannt, ebenso bekannt wie die Tatsache, daß zwar noch diese und jene militärische Neukonstruktion, aber absolut sicher keine Waffe zu erwarten war, die "alle Rück• schläge ungeschehen" machen würde. Die deutsche Bevölkerung und die deutschen Soldaten aber wurden von einem Regime, das den Zeitpunkt zur Leistung des Offen­ barungseides längst hatte verstreichen lassen, weiter hinters Licht geführt. Hitler selbst benutzte das Argument des baldigen Einsatzes neuer Waffen im März und sogar noch im April 1945 in mehreren Gesprächen, um seinen Generälen den Sinn der Fortfüh• rung dieses Krieges plausibel zu machen.187 Obwohl noch immer ein erstaunlicher Nachhall zu vernehmen war, machte sich in der Bevölkerung endgültige Ernüchterung spätestens im Laufe des Februar und März breit, als die Russen vor Berlin, die Amerikaner in Köln standen. Die Zeugnisse aus diesem Zeitraum sprechen alle die gleiche Sprache. In , so die SD-Au­ ßenstelle in ihrem Stimmungsbericht für Februar 1945, fragten sich die Menschen, warum denn "keine der geheimen Waffen eingesetzt" werde, "um uns den Boden wie­ der zurückzubringen, den wir verloren haben"188. Die Schutzpolizei-Dienstabteilung Kolbermoor berichtete dem Landrat des oberbayerischen Kreises Bad Aibling am 25.

184 Abert Speer, Erinnerungen, Frankfurt 1969, S. 579; Hölsken, V-Waffen, S. 111. I" Vgl. ebenda, S. 92 f. 186 Telegramm von SS-Hauptstunnführer Rolf d'Alquen an SS-Standartenführer Gunter d'Alquen v. 26.1. 1945; BA, NS 19 neu, Nr. 2454. 187 So etwa gegenüber Generalfeldmarschall Kesselring, dem neuen OB West, am 9. 3. 1945; Kesselring, Sol­ dat bis zum letzten Tag, S. 339. Am 11. 3. 1945 bei einem Besuch im Hauptquartier der an der Oder ste­ henden 9. Annee; Fest, Hitler, S. 9991. Gegenüber dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe G im Westen am 2.4. 1945; MacDonald, Last Offensive, S. 412. 188 "Stimmungsbericht für Monat Februar 1945" der SD-Außenstelle Berchtesgaden an die Kreisleitung der NSDAP Berchtesgaden v. 7.3. 1945; StA München, LRA 29 656. 820 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

März: "Gespräche über neue Waffen, die zum Einsatz kommen sollten, hört man ganz selten noch und die großen Erwartungen haben sich gewissermaßen in Enttäuschun• gen gewandelt."189 Der Gendarmerieposten im mittelfränkischen Markt Berolzheim bei Gunzenhausen, das schon wenige Tage später "Frontgebiet" wurde, machte um dieselbe Zeit die gleiche Beobachtung: "Vielfach hört man jetzt auch äußern, es werde doch immer Propaganda gemacht, daß für Bekämpfung der feindlichen Flugzeuge u. dgl. wirksame Gegenmittel zur Verfügung stehen und zur gegebenen Zeit zur Anwen­ dung kommen; man könne nicht verstehen, warum hiermit, sofern dies der Wahrheit entspreche, noch immer zugewartet werde."190 Der Spitzelbericht, der am selben Tag beim SD-Leitabschnitt Stuttgart einging, wurde in der Wiedergabe der Volksmeinung noch deutlicher: "Glaubt hie und da - dies ist jedoch, wie gesagt nur höchst selten der Fall - jemand, die Feinde würden am Ende mit Hilfe neuer Waffen, die nun in 5-6 Wochen zur Anwendung kämen, doch noch geschlagen, so wird er höchstens mitlei­ dig belächelt. Die neuen Waffen einzusetzen, sei jetzt ebenso wenig möglich wie bis­ her, weil es diese neuen Waffen ja gar nicht gebe, wie vor allem auch Industrielle wis­ sen wollen. Wo hätten die Waffen auch produziert werden sollen? Und vor allem, womit hätten sie produziert werden sollen?"191 Der SO zog die Quersumme aus den in Berlin einlaufenden Stimmungsberichten für März 1945 schließlich mit den Sätzen: "Niemand glaubt, daß wir mit den bisherigen Kriegsmitteln und -möglichkeiten noch um die Katastrophe herumkommen. Der letzte Hoffnungsfunke gilt einer Rettung von außen, einem ganz ungewöhnlichen Umstand, einer geheimen Waffe von unge­ heurer Wirkung. Auch dieser Funke ist am Verlöschen. Die breiten Massen haben sich gegen die entsetzliche Hoffnungslosigkeit am längsten zur Wehr gesetzt."192 Ab Januar 1945 hatte die Entfremdung zwischen der Führung und einer Bevölke• rung, die ihren inneren Rückzug aus der nationalsozialistischen Ideologie, nationalisti­ schem Überlegenheitstaumel und zuletzt auch aus gläubiger Führerverehrung viele Monate früher begonnen hatte, noch einmal eine rasante Beschleunigung erfahren. Nicht bloß, daß die meisten Verheißungen und Versprechungen, Beschwörungen und Drohungen immer weniger zugänglich waren und die Propaganda mit Kopfschütteln bedachten - in dem Augenblick, da die von der nationalsozialistischen Führung gefor­ derten und bis zu einem gewissen Grad auch als nationale Pflicht betrachteten An­ strengungen ihren Sinn offenkundig verloren hatten, da schlug in der Erschöpfungs• krise von Wehrmacht und Bevölkerung die Kriegsmüdigkeit in einer Vehemenz durch, gegen die Befehle und Terror letztlich machtlos waren. Bei allem pflichtschul­ digen "Weiterfunktionieren" im letzten Vierteljahr des Krieges trachteten die er­ schöpften Menschen nun überall danach, sich dem untergehenden Regime zu entzie­ hen, legten sie es darauf an, nur noch ein Minimum an Energie für die verlorene nationale Sache, aber ein Maximum an Phantasie und Kraft in die Suche nach einem individuellen Ausweg aus dem Bankrott zu investieren. In bis dahin ungekanntem

189 Monatsbericht der Schutzpolizei-Oienstabteilung Kalbermoor an den Landrat des Kreises Bad Aibling v. 25.3.1945; StA München, LRA 113 8\3. 190 Lagebericht des Gendarmeriepostens Markt Berolzheim an den Landrat in Gunzenhausen v. 27.3. 1945; StA Nümberg, Bestand LRA Gunzenhausen, Abgabe 61, Nr. 4346. 191 SO-Außenstellenbericht an den SO-Leitabschnitt Stuttgart v. 27.3. 1945; StA Ludwigsburg, KIlO, Bü• schel 58. Hervorhebung im Original. 192 Undatierte Zusammenfassung der Stimmungsberichte für März 1945 durch SO-Inland; HZ-Archiv, MA 660. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 821

Ausmaß wurden jetzt Anordnungen unterlaufen und umgangen, folgte man nicht mehr den Befehlen einer durch Mißerfolg und Uneinsichtigkeit diskreditierten Füh• rung, sondern dem eigenen gesunden Menschenverstand und Überlebenswillen. Das zeigte sich bei den in allen Branchen zu beobachtenden erfindungsreichen Manövern zur Substanzwahrung der Wirtschaft, bei der heimlichen Massenbewegung zur Kon­ terkarierung der Politik der "Verbrannten Erde"[93, beim Widerstand gegen die Eva­ kuierungsmaßnahmen [94, bei der mächtigen Initiative zur Nichtverteidigung der Städte und Dörfer, beim Einsatz des Volkssturms und des "Werwolfs". [95 Noch vor der Kapitulation der deutschen Diktatur begab sich die deutsche Gesellschaft auf den Weg zurück zur Selbstbestimmung. Auch die Anzahl der undogmatischen Beamten, der einsichtigen Kommandeure und sogar der vernünftigen NS-Funktionäre verviel­ fachte sich in der Endphase des Krieges mit jeder Woche. Wenig führt die Isolierung und mangelnde Durchsetzungfähigkeit der politischen Führung drastischer vor Augen als die durchgehende Weigerung der Bevölkerung, den Evakuierungsbefehlen der Partei Folge zu leisten. Da die Macht der Partei im März und April 1945 gerade noch zur Terrorisierung einzelner, aber nicht mehr zur allgemeinen Durchsetzung des politischen Willens taugte, stieß, ähnlich wie in ande­ ren Reichsteilen, auch in Württemberg der Ende März erteilte Evakuierungsbefehl des und Reichsverteidigungskommissars Murr im ganzen Land auf dieselbe entschiedene Opposition wie überall. [96 Es war Karfreitag, der 30. März, als beispielsweise in der Ortschaft Bächlingen an der bald so heftig umkämpften Jagst die Anordnung der Kreisleitung Crailsheim ein­ traf, "daß der ganze Kreis geräumt werden sollte, das Vieh geschlachtet, die Höfe an­ gezündet und die Menschen auf die Landstraße zu gehen hätten. Also der glatte Ver­ nichtungsbefehl eines Wahnsinnigen ... , doch war von vornherein jedem klar, daß er Haus und Hof nicht im Stich lassen würde". [97 In Hausen am Bach an der bayerisch­ württembergischen Grenze wollte man lieber "alle Gefahren und Schrecken des über uns gehenden Krieges auf sich nehmen als fort zu gehen von Haus und Hof"[98. In dem ebenfalls zum Landkreis Crailsheim gehörenden Gerabronn war die Reaktion auf den Gauleiterbefehl nach dem Zeugnis des Stadtpfarrers genauso: "Lieber daheim

193 Vgl. zu beidem V/1. 194 Siehe l/6 und IV/2. 19' Vgl. VII/4. 196 Zum Evakuierungsbefehl des Reichsverteidigungskommissars Murr vgl. Paul Sauer, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 489. Die durchgängige Opposition gegen die Evakuierung ist eindeutig ersichtlich aus den württembergischen Ortsberichten zum Kriegsende, auf die sich das folgende unter anderem stützt. Die Sammlung dieser historisch wertvollen Berichte geht auf eine weitsichtige Initia­ tive des Württembergischen Statistischen Landesamtes v. 14.7. 1948 zurück. In einer Rundfrage wurden von allen Landkreisen "geschichtliche Darstellungen der letzten Kriegstage" erbeten. In dem Rundschrei­ ben hieß es u. a., es bestehe die Gefahr, daß den "Geschichtsschreibern, die einmal unsere Zeit behandeln, nur ungenügende Quellen über den hinter uns liegenden Krieg und seine Folgen für unser Land zur Ver­ fügung stehen". Das Ergebnis dieser Aktion war überwältigend und erbrachte viele tausend Blatt detaillier­ ter Berichterstattung aus den Landkreisen Württemberg-Badens. In ihnen spiegelt sich unter anderem in aller Deutlichkeit auch der Kontrast zwischen dem brutalen Auftreten der französischen und dem relativ gewaltlosen Vorgehen der amerikanischen Besatzungstruppen. Aufbewahrt wird dieser Bestand im HStA Stuttgart unter der Bestandsnummer J 170. 197 Undatierter (Ende 1948) Bericht "Die Kämpfe um Bächlingen im April 1945"; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. 198 Undatierter, vom Bürgermeisteramt Hausen am Bach am 8. 10. 1948 an das Württembergische Landesamt übersandter Bericht "Die letzten Kriegstage in Hausen am Bach im April 1945"; ebenda. 822 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland sterben, als auf der Landstraße umkommen", habe es geheißen. [99 Im ebenso schwer umkämpften Landkreis Bad Mergentheim leistete am Sitz der Kreisleitung "mit Aus­ nahme von einigen Familienangehörigen führender Parteimitglieder" den Räumungs• anordnungen ebenfalls niemand mehr Folge.20o Dieselbe Abfuhr erlebten die NS-Funktionäre in allen anderen Landkreisen des Gaues Württemberg-Hohenzollem, und zwar unabhängig davon, ob noch schwere Kämpfe zu erwarten waren oder ob mit einer glimpflich ablaufenden Feindbesetzung gerechnet werden durfte. In Bönnigheim, einem unweit von Heilbronn auf der linken Neckar-Seite gelegenen Städtchen, löste die Räumungsanordnung des Ortsgruppen­ leiters Anfang April "große Unruhe" aus, "aber der gesunde Sinn der Einwohner, so­ wohl der Partei- wie der Nichtparteigenossen siegte". Nur der Ortsgruppenleiter selbst und der stellvertretende Bürgermeister schwangen sich auf ihre Fahrräder. 20 [ In der zwischen Ludwigsburg und an der Enz gelegenen Ortschaft Roßwag berief der Ortsgruppenleiter eine allgemeine Versammlung ein, zeigt sich aber selbst unsi­ cher, wohin die Einwohnerschaft sich eigentlich begeben solle. Nachdem der Pfarrer zu erkennen gegeben hatte, daß er das Dorf, "schon um der Alten und Kranken wil­ len", nicht verlassen werde, setzte sich außer dem Ortsgruppenleiter und seiner Fami­ lie niemand ab. 202 Wenige Tage vor dem Einmarsch der U.S. Army in der Stadt Welz­ heim (Landkreis Waiblingen) am 19. April 1945 wurde die Bevölkerung vom Kreislei­ ter und vom Ortsgruppenleiter der NSDAP vergeblich aufgefordert, "ins Allgäu zu evakuieren", wie eine Darstellung zu den Ereignissen bei Kriegsende vermerkt: "Der ,Amerikanerschreck' wirkte nicht mehr; allgemein lachte man über diese Zumutung. Konnte ein Bauer Haus und Hof und Vieh im Stiche lassen? Sollte ein Handwerker sein Geschäft aufgeben? Wie konnte man es einem Arbeiter zumuten, sein sauer er­ spartes Häuslein zu verlassen! Nur ein schlechtes Gewissen und die daraus folgende Angst konnte einen Menschen vertreiben."203 Zu einem besonders perfiden Trick zur Durchsetzung ihres "blöden Parteibefehls zum Abmarsch nach Süden"204 meinte Mitte April die NSDAP in der etwa 3000 Einwohner zählenden Gemeinde Neuhau­ sen an der Filder im Landkreis Esslingen greifen zu müssen. Dort wurde "das Mär• chen" verbreitet, "der Führer beabsichtige gerade auf den Fildem seine bisher zurück• gehaltene fürchterliche ,Geheimwaffe' zur Anwendung zu bringen, wobei in 30 km Umkreis alles zerstört werde". Aber selbst diese Drohung machte keinen Eindruck mehr. Als die U.S. Army an der Reichsgrenze stand, waren in Deutschland seit der letzten großen Invasion durch eine feindliche Armee 130 Jahre vergangen. Die bewaffnete Macht des Deutschen Reiches hatte überhaupt keine Erfahrung mit Operationen auf

199 Bericht des Gerabronner Stadtpfarrers Hummel "Verlauf der Kriegsereignisse in Gerabronn" v. 26.6. 1945; ebenda. 200 Undatierter Bericht des Stadtpfarrers Gregor Botz "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage auf Grund persönlicher Erlebnisse", dem Württembergischen Statistischen Landesamt vom Bürgermeisteramt der Stadt Bad Mergentheim am 5. 2. 1949 übersandt; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 12. 201 "Geschichtliche Darstellung des Feindüberfalls auf die Stadt Bönnigheim am 7. April 1945" v. 10.12. 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 11. 202 ,,Aus der Kriegschronik von Rosswag, Kreis Vaihingenl Enz", "aufgestellt" von Pfarrer Götz im September 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 19. 203 "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage in der Gemeinde Welzheim/Kreis Waiblingen" von Karl Münz v. 20.9. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 20. 20' Ungezeichnete und undatierte "Geschichtliche Darstellung der Kriegsjahre 1939-1945" der Gemeinde Neuhausen/Filder (1948); HStA Stuttgart, J 170, Büschel 5. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 823 eigenem Territorium, und in Hitlers Denken spielte ein Krieg auf heimischem Boden erst am Ende seiner Laufbahn eine Rolle. Erst als der Feind an die Reichsgrenzen her­ anrückte, traf der "Führer" und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht die Entschei­ dung darüber, wie die Kompetenzen zwischen Armee, Partei und Verwaltung in der Endphase des Krieges verteilt sein sollten. Einigen Gauleitern der NSDAP waren schon mit Kriegsbeginn als "Reichsverteidigungskommisaren" Aufgaben der zivilen Reichsverteidigung übertragen worden.205 Dieser Schritt zur weiteren Befestigung der Macht des Regimes trug den "Charakter einer grundsätzlichen politischen Weichen­ stellung", deren Konsequenzen mit der fortschreitenden "Totalisierung" des Krieges immer fühlbarer wurden. Nach der Ernennung von Joseph Goebbels zum Reichsbe­ vollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz Ende Juli 1944 erfuhren die Machtbefug­ nisse der Gauleiter in ihrer Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissare eine noch­ malige erhebliche Ausweitung. Die "Machtverlagerung in der inneren Verwaltung zugunsten der NSDAP"206 wurde um so stärker spürbar, je bedrohlicher sich die Kriegslage entwickelte, da sich nun fast alle Maßnahmen und Aktivitäten als kriegsnotwendig deklarieren ließen. Die Gauleiter/Reichsverteidigungskommissare, die sich auf die mittlere und untere Ver­ waltung, auf die Organisation der gewerblichen Wirtschaft wie auf die Kreis- und Ortsgruppenleiter der Partei stützen konnten, waren bei Kriegsende bei so wichtigen Aufgaben federführend oder maßgeblich eingeschaltet wie etwa dem Arbeitseinsatz, beim Luftschutz, der Evakuierung der Bevölkerung, bei der u.k.-Stellung, den Aus­ kämmungsaktionen und der Stillegung von Betrieben; auch hinsichtlich der Unter­ bringung und Behandlung von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern, beim Stel­ lungsbau und bei den Schanzarbeiten sowie bei der Aufstellung des Volkssturms207 besaßen sie weitreichende Befugnisse. Der zentrale Erlaß Hitlers über die "Befehlsge­ walt im Operationsgebiet des Reiches", der die starke Stellung der Gauleiter ein­ drucksvoll unterstrich, erging im September 1944. Seiner Kernbestimmung zufolge hatte der Reichsverteidigungskommissar im Operationsgebiet bis hin zur Front die staatlichen Hoheitsrechte und Verwaltungsbefugnisse inne. Lediglich in der "unmit­ telbaren Kampfzone" (verstanden als ein Streifen von etwa 20 Kilometern Tiefe), die im Frühjahr 1945 rasch ostwärts wanderte, besaß der militärische Befehlshaber die vollziehende Gewalt.208 In den letzten Monaten des Krieges, als Regionalisierung und Isolierung die Entwicklung in weiten Bereichen von Staat und Gesellschaft bestimm-

'0' Übersichtlich allgemein hierzu Karl Teppe, Der Reichsverteidigungskommissar. Organisation und Praxis in Westfalen, in: Rebentisch, Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung, S. 278ff. Das folgende Zitat ebenda, S. 281. Die knappe Skizze stützt sich vor allem auf diese Studie. '06 Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Ver­ waltungsperspektive 1939-1945, Stuttgart 1989, S. 281; auch zum folgenden. Vgl. auch Peter Diehl-Thiele, Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung 1933-1945, München 1969, S. 190ft. '07 Vgl. 1/6 und VII/4. '08 "Zweiter Erlaß des Führers über die Zusammenarbeit von Partei und Wehrmacht in einem Operationsge­ biet innerhalb des Reiches vom 19. September 1944" und "Zweiter Erlaß des Führers über die Befehlsge­ walt in einem Operationsgebiet innerhalb des Reiches vom 20. September 1944"; beide in: Walther Hu­ batsch (Hrsg.), Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, Kablenz '1983, S. 292 ff. Die vorangegangenen, überholten Erlasse von Juli 1944 hierzu ebenda, S. 255 ff. Vgl. dazu auch Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 1881. Vgl. auch Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1294. 824 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland tenZ09, waren die Gauleiter/Reichsverteidigungskommissare von ihren verbrieften Kompetenzen her "absolute Herrscher"210 oder wenigstens "die eigentlichen Befehls­ haber"z11 in ihren Gebieten. Diese Entwicklung war ähnlich wie die Aktivierung der Lügenpropaganda und das Anschwellen des Durchhalte-Terrors eine Funktion des rapiden Legitimations­ schwunds des Regimes und ein "Eingeständnis des bevorstehenden Zusammen­ bruchs"z12, also gerade das Gegenteil einer Straffung oder Vereinfachung der Reichs­ verwaltung. Anzeichen für deren Auflösung häuften sich Anfang 1945 nicht nur in­ folge der immer massiver werdenden Zerstörung der deutschen Infrastruktur oder der nicht mehr steuerbaren Massenproblerne wie des Flüchtlingsstromes aus dem Osten. Das gewissermaßen normale Kompetenzchaos und die "fundamentale Abnormität", die den Führerstaat immer gekennzeichnet hatten, mündeten im letzten Vierteljahr des Krieges in eine paralysierend wirkende Komplizierung der Befehlsstrukturen an jedem einzelnen Ort. Die sukzessive Unterstellung der rechtsrheinischen Wehrkreise unter den Befehl des OB West setzte dem "System der übereinandergelagerten Be­ fehlsstränge und der sich gegenseitig blockierenden Kompetenzen"z13 nur noch die Krone auf.2 14 Doch nicht nur dieser "Befehlswirrwarr"z15 nahm der Partei viel von ih­ rem Einfluß. Im letzten Vierteljahr des Krieges machten sich auch innerhalb ihrer Or­ ganisation auf der unteren Ebene Paralysierungstendenzen bemerkbar, mit denen sich die NSDAP gewissermaßen selbst schwächte. Sie war deshalb meist gar nicht im­ stande, ihre erweiterten Kompetenzen auch tatsächlich wahrzunehmen. Wie über die Soldaten, Beamten und die Bevölkerung allgemein, ergossen sich, je rascher der Stern des Regimes sank, auch über die Mitglieder und Funktionäre der Partei immer emphatischere Appelle. Obwohl ihr Ansehen bei der Bevölkerung mitt­ lerweile weitgehend ruiniert war216, lautete das Credo der NS-Bewegung weiterhin: "Der Sieg steht und fällt mit der Partei als Führung der Heimat".217 , der Leiter der Parteikanzlei, hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß die Funktionäre der NSDAP in den Gauen und Landkreisen sich nicht darauf beschränken würden, ihre weitreichenden Befugnisse im Bereich der inneren Verwaltung und der zivilen Reichsverteidigung zu nutzen, sich in der großen Krise auch nicht bloß einer intensi­ veren "Menschenführung" widmen wollten, sondern daß die Politischen Leiter der NSDAP bei der Verteidigung der Heimat höchstpersönlich in vorderster Front stehen würden - für die politische Elite einer Bewegung, die das Prinzip des Kampfes in den

209 Hüttenberger, Gauleiter, S. 195. 210 So Jochen Klenner, Verhältnis von Partei und Staat 1933-1945. Dargestellt am Beispiel Bayerns, München 1974, S. 339. 211 Teppe, Reichsverteidigungskommissar, in: Rebentisch, Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenfüh• rung, S. 301. 212 Rebentisch, Führerstaat, S. 531. Die anschließende Bemerkung eben da, S. 529. Das folgende Zitat findet sich bei Rebentisch, Hitlers Reichskanzlei, in: Rebentisch, Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenfüh• rung, S. 98. 21J Münkler, Machtzerfall, S. 32. 214 Die Daten der Unterstellungen der Wehrkreise finden sich bei Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 74 ff; im Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1290ff. Zu den Kompetenzkonflikten zwischen Wehrmacht und Par­ tei vgl. auch Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, S. 384. 21' So Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 18. Aus den zahlreichen Gesprächen mit Herrn Brückner, dem ich dafür danke, habe ich manchen Gewinn gezogen. 216 Allgemein hierzu Kershaw, Hitler-Mythos, S. 135 ff. 217 Internes Memorandum der Parteikanzlei v. 27.8. 1943; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 407. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 825

Mittelpunkt ihrer Weltanschauung gestellt hatte und die Notwendigkeit des Krieges mit der Sicherung der Existenzgrundlagen des deutschen Vokes begründete, war das an sich die pure Selbstverständlichkeit. Die Häufung der Appelle an die von der Be­ völkerung weithin als Bonzen abgetanen "Goldfasanen" zeigt freilich, daß die Partei­ führung von Anfang an nicht recht davon überzeugt gewesen zu sein scheint, die Gau­ leiter, Kreisleiter und Ortsgruppenleiter der NSDAP würden im Kampf um Deutsch­ land nun auch selbst ein Beispiel jenes Heroismus' geben, den sie beständig im Munde führten und ihrer "Gefolgschaft" oft bis zur letzten Minute vor dem Eintreffen der feindlichen Panzer unter Androhung drakonischer Strafen abforderten. Auch Jo­ seph Goebbels wußte, daß mit der unmittelbaren militärischen Bedrohung des Reichs­ gebietes für die Partei und ihre Funktionäre die Stunde der Wahrheit angebrochen war: "Irgendwie und irgendwann muß die Partei ja auch einmal mit dem Leben ihrer führenden Männer für ihre Sache eintreten", schrieb der Gauleiter von Berlin in sein Tagebuch, nachdem der Feind die Reichsgrenze überschritten hatte. 21B Für die Kreisleiter und Ortsgruppenleiter der NSDAP konnte es ebenfalls über• haupt keinen Zweifel geben, daß sie nunmehr an den Maßstäben gemessen würden, die sie über Jahre hin für heilig erklärt hatten. Doch die erste Gelegenheit zu persönli• chem Heldentum - Mitte September 1944, als die ersten amerikanischen Einheiten bei Aachen die Reichsgrenze überschritten - ließen die NSDAP-Funktionäre dieser Stadt verstreichen. Zusammen mit dem Kreisleiter setzten sie sich bei der Annähe• rung amerikanischer Panzer am Abend des 12. September heimlich aus Aachen ab und ließen die dortige Bevölkerung schmählich im Stich. Erst als sich die militärische Lage im Vorfeld der Grenzstadt überraschend stabilisierte, kehrten sie kleinlaut wie­ der zurück. Die Gauleitung Köln-Aachen unter Josef Grohe sprach im Hinblick auf das Verhalten ihrer Politischen Leiter in Aachen selbst von "Führungslosigkeit" und "panikartiger F1ucht".219 Die erste Probe auf die Standfestigkeit der Parteifunktionäre bei Feindannäherung im westlichen Grenzgebiet war mißglückt, doch konnte das notfalls damit erklärt Wer­ den, daß der amerikanische Vorstoß für alle überraschend gekommen und sich weder die höhere noch die örtliche Parteiführung so recht darüber im klaren war, was in ei­ ner solchen Situation zu geschehen hatte. Einerseits war die Evakuierung der Bevölke• rung angeordnet, andererseits hatte die Aachener noch bei einem Besuch am 10. September persönlich zum Ausharren und Durchhalten aufgefordert. Freilich hätte sich dies gerade die Kreisleitung zu Herzen nehmen müssen; nach der glücklichen Stabilisierung der Lage gewann dann letztlich aber die Tendenz oberhand, über das Versagen der Kreisleitung Aachen den Mantel der Nächstenliebe und Nach­ sicht zu breiten. Das ging um so eher noch einmal hin, als Gauleiter und Reichsvertei­ digungskommissar Grohe Ende September in einem Schreiben an Bormann erläu• terte, daß die vom alliierten Vorstoß ausgelöste Belastung von Partei und Bevölkerung "in plötzlichem Stoß auftrat, da zwischen der aus den zuversichtlich lautenden Wehr­ machtsberichten und Pressekommentaren sich ergebenden ruhigen Beurteilung der Situation und den plötzlich einsetzenden Ereignissen für die Bevölkerung und die Po-

"8 Eintragung v. 25.9. 1944; in: Goebbels-Tagebücher 1944, HZ-Archiv, ED 172. 219 Vgl. hierzu Klaus Pabst, Die Nachkriegszeit begann in Aachen, in: Walter Först (Hrsg.), Beiderseits der Grenzen, Köln 1987, S. 14. Zu Aachen im Herbst 1944 vgl. 1JI/2. 826 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

!itischen Leiter und Parteigenossen in den Kreisen und Ortsgruppen kein Spielraum zu innerer Umstellung und Vorbereitung blieb"220. Die Feigheit der NSDAP-Funktionäre im Westen paßte schlecht zu der Anfang August im Auftrag Hitlers ergangenen Anweisung Bormanns über das Verhalten der Parteiführerschaft, in der davon die Rede war, nach dem Attentat vom 20. Juli müsse die breite Masse "stärker denn je" die Überzeugung gewinnen, "daß seine nationalso­ zialistische Führerschaft die beste ist, die unser Volk haben kann"221. Unmittelbar nach den peinlichen Aachener Zwischenfällen wurden die Anweisungen an das Korps der Politischen Leiter der NSDAP wesentlich konkreter. Auf "Veranlassung" Bor­ manns (wie der "Sekretär des Führers" gegenüber den Gauleitern herausstellte222) gab das OKW am 13. September eine Anordnung über das "Verhalten der Parteiführer• schaft in Gebieten, die vom Feind besetzt werden", heraus, die einige Tage später auch als Anordnung der Parteikanzlei erging. Ihr Kernsatz lautete: "Für den Fall überra• schender Besetzung von Gebietsteilen durch den Feind hat der Führer zugestimmt, daß die Parteiführerschaft sich freiwillig zum Wehrdienst meldet und sich der kämp• fenden Truppe anschließt"223, und zwar, wie Bormann klarstellte, "ohne Rücksicht auf Alter und Wehrtauglichkeit".224 Freilich blieb es letztlich dem ranghöchsten örtlichen Politischen Leiter überlassen, den Zeitpunkt der "Einreihung in die Wehrmacht" im Einvernehmen mit dem lokalen militärischen Führer zu bestimmen.225 Wie notwendig solche Anweisungen waren, demonstrierte das Verhalten der NS­ Funktionäre überall. Die "Goldfasanen" dachten in der Regel gar nicht daran, ihre ei­ genen Parolen ernst zu nehmen oder sich der übermächtigen Verlockung zu widerset­ zen, die von ihnen geleiteten Evakuierungsmaßnahmen dazu zu nutzen, auch sich selbst mitsamt Familie und persönlicher Habe in Sicherheit zu bringen. Mitte Sep­ tember berichtete der Chef des Reichssicherheitshauptamtes dem Reichsführer-SS von zwei prominenten Beamten und einem höheren Funktionär der Landesbauern­ schaft Moselland, die bereits im August "ihren gesamten Hausrat einschI. der Möbel mit LKW nach Koblenz" und "in andere Gebiete des Gaues" gebracht hätten. "Habe Weisung gegeben", so Kaltenbrunner, "die Genannten verhaften zu lassen".226 Der SD-Leitabschnitt Düsseldorf gab Ende desselben Monats einen Spitzelbericht nach Berlin weiter, in dem die örtlichen NS-Funktionäre ebenfalls schlecht wegkamen. Als bei Schanzarbeiten im Raum Kleve im Zusammenhang mit der fehlgeschlagenen alli­ ierten Operation bei Arnheim feindliche Fallschirmjäger niedergingen, seien die Poli­ tischen Leiter der NSDAP "kaum noch zu sehen" gewesen. Sie hätten es "am eilig­ sten" gehabt, nach Hause zu kommen. Ein ,,Alt-Parteigenosse" hatte dieses Verhalten nach Darstellung des Informanten sehr abfällig kommentiert: ",Hier hat die Partei ihr letztes Renommee verloren'. Die ersten, die in den Absprunggebieten (z. B. bei Kra-

220 Bericht Grohes an Bonnann v. 28.9. 1944; BA, R 58/976. 221 Anordnung 167/44 der Partei-Kanzlei v. 1. 8. 1944, in: Verfügungen, Anordnungen, Bekanntgaben, hrsg. von der Partei-Kanzlei, Bd. VII, Teil 2 aus 1944, München 1944, S. 4; HZ-Archiv, Db 15.04 (c). 222 Schreiben Bonnanns an die Gauleiter v. 16.9. 1944; BA, NS 8/130. 22J Anordnung 259/44g der Partei-Kanzlei v. 22.9. 1944, in: Verfügungen der Partei-Kanzlei, VII, 1944, S. 6; IfZ-Archiv, Db 15.04 (c). Der OKW-Befehl datiert v. 13.9. 1944. 224 Schreiben Bonnanns an die Gauleiter v. 16.9. 1944; BA, NS 8/130. '" "Ergänzungsbefehl" des OKW zu dessen Befehl v. 13.9. 1944; BA, NS 8/130. Übennittelt als Rundschrei­ ben 291/44g der Partei-Kanzlei v. 1. 10. 1944, in: Verfügungen der Partei-Kanzlei, VII, 1944, S. 6 f.; IfZ­ Archiv, Db 15.04 (c). 226 Fernschreiben Kaltenbrunners an Himmler v. 16.9. 1945; BA, R 58/976. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 827 nenburg) türmten, waren in brauner Uniform. Die Landstraße Kleve-Kranenburg lag voller Uniformjacken und Armbinden. So zeigten die politischen Leiter ihren Mut, als es ernst wurde. Dabei hatten diese Halunken alle Pistolen. Hätten wir die gehabt, wir hätten manchen abgeknallt!"227 Die Gauleitung Moselland wußte, welche Verlockun­ gen die Evakuierung für deren Organisatoren selbst bot, und schärfte diesen deshalb Anfang Oktober ein: ,,Auf keinen Fall dürfen in den Aufnahmekreisen bereits jetzt vorsorglich Quartiere festgelegt werden für Beamte und politische Leiter der Grenz­ kreise."228 Der Defätismus grassierte unter den politischen Eliten des Nationalsozialis­ mus nicht nur im Westen. Im Januar 1945, als Himmler den SS-Standartenführer und Polizeipräsidenten von Bromberg wegen "Feigheit und Pflichtvergessenheit" degra­ dieren und "unverzüglich" erschießen ließ, stieß Bormann aus gleichem Grunde auch den Bromberger Kreisleiter der NSDAP aus der Partei aus; er kam mit dem Einsatz in einem Bewährungsbataillon davon. 229 Bis Anfang Februar 1945 bestanden freilich genügend gute Gelegenheiten, die Rückführungsmaßnahmen zur eigenen Evakuierung zu nutzen. Als die Offensive Ei­ senhowers Ende des Monats wieder in Gang kam, mußten die "Goldfasane" auf dieses Mimikry aber weitgehend verzichten. Obgleich Hitler noch immer auf der nicht mehr durchsetzbaren und auch nicht mehr durchführbaren Wegführung der Bevölkerung aus dem Kampfgebiet bestand, hörten die Evakuierungen großen Stils nun bald auf. Eines war deshalb im Westen 1945 hinfort denn auch ziemlich eindeutig: Ein Politi­ scher Leiter, der jetzt noch "auswich", floh. Deshalb ging nicht nur auf den erschöpf• ten Soldaten und die kriegsmüde Bevölkerung, sondern auch auf die massive defätisti• sche Tendenzen offenbarenden NSDAP-Funktionäre selbst ein dichter Hagel von Durchhalteappellen nieder. Die militärische Entwicklung im Osten wie im Westen bestimmte dabei deren schriller werdendes Crescendo. Am 8. Februar 1945 richtete Martin Bormann ein Fernschreiben ("Vorbereitung auf Feindoffensive im Westen") an die zehn Gauleiter im frontnahen Gebiet. Darin be­ schwor er sie, bei dem bevorstehenden Angriff der alliierten Armeen unbedingt die bei früheren Großoffensiven gemachten und "jetzt neuerdings im Osten" wieder be­ stätigten Erfahrungen zu beachten. Auf keinen Fall dürfe es zu einer neuerlichen gro­ ßen Evakuierungswelle kommen; schon die Wegführung von Frauen und Kindern aus der unmittelbaren Kampfzone könne "erfahrungsgemäß leicht zum Signal einer Mas­ senflucht werden". Um ein "Weichwerden" der Fronttruppenteile zu verhindern, habe er den Reichsführer-SS gebeten, schon jetzt eine größere Zahl seiner im Osten so be­ währten Auffangkommandos aufzustellen. Bormanns Anweisung an die Politischen Leiter war unmißverständlich: ,Jeder Hoheitsträger und jeder Amtsträger der Bewe­ gung hat ebenso wie jeder Funktionär des Staates auf seinem Platz unter allen Um­ ständen und unter schonungslosem Einsatz seines Lebens solange auszuhalten, bis entweder seine Aufgabe erledigt ist, oder auch der letzte Teil seines Tätigkeitsbereichs in die HKL. einbezogen iSt."230 Eine Woche danach verbot die Parteikanzlei den

227 Bericht des SD-Leitabschnittes Düsseldorf an das Reichssicherheitshauptamt v. 27.9. 1944; ebenda. 228 Erlaß der Gauleitung Moselland v. 9. 10. 1944; LHA Koblenz, Bestand 662,5, Nr. 102. 229 Das ergibt sich aus einem Rundschreiben des Reichspropagandaministers an die Abteilungsleiter seines Hauses "Verhalten der Dienststellen bei Feindnäherung" v. 6.2. 1945; BA, R 55/71l. 230 Femschreiben Bormanns an die Gauleiter der Gaue Baden, Düsseldorf, , Hessen/Nassau, Köln-Aachen, Moselland, Weser-Ems, Westfalen-Nord, Westfalen-Süd und Westmark v. 8.2.1945; BA, NS 19 alt/32l. Dort 828 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

NSDAP-Funktionären, ihre Frauen zu evakuieren, bevor ein allgemeiner Räumungs• befehl ergangen war. 23l Eine weitere Woche später ordnete der "Sekretär des Führers" an, daß jeder, der seine dienstlichen Befugnisse dazu mißbrauche, sich und seiner Fa­ milie Vorteile zu verschaffen, aus der Partei auszustoßen sei.232 Zur 25. Wiederkehr des Jahrestages der "Verkündung" des Programmes der NSDAP - im Rheinland hatte gerade die Schlußoffensive der Westmächte begonnen - wandte sich Bormann in einer großen Adresse an sämtliche Parteigenossen. Nicht ohne zuvor an die "sechzehn Märtyrer der Feldherrnhalle" erinnert zu haben, schrieb er den Mitgliedem, jetzt, da der Krieg auf dem Boden der Heimat durchgekämpft werden müsse, hänge der Bestand und die Zukunft des deutschen Volkes "von der in­ neren Kraft der Bewegung Adolf Hitlers" ab: "Nun ist jeder, Soldat wie Zivilist, Mann wie Frau, Jugendlicher wie Greis, eingereiht in die Front der Kämpfer. Nun scheidet sich, wie einst in der Zeit des inneren Kampfes, die Spreu vom Weizen. Nun ent­ scheidet sich, ob wir berechnende Mitläufer waren oder selbstlose Bekenner sind." Und weiter: ,Jetzt geht es um nichts anderes als um unser aller Leben; und diese Al­ ternative läßt keine Bedenken in der Wahl der Mittel und keine Beugung des Begriffs der Selbstaufopferung mehr zu. Wer nun noch an sich denkt, wer nun noch mit dem Gedanken des Zurückweichens und der Absetzung spielt, wird zum Verräter am Volk und zum Mörder unserer Frauen und Kinder. .. Wer niemals aufgibt zu kämpfen und lieber zwischen Trümmern fällt, als einen Schritt nur zu weichen, ist unbesiegbar; und unter diesem unbeugsamen Naturgesetz bricht jede rechnerische Kalkulation, jedes scheinbar kluge Abwägen des Für und Wider unerbitterlich zusammen, denn zu allen Zeiten haben die Starken und nicht die Feigen, die Unerschütterlichen und nicht die Wankenden, die Kämpfer und nicht die ängstlichen Rechner letztlich recht behalten und den Sieg davongetragen. Von jedem Parteiführer verlangt der Führer und erwartet das Volk, daß er durchhält bis zum Letzten und niemals auf die eigene Rettung be­ dacht ist. Die Parteigenossenschaft hat sich als unerschütterlicher Fels in der Bran­ dung des Krieges zu erweisen, denn nun tritt an die Stelle vermeintlicher Vorrechte bedingungslos die Forderung der höheren Pflicht. Jeder Mann aber, der die Waffe tra­ gen kann, hat um der Heimat willen, die er liebt, zum Schutz der Frauen und Kinder, mit seinem Leib sich gegen den Feind zu werfen. Jede Frau unterwirft sich dem Gebot der Stunde und nimmt mutig auf sich jedes Ungemach, jede Trennung von Heim und Mann, jede Beanspruchung ihrer seelischen und körperlichen Kräfte, notfalls auch Gefahr und Todesnot." Der Leiter der Parteikanzlei schloß mit dem Aufruf: "Parteige­ nossen! Es geht um unser Leben und das unserer Kinder! Es gibt kein Opfer, das die­ ses Ziel nicht Wert ist! Nun ist das Schicksal Deutschlands in jedes Einzelnen Hände gelegt! Wer siegen will, muß rückhaltlos zu opfern und anständig zu sterben wissen. Wer sein Leben zu retten versucht, ist mit Gewißheit, und sei es durch Urteil des Vol­ kes, dem Tode verfallen. Es gibt nur eine Möglichkeit, am Leben zu bleiben: die Be­ reitschaft kämpfend zu sterben und damit den Sieg zu erzwingen!"233

auch ein Schreiben Bonnanns an Himmler betreffend die "Vorbereitungen für die bevorstehende Feindof­ fensive im Westen" vom gleichen Tage. 231 Rundschreiben Bonnanns an die Gauleiter v. 16./20.2. 1945; Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, I, Nr. 18321. 2J2 Anordnung der Partei-Kanzlei 98/45 v. 23.2. 1945; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 561. 233 Rundschreiben Bonnanns an alle Parteigenossen betreffend ,,25. Jahrestag der Verkündung des Parteipro­ gramms" v. 24.2. 1945; BA, R 55/460. Hervorhebung im Original. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 829

Ebenso wie die Goebbelssche Propaganda, hatte auch diese desperate Diktion nichts mehr mit der Lebenswirklichkeit der Politischen Leiter und sonstigen NS­ Amtsträger zu tun, war die Kluft zwischen Parteiführung und Parteifunktionären, (ganz zu schweigen von den Parteigenossen) im letzten Vierteljahr des Krieges ge­ nauso groß geworden wie die Kluft zwischen Wehrmachtsführung und Armee, wie generell zwischen Volk und Führung. Die Partei, deren Macht am Ort mit der Ver­ schlechterung der allgemeinen Kriegslage - in den Augen der Bevölkerung: bezeich­ nenderweise - stetig zugenommen hatte, galt als "verbond', sie war mittlerweile hoff­ nungslos diskreditiert. In ihrem Ansehen rangierte die NSDAP immer weiter hinter der Beamtenschaft, der Wehrmacht oder gar hinter Hitler selbst. Das Verhalten ihrer Führer im frontnahen Gebiet (von dem es namentlich im Osten freilich manche Ausnahme gab) schien die Berechtigung dieser Geringschät• zung nur allzu deutlich zu bestätigen. Der Gauleiter von Halle-Merseburg glaubte, eine ungeschickte Berichterstattung habe mit zu diesem Vertrauenseinbruch beigetra­ gen. In einem Schreiben an Bormann bezweifelte er im Februar, ob es "politisch trag­ bar" sei, "jeden 2. Tag darauf hinzuweisen, daß politische Führer oder hohe Beamte to­ tal versagt haben und dieserhalb standrechtlich abgeurteilt werden. Was soll die Bevöl• kerung davon denken, deren Vertrauen in die Führung durch die militärischen Ereig­ nisse und die Nichterfüllung der von der Propaganda gemachten Prophezeiungen und Versprechungen aufs Schwerste erschüttert ist. Wie sollen sich politische Führer im Vertrauen der Bevölkerung halten, wenn täglich derartige Entgleisungen groß heraus­ geschrien werden", fragte Joachim Albrecht Eggeling. 234 Der Gauleiter hatte damit das unauflösliche Dilemma benannt, vor dem jetzt nicht nur die Parteiorganisation stand. Je drastischer die Führung die Abschreckungsmaßnahmen gegen ihre eigenen Funktionäre verschärfte, desto deutlicher führte sie der Bevölkerung die innere Verfas­ sung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in deren Defätismuskrise des letzten Vierteljahrs des Krieges vor Augen. Mittlerweile hatte die Parteikanzlei auch schon einige hilflose Versuche gestartet, ihre kämpferische Rhetorik durch echtes Kämpferturn zu untermauern. Doch damit erlebte sie bei wirklich kampferprobten Männern eine schreckliche Abfuhr. Mitte Fe­ bruar kehrte der (bei seinen Vorgesetzten wegen besonders guter Haltung aufgefal­ lene) Führer eines jener gefürchteten ,,Alarmkommandos" der SS - Ritterkreuzträger und Angehöriger auch der Allgemeinen SS - nach Berlin zurück, um dem Chef des SS-Hauptamtes über seine Erfahrungen an der Ostfront zu berichten. Bei dieser Gele­ genheit stattete er auch zwei führenden Mitarbeitern der Parteikanzlei einen Besuch ab, von dem er, wie SS-Obergruppenführer dem Persönlichen Stab Himmlers berichtete, "stark deprimiert wiedergekommen" sei. Die Partei, so erzählte der Führer des Alarmkommandos nach seiner Rückkehr, beabsichtige nämlich, ,,1500 Parteiführer freizumachen, um sie als ,politische Kampfkommandanten' zum Einsatz zu bringen, und zwar sollen die Offiziere in Wehrmachtuniformen, die Nichtoffiziere in Parteiuniformen ihren Dienst machen". Der darob einigermaßen fassungslose Rit­ terkreuzträger bat, "den Reichsführer-SS doch darauf aufmerksam zu machen, daß bei der augenblicklich an der Front befindlichen Stimmung man Leute in Parteiuniform totschlagen würde". Auch nach Bergers Ansicht brauchte man keine "Politischen

2" Schreiben von Gauleiter Eggeling an Bormann v. 10.2. 1945; BA, R 55/1394. 830 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Kampfkommandanten", sondern "in dieser Härte des Krieges tapfere Soldaten ... Auch ich bin ein Gegner, daß jetzt alle möglichen Stellen in die Front hineinreden! An der Front hat nur der etwas zu sagen, der selber vorn steht."235 Diese gewiß nicht verborgen gebliebene Geringschätzung der wohlmeinenden Ver­ suche der Parteikanzlei, mit den eigenen Leuten zur Stabilisierung der Front beizutra­ gen, war keine Einzelerscheinung. Anfang März befahl Bormann den "Sondereinsatz der Parteikanzlei in frontnahen Gebieten" und ordnete dazu die Abstellung von fünf bewährten Führungskräften je Gau an. Auch dieser Anlauf mündete in einem "völli• gen Fiasko"236. Man mußte feststellen, daß ,,Anwesenheit und Einsatz" der von der Parteikanzlei abgeordneten Kräfte "nicht als willkommen angesehen" wurden. Wo sie, wie in Hessen-Nassau, doch zum Einsatz kamen, zeigten die örtlichen ParteisteIlen kaum Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Dort war das Sonderkommando überdies "re­ lativ hilflos in den umkämpften Gebieten herumgeirrt, stets in der Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten"237. Auch den März und April über, als längst Hunderte von fliehenden Amts- und Hoheitsträgern der Bevölkerung Tag für Tag den - an den Maßstäben der Partei ge­ messen! - vollkommenen moralischen Bankrott der NSDAP vor Augen führten, gab Bormann Aufruf nach Aufruf heraus. Zum Zeitpunkt, als der totgeborene "Sonderein­ satz" erdacht wurde, bekamen die Politischen Leiter ein Rundschreiben mit einem Vergleich aus dem Tierreich (" ... genau wie das Tier in der Natur um unser Dasein und das unserer Jungen kämpfen")238, zum 1. April den Appell, demzufolge Gauleiter, Kreisleiter und sonstige Politische Leiter "in ihrem Gau und Kreis" zu kämpfen hät• ten. "Siegen oder fallen", lautete die Alternative, bei deren Beherzigung kein NS­ Funktionär den Krieg hätte überleben dürfen.239 Der gleiche Hohn auf die Wirklich­ keit sprach aus dem am Tag vor der Berliner Operation der Roten Armee produzier­ ten Rundschreiben. Der "Führer" erwarte, so belehrte sein Sekretär die "Hoheits­ träger" über deren "Einsatzpflicht", daß diese in ihren Gauen jede Lage "blitzschnell mit äußerster Härte" meisterten. Und er fügte jetzt, zwei Wochen vor Hitlers Selbst­ mord, die Worte an: "Die Führernaturen haben alle hemmenden Brücken abgebro­ chen."24o Die meisten Gaue der NSDAP waren mittlerweile in der Hand der Anti­ Hitler-Koalition. In den noch unbesetzten Reichsteilen in Nord- und Süddeutschland werden die meisten "Hoheitsträger" den letzten Appell aus Berlin nicht mehr ver­ nommen haben. Das verschlug wenig, denn mittlerweile hatte sich längst gezeigt, daß der "Sekretär des Führers" ohnehin ins Leere predigte. Noch augenfälliger als in der Friedenssehnsucht der Bevölkerung, der Desintegra­ tion der Wehrmacht oder in den Funktionslähmungen von Wirtschaft und Verwal­ tung offenbarte sich der Bankrott des Regimes in dem geradezu unwirklichen Zerfall der Hitler-Partei und ihrem totalen Einflußverlust seit ungefähr Februar 1945 - un­ wirklich und gespenstisch vor allem wegen des phänomenalen Kontrastes zwischen

235 Schreiben Gottlob Bergers an SS-Standartenführer Rudolf Brandt vom Persönlichen Stab Reichsführer-SS v. 18.2. 1945; BA, NS 19 alt/378. 236 So Peter Longerich in seiner Einleitung zu: Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, II (Ms., S. 368 f.). 237 Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, II (Ms., S. 369). ZJ8 Rundschreiben der Partei-Kanzlei 131/45 v. 8.3. 1945; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 562. 239 Appell Bormanns an alle , Gauleiter und Verbandsführer v. 1. 4. 1945; zit. nach Steinert, 23 Tage, S. 34. 210 Rundschreiben der Partei-Kanzlei 211/45 v. 15.4.1945; zit. nach Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, II (Ms., S. 370). 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 831 dem in der Krise des Krieges noch gewachsenen Anspruch der NSDAP und der ad oculos demonstrierten erbärmlichen Unwahrhaftigkeit und Feigheit ihrer politischen Elite. In dem Augenblick, als sie nach Jahren heldischen Bramarbasierens zum ersten Mal in ihrer Karriere mit der eigenen Person für ihre Sache hätten "einstehen" sollen, da versagten die sogenannten Hoheitsträger. Durch die Rhetorik martialischer Unbe­ dingtheit, besonders aber durch die bis zur letzten Minute tatsächlich auch ausge­ spielte Macht über Leben und Tod in ihrem Herrschaftsbereich, wurde der scharfe Kontrast zwischen hohem Anspruch und kläglicher Realität nur um so deutlicher. Die Endphase des Krieges brachte es an den Tag, daß die Bindung der Politischen Leiter der NSDAP an die Ideen und Befehle ihres "Führers" nur so lange hielt, wie sich die persönlichen Kosten dieser Art von Treue in Grenzen hielten; sie war bei ih­ nen zumeist nicht weniger vordergründig als bei dem Gros der Parteigenossen, der ge­ wöhnliche Opportunismus ebenso tief eingefressen. Die allermeisten politischen Eli­ ten des Nationalsozialismus warfen die Tür gerade nicht mit jenem von Goebbels beschworenen Krachen hinter sich zu, das die ganze Welt hören sollte241 , vielmehr stahlen sie sich, als die Amerikaner anrückten, meist mit kläglichen Manövern aus ih­ rer zuvor als historisch betrachteten Rolle. Das geschah meist in einer Erbärmlichkeit und Kleinkariertheit, die den "Geist" der NS-Bewegung vielleicht nicht weniger nach­ haltig ertötet hat als deren Fehler und Versagen. Die "Hoheitsträger" führten damit die Ziele ihrer Partei wie "ihre eigenen Parolen ad absurdum"242. Die Desertion der Politischen Leiter der NSDAP im amerikanischen Besetzungsge­ biet war ein Massenphänomen. Zu Beginn des feindlichen Einmarsches im Herbst 1944 noch nicht in jedem einzelnen Falle als ordinäre Flucht kenntlich, gab es im letzten Vierteljahr des Krieges für einen Ortsgruppenleiter oder Kreisleiter keinerlei Rechtfertigung mehr dafür, seine in die unmittelbare Kampfzone geratenden "Volks­ genossen" im Stich zu lassen. Eine grundlegende Alternative zur Flucht hätte in dem Entschluß bestanden, zur kampflosen Übergabe des Heimatortes beizutragen. Unter den Kreisleitem fand sich aber praktisch niemand zu dieser Art "Verrat" bereit.243 Die "Hoheitsträger" saßen in der Klemme: Den "Verrat" - und damit vor allem das Ri­ siko, in letzter Minute noch einem SS-Kommando oder einem Standgericht zum Op­ fer zu fallen - scheuten die "Kreiskönige" der NS-Zeit ebensosehr wie den Kampf oder gar das der Bevölkerung abverlangte und oft erzwungene persönliche Opfer. Als sich Anfang April 1945 die 7. US-Armee und die 1. Französische Armee den Grenzen des Gaues Württemberg näherten, begannen auch hier die "Goldfasanen" gen Osten und Süden zu ziehen. Die Begleitmusik dazu lieferten der Stuttgarter "NS­ Kurier" und Gauleiter Wilhe1m Murr, der noch am 10. April zu einem "Kampf bis aufs Messer" aufrief.2 44 Zu diesem Zeitpunkt verspielte die NSDAP im nordwürttem• bergischen Öhringen eben ihren letzten Kredit, wie der dortige Dekan feststellte: "Ganz besonders aber hat die Partei ihren moralischen Bankrott durch die Flucht der

241 Vgl. Helmut Heiber, Joseph Goebbels, Berlin 1962, S. 391. 242 So Münkler, Machtzerfall, S. 204. Anregend zu diesem Komplex auch die Bemerkungen ebenda, S. 10, S. 96, S. 181 und S. 202. 24' Eine seltene Ausnahme war der Kreisleiter von Fürstenfeldbruck, der die Besatzungstruppen in der Uni­ form des Politischen Leiters erwartete. Vgl. Barbara Fait, Die Kreisleiter der NSDAP - nach 1945, in: Bros­ zat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 251 und S. 280. 244 NS-Kurier, 10. 4. 1945; zit. nach Sauer, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 490. Dort und auf der folgenden Seite weitere Aufrufe und Kampfparolen. 832 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Parteihäupter auch in hiesiger Stadt besiegelt", berichtete er dem Evangelischen Ober­ kirchenrat aus dem am 13. April besetzten Städtchen: "Wie auch die Entwicklung weitergeht, der Nationalsozialismus als System hat ausgespielt, niemand wünscht es zurück, man schämt sich der von ihm begangenen Grausamkeiten, die man jetzt erst in ihrem vollen Umfang erfährt, und man haßt die bisherigen Führer, die ,das Volk ins Unglück gestürzt haben und sich jetzt der Verantwortung durch Flucht oder Selbst­ mord entziehen'."l45 Wo sie es irgendwie einrichten konnten, versuchten die Partei­ funktionäre die Evakuierungsbefehle als Alibi und Vorwand ihrer Flucht zu nutzen. Das Verlassen von Ortschaften zusammen mit der Bevölkerung - wenn sich diese denn dazu hätte überreden oder zwingen lassen - hätte zwar auch gegen die Anord­ nungen Bormanns verstoßen, den "Goldfasanen" wäre es aber um einiges leichter ge­ fallen, ihr Gesicht zu wahren. Diese Vermutung sprach der evangelische Dekan in Künzelsau bereits am Tage der amerikanischen Besetzung in seinem Situationsbericht an die Leitung der Evangelischen Kirche in Württemberg aus. Fünf Tage vor dem Fall der Stadt habe überall der Räumungsbefehl ausgehangen, schrieb er: "Von der Bevöl• kerung ist so gut wie alles dageblieben. Allgemeine Auffassung war: Die Bonzen wol­ len sich in Sicherheit begeben, und um ihre Flucht gegen den Vorwurf der Feigheit zu schützen, wird Räumung angeordnet."246 Der bedauerliche Fortfall eines Vorwandes für das eigene ,,Ausweichen" brachte die Kreisleiter der NSDAP freilich nirgends dazu, ihre Fluchtpläne deshalb aufzugeben. Im Gau Württemberg-Hohenzollern nahm keiner von ihnen die Anordnungen des Leiters der Parteikanzlei und die Beschwörung von Gauleiter Murr wörtlich. Sie grif­ fen nicht zur Waffe, reihten sich nicht in die Wehrmacht ein, wie es ihnen befohlen war, und sie kümmerten sich nicht um das Schicksal ihrer Städte und das Geschick der Bevölkerung ihrer Landkreise. Statt dessen suchten die einstigen Kreiskönige ihr Heil in der Flucht und überließen in der kritischen Stunde des feindlichen Einmar­ sches ihre "Gefolgschaft" sich selbst. In der Nacht vor der Besetzung Backnangs am 20. April 1945 etwa mußte der Bür• germeister der Stadt die Feststellung machen, "daß die Bevölkerung - meist Frauen und Kinder - in den Bunkern sitzt - verängstigt, ohne jede Unterrichtung seitens der Kreis- und Ortsgruppenleitung, die seither doch alles in Händen hielt!!" Im Morgen­ grauen waren bereits sämtliche Befehlsstellen verlassen. Über seinen Besuch im offen­ stehenden Haus der Kreisleitung hielt der Bürgermeister in seinem Tagebuch fest: "Im Parterre lagen Revolver, Gewehre und Munition, in denen 1-2 Burschen kram­ ten, die ich hinauswies. In den Büroräumen lag alles durcheinander, aber offensicht­ lich auch ausgeräumt, Kassenschrank offen und leer, abgesehen von einem Photogra­ fiealbum mit Originalaufnahmen der Parteigeschichte Backnangs."247 Im benachbar­ ten Schwäbisch Gmünd248 war den Männern des Volkssturms in Wort und Schrift "eingehämmert" worden, der Kreisleiter werde sich selbst an ihre Spitze setzen, wenn es gelte, den Amerikanern die Eroberung der Stadt zu verwehren. An den Wänden

24' Bericht des evangelischen Dekans von Öhringen an die Kirchenleitung in Großheppach v. 15. 5. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. 246 Schreiben Dekan Kiesers ("Betr.: Kritische Tage in Künzelsau") an den Evangelischen Oberkirchenrat in Großheppach v. 12.4. 1945; LKA Stuttgart, Bestand 311a, 1944-1945, Altregistratur. 247 Aufzeichnungen von Bürgermeister Reinhardt v. 19. und 20.4.1945; HStA Stuttgart,j 170, Büschel 2. 248 Zum folgenden Albert Deibele, Krieg und Kriegsende in Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 1954, S. 32 ff.; Zitate ebenda. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 833 war in großen schwarzen Lettern überall die Parole "Wir halten durch!" aufgemalt. Als der Feind dann an die Stadt heranrückte, ergaben sich der Kreisleiter und sein Stab dem Alkohol, aßen sich noch einmal tüchtig satt, und dann sind sie, wie es der Kampfkommandant ausdrückte, "wie die Wilden abgehauen". Zuvor hatten sich die NS-Funktionäre reichlich eingedeckt: "Der Lieferwagen des Milchwerks wurde be­ schlagnahmt und aus dem Käsekeller aufgeladen, was hinaufging. Andere Autos brachten aus einem Lager der SS, das im Stadtgarten war, weitere Vorräte, namentlich auch Schnäpse und Rauchwaren. Aus der Schweinemästerei bei der Dreifaltigkeit wurden 6 Schweine aufgeladen und der Proviantkolonne eingegliedert." Kreisleiter Bosch von Schwäbisch Hall und seine Mitarbeiter ("nicht etwa im Braunhemd, son­ dern in merkwürdig harmloser Aufmachung") nahmen bei ihrem "kleinen Stellungs­ wechsel", wie sie sagten, 60 Liter Benzin mit, die der Feuerwehr dann fehlten, als das brennende Rathaus gelöscht werden sollte.249 Aus Waiblingen, einem Nachbarkreis von Stuttgart, verschwand die NS-Prominenz in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1945 - nicht ohne zuvor "noch die Fettration eines ganzen Monats" im Ernährungs• amt für den Eigenbedarf abgezweigt zu haben.250 Schon diese wenigen Episoden aus dem NSDAP-Gau Württemberg-Hohenzollern, denen unschwer weitere Beispiele an die Seite gestellt werden könnten25I , zeigen die durchweg "kopflose Flucht" der Politischen Leiter252, die bei Kriegsende denn auch sofort in aller Munde war. Eine Unzahl von Ortsgruppenleitern und sonstigen kleinen Amtswaltern taten es in Württemberg und den anderen Regionen des Reiches dem Vorbild ihrer Vorgesetzten gleich. Wie ihr Kreisleiter, "verschwanden"253 auch der Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer von Untermünkheim (Landkreis Schwäbisch Hall). In Schnait (Kreis Waiblingen) gab der Ortsgruppenleiter anläßlich einer mit viel Alkohol vonstatten gehenden Feier von Hitlers 56. Geburtstag dem "unentwegten Glauben" an den "Führer" Ausdruck und setzte sich am 20. April dann mit den zu­ rückgehenden deutschen Truppen ab. 254 Der Ortsbauernführer von Maulach im Landkreis Crailsheim drohte erst jedem, der es wagen sollte, eine weiße Fahne zu his­ sen, mit der Todesstrafe, und war dann selbst "in den Wald in eine gut ausgestattete

249 "Kriegsbilder 1945" der Lehrerin Auguste Reinhardt, undatiert (1949); HStA Stuttgart, J 170, Büschel 16. Zur Flucht der Kreisleitung Schwäbisch Hall vgl. auch: "Geschichtliche Darstellung und Erlebnisbericht der letzten Kriegstage in BühlerzeII" von Otto Kohnle v. 18.8.1949; ebenda. Siehe auch das Schreiben des Dekans von Schwäbisch Hall an die Leitung der Evangelischen Landeskirche von Württemberg v. 4.5. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1944-1945, Altregistratur. 250 Undatierter Bericht "Die letzten Kriegstage in Korb" im Landkreis Waiblingen (Ende 1948); HStA Stutt­ gart, J 170, Büschel 20. m Vgl. etwa die Schilderungen über das Verhalten der Kreisleiter: Böblingen, Bericht des Plarrers von Ruders­ berg "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage in Magstadt" v. 6. 2. 1950; HStA Stuttgart, Büschel 3. Ellwangen, Wolfgang Högg, Ellwangen wird Kriegsschauplatz, in: Ellwanger Jahrbuch 1936- 1946, XIII, S.9 ff. Göppingen, "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage des Weltkriegs 1939/1945" in der Gemeinde Heiningen von Hauptlehrer Kanderer, Oktober 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 6. Heiden­ heim, Heidenheimer Neue Presse, 23. 4.1970: "Vor 25 Jahren: Weiße Fahnen retteten Heidenheim". Mün• singen, Lagebericht des Evangelischen Dekanatamtes Münsingen an die Leitung der Evangelischen Landes­ kirche Württemberg v. 7.6. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. 252 Rebentisch, Führerstaat, S. 530. '" Bericht des Plarramtes Untermünkheim "Über die Zeit von Ende März bis Mitte Mai 1945" v. 16.6. 1945; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 16. 254 "Bericht zur Lage" des Plarramts Schnait an das Evangelische Dekanatamt Stuttgart v. 18.6. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. 834 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Hütte geflohen"255. Im Kreis Heilbronn flüchtete bei Anrücken der Amerikaner bei­ spielsweise der stellvertretende Ortsgruppenleiter von Frankenbach ("auf dem Motor­ rad"?56 oder etwa der Ortsgruppen leiter von Schwaigern257 (zusammen mit seinem Sohn und der Schwester des Kreisleiters und deren fünf Kindern). Ein als "Teufel in Menschengestalt" beschriebener Ortsgruppenleiter in : "natür• lieh geflüchtet"258; Bönnigheim/Landkreis Ludwigsburg: "Nur der Ortsgruppenleiter selbst und der stellvertretende Bürgermeister E. ließen die Stadt im Stich und suchten ihr Heil in der Flucht"259; Steinenbronn/Kreis Böblingen: ebenfalls Flucht des Orts­ gruppenleiters und des stellvertretenden Bürgermeisters, "letzterer unter Zurücklas• sung seiner Familie, worüber die gesamte Gemeinde empört war"260; usw., USW.261 Da die Auflösung und kümmerliche Abdankung der NSDAP ein allgemeines und hervorstechendes Merkmal des letzten Vierteljahres des NS-Regimes gewesen ist, war die Feststellung, die der SD in einer Bilanz von Ende März 1945 traf, noch mehr als zurückhaltend formuliert: Überall grassiere die Kritik an der Partei, es breche nun "ungestüm, gereizt und zum Teil gehässig die Enttäuschung darüber heraus, daß die nationalsozialistische Wirklichkeit in vieler Hinsicht nicht der Idee" entspreche.262 Jo­ seph Goebbels, der zu Beginn der amerikanischen Besetzung in sein Tagebuch ge­ schrieben hatte, der Moment komme263 , wo die NS-Funktionäre mit ihrem Leben für die Idee einstehen müßten, legte über ein halbes Jahr später Rechenschaft darüber ab, daß die politische Elite der nationalsozialistischen Bewegung nicht einfach bloß ver­ sagt, sondern betrügerischen Konkurs gemacht hatte. "Das Verhalten unserer Gau­ und Kreisleiter im Westen hat zu einem starken Vertrauensschwund innerhalb der Bevölkerung geführt", notierte er Anfang April 1945. "Die Bevölkerung glaubte erwar­ ten zu können, daß unsere Gauleiter in ihrem Gau kämpfen und, wenn nötig, in ihm fallen. Das ist in keinem Falle der Fall gewesen. Infolgedessen hat die Partei im We­ sten ziemlich ausgespielt."264

m Bericht des Pfarramts Roßfeld an die Leitung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg v. 5. 6. 1945; eben da. 256 "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" des Bürgermeisteramtes Frankenbach von Dezember 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8. 257 Darstellung des Bürgermeisteramtes "Die letzten Kriegstage in Schwaigern" v. 27. 10. 1948; ebenda. 258 "Reisebericht vom Bezirk Vaihingen und Maulbronn" des Amtmanns Hermann Winnenden v. 22. 5. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. 259 "Geschichtliche Darstellung des Feindüberfalls auf die Stadt Bönnigheim am 7. April 1945" von C. Kop­ penhöfer v. 10.12. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 1l. 260 "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage in der Gemeinde Steinen bronn" des Bürgermeisteram• tes v. 18. 10. 1949; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 3. 261 Vgl. beispielsweise: Undatierter (Sommer 1948) Bericht von Walther Walz, "Die letzten Kriegstage in EI­ persheim (Kreis Mergentheim)"; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 12. ,,Aus der Kriegschronik von Rosswag, Kreis Vaihingen/Enz", Bericht des Pfarrers Götz von September 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 19. "Kurzbericht über Gemeinden im Murrtal" des Pfarrers von Kirchberg an das Evangelische Dekanatamt Marbach v. 2.5.1945; LKA Stuttgart, 311a, 1944-1945, Altregistratur. 262 Undatierter zusammenfassender Bericht des SD von Ende März 1945; HZ-Archiv, MA 660. 26' Eintragung v. 25.9.1944; Goebbels-Tagebücher, 1944; HZ-Archiv, ED 172. 264 Eintragung v. 4.4. 1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 420. In einer der letzten Lagebesprechungen, am 27. April 1945 in Berlin, sagte Hitler, er bleibe auch deswegen in der Reichshauptstadt, "damit ich et­ was mehr moralisches Recht bekomme, gegen Schwäche vorzugehen. Ich habe sonst das moralische Recht nicht. Ich kann nicht dauernd andere bedrohen, wenn ich selbst in der kritischen Stunde von der Reichs­ hauptstadt weglaufe." Zwei Tage zuvor hatte er gesagt, er müsse denen, die flüchteten, "einmal das Beispiel geben, daß ich mich nicht absetze". Abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammen­ bruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, hrsg. und bearb. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 835

Vielleicht lag es an seiner Ferne zur untersten Ebene der Parteihierarchie, daß der Reichspropagandaminister und Berliner Gauleiter die Ortsgruppenleiter der NSDAP nicht erwähnte, vielleicht war ihm aber auch bewußt, daß sich das Verhalten der örtli• chen Politischen Leiter bei der Annäherung des Feindes nicht durchweg mit der be­ schämenden Haltung der Kreisleiter und Gauleiter deckte. Gewiß, auch eine große Zahl von Ortsgruppenleitern floh vor den amerikanischen Truppen, doch zwischen diesen kleinen "Hoheitsträgern" und der örtlichen Einwohnerschaft hatte sich bei Kriegsende nicht überall eine unüberwindlich breite Kluft aufgetan. Die Ortsgrup­ penleiter waren in noch viel geringerem Maße als die Kreisleiter eine milieufremde Elite gewesen. Mancherorts führten sie ihr Amt eher wie Interessenvertreter der Ge­ meinde gegenüber "oben", denn als verlängerter Arm oder als bloße Exekutoren der Kreisleitung. Zweifellos wuchs gegen Kriegsende bei vielen von ihnen die Distanz zu ihren unmittelbar vorgesetzten Führern noch, die viel mehr im Blickpunkt der Öf• fentlichkeit und unter strengerer Kontrolle der hierarchischen Organisation standen, die Partei und Staat unmittelbarer verpflichtet waren als die Ortsgruppenleiter selbst. Dem entsprach in der Endphase des Krieges eine Verbesserung und Intensivierung der bei entsprechender "Volkstümlichkeit" oftmals ohnehin wenig getrübten Bezie­ hungen zur örtlichen Einwohnerschaft, die inzwischen bloß noch an einem einzigen Ziel orientiert war, nämlich die zermürbenden Wochen existentieller Unsicherheit und Bedrohung einigermaßen glimpflich zu überstehen und so viel wie möglich von ihrem Besitz zu retten. Dabei konnte der Ortsgruppenleiter im entscheidenden Au­ genblick der Feindannäherung gut behilflich sein. Für den "Hoheitsträger" am Ort verband sich damit die persönliche Chance, durch eine vernünftige Haltung vielleicht einen Teil seiner unbestreitbaren Mitverantwortung als Repräsentant des Hitler-Regi­ mes vor den Augen der ehemaligen "Gefolgschaft" abtragen zu können. Besonders deutlich wurde dieses Bemühen in Württemberg im Landkreis Heil­ bronn, der von einem ausgesucht brutalen und blutrünstigen Kreisleiter, dem "Schlächter von Heilbronn", Richard Drauz, regiert wurde.265 Der hatte Ende März seinen Ortsgruppenleitern strenge Anweisung erteilt, jedes Dorf in eine Festung zu verwandeln. Der Ortsgruppenleiter wie der Bürgermeister der Gemeinde Gronau (der in den kommenden Tagen den aktiven Part übernehmen sollte) waren sich bald darin einig, diesen Befehl "auf Verteidigung des Dorfes wie auf Räumung desselben nicht durchzuführen"266. Daran änderte sich auch nichts, als Drauz persönlich erschien, "schwer bewaffnet und von einer großen Schar schwer bewaffneter SS und Parteibe­ gleiter umgeben", und seine Anordnung bekräftigte, die in der Einwohnerschaft "un­ geheure Aufregung" verursachte. Nachdem der gefürchtete Kreisleiter weitergezogen war, gelang es, den örtlichen Truppenführer kurz vor dem Einrücken der Amerikaner am 20. April zum Abzug seiner Einheit aus der Gemeinde zu bewegen. In der eben­ falls im Landkreis Heilbronn gelegenen Ortschaft Neipperg sollte bald nach einer Be­ sprechung des Kreisleiters mit seinen Ortsgruppenleitern der Bau von Panzersperren

von Herber! Michaelis und Ernst Schraepler, Bd. XXIII: Das Dritte Reich. Der militärische Zusammen­ bruch und das Ende des Dritten Reiches, Berlin 0.]. (1976), S. 170, S. 157fl. Zitate S. 170 und S.161. 265 So das Epitheton der "Geschichtlichen Darstellung der letzten Kriegstage" des Bürgermeisteramtes Fran­ kenbach/Kreis Heilbronn vom Dezember 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 8. Zu Drauz vgl. unten in diesem Kapitel. 266 Hierzu und zum folgenden der Bericht des Bürgermeisteramtes der Gemeinde Gronau v. 7. 12. 1949; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8. 836 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

beginnen. Da trat der Pfarrer auf den Plan und warnte den örtlichen "Hoheitsträger" davor, "den Befehl des Kreisleiters Drauz, dieses Lumpen und Narren, zu befolgen. Der Ortsgruppen leiter Schmid führt die Anordnung des Kreisleiters nur zum Schein durch. Es werden im Ort und im Weichbild des Ortes keine Panzersperren ange­ legt."267 Als im Städtchen Möckmühl der Befehl zur Evakuierung eintraf, dachte niemand in der Bevölkerung daran, ihm Folge zu leisten. "Der Befehlsstab der Ortsgruppenleitung war offenbar der gleichen Meinung, denn er begnügte sich mit der formellen Bekannt­ gabe der Befehle der Kreisleitung Heilbronn, er selbst traf keine Vorbereitungen zur Evakuierung." Bald darauf erschien ein Trupp Soldaten der von der Bevölkerung viel gehaßten 17. SS-Panzer-Grenadier-Division "Götz von Berlichingen", die, wie sie fri­ vol erklärten, in dem Städtchen, in dem der Ritter Götz einstmals gefangengenom­ men worden war, einen "Traditionskampf" führen wollten. Daraufhin wurden Bürger• meister und Ortsgruppenleiter ("in der Hoffnung, daß die Partei auf die SS mehr Einfluß hätte als die Zivilbehörden") mehrfach beim Kommandeur vorstellig, um ihm die Verteidigung Möckmühls auszureden; sogar an den Divisionskommandeur per­ sönlich wandten sich die beiden. Dieses Ansuchen wurde aber "schroff abgewiesen". Die Folge war, daß amerikanischer und deutscher Beschuß noch erheblichen Schaden anrichtete, bevor die Besatzungstruppen einige Tage später schließlich in das kleine Städtchen einzogen.268 Noch gefährlichere Bekanntschaft mit der SS machte der NSDAP-Ortsgruppenlei­ ter der Gemeinde Herlikofen im Landkreis Schwäbisch GmÜnd. Er hatte veranlaßt, eine Panzersperre zu öffnen, um dem Ort die Beschießung zu ersparen. In der folgen­ den Nacht wurde er von einem SS-Kommando verhaftet, vor ein Standgericht gestellt und zum Tod verurteilt. Dem "raschen Nachdrängen der Amerikaner" hatte er es zu verdanken, daß das Urteil nicht mehr vollstreckt wurde.269 Auch in anderen Gemein­ den beteiligten sich Ortsgruppenleiter direkt an der Sabotierung von Parteibefehlen. Die örtliche NSDAP-Leitung in Marbach am Neckar beispielsweise unterlief eine Evakuierungsanordnung dadurch, daß sie die Listen zur "freiwilligen Ein­ zeichnung" für eine Wegführung auslegen ließ. Dafür wurde ihr vom Bürgermeister• amt dreieinhalb Jahre nach Kriegsende ausdrücklich attestiert, sie sei in jenen kriti­ schen Tagen "vernünftiger" gewesen als die NS-Führung des Kreises. 27o Auch bei der Verhinderung von Brückensprengungen zogen Gemeindeverwaltung und die Parteileitung am Ort nicht selten am gleichen Strang, so etwa - wenn letztlich auch vergebens - in Schorndorf (Landkreis Waiblingen).271 Mehr Erfolg war einer sol­ chen Notkoalition in der Stadt Maulbronn, Kreis Vaihingen, beschieden: "Durch energisches Einschreiten des Bürgermeisters im Einvernehmen mit dem Ortsgrup-

267 "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage 1945 nach Aufzeichnungen und Erlebnissen des ev. Pfarrers a. D. G. Bunz, Neipperg" Vom Herbst 1948; ebenda. 268 "Die letzten Kriegstage in Möckmühll", Bericht von Ernst Martin v. 18.2. 1949; ebenda. 269 Undatierte "Geschichte der letzten Tage des Krieges in der Gemeinde Herlikofen"; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 15. 270 "Chronik der Kriegsereignisse in Marbach a. N.", undatiert, vom Bürgerrneisteramt an das Württembergi• sehe Statistische Landesamt übersandt am 19. I!. 1948; HStA Stuttgart,j 170, Büschel I!. Hervorhebung von mir. Auch Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, führt Beispiele für ein mitunter "vernünftiges" Verhalten von Ortsgruppenleitern der NSDAP auf. 271 Bericht von H. Gottwitz, Schorndorf, v. 3. 10. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 20. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 837 penleiter der NSDAP wurde dieser Unsinn verhütet, der landauf-landab unermeßlich Schaden angerichtet hat."272 Der örtliche "Hoheitsträger" im einige Kilometer west­ lich von Nördlingen gelegenen Bopfingen kam Anfang April derart desillusioniert von einer Besprechung bei der Kreisleitung in Aalen zurück, daß er nicht nur befahl, den Bau der Panzersperren einzustellen, sondern sofort auch eine Versammlung seiner engsten politischen Mitarbeiter und der Gemeinderäte einberief. "Diesen", so wird überliefert, "eröffnete er die Mitteilung des Kreisleiters, daß alles aus und weiterer Wi­ derstand nutzlos sei. Er löste die Partei in Bopfingen auf eigene Faust auf und ordnete an, sämtliche Unterlagen der Partei zu vernichten."273 Die Panzersperren wurden ge­ rade unter reger Beteiligung der Bevölkerung "mit affenartiger Geschwindigkeit" nie­ dergerissen, als ein Stab der Kreisleitung und der SS vorfuhr und alles wieder rück• gängig machte. Der Ortsgruppenleiter wurde persönlich für die Verstärkung der Pan­ zerhindernisse verantwortlich gemacht "und ihm bei Nichteinhaltung der bestimmten Zeit das Aufhängen in Aussicht gestellt". Das bekannteste Beispiel aus dieser Region dafür, wie der Terror der eigenen Trup­ pen selbst den örtlichen Politischen Leiter der NSDAP bedrohen konnte, sind die Vorfälle in dem nahe Rothenburg ob der Tauber gelegenen Dörfchen Brettheim im Landkreis Crailsheim.274 Hier entwaffneten einige beherzte Männer einen Trupp von Hitlerjungen, die Befehl hatten, sich an der Sperrung der "Kaiserstraße" zu beteiligen, über die die nach Crailsheim vorgestoßenen Panzer der 10th Armored Division ihren Nachschub erhielten.275 Der in der Nähe liegende Stab des XIII. SS-Armeekorps un­ ter dem ausgesucht kaltschnäuzigen SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waf­ fen-SS Max Simon erfuhr davon und führte ein Standgerichtsverfahren durch, in dem die "Rädelsführer" zum Tod verurteilt wurden. Der als einer der beiden Beisitzer be­ stellte Ortsgruppenleiter Wolfmeyer - ein beliebter Lehrer im Ort, der dafür gesorgt hatte, daß "die Partei hier keine scharfmacherische Rolle spielen konnte" - weigerte sich aber, seine Unterschrift unter das Urteil zu setzen, das deshalb nicht förmlich ver­ kündet werden konnte. Drei Tage später wurden Wolfmeyer und der Dorfbürgermei• ster mit der Begründung, sie hätten die "Rädelsführer" schützen wollen, selbst zum Tod verurteilt und noch am gleichen Abend vor dem Friedhofseingang in Brettheim erhängt. Als er die Begnadigung ablehnte, hatte der SS-Gruppenführer gesagt: "Das könnte den Herren so passen, jahrelang, wo es uns gut ging, haben sie ,Heil Hitler' ge­ rufen und jetzt will man uns in den Rücken fallen." Angewidert schrieb der Dekan des benachbarten BlaufeIden fünf Wochen später an die Leitung der Evangelischen Kirche in Württemberg mit Blick auf die Brutalität, die das Regime im Untergang ge­ gen die besonnene Bevölkerung entfaltet hatte, "daß die Kluft zwischen dem Geist dieser Kreise und dem Empfinden des Volkes unüberbrückbar geworden" sei.276

272 Bericht des ehemaligen Bürgermeisters von Maulbronn "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegs­ tage" v. 18.10. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 19. 213 Hierzu und zum folgenden der undatierte Bericht "Bopfingen im Zweiten Weltkrieg"; HStA Stuttgart, J 170, Büschel!. 274 Detailliert hierzu Fröhlich, Herausforderung, S. 235 H. Die zitierte Qualifizierung des und der Ausspruch des SS-Generals Simon ebenda, S. 238 und S. 239. m Vgl. VII/i. 276 Schreiben des Dekans in B1aufelden an den Evangelischen Oberkirchenrat ("Kriegsschäden im Kirchenbe­ zirk Blaufelden") v. 17.5.1945; LKA Stuttgart, 311a, 1945. 838 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Die Bemühungen vereinzelter Hoheitsträger der NSDAP, bei Kriegsende Augen­ maß und Zivilcourage zu zeigen, änderten freilich nichts daran, daß die Bevölkerung in aller wünschenswerten Deutlichkeit erkannte, daß das untergehende Regime durch Versagen, Feigheit und Verbrechen eine durch nichts mehr zu tilgende Schuld gegen­ über dem eigenen Volk auf sich geladen hatte. Daß das Hitler-Regime versagt hatte, bedurfte angesichts des Einmarsches fremder Truppen keiner Erörterung. Zu seinen Verbrechen zählte neben den erst nach und nach ganz ans Licht kommenden Mord­ aktionen gegen die europäischen Juden und neben den Untaten gegen seine äußeren und inneren Feinde im Bewußtsein der Bevölkerung gerade auch die Tatsache, daß es sich mit einem ins Uferlose gesteigerten Terror und der sinnlosen Fortführung der Kämpfe in der Schlußphase des Krieges in einer derartig gnadenlosen Weise gegen das eigene Volk richtete, so daß - wenigstens im amerikanischen und britischen Besat­ zungsgebiet - schließlich nur noch von einer feindlichen Besetzung ein Minimum exi­ stentieller Sicherheit erwartet werden konnte. Mit ihrem erbärmlichen Abgang haben die Funktionäre eines Regimes dessen Ideologie in der Tat vor aller Augen ein weiteres Mal widerlegt. 277 Sie haben diese durch eine von der Bevölkerung vorher offenbar nicht für möglich gehaltene Demonstration innerer Unwahrhaftigkeit der Verachtung, ja Lächerlichkeit preisgegeben - eine Lächerlichkeit, die gerade diese "Weltanschau­ ung" im Volk nachhaltiger ruiniert haben könnte als die bald einsetzenden Umerzie­ hungsanstrengungen der Militärregierung. Hauptmotiv der Massendesertion der Politischen Leiter der NSDAP war die Ent­ schlossenheit, sich nicht bei den eigenen heroischen Worten nehmen zu müssen und den Heldentod auf jeden Fall zu vermeiden. Demgegenüber ist - anders als im Osten - bei den unteren Funktionären die Furcht vor einem ungewissen Schicksal in ameri­ kanischem Gewahrsam kaum ins Gewicht gefallen. Es hatte sich längst herumgespro­ chen, daß die U.S. Army keineswegs dem Bild entsprach, das Goebbels von ihr zu zeichnen versuchte. Die meisten "Goldfasanen" wußten oder ahnten zumindest auch, daß sie von den Sicherheitsorganen der Besatzungsarmee verhaftet und interniert wer­ den würden, daß sie - falls sie keine Verbrechen auf dem Kerbholz hatten - aber nicht um ihr Leben fürchten mußten. Manche Unbill traf sie freilich nicht erst in den be­ schwerlichen Jahren in den Internierungslagern.278 Schikane und Demütigungen waren - wie für den Ortsbauernführer und Bürger• meister der Stadt Weilheim an der Teck, Richard Raff - oft schon während des Ein­ marsches zu erdulden. Bald nach der Besetzung, berichtet der dortige Pfarrer, begaben sich die Amerikaner zu dessen Wohnung: "Der Gesuchte", heißt es zu den weiteren Ereignissen, "war aber kurz vorher von daheim weggegangen. Der Amerikaner be­ nahm sich in der Raff'schen Wohnung sehr übel, verunreinigte z. B. das Bett des klei­ nen Töchterleins mit Urinieren. Er traf dann den Bürgermeister auf der Straße und fuhr mit ihm aufs Rathaus. Im Bürgermeisterzimmer schrie er ihn an: ,Pistole!' Auf dessen Erwiderung: ,Nix Pistole', schlug er ihn ins Gesicht. Dasselbe wiederholte sich dann noch ein- oder zweimal. Dann sah der Amerikaner ein Hitlerbild an der Wand und fragte, wer das sei. Als er erfuhr ,Hitler', zwang er Richard Raff, es zu zertreten, dann deutete er auf ein Hindenburgbild und fragte: ,Bismarck?' ,Nein Hindenburg';

277 In diesem Sinne sehr differenziert Münkler, Machtzerfall, S. 204. 218 Vgl. hierzu Christa Schick, Die Internierungslager, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 30lff. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 839

auch dieses mußte der Bürgermeister zertreten. Darauf verlangte der Amerikaner eine Hakenkreuzfahne, ,in zwei Minuten, sonst erschießen!' Raff wußte nicht, wo die Fah­ nen im Rathaus aufbewahrt wurden. Zum Glück erinnerte er sich, in einer Kammer einmal eine gesehen zu haben. Da er keinen Schlüssel zu dieser Kammer hatte, er­ brach er die Türe und fand auch richtig eine solche. Er mußte dann diese Fahne auf der Straße auf den Boden legen und der nächste daherkommende Panzer fuhr einige Male über sie. Darauf wurde sie von dem Amerikaner angezündet. Das mit der Ha­ kenkreuzfahne kam auch sonst hier vor. Richard Raff wurde in der Folgezeit noch oft von amerikanischen Offizieren verhört. Diese Verhöre waren aber alle durchaus kor­ rekt, ja freundlich."'79 Demütigende Machtdemonstrationen gegenüber "Nazi"-Funktionären, und wenn es nur ein Ortsbauernführer war, sind in den ersten Tagen der Besetzung keine Einzel­ erscheinung gewesen, sondern häufig vorgekommen.'80 Aber es blieben unsystemati­ sche, Willkür und Laune der Kampftruppen entspringende Aktionen, mit denen ame­ rikanische Soldaten immer wieder einmal an den Symbolen und kleinen Amtsträgern des Hitler-Regimes ihr Mütchen kühlten. Sehf bald nach der Besetzung, spätestens mit der Installierung der MilitärverwaItung, flauten solche Willküraktionen ab. Wie wenig "System" hinter Ausschreitungen dieser Art steckte, wird auch an dem Zwi­ schenfall in Weil heim an der Teck deutlich. Während die Besatzungssoldaten ihren Emotionen gegenüber Ortsbauernführer Raff ziemlich freien Lauf ließen, blieb der Ortsgruppenleiter der NSDAP, der die Stadt ebenfalls nicht verlassen hatte, ungescho­ ren. Die Amerikaner besannen sich erst nach einigen Tagen auf diesen, ein Offizier begab sich zu ihm und stellte ihn unter Hausarrest; Anfang Juni wurde der ehemalige "Hoheitsträger" im Zuge des "automatic arrest" interniert. Die Tatsache, daß die Besatzungsmacht mitunter recht rauh mit den kleinen Paladi­ nen des Hitler-Regimes umsprang, hat in der Bevölkerung hier und da wohl zu rügen• den Kommentaren Anlaß gegeben, Mitleid und Solidarität mit ihnen regte sich aber nirgends. Im Gegenteil, die Wendung des Regimes gegen die eigene Bevölkerung lö-

279 Auf der Basis von Erlebnisschilderungen der Einwohnerschaft, Aufzeichnungen des Pfarrers und des Re­ vierförsters von Bürgermeister Kandenwein verfaßte "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" in der Stadtgemeinde Weilheim an der Teck, Landkreis Nürtingen; HStA Stuttgart,j 170, Büschel 13. Für ei­ nen vergleichbaren Vorfall siehe Stadtmüller, Mainfranken und Spessart im Zweiten Weltkrieg, S. 437. 280 Ein Mann wie General George S. Patton machte sich schon zu Beginn der Besetzung des Deutschen Rei­ ches ein Vergnügen daraus, die typische persönliche Unwahrhaftigkeit und die auch ihm kaum erklärliche Diskrepanz zwischen dem Nibelungen- und Götterdämmerungsgetön und dem anschließenden kleinlau­ ten Einknicken führender Figuren des Regimes ans Tageslicht zu ziehen und unnachsichtig anzuprangern. Als Opfer hatte Patton sich nach der Eroberung von Metz Ende November 1944 keinen gewöhnlichen "Goldfasan", sondern den bei der Besetzung der Stadt in Gefangenschaft geratenen 39jährigen SS-Brigade­ führer und Generalmajor der Polizei Anton Dunckern gewählt, der dort SS- und Polizeiführer gewesen war. Dieser sei der erste Mann gewesen, den er jemals tyrannisiert habe, sagte Patton anschließend, und er müsse zugeben, es habe ihm Spaß gemacht: "Patton: ,You can tell this man naturally in my position I can not demean myself to question hirn, but I can say this, that I have captured a great many German generals, and this is the first one who has been wholly untrue to everything: because he has not only been a Nazi but he is untrue to the Nazis by surrende ring. lf he wants to say anything he can, and I will say that unless he talks pretty weil, I will turn hirn over to the French. They know how to make people talk.' Dunckern: ,... I received orders to go in the Metz sector and defend a certain sector there, and the reason I did not perish was that I could not reach my weapons and fight back.' Patton: , ... He is a liar!' Dunckern : ,There was no possibility to continue fighting. The door was opened, and they put a gun on me.' Patton: ,If he would have been a good Nazi, he could have died then and there. It would have been a pleasanter death than what he will get now ...'" Vgl. Martin Blumenson (Hrsg.), The Patton-Papers 1940-1945, Boston 1974, S. 577 ff. Siehe auch Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 27. 840 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland ste bei Betroffenen und Beobachtern eine Woge der Wut und des Entsetzens aus. Aus dem nordwürttembergischen Künzelsau, wo die Amerikaner am 12. April 1945 einge­ zogen waren, schrieb der Dekan an die Leitung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, daß die "Erbitterung der Landbevölkerung" gegen die SS "fast keine Grenzen mehr" kenne.28l "SS" (worin die Waffen-SS durchaus mit einbegriffen wurde) und "Terror" waren jetzt Synonyme geworden, doch bedeutete diese Spezifi­ zierung für die übrigen Träger des untergehenden Regimes im Frühjahr 1945 kaum noch eine Entlastung. Jeder konnte sehen, daß dieser "Vernichtungswahnsinn", von wem er jetzt im Einzelfalle auch exekutiert wurde, sich nur deshalb so austoben konnte, weil die politische Führung den sinnlos gewordenen Kampf nicht aufgab. "Die SS ist jetzt der schlimmste Feind, bedrohlicher als die Amerikaner, die uns er­ obern", schrieb Ursula von Kardorff am 24. April in ihrem schwäbischen Zufluchtsort in ihr Tagebuch. "Wie unfaßlich sind die Deutschen, daß sie sich in letzter Minute noch gegenseitig umbringen, eigenhändig ihr Land zerstören."282 Dieser Tenor bestimmte jetzt keineswegs nur die Aufzeichnungen erklärter NS­ Gegner, wie etwa das Tagebuch eines Dorfpfarrers aus dem wenige Tage vorher be­ setzten mittelfränkischen Landkreis Feuchtwangen ausweist. Am Abend des 3. April hatte Pfarrer Adolf Rusam eines seiner ,,Abendgespräche" mit Wehrmachtsoffizieren geführt. Man war sich einig, "daß keine ,Wendung' der militärischen Lage mehr zu er­ warten" war. "Ein Rätsel bleibt nur, warum unsere oberste Führung den sinnlosen Wi­ derstand nicht aufgibt und die Kapitulation einleitet, um weiteres nutzloses Blutver­ gießen zu verhüten. Für diese Haltung gibt es nur eine einzige Erklärung, die man sich allerdings kaum auszusprechen getraut: Wahnsinn oder Verbrechen!" Am 16. April sprachen sich die ersten Berichte über die Erhängungen im nahen Brettheim283 im Dorf herum: "Man fürchtet die SS wie die Teufel!", vertraute der Pfarrer daraufhin seinem Tagebuch an. Vier Tage später besetzten die Amerikaner, die sich hier mit ei­ niger Hilfsbereitschaft gut einführten, die kleine Ortschaft ("Und das sind nun die ,Gangster' und ,Mordbrenner', vor denen uns eine lügnerische Propaganda gewaltsam Furcht einflößen wollte!"). Bei einem Besuch in Ansbach am 2. Mai erfährt Rusam, "daß Hitler wirklich tot" ist. Diese Nachricht löste in Oberampfrach sogar bei den Kindern Jubel aus, wie der Pfarrer verwundert in seinen Aufzeichnungen festhielt: "Eigentlich erschütternd!" schrieb er: "Der ,Führer', 12 Jahre lang Staatsoberhaupt, tot - und nun dieser Ausbruch von Freude! Und das bei den Kindern, die seit ihrer frü• hesten Jugend täglich mit ,Heil Hitler' grüßen mußten! Daran mag man ermessen, welch eine furchtbare Last dieser Mann zuletzt für unser armes Volk bedeutete."284 Um welche immense Distanz sich die Kluft zwischen Volk und Führung im letzten Vierteljahr des Krieges noch erweitert hatte, stand den Offizieren der amerikanischen

281 Bericht von Dekan Kieser, Künzelsau, an den Evangelischen Oberkirchenrat ("Lage in Künzelsau") v. 11. 5. 1945; LKA Stuttgart, 311a, 1944-1945, Altregistratur. Die dichte Berichterstattung Kiesers gibt ein ungewöhnlich anschauliches Bild der Wochen vor und nach der amerikanischen Besetzung. 282 Eintragung v. 24.4. 1945, in: Ursula von KardorH, Berliner Aufzeichnungen 1942-1945. Erweiterte und bebilderte Neuausgabe, München 1976, S. 253 f. Das vorangegangene Zitat eben da, S. 252. 283 Fröhlich, Herausforderung des Einzelnen, S. 235 H. 28' ,,Adolf Rusam, Aus meinem Leben als Dorfpfarrer in der Kriegszeit. Tagebuch über die letzten Kriegswo­ chen, die militärische Besetzung und den politischen Umschwung in Oberampfrach 26. März - 10. Mai 1945", Anhang zu Ahnen-Liste Rusam-Kaeppel, Ergänzungsband, bearbeitet von Kirchenrat Adolf Ru­ sam; LKA Nümberg, Berichte über Vorgänge bei der militärischen Besetzung. Zitate aus den Eintragun­ gen v. 3.4., 16.4.,24.4. und 2.5. 1945. Hervorhebung von mir. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 841

Besatzungsmacht nicht weniger deutlich vor Augen als den Spitzen des NS-Regimes. Friedenssehnsucht, die durch den Durchhalteterror nur um so heftiger angefacht wurde, war jetzt zu der alles beherrschenden Emotion in der erschöpften und kriegs­ müden Bevölkerung geworden, oder, wie es der SO Ende März 1945 ausdrückte: Seit der Winteroffensive der Roten Armee sei "Defätismus im bislang geläufigen Verständ• nis des Begriffs eine allgemeine Volkserscheinung"285. Von der Westfront war Bor­ mann, der sich scharf gegen solche realistischen Berichte anderer Dienststellen zur Wehr setzte, kurz zuvor eine niederschmetternde Lagebeschreibung eines seiner Mit­ arbeiter zugegangen. Darin war die Einstellung der Bevölkerung anhand von Informa­ tionen eines im Raum Mayen eingesetzten Wehrmachtsoffiziers in den schwärzesten Farben gemalt: "Die Bevölkerung wartet offensichtlich auf das Einrücken der Ameri­ kaner und hat jede Maßnahme der deutschen Soldaten, die zur Verteidigung der Orte getroffen wurde, direkt oder indirekt sabotiert", schilderte dieser Kommandeur die Si­ tuation. "Es wurden, wie ich selbst beobachtete, weiße Flaggen vorbereitet, sämtliche Dinge, die auf Parteizugehörigkeit schließen ließen, verbrannt und die kämpfenden Soldaten aufgefordert, sich Zivil zu beschaffen und als Zivilisten in den Orten zu ver­ bleiben. Eine Unterstützung der Truppe in irgendeiner Weise, weder durch den Bür• germeister noch sonst jemand, war niemals festzustellen. Im ganzen sei gesagt, daß die Gesamthaltung mehr als schwach war."286 Im General Intelligence Bulletin der European Civil Affairs Division287 wurde die "Moral in Südwestdeutschland"288 Ende März genauso beurteilt. Die Durchschnitts­ bevölkerung habe sich völlig vom Nationalsozialismus abgewandt, lautete die Analyse: "Es kann nicht mehr die Rede von Überzeugung sein oder von einem fanatischen Willen, das Land zu verteidigen, oder von blindem Glauben an Hitler oder die Partei." In vielen Sektoren der Gesellschaft sei die Partei nicht mehr in der Lage sich durchzu­ setzen, das Volk folge selbst bei Androhung von Gewalt den erteilten Befehlen nicht mehr. Der jetzt überall in der deutschen Bevölkerung durchbrechende unbedingte Wille, das größere Übel sinnlosen Kämpfens, Zerstörens und Sterbens so rasch wie möglich durch das kleinere Übel einer feindlichen Besetzung abgelöst zu sehen, ist in der ame­ rikanischen wie in der deutschen Berichterstattung der letzten fünf, sechs Kriegswo­ chen bis in gleichlautende Wendungen hinein übereinstimmend und klar herausgear­ beitet worden; die privaten Zeugnisse sprechen die gleiche Sprache. So notierte am Montag, dem 23. April, im württembergischen Hofen, Landkreis Aalen, das eben von amerikanischen Truppen besetzt worden war, der Gewerbeschulrat a. D. Anton He­ gele schweren Herzens in sein persönliches "Kriegstagebuch" die Sätze: "So sehr wir als gute Deutsche den Sieg unserer Waffen (wünschen), so ist doch die allgemeine Meinung die, daß unsere Sache ganz und endgültig verloren sei und daß jeder weitere

28' Undatierter Bericht des SO von Ende März 1945; HZ-Archiv, MA 660. Zu der anschließend erwähnten Kritik Bormanns vgl. Steinert, Hitlers Krieg, S. 577. 286 Fernschreiben von Keitel an Reichsleiter Bormann v. 19.3. 1945; BA, Sammlung Schuma­ eher, Nr. 369. 287 Zu dieser Organisation vgl. III/1. 288 ECAO, General Intelligenee Bulletin Nr. 41 v. 31. 3. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Braneh, Entry 54. 842 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Kampf zur unsinnigen Kriegsverlängerung und damit zu weiteren schweren Opfern und Leiden der gequälten und abgekämpften Bevölkerung führen müsse."289 Das höchste Intelligence-Gremium des Alliierten Oberkommandos kam Ende April zu dem Schluß, dem Durchschnittsbürger sei klar, daß Deutschland militärisch besiegt sei. Viele hätten aber dennoch das Gefühl der Befreiung - "befreit von den Schrecken des Krieges, die ihnen von oben aufgezwungen worden waren und für die sie in keiner Weise verantwortlich waren"290. Der Civil Affairs/Military Government­ Stab von SHAEF drückte in seiner für die letzte Kriegswoche geltenden Analyse die­ selbe Beobachtung so aus: Es gebe in der deutschen Bevölkerung ein echtes Gefühl der Befreiung, einer Befreiung von dreierlei Furcht: "Furcht vor den Jabos, Furcht vor den schweren Bombern und Furcht vor der Gestapo".291 Fast könnten die württembergischen und bayerischen Gendarmen und Pfarrer den alliierten Beobachtern die Feder geliehen haben. Vom "Herbeisehnen" des Kriegsen­ des, dem "Wunsch" nach baldiger Besetzung sprechen auch sie. "Die Einwohner aller Ortschaften", schrieb ein Pfarrer im Mittelfränkischen an das Evangelisch-Lutherische Dekanat in Dinkelsbühl am 1. Juni 1945, "hatten infolge unserer eigenen falschen Propaganda vor der Besetzung viel Angst, wünschten sich aber, daß sie bald komme und ohne Zwischenfälle abgehe. Weit gefürchteter waren die eigenen Truppen, insbe­ sondere SS-Verbände ... Ein Aufatmen ging durch die Dörfer. Genugtuung erfüllte mit Ausnahme der wenigen wirklich Parteihörigen alle über das Ende der NS-Ge­ walt."292 An das Dekanat Bayreuth schrieb sein Kollege, "Äußerungen des Bedauerns über den unglücklichen Ausgang des Krieges an sich habe ich nicht vernommen". Es habe allein der Wunsch geherrscht, er möge endlich aufhören. "Den Zusammenbruch des bisherigen Regimes erlebte man, so weit ich bemerken konnte, fast mit einem Ge­ fühl der Befreiung von einem lastenden Druck."293 Für die amerikanischen Offiziere war der Vormarsch in das Innere Deutschlands ein Lehrstück darüber, daß wenige Behauptungen der eigenen Kriegspropaganda we­ niger ernst zu nehmen waren als jene von der angeblich verschworenen Einheit von nationalsozialistischer Führung und deutscher Bevölkerung. Das mochte in den besse­ ren Zeiten der Hitler-Herrschaft vielleicht so gewesen sein, mußten sie sich sagen, in den beiden letzten Kriegsmonaten war jedenfalls das genaue Gegenteil mit Händen zu greifen. Tausendfach erlebten die amerikanischen Soldaten jetzt, wie sich die Bür• ger oft unter großem persönlichen Risiko über "Nazi-Befehle" hinwegsetzten, fast an

289 "Kriegstagebuch 1945 u. ff." des Gewerbeschulrats Anton Hegele, geschrieben in Hofen/Kreis Aalen, Ein­ tragung v. 23.4. 1945 (im Original "würden" statt "wünschen"); HStA Stuttgart, J 170, Büschel!. 290 SHAEF, JIC, Political Intelligence Report v. 30.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, SGS, Decimal File, May 1943 - August 1945, Entry 1. 29\ SHAEF, G-5, Weekly Journal of Information Nr. 12 v. 11. 5.1945; NA, RG 331,131.11, SHAEF, G-5, In­ formation Branch, Entry 54. Vgl. auch "The Mind and Mood of the People", in: Times, 26.4. 1945. 292 "Bericht über die Feindbesetzung der Kirchengemeinde bezw. über vorausgehende Kampfhandlungen" des Pfarramtes Obermichelbach über Wassertrüdingen an das Evangelisch-Lutherische Dekanat Dinkels­ bühl v. 1. 6. 1945; LKA Nürnberg, Dekanat Dinkelsbühl, 548. 293 "Bericht über die infolge der feindlichen Besetzung der Umgegend in der Pfarrgemeinde Obernsee einge­ tretenen Kriegsereignisse" an das Evangelisch-Lutherische Dekanat Bayreuth von Mitte Juni 1945; LKA Nürnberg, Dekanat Bayreuth, VII. Die gesamte staatliche Berichterstattung in Süddeutsch land ist voll von in ähnlichem Tenor gehaltener Berichterstattung. Vgl. als ein Beispiel etwa den "Lagebericht für den Mo­ nat März 1945" des Gendarmeriepostens Adlkofen an das Landratsamt Landshut v. 21. 3.1945; StA Lands­ hut, 164/10, Nr. 5095/6. Vgl. auch das übrige Berichtsmaterial dort und in den anderen bayerischen Staats­ archiven, über deren hierzu einschlägige Bestände das "Verzeichnis der Berichtsprovenienzen" im Anhang von Broszat, Fröhlich, Wiesemann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, I, S. 689 ff., orientiert. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 843 jedem Ort in direkter Konfrontation mit den Funktionären der NSDAP und anderen Fanatikern des Untergangs standen. Die Amerikaner registrierten diese Feindseligkeiten genau. Am 2. Mai befaßte sich die Psychological Warfare Division des Oberkommandos mit dem zivilen Ungehor­ sam an der "Deutschen Heimatfront". Sie stellte dabei auch eine Verbindung zwi­ schen dem Kurs der Führung und dem Verhalten der Bevölkerung her: "Mit dem ver­ zweifelten Widerstand, der in Berlin geleistet wurde", begann diese Studie, "hat der harte Kern der Nazipartei nur in der Hauptstadt ein Beispiel jener Politik gegeben, die er, motiviert vom Wunsch nach persönlichem Überleben und von langfristigen politi­ schen Aspirationen, im ganzen Reich anzuwenden suchte." Nach dem Hinweis auf die drakonischen Befehle und Anordnungen Himmlers, Bormanns und Keitels fuhr PWD fort: "Diese Befehle, dazu unmittelbare Beobachtung und anderes dokumentari­ sches Material zeigen deutlich das weitverbreitete Zögern der deutschen Zivilisten, die totale Verteidigung des Vaterlandes zu stützen. Dieses Zögern hat sich in einigen Fäl• len zu offener Feindseligkeit gegen die Wehrmacht gesteigert und ist zu einer ernstzu­ nehmenden Kraft hinter Versuchen zur Beendigung der Kämpfe geworden, jedenfalls auf lokaler Ebene."294 Fast überall erlebten die Soldaten der Besatzungsarmee nun die Manifestationen dieser "gewichtigen Strömung" zur örtlichen Beendigung der sinnlos gewordenen Kämpfe, ganz im Sinne jener alliierten Analyse, die festgestellt hatte, nachdem die Partei ihre Durchsetzungskraft verloren habe, sei mittlerweile überall die "Initiative des einfachen Mannes" in den Vordergrund getreten.295 Es ist klar, daß diese Nicht­ verteidigungsinitiativen in den Dörfern und Städten und die damit verbundenen cou­ ragierten und oftmals lebensgefährlichen Unternehmungen der um Leben und Besitz besorgten Bürger die Besatzungsmacht - wie richtig gesagt wurde - nicht unbeein­ druckt gelassen und zu mancher Korrektur ihres Bildes von "den Deutschen" Anlaß gegeben haben müssen.296 Es erübrigt sich, die in beinahe jeder Gemeindechronik und jedem einschlägigen Bericht amtlicher oder privater Herkunft detailliert beschriebenen Übergabeaktionen hier an hand dieses oder jenen Beispiels aus Süddeutschland nochmals297 in extenso vor Augen zu führen. Die "aus den Fugen gehende Ordnung des Regimes in der letz­ ten Phase des Dritten Reiches" bot jedenfalls den zahllosen kurzlebigen, im Wort­ sinne als Bürgerinitiativen zu bezeichnenden Gruppen gute Gelegenheit, jene "Frei­ räume"298 zu nutzen, die sich jetzt trotz des wachsenden Durchhalteterrors eröffneten, um den "Widerstand gegen die Kriegsverlängerung" zu organisieren. Tatsächlich tru-

294 SHAEF, PWD, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare NT. 31 v. 2. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Decimal File 1944-45, Entry 87. 295 ECAD, General Intelligence Bulletin Nr. 41 v. 31. 3. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Branch, Entry 54. 296 Vgl. Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS­ Zeit, IV, S. 689. 297 Vgl. die ausführlich geschilderte Übergabe von Bad Godesberg, IV/2. Siehe auch die Studie von Münkler, Machtzerfall, in der unter besonderer Berücksichtigung des Verhaltens des Kampfkommandanten die Si­ tuation im hessischen Friedberg analysiert ist. Vgl. auch Woller, Gesellschaft und Politik, S. 46ff., für eine minutiöse Rekonstruktion am Beispiel der Stadt Fürth in Mittelfranken. 298 Die beiden Zitate bei Broszat, Grundzüge, in: Broszat, Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich, S. 63. Vgl. hierzu auch die treffende Beschreibung des "Systems der übereinandergelagerten Befehlsstränge und der sich ge­ genseitig blockierenden Kompetenzen" bei Münkler, Machtzerfall, S. 32 f., das die Übergabeaktionen bei Kriegsende begünstigt hat. 844 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland gen solche Aktionen zur örtlichen Beendigung des Krieges in aller Regel einen "ideo­ logiefreien Zug"299. Trotz der beim Einmarsch von einem Ort zum anderen tausend­ fältig verschiedenen Konstellation war es ein Hauptmerkmal solcher Initiativen (man­ che seit Monaten im geheimen vorbereitet, manche aus dem Augenblick geboren), daß mutige Bürger, und zwar in der Regel maßgebliche Angehörige der Gemeindever­ waltung oder örtliche Honoratioren und Respektspersonen (Pfarrer, Lehrer, Unter­ nehmer, Handwerksmeister, Ärzte, o. ä.) - mitunter auch einfache Gemeindemitglie­ der und des öfteren Frauen300 - in offen verabredetem oder unausgesprochenem Zusammenspiel mit dem jeweiligen Kampfkommandanten oder einem anderen Wehrmachtsoffizier, oft auch gänzlich auf eigene Faust, die Initiative ergriffen und den entscheidenden Schritt zur Rettung ihrer Ortschaft wagten. Diese Bürger besaßen dank ihrer herausgehobenen Stellung am Ort einerseits das Vertrauen der Einwohner­ schaft für ihre gefährliche Mission, andererseits lag es auf der Hand, daß sie von den Kommandeuren der Besatzungstruppen am ehesten als Garanten dafür angesehen wurden, daß die Wehrmacht den Feind nicht in eine Falle zu locken versuchte. Sehr oft waren Beamte der Stadt- oder Gemeindeverwaltung beteiligt. Neben dem grassierenden Defätismus des nationalsozialistischen Führungspersonals aller Ebenen - die einzige Gruppe der Zusammenbruchsgesellschaft, auf die diese Qualifizierung wirklich paßte - hob sich das oftmals vom gesunden Sinn für die Realitäten geleitete, viel mutigere Handeln der vielen hundert Bürgermeister, stellvertretenden Bürgermei• ster, Beamten und Angestellten scharf ab, und das war ein bemerkenswerter Kontrast, der auch der Besatzungsmacht nicht verborgen bleiben konnte. Was die Bürger an­ ging, so vergaßen sie es nicht, wem sie das glimpfliche Kriegsende zu verdanken hat­ ten. Das dürfte zur Stärkung der Autorität der regulären Verwaltung beigetragen ha­ ben. Und nun konnten, mit kräftiger Unterstützung der jungen Militärverwaltung, auch "Neue" an verantwortlicher Stelle in den Ämtern und Behörden Positionen ein­ nehmen, die zuvor persönlichen Anteil an der Verschonung ihrer Stadt gehabt hat­ ten.30l

Nationalsozialistischer Durchhalteterror: Verbrechen der Endphase War den meisten dieser Aktionen zur Verschonung des Besitzes und zur Verhinde­ rung sinnloser Opfer auch Erfolg beschieden, so doch nicht allen. Viele Bürger - im ganzen Reichsgebiet wohl einige hundert302 - gerieten noch in letzter Minute in die Mühlen des Regimeterrors und verloren wegen mutiger Intiativen zur Kriegsbeendi­ gung ihr Leben. Wer sich im falschen Augenblick aus der Deckung wagte, verfrüht vorzuckte, der wurde von der Mordwelle verschluckt, "umgelegt", "abgeknallt", er­ hängt und erschlagen - ebenso wie nun noch einmal Tausende von kriegsmüden Sol-

299 Zitate bei Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 647 und S. 689. 300 Zu dem durchaus nicht singulären Phänomen des "Weibersturms von Bad Windsheim" vgl. ebenda, S. 650ff.; weitere Beispiele ebenda, S. 654. Siehe auch Stadtmüller, Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, S. 372 und S. 459. 301 Woller, Gesellschaft und Politik, S. 99. 302 Allein in Bayern sind ungefähr 50 Opfer solcher Endphase-Verbrechen unter der Zivilbevölkerung be­ kanntgeworden, die Dunkelziffer ist gewiß beträchtlich. Vgl. die Aufstellung der Untersuchungs- und Ge­ richtsverfahren zu dieser Art von NS-Verbrechen im Archiv der Zentralen Stelle der Landesjustizverwal­ tungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 845 daten, Häftlingen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.303 Der Weg aus dem Krieg führte auch für die Zivilbevölkerung durch ein "Nadelöhr" (Reinhold Maier).304 Neben den "normalen" polizeilichen und justiziellen Terrorinstrumenten des Regi­ mes, der Wehrmachtsjustiz sowie der Erfassung und Disziplinierung der männlichen Bevölkerung im Voikssturm305 wurde unter dem Eindruck des Zusammenbruchs im Osten auf Befehl Hitlers ein weiteres Werkzeug zur Knebelung des eigenen Volkes kreiert: Die Verordnung des Reichsministers der Justiz über die Errichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945306, die das Ende aller "gerichtsverfassungsrecht­ licher Garantien für den Angeklagten" brachte.307 Bormann pries die neuen Standge­ richte in einem Rundschreiben an die Gauleiter im Westen als eine "Waffe zur Ver­ nichtung aller Volksschädlinge", die "im Sinne des Führers rücksichtslos und ohne Ansehen von Person und DienststeIlung" zu handhaben sei. 30B Standgerichte waren in allen "feindbedrohten Reichsverteidigungsbezirken" zu bilden und dienten nach dem sich kaum noch vom Parteijargon unterscheidenden Wortlaut der Verordnung dazu, jeden sofort scharf zur Rechenschaft zu ziehen, der sich insbesondere aus "Feigheit und Eigennutz" seinen Pflichten gegenüber der Allgemeinheit entzog; diese erforder­ ten laut Justizminister jetzt "von jedem Deutschen Kampfentschlossenheit und Hin­ gabe bis zum Äußersten". Wie zur Symbolisierung der vom Regime ebenso krampf­ haft wie vergebens angestrebten Einheit von Volk und Führung sollte sich das Gericht (es war für alle "Straftaten" zuständig, die die "deutsche Kampfkraft und Kampfent­ schlossenheit" gefährdeten) aus einem Strafrichter, einem NSDAP-Funktionär und ei­ nem Offizier der Wehrmacht bzw. der Waffen-SS oder der Polizei zusammensetzen. Es konnte auf Todesstrafe, Freispruch oder Überweisung an die ordentliche Gerichts­ barkeit erkennen. Notfalls konnte der Anklagevertreter selbst Ort, Zeit und Art der Vollstreckung des Urteils bestimmen. Diese Vorschriften waren nicht weniger durchsichtig und krude wie das dahinter­ stehende Bemühen, mit einem derartigen Terrorinstrument die "Volksgemeinschaft" zu erzwingen. Die Realität zeigte nämlich alsbald, daß sich weder die Führung noch das Personal der Standgerichte selbst sonderlich um die Beachtung solcher Minimal­ bestimmungen und eine wenigstens formal korrekte Durchführung der Verfahren be­ kümmerten. Die Tribunale waren Vernichtungsinstrumente in juristischer Drapie­ rung, "Urteile" meist nichts anderes als "Ermordungsbefehle"309, wie Opfern und Tätern durchaus auch bewußt war. Sogar mehr noch, bei einer bestimmungskonfor-

JOJ Vgl. zu diesen Morden beispielsweise die Gerichtsurteile, die abgedruckt sind in: Justiz und NS-Verbre­ ehen. Sammlung deutscher Stralurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966, 22 Bde., bearb. von Adelheid L. Rüter-Ehlermann u.a., Amsterdam 1968-1981. Zum "Blutrausch der natio­ nalsozialistischen Verfolgungs behörden", die in den letzten Kriegstagen im Ruhrgebiet massenhaft Zwangsarbeiter umbrachten, vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin 1986, S. 171 I.; Zitat ebenda, S. 172. j04 Maier, Ende und Wende, S. 231. '0' Vgl. VII/4. ,o6 Verordnung des Reichsministers der Justiz "Über die Errichtung von Standgerichten" v. 15.2. 1945; Reichsgesetzblatt 1945, I, S. 30. '07 Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich. 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürt• ner, München 1988, S. 1134. '08 Fernschreiben Bormanns an zehn Gauleiter im Westen, o. D., Anlage zu seinem Schreiben an Himmler v. 8.2. 1945; BA, NS 19 alt, Nr. 321. '09 So eine treflende Qualifizierung in der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts München im Revisions­ verfahren gegen Alfred Salisco u.a. vom Juni 1948 (Az: 1 Ss 22/48); HZ-Archiv, Gm 07.28. 846 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland men Verhandlungsführung konnten Standrichter mitunter selbst sehr schnell in den Verdacht geraten, den politischen Zweck der Verordnung durch juristische Filibuste­ rei vereiteln zu wollen. Partei und Staatsführung, denen das Ethos abendländischen Rechtsdenkens immer wenig gegolten hatte, leisteten damit - durch das massenhafte Sterben auf den Schlachtfeldern und in den Bombennächten psychologisch wohl be­ günstigt - einen letzten Beitrag zur weiteren Verschärfung eines Klimas, in dem ein Menschenleben wenig galt. Es lag eine Atmosphäre des Ausmerzens und Abknallens über dem Land, die den Mördern Stimulanz und "Entlastung" verschaffte, den Bürger von einer Minute zur anderen vogelfrei werden ließ. Deshalb konnten die im Februar 1945 installierten Standgerichte, die immerhin die Kompetenz hatten, den Delin­ quenten durch Freispruch oder Verzögerung von Urteil und Exekution zu schützen, in dem apokalyptischen Stadium des NS-Regimes nur noch als anachronistische Re­ likte bürgerlicher Rechtstradition gelten. Manchem "Hoheitsträger" und manchem SS-Mann war der Umweg über ein Standgericht jetzt deshalb auch zu mühsam. Durch Scheinverfahren und Selbstjustiz war mittlerweile rascher ans Ziel zu gelangen. So wahllos und von tausenderlei Zufälligkeiten bestimmt das Morden in der Endphase auch vonstatten ging, einige gemeinsame Konturen sind zu erkennen.310 Sie zeigen, daß Schwerpunkte des Schreckens in Regionen auszumachen sind, in de­ nen die amerikanischen Truppen nur langsam vorankamen, den Schergen des Regi­ mes deshalb genügend Zeit zur Verrichtung ihres blutigen Handwerks blieb. Eine Verdichtung des Terrors findet sich etwa auch dort, wo das NS-System von besonders kaltschnäuzigen und brutalen Funktionären repräsentiert war, oder dort, wo die Waf­ fen-SS den Kampf führte oder einzelne Desperados, die bereits die Brücken hinter sich abgebrochen hatten und von einem Leben nach der Kapitulation nicht mehr viel zu erwarten hatten, am Werke waren. Reiche Ernte hielt der Durchhalteterror auch an Orten, wo Bürgerinitiativen zur Kriegsbeendigung zu unzeitigem Verlassen ihrer Dek­ kung verleitet wurden oder sich von selbst zu früh vorwagten. Der nationalsozialisti­ sche Terrorismus blieb bis zum Moment der Ankunft der Besatzungstruppen, bis zum Tage der Kapitulation (an manchen Orten sogar noch eine Weile darüber hinaus) für jeden einzelnen ein allgegenwärtiges, unberechenbares tödliches Risiko. Als auffallen­ des Merkmal dieser Untaten sticht schließlich hervor, daß die Täter bei den Endphase­ verbrechen gegen die eigenen Landsleute nur zu einem geringen Prozentsatz von ideologischen oder "patriotisch-nationalen" Beweggründen im engeren Sinne geleitet waren, es ihnen überhaupt nicht darum ging, etwa die "Kampfentschlossenheit" der Bevölkerung zu festigen. Die Morde der Endphase gründeten viel häufiger in dem Verlangen nach einer definitiven Bereinigung schon länger zurückliegender Konflikte, in der Entladung alter Reibereien und Animositäten im politisch-gesellschaftlichen Leben des jeweiligen Ortes. Manche Endphasenverbrechen wiederum entsprangen einfach dem "esprit de corps" einer Einheit, dem Loyalitäts- und Bekenntnisdruck in­ nerhalb eines kleinen Funktionärszirkels. Einige Täter hatten einen Moment lang nur

310 Das folgende beschränkt sich auf die Endphase-Verbrechen im April und Anfang Mai 1945 im amerikani­ schen Besetzungsgebiet in Süddeutsch land. Eine systematische Untersuchung dieses Komplexes steht noch aus. Ansätze dazu bei Egbert Schwarz, Die letzten Tage des Dritten Reiches. Untersuchung zu Justiz und NS-Verbrechen in der Kriegsendphase März/April1945, Magisterarbeit bei Peter Hüttenberger, Hein­ rich-Heine-Universität, Düsseldorf 1990. Ich danke Falk Wiesemann für diesen Hinweis. Ansonsten im­ mer noch unübertroffen das Werk von HerbertJäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Olten 1967. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 847 die Nerven verloren, und oftmals ist als Antrieb der Amokläufer wenig mehr auszu­ machen als eine individuelle Disposition zu kalter Vernichtung von Menschenleben. Das Begleichen offener Rechnungen, privater Machtrausch, pathologischer Blutdurst, die Wut und desperate Aggression von schwer belasteten "Hoheitsträgern" oder SS­ Offizieren, denen es auf ein Opfer mehr oder weniger nicht ankam, weil ihr Schicksal mit der Verhaftung durch die Besatzungsmacht ohnehin besiegelt sein würde, be­ stimmten die Szene vor allem. Die sogenannte Stärkung des Widerstandsgeistes im "Ringen um den Bestand des Reiches", von dem die Standgerichts-Verordnung vom Februar sprach, war im Frühjahr 1945 häufiger Alibi als Beweggrund des Mordens. Nicht für alle Verbrechen fand sich auch ein Zeuge, bei manchen zwar ein Kläger, aber nur bei einigen ein Richter. Neben den vielen Situationsmördern taten sich bei Kriegsende einige systematisch mordende Figuren besonders hervor, der Generalleutnant der Waffen-SS Max Simon etwa, der mit seinem XIII. SS-Armeekorps die süddeutsche Bevölkerung bis zur Kapi­ tulation des Dritten Reiches unnachgiebig gequält hat, oder NSDAP-Kreisleiter Ri­ chard Drauz in dem durch alliierte Bombardements und sinnlose deutsche Abwehr­ kämpfe schwer in Mitleidenschaft gezogenen Landkreis Heilbronn. Ohne die hier vierzehn Tage lang hin und her gehenden Gefechte311 , vor allem aber ohne das von diesem "Hoheitsträger" geschaffene und beständig geschürte Mordklima wäre die schreckliche Aufgipfelung des Regimeterrors gegen die Bevölkerung zwischen Neckar und Jagst nicht möglich gewesen. Drauz, aus kleinen Verhältnissen stammend, seit 312 1928 NSDAP-Mitglied und bei Kriegsende 51 Jahre alt , war ein Duzfreund und Günstling von Gauleiter Murr gewesen und in ganz Württemberg als Wüstling, rüder Fanatiker und skrupelloser Despot bekannt. In einem Gemeindebericht aus dem Jahre 1948 figuriert Drauz als "Schlächter von Heilbronn"313, mehrfach hat er sich das "Recht über Leben und Tod der Bevölkerung"314 angemaßt. Bei der von Goebbels sy­ stematisch entfachten Lynchjustizkampagne gegen mit dem Fallschirm abgesprun­ gene Piloten315 tat er sich höchstpersönlich hervor und erschoß mindestens einen amerikanischen Kriegsgefangenen. Im April 1945 konnte sich der Kreisleiter un­ schwer ausrechnen, daß ihm die Amerikaner kein Pardon gewähren würden. Mit Bart und falschem Namen wurde der untergetauchte Drauz auch bald gefaßt, von einem Gericht der U.S. Army zum Tode verurteilt und am 4. Dezember 1946 in Landsberg gehängt. Die Brutalität von Drauz übertraf freilich bei weitem seine Tapferkeit. Denn als die Amerikaner den Neckar überschritten und die mehrtägigen erbitterten Kämpfe um den Stadtkern von Heilbronn begannen316, da zog es auch dieser "Hoheitsträger" vor, das Weite zu suchen.317 Kaum hatte die Geschäftsstelle der Kreisleitung Beschuß er-

JII Vgl. VII/1. >" Zu Drauz vgl. Uwe Jacobi, Die vermißten Ratsprotokolle. Aufzeichnung der Suche nach der unbewältigten Vergangenheit, Heilbronn 1981, S. 59ft. und S. 125ft. >13 "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" des Bürgermeisteramtes der Gemeinde Frankenbach/ Lkrs. Heilbronn von Ende 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8. >14 So das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Heilbronn gegen Oskar Bordt u.a. v. 3. 7. 1947 (Az: KLs 49-51/47); HZ-Archiv, Gh 08.01. >15 Vgl. die Beispiele in: Justiz und NS-Verbrechen. >16 Vgl. Blumenstock, Der Einmarsch der Amerikaner und Franzosen, S. 90ft. >17 Das folgende basiert vor allem auf dem Urteil der Strafkammer des Landgerichts Heilbronn gegen Oskar Bordt U.a. v. 3.7.1947 (Az: KLs 49-51/47); HZ-Archiv, Gh 08.01. 848 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland halten, ließ Drauz am Morgen des 6. April Akten und Partei fahne verbrennen und machte sich mit zwei zusammengekoppelten Fahrzeugen auf die Flucht aus der Stadt. Mit ihm fuhr der 30jährige Os kar Bordt, ein Schreinergeselle, der früh in die Hitlerju­ gend eingetreten, dann in die SA und schließlich in die Stadtverwaltung übernommen worden war. Dort arbeitete er - wegen einer Lungenkrankheit wehruntauglich - den Krieg über als Bademeister und Botenmeister. Eine gewisse Chance zur kämpferi• schen Bewährung schien sich diesem SA-Obertruppführer zu bieten, als er im März 194~ zum Volkssturm einberufen und dort als Zugführer der Hitlerjugend eingesetzt wurde. Außerdem befanden sich in dem Troß des flüchtenden Kreisleiters ein 39jähri• ger Harmoniumbauer-Gehilfe, der nach der Teilnahme am Rußlandfeldzug lange im Lazarett gelegen hatte und jetzt ein führender Mann beim Heilbronner Volkssturm war, sowie der 33jährige Fahrer des Kreisleiters. Alle vier waren Familienväter. An diesem Morgen waren nun einige abrückende Wehrmachtsoldaten durch einen bestimmten Straßenzug der Stadt gekommen und hatten gegenüber den Anwohnern die Meinung kundgetan, daß gegen die Übermacht der Amerikaner "nichts mehr zu machen sei". Als ein an der Straße stehender Zivilist einen der durchziehenden Offi­ ziere fragte, wie man denn jetzt Frauen und Kinder schützen könne, bekam er von diesem zur Antwort, "es sei am besten, wenn man ein weißes Tuch" heraushänge. Bald hingen aus fünf, sechs der gutbürgerlichen Häuser weiße Fahnen. Die Katastrophe be­ gann damit, daß der Kreisleiter und sein Gefolge etwa eine Stunde später auf der Flucht durch eben diesen Straßenzug kamen. Bordt machte seinen Chef auf die wei­ ßen Tücher aufmerksam, sofort läßt dieser anhalten und brüllt: "Raus, erschießen, alles erschießen!" Es beginnt ein zwanzigminütiges Morden, dem vier Menschen zum Op­ fer fallen und vier weitere nur knapp entrinnen. Willfähriges Werkzeug des Kreisleiters und treibende Kraft bei diesem Massaker ist der hünenhafte, lungenkranke Bordt, die beiden anderen bleiben eher widerstrebende Mittäter. Im ersten Hause trifft das Trio niemanden an. Die Männer schlagen die Tü• ren und Fenster ein und holen die weiße Fahne herunter. Anschließend stürmen sie zum benachbarten Anwesen des 73jährigen Pfarrers Beyer. Als die Schergen des Kreisleiters dort gegen die Tür schlagen, öffnet ihnen der Stadtamtmann Kübler. Ein Wehrmachtsoffizier habe ihm das Heraushängen der weißen Fahne befohlen, rechtfer­ tigt er sich. Drauz beobachtet die Szene von der Straße aus und schreit: "Erschießen, die Feiglinge, erschießen!" In diesem Augenblick erscheint Küblers Ehefrau in der Tür: ,,Aber meinen Mann erschießt ihr nicht!" Schon fallen Schüsse, und das Ehepaar flüchtet in das Haus zurück. Die drei Häscher drängen hinterher und geben - so die gerichtlichen Ermittlungen später - mindestens weitere sechs Schüsse ab. "Nachdem die Angeklagten das Haus wieder verlassen hatten", stellt das Gerichtsurteil 1947 nüchtern fest, "lagen tot am Boden im vorderen Zimmer nahe an der Eingangstüre die Ehefrau Kübler mit Schußverletzungen am Hals sowie am Nacken und in dem an­ schließenden hinteren Zimmer, und zwar in der Mitte der vorderen Hälfte in einer großen Blutlache, der Amtmann Kübler mit einer Einschußwunde am Unterkiefer, ei­ ner breiten Ausschußwunde am Hinterkopf, aus der das Gehirn herausquoll, mit einer Schußverletzung an der rechten Hand und einer Streifschußverletzung am rechten Unterarm. Der Pfarrer Beyer war, von einem Schuß ins Herz getroffen, vom Flur aus die Kellertreppe hinabflüchtend, von seiner Frau aufgefangen worden und dabei in ih­ ren Armen verstorben. Auf Kübler ist im Hause von dem Angeklagten Bordt geschos- 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 849 sen worden; Bordt räumt selbst ein, daß er vom vorderen Zimmer aus auf ihn von hin­ ten einen Schuß abgegeben habe, als er (Kübler) aus diesem Zimmer in das hintere gelaufen sei; weiter hat Bordt nach der glaubhaften Angabe des angeklagten R. in ei­ nem der bei den Zimmer vor dem in einer Ecke kauernden Kübler mit seinem Ge­ wehr gestanden und dabei vor sich hingesprochen; nach Ablauf der ganzen Aktion aber hat Bordt sich den anderen gegenüber gerühmt, er habe den Stadtamtmann Küb• ler ,fertiggemacht' (oder so ähnlich), dieser sei sein größter Feind bei der Stadtverwal­ tung gewesen, und Drauz gegenüber hat er erklärt, jetzt habe er sein Mütchen an Kübler gekühlt, dieser Mann habe ihn von jeher schikaniert." Von der Stätte der Bluttat geht es zum nächsten Haus. Zwei erschreckte Frauen, die öffnen, sind sofort bereit, die weißen Tücher wieder einzuziehen, wollen dazu die Treppe hinaufeilen. Bordt aber tritt mit seinem Kumpanen unter die Haustüre und schießt hinter den beiden her. Nur weil sie sich instinktiv auf die Treppe fallen lassen und sich tot stellen, kommen sie mit dem Leben davon. Wieder im Freien, sehen die drei jemanden über die Straße auf das ebenfalls weiß beflaggte Haus des Milchhofdi­ rektors zueilen, schießen sofort, verfehlen ihr Opfer aber, das sich auf die Straße wirft. Der Mann verschwindet in einem Haus, die Schergen des Kreisleiters hinterher. Hier feuern sie ebenfalls die zum Luftschutzkeller führende Treppe hinab, fehlen aber er­ neut. Damit ist der Amoklauf noch nicht beendet. Als der Mann, den das Gericht wie­ derum als Bordt identifizierte, am gegenüberliegenden Haus klopft, öffnen ihm die Hausfrau D. und deren Schwägerin. Bordt schreit: ",Wer hat die weiße Fahne heraus­ gehängt, wo ist der Mann?' Die Ehefrau D. antwortete: ,Ich, der Mann ist nicht da.' Darauf zog (Bordt) eine Pistole, richtete sie auf die Brust der Ehefrau D. und gab einen Schuß auf sie ab, von dem getroffen sie sofort tot zusammenbrach." Für die wahllosen Erschießungen und Mordversuche, bei denen sich Bordt nach Meinung des Gerichts in einen förmlichen "Blutrausch" hineingesteigert hatte, wurde Bordt nach dem Krieg vom Landgericht Heilbronn zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt; seine weniger aktiven Komplizen kamen glimpflicher davon. Es ist klar, daß dieses wahllose, von persönlichen Rachemotiven befeuerte verrückte Wüten eines zurückge• setzten, selbst auf der Flucht befindlichen Adlaten - dieses Wüten wäre nicht einmal mit dem berüchtigten und rechtswidrigen "Flaggenbefehl" zu rechtfertigen gewesen, nach dem alle männlichen Bewohner eines weiß beflaggten Hauses zu erschießen wa­ ren - nicht das geringste mit dem Versuch zu tun hatte, etwa im Sinne der Führung die "Kampfentschlossenheit" der Bevölkerung zu stärken. Sogar der württembergi• schen NS-Spitze scheint nach diesen Vorgängen unwohl gewesen zu sein, denn sie gab bald darauf eine "Tod den Verrätern!" überschriebene Zeitungsmeldung heraus, in der es hieß, Stadtamtmann Kübler sei von einem Standgericht zum Tod verurteilt und erschossen worden.318 Diese Heilbronner Gewalttat war zwar ein besonders schweres und abstoßendes, aber nicht das einzige Tötungsverbrechen, das bei Kriegsende im Herrschaftsgebiet des Kreisleiters Drauz von diesem selbst oder von ihm unterstellten Funktionären verübt wurde.319 Gemeinsam war diesen Untaten, daß allein die von jedem halbwegs

318 Vgl. Blumenstock, Einmarsch, S. 29. 319 Vgl. die bei Jacobi, Ratsprotokolle, S. 125 f., und Blumenstock, Einmarsch, S. 34, geschilderten Fälle. Ferner etwa die Unterlagen des Landgerichts Heilbronn mit den Aktenzeichen KLs 4-6/47, KLs 158/47, KLs 49-51/47 sowie 1 Js 22372/61 und 1 Js 20129/60. 850 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland plausiblen Motiv losgelöste Willkür die Hand der Täter führte. Reine, offenbar anstek­ kend wirkende Willkür kennzeichnete auch die Vorfälle, die sich in Binswangen, nahe , ereigneten. Nach Überzeugung des Landgerichts Heilbronn spielte dabei das "traurige Vorbild" des Kreisleiters eine nicht zu unterschätzende Rolle. 320 Der habe seine Amtsträger zu "besonderer Härte und Rücksichtslosigkeit" erzogen und diesen "gerade in den Tagen des Zusammenbruchs die Beseitigung von Saboteuren ir­ gendwelcher Art zur Pflicht gemacht". Das habe eine "verheerende Wirkung" auf den Angeklagten L., einen 56jährigen Feinmechaniker und Kleinlandwirt, gehabt, der seit zwanzig Jahren in dem kleinen Binswangen ansässig war, wo die Tat geschah. L. galt nicht als sonderlich arbeitsam und hatte sich gegen Kriegsende zudem als stellvertre­ tender Ortsgruppenleiter bei den Einheimischen "sehr unbeliebt" gemacht. Bei seiner Tat spielten auf taktisch-militärische oder disziplinarische Erwägungen zurückge• hende Motive eine beinahe noch geringere Rolle als bei den anderen Terrortaten im Landkreis Heilbronn, denn für Binswangen war die Nachkriegszeit bereits angebro­ chen. Am Nachmittag dieses 13. April 1945 stießen amerikanische Einheiten an dem Ort vorbei, "was von der Einwohnerschaft mit Aufregung verfolgt wurde. Die Bevölkerung stand auf der Straße herum und gab ihrer Freude Ausdruck, daß der Krieg für sie nun überstanden sei". Einige Bauern begannen sogleich damit, Panzersperren zu beseiti­ gen. Dem herzueilenden L. machten sie klar, jetzt, wo die Amerikaner da seien, habe er nichts mehr zu sagen. Solche triumphierenden Sticheleien versetzten den stellver­ tretenden Ortsgruppenleiter derart in Rage, daß er ausrief: "Solang wir da sind, haben wir noch zu bestimmen! Wenn ich einen Revolver hätte, würde ich ein paar erschie­ ßen!" Diesen Worten verlieh er durch geschäftiges Herumkramen in seinen Hosenta­ schen Nachdruck. Die Bauern wurden unsicher und zerstreuten sich. Kurze Zeit da­ nach ging der kleine Parteifunktionär unvermittelt auf zwei Soldaten los, die ihre Uniform bereits mit Zivilkleidern vertauscht hatten. Als inneren Antrieb für das er­ neute "Einschreiten" sah es das Heilbronner Landgericht später unter anderem an, daß L. "mit dem Einzug amerikanischer Truppen seine bisherigen Machtbefugnisse davonschwimmen" sah, daß er "sich Sorgen um seine Person für die Zukunft gemacht und dadurch selbst in eine Untergangsstimmung hineingesteigert hat, die vor nichts mehr Halt machte". ",Wie kommt es, daß ihr in Zivil seid und gestern habt ihr doch als Soldaten noch Uniform angehabt?''', fuhr L. die beiden Soldaten an, die ihrerseits guter Dinge und froh darüber waren, den Krieg heil überstanden zu haben. Der eine gab zunächst ge­ lassen zuriick: ",Du warst doch gestern auch noch beim Volkssturm und müßtest heute auch dort sein"'. Doch da L. ihn sofort am Ärmel packte, gerieten sie in ein Handgemenge. Dabei zog der Amtswalter seine Pistole, schoß, doch traf er den Solda­ ten nur in die Hand. Dieser holte daraufhin seine Armeepistole und ging nun seiner­ seits auf L. zu, der den Soldaten wenige Augenblicke später aus zwei, drei Metern Ent­ fernung niederstreckte. Das Gericht billigte dem rasenden Ortsgruppenleiter, der auf den vor ihm liegenden "halbtoten" Soldaten allerdings noch zwei weitere "Fang­ schüsse" abgefeuert hatte, Notwehr zu. Jetzt eilte der andere Soldat hinzu und wollte L. beruhigen, wobei er ihm sagte, "er solle doch das dumme Zeug bleiben lassen. Mit

320 Urteil des Landgerichts Heilbronn gegen den Gastwirt und Weingärtner L. wegen Totschlags und versuch­ ten Totschlags v. 12.4. bzw. 4. 11. 1947, in: Justiz und NS-Verbrechen, I, S. 727fl. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 851 den Worten: ,Ach Quatsch' schoß der Angeklagte aus einer Entfernung von etwa 1 Meter auf (den zweiten Soldaten), der sich alsbald zur Flucht wandte, aber nur noch wenige Schritte bis zum Treppenabsatz vor der Kegelbahn des L.'schen Anwesens kam und dort tot zusammenbrach." Selbstjustiz und Scheinjustiz, Willkür- und Vernichtungsmaßnahmen waren es auch, die zur selben Zeit im ebenfalls noch hart umkämpften Franken die Bevölke• rung in Angst und Schrecken versetzten. Daran änderte die Tatsache nicht das ge­ ringste, daß der Terror hier oftmals im Gewande Justitias auftrat und unter dem Vor­ wand praktiziert wurde, die deutsche Kampfkraft stärken zu wollen. Neben dem als fanatischer Nationalsozialist bekannten Kommandeur des XIII. SS-Armeekorps, der 32I in Mittelfranken sein Unwesen trieb , war es im Mainfränkischen eines der berüch• 322 tigten Standgerichte , das "Fliegende Standgericht Helm", das sich dort mit seinen mörderischen "Urteilen" gegen Zivilisten hervortat. Das Klima am Main war infolge der harten Kämpfe um Würzburg und Aschaffenburg zwar ohnehin sehr rauh gewor­ 323 den , doch hatte der Chef jenes "Gerichts" einen gehörigen persönlichen Anteil an den entsetzlichen Brutalitäten dort. Erwin Helm, ein Berserker eigener Qualität, war noch als Berufsoffizier der Reichs­ wehr übernommen worden, hatte es in der Wehrmacht aber lediglich zum Major ge­ bracht und war gegen Kriegsende Führer eines ,,Auffangstabes" der zerschlagenen 7. Armee gewesen, bevor er sein eigenes "Gericht" bekam, eine Mördertruppe, die eine Blutspur vom Rhein bis ins Sudetenland zog.324 Major Helm pflegte in einem grauen Mercedes zu reisen, an dem ein Schild mit der Aufschrift "Fliegendes Standge­ richt" prangte. Auch sonst zeichnete er sich nicht durch Feinsinn aus. Er war ein Fa­ natiker reinsten Wassers, von dem des öfteren Sprüche wie "Nun werden Rüben fal­ len" zu vernehmen waren. War er aufgeräumter Stimmung, gab er seinen Kameraden auch schon einmal eine besondere Fertigkeit zum besten: "Er hielt sich die Nase zu und preßte aus einer handtellergroßen, von einer Verletzung stammenden Lücke der Schädeldecke das Gehirn heraus, groß wie die Faust eines Kindes." Die Anzahl der in Unterfranken mit oder ohne juristische Verbrämung "umgelegten" und "aufgeknüpf• ten" Soldaten und Zivilisten wird nie mehr festzustellen sein; wie das "Fliegende Standgericht Helm" bei der Rechtsfindung verfuhr, unterliegt jedoch keinem Zweifel. Ende März 1945 war in der unterfränkischen Gemeinde Zellingen (Landkreis Karl­ stadt am Main) der Volkssturm in Stärke von drei Kompanien zum Appell angetreten. Der Bataillonskommandeur hielt eine scharfe Ansprache, die Front riicke näher, wer nicht pariere, werde erschossen, usw., ust. Daraufhin schallten ihm aus der Front weit­ hin vernehmliche "Oho!"-Rufe entgegen. Unter den angetretenen Männern war auch der 60jährige Landwirt Karl Weiglein. Zwei Tage nach diesem Zwischenfall wurde dessen Anwesen durch die bei der Sprengung einer nahe gelegenen Mainbriicke aus­ gelöste Druckwelle beschädigt, was den aufgebrachten Bauern zu der Bemerkung ver­ anlaß te : "Es gehören die aufgehängt, welche die Briicke gesprengt haben." Diese

321 Vgl. Fröhlich, Herausforderung, S. 228f., insbes. S. 253. 312 Vgl. die Qualifizierung bei Meyer, Militärische Führungsschicht, in: Foerster u.a. (Hrsg.), Von der Kapitula­ tion bis zum Pleven-Plan, S. 594. 323 Siehe etwa Stadtmüller, Aschaffenburg im Zweiten Weltkrieg, S. 249. 324 Die Darstellung der Endphase-Verbrechen im fränkischen Raum folgt im wesentlichen dem akribischen Werk von Stadtmüller, Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, S. 510ff. Den Fall Weiglein be­ schreibt Stadtmüller auf den S. 520ff., Zitat auf S. 522. 852 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Worte wurden dem Kommandeur des Volkssturmbataillons, einem , hinter­ tragen, der sie dem auf der Durchfahrt befindlichen Major Helm weitergab und ihm bei dieser Gelegenheit auch von dem Zwischenfall bei dem Volkssturmappell drei Tage zuvor erzählte. Helm rief sofort: "Der Mann wird gehängt!" Vielleicht um dem Arzt zu imponieren, diktierte er sodann das Todesurteil und ließ auch schon einen Strick herbeischaffen. Auf dem Weg zum Wohnort von Weiglein bestimmte Helm rasch Vorsitzenden und Beisitzer eines Standgerichts, Verteidiger und Protokollführer gab es nicht. Dann wurde der Bauer aus seinem Hause geholt. Den Anklagepunkt der Meuterei ließ das "Gericht" fallen, da Weiglein leugnete, bei dem Volkssturmappell "Oho!" gerufen zu haben. Über die Brückensprengung habe er geschimpft, das räumte er ein. Die Beisitzer beantragten, den Denunzianten als Zeu­ gen herbeizuholen. Das wurde vom "Gericht" abgelehnt und statt dessen sofort die Todesstrafe wegen Meuterei und Zersetzung der Wehrkraft "beantragt". Während der Beratungen machten die Beisitzer, zwei Volkssturmführer aus Zellingen, weitere Ein­ wände, lehnten insbesondere ein Todesurteil strikt ab. Daraufhin wurden die beiden abgesetzt. Major Helm, der nun auch noch den beiden Beisitzern ein Standgerichts­ verfahren androhte, war während der "Beratungen", immer unruhiger werdend, be­ ständig durch das Dorf gestrichen, hatte des öfteren an das Fenster des Verhandlungs­ zimmers geschlagen, um die Sitzung des Standgerichts zu beschleunigen. Schließlich stürmte er in den Raum und brüllte: "Wenn ihr nicht fertig werdet, dann spreche ich das Urteil!" Das wirkte. Alsbald kam der von ihm selbst Stunden vorher abgefaßte Ur­ teilsspruch zur Verlesung, Helm bestätigte diesen auch gleich selbst und hängte dem Bauern Weiglein ein Pappschild mit der Aufschrift um den Hals: "Wegen Sabotage der Wehrmacht und Meuterei zum Tode verurteilt". Dann führte er den Delinquen­ ten persönlich zur Richtstätte. Helm hatte sie selbst ausgesucht und präparieren las­ sen, während das Standgericht noch nach dem Urteil suchte. Etwa fünf Meter vom Küchenfenster des Bauernhauses entfernt stand damals ein Birnbaum auf dem Weigleinschen Anwesen. An ihm hing der Strick, daneben standen eine Leiter und ein Stuhl. Es war Gründonnerstag, der 29. März 1945, ungefähr halb zwei Uhr nachts. Auf seinem Hof angekommen, rief der Todeskandidat laut nach sei­ ner Frau. Dora Weiglein öffnete das Küchenfenster, konnte trotz der Dunkelheit Lei­ ter, Stuhl und Strick erkennen: "Laßt doch meinen Mann in Ruhe, er hat euch doch nichts getan!", schrie sie entsetzt das Dorf hinab. Von den Henkern rabiat angefahren, mußte sie das Fenster wieder schließen. Ihr Mann stieg auf den Stuhl unter dem Birn­ baum, bekam den Strick um den Hals gelegt und wurde in die Schlinge gestoßen. "Helm, so hieß es, habe selbst noch am Strick gezogen." Vier Tage später wurde in der etliche Kilometer mainabwärts gelegenen Kreisstadt Lohr ein bekannter und geschätzter Krankenhausarzt erschossen, der sich mit der Ab­ sicht getragen hatte, die Stadt an die herannahenden Amerikaner zu übergeben.32> Auch dieser Urteilsspruch war, rechtlich gesehen, nichtig, da das Standgericht nicht nur falsch zusammengesetzt war, sondern auch eine Reihe von Verfahrensfehlern machte. Doch solche "Formalia" spielten bei der inzwischen beinahe freien Verfü• gungsgewalt des untergehenden Regimes über Leben und Tod ihrer Bürger längst keine Rolle mehr. Den meisten "Hoheitsträgern", Gestapo-Beamten oder SS-Angehö-

325 Auch dieses Beispiel ist der Studie von Stadtmüller, Maingebiet und Spessart im Zweiten Weltkrieg, S. 551ff., entnommen. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 853

rigen war auch längst klar, daß die Führung von ihnen keine umständliche Rechtsfin­ dung, sondern einen "kurzen Prozeß" erwartete. Seit die alliierte Schlußoffensive die Amerikaner in raschem Tempo durch das linksrheinische Deutschland und über den Rhein ins Innere des Reiches geführt hatte, trafen sie auf immer eindeutigere Anzeichen dafür, daß das zum Untergang ver­ urteilte NS-Regime nicht nur mit den in letzter Minute verübten Morden an politi­ schen Oppositionellen und Widerstandskämpfern und den Greueltaten gegen die überlebenden Häftlinge der Konzentrationslager Blutorgien feierte 326 , sondern mit kaum glaublicher Brutalität auch gegen die eigenen erschöpften Soldaten und jene "Volksgenossen" wütete, die keinen anderen Wunsch hatten, als wohlbehalten durch jenes "Nadelöhr" zwischen Krieg und Frieden zu schlüpfen. Die im westlichen Süd• deutschland operierende Seventh United States Army kam in ihrem After Action Re­ port explizit auf den Durchhalteterror in Franken zu sprechen. "Es war zu erwarten gewesen, daß die deutschen Führer in den letzten Tagen des Krieges ihre Zuflucht zum Terror nehmen würden, um ihre kriegsmüden Leute bei der Stange zu halten und die vordringenden alliierten Streitkräfte im Rücken zu stören", hieß es darin. In Lohr am Main habe die SS sechs der einflußreichsten Bürger der Stadt gehängt.327 Das entsprach zwar nicht den Tatsachen, aber Dimension und Qualität des auf Schritt und Tritt anzutreffenden deutschen Terrors war damit dennoch recht gut gekennzeichnet. Der berüchtigte Standgerichtsmord an dem "jungen Märtyrer"328 Robert Limpert in Ansbach am 18. April war in der Chronik der 7. US-Armee, die sogar eines der von ihm heimlich verteilten Flugblätter in englischer Übersetzung abdruckte, ebenfalls re­ gistriert. Der Intelligence-Stab der Sixth Army Group, die bereits große Teile Badens, Württembergs sowie des westlichen Bayern erobert hatte und sich eben anschickte, über München bis nach Tirol vorzustoßen, war schon Ende April zu der Feststellung gekommen: "Die Gewalt der Nazi-Herren über die Wehrmacht und das Volk wird spürbar schwächer, vor allem in Bayern. Der Zivilist findet sich in der Lage, sein Heim und seinen Besitz nicht gegen die Alliierten schützen zu müssen, sondern gegen jene Fanatiker, die sich mit der Niederlage nicht abfinden wollen und können."329 Auf ihrem Marsch von Franken zu den Alpen stießen die amerikanischen Soldaten überall auf weitere Exempel oder die noch kaum verwischten Spuren nationalsoziali­ stischer Schein- und Selbstjustiz, im Kampfgebiet des XIII. SS-Armeekorps beispiels­ weise in Ergersheim und Windsheim im mittelfränkischen Landkreis Uffenheim. In Ergersheim fuhren am 12. April kurz vor Ankunft der Amerikaner zwei deutsche Of­ fiziere auf einem Motorrad umher, um sich ein Bild von der unübersichtlich geworde­ nen Feindlage zu verschaffen. Dabei machten sie vor einem Einzelgehöft bei Ergers­ heim halt, an dem nach dem Bericht des evangelischen Pfarrers ein weißes "Fähn• chen" hing, "verlangten in barschem Ton nach dem Besitzer des Hofes, jagten dessen Frau und Töchter in Richtung Ergersheim fort und führten ihn dann hinter das Haus, wo sie ihn durch Genickschuß töteten. Nicht genug damit, zündeten sie darauf auch

326 Vgl. VIII3. 321 Seventh U.S. Army, Report of Operations, 111, S. 777 f. 328 Fröhlich, Herausforderung, S. 228 ff. 319 Sixth Army Group, G-2, Weekly Intelligence Summary NT. 32 v. 28.4. 1945; NA, RG 407, Operations Reports, Box 1742. 854 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland noch das Anwesen an, welches zum allergrößten Teil niederbrannte."33o Am selben Tag hatte im benachbarten Windsheim eine lärmende, größtenteils aus Frauen und Kindern bestehende Ansammlung auf dem Marktplatz, die für einen Abzug der Wehrmacht aus dem Städtchen eintrat, den dortigen Kampfkommandanten in arge Verlegenheit versetzt. Anderntags erschienen zwei Gestapo-Beamte aus Nümberg. Ohne irgendwelche Ermittlungen geführt zu haben, schoß der eine von ihnen kurze Zeit später einer 39jährigen Frau, die an der Demonstration teilgenommen hatte, aber dabei nicht besonders hervorgetreten war, ohne Warnung kaltblütig ins Genick. Vor den Augen ihres Mannes brach sie zusammen. Da die Niedergeschossene noch Leben zeigte, gab der Gestapo-Beamte, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, aus näch• ster Nähe noch einen Schuß in das Auge und die Mundhöhle ab 33 '; das Fabrikanten­ ehepaar hatte NSDAP und Gestapo schon länger als politisch unzuverlässig gegol­ ten 332 Ganz ähnliche Verbrechen, die den erwähnten in Willkür und Brutalität nicht nachstanden, wurden unmittelbar vor dem Eintreffen der Besatzungsmacht in Burg­ thann bei Nümberg am 16. April oder etwa in Regensburg am 23./24. April verübt.333 Das letzte Aufbäumen und mörderische Finale der nationalsozialistischen Machtha­ ber in Süddeutschland wurde zehn Tage vor Kriegsende von der unglücklichen "Frei­ heitsaktion Bayern" unter Führung des Hauptmanns Rupprecht Gemgroß, des Alois Braun und des Leutnants Ottoheinz Leiling provoziert. Mit ihren am frühen Morgen des 28. April 1945 über Rundfunk verbreiteten Proklamationen ("Fasanen­ jagd") und Aufrufen ("Beseitigt die Funktionäre der nationalsozialistischen Partei!") sowie insbesondere der leichtfertigen Behauptung, die FAB habe "heute Nacht die Regierungsgewalt erstritten"334, verleitete sie die Bürger in vielen Dörfern und Städten Ober- und Niederbayerns dazu, ihre Deckung in gutem Glauben vorzeitig zu verlas­ sen. Der ungenügend vorbereitete und dilettantenhaft bewerkstelligte Aufstandsver­ such der FAB lieferte damit in vollkommener Verkennung der Gesamtlage den Anlaß zu der in diesen Wochen wohl gräßlichsten Mordwelle. Wenige Tage und Stunden vor Ankunft der amerikanischen Besatzungstruppen fielen ihr zwischen Penzberg und

HO "Bericht über die Besetzung von Ergersheim durch die Amerikaner" des eV.-luth. Pfarramtes Ergersheim an den Landeskirchenrat in Ansbach v. 2.6. 1945; LKA Nümberg, Bestand Landeskirchenrat München. Bei diesem Bericht handelt es sich um eine erste Schilderung des später auch gerichtlich verfolgten Falles "Rummelsmühle". Vgl. Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, S. 657 ff. 3JI Vgl. das in dieser Sache am 20.8. 1948 ergangene Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth, in: Justiz und NS-Verbrechen, III, S. 173 ff. 332 Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 652. Zur Ermordung des Bürgermeisters von Burgthann bei Nürnberg durch den Kommandeur eines SS-Bataillons am 16.4. 1945 vgl. ebenda, S. 655f. 3H Die Ermordung des Regensburger Dompredigers Johann Maier, des Bezirksoberinspektors Michael Lott­ ner und des Lagerhausarbeiters Josef Zirkel ist unter anderem beschrieben bei Dieter Albrecht, Regens­ burg in der NS-Zeit, in: ders. (Hrsg.), Zwei Jahrtausende Regensburg. Vortragsreihe der Universität Re­ gensburg zum Stadtjubiläum 1979, Regensburg 1979, S. 179 ff. Zur militärischen Entwicklung, die zur Räumung Regensburgs von deutschen Truppen in der Nacht vom 26. zum 27. April führte und in keinem Zusammenhang mit der dortigen berühmten "Friedensdemonstration" stand, vgl. Robert Bürger, Regens­ burg in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Ober­ pfalz und Regensburg 123 (1983), S. 379ff. Siehe auch Josef Weishaupt, Die geplante Schlacht um Regens­ burg, April 1945, in: Regensburger Almanach 1990, S. 92 ff. 3J4 Zit. nach Heike Bretschneider, Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933-1945, München 1968, S. 232. Zur FAB vgl. neben dieser Studie die Darstellung bei Troll, Aktionen zur Kriegsbe­ endigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 660ff. BTÜckner, Kriegs­ ende in Bayern, S. 187ff. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 855

Burghausen, Landshut und Miesbach noch über 40 Bürger zum Opfer.J35 Der Rache­ feldzug, der dieser binnen weniger Stunden zerschlagenen Aktion folgte, führte die bis zum letzten Tag des Krieges unverminderte terroristische Schlagkraft Hitler-treuer Funktionäre und Fanatiker auf drastische Weise vor Augen. Bei der bis zum Schluß gegebenen "Unberechenbarkeit des Risikos"H6 war der Versuch einer zentral gelenk­ ten Erhebung gegen das Regime im Endstadium des Krieges gerade das ungeeignetste Mittel zu einer Abkürzung des Kampfes und zur Vermeidung weiterer unnötiger Opfer: Nur der zum Handeln entschlossene einzelne oder eine örtliche Bürgerinitia• tive zur Nichtverteidigung war in der Lage, nach genauer Beobachtung der lokalen Machtverhältnisse wie der voraussichtlichen Bewegung der deutschen und amerikani­ schen Einheiten in der unmittelbaren Umgebung sowohl das Für und Wider wie den richtigen Zeitpunkt einer solchen gefahrvollen Aktion halbwegs verläßlich zu taxie­ ren. So mutig die Protagonisten der "Freiheitsaktion Bayern" bei ihren Aktionen in der Landeshauptstadt - ein Erfolg hier wäre die Voraussetzung für ein Gelingen der Erhe­ bung gewesen - und in anderen Orten zu Werke gingen, schwerwiegende Fehlkalku­ lationen und Unzulänglichkeiten ihrer führenden Köpfe verurteilten das oft beschrie­ bene Unternehmen von Anfang an zum Scheitern. Schon die geglückte Kontaktauf­ nahme zur 86th Infantry Division nördlich der Altmühl bei Pappenheim beispiels­ weise war nicht geeignet, den Amerikanern ein Zusammenspiel mit der "Freiheitsak­ tion" schmackhaft zu machen. Der Emissär der FAB, der die Pläne der Gruppe dar­ legte, bot auf der einen Seite die kampflose Übergabe des Verteidigungsbereichs nord­ östlich von München an, sprach zugleich aber die Warnung aus, mit modernsten Waffen ausgerüstete "SS-Elitetruppen" rund um die Hauptstadt "könnten das Überga• bevorhaben gefährden"337. Charakteristisch für die führenden Köpfe der Verschwö• rung war ferner eine gefährliche "Unkenntnis über die Kriegslage im großen" und eine "Unterschätzung der Machtverhältnisse in München"338. Die Chance, mit ihren Aufrufen die Kampfgruppen des LXXXII. Armeekorps und des XIII. SS-Armeekorps des Max Simon zur Niederlegung der Waffen zu bewegen, war von vornherein mini­ mal. Die Hoffnung auf den in Bayern, General Ritter von Epp, zu setzen, den die FAB in ihre Gewalt gebracht hatte, war aus einer ganzen Reihe von Gründen leichtfertig, nicht zuletzt deshalb, weil allein Generalfeldmarschall Kessel­ ring und nicht Epp die Befehlsbefugnis gehabt hätte, von den Soldaten in Bayern die Streckung der Waffen zu verlangen. Dieser hatte aber bereits eine Woche vor dem Putschversuch gegenüber Epp keinen Zweifel daran gelassen, daß auch in Bayern wei­ tergekämpft werden müsse. Major Günther Caracciola, Epps Adjutant und ein Mitver­ schwörer der FAB, war das gewiß nicht verborgen geblieben, und er hatte Gerngroß

'" Diese Zahl nennt Zorn, Bayerns Geschichte, S. 526. 336 So Martin Broszat in seinem Vorwort zu: ders., Hartrnut Mehringer (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. V: Die Parteien KPD, SPD, BVP in Verfolgung und Widerstand, München, Wien 1983, S. XV. 337 "Proposal of Surrender by Gerrnan Unit", Bericht des MII Team 536 G der 86th Infantry Division an den S-2 des 342nd lnfantry Regiment v. 24.4. 1945 über die Mission des von Major Braun entsandten Ober­ leutnants Mahlke (der Kontakt fand in Neudorf nördlich Pappenheims statt); NA, RG 407, Box 3297. 33. Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 191. In dieser Arbeit, der ich hier vor allem folge, sind die Unzuläng• lichkeiten des Aufstandsversuchs am klarsten herausgearbeitet. Sie tritt auch einer gewissen Selbststilisie­ rung der Führer der Aktion nach dem Krieg entgegen und rückt manche Behauptung hinsichtlich des Ef­ fekts des Aufstandsversuchs für die militärische Entwicklung in Bayern bis zur Kapitulation und für die glimpflich ablaufende Besetzung Münchens zurecht. Zum folgenden Zitat vgl. ebenda, S. 203, Anm. 72. 856 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland deshalb wohl auch wiederholt "vor verfrühtem Losschlagen ohne höhere Führung dringendst gewarnt". Doch selbst wenn der OB West tatsächlich einen Aufruf im Sinne des Hauptmann Gerngroß von der Dolmetscherkompanie beim Wehrkreis­ kommando VII an seine Soldaten gerichtet hätte - freilich ein abwegiger Gedanke -, so hätten ihm die Angehörigen des XIII. SS-Armeekorps ziemlich sicher nicht Folge geleistet und ihre Waffen vermutlich sogar gegen jene Landser gerichtet, die sich zu einer Kapitulation im Gefolge des Putsches bereit gefunden hätten. Die Durchführung der Aktion, zu der die Verschwörer ganze drei Panzer und ins­ gesamt kaum mehr als 200 Soldaten aufbieten konnten, war genauso unzulänglich wie ihre Planung. Zwar bekam die FAB für kurze Zeit den Sender Freimann im Norden Münchens in die Hand, doch für eine Erstürmung des Befehlsstandes des Reichsver­ teidigungskommissars und Gauleiters Paul Giesler in der Innenstadt - für das Gelin­ gen der Aktion von entscheidender Bedeutung - waren ihre Kräfte viel zu schwach. Ein zweiter kleiner Trupp konnte zwar die Telefonvermittlung des Wehrkreiskom­ mandos in der Nähe von Starnberg vorübergehend außer Betrieb setzen, doch das war nicht nur deswegen bedeutungslos, weil es genügend andere Nachrichtenverbindun­ gen gab, sondern vor allem deshalb, weil der mobile Korpsstab gar nicht von dort aus agierte. Ein dritter Trupp sollte den südlich Münchens in Quartier gegangenen, am 28. April bis auf Generalfeldmarschall Kesselring dort auch vollständig versammelten Stab des Oberbefehlshabers West ausheben, doch er mußte unverrichteter Dinge wie­ der abziehen, weil er das Hauptquartier gar nicht erst fand. Der Stabschef, General Siegfried Westphal, der von der FAB-Aktion erst durch einen Anruf Jodls erfuhr, nennt das Unternehmen, das schon wenige Stunden nach dem Auftakt scheiterte, in seinen Memoiren "eine Arabeske im Irrsinn dieser Zeit"339. Mit der "Freiheitsaktion Bayern" war in größerem Maßstabe fehlgeschlagen, waS in manchem Ort oftmals nur wegen eines unglücklichen Zufalls oder einer unvorhergesehenen Lageveränderung gescheitert war. Diese Entlastung konnte die FAB nach ihrem Abenteuer nicht für sich reklamieren. Im Gegensatz zu den später "frei erfundenen"34o Behauptungen ihrer Akteure hat das Unternehmen auch nichts zur Schwächung der deutschen Verteidigung in und um München beigetragen, sondern im Effekt den Einmarsch der Amerikaner sogar verzögert, da als Folge des Putschversuches noch am 28. April die letzte in Süd• deutschland verfügbare Heeresreserve an die Isar verlegt wurde. Außerdem wurde der zufällig in München weilende berüchtigte Generalleutnant Rudolf Hübner nach Auf­ lösung seines "Standgerichts West" auf Befehl Kesselrings zum Kampfkommandan­ ten der bayerischen Landeshauptstadt bestellt. Die Einnahme der Stadt ging am 30. April 1945 dann aber trotz der vom Aufstandsversuch der FAB ausgelösten Turbulen­ zen relativ glimpflich vonstatten. Ein Satyrspiel zur Tragödie der blutigen Racheorgie, die nun begann, sei nicht unerwähnt gelassen: Es gingen nach dem Fall Münchens nämlich zwei der übelsten NS-Terroristen aufeinander los, denn als General Hüb• ner341 sich sang- und klanglos aus der Landeshauptstadt abgesetzt hatte, war es nie-

339 Westphal, Erinnerungen, S. 338. 340 BTÜckner, Kriegsende in Bayern, S. 191. 341 Der Generalstabschef des OB West, Siegfried Westphal, erklärte nach dem Krieg, daß jeder Offizier im Westen Hübner abgelehnt habe und "kein anständiger Offizier" sich zu dessen Amt hergegeben hätte. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 857 mand anderer als der SS-General Max Simon, der gegen diesen ein Standgerichtsver­ fahren wegen Fahnenflucht beantragte342 - erfolglos. Die "Freiheitsaktion", deren konservativ-bayerisches Programm343 am 28. April ebenfalls über den Äther gegangen war, hatte leichtfertig darauf spekuliert, ein Auf­ stand gegen das Regime werde in dem mittlerweile erreichten Stadium des offenen Zerfalls wohl schon irgendwie gelingen, wenn ihre Radioaufrufe nur entschlossen ge­ nug klängen. Die scheinbar mit geringem Risiko behaftete Erhebung werde den Ame­ rikanern die Existenz eines wenn nicht "anderen Deutschland", so doch eines "ande­ ren Bayern" vor Augen führen und deren Protagonisten eine so starke Legitimation verschaffen, daß selbst die Besatzungsmacht schwerlich umhinkönnen würde, der FAB und ihren Führern eine maßgebliche Rolle beim politischen Neuanfang zuzuge­ stehen. Auch diese von persönlichem Ehrgeiz der Beteiligten nicht freie Kalkulation ging nicht auf. Nicht nur die Amerikaner, auch deutsche NS-Gegner344 empfanden die Eigenmächtigkeiten und das großspurige Auftreten der FAB nach der Kapitula­ tion als anmaßend und störend. In einer internen Chronik des Counter Intelligence Corps figuriert die "Freiheitsaktion" als eine wenig eindrucksvolle Gruppe ("selbststili­ sierte, pro-alliierte Gruppe von Deutschen, die sich als die Führer eines Neuen Deutschland dünken"), die der Militärregierung durch die Anmaßung von Kompeten­ zen das Leben schwer machte. Das Urteil, das zwei Spezialagenten des CIC nach einem Gespräch mit Gerngroß Anfang Mai 1945 über den FAB-Chef abgaben, ent­ sprach dieser Einschätzung: "Ein Opportunist ohne grundlegende Glaubensprinzi­ pien, nur mit einem gewissen Genuß an der Macht und an dem Einfluß, den er plötz• lich auszuüben vermochte."345 Der monatliche Counter Intelligence-Bericht der Sixth Arrny Group reihte die FAB denn auch umstandslos unter jene Organisationsformen von NS-Gegnern ein, die jetzt vor allem ein Anliegen hätten: "Selbsterhöhung"346. Am 17. Mai 1945 verbot die Militärregierung die "Freiheitsaktion Bayern", eine Maß• nahme, die nach Auffassung des Political Advisor des Militärgouverneurs zwar zu Recht, aber doch in einer "etwas kruden Art und Weise" erfolgte. 347

Aussage Westphals am 11. 6. 1948 im Prozeß des Landgerichts München gegen Rudolf Hübner; IfZ-Ar­ chiv, Gm 07.94/4. 34' Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 347. 343 Zur Qualifizierung des FAB-Programms vgl. Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin 1982, S. 128f. 344 Vgl. z.B. die schriftliche Reaktion von Berthold Spangenberg v. 30.4.1946 auf einen Bericht der Süddeut• schen Zeitung v. 26.4. 1946 über die FAB-Aktivitäten nach der Besetzung Münchens sowie dessen kriti­ sche Bemerkung zur FAB in dessen Tagebuch; Material Spangenberg, IfZ-Archiv, Material Henke. Span­ genberg (1916-1986), 1945/46 einflußreicher Berater des ICD in Fragen der Verlagslizenzierung und später bekannter Münchener Verleger, war führendes Mitglied einer bemerkenswerten Bürgerinitiative, die die kampflose Übergabe Stambergs am 30.4. 1945 organisierte und aus der dann ein ,,Aktionsausschuß" und provisorischer Stadtrat hervorging. ", CIC-History, Kapitel XXVI, S. 64ft.: ,,A Typical Opportunist Group: The FAB", Zitate S.64 und S.67; U.S. Army Intelligence and Security Command, Fort George G. Meade, Maryland. Zur Qualifizierung der Persönlichkeit von Gerngroß vgl. auch Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 187. 346 Sixth Army Group, Monthly Intelligence Report Nr. 14. v. 30.5. 1945; NA, RG 407, Operations Reports, Box 1742. 34' Die "Notice" des Münchener Military Government Detachment v. 17. 5. 1945 findet sich als Anlage zu ei­ nem Schreiben der Dienststelle der Political Advisor an den Secretary of State v. 2.6. 1945; NA, RG 59, 740.00119 Control (Germany), 6-245. In den Akten von Besatzungstruppen und Militärregierung findet sich noch eine ganze Reihe von Analysen, die sich mit der FAB befassen: So etwa der 32seitige, von Gem­ groß und Leiling gezeichnete (undatierte) Bericht "Conclusive Report about the Activities of the F.A.B."; NA, RG 260, 10/130-3/1. Seventh Army, Psychological Warfare Branch, Special Report Nr. 31 v. 7.5. 858 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Die mitunter sehr harten Urteile der Besatzungsmacht über die FAB waren im Kern zwar nicht falsch, der aufrichtigen und schon lange vor Kriegsende bestehenden NS-Gegnerschaft ihrer führenden Persönlichkeiten wurden und wollten sie wohl auch nicht gerecht werden. Die abfälligen Qualifizierungen waren mindestens auch inso­ fern ungerecht, als die Aktion trotz ihres gefährlichen Dilettantismus den Beteiligten einigen Mut und persönlichen Einsatz abverlangt hatte. Daß ein Verdienst, das die "Freiheitsaktion" bald als ein wichtiges Resultat ihres Unternehmens besonders her­ ausstellen sollte, ebenfalls sehr viel weniger wert gewesen ist, als die Beteiligten vor und nach dem Aufstandsversuch annahmen, konnten die Protagonisten bei Planung und Durchführung der Aktion nicht ahnen, nämlich daß es dieses mit so fatalen Fol­ gen behafteten Unternehmens gar nicht bedurft hätte, um, wie Gerngroß es nach dem Krieg ausdrückte, "dem anderen Deutschland und der Welt" zu beweisen, daß es "va­ terlandsliebende Männer gab, die es wagten, der Vernichtungspolitik entgegenzutre­ ten, um noch so viel von der Heimat zu retten, als zu retten war"348. Die Bürgerinitia• tive zur Bewahrung von Heimat und Besitz, der verdeckte Widerstand gegen die Vernichtungspolitik des Regimes, war seit den ersten Tagen der Besetzung eine heim­ liche, dezentrale Massenbewegung, die insgesamt große Erfolge verbuchen konnte - das brauchte der Besatzungsmacht und der Welt nicht erst durch ein zweifelhaftes Fa­ nal nahegebracht zu werden. Das Erfolgsrezept dieser Aktivitäten war das vorsichtige, Mut, Fingerspitzengefühl und genaue Risikoabwägung erfordernde verdeckte Taktie­ ren. Gerade darin lag der Grund, daß der blutigen Terrorwelle des Regimes gegen die eigene Bevölkerung in der Endphase des Krieges nicht eine noch viel größere Anzahl von Männern und Frauen zum Opfer fiel. In diesem Lichte betrachtet, waren die Opfer, die auch die FAB mitprovozierte, in tragischer Weise unnötig. Da es im Rundfunk geheißen hatte, in der Landeshauptstadt sei "die Regierungsgewalt erstritten", verließen viele im guten Glauben ihre Deckung und lösten oft nur um Stunden verfrüht die Nichtverteidigungs- und Übergabemaß• nahmen aus, die sie bei Annäherung der Amerikaner fast überall in ähnlicher Weise ohnehin getroffen hätten. Nur weil der Arm der Häscher längst nicht mehr in alle bayerischen Dörfer und Städte reichte, in denen die Menschen dem FAB-Aufruf ge­ folgt waren349, hatten diese unzeitigen Initiativen vielfach glücklicherweise keine töd• lichen Konsequenzen mehr. Dennoch wurden selbst jetzt noch einmal mehr als drei Dutzend Menschen von dem nationalsozialistischen Endphaseterror verschlungen. In München wurden in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Putsch auf Befehl des Gauleiters mindestens fünf Menschen verhaftet und erschossen.35o In einem südli• chen Villenvorort erschoß ein Volkssturmkommando einen Arzt, der die dortigen Parteifunktionäre dingfest gemacht und sich darum bemüht hatte, die Sprengung der

1945 "Impressions of the Situation in Munieh"; NA, RG 260, 10/111-2/33. SHAEF, PWD, Weekly Intel­ ligence Summary for Psychological Warfare v. 16.5. 1945: "The ,Putsch' in Munieh"; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Decimal File 1944-45, Entry 87. Twelfth Army Group, Publicity and Psychological War­ fare, Studie "Bavarian Seperatists" v. 11. 5. 1945; PRO, WO 219/4731, XP/83. 348 Undatiertes Interview mit Rupprecht Gerngroß; zit. nach Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 190. 349 Ein umfassender Bestand von zumeist 1946 entstandenen Einzelberichten über die verschiedenen Aktivi­ täten in Bayern vor und nach dem FAB-Aufruf v. 28. 4. 1945 findet sich unter der Bezeichnung ,,Archiv der bayerischen Widerstandsbewegung" im HZ-Archiv, ZS/A4. 350 Im einzelnen hierzu die Gerichtsverfahren vor dem Landgericht München I gegen Rudolf Hübner u. a. v. 25. 11. 1948 (Az: 1 KLs 143/48, 1 KLs 152/48) und Alfred Salisco u.a. v. 24. 11. 1947 (Az: 1 als 1644- 46/47); HZ-Archiv, Gm 07.27 und Gm 07.28. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 859

Isarbrücke zu verhindern.35I In einem östlichen Stadtteil mußte der 76jährige Vater die Tat seines Sohnes mit dem Leben bezahlen. Der arglose alte Mann wurde auf den bloßen Befehl des "Hoheitsträgers" hin im Kellergang der Kreisleitung erschossen, weil sein Sohn, der an dem Versuch beteiligt gewesen war, einige NSDAP-Funktio­ näre zu entwaffnen, nicht gefunden werden konnte.352 In Dachau schlug aus dem Konzentrationslager herbeigerufene SS den Aufstand vom 28. April nieder, bei dem sich entflohene Häftlinge und Arbeiter zusammengetan und das Rathaus vorüberge• hend besetzt gehalten hatten; dabei starben drei Häftlinge und vier Arbeiter. "Kurzer Prozeß" wurde auch in dem kleinen Götting im oberbayerischen Landkreis Bad Aib­ Iing gemacht, wo sogleich nach dem mit Erleichterung vernommenen Aufruf der "Freiheitsaktion" demonstrativ die weiß-blaue Fahne auf dem Kirchturm gehißt wor­ den war. Den Pfarrer tötete die SS nach schwerer Mißhandlung, den Lehrer durch ei­ nen Kopfschuß. Ebenfalls ohne besondere Sorgfalt auf ein Verfahren zu verschwen­ den, erhängten SS-Leute auf dem Viehmarktplatz im niederbayerischen Landshut, wo die FAB auch die "trügerische Hoffnung" genährt hatte, "alles Schreckliche wäre nun vorbei"35J, einen Regierungsrat, der mit einem kleinen Kreis Gleichgesinnter seit län• gerem an den Vorbereitungen zur kampflosen Übergabe der Stadt gearbeitet und nach dem Rundfunkaufruf von Gerngroß weiß-blaue Fahnen hatte setzen lassen. Die blutigste Ernte hielt das Regime nach der unglücklichen FAB-Aktion in dem Bergbaustädtchen Penzberg im Landkreis Weilheim und in dem Wallfahrtsort Altöt• ting, beides Gemeinden, in deren von der Arbeiterbewegung bzw. katholischer Reli­ giosität bestimmten Milieus der Nationalsozialismus nie heimisch geworden war. Dort verschafften sich einige Schergen in dem klaren Bewußtsein des bevorstehenden En­ des in einer monströsen Rache- und Abrechnungsaktion die Genugtuung, politische Gegner, Mißliebige und gänzlich Unbeteiligte mit in den eigenen Untergang zu rei­ ßen. Diese Rasereien führen besonders klar vor Augen, daß das Morden bei Kriegs­ ende nicht einmal mehr aus der Perspektive der Täter irgend etwas mit dem vorgebli­ chen "Strafzweck" einer Festigung der Haltung der Bevölkerung oder der Aufrechter­ haltung der offenkundig zerfallenen staatlichen Ordnung zu tun hatte. In der "Penz­ berger Mordnacht"3j4 vom 28./29. April 1945 erschossen und erhängten die Mörder nicht weniger als 16 Männer und Frauen. Vor allem die bekannten sozialdemokrati­ schen und kommunistischen NS-Gegner waren es hier, die die Verlautbarungen der "Freiheitsaktion" zum Anlaß nahmen loszuschlagen. Sie legten den Zechenbetrieb still, schickten den NS-Bürgermeister nach Hause und unterstellten sich die Verwal­ tung. Es dauerte nicht lange, bis ein Oberstleutnant einer Wehrmachtseinheit eingriff, die Aufständischen verhaftete und nach Rücksprache mit Gauleiter Giesler in Mün• chen erschießen ließ - insgesamt acht Männer, darunter den früheren SPD-Bürger-

351 Zu den Mordaktionen nach dem FAB-Aufruf vgl. Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröh• lich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 667 H. Das folgende basiert weitgehend auf dieser Studie. 352 Vgl. das Urteil des Landgerichts München I gegen Albin Übel acker u.a. v. 2. 7. 1948 (Az: 1 KLs 98-100/ 47); HZ-Archiv, Gm 07.26 '53 "Landshuts schwerste Tage", Artikel in der Isar Post, 30.4. 1946. 354 Georg Lorenz, Die Penzberger Mordnacht vom 28. April 1945 vor dem Richter, Garmisch-Partenkirchen 1948. Vgl. auch Klaus Tenfelde, Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Ober­ bayern 1900-1945, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 369fl.; dort auch weitere Literaturangaben. Der Fall ist dokumentiert in dem Urteil des Landgerichts München II v. 7. 8. 1948, in:Justiz und NS-Verbrechen, III, S. 65ff. 860 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland meister. Den zweiten Teil des Massakers vollzog der Hitler-Literat Hans Zöberlein, Parteigenosse der ersten Stunde, der sich dann aber mit dem Establishment der Partei überworfen hatte und bei Kriegsende den einige hundert Pgs umfassenden "Freikorps Adolf Hitler" genannten ""-Haufen anführte. Er hatte von Gauleiter Giesler den Auftrag erhalten, in der Stadt blutige Rache zu nehmen. Im Zusammenspiel mit einem Wehrmachtoffizier, dem am Morgen aus dem Rathaus gewiesenen Bürgermei• ster und anderen ließ Zöberlein ("Die Wehrmacht erschießt, der Werwolf hängt") nun nach rasch zusammengestellten Listen "politisch Unzuverlässiger" - persönliche Ani­ mositäten und offene Rechnungen aus der Vergangenheit genügten, um auf die Pro­ skriptionsliste zu geraten - die "Mord- und Vernichtungsaktion"355 anrollen. Zwei Ehepaare und vier Männer wurden an verschiedenen Stellen der Stadt aufgehängt, um den Hals ein Schild mit einer Warnung des "Oberbayerischen Werwolf" an "alle Ver­ räter und Liebediener des Feindes"356. Einige konnten fliehen, einer kam mit dem Le­ ben davon, weil der Strick riß und mehrere auf ihn abgefeuerte Schüsse ihn lediglich in die Hände trafen. Schon am nächsten Tag, zu spät, kamen die Amerikaner. In Altötting machte sich der als Tyrann bekannte Kreisleiter Schwägerl aus Mühl• dorf, der den Marienwallfahrtsort der "Schwarzen" seit jeher gehaßt und schikaniert hatte, ein persönliches Vergnügen daraus, gegen eine Reihe angesehener Bürger dort einzuschreiten, die nach dem Signal der FAB aktiv geworden waren und mit Hilfe der Feuerwehr einige prominente NS-Funktionäre festgesetzt hatten. Schon bald nach dem Mittag des 28. April traf der Kreisleiter, "ungemein erregt", die Maschinenpistole umgehängt, mit einem SS-Kommando in der Stadt ein und setzte fort, was ein Wehr­ machtsoffizier dort auf eigene Faust schon begonnen hatte. Auch hier existierte mitt­ lerweile eine kurzerhand kompilierte Proskriptionsliste, auf die mindestens ein Name, der des 70jährigen Administrators der Heiligen Kapelle, rein zufällig geraten war. Das konnte den Kreisleiter freilich nicht daran hindern, die willkommene Gelegenheit zu nutzen, mit dem alten Widersacher des Nationalsozialismus blutig abzurechnen; fünf Männer fielen hier den Kugeln der SS zum Opfer.357 Auch in das benachbarte Burg­ hausen schickte Kreisleiter Schwägerl (er beging nach der Kapitulation Selbstmord) ein SS-Kommando. Dort waren nach dem FAB-Aufruf in der Belegschaft der Wak­ kerwerke ebenfalls alte NS-Gegner - sie fürchteten eine Sprengung der Werksanlagen - mit der Unterstützung mehrerer Dutzend, schon seit längerem in ihrer Zielsetzung einigen Arbeiter zur Tat geschritten, hatten Waffenlager erbrochen und Parteifunktio­ näre festgesetzt. Als gegen Mittag das Scheitern der Münchener Aktion bekannt wurde (mehrere Beteiligte hatten den Zeitpunkt des Losschlagens von Anfang an für verfrüht gehalten), bliesen die Arbeiter in stillem Einvernehmen mit der Werkslei­ tung, dem Stadtkommandanten von Burghausen und dem Leiter der Schutzpolizei das gefährliche Unternehmen wieder ab. Das bewahrte einen Meister, einen Vorarbei­ ter und den Buchhalter des Werkes aber nicht vor Verfolgung und Rache; das SS­ Kommando unter der Führung eines 22jährigen war bereits unterwegs. Die drei Män• ner wurden zum Tod "verurteilt" und vier Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner

'" Tenfelde, Proletarische Provinz, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 380. 356 Lorenz, Penzberger Mordnacht, S. 11. .157 Vgl. hierzu auch den Artikel von Herbert Riehl-Heyse, Mord in unserer kleinen Stadt. Widerstand in den letzten Kriegstagen - das Beispiel Altötting, in: SZ, 27./28. 4.1985. Der Fall ist dokumentiert in den Urtei­ len des Landgerichts Traunstein v. 17. 12. 1948 und des Oberlandesgerichts München v. 20. 7.1949, in:Ju­ stiz und NS-Verbrechen, 111, S. 679ff. 2. Kriegsmüdigkeit und "Defätismus" 861 neben dem Direktionsgebäude durch Genickschuß getötet. "Was, nur drei?" brüllte der Kreisleiter, als er die Vollzugsmeldung erhielt.358 Dem in der Salzach-Stadt auch am nächsten Tage noch in fahriger Geschäftigkeit wütenden Standgericht wären wohl noch weitere Bürger zum Opfer gefallen, aber "das Näherkommen der amerikanischen Truppen ließ es den Gerichtsmitgliedern ratsam erscheinen" - so eine Dokumentation der Vorgänge359 -, "an die eigene Sicherheit zu denken und sich von hier abzusetzen". Auch in anderen Fällen ist die Errettung man­ ches Delinquenten vor dem sicheren Tod durch die rechtzeitige Ankunft der U.S. Arrny bezeugt. In einem Dorf im Landkreis Crailsheim kam aus einem Haus, an dem ein weißes Laken hing, ein 14jähriger Junge seinem Vater entgegengerannt: "Vater, du darfst nicht mehr heim, ein Feldwebel will dich erschießen!" rief er ihm zu. Kurzent­ schlossen wechselten die beiden über die Linien zu den amerikanischen Truppen, wo sie freundlich aufgenommen wurden. Zwei Tage später kehrten Vater und Sohn wohl­ behalten in ihre inzwischen ebenfalls besetzte Ortschaft zurück.360 In Kleingartach im Landkreis Heilbronn hatten sich einige Honoratioren geweigert, dem Befehl eines be­ nachbarten Divisionsstabes zu folgen, ihre Häuser zu unterminieren, um sie beim Herannahen des Feindes in die Luft zu sprengen. Daraufhin wurden der Ortsbürger• meister, drei Gemeinderäte und der Lehrer von Feldgendarmerie verhaftet. Nach kur­ zem Verhör erteilte deren Führer den auf Erhängen lautenden Befehl. Die vier kamen mit dem Leben davon, weil wenige Minuten später ein Radfahrer das Anrollen feindli­ cher Panzer meldete. Das gleiche widerfuhr vier Männem aus Jettingen im schwäbi• schen Kreis GÜnzburg. Dort waren der Pfarrer, der Bürgermeister, der Gendarmerie­ meister und der Ortsgruppenleiter wegen Hissens der weißen Fahne festgenommen und in das benachbarte Scheppach gebracht worden, wo ein Standgericht unter Vor­ sitz eines SS-Generals ihren Fall verhandelte: "Nach Aussage eines Oberleutnants", berichtete der Pfarrer später an seine vorgesetzte Kirchenbehörde, "hatten wir die To­ desstrafe durch Erhängen zu erwarten. Inzwischen fuhren ein paar amerikanische Pan­ zer an den Ortsrand von Scheppach heran. Die S.S.-Feldgendarmerie ergriff sofort die Flucht. Wir waren gerettet."361 Gewiß, die Entmachtung der Schergen wurde nur sel­ ten in solch augenfälliger und geradezu symbolhafter Weise deutlich, mehr oder weni­ ger dankbar registriert wurde die Erlösung von den Schrecken des Krieges auf heimi­ schem Boden und dem Terror der eigenen Führung durch die Ankunft der Amerika­ ner freilich überall. Auch wenn solche Empfindungen von dem Bewußtsein der tota­ len Niederlage Deutschlands und der Vergeblichkeit aller in den zurückliegenden Jahren gebrachter Opfer kräftig überlagert wurden, niemand konnte übersehen, daß es unzweifelhaft der Feind gewesen war, der der ,,Ära des Aufhängens und Totschie­ ßens"362 ein Ende gemacht hatte.

J58 Vgl. neben der Darstellung bei Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 675, die 1967 von Georg Schuhbeck verfaßte 88seitige, als Manu­ skript gedruckte "Dokumentation der Vorgänge in Burghausen zum Kriegsende 1945". Siehe auch das Ur­ teil des Landgerichts Traunstein v. 29.6. 1956 und des Bundesgerichtshofes v. 26.4. 1957, in: Justiz und NS-Verbrechen, XIII, S. 771 H. J59 Schuhbeck, Dokumentation, S. 67. J6D Dieses Beispiel überliefert Blumenstock, Einmarsch, S. 33 f. Die folgende Episode ebenda, S. 33. J6' Undatierter Bericht des Pfarrers Leonhard von Moll über die Vorgänge in Jettingen und Scheppach am 24.4. 1945; Archiv des Bistums Augsburg, BO 5790. Vgl. auch Troll, Aktionen zur Kriegsbeendigung, in: Broszat, Fröhlich, Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, IV, S. 679 f. J61 SO der Bericht "Die letzten Kriegstage von Aalen" v. 9.10. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 1. 862 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau

Die Endphase des Lagers Die ,,Ära des Aufhängens und Totschießens", des Quälens, Ausmerzens und Vernich­ tens beendeten die Alliierten freilich vor allem für jene Verfolgten des Regimes, die bis zum Frühjahr 1945 überlebt hatten. Im April konnten sie die Arkana des KZ-Staa­ tes endlich aufbrechen, betreten und der Weltöffentlichkeit sofort auch darüber be­ richten, was sie dort vorgefunden hatten. Das Entsetzen über das, was zuerst die Sol­ daten, dann die Publizisten, Politiker und Parlamentarier der Alliierten und Neutralen im Herzen des einstigen Kulturlandes "entdeckten" (wie sie es meist selbst nannten), rührte nicht davon her, daß diese schockierten Zeugen des Grauens in Deutschland etwa bislang Ungeahntes enthüllt hätten, sondern weil sie an sich Erwartetes und vage Bekanntes jetzt mit eigenen Augen sahen. Daß das "Dritte Reich" trotz nationaler Aufbruchsstimmung und Führerbegeiste• rung ein rassistischer und terroristischer Polizeistaat war, ist in den westlichen Demo­ kratien schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Allgemeingut gewesen. Das erste deutsche Konzentrationslager wurde nicht nur rasch zu einer no­ 363 torischen Institution , "Dachau" avancierte schon in den dreißiger Jahren zum Sym­ bolnamen politischer und rassischer Verfolgung schlechthin. So sprach die Weltpresse von einem "anderen", einem "weiteren" oder etwa von einem "französischen" Dachau, wenn irgendwo im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich ein Lager für politische Häftlinge errichtet wurde.364 Die Befreiung des Konzentrationslagers bei München durch Soldaten der amerikanischen 7. Armee am 29. April 1945 symbolisierte deshalb das Ende "Dachaus" als eines Systems der Unterdrückung in Deutschland und Eu­ ropa in ähnlicher Weise, wie der Selbstmord Hitlers am darauffolgenden Tage das de­ finitive Ende des Dritten Reiches signalisierte. Ungefähr eine Woche vor der Befreiung Dachaus hatte in Bayern der Widerstand der Wehrmacht praktisch aufgehört und der militärische "Kehraus" (wie General Pat­ ton gerne sagte) in Süddeutschland begonnen.365 Das rasche Vorgehen der Amerika­ ner und die desolate Verfassung der zurückflutenden Einheiten der deutschen 1. Ar­ mee machten den Aufbau irgendwelcher "Verteidigungslinien", die diesen Namen verdienten, im Norden der bayerischen Landeshauptstadt illusorisch. Im Raum der etwa 15 Kilometer nordwestlich von München gelegenen Kreisstadt Dachau befan­ den sich am 28. April 1945 nur noch Reste zerschlagener Gebirgsjäger- und Waffen­ SS-Einheiten sowie die Relikte der völlig aufgeriebenen 212. Volksgrenadierdivision unter Generalmajor Max Ulich.366 Dieser bemerkenswerte Heerführer zog seine Sol­ daten in der Nacht zum 29. April aber in den Süden Münchens zurück, so daß bei Da­ chau eine "Lücke" und infolgedessen eine - in diesem Stadium der Kämpfe freilich belanglose - "kritische Lage" entstand.

'6' Vgl. Hermann Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit. Reaktionen auf die Befreiung des La­ gers, in: Dachauer Hefte 1 (1985). S. 12. '64 Ein Bericht des Daily Telegraph 1940 etwa bezeichnet ein Konzentrationslager in den Pyrenäen als ein "zweites Dachau". das Deutsche Volksblatt in Porto Alegre, Brasilien, brachte am 27.6.1941 die Reportage "Das französische Dachau. Ein Bericht über das ,Suspekten'-Lager Le Vernet". '6' Vgl. VII/I und insbesondere VII/4. '66 Zur Lage im Norden Münchens am 28./29. April 1945 im einzelnen Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 186fl. und S. 196fl. Die beiden folgenden Zitate ebenda, S. 202 und S. 201. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 863

Max Ulich, bei Kriegsende 49 Jahre alt, war aktiver Offizier der , dann Bataillons- bzw. Regimentskommandeur in Rußland und Italien, 1944 in München Chef des Stabes im Wehrkreis VII gewesen. Seinen Kameraden und wohl auch dem 367 Verschwörerkreis des 20. Juli als Gegner des Nationalsozialismus bekannt , nach dem gescheiterten Putsch auch vorübergehend festgenommen, hatte Ulich seit seiner Ernennung zum Divisionskommandeur am 1. April 1945 vor allem darauf gesehen, bei den Kämpfen in Süddeutschland sinnlose Opfer und Zerstörungen zu vermeiden. Als Mann von Mut und Augenmaß ließ er sich darin weder von der Flut scharfmache­ fischer Befehle der letzten Stunde368 noch von den wiederholten scharfen Rügen sei­ ner Vorgesetzten beirren. Diese GrundeinsteIlung veranlaßte ihn auch dazu, seine Di­ vision aus dem Raum Dachau abzuziehen. Dieser Entschluß war freilich eine lebensgefährliche Eigenmächtigkeit, denn damit verstieß er gegen einen Befehl des Kommandierenden Generals des XIII. SS-Armee­ korps, SS-Gruppenführer Max Simon, dem er unterstellt war. Von diesem nationalso­ zialistischen Durchhaltegeneral, der schon eine breite Blutspur quer durch Süd• 369 deutschland gezogen hatte , war Ulich am Abend des 28. April nämlich unmißver• ständlich angewiesen worden, nördlich Dachaus Verteidigungsstellung zu beziehen, sich die dort liegende Waffen-SS zu unterstellen und das Konzentrationslager gegen die andrängenden Amerikaner zu verteidigen. Dazu gab sich General Ulich in Über• einstimmung mit seinem Stab (der den Kampf um das KZ ebenfalls lieber den "SS­ 370 OHz. aus dem Lager" überlassen wollte ) aber nicht her: "Ich war der Überzeugung", so Ulich nach dem Krieg, "daß ein Wehrmachtsteil sich keineswegs mit der Verteidi­ gung von ,Dachau' befassen dürfe."37I Außerdem habe er es für seine Pflicht gehalten, das Leben seiner meist 16-, 17jährigen Soldaten zu schonen. Diese "Befehlsverweige­ rung" führte für ihn sofort zu bedrohlichsten Konsequenzen. Sowohl von Simon wie offenbar auch vom Oberbefehlshaber der 1. Armee wurde Ulich nicht nur schwer ge­ rüffelt, General Foertsch leitete auch ein Kriegsgerichtsverfahren gegen ihn ein. Nur wegen der Auflösung jeglicher militärischen Ordnung in den Tagen der Kapitulation und vor allem dank seiner rechtzeitig arrangierten Einweisung in ein Lazarett kam es zu keiner Verhandlung mehr.372

367 Vgl. die Eidesstattliche Erklärung Achim Osters V. 12.1. 1947, die sich neben anderen Dokumenten und Zeugnissen, in denen Verhalten und Einstellung Ulichs gut dokumentiert sind, im Besitz der Familie Ulich befindet. Für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in diese Papiere am 30. 7. bzw. 26. 6. 1991 danke ich Frau Marie-Luise Barkhausen und Herrn Dieter Ulich. 368 Vgl. VIII!. 369 Vgl. ebenda. 370 Siehe den Bericht eines engen militärischen Mitarbeiters von Ulich, in: Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 333 ff.; Zitat ebenda, S. 334. m Eidesstattliche Erklärung General Ulichs vom 27. September 1950; IfZ-Archiv, ED 91, NL General Leo Freiherr Geyr von Schweppenburg, Bd. 15. Über das Verhalten Ulichs, insbesondere aber die seinerzeitige scharfe Reaktion Si mons wie des Oberbefehlshabers der deutschen 1. Armee, General der Infanterie Her­ mann Foertsch, entspann sich Anfang der fünfziger Jahre eine in unversöhnlichem Ton geführte (im NL Geyr zum Teil dokumentierte) Kontroverse zwischen einigen beteiligten und auch unbeteiligten hohen Wehrmachtgenerälen. Dabei nahm Geyr von Schweppenburg energisch für Ulich Partei. Der Vorfall ist auch erwähnt bei Meyer, Militärische Führungsschicht, in: Foerster u.a. (Hrsg.), Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, S. 5941. 372 "Ohne die geschickte Intervention seines Stabes wäre er [Ulich] wohl erschossen worden." So Geyr von Schweppenburg hierzu in einem Schreiben an General a. D. SmiIo Freiherr von Lüttwitz v. 21. 12. 1950; IfZ-Archiv, ED 91, Bd. 15. 864 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Hätte der Kommandeur der 212. Volksgrenadierdivision dem Befehl von Simon Folge geleistet und tatsächlich Anstalten zur Verteidigung des Abschnittes nördlich Münchens gemacht, in dem das Konzentrationslager lag, dann wäre es wohl zu dem makabren und symbolträchtigen Schauspiel gekommen, in dem Wehrmachtseinhei­ ten den in der Welt damals am meisten bekannten Hort von Greuel und Terror des Nationalsozialismus sogar dann noch abzuschirmen versucht hätten, als das Regime schon in Scherben gefallen war. Eine vorübergehende Versteifung des deutschen Wi­ derstandes bei Dachau wäre militärisch unerheblich geblieben, hätte allenfalls die Be­ freiung des Lagers um Stunden verzögern, den Vormarsch der 7. US-Armee auf die "Hauptstadt der Bewegung" aber nicht ernstlich behindern können. Hauptträger des Angriffs gegen München im Sektor des XV. Corps waren neben der 20. Panzerdivision die von Würzburg bzw. Aschaffenburg und dann aus Richtung Nürnberg kommende 42. und 45. Infanteriedivision. Seit Tagen ohne nennenswerten Widerstand, näherte sich die 42nd Infantry Division (mit ihrem rechten Flügel an die Autobahn München-Stuttgart angelehnt) von Nordwesten her der bayerischen Lan­ deshauptstadt; am 25. April hatte sie ihren Gefechtsstand im ungefähr 90 Kilometer entfernten, bei Donauwörth gelegenen Buchdorf.3 73 Die Spitzen des linken Nachbarn der "Rainbow"-Division, der steiler von Norden her vorrückenden 45th Infantry Divi­ sion, standen an diesem Tag noch etwa 70 Kilometer von Dachau entfernt, an der Do­ nau zwischen Neuburg und der Mündung des Lech. Die auf München zulaufende tak­ tische Grenze zwischen den beiden amerikanischen Verbänden führte nicht nur durch die Stadt Dachau, sondern genau "mitten durch das berühmte Nazi Concentration Camp hindurch"374. Am 25. April, dem Tag, an dem sich die beiden Divisionen zum Übergang über die Donau37j bereit machten, kam es im Alliierten Oberkommando zu einem ungewöhn• lichen Schritt: Frank J. McSherry, der Stellvertretende Chef des Civil Affairs/Military Government-Stabes von SHAEF, schlug eine Luftlandeoperation der alliierten Streit­ kräfte zur Befreiung des Konzentrationslagers vor. 376 Die "Hilfe für politische Häft• linge im Konzentrationslager Dachau, Deutschland" überschriebene Stabsstudie von G-5 stellte zunächst fest, jüngste Aufklärungsergebnisse hätten gezeigt, das "berüch• tigte deutsche Konzentrationslager" sei nach wie vor in Funktion ("still in operation") und verwahre noch mindestens 30.000 Häftlinge; 1944 eingelaufene Schätzungen sprächen von Hunderttausenden von Internierten. Beigelegt war dem Vorschlag McSherrys ein Luftbild, das die enormen Ausmaße des Lagerareals zeigte. Die wenige Tage zuvor befreiten Konzentrationslager, vor allem Belsen und Weimar (Buchen­ wald), hätten die entsetzlichen Lebensbedingungen der Lagerinsassen an den Tag ge­ bracht, fuhr McSherry fort: "Es hat mehrere Fälle von Massakern gegeben, die deut­ sche Wachmannschaften in letzter Minute unter Häftlingen anrichteten. Diese Massa­ ker hatten das eindeutige Motiv, Häftlinge zum Schweigen zu bringen, die sonst gegen ihre Nazi-Folterknechte ausgesagt hätten."

J73 General Summary der Operation der 42nd Infantry Division für April 1945; NA, RG 407, Box 10666. J74 Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Infantry Division, S. 96. Vgl. auch die Karten in: Seventh Uni ted States Army, Report of Operations, III, bei S. 814 und S. 832. m Hierzu Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 137ft. 376 SHAEF, G-5, Stabsstudie ,,Aid to Political Prisoners in the Concentration Camp at Dachau, Germ.ny" v. 25.4. 1945; NA, RG 84, Polad 730/55. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 865

Humanitäre wie politische Gesichtspunkte ließen nach Meinung des ranghöchsten amerikanischen Vertreters im G-5 Stab von SHAEF ein Luftlandeunternehmen wünschbar erscheinen. Durch diese Aktion sollte das Lager umstellt, befreit und bis zur Ankunft der Bodentruppen gehalten werden. Damit würde man drohende Massa­ ker vereiteln und zugleich der verantwortlichen "Gestapo"-Einheiten habhaft werden können: "Von ihrem rein humanitären Wert abgesehen, bestünde der politische Ef­ fekt einer solchen Aktion in einem enormen Ansehensgewinn für SHAEF. Eine sol­ che Aktion wäre ein greifbarer Beweis unserer Absichten hinsichtlich des Nazi-Regi­ mes und der von ihm verkörperten Grausamkeit." Die praktische Durchführung ver­ lange insofern keine langwierigen Vorbereitungen, als das Oberkommando gut auf die Pläne der Luftlandeoperation ,Jubilant" zuriickgreifen könne, die für eine etwaige Be­ freiung von gefährdeten alliierten Kriegsgefangenen in deutschen Lagern ausgearbei­ tet und inzwischen genehmige77 worden seien. Die Initiative des G-5 Stabes fand bei den anderen Stabsabteilungen im Alliierten Oberkommando ein geteiltes Echo. G-l und G-2, die von der Durchführung eines Luftlandeunternehmens freilich am wenigsten tangiert worden wären, stimmten zu, die Stabsabteilungen für Operationsführung (G-3) und Nachschubwesen (G-4) lehnten den Vorschlag ab. General Crawford von G-4 nahm als erster Stellung und betonte, bis etwa Mitte Mai sei der gesamte Nachschub auf dem Luftwege auf die Unterstützung der Bodenoperationen abgestellt; jede Abzweigung davon müsse den Vormarsch der 3. und 7. Armee beeinträchtigen. Außerdem gebe es keine verläßliche Schätzung, wie viele Luftlandebataillone bei Dachau eingesetzt werden müßten, mindestens jedoch fünf, vielleicht sogar mehr. Schon der Einsatz von fünf Bataillonen mache aber die Abstellung von 360 Transportmaschinen vom Typ C-47 erforderlich, eine Kapazität, die zur Versorgung von zwei Corps ausreiche. Aus diesen Griinden lehnte G-4 den Plan ab, allerdings nicht ohne hinzuzufügen, daß humanitäre und politische Erwägun• gen solchen logistischen Bedenken natürlich vorgehen könnten.H8 Die Stellungnahme der Operations Division, des "Nervenzentrums" des Oberkom­ 379 mandos , erfolgte am 27. April, als die auf München vorgehenden amerikanischen Einheiten die Donau hinter sich gelassen hatten und bereits auf Höhe der Linie Augs­ burg-Ingolstadt standen.380 Auch deswegen fiel sie wohl deutlicher aus als die Ableh­ nung durch G-4. "Informelle Gespräche" mit Offizieren der Sixth Army Group, so das Memorandum, hätten ergeben, daß mit dem Eintreffen der eigenen Bodentruppen im Raum Dachau innerhalb der nächsten drei bis fünf Tage gerechnet werde; vorher sei eine Luftlandung ohnehin schwerlich durchführbar. Im übrigen schloß sich G-3 den logistischen Bedenken der Supply Division an, nannte aber zwei weitere gewichtige Griinde, die gegen den Plan General McSherrys sprachen. Eine Luftlandeoperation wäre nicht nur riskant und möglicherweise schon deshalb ein Schlag ins Wasser, weil die amerikanischen Fallschirmjäger leicht ein von den Deutschen rechtzeitig evaku­ iertes Areal vorfinden könnten, eine solche Aktion berge sogar immense Gefahren für die Häftlinge selbst: ,,Angesichts der Art und der Stärke des Wachpersonals dieses La-

377 Der FA.A.A. Airbome Outline Plan der Operation ,Jubilant" v. 5.4. 1945 war am 10.4. 1945 genehmigt worden; ebenda. 378 Non-concurrence des G-4 Stabes v. 26.4. 1945 zur Stabsstudie von G-5 v. 25.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711, 7.3. 379 Pogue, Supreme Command, S. 68. 380 Non-concurrence des G-3 Stabes v. 27.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711, 7.3. 866 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland gertyps", schrieb General Nevins, der Chef der Operations Section von G-3, "kann man annehmen, daß eine Luftlandeoperation eher einen Massenmord an den Gefan­ genen verursachen als zu ihrer Sicherheit beitragen würde." McSherry ließ sich durch die Gegenargumente aus beiden Stabsabteilungen nicht beeindrucken und legte sei­ nen Plan am gleichen Tag trotzdem Bedell Smith, Eisenhowers Stabschef, vor.J8l Tags darauf, am 28. April, als die deutsche 1. Armee einen weiteren "schwarzen Tag"J82 hatte und die Spitzen der 45th Infantry Division keine 10 Kilometer mehr von Dachau entfernt waren, verfaßte McSherry neuerlich ein Memorandum, mit dem er den Druck auf die Spitze des Oberkommandos noch verstärken wollte. Der franzö• sischen Presse sei zu entnehmen, so der Stellvertretende Stabschef von G-5 an Bedell Smith, daß Regierung und Öffentlichkeit in Frankreich in größter Sorge um die Da­ chauer Häftlinge seien. Außerdem habe ihn ein direkt aus einer Besprechung des fran­ zösischen Generalstabes kommender Offizier aufgesucht, der offensichtlich die Auf­ fassung und die Wünsche General Juins, des Generalstabschefs, und der französischen Regierung übermitteln wollte. In jener Besprechung habe General Sevez nämlich seine große Besorgnis über das Schicksal der französischen Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern, insbesondere in Dachau, zum Ausdruck gebracht. Die französi• sche Feindaufklärung, die sicher sei, daß ein von der Gestapo geplantes Massaker in Buchenwald nur wegen des raschen Vormarsches der Alliierten nicht mehr habe statt­ finden können, glaube, in Dachau seien über 100.000 Insassen jeglicher Nationalität zusammengepfercht: "Die Franzosen fürchten ein Massaker in Dachau, das alle politi­ schen Häftlinge auslöschen soll, die sonst gegen ihre Nazi-Folterknechte aussagen könnten", zitierte McSherry den französischen Major, der zur Verhinderung einer sol­ chen Katastrophe eine Luftlandeoperation vorschlage. Ungeachtet der Bedenken von G-3 und G-4 müsse das Oberkommando diesen Gedanken weiterhin ins Kalkül zie­ hen. Abgeschickt hat General McSherry das Memorandum nicht mehr; "nicht abge­ sandt (Dachau zu rasch genommen)", nennt ein handschriftlicher Vermerk auf dem Schriftstück den Grund dafür. J8J Seit seiner Errichtung im März 1933 waren durch das Konzentrationslager Dachau, das jetzt vor dem Tag der Befreiung stand, mehr als 200.000 Häftlinge aus aller Her­ ren Länder "gegangen"384. Wohl an die 32.000 von ihnen waren hier gestorben, er­ schlagen, erschossen, "abgespritzt" oder auf andere Weise um ihr Leben gebracht wor­ den. Die Gesamtzahl der Häftlinge in den Lagern des Regimes war seit 1943 generell stark angestiegen385 , doch erst das rapide Zusammenschmelzen des deutschen Macht-

381 Memorandum von General McSherry ,.Aid to Political Prisoners in the Concentration Camp at Dachau, Germany" an den Stabschef von SHAEF v. 27.4. 1945; ebenda. Robert Murphy gab an das State Depart­ ment sogar schon die Meldung durch, SHAEF habe sich bereits für eine Luftlandeoperation gegen Dachau entschieden; Telegramm Murphys an das Außenministerium in Washington v. 27.4. 1945; NA, RG 84, Polad 2871/1. 382 Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 197. 383 Memorandum General McSherrys "Concern of the French Government for Aid to the Concentration Camp at Dachau, Germany" für General Walter Bedell Smith v. 28.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711, 7.3. 384 Günther Kimme!, Das Konzentrationslager Dachau. Eine Studie zu den nationalsozialistischen Gewaltver­ brechen, in: Martin Broszat, Elke Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. 11: Herrschaft und Gesell­ schaft im Konflikt, Teil A, München, Wien 1979, S. 378 (zur Zahl der Opfer siehe ebenda, S. 385). Vgl. auch Paul Berben, Dachau 1933-1945. The Official History, London 1975, S. 201 f. und S. 2281. '8' Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Hans Buchheim, Martin Bros­ zat, Hans-Adolt Jacobsen, Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Bd. 11, Olten 1965, S. 157. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 867 bereichs im Laufe des Jahres 1944 führte zu einer verheerenden Überfüllung der im Innem des Reiches gelegenen Konzentrationslager. Waren in Dachau 1943 knapp 20.000 Häftlinge neu angekommen, so waren es im folgenden Jahr in Transporten aus West (aus Paris, Straßburg, Natzweiler etwa), Ost und Südost (aus Auschwitz, Stutthof und Budapest beispielsweise) nicht weniger als 76.635; abtransportiert wurden 1944 demgegenüber aber nur 36.770 Insassen. 386 Da Himmler es der SS zur Aufgabe gemacht hatte, die Spuren des deutschen La­ ger- und Vernichtungslagerarchipels zu verwischen, die Stätten von Tod und Terror bei Annäherung des Feindes zu räumen und die gequälten Insassen, selbstverständlich ohne Rücksicht auf Gesundheit und Leben, in die Konzentrationslager im Inneren des Reiches zurückzutreiben, spitzte sich mit der sowjetischen Generaloffensive seit Mitte Januar 1945 (in deren Verlauf am 27. Januar auch Auschwitz überrannt wurde) die Lage für die Häftlinge "in einem chaotischen Finale"387 noch einmal in gefährlich• ster Weise zu. Über 200.000 Lagerinsassen (vielleicht auch wesentlich mehr388) dürf• ten allein im letzten Vierteljahr des Krieges bei solchen "Rückführungen" mitten im Winter - planvoll in Rechnung genommene und zunehmend planloser ablaufende Vernichtungstransporte und Todesmärsche - sowie in den mit Menschen vollgestopf­ ten Baracken der ,,Auffanglager" im Reichsinnem noch zu Tode gebracht worden sem. In Dachau kam es zu der gleichen "kolossalen Massierung"389 von Häftlingen wie in den anderen bis Ende März 1945 frontfernen Lagern. Allein zwischen dem 1. Ja­ nuar und dem 28. April 1945 kamen hier 30.958 Menschen neu an (ungefähr so viele wie im gesamten Zeitraum von 1934 bis 1939 oder in den Jahren 1942 und 1943 zu­ sammengenommen), abtransportiert wurden demgegenüber nur 11.505 Personen.390 In einigen Blocks sprang die Zahl der Eingepferchten in den fünf Monaten zwischen Dezember 1944 und April 1945 um 100 Prozent, in manchen der für 60, 70 Mann eingerichteten "Stuben" hausten in den letzten Wochen bis zu 400, 500, ja 600 Men­ schen aufeinander. 391 Der französische Häftling Edmond Michelet, wenige Monate nach seiner Befreiung Armee-Minister im ersten Kabinett de Gaulle, beschreibt die Ankömmlinge, unter ihnen Juden aus Ungarn und Polen, in den "gespenstischen Endtagen" Dachaus: "Es ist klar, daß diese Skelette kaum noch einige Tage zu leben haben. Die verbrauchte Haut ist nur noch eine graue Hülle. Sie liegt ganz eng auf dem Knochengerüst auf und läßt Rippen, Becken und Schenkelknochen heraustreten, die sich nur noch in einem letzten automatischen Reflex bewegen. Die Leute entleeren

386 Die Angaben beruhen auf Berechnungen auf der Basis der Statistiken bei Berben, Dachau, S. 229, S. 245 ff. und S. 258 ff. 3.7 Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, in: Buchheim u. a., Anatomie des SS-Staates, 11, S. 159. Die folgende Schätzung der Todesopfer unter den Häftlingen bei Kriegsende ebenda, S. 159f. 388 Vgl. hierzu und allgemein zu den "Todesmärschen" 1945 das Referat von Yehuda Bauer, in: Marcia Feld­ man (Hrsg.), The Liberation of the Nazi Concentration Camps 1945. Eyewitness Accounts of the Libera­ tors, Washington 1987, S. 91 ff. 389 Toni Siegert, Das Konzentrationslager Flossenbürg. Ein Lager für sogenannte Asoziale und Kriminelle, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S. 489. 390 Die Zahlen beruhen auf Angaben und eigenen Berechnungen nach Berben, Dachau, S. 229 und S. 261; siehe auch ebenda, S. 220. 391 Vgl. etwaJohann Steinbock, Das Ende von Dachau, Salzburg 1948, S. 15f. Siehe auch den bei Berben, Da­ chau, S. 196, zitierten amerikanischen Untersuchungsbericht. Siehe auch Joseph Joos, Leben auf Widerruf. Begegnungen und Beobachtungen im K.Z. Dachau 1941-1945, Trier, 2., überarbeitete und ergänzte Auf­ lage 1948, S. 110. Vgl. auch Joseph Rovan, Geschichten aus Dachau, Stuttgart 1989, S. 293. 868 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland sich teilnahmslos vor uns auf den Boden. Wenn sie noch die Kraft haben, einige Laute von sich zu geben, bleibt ihr Kauderwelsch unverständlich. Aber, und das ist vielleicht die neue Tatsache, trotz der Duschenbehandlung, von der sie kommen, bleiben sie von Ungeziefer bedeckt. Mit ihnen hält der exanthem[at]ische Typhus seinen Ein­ zug."392 Seit Kriegsbeginn hatten gefährliche Krankheiten wie Tuberkolose, Lungenentzün• dung und Ruhr schon etwa 10.000 Opfer unter den Häftlingen gefordert393 ; bei den Lebensverhältnissen, wie sie sich seit November, Dezember 1944 entwickelten, aber wurden die geschwächten Gefangenen in Massen zur leichten Beute von Seuchen. Flecktyphus brach aus, und es begann "eine der erschütterndsten Tragödien in der Geschichte aller Konzentrationslager"394. "Von November 1944 an wich aus Gründen, die ich nicht kenne", schrieb Michelet, "und die vielleicht mit der beginnenden Des­ organisation des ganzen Räderwerkes des Systems zusammenhingen, die unerbittliche Strenge, mit der diese Hygienesachen behandelt wurden. Sehr rasch wurde die Hälfte des Lagers, der ganze östliche Teil, ein Reich der Toten."395 Auf dem Höhepunkt der Epidemie starben jeden Tag mehr als 100 Menschen - Dezember 1944: 1915,Januar 1945: 2888, Februar 1945: 3977, März 1945: 3668, April 1945: 2625; in fünf Monaten beinahe so viele wie in den zwölf Jahren zuvor.396 "Wir waren voller Läuse und Flöhe", berichtete der 31jährige Paul Ferrier aus Dijon nach seiner Befreiung aus Dachau. "Viele hatten keine Matratze mehr und lagen nackt auf den Brettern. Da sie nicht mehr aufstehen konnten, wurden alle Bedürfnisse am Ort verrichtet. Von den oberen Brettern fiel der Schmutz auf die unteren. War einer zu sehr beschmutzt, so wurde er auf Verlangen der Kameraden in den Waschraum ge­ zerrt, mit groben Bürsten abgescheuert und wieder auf die Bretter geworfen. So Ca­ mille, der Controlleur general de I'armee, bald danach verstorben. Der Fischer Schulz Michel, 44 Jahre alt, blieb 3 Wochen ohne jedwede Pflege nackt auf den Brettern. Tot­ geglaubt, warf man ihn auf den Leichenhaufen. Unter Aufbietung letzter Willenskraft gelang es ihm, sein Bett wieder zu erreichen ... In den folgenden Tagen" - Ende Januar 1945 - "erhöhte sich die Zahl der Toten ganz erheblich. Die Leichen, mit einem Er­ kennungszettel am Fuß, hat man je zu zehn aufgeschichtet im Waschraum und längs der Baracke. Von da ging's zum Krematorium, nachdem Goldzähne und Plomben entfernt worden waren."397 Bis zur Ankunft der Amerikaner hatte sich das Lager in ein infernalisches Szena­ rium verwandelt - immer neue Bahntransporte und Evakuierungskolonnen spien täg• lich mehr lemuren hafte, auf den Tod entkräftete Elendsgestalten unter die "Zebra­ menschen" des Lagers, von denen im April 4000 im Krankenrevier dahinsiechten,

392 Edmond Michelet, Die Freiheitsstraße. Dachau 1943-1945, Stuttgart 1960, S. 211. '9' Zahlen nach KimmeI, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S.385. '9' Joos, Leben auf Widerruf, S. 111. 395 Michelet, Freiheitsstraße, S. 222. 396 Zahlen nach KimmeI, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S.385. 391 Erlebnisbericht Ferriers in der Dijoner Zeitung La Republique von Mitte Juni 1945; zit. bei Joos, Leben auf Widerruf, S. Illf. Vgl. auch Steinbock, Ende von Dachau, S. 16 f. Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 143 ff. oder S. 212 ff. Fran~ois Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau. Elsässer und Lothringer in Da­ chau, Sarreguemines 1947, S. 25 ff. Nico Rost, Goethe in Dachau, Frankfurt 1983, S. 191 ff., insbes. auch S.204. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 869

6000 dringend ärztlicher Hilfe bedurft hätten.398 Die durchschnittliche Tagesration betrug im April nur noch 600 Kalorien399, acht Insassen hatten sich ein Brot zu tei­ len.40o Am 28. April zog "eine lange Prozession von Neuankömmlingen" - weit über 5000 - "durch das Tor", beobachtete ein Augenzeuge: "Es sind meist wandelnde Lei­ chen. Einige brechen tot zusammen ... Obendrein stehen auf dem toten Geleise des Lagers noch 15 bis 20 Waggons, in denen jetzt 2600 Leichen liegen. Es handelt sich meist um Kameraden aus Flossenbürg und Buchenwald, die in den Abteilen vom Hunger dahingerafft wurden. Das Bestattungskommando transportierte die Leichen zum Krematorium. Bis gegen Mitternacht dauert die grausige Arbeit. Berge von Toten türmen sich noch am Lagerbahnhof, am Krematorium und auf der Blockstraße der Revierbaracke auf."401 Die Verbrennungsanstalt, die seit Monaten "Tag und Nacht"402 stinkenden schwar­ zen Rauch in den Himmel schickte, reichte zur Beseitigung der Leichname nicht mehr aus. Zusätzlich wurden Massengräber ausgehoben. Doch es waren zu viele tote Zeugen. Zu Tausenden lagen sie am Tag der Befreiung im Lager umher. Zwei große, später oft photographierte Räume des vom Lager separierten Krematorium- und Gas­ kammerkomplexes sind über zwei Meter hoch mit Toten vollgestopft,403 In dem ei­ nen sind die nackten Körper "säuberlich aufgestapelt", in dem anderen auf einen wil­ den Haufen geschmissen404 - an die 2000 Leichname.405 Etwa 1500 weitere Leichen lagen hinter dem Krankenrevier und an anderen Orten des Lagers aufgeschichtet,406 Edmond Michelet und sein Freund, Joseph Rovan, waren am Abend vor der Befrei­ ung im Lager unterwegs und durchquerten dabei einen "Laufgraben, der durch eine doppelte Reihe aufeinandergehäufter Leichen entstanden war"407. Wenige Tage später berichtet Rovan, in den vollgestopften Baracken sei es bisweilen "unmöglich, in einem Knäuel von Menschenleibern die Leichen und die Sterbenden herauszufinden"408. Aber war, wie in Auschwitz, wo die sowjetischen Soldaten in den sechs (von 35) er­ halten gebliebenen Magazinen unter anderem 836.255 Damenmäntel und Kleider entdeckten409, der Anblick abgelegter Effekten weniger gräßlich? In Dachau fanden die Amerikaner die Bekleidungsstücke der Verbrannten säuberlich zu Ballen gebun­ den hinter dem Krematorium: "Die Jacken für sich, die Hosen für sich usw. Wir konnten die Kleidung und das Schuhwerk kleiner Kinder sehen, Mädchen- und Frau-

'98 Bericht des G-5 Stabes des XV Corps an den Kommandierenden General der Seventh U.S. Army v. 5. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 271117.3. Vgl. auch Johann Neuhäusler, Wie war das in Dachau? Ein Versuch der Wahrheit näherzukommen, München 1960, S. 29. '99 Telegramm des Kommandierenden Generals der Seventh U.S. Army an SHAEF; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711/7.3 '00 Edgar Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau, Bd. II: Wie es endete, Stuttgart 1960, S. 243 (Tagebucheintragung v. 15.4.1945). 401 Bericht Fran~ois Goldschmitts; zit. nach Neuhäusler, Dachau, S. 66 I. 402 Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 28. '0' Generalbericht des G-2 Stabes der Seventh Army ("Dachau") von Mai 1945, S. 11. In deutscher Überset• zung in: HZ-Archiv, Fa 54; abgedruckt in: 11 Movimento di Liberazione in Italia, 1962, Nr. 66, S. 38fl. Siehe auch Steinbock, Ende von Dachau, S. 40. '04 Vgl. Berben, Dachau, S. 1961., der einen amerikanischen Untersuchungsbericht wiedergibt. '0' Bericht des G-5 Stabes des XV Corps an den Kommandierenden General der Seventh U.S. Army v. 5. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 271117.3. '06 Ebenda. '07 Michelet, Freiheitsstraße, S. 248. '08 "Bericht über die Lage der ehemaligen französischen Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau, vom 8. Mai 1945", in: Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 294. '09 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt 1990, S. 1051. 870 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland enkleider, Schuhe und Hüte. Die Kleiderballen (ohne Schuhe) waren Seite an Seite gestapelt und nahmen einen Platz von annähernd 62 Meter Länge, 2,5 Meter Höhe und 3 Meter Breite ein."4IO Und auf dem Gleisanschluß des Lagers stand jener vermutlich aus Buchenwald ab­ gegangene "Schreckenszug"411 mit den 39 meist offenen Waggons, der in den meisten Berichten über die Befreiung Dachaus erwähnt wird.412 2000 auf dem Transport ver­ hungerte Gefangene enthielt er: ,,Auf den ersten Blick schienen die Wagen mit schmutzigen Kleidern beladen. Dann sah man Füße, Köpfe, knochige Finger. Mehr als die Hälfte der Wagen war voll Leichen, hunderte Leichen. Der Hals eines Mannes war so dünn und verschrumpft, daß er kaum imstande schien, einen Kopf zu tragen, aber der Mann war noch am Leben."413 Vielleicht waren es 17414 , vielleicht 40 Leben­ dige415 , die unter den Toten lagen. Für manche Geschundene mag der Tod im Güter• waggon als Erlösung gekommen sein: "Einige wenige der Leichen", analysierte ein amerikanischer General die Fracht des Zuges, "hatten frische Schußwunden, doch wiesen die meisten keine Merkmale von Schüssen neuesten Datums auf. Viele der Leichen hatten Merkmale aller Arten von alten Verletzungswunden, so von Einstich­ wunden an der Brust, großen und tiefen Wundnarben am Körper, Hiebwunden, und viele hatten Quetschungen, die auf frühere Angriffe oder Mißhandlungen und Schläge hindeuteten."416 Das Konzentrationslager Dachau war 1945 derselbe Ort der Verfolgung und des Mordens wie in den Jahren zuvor, sein Gesicht hatte sich jedoch binnen weniger Mo­ nate vollständig verwandelt. Der zynisch gepredigte und von der SS sadistisch umge­ setzte Imperativ von "Sauberkeit" und "Ordnung"417 hatte sich unter dem Druck im­ mer neuer "Zugänge" einfach verflüchtigt (gegen Ende April sei das Bild des Lagers "immer mehr zigeunermäßig" geworden, fanden seit längerem einsitzende Häft• linge418). Es war diese gründliche Metamorphose der Konzentrationslager im Innern des Reiches, die es jetzt mit einem Schlage für alle, die noch nichts oder wenig von der wahren Vernichtungsenergie des Regimes ahnten, unmittelbar offenbar machte, zu welchen UnmenschIichkeiten die Deutschen offensichtlich fähig waren.

410 Bericht von Sergeant Jack Bessel, der zusammen mit einem Leutnant von der Sixth Army Group das Lager Dachau vier Tage nach der Befreiung besuchte, in: Sixth Army Group History, Section I, Narrative, S. 350; NA, RG 332, ETO, Historical Division Program Files, Sixth Army Group 1944-45. 411 Karl Adolf Gross, Fünf Minuten vor Zwölf. Des ersten Jahrtausends letzte Tage unter Herrenmenschen und Herdenmenschen. Dachauer Tagebücher des Häftlings Nr. 16921, München 1947, S. 194 (Tagebuch­ eintragung v. 28.4. 1945). 411 Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 185. Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Infantry Division, S. 99. The Stars and Stripes, 2. 5. 1945. Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 259 (Tagebucheintragung v. 30.4. 1945). Siehe auch Howard A. Buechner, Dachau. The Hour of the Avenger (An Eyewitness Account), Metaire 1986, S. 64. 413 AP-Bericht, in: Chicago Daily Tribune,!. 5. 1945, abgedruckt bei: Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit, S. 25. 414 Barbara Distel, Der 29. April 1945. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, in: Dachauer Hefte 1 (1985), S. 10. 415 Steinbock, Ende von Dachau, S. 43. 416 Bericht von General S. R. Mickelsen, Chef der Displaced Persons Branch, G-5, an den Stabschef von SHAEF v. 19.5. 1945 über einen Besuch im Lager Dachau am 3.5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2748/1. 417 "Es gibt einen Weg zur Freiheit - seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sau­ berkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterlande!", lautete die in riesigen Let­ tern auf dem Dach des Wirtschaftsgebäudes an der Stirnseite des Appellplatzes aufgemalte Losung. Vgl. Konzentrationslager Dachau 1933-1945, hrsg. v. Cornit<' Internationale de Dachau, München 1965, S. 67. 418 Steinbock, Ende von Dachau, S. 25. Vgl. auch Berben, Dachau, S. 188. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 871

Zu dieser entsetzlichen Offenbarung des April 1945 - denn es ist für die Amerika­ ner wie für die meisten Deutschen eine Offenbarung gewesen - trug niemand mehr bei als die Verbrecher an der Spitze des Staates selbst. Unbedingt darum bemüht, die Spuren ihres Tuns zu verwischen, führten sie die überlebenden Opfer von überall her zurück und pferchten sie in die verbliebenen Lager zwischen Oder und Rhein: bis zum März 1945 in der Hoffnung, wenigstens den Restraum ihres rasch wieder zerfal­ lenen europäischen Imperiums würde der Feind vielleicht doch nicht erobern. Sie glaubten, damit würde nicht ans Licht, zumindest nicht vor aller Augen kommen, welcher Vernichtungs- und Verfolgungsstaat sich in Mitteleuropa sechs Jahre lang breitgemacht hatte. Für die Vernichtungslager im Osten gelang die "Tilgung der Spuren"419 immerhin so, daß es der Anti-Hitler-Koalition nicht ganz leichtfallen konnte, die Welt sofort zweifelsfrei davon zu überzeugen, was hier geschehen war. Seit 1942/43 waren in den Vernichtungsstätten des "Generalgouvernements" vorsorglich Exhumierungen und Leichenverbrennungen im Gange. Das im Warthegau gelegene Kulmhof wurde (sieht man von einer kurzen Wiedereröffnung 1944 ab) schon Ende März 1943 aufgelassen und Mitte Januar 1945 endgültig beseitigt, das jüdische Leichenbeseitigungskom­ mando erschossen, "die Gebäude in Brand gesteckt". Treblinka, Sobibor und Belzec gab man im Herbst 1943 auf, nicht ohne daß Befehl ergangen wäre, keinerlei Spuren zu hinterlassen; auf dem Terrain von Treblinka wurden Gutsgebäude errichtet, in Bel­ zec Kiefern angepflanzt. In Lublin (Majdanek), das nicht zu den Lagern mit höchster Vernichtungsleistung zählte und das im Juli 1944 im Zuge der sowjetischen Sommeroffensive von Truppen der Roten Armee überrannt wurde, blieb weniger Zeit zur Verdunkelung. Hier fanden die russischen Soldaten intakte Gaskammern und Krematorien, riesige Magazine mit Kleidern, Schuhen und verschiedenen Habseligkeiten. "Es waren nicht die Gaskam­ mern", schrieb der Korrespondent des amerikanischen Magazins Life im September 1944, "wo Opfer stehend ausgelöscht wurden, oder das Krematorium, wo sie zerhackt und dann in Öfen verbrannt wurden. Dieser Teil der ,Todesfabrik' hat mich irgendwie nicht berührt. Zu maschinenhaft. Es waren nicht einmal die offenen Gräber mit Ske­ letten oder Schädeln oder die Haufen von Dünger aus menschlichen Leibern und Kot. Der volle seelische Schock kam bei einem riesigen Lagerhaus, randvoll mit Schu­ hen, mehr als 800.000 aller Größen, Formen, Farben und Moden."42o Selbst solche Presseberichte, die im Sommer 1944 um die Welt gingen, haben der internationalen Öffentlichkeit Ausmaß und Methode der nationalsozialistischen Verbrechen keines­ wegs sofort und nachhaltig überzeugend vor Augen führen können. Selbst der Korre­ spondent von Associated Press, der im August 1944 an einer Besichtigung der Über• reste von Majdanek teilgenommen hatte, räumte später ein, "auch nach dem Besuch sei er gegenüber sowjetischen Angaben mißtrauisch geblieben"421.

419 Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 1043. Das folgende nach dieser Studie. Zitat ebenda, S. 1047. 420 Life, 18.9. 1944; zit. nach: Konnilyn G. Feig, Hitler's Death Camps. The Sanity of Madness, New York 1981, S. 330. 421 So Dan Oe Luce von AP noch 1986. Siehe Norbert Frei, "Wir waren blind, ungläubig und langsam". Bu­ chenwald, Dachau und die amerikanischen Medien im Frühjahr 1945, in: VfZ 35 (1987), S. 387, Anm. 5. 872 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Auch in Auschwitz, dem ab Herbst 1943 "die Last der Endlösung"422 zugefallen war, hatte die NS-Führung ihr möglichstes getan, die Spuren zu beseitigen. Im August 1944 wurden hier an manchen Tagen noch über 10.000 Leichen verbrannt. Im No­ 423 vember erklärte Himmler, daß die jüdische Frage praktisch gelöst sei , und am 25. desselben Monats befahl er, die Vernichtungsanlagen zu demontieren. Am 17. Januar 1945, fünf Tage nach Beginn der sowjetischen Großoffensive, begann für knapp 90 Prozent der verbliebenen 67.000 Insassen die Evakuierung, in den folgenden Tagen wurden sämtliche Krematorien gesprengt. Den am Nachmittag des 27. Januar in die deutsche Vernichtungsstätte eindringenden Truppen konnte sich nicht annähernd er­ schließen, was an diesem Ort noch wenige Monate zuvor geschehen war; auf 7000 Überlebende trafen die Befreier in Auschwitz noch, in der Gerberei lagen sieben Ton­ nen Menschenhaar. Ebensowenig wie die lange vor der Entdeckung der Vernichtungslager sich häufen• den Gerüchte und Berichte424 vermochten es auch solche Spuren des "größten Mas­ senmordes der Geschichte"425 nicht, die Welt nachhaltig davon zu überzeugen, daß die Deutschen im Schatten des Krieges tatsächlich ein Verbrechen dieser Dimension begangen hatten. Was weit in den sowjetisch kontrollierten Osten gereiste Korrespon­ denten und Kommissionen nach der Visitation zu Hause von Lagern berichteten, über die die Rote Armee hinweggegangen war, reichte vielfach nicht einmal hin, die Menschen im Westen ernstlich auch nur an die Möglichkeit glauben zu lassen, Ange­ hörige eines mitteleuropäischen Kulturvolkes könnten zu einem solchen Genozid überhaupt imstande sein. Die Überzeugung, daß dem Nationalsozialismus und den Deutschen schlechterdings alles und jegliches Verbrechen, auch ein Völkermord un­ gekannter Dimension, zuzutrauen war, verbreitete sich in den Ländern der westlichen Siegermächte nachhaltig erst im Gefolge der schockierenden "Entdeckungen" im Herzen Deutschlands im April 1945. Die eigenen Soldaten befreiten, die eigenen Re­ porter beschrieben, fotografierten und filmten diese im Frontabschnitt der eigenen Armeen gelegenen Stätten des Horrors. Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau waren keine weithin verlassenen Orte oder Plätze, an denen sich nur noch Spuren des Grau­ ens fanden, sondern diese eigentlich nicht zum Kosmos der "Endlösung" gehörigen Lager quollen über von Zehntausenden von Siechen, Ermordeten, Umgekommenen und gaben bei ihrer Öffnung den Blick frei auf Szenen, denen kein Mensch jemals standzuhalten gehabt hatte. Hätten die Zeugnisse von Überlebenden, die Strafpro­ zesse gegen die Täter und die mühselige historische Rekonstruktion des Geschehens in den Jahren nach 1945 hingereicht, den Tatbestand des Holocaust nicht nur zu klä• ren, sondern ihn auch als jenseits jeglichen Zweifels wirklich geschehene Tat im Be­ wußtsein der Welt zu verankern? Indem Himmler die deutschen Verbrechen um je­ den Preis vertuschen wollte, trug er - soll man sagen: ironischerweise426 ? - am mei­ sten dazu bei, daß schon bei Kriegsende kein ernstzunehmender Mensch an den Tatsachen zweifeln konnte.

422 Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 1045. 42J Ebenda, S. 1048; auch zum folgenden. 424 Vgl. 1/3. 425 Helmut Krausnick, Judenverfolgung, in: Buchheim u.a., Anatomie des SS-Staates, 11, S. 448. 426 So Robert H. Abzug in seiner Einleitung zu: Fe\dman (Hrsg.), Liberation of the Nazi Concentration Camps, S. 5. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 873

Der geglückte Rheinübergang der Alliierten Ende März 1945 gab den Häftlingen im Konzentrationslager Dachau, wo jener makabre Satz kursierte, diesen Ort verlasse man "nur durch den Kamin", erstmals eine realistische Perspektive der Befreiung. Mehr als 3l.000 Insassen421 aus beinahe 40 Nationen428 waren es bei der Ankunft der Amerikaner allein im Stammlager; mindestens noch einmal die gleiche Anzahl von Häftlingen und Arbeitssklaven in den (1945) etwa 160 Nebenlagern und Außenkom• mandos. 429 Im Hauptlager ein knappes Drittel von ihnen Polen, über 15 Prozent Rus­ sen, nicht sehr viel weniger Franzosen, um nur die drei stärksten Nationalitäten zu nennen. Hinzu kamen fast 3000 Slowenen, über 2000 Italiener, gut 1600 Tschechen, etwa 1400 Deutsche und Österreicher, Belgier, Ungarn, Griechen, Spanier, Albaner, Türken, Kroaten, 6 Amerikaner, 1 Iraner, 1 Finne ... Für alle hing die Rettung an der Ankunft der Amerikaner, wobei das Risiko, die Be­ freiung nicht zu erleben, "vielleicht 10 km von der Freiheit entfernt abzukratzen"43o, für jeden einzelnen Häftling von Tag zu Tag größer wurde. Es drohte die Gefahr, von der Typhusepidemie erfaßt zu werden und zu sterben; es drohte das Schicksal, bei ei­ ner möglichen Evakuierung des Lagers zugrunde zu gehen oder auf dem Marsch von den Bewachern niedergemacht zu werden; es drohte die willkürliche Liquidierung durch einen nervösen SS-Mann aus nichtigem Anlaß; die SS-Wachmannschaft konnte den Befehl erhalten, sämtliche Insassen im letzten Augenblick innerhalb des Lagers zu beseitigen; vielleicht geriet das Konzentrationslager bei den Kämpfen um München zwischen die Fronten; vielleicht würde sogar das Lager selbst verteidigt werden. Auch wenn der einzelne, wie in den Jahren zuvor, vollkommen ohnmächtig war und wenig dazutun konnte, ob er überleben würde oder nicht, kam es in diesen "Zwischenta­ gen"431 trotzdem mehr als sonst darauf an, auf der Hut und umsichtig zu sein, alle er­ reichbaren Informationen zu sammeln, jedes Gerücht abzuklopfen und keine falsche Bewegung zu machen. Aber welche war die richtige? Manche Häftlinge hatten schon 1944, nach dem 20. Juli und nach den gewaltigen Erfolgen der alliierten Offensiven im Osten und Westen, auf ihre baldige Befreiung gehofft.432 Aber erst im Frühjahr 1945 begannen die dröhnenden Durchsagen des

427 Zur Zahl der Insassen des Stamm lagers Ende April 1945 gibt es unterschiedliche, aber nur geringfügig voneinander abweichende Zahlen: 31.432 bei SHAEF, G-5, Public Health Branch, Bericht "Observations Made on Medical Matters at Dachau, Germany" v. 7. 5. 1945; NA, RG 331, Adjutant General, War Diaries, G-5 Division 1943-1945. 31.601 in der Presseerklärung Ne. 1463 von SHAEF v, 11. 5. 1945; eben da. 32.335 als Ergebnis des Zählappells am 29, April 1945, zit. bei KimmeI, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S. 410, Anm. 295. Berben, Dachau, S. 223 (28. 4.1945, morgens): 30.043 Insassen. 428 Vgl. die ebenfalls nur geringfügig voneinander abweichenden Aufstellungen: Bericht des G-2 Stabes der 7. US-Armee von Mai 1945; HZ-Archiv, Fa 54: 39 Nationalitäten - dabei eigens aufgeführt "Deutsche Staatsbürger". "Österreicher'" "Deutsche aus den Annexionsgebieten", "Sudetendeutsche" - sowie eine Extrasparte ,Juden" (2539, davon 225 Frauen). Nach Kimmei, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S. 374, der sich stützt auf Jan Domagala, Ci, ktorzy zrzeszli przez Dachau. Duchowni w Dachau, Warschau 1957: 37 Nationalitäten sowie "Staatenlose"; diese Aufstel­ lung bezieht sich auf Stammlager und Außenkommandos. Berben, Dachau, S. 213: 38 Nationalitäten, 429 Distel, Befreiung, S. 4. Aufstellung im einzelnen bei Berben, Dachau, S. 214 H. 430 Arthur Haulot, Lagertagebuchjanuar 1943 bis Juni 1945, in: Dachauer Hefte 1 (1985), S. 191. Haulot, bel­ gischer Schriftsteller,Joumalist, Mitglied der verbotenen sozialistischen Partei, war Ende 1941 verhaftet, im November 1942 nach Dachau "überstellt" worden. 431 Steinbock, Ende von Dachau, S. 25. 432 Nerin E. Gun, Die Stunde der Amerikaner, Velbert 1%8, S. 14. 874 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Wehrmachtsberichts aus den Lautsprechern beim Appellplatz433 für die Häftlinge im­ mer erfreulicher zu werden. Als sich nicht mehr verschweigen ließ, daß die Wehr­ macht immer schneller Terrain verlor, machte die Lagerleitung den Versuch, alle In­ formationsquellen zu stopfen. Aus den Kanzleien, in denen auch Häftlinge beschäftigt waren, verschwanden die Radioapparate, Zeitungen kamen jetzt auch keine mehr.434 Trotzdem war es (schon wegen der aus allen Himmelsrichtungen einlaufenden Gefan­ genentransporte) unmöglich, die Häftlinge des Stammlagers über den Fortgang der Kämpfe auf Reichsgebiet im unklaren zu halten. Ende März erfuhr man, daß der Wehrmachtsbericht bereits Städte wie Mainz, Worms und Ludwigshafen nenne, und Anfang April traf beispielsweise ein Transport aus Stuttgart in Dachau ein, der die Nachricht mitbrachte, die Alliierten seien nur noch 50 Kilometer von der württem• bergischen Hauptstadt entfernt.435 Neben verschiedenen kleineren Entlassungsaktionen436 war die versuchte Nach­ richtensperre eines mancher untrüglicher Zeichen von Schwäche, die die SS-Mann­ schaft nun in zunehmendem Maße von sich gab. Anfang April, als die amerikanischen Spitzen bei Würzburg und Heilbronn standen, begann die Lagerverwaltung damit, 437 "eine Unmenge von Akten" zu verbrennen , in der Nacht vom 6. auf den 7. April durchsuchte die nervös gewordene SS die Blocks nach versteckten Waffen. In einem Häftlingstagebuch ist zu diesem Zeitpunkt von der "nahen Freiheit"438 die Rede. Mitte des Monats war bereits der Lärm der näherrückenden Front zu vernehmen, Tiefflieger erschienen über dem Lager; einmal beschossen sie die SS-Barak­ ken439, ein andermal sogar die Wachtürme des Konzentrationslagers. Für manchen Gefangenen waren das die Vorboten einer alliierten Luftlandung.44o Jetzt rissen nach Edmond Michelets Beobachtung "alle Zusammenhänge", und es griff - gemessen an der gewohnten Lagerordnung - "eine geradezu ungeheuerliche Anarchie" um sich.44I Zwar ließen dadurch der brutale Disziplinierungsdruck auf den einzelnen Häftling und die scharfe Reglementierung des Tagesablaufes nach, zwar kam es einzelnen Insassen zugute, daß "so manche Unsicherheit in der SS selbst" sichtbar wurde442 , und einige Aufseher und Kapos versuchten, gut Wetter zu machen und Pluspunkte für den nahen Tag der Abrechnung zu sammeln443, doch änderten Wandlungen wie diese nicht das mindeste an der Tatsache, daß die 30.000 Menschen den SS-Wachmannschaften auf Gedeih und Verderb ausgeliefert blieben. Wenn sich die Bewacher jetzt auch immer seltener innerhalb des stacheldrahtumzäumten Häft• lingsteils des Lagers blicken ließen ("Unsere Wachen wurden alt und grau in diesen

4JJ Vgl. Joos, Leben auf Widerruf, S. 137. '" Steinbock, Ende von Dachau, S. 19. Siehe auch Berben, Dachau, S. 180. H' Vgl. die Tagebucheintragungen am 24. März und 4. April 1945 bei Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 241 f. Siehe beispielsweise auch Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 116ff. (Tagebucheintragungen seit dem 8.4. 1945). 436 Steinbock, Ende von Dachau, S. 11 f. 437 Ebenda, S. 18. Zur Datierung Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 242 (Tagebucheintragung v. 7. April 1945); dort auch die Erwähnung der Durchsuchung. 4JB Haulot, Lagertagebuch, S. 188 (Tagebucheintragung v. 5.4. 1945). 4J9 Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 244 f. (Tagebucheintragung v. 20.4. 1945). 440 Joos, Leben auf Widerruf, S. 138. Dort auch die Erwähnung des Tieffliegerbeschusses der Wachtürme. Vgl. auch Steinbock, Ende von Dachau, S. 21. '" Michelet, Freiheitsstraße, S. 244. 44' Steinbock, Ende von Dachau, S. 17. 44J Vgl. Berben, Dachau, S. 181. Vgl. auch die bei Distel, Befreiung, S. 5, zitierten Tagebuchauszüge. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 875

Tagen"444) und die Bedeutung der von den Gefangenen selbst organtslerten Ord­ nungskräfte wuchs445 , mußte - wie den Insassen bewußt war - jeder Versuch, die Be­ freiung des Konzentrationslagers aus eigener Kraft zu wagen, unfehlbar in einem Mas­ saker enden. Daß SS-Behörden und Lagerleitung bis zur Ankunft der Amerikaner mit dem lästig gewordenen und obendrein kompromittierenden Erbe nationalsozialistischer "Geg­ nerbekämpfung" beinahe nach Gutdünken umspringen konnten, bewies die am 17. April beginnende (mehrere Transporte umfassende) Evakuierung von insgesamt 137 "Sonderhäftlingen" aus 17 Nationen, die auf Befehl der SS-Führung in Dachau zusam­ mengezogen worden waren. Himmler wollte damit vor allem sicherstellen, daß ihm bei der insgeheim angestrebten Seperatfriedensverhandlung mit den Westmächten (deren Herbeiführung einen beträchtlichen Teil seiner Aktivitäten während der Endphase des Dritten Reiches ausmachte446) dank dieser prominenten Geiseln ein - wie er wirklich annahm - wirkungsvolles Druckmittel zu Gebote stehe.447 Deswegen sollten sie dem Zugriff des Feindes unbedingt entzogen bleiben; einige bekannte Geg­ ner des Nationalsozialismus unter ihnen sollten am Rande der Verschleppungsaktion liquidiert werden. Wenige Episoden aus den letzten Tagen des Regimes lassen es so wie dieser Transport von Dachau ins Südtiroler Pustertal überaus anschaulich werden, in welch verdeckt-subtiler Weise sich das zunächst noch riesige Machtgefälle zwischen dem Personal des Terrors und seinen Opfern allmählich einzuebnen begann, es dann zu einer prekären Balance wurde und wie es sich schließlich ins Gegenteil verkehrte. Einige der prominenten Gefangenen saßen seit längerem im Konzentrationslager Dachau ein, andere waren erst kurz zuvor aus Buchenwald, Flossenbürg und anderen Lagern und Gefängnissen dorthin verfrachtet worden. Unter den nach Süddeutsch• land Weggeschafften befanden sich so bekannte ausländische Häftlinge wie Premier­ minister Leon Blum, Ministerpräsident Miklos von Kiillay mit seinem Innenminister Peter Baron von Schell, Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg mit Frau und kleiner Tochter Sissy, der niederländische Kriegsminister van Dijk, der slowakische Wirt­ schaftsminister, Bischof Gabriel Piguet von Clermont-Ferrand, Prinz Xavier von Bour­ bon-Parma, der italienische Partisanengeneral Sante Garibaldi, der Feldmarschall Alexander Papapos mit den Spitzen des griechischen Generalstabes. Zu den promi­ nenten deutschen Häftlingen, die auf Lastwagen und Omnibussen abtransportiert wurden, zählten Pastor Martin Niemöller, Domkapitular Johann Neuhäusler aus Mün• chen, Hjalmar Schacht, Staatssekretär Hermann Pünder, die Generäle Georg Thomas, und Alexander Ernst Freiherr von Falkenhausen, Fritz und Amelie Thyssen, Prinz Leopold von Preußen, Prinz Philipp von Hessen, die Familien Goerde­ ler und Stauffenberg und weitere "Sippenhäftlinge".448

444 Isa Vermehren. Reise durch den letzten Akt. Ein Bericht (10. 2. 44 bis 29.6.45), Hamburg 1946, S. 175. 445 Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 279. 446 Im einzelnen hierzu unten in diesem Kapitel. 447 Vgl. die bei Heinrich Fraenkel, Roger Manvell, Himmler. Kleinbürger und Massenmörder, Berlin 1965, S. 251 f., erwähnte Äußerung Himmlers gegenüber Adol! Eichmann. 448 Vgl. hierzu U.a. den Bericht von General Thomas v. 20.7. 1945; Bay HStA, NL Pfeiffer, Nr. 52. Oder vgl. die Zeugenaussage von Bogislaw von Bonin, dem einstigen Chef der Operationsabteilung des OKH v. 21. 1 \. 1951; HZ-Archiv, ZS 520. Ferner Gun, Stunde der Amerikaner, S. 150ff. Heinz BrilI, Bogislaw von Bonin im Spannungsfeld zwischen Wiederbewaffnung-Westintegration-Wiedervereinigung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Bundeswehr 1952-1955, Baden-Baden 1987, S. 39ff. Fabian von Schlabren­ dorff, Offiziere gegen Hitler, Frankfurt 1959, S. 170 ff. Heidemarie Gräfin Schall-Riaucour, Aufstand und 876 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Keiner der "Sonderhäftlinge" wußte bei seinem Abtransport aus Dachau zu sagen, ob mit der letzten Etappe der Odyssee durch die Kerker des Regimes nicht auch das eigene Ende unmittelbar bevorstand. Manche hatten die Liquidierungen im Konzen­ trationslager F10ssenbürg (wo noch am 9. April in einer von höchster Stelle befohle­ nen "Hinrichtungsserie"449 neben anderen auch Canaris, General Oster und Pfarrer Bonhoeffer ermordet wurden) in unmittelbarer Nähe erlebt oder davon erfah­ ren450, einige Gefangene wußten, daß in Dachau eben erst der Hitler-Attentäter Georg Elser und General Delestraint, ein enger Mitarbeiter de GaulIes, umgebracht worden waren.451 ",Liquidierung' oder die Freiheit", wie Hermann Pünder schrieb, lautete jetzt für alle gleichermaßen die "Schicksalsfrage"452 Es blieb nichts als abzuwarten, ob dieser ominöse Weitertransport - wohin konnte die Reise in dem fast vollständig be­ setzten Deutschland überhaupt noch gehen? - "Ermordung oder örtliche Verle­ gung"453 zu bedeuten hatte. Schuschnigg sah für das Schicksal der ganzen Gruppe "sehr schwarz"454, Niemöller versuchte aus dem SS-Begleitpersonal energisch, aber vergeblich herauszubekommen, welches Schicksal ihm und seinen Leidensgenossen bevorstand.455 Ein Häftling, der den Abtransport aus Dachau beobachtete, äußerte die Vermutung: ,,Alle werden erschossen."456 Bei General Georg Thomas, dem früheren Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes des OKW, verfestigte sich der "Ein­ druck, daß wir im gegebenen Fall als Geiseln dienen sollten", um gegen gefangene Ge­ stapoführer ausgetauscht zu werden457 , wieder andere rechneten, nachdem sie mit Bussen das Konzentrationslager verlassen hatten, "mit einem Genickschuß"458. Wie sich zeigte, gingen die Transporte nach Süden, alle über die Zwischenstation Inns­ bruck in Richtung Brenner. Das Leben der 137 Gefangenen hing allein vom Verhalten der etwa 50 Mann star­ ken SS-Begleitmannschaften ab, unter denen sich ein allgemein gefürchtetes, berüch-

Gehorsam. Offiziersturn und Generalstab im Umbruch. Leben und Wirken von Generaloberst Franz Hal­ der, Generalstabsehe! 1939-1942, Wiesbaden 1972, S. 329fl. Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in Rot­ Weiß-Rot. Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster, Zürich 1946, S. 498 ff. Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 34 ff. Joos, Leben auf Widerruf, S. 139 ff. Hjalmar Schacht, 76 Jahre meines Lebens, Bad Wörishofen 1953, S. 554f. Hermann Pünder, Von Preußen nach Europa. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1968, S. 174 ff. Jose! Müller, Bis zur letzten Konsequenz. Ein Leben für Frieden und Freiheit, München 1975, S. 258ff. Fey von HasselI, Niemals sich beugen. Erinnerungen einer Sonderge!angenen der SS, Mün• chen 1990, S. 187ff. Vor allem Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 171 ff. Vgl. auch insbesondere S. Payne Best, The Venlo Incident, London 1950, S. 190fl. Eine Liste der evakuierten Sonderhäftlinge bei: Best, Venlo Incident, S. 256 fl. Müller, Konsequenz, S. 364 fl. 449 Siegert, Konzentrationslager Flossenbürg, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, II, S. 478. Best, Venlo Incident, S. 215: ,.A, regular holocaust among the more important political prisoners." 450 Vgl. den Bericht von General Thomas v. 20. 7. 1945; Bay HStA, NL Pfeiffer, Nr. 52. Müller, Konsequenz, S. 254, S. 257, S. 260. Best, Venlo Incident, S. 200, S. 205, S. 215. Schlabrendorff, Offiziere, S. 171. 45 I Die Exekutierung Delestraints wird in den meisten Aufzeichnungen aus Dachau erwähnt; vgl. etwa Kup­ fer-Koberwitz, Die Mächtigen, H, S. 246. Zur Kenntnis von der Ermordung Elsers vgl. Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 178. Auch bei Best, Venlo Incident, S. 205. ,,, Pünder, Preußen, S. 174. '" Bericht von General Georg Thomas v. 20.7. 1945, Bay HStA, NL Pfeiffer, Nr. 52. '" Pünder, Preußen, S. 176. Vgl. auch Schuschnigg, Requiem, S. 498fl. 455 Joos, Leben auf Widerruf, S. 142 (Tagebucheintragung v. 26. und 27.4. 1945). Vgl. auch Müller, Konse­ quenz, S. 265. 456 Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 37. 45' Bericht von General Georg Thomas v. 20. 7. 1945; Bay HStA, NL Pfeiffer, Nr. 52. Vgl. auch Müller, Konse­ quenz, S. 269. 45' Joos, Leben auf Widerruf, S. 140 (Tagebucheintragung v. 25.4. 1945). VgI. auch Schacht, 76 Jahre, S. 559: "Bis zuletzt bestand ja jeden Augenblick die Chance des Genickschusses." 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 877 tigtes Exekutionskommando befand.459 Noch in Buchenwald, von wo ein Teil der Häftlinge eine Woche vor dem Eintreffen der Amerikaner fortgeschafft worden war, waren unter den Begleitern nicht zu überhörende ominöse Bemerkungen wie "Haben Sie auch genügend Handgranaten bei sich?"460 zu vernehmen gewesen. Dem Trans­ port, der am 24. April Dachau verließ, wurde eröffnet, daß niemand "in amerikanische Hände fallen" dürfe461 , Staatssekretär Pünder beobachtete unterwegs mehrfach, wie die SS-Leute flüsternd die Köpfe zusammensteckten und dabei Listen und Tele­ gramme durchgingen.462 Befehlstreue und Handlungsfreiheit der NS-Schergen schwanden mit der Entfer­ nung von ihren Stammlagern und mit dem Näherrücken der Amerikaner von Nord­ bayern wie von Norditalien her freilich zusehends. Damit wuchsen ihre auch von den Häftlingen registrierten463, täglich deutlicher werdenden internen Unstimmigkeiten über Sinn und Zweck ihrer Befehle und dieser Fahrt ins Innere der ,,Alpenfestung"464. Es wurde Zeit, sich Gedanken über das eigene Schicksal nach dem sicheren Ende des Regimes zu machen, zumal man mit diesen 137 Personen keinen jener Züge namen­ loser Elendsgestalten vorwärtstrieb, sondern eine Gruppe von zum Teil weltbekannten Persönlichkeiten eskortierte; stellte man sich im letzten Augenblick auf deren Seite anstatt gegen sie, würde das Leben nach Hitler gewiß reibungsloser beginnen können. So wurde allmählich unklar, wer wem mehr ausgeliefert war. Die Sängerin Isa Vermehren, "Sippenhäftling", weil ihr Bruder Fahnenflucht began­ gen hatte, beobachtete und beschrieb sehr genau, wie die SS-Männer nach und nach sichtbar den Boden unter ihren Füßen verloren.465 Nicht alle Evakuierten hatten bereits an der Zwischenstation Innsbruck das Empfinden gehabt, am "Ufer des Sie­ gers" gelandet zu sein. Bei Schuschnigg verwandelte sich, nachdem er hier einer Spezialtruppe für Erschießungen ansichtig geworden war, Angst geradezu in Panik.466 "Furcht und Respekt vor der SS zerschmolzen" bei anderen mit zunehmender Dauer des Transportes dagegen "wie Schnee an der Sonne". Schon allein die Tatsache, daß viele Häftlinge die Angst vor ihren bewaffneten Begleitern zu verlieren begannen, reichte aus, um diese zu irritieren. "In dem Augenblick, wo mit dem Spiegel der Angst, die man vor ihnen hatte, ihnen auch das Bewußtsein der Macht entzogen war, büßten sie spürbar an Sicherheit und Haltung ein. Sie hielten sich den ganzen Tag über" - 27. April 1945 - "im Hintergrund, machten ein gönnerhaftes Gesicht, wenn man ihnen begegnete und taten so, als wäre alles das, was sich hier abspielte, mit ein­ begriffen in ihren Plan, dessen Durchführung davon keineswegs berührt, sondern ge­ radezu gefördert würde. Angesichts der Gefahr der Lächerlichkeit riskierten sie keinen der gewohnten ebenso selbstsicheren wie formlosen Auftritte mehr, dafür aber stan­ den sie häufiger in flüsternder Beratung beieinander, wobei ihre finsteren Mienen nichts Gutes über den Gegenstand ihrer Verhandlungen vermuten ließen."

459 Best, Venlo [neident, S. 226fl. Müller, Konsequenz, S. 269. 460 Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 161. 461 Bericht von General Georg Thomas v. 10.7. 1945; Bay HStA, NL Pfeiffer, Nr. 52. 462 Pünder, Preußen, S. 176. 463 VgL Müller, Konsequenz, S. 269. Bericht von General Thomas v. 10.7.1945; Bay HStA, NL Pfeiffer, Nr. 52. 4.4 Hierzu vgL VIII 4. 46' Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 181 ff.; dort auch die folgenden Zitate. 466 Zit. nach Gun, Stunde der Amerikaner, S. 159. 878 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Der Transport verließ Innsbruck und bewegte sich den Brenner hinauf. "Die Hand­ granatenkisten, das wußten wir, standen nicht mehr zuunterst im Lastwagen unter den fest verstauten Haufen unseres Gepäcks, sondern waren beim allgemeinen Umpacken der Wagen mit in den Omnibus gewandert und also dem raschen Zugriff sehr viel nä• her gerückt." Auf der Fahrt die Brennerstraße hinab bemerkte Isa Vermehren an sich selbst wie an ihren Mithäftlingen, "daß wir bei jeder geringsten Verzögerung der Fahrt­ geschwindigkeit ängstlich Umschau hielten, ob irgendein Zeichen in der Umgebung Aufschluß geben könne über das uns bevorstehende Schicksal - eine einsame Mulde z. B. wirkte zutiefst erschreckend gegenüber dem vertraueneinflößenden Anblick eines Dorfes oder eines Gasthofes." Am Morgen des 28. April fand das Umherirren des Eva­ kuiertentransports aus Dachau ein Ende. Er hielt einen knappen Kilometer vor der Ortschaft Niederdorf bei Toblach im Pusterta1.467 "Die SS verließ den Wagen und ver­ sammelte sich zu einer Beratung, fraglos die entscheidendste der ganzen Reise." Das war der Augenblick, in dem die undeutliche Machtbalance wankte und unmerklich ins Rutschen geriet. Bei der SS herrschte Unschlüssigkeit, was nun zu tun sei, da noch nicht alle Busse zur Stelle waren. Als die restlichen Fahrzeuge des Konvois dann ankamen, veranstal­ teten die "Sonderhäftlinge" eine freudig erleichterte Begrüßung und begannen zu murren, wo das Frühstück bliebe; es regnete, war taghell, Niederdorf in Sichtweite. Die Bewacher wurden "immer unsicherer, unser Mut stieg" (General Thomas).468 Ein Teil der Deportierten blieb in den Bussen469 , bei den anderen aber gewann der Drang oberhand, einfach in das schützende Dorf zu gehen. Der größere Teil der Bewacher befand sich schon dort, um für Unterkunft und Verpflegung zu sorgen und selbst erst einmal kräftig zu tafeln. "Die wenigen Posten, die noch geblieben waren, konnten un­ seren Aufbruch nicht verhindern, ein undramatischer Abschluß ihrer mächtigen Kar­ riere eigentlich, denn nun hatten sie ihr Spiel verloren."470 Die meisten SS-Männer, ei­ nige vielleicht erleichtert, dürften gespürt haben, wie ihre Felle davonschwammen, aber es sollte noch eine ganze Weile dauern, ehe sie ihre Niederlage ratifizierten. Dazu bedurfte es einiger deutlicher zusätzlicher Signale und handfester Tatsachen. Im Pustertal bemerkten die SS-Männer sofort, daß sie in eine feindliche Umwelt ge­ raten waren. Die tonangebenden Männer unter der mitgeführten "Prominenz" wur­ den dagegen von einer ihnen gewogenen Umgebung förmlich aufgesogen. Wie jener Heros der Mythologie, der aus der Berührung mit dem Erdboden seine Kraft schöpfte, so zeigten sich mehrere der eben noch hilflosen Gefangenen alsbald in der Lage, mächtige Verbündete herbeizurufen. Den Anfang machte der Partisanengeneral Garibaldi, dessen Anwesenheit sich in Windeseile bei den italienischen Widerstands­ 47I kämpfern herumgesprochen hatte ; bald darauf traten sie auf den Plan. In Nieder­ dorf selbst, wo die noch immer bewachten Evakuierten nun untergebracht wurden, verbreitete sich sofort die Kunde, Bundeskanzler Schuschnigg sei unter ihnen; das trug dazu bei, die Südtiroler Widerstandsbewegung ins Spiel zu bringen.472 General

467 Vgl. JODS, Leben auf Widerruf, S. 142 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). 468 Bericht von General Thomas v. 10.7. 1945; Bay HStA, NL Pfeifter, Nr. 52. 469 JODS, Leben auf Widerruf, S. 142 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). 470 Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 187. Hervorhebung von mir. 471 Vgl. dazu die Version bei Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 186 ff. Müller, Konsequenz, S. 272. 472 Vgl. das bei Pünder, Preußen, S. 177 ft., ausführlich wiedergegebene Dokument des Innsbrucker Universi- tätsprofessors Reut-Nicolussi "Bericht über die Ereignisse am Pragser Wildsee Anfang Mai 1945". 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 879

Georg Thomas lief im Dorf geradewegs seinem alten Freund General Höpfner in die Arme, während es dem bei Hitler in Ungnade gefallenen "Ehrenhäftling" und ehema­ ligen Chef der Operations abteilung im OKH, Oberst Bogislaw von Bonin, gelang, heimlich telefonische Verbindung mit dem Generalstabchef der in Oberitalien stehen­ den deutschen Heeresgruppe C unter Generaloberst Vietinghoff-Scheel aufzuneh­ men.473 Einige der verschleppten Geistlichen waren in der Pfarrei des Ortes, dessen Bevölkerung ohnehin auf seiten der Verschleppten stand, untergekommen474, Jack "Red" Churchill, ein ebenfalls inhaftierter Verwandter des Premierministers, machte sich auf den Weg zu den britischen Verbänden. Geradezu symbolisch wandte jeder Häftling, der die Möglichkeit dazu besaß, sich gegen Ende dieser gefahrvollen Odyssee an "seine" Gruppe, kehrte er dorthin zurück, wo er sich sicher wußte. Noch aber waren die Aufseher und Schergen nicht definitiv ausgeschaltet. Offen­ kundig drängten diejenigen unter ihnen, die ohnehin nichts mehr zu verlieren hatten, auf eine blutige Apotheose. General Halder etwa hörte ein Gespräch zwischen seinen Bewachern mit, die weiteres Zuwarten für sinnlos hielten und dafür plädierten, man solle die Häftlinge "doch so schnell wie möglich in das nächste Seitental fahren und dort ,umlegen'''475. Die bewaffneten Begleiter der "Sonderhäftlinge" machten noch manche drohende Geste, einige gefielen sich in wilden Auftritten, doch war der SS­ Mannschaft klar, daß ein Massaker in letzter Minute der sicherste Weg war, sich jeden Ausweg selbst zu verstellen. Schließlich habe die SS eingesehen, wie Schuschnigg no­ tierte, daß sie "nicht mehr hereinpaßt"476. Spätestens am 30. April erkannte dann auch der entschlossenste SS-Mann, "daß er", wie Garibaldi zu einem von ihnen gesagt ha­ ben soll, "am Ende seiner Reise angekommen" war.477 Es existieren verschiedene, nicht mehr zu entwirrende Versionen darüber, wie und zu welcher Stunde die Rettung für die 137 genau gekommen ist, ob eine zur Hilfe ge­ rufene Wehrmachtseinheit, italienische Partisanen, Südtiroler Widerstandskämpfer oder die Verschleppten selbst den Ausschlag zur glücklichen Rettung des Dachauer "Prominententransports" gegeben haben. Die übelsten Schergen aus der entmachte­ ten Eskorte wurden jedenfalls abgeschoben, verhaftet oder schlugen sich ins Ge­ birge47B ; wer von ihnen sich "anständig" verhalten hatte, erhielt die Chance, in den Reihen deutscher Soldaten zu verschwinden, die bald darauf selbst in alliierte Gefan­ genschaft wanderten.479 Zu sofortiger scharfen Revanche an den Mitgliedern des Begleitkommandos scheint von den glücklichen geretteten Häftlingen niemand geschritten zu sein, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätten. Schließlich war mit der "Evakuierung", wie die Ge­ fangenen vermutet hatten, ein Mordauftrag verbunden gewesen, auch wenn es wenig

473 Bericht von General Georg Thomas v. 20.7. 1945; Bay HStA, NL Pfeiffer, Nr. 52. Am eingehendsten be­ schrieben ist die Rolle Bonins bei BrilI, Bonin, S. 31 ff. 474 Müller, Konsequenz, S. 273. Zum folgenden ebenda, S. 275. Vgl. auch Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 191. 475 Schall-Riaucour, Aufstand und Gehorsam, S. 331. 476 Schuschnigg, Requiem, S. 502 (Tagebucheintragung v. 1. 5. 1945). Zu den verschiedenen Versionen der Befreiung aus den Händen der SS im einzelnen vgl. die hier zitierten Quellen. 477 Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 188. 478 Vgl. Müller, Konsequenz, S. 273. Vgl. auch Pünder, Preußen, S. 179. 479 Es existiert auch ein Bericht, nach dem einige Schergen aus dem in Innsbruck zu dem Transport gestoße• nen Exekutionskommando von Widerstandskämpfern aufgeknüpft worden sein sollen. Vgl. Gun, Stunde der Amerikaner, S. 165. 880 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland wahrscheinlich ist, daß Himmler oder Kaltenbrunner dem Transportführer tatsächlich befohlen hatten, "alle Insassen" zu erschießen, falls der Konvoi durch Feindeinwir­ kung oder Partisanentätigkeit in Bedrängnis geraten sollte.480 Acht bis zehn, vielleicht auch mehr Regime-Gegner, standen aber wohl wirklich auf einer Mordliste. Mehrere Personen des Transports bezeugen, diese mit eigenen Augen gesehen zu haben. Josef Müller - selbst einer der Todeskandidaten - schreibt sogar, einer der Transportführer habe ihm selbst gesagt, es liege ein solcher "Befehl von oben"481 vor, und Schuschnigg notierte: "Man zeigt mir schwarz auf weiß, was ich übrigens schon seit Dachau wußte, daß unsere begleitenden Gestapoleute, die aus Buchenwald abgezogen worden waren, eine Liste mit sich führten mit all den Namen, deren Träger über Auftrag Himmlers umzulegen waren; der unsrige war darunter."482 Dem britischen Hauptmann Payne Best, 1939 in Holland vom SD gekidnapptes Mitglied des Secret Service, seitdem "Sonderhäftling" und nun in Niederdorf dabei, wurde der Befehl des Reichssicher­ heitshauptamtes von einem angetrunkenen SS-Mann in Niederdorf ebenfalls unter die Nase gehalten: "Er wedelte damit heftig herum, und ich konnte nichts lesen, doch handelte es sich um einen Befehl, daß die aufgeführten Häftlinge nicht in Feindes­ hand fallen dürften." Payne sah nur die Vorderseite des Schreibens, auf der sich sein eigener Name und der Name eines britischen Kameraden fand, ferner die Namen von Schuschnigg, Blum, Niemöller, Schacht, Müller, Falkenhausen, Thomas und Halder.483 Isa Vermehren und General Thomas484 bestätigen die Existenz des Exeku­ tionsbefehls, der noch am Nachmittag der Ankunft in Niederdorf von demselben SS­ Führer verbrannt worden sein soll, der schon Josef Müller eingeweiht hatte.485 Am 4. Mai 1945 stellten die von Süden heraufkommenden Amerikaner die inzwi­ schen in einem Berghotel untergekommene internationale Häftlingsgemeinschaft un­ ter ihren Schutz und brachten die meisten prominenten "Dachauer" wenig später über Verona und Neapel in das Hotel "Paradiso" auf Capri, was freilich nicht für alle Deutschen - insbesondere für Schacht und die hohen Militärs nicht - auch schon Be­ freiung bedeutete. Vor ihrer Abreise aus dem Pustertal hatte ein amerikanischer Ge­ neral die Geretteten als Ehrengäste der Army begrüßt. "Mir schwirrte der Kopf", schreibt Hermann Pünder in seinen Memoiren. "Der General hatte das in so warmer Menschlichkeit gesagt, als wenn es alles selbstverständlich wäre. Tränen dankbarer Rührung waren nicht zu verbergen. Nach alledem, was man bis vor ganz wenigen Ta­ gen nun schon im zweiten Jahr Tag und Nacht an Roheit und Niedertracht seitens ei­ gener Landsleute hatte ertragen müssen, wurde mir in diesem Augenblick wie noch nie zuvor schlagartig klar, was wirklich, aber auch wirklich wahre Freiheit und Ach­ tung der Menschenwürde bedeutet. Dieser amerikanische Offizier, obschon doch eben erst aus dem blutigen Kampf gegen uns Deutsche zu uns gekommen, hatte es uns gesagt."486 Isa Vermehren nannte die G.I.s, von denen sie aus den Händen der

'.0 So ebenda, S. 159. 4" Müller, Konsequenz, S. 270. 4.2 Schuschnigg, Requiem, S. 502 (Tagebucheintragung v. 1. 5. 1945). Siehe auch Schall-Riaucour, Aufstand und Gehorsam, S. 331. Halder zählt die meisten Namen von Todeskandidaten auf. 4.3 Best, Venlo Incident, S. 231. 4.4 Bericht General Georg Thomas v. 20. Juli 1945; Bay HStA, NL Pfeiffer, Nr. 52. Thomas spricht von fünf Todeskandidaten. 4., Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 189. 4.6 Pünder, Preußen, S. 182. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 881 eigenen Landsleute gerettet worden war, den "feindlichen Freund, den freundlichen Feind"487. Bald nach der Evakuierung der Sonderhäftlinge trat das Lager Dachau in die näch• ste Stufe seiner Desintegration ein. Amerikanische Tiefflieger tauchten über dem Areal auf, und die Häftlinge konnten am näherrückenden Geschützdonner jetzt selbst erkennen, welche Fortschritte die amerikanischen Truppen machten. Das versetzte der Moral der Wachmannschaften neuerlich einen Stoß, und es mehrten sich überall die Anzeichen, daß die SS im Begriffe stand, mit Sack und Pack abzurücken. Gleich­ zeitig gingen Unmengen von Akten in Flammen auf. 48B Einige Bewacher wurden "einfach widerlich freundlich"489, und unter den Wach soldaten fand sich mancher, der jetzt unaufgefordert damit begann, Insassen des Lagers sein Leid über das schlimme Schicksal zu klagen, das er gewiß bald zu gewärtigen habe490. Am 25. April notierte der Häftling Edgar Kupfer-Koberwitz in seinem Tagebuch, angeblich habe der SS­ Chefarzt des Reviers "heute am späten Abend eigenhändig seine Visitenkarte von der Tür genommen"491. Nicht weniger Sensation machte es bei den jetzt auch noch von Fehlalarmen in Atem gehaltenen Gefangenen, daß der berüchtigte tägliche Zählappell nicht mehr stattfand und der frühere Lagerkommandant, Obersturmbannführer Mar­ tin Gottfried Weiß, mit einem weißen Rot-Kreuz-Wagen durchs Lager fuhr492 - alles niemals für möglich gehaltene Vorkommnisse und untrügliche Zeichen, die das nahe Ende vorauswarf. Aber wie würde dieses Ende aussehen? Nach der Beobachtung des belgischen Häftlings Arthur Haulot wechselte inzwi­ schen "die Lageratmosphäre von Stunde zu Stunde von äußerstem Optimismus bis zu schwärzestem Pessimismus"493. Neben der Angst, kurz vor Ankunft der Amerikaner noch dem Fleckfieber zum Opfer zu fallen oder zu verhungern, wurden die Häftlinge Ende April von einer einzigen Frage gepeinigt: Was planen die fast schon ohnmächti• gen Machthaber für "Dachau"? Das sichere Gefühl, daß darüber in der SS selber noch nicht entschieden sei494 , erhöhte die entsetzliche Ungewißheit noch. Die einfache Übergabe des Lagers an die Amerikaner galt den Insassen angesichts der von überall her eintreffenden Evakuierungstransporte als die am wenigsten wahrscheinliche Vari­ ante. Einige setzten ihre Hoffnung auf eine Eroberung des Lagers durch eine überra• schende alliierte Luftlandung.495 Die meisten Häftlinge aber glaubten, vor der furcht­ baren Alternative der Massenliquidierung oder der Massenevakuierung zu stehen. Da aber ein Massenmord an Zehntausenden von Gefangenen selbst für die mordgewohn-

487 Vermehren, Reise durch den letzten Akt, S. 176. 488 Zur Desintegration des Lagers in der zweiten Aprilhälfte vgl. u. a. die folgenden Aufzeichnungen und Be­ richte: Rost, Goethe in Dachau, S. 220fl. Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 244fl. Steinbock, Ende von Dachau, S. 17 ff. Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 148fl. 489 Rost, Goethe in Dachau, S. 226 (Tagebucheintragung v. 23.4. 1945). 490 Vgl. Steinbock, Ende von Dachau, S. 18. 491 Kupfer.Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 249 (Tagebucheintragung v. 25.4. 1945). 492 Vgl. dazu etwa: Rost, Goethe in Dachau, S. 228 (Tagebuch eintragung v. 24. 4. 1945). Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 172 (Tagebucheintragung v. 25.4. 1945). Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 247 (Tage­ bucheintragung v. 23.4. 1945). Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 33 (Tagebucheintragung v. 25.4. 1945). 493 Haulot, Lagertagebuch, S. 190 (Tagebucheintragung v. 21. 4. 1945). 494 Siehe Michelet, Freiheitsstraße, S. 246. Siehe auch Rost, Goethe in Dachau, S. 225 (Tagebucheintragung v. 21.4.1945). 49' Vgl. Joos, Leben auf Widerruf, S. 138 (Tagebucheintragung VOr dem 23. 4. 1945). Steinbock, Ende von Da­ chau, S. 21. Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 64 (Tagebucheintragung v. 11.2. 1945), S. 68 (Tagebuchein· tragung v. 12.2. 1945) und S. 87 (Tagebucheintragung v. 28.3. 1945). 882 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland ten Organe des Regimes in diesem Stadium des Krieges schon rein technisch keine Kleinigkeit mehr war und von manchem moralisch an sich längst indifferent geworde­ nen SS-Mann darüber hinaus zweifellos als Torheit angesehen wurde496, war der Eva­ kuierungsbefehl bei Feindannäherung diejenige Bedrohung, mit der Ende April am ehesten zu rechnen war. Daß die Evakuierung einem Todesurteil nahekam, wußten alle. Jedermann kannte die Verfassung der kranken und ausgezehrten Mithäftlinge, je­ den Tag sah man die ausgemergelten Überlebenden der Todesmärsche auf den Ap­ pellplatz wanken, jeder wußte um die Todesrate in den vollgestopften, mitunter wo­ chenlang umherirrenden Güterwaggons der Häftlingstransporte. "Evakuieren oder Nicht-Evakuieren - das ist die Frage!" notierte der niederländische Literat Nico Rost am 21. April 1945 in sein Tagebuch. "Wahrscheinlich wird unser Leben davon abhän• gen." Einige in der Lagermannschaft, beobachtet er, seien "absolut für unsere Ab­ schlachtung oder Evakuierung (was auf dasselbe herauskommt)"497. Der Massenmord durch Evakuierung498 der Konzentrations- und Vernichtungsla­ ger, der schon im Sommer 1944 in ersten Befehlen vorgezeichnet wurde499 , hatte im Winter 1944/45 mit den Todesmärschen Hunderttausender von Häftlingen aus dem Osten seinen Höhepunkt erreicht.50o Ursprünglich diente die Fortführung der Gefan­ genen nicht in erster Linie deren Vernichtung unterwegs, sondern es ging der NS­ Führung auch darum, die Spuren ihres Lagerkosmos zu tilgen und die Arbeitsfähigen zur weiteren Verwendung ins Innere des Reiches zu bringen. Die Vernichtungsmär• sche aus den Lagern des Ostens sind, obwohl das heute nicht mehr in allen Details 501 aufzuklären ist , von Berlin aus in Gang gesetzt worden, und zwar auf Befehl Himm­ lers von der Amtsgruppe D (SS-Gruppenführer Richard Glücks) des SS-Wirtschafts­ verwaltungshauptamtes. Die Terrorzentrale "Reichssicherheitshauptamt" (RSHA) un­ ter Ernst Kaltenbrunner war insofern eingeschaltet, als sie zwar nicht die Räumung ganzer Lager anordnen, aber natürlich - wie es gegen Kriegsende laufend geschah - gezielt befehlen konnte, daß einzelne Personen bzw. Personengruppen zu ermorden oder eben (wie die 137 in Dachau zusammengezogenen "Sonderhäftlinge") abzutrans­ portieren seien. In den letzten Monaten des Krieges begannen sich solche Zuständig• keiten freilich mehr und mehr zu verwischen.

Heinrich Himmlers Evakuierungs-"Politik{{ Vor allem aber traten bei Heinrich Himmler und seiner engeren Umgebung mit zu­ nehmender Verschlechterung der militärischen Lage des Reiches weiterreichende Überlegungen in den Vordergrund. Welches Kapital, so fragten sich einige Spitzen­ funktionäre des Terrorapparates, ließe sich für das Regime oder wenigstens für einen selbst aus der Tatsache schlagen, daß man noch immer die Verfügungsgewalt über Le­ ben und Tod hunderttausender Gefangener in den Konzentrationslagern besaß?

496 Hierzu die Überlegungen bei Berben, Dachau, S. 18Of. 497 Rost, Goethe in Dachau, S. 224f. (Tagebucheintragung v. 21. 4. 1945). 498 So treffend Eberhard Kolb, Bergen-Belsen. Geschichte des ,,Aufenthaltslagers" 1943-1945, Hannover 1962, S. 126. 499 Vgl. Peter R. Black, Ernst Kaltenbrunner. Ideological Soldier of the Third Reich, Princeton 1984, S. 250; auch zum folgenden. 500 Vgl. oben in diesem Kapitel. 501 Die Frage der Verantwortlichkeit für die Evakuierung der Konzentrationslager ist präzise dargelegt bei Kolb, Bergen-Belsen, S. 126fl., S. 186ff. und S. 299fl. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 883

Zu dieser "flexiblen" Gruppe in dem von immer schärfer und offener geführten in­ ternen Machtkämpfen ergriffenen Terrorapparat zählte neben dem "Reichsführer-SS" selbst und dessen persönlichem Referenten, SS-Standartenführer Rudolf Brandt, vor allem SS-Brigadeführer Walter Schellenberg, der Leiter des Amtes VI (SD-Ausland) im RSHA. Als Verfechter eines kompromißlos-dogmatischen Kurses, bei dem sie sich ganz im Einklang mit Hitler fühlen konnten, galten SS-Obergruppenführer Oswald Pohl (Chef des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes), SS-Gruppenführer Richard Glücks, SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann (Leiter des Referates für Judenan­ gelegenheiten im RSHA) und der Gestapo-Chef, SS-Gruppenführer Heinrich Müller, vor allem aber SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner.502 Wenn überhaupt, dann gestatteten sich diese "hardliner" unter den höchsten SS-Führern Abweichungen vom Hitlerschen Untergangs- und Vernichtungskurs allenfalls erst im späten April 1945, und zwar aus beinahe schon privatem Gutdünken heraus, als nichts und niemand sie mehr band. Himmler, der schon seit längerem mit dem Gedanken eines Separatfriedens im Westen gespielt und über den Auslandsnachrichtendienst der SS wiederholt auch ver­ sucht hatte, Kontakte dorthin zu knüpfen503 , hatte bereits ab Frühjahr 1944 seine An­ strengungen intensiviert, mit den Westmächten ins Gespräch zu kommen. Beeinflußt und unermüdlich befeuert von Schellenberg, glaubte er, ihm könne es im entschei­ denden Augenblick gelingen, die bedingungslose Kapitulation Deutschlands abzu­ wenden und vielleicht sogar einen Friedensschluß mit Großbritannien und den Verei­ nigten Staaten zu arrangieren (eine Verständigung mit Stalin hielt er für unerwünscht und auch für unerreichbar). Als seine größte "Trumpfkarte"504 sah er dabei die noch unter seinem Zugriff stehenden Juden an. Diese Überlebenden des Holocaust wollte er als sein Hauptpfand gebrauchen, das Angebot ihrer etwaigen Schonung bei passen­ der Gelegenheit in die Waagschale werfen. Himmler, dem von Schellenberg bereits imJuni 1944 suggeriert worden war, es müsse "etwas für die in deutschen Konzentra­ tionslagern befindlichen Juden getan werden"50S, verstand die in seiner Hand verblie­ benen Juden nicht als gewöhnliche Geiseln, vielmehr war er von einern bestimmen­ den, für Deutschlands Schicksal jetzt möglicherweise entscheidenden Einfluß des Ju­ dentums auf die Regierungen und die öffentliche Meinung in den westlichen Demo­ kratien überzeugt. Das machte in seinen Augen die jüdischen Häftlinge nun so wert­ voll. Zum Wiener Gauleiter Baldur von Schirach sagte er kurz vor Kriegsende, die Juden seien bei allen Verhandlungen als Pfand sehr wichtig, sie seien sein "bestes Ka­ pital"506. Die immer stärker von diesem Kalkül bestimmten Aktivitäten Himmlers traten schließlich so sehr in den Vordergrund, daß sie im Frühjahr 1945 die Evakuie-

'02 Vgl. Hans Günther Adler, Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psychologie, Tübingen, 2., verbesserte und ergänzte Auflage 1960, S. 186. 503 Siehe Reimer Hansen, Das Ende des Dritten Reiches. Die deutsche Kapitulation 1945, Stuttgart 1966, S. 54. Vgl. auch Walter Schellenberg, Aufzeichnungen. Die Memoiren des letzten Geheimdienstchefs un­ ter Hitler, Wiesbaden 1979, insbes. S. 272 ff. Zum Quellenwert der Schellenberg-Memoiren siehe neben Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 52 ff., die Einleitung VOn Alan Bullock zur englischen Fassung (Wal­ ter Schellenberg, The Schellenberg Memoirs, London 1956, S. 9 !f.). 504 So der Chef des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes Oswald Pohl in seiner Eidesstattlichen Erklärung v. 3.4.1947; IfZ-Archiv, Nürnberger Dokumente, NO-2736, BI. 4039. '0' Schellen berg, Aufzeichnungen, S. 349. ,o6 Aussage Baldur von Schirachs im Nürnberger Prozeß am 24. 5. 1946; [MT, XIV, S. 484. Vgl. auch Fraenkel, Manvell, Himmler, S. 208 und S. 246, Anm. 38. 884 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

rungs-"Politik" des Regimes wesentlich beeinflußten und so das Schicksal sämtlicher - nicht nur der jüdischen - Lagerinsassen unmittelbar berührten. Gewiß waren es Verblendung und "stupender Mangel an Realitätssinn"507, die Himmler zu der Hoffnung führten, die Alliierten würden sich ausgerechnet in einer Phase militärischer Triumphe von ihrer Forderung nach einer bedingungslosen Kapi­ tulation abbringen lassen und überdies ausgerechnet einen NS-Granden, der der Welt als Geißel der Menschheit galt, als Gesprächspartner akzeptieren. In den engen Gren­ zen des Himmlerschen Horizonts war es freilich kein so "bizarrer Einfall"508, nach der von ihm ins Werk gesetzten Vernichtung von Millionen europäischer Juden509 den Versuch zu machen, sich als Staatsmann zu geben, sich so einen "passenden Ruf auf­ zubauen" und sich damit eine "Eintrittskarte für die Gesellschaft anständiger Men­ schen zu beschaffen"51o. Zwar wußte der "Reichsführer-SS" ungefähr, welchen Ruf er in der Weit genoß, aber er konnte sich Anfang 1945, nach all den Anstrengungen des Regimes, den Völ• kermord absolut geheimzuhalten und die Spuren im Osten zu tilgen, mit einer gewis­ sen Berechtigung einreden, die wirkliche Dimension des Holocaust und die Rolle der Regimespitze dabei werde nie wirklich ganz ans Licht kommen. Die Überlebenden waren seit Februar/März 1945 in die Lager zwischen Rhein und Oder gepfercht, und wenn es dem Feind nicht gelang oder wenn dieser durch einen entscheidenden diplo­ matischen Schritt oder durch erpresserisches Spiel mit dem Leben Zehntausender jü• discher und anderer Häftlinge davon abgebracht werden konnte, die Kemterritorien des Reiches zwischen diesen vermeintlichen Strombarrieren zu besetzen, dann würde der Holocaust - ohne genügend Zeugen und Beweisdokumente - wohl irgendwie ver­ tuscht bleiben können. (Das Erschrecken der Alliierten bei der Befreiung der Konzen­ trationslager zeigt, daß Himrnler in diesem Punkt nicht ganz falsch kalkulierte.) In dieser von ihm herbeigeführten ganz neuen politisch-militärischen Konstellation wür• den sich die "flexiblen" Kräfte in der SS-Führung und an der Spitze des Staates viel­ leicht behaupten können - alles das natürlich verzweifelte Autosuggestion und von der immer deutlicher werdenden Ausweglosigkeit der Lage diktiertes Wunschdenken. Aber welcher andere Weg der Realitätsflucht blieb dem ein Jahr zuvor noch zweit­ mächtigsten Mann Europas, der jetzt um sein eigenes Leben zu fürchten begann, ei­ nem mit nachgerade naiver Unkenntnis des Westens geschlagenen Manne, dem der Gedanke völlig fremd gewesen sein muß, die feierliche Berufung des amerikanischen und britischen Kriegsgegners auf die Werte einer freiheitlich-humanen Zivilisation könne mehr als bloße Propaganda sein? Da er als Großinquisitor und Oberhaupt des nationalsozialistischen Ordens nun selbst daran ging, heiligste Kernstücke des Natio­ nalsozialismus - unversöhnlicher Judenhaß und unwandelbare Treue im Kampf für das Deutschland Adolf Hitiers - einer Realpolitik, wie er sie verstand, zu opfern, wes­ halb sollten da nicht auch die Westmächte (denen die Sowjetunion gewiß bald über

'07 Joachim Fest, Heinrich Himmler. Kleinbürger und Großinquisitor, in: ders., Das Gesicht des Dritten Rei­ ches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1963, S. 173. '08 Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945, Berlin 1956, S. 494. '09 Von Roosevelt war die Judenvernichtung im März 1944 erstmals öffentlich unter die NS-Verbrechen ein­ gereiht worden. Vgl.Jean-Claude Favez, Das Internationale Rote Kreuz und das Dritte Reich. War der Ho­ locaust aufzuhalten?, München 1981, S. 446. 510 Reitlinger, Endlösung, S. 512 und S. 536. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 885 den Kopf wachsen würde) zu ebensolcher Cleverness und zu dem gleichen realpoliti­ schen Zynismus fähig sein wie er selbst? Unter strengster Geheimhaltung, aber im Einklang mit einer auch in der Bevölke• rung und in der Wehrmacht weitverbreiteten Hoffnung, es könne gelingen, die Anti­ Hitler-Koalition zu spalten und Großbritannien und die Vereinigten Staaten zu ech­ ten Konzessionen oder gar zu einem Bündnis mit dem Dritten Reich gegen die Sowjetunion zu bewegen, ließ Himmler (parallel zur planmäßigen Fortführung des Massenmords und zu einer noch intensivierten Gegnerbekämpfung) seit Mitte 1944 also auf mehreren Ebenen und an verschiedenen Schauplätzen gleichzeitig Fühler ausstrecken, um zu den "ersehnten Verhandlungen mit dem Westen"5!! zu kommen. Er hoffte, an irgendeiner Stelle einen Kontakt herstellen zu können, der sich als aus­ baufähig erweisen würde. Den Westmächten ihrerseits war es im Sommer 1944 rasch klargeworden, daß es dem deutschen Massenmörder bei seinen seltsamen Aktivitäten in Wirklichkeit um nichts weniger als um einen Sonderfrieden zu tun war. Seit Mai 1944 beteiligte sich eine Vielzahl von Persönlichkeiten und Organisatio­ nen an dem nunmehr aussichtsreicher erscheinenden "Kampf gegen die ,Endlösung der Judenfrage"'5!2 und an der Rettung der "Überreste"513 der europäischen Juden­ heit. Obgleich es dabei von seiten der SS zu den zynischsten Angeboten kam - Last­ wagen, Traktoren, Geld gegen Leben -, ging es Himmler bei solchen "Schacherge­ schäften um Menschenleben"5!4 keineswegs in erster Linie darum, für Deutschland Devisen oder Kriegsmaterial herauszuschlagen, sondern darum, bei seinen Bemühun• gen, "über die Juden"5!5 ins Gespräch mit dem Westen zu kommen, solche Praktiken als Tarnung gegenüber der unnachgiebigen Fraktion innerhalb des Terrorapparates und der nationalsozialistischen Führungsclique sowie vor allem gegenüber Hitler selbst zu benutzen. In den zehn Monaten zwischen Mai 1944 und Februar 1945 gelangten im Rahmen solcher dramatischen und überaus komplizierten Kontakte tatsächlich knapp 3000 Ju­ den in Freiheit.5 !6 Im Oktober hatte Himmler Kaltenbrunner den Befehl gegeben, wonach keinem Juden in den Konzentrationslagern mehr "etwas zugefügt"517 werden dürfe, und einen Monat später stoppte er die Vergasungen in Auschwitz. Die bezeich­ nende Schizophrenie der Parallelität von Verhandlungswunsch und weitergeführter

511 Yehuda Bauer, "Onkel Saly" - Die Verhandlungen des Saly Mayer zur Rettung der Juden 1944/45, in: VfZ 25 (1977), S. 205. Zur folgenden Feststellung eben da, S. 193. 512 So der Titel einer Studie Hans Günther Adlers, Bonn 1958. Zu den Versuchen, die ungarischen Juden vor dem Weg in den Tod zu bewahren, siehe Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 907 H. und S.I209ff. 513 So Yehuda Bauer, American Jewry and the Holocaust. The American Jewish Joint Distribution Committee, 1939-1945, Detroit 1981, S. 435 H. (Kapitel ",11 :59': Saving the Remnants"). Dieses Werk bietet den be­ sten Überblick über die zahlreichen Versuche, Juden vor dem Holocaust zu retten. Vgl. auch die beiden Zeugnisse: Andreas Biss, Der Stopp der Endlösung. Kampf gegen Himmler und Eichmann in Budapest, Stuttgart 1966. Rudolf Kastner, Der Kastner-Bericht über Eichmanns Menschenhandel in Ungarn, Mün• chen 1961. 514 Reitlinger, Endlösung, S. 492. 515 Dieses und das folgende Zitat bei Bauer, "Onkel Saly", S. 193 und S. 201. Vgl. auch: Andreas Biss antwor­ tet Yehuda Bauer, in: VfZ 27 (1979), S. 164. 516 Im August 1944 gelangten 318, Anfang Dezember 1944 1368 Juden aus Bergen-Belsen in die Schweiz, Anfang Februar 1210 Juden aus Theresienstadt. Diese Zahlen nach Bauer, "Onkel Saly", S. 197, S. 211 und S. 213. Vgl. auch Reitlinger, Endlösung, S. 504 und S. 525. Favez, Internationales Rotes Kreuz, S. 460 und S. 489. Adler, Kampf gegen die "Endlösung", S. 100 und S. 104. 517 Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 350. 886 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Vernichtung zeigte sich freilich darin, daß in den Monaten zuvor weitere Hunderttau­ sende ermordet worden waren. Und bald darauf starben wiederum Hunderttausende auf den Evakuierungstransporten und Todesmärschen aus dem Osten, ungezählte un­ garische Juden auf dem berüchtigten Evakuierungsmarsch von Budapest zur damali­ gen Reichsgrenze im November 1944.518 In ebendieser Zeitspanne hatte sich Himm­ ler mit einer der Schlüsselfiguren dieser Kontaktanbahnung, dem früheren Präsiden• ten der Eidgenossenschaft Jean-Marie Musy, sogar zweimal persönlich getroffen (im Oktober 1944 und im Januar 1945) und bei der zweiten Unterredung auch sehr weit­ reichende Zusagen über die Ausreise von Juden aus dem inzwischen stark ge­ schrumpften deutschen Machtbereich gegeben.519 Musys Gegenleistung, das war den beiden ungleichen Partnern klar, bestand darin, in der Welt auf den "angebahnten po­ litischen Wandel Deutschlands" hinzuweisen.52o Nach zwei ersten "Lieferungen" von insgesamt 1684 jüdischen Häftlingen aus Ber­ gen-Belsen in die Schweiz in der zweiten Jahreshälfte 1944 fanden Tauschgeschäfte dieser Art Anfang Februar 1945 mit der Ausreise von 1210 Juden aus Theresienstadt (ebenfalls in die Schweiz) ihr abruptes Ende. In der Neuen Zürcher Zeitung war näm• lich am 8. Februar eine Meldung erschienen, in der es hieß, Altbundespräsident Musy habe diese Überführungsaktion aufgrund der "persönlichen Genehmigung Himmlers" durchführen können. Er sei zuversichtlich, "möglicherweise wöchentliche ähnliche Transporte erreichen" zu können.521 Diese Eröffnung Musys war für die Widersacher Himmlers, namentlich für Kaltenbrunner, ein gefundenes Fressen. Sie versäumten es nicht, Hitler auf die unschwer durchschaubaren Machinationen des "Reichsführers-SS" aufmerksam zu machen. Es kam zu einem schweren Zusammenstoß zwischen Himm­ ler und dem "Führer", dem dieser "auf geradezu pathologische Weise verfallen war"522. Die unmittelbare Folge dieser fürchterlichen Szene523 - abgesehen davon, daß diese Konfrontation den instabilen, schwankenden und von seiner Rolle bei Kriegs­ ende gänzlich überforderten Himmler wieder einmal ganz krank machte - war es, daß Hitler den Befehl erließ, "jeder Deutsche, der einem jüdischen, englischen oder ameri­ kanischen Gefangenen zur Flucht verhelfe, sei sofort hinzurichten"; über jeden derar­ tigen Fall sei er unverzüglich zu informieren.524 Damit war eine weitere ,,Ausfuhr" von jüdischen Häftlingen aus Theresienstadt und Bergen-Belsen - jenen beiden dem westlichen Ausland und den internationalen jüdischen Hilfsorganisationen wirklich geläufigen Lagern für Juden525 - unmöglich geworden.526

518 Vgl. Bauer, "Onkel Saly", S. 208. 519 Nach Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 350, kam es in Wildbad im Schwarzwald zu folgender Überein• kunft: ,,Alle zwei Wochen sollte ein Transport von zwölf- bis dreizehnhundert Juden aus den Konzentra­ tionslagern nach der Schweiz verbracht und der Weitertransport in die USA von Dr. Musy übernommen werden." 520 Ebenda. "I Neue Zürcher Zeitung, 8. 2. 1945; zit. nach Adler, Kampf gegen die "Endlösung", S. 1041. Diese Ankündi• gung Musys bestätigt die von Schellenberg überlieferte Zusage, die Musy von Himmler bei deren Zusam­ mentreffen im Januar 1945 in Wildbad gemacht worden ist. Vgl. Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 350. 522 Fest, Himmler, in: ders., Gesicht des Dritten Reiches, S. 171. 523 Vgl. Reitlinger, Endlösung, S. 525. Siehe hierzu vor allem: Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 351. Graf Folke Bernadotte, Das Ende. Meine Verhandlungen in Deutschland im Frühjahr 45 und ihre politischen Folgen, Zürich 1945, S. 361. 5" Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 351. "5 Bauer, American Jewry, S. 436; als drittes nennt Bauer noch das Lager Vittel. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 887

Die militärische Lage des Reiches hatte sich in den vier Wochen nach dem Treffen Himmler-Musy Anfang Januar 1945 und der Intervention Hitlers im Februar so gründlich verschlechtert (die Rote Armee stand an der Oder), und sie verschlechterte sich in den folgenden vier Wochen weiter derart (Eisenhowers Truppen erreichten den Rhein), daß die Verfrachtung von Tausenden jüdischer Häftlinge per Bahn in die Schweiz vielleicht ohnehin hätte eingestellt werden müssen. Zugleich hatte sich die Dringlichkeit, mit den Westmächten nun endlich konkrete Gespräche aufzunehmen, beträchtlich erhöht, wenn diese überhaupt noch einen Sinn haben sollten. Noch im­ mer verfügte Himmler in Gestalt der ungefähr 250-300.000527 überlebenden Juden 528 (die meisten von ihnen ungarische Juden ) und auch der nichtjüdischen ausländi• schen Gefangenen über ein Druckmittel, mit dessen Hilfe er begieriger denn je wenn schon nicht das Dritte Reich, so doch wenigstens seine eigene Haut retten wollte. Die Freilassung weiterer jüdischer Häftlinge war nach der Intervention Hitlers zwar unmöglich geworden, aber deren Leben hing weiterhin daran, wie die SS-Führung in den kommenden Wochen des Zusammenbruchs mit ihnen zu verfahren gedachte. Der vermeintliche Trumpf Himmlers war durch das Machtwort Hitlers nur wenig ent­ wertet worden, denn es lag, wie die internationalen jüdischen Hilfsorganisationen sehr wohl wußten, weiterhin in der Macht des "Reichsführers-SS", seine Geiseln entweder zu schonen oder sie in letzter Minute noch durch Mordaktionen oder eine Neuauflage der Massenevakuierungen zu vernichten. Da mittlerweile nur zu deutlich geworden war, daß die Verschleppung der erschöpften Insassen aus ihren Lagern beinahe soviel bedeutete wie ein Todesurteil, konzentrierten sich die wiederum auf mehreren Ebe­ nen zugleich unternommenen Anstrengungen, das Leben der Häftlinge zu retten, in erster Linie darauf, eine Evakuierung der Lager zu verhindern und statt dessen ihre Übergabe mit allen Insassen an die Alliierten zu erreichen. Obgleich die Frage von Evakuierung oder Nichtevakuierung sämtliche Häftlinge in den Hunderten von Haupt- und Nebenlagern existenziell berührte, ging es Himmler in dem letzten Vier­ teljahr des Krieges - es konnte freilich diesen Anschein haben und wurde meist auch so aufgefaßt - keineswegs um eine generelle Nichtevakuierung sämtlicher Konzentra­ tionslager zwischen Rhein und Oder, sondern darum, durch Nichtevakuierung der jü• dischen Häftlinge (insbesondere der in Bergen-Belsen und Theresienstadt inhaftierten privilegierten Gefangenen unter ihnen) dem Westen seinen "guten Willen" zu signali­ sieren. Die neue Phase der noch mit erhöhter Intensität fortgeführten Sonderbestrebungen Himmlers begann in den Tagen, als die NS-Führung Mitte Februar 1945 die Erklä• rung der Großen Drei in Jalta als ihr Menetekel zur Kenntnis nehmen mußte. Haupt­ sächliche Gesprächspartner der "realpolitischen" Kräfte um Himmler waren ab die­ sem Zeitpunkt vor allem schwedische Vertreter des Jüdischen Weltkongresses und Graf Folke Bernadotte, Neffe des schwedischen Königs Gustav V. und Vizepräsident des Schwedischen Roten Kreuzes.529 Bernadotte, wahrscheinlich ermutigt durch die

5" Ein weiterer Transport mit 1800 Juden aus Bergen-Belsen war bereits zusammengestellt, wurde aber nach der Intervention Hitlers nicht mehr durchgeführt; Kolb, Bergen-Belsen, S. 152. 521 Vgl. Bauer, American Jewry, S. 452. Reitlinger, Endlösung, S. 524 und S. 674, Anm. 35. Adler, Kampf ge­ gen die "Endlösung", S. 108. Sowie Adler, Theresienstadt, S. 199. 528 Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 1219, Anm. 259. 529 Dem Internationalen Roten Kreuz gelang es nicht vor Januar 1945, mit führenden SS-Funktionären in Kontakt zu kommen. Vgl. hierzu Favez, Internationales Rotes Kreuz, S. 483 ff. 888 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

erfolgreiche Rettungstat Musys (der auch nach der Intervention Hitlers seme Kon­ takte zu Schellenberg aufrechterhielt, um eine Verschleppung der Juden zu verhin­ dernBO), begab sich Anfang Februar in enger Abstimmung mit seiner Regierung nach Berlin, um bei Himmler die Freilassung der norwegischen und dänischen Häftlinge aus den verschiedenen deutschen Lagern zu erreichenBI; die Frage der Rettung von Juden bzw. der Nichtevakuierung jüdischer Gefangener hatte für ihn demgegenüber nicht dieselbe Priorität.B2 Die Mission Bernadottes, in deren Verlauf ab Anfang März die skandinavischen Lagerinsassen nach und nach in Neuengamme zusammengezo­ gen wurden, entwickelte sich zur bedeutendsten Rettungsaktion überhaupt. Fast 21.000 Gefangene kamen dadurch vor Kriegsende frei (und nach Südschweden in Si­ 533 cherheit), ungefähr 6500 von ihnen Juden. Viermal (erstmals am 19. Februar 1945 ) traf der schwedische Unterhändler mit Himmler zusammen. Dabei setzte der "Reichs­ führer-SS" von Mal zu Mal größere Hoffnungen darauf, es werde dieser Gesprächs• draht sein, über den er die Westmächte doch noch mit seinem Friedensangebot be­ kannt machen könne. In etwa parallel zur Initiative Folke Bernadottes schaltete sich Ende Februar 1945 in den insgesamt fast ein ganzes Jahr dauernden Wettlauf um Himmlersche Zuge­ ständnisse auch der Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in Schweden ein, der selbst schon manches zur Linderung des Schicksals jüdischer Häftlinge unternommen hatte und sich insbesondere um das Lager Bergen-Belsen sorgte.5J4 Er verstand es, nach vorausgegangener Kontaktaufnahme zu Bernadotte eine stabile Verbindung zu einer weiteren Schlüsselfigur am Hofe des "Reichsführers-SS", zu dem finnischen Arzt Felix Kersten, herzustellen, der in diesen letzten Kriegsmonaten zwischen sei­ nem Wohnsitz in Schweden und Himmlers Quartier pendelte. Der erfolgreiche Heil­ behandler und Masseur, der seine persönlich bedingte ImmediatsteIlung bei Himmler (der von seinem "Leibarzt" beinahe abhängig warB5) zu mancher humanitären Großtat zu nutzen wußte, der schon in die Rettungsaktionen der zweiten Jahreshälfte 1944 eingeschaltet gewesen warB6 und der auch der Bernadotte-Mission den Weg ebnen half, begann im Zusammenspiel mit Schellenberg Anfang März 1945 in intensiven Gesprächen damit, seinen Einfluß auf Himmler erneut zur Geltung zu bringen.5J7 Vielleicht mitbeeinflußt von der Meldung, daß erste amerikanische Kontingente bei Remagen über den Rhein gegangen seien und damit die letzte vermeintliche Barriere ins Wanken gebracht hatten, machte der als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel mittlerweile definitiv gescheiterte Massenmörder weitreichende Zusagen: Sie schienen auf eine generelle Schonung des Lebens sämtlicher Häftlinge in den deutschen Konzentrationslagern hinauszulaufen.

530 Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 352 f. 531 Im einzelnen hierzu Steven Koblik, "No Truck with Himmler". The Politics of Rescue and the Swedish Red Cross Mission, March-May 1945, in: Scandia 51 (1985), S. 173 ff. Dort auch die Zahlenangaben zu die­ ser Rettungsaktion sowie zahlreiche Details der schwedischen Rettungsbemühungen seit Februar 1945. 532 Vgl. Gerald Fleming, Die Herkunft des "Bernadotte-Briefes" an Himmler vom 10. März 1945, in: VfZ 26 (1978), S. 571ff. 533 Bernadotte, Ende, S. 32. Siehe auch Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 355 f. 534 Adler, Kampf gegen die "Endlösung", S. 107. m Vgl. die Beschreibung der Stellung Kerstens bei Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 2761. 536 Vgl. Felix Kersten, Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform, Hamburg 1952, S. 271 ff. '" Ebenda, S. 333 f. Wortlaut des im folgenden erwähnten ,,Abkommens" vom 12. März 1945 ebenda, S. 343. Vgl. auch ebenda, S. 353 f. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 889

Der nun immer mehr unter Zeitdruck geratende Himmler ging diese Verpflichtun­ gen am 12. März 1945 in Form eines ,,Abkommens" mit dem unermüdlich bohren­ den Kersten ein. Darin sicherte der "Reichsführer-SS" seinem Heilbehandler und da­ mit seinen schwedischen Verhandlungspartnern zu, "den Befehl Hitlers, die Konzen­ trationslager beim Herannahen der Alliierten in die Luft zu sprengen", nicht weiterzu­ geben und "jede Sprengung ebenso wie die Tötung von Gefangenen" zu verbieten. Die Konzentrationslager würden nicht geräumt, "die Gefangenen vielmehr dort gelas­ sen, wo sie sich zur Zeit befinden". Außerdem sagte Himmler den Erlaß folgender Anordnung zu: "Die Konzentrationslager sind beim Herannahen der Alliierten ord­ nungsgemäß mit weißen Fahnen zu übergeben." Die im Kalkül des "Reichsführers" - daran läßt die dargelegte Vorgeschichte keinen Zweifel- entscheidende, ganz in der Kontinuität seines Verhaltens seit dem Sommer 1944 liegende Passage freilich lau­ tete: ,Jede weitere Tötung von Juden wird eingestellt und verboten. Die Juden werden den übrigen Häftlingen gleichgestellt." Es ist unstrittig, daß Hitler (wie Himmler seinem Vertrauten Kersten auch glaub­ würdig erzählt hat) eine ganz klare, diametral andere Vorstellung vom Schicksal der in den Konzentrationslagern Gefangenen hatte: "Wenn das nationalsozialistische Deutschland schon zu Grunde gehen soll, dann sollen seine Feinde und die ganze Bande von Kriminellen, die jetzt in den Konzentrationslagern sitzen, nicht den Triumph erleben als Sieger herauszukommen. Sie sollen den Untergang teilen."538 In solchen und ähnlichen Worten muß Hitler 1945 seine Absichten gegenüber seinen engsten Mitstreitern539 wiederholt kundgetan haben, und es gibt kein Indiz dafür, daß sich diese Vernichtungsmanie bis zum Tage seines Selbstmordes am 30. April 1945 gelegt haben könnte. Mit seiner Konterkarierung der Hitlerschen Vernichtungsentschlossenheit, wie sie in dem ,,Abkommen" mit Kersten zum Ausdruck kam, schien Himmler sämtliche zwischen Rhein und Oder verbliebenen Lager schonen zu wollen, in Wirklichkeit kam es ihm aber darauf an, sein letztes verbliebenes Pfand, nämlich das Leben seiner jüdischen Geiseln, nicht zu entwerten. Da Himmler sein, aus der Sicht des Regimes, hochverräterisches Spiel hinter dem Rücken Hitlers gerade auf der Preisgabe des Kernbestandes der nationalsozialistischen Ideologie aufgebaut hatte und diese Unge­ heuerlichkeit von den "hardlinern" in der SS jederzeit aufgedeckt und Hitler hinter­ bracht werden konnte, erschien es ihm wie schon bei den zurückliegenden "Schacher­ geschäften" mit jüdischem Leben auch diesmal wieder angeraten, für ausreichende Tarnung zu sorgen und die zentrale Stoßrichtung seiner Strategie sogar in dem mit seinem Arzt geschlossenen ,,Abkommen" durch Einbettung in einen umfassender wirkenden Kurs nicht allzu deutlich werden zu lassen. Hinter Himmlers Zusagen hinsichtlich des Umgangs mit den Lagern und ihren In­ sassen von Mitte März 1945 stand also nicht etwa die prinzipielle Sorge um die bruta­ len Folgen von Evakuierungen aus den Konzentrationslagern des Reiches allgemein, sondern es kam ihm zum Zeitpunkt des Eindringens der Amerikaner und Briten ins Innere des Reiches in diesem Punkte vor allem auf die Schonung der beiden Lager an,

538 Kersten, Totenkopf, S. 343. 539 Bei Albert Speer, Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzungen mit der SS, Stuttgart 1981, S. 335, ist zu lesen, Hitler habe in den letzten Wochen des Krieges mehrmals betont, "daß die Konzentrationslager beim Herannahen der Alliierten mit allen Insassen in die Luft zu sprengen seien". 890 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

die allgemein als Haftstätten für Juden bekannt waren: das Ghetto Theresienstadt und das 1943 eingerichtete ,,Austauschlager" und "Erholungslager" Bergen-Belsen nörd• lich Hannovers mit im März 1945 etwa 7500 sogenannten Austauschjuden verschie­ denster Nationalität.Ho In diesen beiden Lagern waren jene "privilegierten Grup­ pen"Hl von Juden zusammengezogen, die Himmler bei seinen Avancen gegenüber den Westmächten am wirkungsvollsten kapitalisieren zu können glaubte, von hier wa­ 542 ren die Transporte in die Schweiz abgegangen, hierher (und nach Buchenwald ) war ein Großteil der Überlebenden der Evakuierungstransporte aus dem Osten gelangt. Innerhalb der Gruppe seiner jüdischen Häftlinge unterschied Himmler also noch ein­ mal zwischen für ihn wertvollen und weniger wertvollen Häftlingen. Daß das Motiv Himmlerscher Evakuierungspolitik, wie sie in der Märzvereinbarung zum Ausdruck kam, in diesem begrenzten Kalkül zu suchen ist, belegt auch manche andere Maßnahme, die der "Reichsführer-SS" bei seiner immer panischer werdenden Bemühung ergriff, um der von ihm so grundfalsch eingeschätzten Judenheit in den westlichen Staaten der Anti-Hitler-Koalition keinerlei Anlaß zu liefern, an der Ernst­ haftigkeit seiner "Friedensinitiativen" zu zweifeln. Als Himmler etwa erfuhr, daß in Bergen-Belsen (das Lager, "an dessen Insassen dem Jüdischen Weltkongreß so viel lag", wie Kersten in seinem Tagebuch festhielt543) eine Typhusepidemie ausgebrochen sei, alarmierte er sofort seine höchstrangigen Funktionäre und befahl ihnen, der Seu­ che mit allen medizinischen Mitteln entgegenzutreten ("Die Gefangenen stehen unter meinem besonderen Schutz"). Keine Geringeren als der Chef des SS-Wirtschaftsver­ waltungshauptamtes und dessen Amtschef Rudolf Höß und Enno Lolling, die ihre Briefträgerdienste durchaus befremdlich fanden, hatten diesen Befehl sofort und als erstes dem Kommandanten des Lagers Bergen-Belsen zu überbringen.544 "Wir kön• nen in Deutschland keine Seuchen aufkommen lassen", hatte Himmler in bezeich­ nender Generalisierung geschrieben; eine sehr späte Erkenntnis, da beispielsweise in Dachau die Seuche bereits seit einem Vierteljahr wütete. Nicht weniger wichtig war es Himmler Mitte März, daß die maßgebenden Verwalter des Lagerkosmos dem Kommandanten persönlich seinen Befehl überbrachten, kein Jude dürfe mehr zu Tode kommen. Drei Wochen später bekräftigte Kersten nach Rücksprache mit dem persönlichen Referenten Himmlers in einem Brief an den be­ unruhigten Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in Stockholm, daß "alle Gerüchte über eine etwaige Evakuierung von Bergen-Belsen völlig aus der Luft gegriffen" seien. Aufgrund seiner ausführlichen Gespräche mit Himmler "gerade über dieses Lager" dürfe der Weltkongreß damit rechnen, daß Bergen-Belsen beim Heranrücken der Alli­ ierten "ordnungsgemäß übergeben" werde. H5 Die erste Amtshandlung eines von Himmler Anfang April 1945 ernannten "Reichssonderkommissars für sämtliche KL" schließlich bestand darin, sofort nach Bergen-Belsen zu fahren. Seiner Meldung über

540 Reitlinger, Endlösung, S. 526. 54' Bauer, American Jewry, S.450. Zu Einzelheiten Kolb, Bergen-Belsen (hier insbes. S. 33 ff.). Auch Adler, Theresienstadt. 54' Vgl. die Angaben bei Reitlinger, Endlösung, S. 520. '" Kersten, Totenkopf, S. 341. Himmlers Befehl an Pohl, Glücks, Kaltenbrunner und SS-Obergruppenführer Dr. Grawitz (Reichsarzt-SS und Polizei) v. 10.3. 1945 ebenda, S. 342. Er beginnt mit den Worten: "Mir ist gemeldet worden, daß im Anhaltelager Bergen-Belsen, insbesondere unter den jüdischen Ge/ml[!,enen Typhus ausgebrochen sei." Hervorhebung von mir. 544 Dazu und zum folgenden Kolb, Bergen-Belsen, S. 191ff. Vgl. auch eben da, S. 157ff. '" Brief Felix Kerstens an Hilel Storch v. 4.4. 1945, in: Kersten, Totenkopf, S. 369. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 891 die entsetzlichen Zustände dort folgte am 11. April die Vollmacht Himmlers, "das ganze Gebiet von Bergen-Belsen unverzüglich vor der englischen Armee kapitulieren zu lassen"546. Tatsächlich kam es tags darauf zu jenem in der Geschichte der Befreiung der Konzentrationslager im Frühjahr 1945 singulären "WaHenstillstandsabkommen", aufgrund dessen die britische Armee am 15. April Bergen-Belsen mit seinen etwa 60.000 Insassen übernahm. Kein Bericht und keine Fotografie könne die "grauenvollen Bilder" wiedergeben, die sich den Befreiern in diesem Lager böten, schrieb der englische Arzt, der als einer der ersten zur Stelle war. 547 Vor und nach Ankunft der Briten an diesem völlig überfüllten "HoITor-Camp"548 starben allein 1945 nicht viel weniger als 50.000 Men­ schen an Hunger und Seuchen; Kannibalismus war in den letzten Wochen vor der Übergabe "keine Seltenheit" gewesen. Nichts hätte die phantastische ,,Atmosphäre des Unwirklichen"549, in der Himmler seine Schritte setzte, erschütternder enthüllen können als die Bilddokumente, die im April 1945 aus dem "Erholungslager" Bergen­ Belsen und anderen Konzentrationslagern im Innern des Reiches um die Welt gingen. Das jenseits der Grenzen Deutschlands wohlbekannte Lager für ,,Austauschjuden" in Bergen-Belsen, dessen Schicksal Himmler vor allem im Auge hatte, scheint das ein­ zige gewesen zu sein, wo er die Nichtevakuierung und damit die Anwendung seines ,,Abkommens" mit Felix Kersten vom 12. März persönlich durchgesetzt hat. Daran muß sein Interesse schon deswegen besonders groß gewesen sein, weil er am 2. April­ die Alliierten hatten inzwischen den Rhein auf breiter Front überschritten und das Ruhrgebiet eingeschlossen - nach einem neuerlichen Gespräch mit dem Grafen Ber­ nadotte Schellenberg den Auftrag gab, bei dem Schweden die Möglichkeiten eines Kontaktes zu General Eisenhower zu ventilieren.55o Genau zu diesem Zeitpunkt scheinen der "Reichsführer-SS" und der Chef des SD-Ausland ernstlich mit dem (aus Furcht vor der Reaktion Hitlers freilich unrealisiert gebliebenen) Gedanken gespielt zu haben, "die Westmächte um eine viertägige Waffenruhe zu Lande und in der Luft zu bitten und diese Zeit zu nutzen", so wenigstens Schellenbergs Bericht, "sämtliche Juden und ausländische Häftlinge durch die Frontlinien hindurchzuführen, um damit 1 Deutschlands guten Willen zu zeigen"55 • Die Konzentration Himmlers auf seine jüdischen Geiseln, und innerhalb dieser Gruppe insbesondere auf die in erster Linie in Bergen-Belsen und Theresienstadt einsit­ zenden, von denen er jetzt am meisten Dividende glaubte erwarten zu können, wird auch daraus ersichtlich, daß bei den einige Tage vor Bergen-Belsen befreiten Konzentra­ tionslagern Dora-Mittelbau im Südharz und Buchenwald bei Weimar, die wegen des ra­ santen Vormarsches der amerikanischen Dritten Armee sogar noch akuter gefährdet waren als das ,Judenlager" bei Hannover, die Vereinbarungen zwischen Himmler und Kersten nicht zum Tragen gekommen sind. Es kann sein, daß im Falle Buchenwaids Kaltenbrunner dem "Reichsführer-SS" mit einem Befehl zur Evakuierung entgegenge­ 552 arbeitet hat , es kann aber genausogut sein, daß Himmler den beiden thüringischen

>46 Kolb, Bergen-Belsen, S. 160 und S. 315. 547 Ebenda, S. 167 sowie S. 137 und S. 147 (dort das Zitat). 548 Eberhard Kolb, Bergen-Belsen, in: Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Stuttgart 1970, S. 151. 549 Allan Bullock in seiner Einleitung zu "Schellenberg Memoirs", S. 14. 550 Bernadotte, Ende, S. 66 H. '" Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 352. '51 Fraenkel, Manvell, Himmler, S.209. Bernadotte, Ende, S. 71 f. Schellenberg, Aufzeichnungen, S.352f. 892 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Lagern nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenkte wie Bergen-Belsen oder ihnen nicht dieselbe Bedeutung für seine Geheimpolitik beigemessen hat. Einen ähnlich expliziten Befehl wie im Falle Belsen hätte in der ersten Aprilhälfte vielleicht nicht einmal sein Ge­ genspieler Kaltenbrunner ignorieren können. Tatsache bleibt jedenfalls, daß in Buchen­ wald (wo neben anderen Häftlingen an die 20.000 aus Auschwitz abtransportierte Ju­ den553 - aber eben keine staatspolitisch jetzt nützlichen ,,Austauschjuden" - zusam­ mengepfercht waren) die Verschleppung der Häftlinge aus den zum Teil stark beleg­ ten Außenlagern in den letzten Tagen des März und in den ersten des April begann, die Evakuierung des Stammlagers am 7. Apri1. 554 Aus dem Konzentrationslager Dora­ Mittelbau gingen Evakuierungstransporte schon am Abend des 4. April ab 555 - beides mit dem Himmler-Kersten-"Abkommen" von Mitte März unvereinbar. Nach dem ungeheueren Aufschrei in der Weltpresse über die in Buchenwald und Bergen-Belsen vorgefundenen Verhältnisse556 stand Heinrich Himmler endgültig vor den Trümmern seines weltfremden Konzepts. Außerdem wurden alle Versuche der Durchsetzung einer einheitlichen Handhabung der Evakuierungspolitik - selbst wenn es eine solche gegeben haben sollte - durch den schnellen Vorstoß der Truppen Ei­ senhowers durch das Innere des Reiches jetzt immer illusorischer. Dies allein hatte die vermeintlichen Pfänder des "Reichsführers-SS" nunmehr vollends entwertet. Das hinderte diesen freilich mitnichten daran, ja es beflügelte ihn sogar dazu, nun mit aller Macht und in aller Offenheit den Grafen Bernadotte zu drängen, über das schwedi­ sche Außenministerium ein Kapitulationsangebot an die Westmächte zu bringen. Folke Bernadotte, der nicht daran zweifelte, daß für Churchill und Truman Verhand­ lungen mit einem Heinrich Himmler nicht in Frage kommen würden, tat dem "Reichsführer-SS" diesen Gefallen.557 Zwei Tage bevor Himmler Bernadotte seinen Wunsch nach einer "Begegnung mit General Eisenhower"558 mitteilen ließ, hatte er am 21. April erstmals auch einen Ver­ treter des Jüdischen Weltkongresses persönlich empfangen.559 Im Verlaufe dieser ge­ spenstischen Unterredung mit dem aus Schweden angereisten Norbert Masur erläu• terte der "Reichsführer-SS" seinem Gast neben anderem beispielsweise, Krematorien habe er einzig deswegen bauen lassen müssen, weil so viele Häftlinge epidemischen

Reitlinger, Endlösung, S. 528. Der Evakuierungsbefehl für Buchenwald ging am Abend des 6.4. 1945 im Lager ein. Unklar bleibt, ob er von Himmler selbst, was wenig wahrscheinlich ist, oder von der Amts­ gruppe 0 des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes kam. Vgl. Christine Schäfer, Evakuierungstransporte des KZ Buchenwald und seiner Außenkommandos, Weimar 1983, S. 19f. In seinem Affidavit v. 2. 7.1945 schildert der Lagerkommandant von Buchenwald, SS-überführer Herrnann Pister, den Befehlswirrwarr hinsichtlich der Evakuierung der jüdischen Häftlinge und des Lagers allgemein seit Anfang März 1945. Am 5. April 1945 habe er den "Reichsführerbefehl" erhalten, das Lager "auf die Mindestzahl zu verrin­ gern"; HZ-Archiv, Nürnberger Dokumente Nü-254, BI. 1137. '" Reitlinger, Endlösung, S. 520. '54 Hierzu im Detail Schäfer, Evakuierungstransporte, insbes. S. 18 ff. und S. 53 ff. '55 Vgl. Manfred Bornemann, Martin Broszat, Das KL Dora-Mittelbau, in: Studien zur Geschichte der Kon­ zentrationslager, S. 195 ff. Siehe auch:Jean Michel, Dora, London 1979. Erhard Pachaly, Kurt Pelny, Kon­ zentrationslager Mittelbau-Dora. Zum antifaschistischen Widerstands kampf im KZ Dor. 1943 bis 1945, Berlin 1990. ,>6 Hierzu oben in diesem Kapitel. '" Vgl. Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 56 ff. Vgl. auch den detaillierten Bericht bei Bemadotte, Ende, S. 73 ff. Siehe auch Schellenberg, Aufzeichnungen, S. 362 ff. 55' Bemadoue, Ende, S. 79. 55. Hierzu die ausführlichen Berichte: Kersten, Totenkopf, S. 374ff. Norbert Masur, Ma rencontre avec H. Himmler, in: Le Monde Juif 30, Nr. 74 (April/Juni 1974), S. 2 ff. Zu Details der Vorgeschichte vgl. auch Koblik, "No Truck with Himmler", insbes. S. 184ff. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 893

Krankheiten erlegen seien. Außerdem versuchte Himmler sich dafür zu rechtfertigen, daß es bei der Annäherung der feindlichen Truppen im Laufe des April - mit Aus­ nahme von Bergen-Belsen und Buchenwald (wie er irreführend dazusetzte) - nun doch zu Evakuierungen gekommen sei. Er machte für diese Abweichung von seinen Zusagen die "Greuelpropaganda" in der internationalen Presse nach der Übernahme der beiden Lager durch die Alliierten verantwortlich. In Bergen-Belsen beispielsweise sei ein Wach soldat gefesselt und mit einigen gerade verstorbenen Häftlingen fotogra­ fiert worden. Die verkohlten Leichen auf Fotos aus Buchenwald, log er weiter, stamm­ ten in Wirklichkeit aus Krankenbaracken, die von amerikanischen Panzern in Brand geschossen worden seien. Er sei von der Weltpresse (die sich Himmler nicht anders als jüdisch beherrscht vorzustellen vermochte) für die Schonung der Lager also "schlecht belohnt worden". Er habe deswegen wenig Sinn darin gesehen, seine Politik der kampflosen Übergabe der Lager an den Feind fortzuführen, und habe deshalb erst in den letzten Tagen beim Herannahen amerikanischer Panzer ein Lager in Sachsen evakuieren lassen. Himmlers Suada vor seinem Gesprächspartner vom Jüdischen Weltkongreß strotzte in jedem Satz von Lüge, Verdrehung und Irreführung. Seine Erklärungen zur Evaku­ ierungspolitik waren von derselben Qualität. Es stimmte nicht nur nicht, daß Buchen­ waid in gleicher Weise wie Bergen-Belsen übergeben worden sei, es war überhaupt die Unwahrheit, daß er entsprechend seinem ,,Abkommen" mit Felix Kersten einen gene­ rellen Stopp der Evakuierung durchgesetzt habe. Ganz offenkundig war es ihm nicht darum zu tun gewesen, die Todesmärsche und Vernichtungstransporte generell abzu­ stellen und so mit dem 1944 eingeschlagenen Kurs des Regimes zu brechen. Getreu seiner ebenfalls seit 1944 eingeschlagenen Linie, dienten seine Schritte im Frühjahr 1945 zuallererst der Umsetzung seines Kalküls, durch das Versprechen einer Scho­ nung spezieller Häftlingsgruppen - in erster Linie jüdischer Gefangener - in letzter Minute zu einem Sonderfrieden im Westen zu kommen. In der Substanz zeitigte das Treffen Himmlers mit Masur nur ein mageres Resul­ tat.560 Der "Reichsführer-SS" sagte lediglich zu, neben einigen prominenten Auslän• dern und genauer bezeichneten Juden in anderen Lagern 1000 jüdische Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Schweden freizulassen. Aus Gründen der Tarnung und aus Furcht vor Hitler, dessen Handlungsfreiheit in Berlin freilich mit je­ dem Tag abnahm, verlangte er aber, die Frauen nicht als Jüdinnen, sondern als Polin­ nen zu bezeichnen. "Obgleich Himmler zu diesem Zeitpunkt noch immer die Ent­ scheidungsgewalt hatte, wollte er wegen der Juden doch nicht in Konflikt mit Hitler geraten", hielt Masur in seinem Bericht über die nächtliche Unterredung auf dem Gut von Felix Kersten fest. 561 Trotz anderslautender Versicherungen Himmlers und Kerstens gegenüber ihren Gesprächspartnern562 war der Versuch des "Reichsführers-SS", hinter der Fassade ei-

'60 So Adler, Kampf gegen die "Endlösung", S. 109. ,61 Masur, Rencontre, S. 11. '62 Vgl. das Schreiben von Himmlers Adjutant an Kersten v. 21. 4.1945, die telefonische Zusage Himmlers an Kersten, die letzterer am 13.4. 1945 in seinem Tagebuch festhielt, sowie das Schreiben Kerstens an den schwedischen Außenminister v. 23.4. 1945; Kersten, Totenkopf, S. 3701. und S. 386. Insbesondere sein Brief an den Außenminister zeigt, daß Kersten inzwischen entweder über die tatsächlichen Gegebenheiten bei der Evakuierung der Lager nicht mehr orientiert war oder daß er die Haltung Himmlers bewußt ge­ schönt hat. 894 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland nes allgemeinen Evakuierungsstopps den überlebenden jüdischen Häftlingen in sei­ nen Konzentrationslagern Schonung angedeihen zu lassen, also bereits Mitte April ge­ scheitert. Im Falle Buchenwaids, das am 11. April von den Amerikanern befreit wurde, war offensichtlich geworden, daß dieses Konzentrationslager von der SS keineswegs - wie es die Vereinbarung zwischen Himmler und Kersten vorsah - "ordnungsgemäß" und mit allen Insassen an die Alliierten übergeben worden war; da war es beinahe gleichgültig, ob Himmler seine Zusagen nicht mehr einhalten konnte oder nicht mehr einhalten wollte. Nicht einmal die am 11. April eingeleitete und am 15. April dann tatsächlich erfolgte Übergabe des ,,Aufenthaltslagers" Bergen-Belsen hatte die er­ hoffte politische Dividende abgeworfen. Im Gegenteil, wenn es dessen wirklich noch bedurft hätte, dann hätte nichts wirkungsvoller als die von Himmler indigniert zur Kenntnis genommene und bitter beklagte Berichterstattung der Weltpresse über Bu­ chenwald und Bergen-Belsen zu der KlarsteIlung in den westlichen Hauptstädten bei­ tragen können, daß sich niemand schlechter zum Gesprächspartner eignete als der Herr der Konzentrationslager. Aber selbst dann, wenn die krausen Initiativen des "Reichsführers-SS" ein wenig mehr Realitätsgehalt gehabt hätten und es ihm tatsächlich ernstlich darum gegangen wäre, im Frühjahr 1945 mit den verheerenden Evakuierungstransporten generell Schluß zu machen, wäre eine allgemeine Schonung der Konzentrationslagerinsassen, so wie die Dinge im April lagen, kaum erreichbar gewesen. Mittlerweile waren die Dienstwege und die Befehlswege noch viel unkalkulierbarer geworden, als sie es noch im Winter 1944/45 und im Hitler-Staat ohnehin immer gewesen waren, und zwar nicht einmal in erster Linie deshalb, weil manchmal die einfachsten Übermittlungs• wege ausfielen, sondern weil sich inzwischen der Handlungsspielraum der mittleren Instanzen und örtlichen Dienststellen Himmlers wie auch des einzelnen SS-Führers in einer zunehmenden "Personalisierung" der Verantwortung stark erweitert hatte und weil mittlerweile auch der Terrorapparat selbst außer Kontrolle geriet. Zum ei­ nen, da auch er von der Basis bis zur Spitze von einer nur noch notdürftig camouflier­ ten Rette-sich-wer-kann-Bewegung erfaßt war, zum anderen, weil sich unter den An­ gehörigen der Kerntruppe des Unrechtsstaates vergleichsweise viele Personen befan­ den, die keinen Schwenk vollziehen, gerade im Untergang keine "Weichheit" zeigen wollten oder konnten. Eine beträchtliche Anzahl unter dem Mordpersonal des Regi­ mes war zweifellos noch immer von der gleichen Vernichtungsmanie besessen wie Hitler selbst und konnte Himmlers Absichten - wenn sie überhaupt davon erfuhren - nicht billigen. So entfalteten in den letzten Wochen des Krieges in der Frage, was mit den Häftlingen des Regimes bei Feindannäherung zu geschehen hatte, ganz von selbst zwei faktisch gegenläufige autoritative Impulse ihre Wirkung: die ungebrochene Ver­ nichtungs- und Selbstvernichtungssucht, die in Hitler personifiziert war, und die op­ portunistisch-weltfremden Absicherungs- und Absetzungsbemühungen, die Himmler verkörperte. Dieser Dualismus führte letztlich dazu, daß das Schicksal jedes einzelnen Konzentrationslagers bei Kriegsende ebensosehr an der jeweiligen örtlichen Konstel­ lation wie an der Befehlsgebung von höchster Stelle hing. Das zeigte sich schlagend in den letzten drei Wochen des Krieges, als Himmler sein ,,Abkommen" mit Kersten von Mitte März faktisch außer Kraft setzte und anord­ nete, eine Übergabe der Konzentrationslager komme nicht in Frage. Dieser Schritt, von dem seine beiden schwedischen Gesprächspartner und wohl auch Kersten nichts 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 895 erfahren haben, hinderte den "Reichsführer-SS" nicht daran, seine Bemühungen um Kontakt mit den Westmächten zu intensivieren. Doch dieser neuerlichen Kehrtwen­ dung in der Evakuierungs-"Politik" war ein ähnliches Schicksal beschieden wie jener einen Monat zuvor von Kersten miteingefädelten : Sie ließ sich nur partiell in die Pra­ xis umsetzen. Eigentlicher Grund für die Verhärtung der Haltung Himmlers war weniger seine Enttäuschung über die mangelnde Resonanz seiner Offerten bei den Westmächten als eine weitere (nach jener vom Februar) direkte Intervention Hitlers.563 Es ist zwar nicht zweifelsfrei zu klären, doch höchstwahrscheinlich hat er den "Reichsführer-SS" nach der ungeheuren internationalen Resonanz auf die Befreiung der thüringischen Kon­ zentrationslager aufgefordert, ähnliches künftig zu verhindern und durch Räumung nun auch in den im Innern des Reiches gelegenen Lagern die Spuren von Gewalt, Seuchen und Mord zu verwischen. Goebbels hatte offenbar schon Anfang April sein Unbehagen darüber geäußert, welches erstklassiges Anklagematerial den Alliierten mit der Entdeckung und Befreiung der Konzentrationslager in die Hand fallen müsse.564

Die Teil-Evakuierung des Lagers Dachau Der maßgebliche Befehl Heinrich Himmlers an die Kommandanten der im Einzugs­ bereich der Amerikaner noch verbliebenen Konzentrationslager Flossenbürg, Dachau und Mauthausen datierte sehr wahrscheinlich vom 14. April 1945. Obwohl dieses Do­ kument, das unmittelbar nach der Befreiung Dachaus von der U.S. Army beschlag­ nahmt und an den War Crimes Investigation Board weitergegeben wurde56S, bisher nicht wieder aufgefunden worden ist, besteht über dessen Kernpunkte kein Zweifel: Eine Übergabe der Lager komme nicht in Frage, vielmehr seien diese sofort zu evaku­ ieren; kein Häftling dürfe lebendig in die Hände des Feindes fallen. 566

563 Wie manch anderer der hier beschriebenen Vorgänge, so ist auch die Intervention Hitlers nicht mit letzter Sicherheit nachzuweisen. Vgl. Reitlinger, Endlösung, S. 534. Vgl. auch Black, Kaltenbrunner, S. 250. Haupt­ quelle ist die Aussage von Rudolf Höß in Nürnberg am 15.4. 1946; IMT, XI, S. 450. 564 Das berichten Fraenkel, Manvell, Himmler, S. 209, gestützt auf Wilfred von Oven, Mit Goebbels bis zum Ende, Buenos Aires 1950. 565 Bericht des XV Corps, G-5, an den Kommandierenden General der Seventh V.S. Army v. 5. 5.1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711, 7.3. 566 Himmlers Befehl, der manchmal auch auf den 18. April datiert wird, ist in mehreren, inhaltlich aber nicht wesentlich voneinander abweichenden Varianten überliefert. Vgl. Rost, Goethe in Dachau, S. 249. Gold­ schmitt, Die letzten Tage von Dachau, S.371. Eingehend zur Überlieferungsgeschichte (mit weiteren FundsteIlen) Stanislav Ziimecnik, "Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen". Zur Exi­ stenz des Himmler-Befehls vom 14./18. April 1945, in: Dachauer Hefte 1 (1985) S. 219ff. Vgl. ferner Kim­ mel, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, H, S. 410. Aber auch Siegert, Konzentrationslager Flossenbürg, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S. 483. Rudolf Höß sagte in Nürnberg am 15.4.1946 aus, der "strikteste Befehl" Hitlers an Himmler habe gelautet, "in Zukunft dürfte kein Lager mehr dem Feind überlassen werden. Es dürfte kein marschfähiger Häftling in irgendeinem Lager mehr zurückbleiben. Das war kurz vor der Beendigung des Krieges, kurz bevor Nord- und Süddeutschland voneinander getrennt wurden."; IMT, XI, S. 450. Dem Lagerkomman­ danten von Buchenwald, Pister, erklärte Himmler am 15.4. 1945, er habe Befehl zur Räumung der Kon­ zentrationslager erteilt: "Er erklärte mir", so Pister in seiner Eidesstattlichen Erklärung v. 2.7. 1945 weiter, "daß er befohlen habe, daß die Häftlinge von den K.L. Flossenbürg, Mauthausen & Dachau nach einem Tal in Tirol zu verlagern seien"; HZ-Archiv, Nürnberger Dokumente NO-254, BI. 1144. Siehe auch den Be­ richt von Biss, Stopp der Endlösung, S. 315. Der Befehl Himmlers ging vermutlich an die Kommandanten sämtlicher noch verbliebener Lager, denn sowohl der Kommandant von Sachsen hausen Anton Kaindl (To­ deslager Sachsenhausen. Ein Dokumentarbericht vom Sachsenhausen-Prozeß, Berlin 1948, S. 55) als auch der Höhere SS- und Polizeiführer von Hamburg, Henning Graf von Bassewitz-Behr (VIrich Bauche, Heinz 896 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

In den Tagen, als Himmler diese Anordnung hinausgehen ließ, brach die am 16. April beginnende Großoffensive der Roten Armee los, die die sowjetischen Truppen binnen kurzem von der Oder an die Eibe und nach Berlin führte und die Spaltung des nationalsozialistisch kontrollierten Restdeutschlands in eine nördliche und südliche Hälfte entscheidend beschleunigte. So verschieden das Ende der Konzentrationslager im einzelnen gewesen ist, ein prinzipieller Unterschied der Evakuierungs-"Politik" im Nordraum, wo Himmler verblieben war, und im Südraum, für den Kaltenbrunner am 18. April die Himmlerschen Befugnisse übertragen worden waren567 , läßt sich daraus aber nicht ableiten. Neben den brutalen Evakuierungen der Konzentrationslager im Norden568 stehen die Todesmärsche im Süden, wo die Lager durchaus nicht zur Scho­ nung vorgesehen und keineswegs durchweg "unangetastet übergeben wurden"569. Während im Norden die Masse der Häftlinge in den Konzentrationslagern Neuen­ gamme, Ravensbrück und Sachsenhausen um den 20. April herum den mörderischen Verschleppungsbefehlen unterworfen wurden - weit über 10.000 Personen dürften bei diesen Räumungen insgesamt noch ums Leben gekommen sein -, begannen die "Evakuierungen" der militärisch früher bedrohten Lager Dora-Mittelbau und Buchen­ wald in Mitteldeutschland bereits Anfang des Monats. Die Insassen des Lagers Dora wurden, zwischen dem 4. und 6. April, in Bahntransporten und Vernichtungsmär• schen hauptsächlich nach Bergen-Belsen geschafft; auf einem dieser Märsche ver­ brannte die SS in einer Scheune bei Gardelegen 1016 Häftlinge bei lebendigem Leibe. 570 Die zwischen dem 7. und 10. April aus Buchenwald abgehenden Transporte dagegen hatten die Konzentrationslager weiter im Osten und Süden, vor allem Da­ chau, manche auch Flossenbürg und Theresienstadt, zum Ziel.571 Wie in einigen anderen von der Evakuierung betroffenen Lagern auch, begann die Räumung, solange dazu noch Zeit blieb und die Stoßrichtung der alliierten Truppen es erlaubte, in Buchenwald mit der Rückführung der Häftlinge aus den Außenkom• mandos in das Stammlager. Viele dieser Elendszüge erreichten das Lager am Rande Weimars aber nicht oder wurden von vornherein in eine andere Richtung dirigiert. Etwa 45.000 Gefangene mußten sich Anfang April auf diesen Leidensweg begeben, zwischen 13.000 und 15.000 von ihnen starben dabei an Entkräftung, wurden von den SS-Begleitkommandos erschlagen oder erschossen. Nur einige dieser Marschkolonnen konnten von amerikanischen oder sowjetischen Einheiten frühzeitig gestoppt und be­ freit werden. Die Evakuierung des mit knapp 50.000 Häftlingen belegten Stammla-

Brüdigam, Ludwig Eiber, Wollgang Wiedey (Hrsg.), Arbeit und Vernichtung. Das Konzentrationslager Neuengamme 1938-1945, Hamburg 1986, S. 235) berichten von Anordnungen, die den gleichen Tenar trugen. Ein SS-Offizier aus der Wachmannschaft des Lagers Flossenbürg schließlich sagte aus, die SS­ Spitze des Lagers sei am 19.4. 1945 vom Kommandanten Max Koegel versammelt worden, der ihnen be­ kanntgab, "daß er einen Funkspruch von BerIin erhalten habe mit der Anweisung, ,die Häftlinge vom La­ ger Flossenbürg nach Dachau zu transportieren. Es dürfe kein Häftling in die Hand des Feindes fallen'." Beweisstück der Anklage Nr. 61 im Dachauer Flossenbürg-Prozeß; NA, RG 338,000-50-6, Box 51, File 116. '67 Black, Kaltenbrunner, S. 248. ,68 Hierzu neben zahlreichen Erinnerungsberichten, Dokumentationen und Studien zu den Lagern Neuen­ garnrne, Sachsenhausen und Ravensbrück als Überblick mit Literaturhinweisen Feig, Hitler's Death Camps, S. 65ff., S. 133ff. und S. 209ff. In seinem Gespräch mit Bernadotte am 21. 4.1945 räumte Himm­ ler sogar selbst ein, das Lager Ravensbruck "müsse gewiß binnen kurzem evakuiert werden". Bernadotte, Ende, S. 77. '69 Reitlinger, Endlösung, S. 539. Im selben Sinne auch noch Black, Kaltenbrunner, S. 252. 570 VgJ. Bornemann, Broszat, KL Dora-Mittelbau, in: Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, S. 195 ff. Pachaly, Pelny, Konzentrationslager Mittelbau-Dara, S. 201 ff. 5" Das folgende stützt sich auf die detaillierte Untersuchung von Schäfer, Evakuierungstransporte. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 897 gers begann am 7. April mit dem Ausmarsch von über 3000 Juden in Richtung auf das etwa 200 Kilometer entfernte Flossenbürg zu; bald mußte der Zug, auf dem nicht weniger als 2500 Gefangene zugrunde gegangen sein dürften, jedoch in Richtung Da­ chau umgeleitet werden. Weitere sieben, teilweise ebenfalls unterwegs befreite, Trans­ porte folgten, darunter ein über Dresden, Pilsen und Passau geführter Güterzug, der nach 21 Tagen in Dachauankam. Von den über 28.000 aus dem Stammlager Buchenwald Evakuierten verloren allein etwa 8000 Personen bei der Räumungsaktion ihr Leben. Ebenfalls Tausende müssen es gewesen sein, die, auf den Tod erschöpft, aber froh, den Exodus aus Buchenwald lebend überstanden und Flossenbürg in der Nähe des oberpfälzischen Weiden glücklich erreicht zu haben, von dort aus sofort weitermuß• ten, weil inzwischen auch dieses Lager "feindbedroht" war. Über 50.000 Gefangene waren im Hauptlager und seinen ungefähr 100 Außenlagern und Außenkommandos Mitte April 1945 inhaftiert.572 Zwischen 25.000 und 30.000 von ihnen wurden zur Evakuierung gezwungen; von den etwa 16.000 Insassen des Hauptlagers waren nur 1526 meist kranke Häftlinge zuriickgelassen worden. Am 8. April war im Stammlager mit der Beseitigung kompromittierender Indizien - Dokumente, Marterwerkzeuge, Erhängungshaken, Blutspuren - begonnen worden, am 15. April wurden die Sonder­ häftlinge abgeholt, von denen einige bald darauf den "Prominententransport" von Da­ 573 chau nach Südtirol mitzumachen hatten ; am selben Tag hatten 1700 Juden zum Flossenbürger Bahnhof zu marschieren, um dort als erster Evakuierungszug verladen zu werden. Am 19. und 20. April wurde dann das Stammlager geräumt - in vier schwerbewachten Kolonnen zu jeweils 4000 Mann sollten die Häftlinge versuchen, das über 200 Kilometer entfernte Dachau zu erreichen. Es leidet überhaupt keinen Zweifel, und die Praxis auf allen diesen Vernichtungsmär• schen belegt es zur Genüge, daß die SS-Wachmannschaften auch bei diesen vier großen Elendszügen - nicht anders als bei allen anderen Verschleppungen seit dem Winter 1944/45 - mehr oder weniger freie Hand hatten, ja von ihren Vorgesetzten dazu ermun­ tert waren, zu erschießen und zu erschlagen, wen immer sie sich dafür ausersahen. Bald nach Beginn der Märsche gab der mitziehende Lagerkommandant von Flossenbürg, dem eine Anzahl Leichen mit Kopfschüssen unangenehm aufgefallen war, den mündli• chen Befehl aus (wie SS-Offiziere später vor Gericht zugaben), "es solle nicht auf den Kopf gezielt werden, sondern auf den Körper des Flüchtenden, da dieser ein größeres Ziel biete als der Kopf und Herzschüsse seien auch tötlich [sic]!"574 Hinter den Flossen­ bürger Kolonnen zog von Beginn an ein kleiner Trupp Häftlinge mit Schaufeln her, der die Aufgabe hatte, die Opfer gleich an Ort und Stelle einzuscharren.

57' Maßgebend zur Geschichte des Konzentrationslagers Flossenbürg und dessen Evakuierung sind Siegert, Flossenbürg, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, III, sowie ders., 30.000 Tote mahnen! Die Geschichte des Konzentrationslagers Flossenbürg und seiner 100 Außenlager von 1938 bis 1945, Weiden 1984. Auf diese bei den Arbeiten stützt sich das folgende. Herrn Dr. Siegert danke ich für die Überlassung einer Reihe aufschlußreicher, im folgenden zum Teil zitierter Dokumente hierzu aus seiner privaten Sammlung. Zu den Evakuierungstransporten vgl. auch Georg Klitta, Das Finale des Zweiten Weltkrieges in Schwandorf, Schwandorf 1970. Helga Klitta, Das Ende eines ideologischen Krieges, dargestellt an den Ereignissen in der Oberpfalz Januar bis Mai 1945, Schwandorf 1970. Peter Heigl, Konzentrationslager Flossenbürg in Geschichte und Gegenwart, Regensburg 1989, S. 17 ff. '" Vgl. oben in diesem Kapitel. 57' Aussage des SS-Offiziers Bruno Skierka im Flossenbürg-Hauptprozeß in Dachau 1946/47, Beweisstück der Anklage Nr. 61; NA, RG 338,000-50-6, Box 51, File 116. Ein anderer SS-Offizier spricht von der Über• bringung eines mündlichen Befehls des Kommandanten, "daß nicht mehr die Häftlinge durch Kopfschuß, sondern durch Herzschuß zu erschießen seien"; ebenda. 898 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Die Routen und das Schicksal der in mehrere Marschblöcke unterteilten vier Ko­ lonnen, die sich wegen der Tieffliegergefahr meist nachts und abseits der Durchgangs­ straßen bewegten, werden sich nie mehr in allen Einzelheiten rekonstruieren lassen.s75 In Dachau angekommen ist mit ungefähr 2700 oder 2800 Häftlingen wohl nur eine dieser Marschkolonnen. Aus den Außenlagern Flossenbürgs fanden knapp 4000 ihren Weg bis nach Dachau; das von den Amerikanern nur noch als "Todesfabrik" titulierte Lager Hersbruck östlich NürnbergsS76 war schon am 8. April geräumt worden. Über das Schicksal eines "Restes" von mit Sicherheit deutlich über 15.000 Evakuierten weiß man ebenfalls wenig. Etwa einem Drittel gelang die Flucht, gut zwei Drittel von ihnen sind unterwegs von amerikanischen Einheiten befreit worden - die letzten aus Flos­ senbürg Verschleppten über 200 Kilometer vom Ausgangspunkt ihrer Odyssee ent­ fernt am 2. Mai 1945 am Chiemsee. Die Gesamtzahl der Opfer, die die Evakuierung des Gesamtkomplexes KL Flossenbürg gefordert hat, ist auf "mindestens 7000" zu schätzen.s77 Mit dem Eintreffen immer neuer Evakuierungstransporte und dem Näherrücken der Front wuchsen unter den Insassen des Konzentrationslagers Dachau von Tag zu Tag, Stunde zu Stunde Spannung und Unruhe. Während sich einige "durch die Ver­ breitung optimistischer Parolen selbst zu beruhigen" suchten, zeigten andere (wie der niederländische Häftling Nico Rost am 22. April 1945 in sein heimlich geführtes Ta­ gebuch notierte) dadurch offen ihre Verzweiflung, daß sie "immer wieder verkünden, daß wir doch alle umgebracht würden"s78. Solche Vorahnungen steigerten sich noch dadurch, daß sich der Befehl Himmlers, keinen Häftling lebend in Feindeshand fallen zu lassen, alsbald im Lager herumgesprochen hatte.s79 Außerdem sickerten immer neue Einzelheiten über das Schicksal der Evakuierungszüge durch. "Von draußen" wurde erzählt, "es lägen viele Leichen von Erschöpften und Erschossenen an den Stra­ ßen"S80, ein anderer Häftling hielt fest, daß bei den von Flossenbürg kommenden Elendsmärschen "unterwegs etwa tausend Mann von der SS erschossen wurden, Schwache und andere"s81. Eine einzige brutale Alternative schien noch übrig: Tod auf der Straße und in den Wäldern oder Vernichtung im Lager. So richtete sich die Hoff­ nung der einen - der Mehrzahl - darauf, einen etwa bevorstehenden "Vernichtungs­ transport"S82 vielleicht vermeiden oder sogar sabotieren und so Zeit bis zur Ankunft der Amerikaner gewinnen zu können. Andere sahen in der Evakuierung einen Hoff-

,n Detaillierte Angaben zu den Evakuierungsrouten auf der Basis von Quellen des Internationalen Suchdien­ stes Arolsen bei Klitta, Ende eines ideologischen Krieges, S. 36 ff. Hier auch die Zahlen der Geflohenen und von den Amerikanern Befreiten. Siehe auch Heigl, Flossenbürg, S. 17 ff. '" Juliane Wetzei, "Mir szeinen doh". München und Umgebung als Zuflucht von Überlebenden des Holo­ caust 1945-1948, in: Broszat, Henke, Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, S. 337. m Siegert, Konzentrationslager Flossenbürg, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S. 486. Unter den amerikanischen Quellen über die Räumung Flossenbürgs sind hervorzuheben: Bericht des Military Intelligence Teams der 17th Infantry Division ("Concentration Camp Flossenbürg") v. 4. 5. 1945, Sammlung Kurt F. Korf, dem ich für die Überlassung des Dokuments danke. Ferner Wilhelrn M. McCo­ nahey, Surgeon, Rochester 1966, S. 133 ff., sowie der Military Intelligence Report "The Death March to Dachau", Anhang zum Periodic Report Nr. 173 der 99th Infantry Division; Sammlung Siegert. '" Rost, Goethe in Dachau, S. 225 (Tagebucheintragung v. 22.4. 1945). 579 Vgl. ebenda, S. 233 (Tagebucheintragung v. 26.4. 1945). Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 249 (Ta- gebucheintragung v. 26.4. 1945). Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 37. 580 Steinbock, Ende von Dachau, S. 21. 58' Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 252 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). 58' Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 179. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 899 nungsschimmer, weil sie damit rechneten, sämtliche im Lager verbliebene Häftlinge würden bei Annäherung des Feindes liquidiert.583 Am 23. April 1945 schien im Hauptlager Dachau der Moment der Evakuierung ge­ kommen, denn gegen Mittag hatten über 1700 jüdische Häftlinge mit ihrem kargen Gepäck auf dem Appellplatz anzutreten.584 Bis zum nächsten Morgen ließ die SS die Juden, die nach Meinung eines Mithäftlings wohl "in den Tod"585 gehen würden, dort ausharren. "Die meisten waren so erschöpft, daß sie völlig entkräftet auf der Erde la­ gen, und die Russen von der Totenkammer haben bereits über sechzig - als Leichen­ weggetragen."586 Am Vormittag wurden die Juden in Bahnwaggons verladen, die mit ihrer Fracht dann weitere drei Tage auf dem Rangiergleis standen. Alles schien darauf hinzudeuten, daß die Führung des Lagers selber nicht wußte, wie es weitergehen sollte. Doch wer sich Hoffnungen gemacht hatte, es würden noch vor der Ankunft der Amerikaner (mit der jeden Tag zu rechnen war) aufgrund von Meinungsverschieden­ heiten oder offenen Konflikten an der SS-Spitze vielleicht überhaupt keine Entschei­ dungen mehr fallen, sah sich getäuscht: Eine Woche vor der Befreiung begann die Teilevakuierung des Konzentrationslagers Dachau. Die Räumungen in den Stammlagern, Nebenlagern und Außenkommandos began­ nen in etwa gleichzeitig, nämlich am 22./23. April, als die Amerikaner die Donau überschritten hatten und ihren "Kehraus"587 in Südbayern begannen.s88 Insgesamt zog sich die Evakuierungsaktion, von der letztlich nicht sämtliche Lager und nicht alle Häftlinge betroffen wurden, eine gute Woche lang hin. Brachte die Räumung für die Gefangenen in manchen kleineren Nebenlagern und Kommandos kaum mehr grö• ßere Unbill, so mußten sie in anderen Außenlagern, die Befreiung und das Ende des Krieges vor Augen, noch einmal das ganze Inferno von Bestialität durchschreiten, das dieses Regime für sie bereit hatte. Besonders berüchtigt waren die im Umkreis des Fliegerhorstes Landsberg am Lech errichteten Kauferinger Außenlager mit (Ende April 1945) 10.000 meist ungarischen und polnischen Juden589 und die ebenfalls erst im Spätsommer 1944 aus dem Boden gestampfte Lagergruppe im Raum Mühldorf am Inn mit gut 5200 ebenfalls vor allem aus Ungarn stammenden jüdischen Häftlin• gen.590 Beide Lager waren im Zuge der vom NS-Regime seit Anfang 1944 angestreb­ ten teilweisen Verlagerung der Rüstungsfertigung unter die Erde entstanden. In Kau-

583 "Hier führte in den letzten Kriegstagen im April 1945 der Leidensweg der Häftlinge aus dem Konzentra­ tionslager Dachau vorbei ins Ungewisse", Ansprache der Leiterin der KZ Gedenkstätte Dachau, Barbara Distel, am 12.7. 1989 in Gauting aus Anlaß der Errichtung eines Gedenksteins, Manuskript, S. 3; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau. 584 Insgesamt waren es nach einer Aufstellung des I. Schutzhaftlagerführers v. 27.4.1945 1759 Juden; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 1008. Vgl. auch Rost, Goethe in Dachau, S. 227 (Tagebucheintragung v. 23.4. 1945). Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, II, S. 247 (Tagebucheintragung v. 23.4. 1947). ,., Ebenda, S. 248. 586 Rost, Goethe in Dachau, S. 228 (Eintragung v. 24.4. 1945,8 Uhr früh) und S. 234. 581 Vgl. VII/4. 588 Erste Evakuierungen aus dem zum Komplex der Kauferinger Außenlager gehörenden Nebenlager Türk• heim begannen am 22.4. 1945, im Männerlager Augsburg-Pfersee am 23.4. 1945, dem Tag, an dem auch aus dem Stammlager Dachau der erste Räumungstransport abging. Vgl. Gernot Römer, Für die Vergesse­ nen. KZ-Außenlager in Schwaben - Schwaben in Konzentrationslagern, Augsburg 1984, S. 186 und S. 76. 589 Vgl. Edith Raim, Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Diss., München 1991, S. 36. Siehe auch dies., "Unternehmen Ringeltaube". Dachaus Außenlagerkomplex Kaufering, in: Dachauer Hefte 5 (1989), H. 5, S. 193ff. 590 Hierzu vor allem Peter Müller, Die Konzentrationslager im Kreis Mühldorf, in: Das Mühlrad. Blätter zur Geschichte des Inn- und Isengaues XXIJI (1981), S. 5 H. 900 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland fering und in Mühldorf wurden zu diesem Zweck mit Hilfe der KZ-Häftlinge giganti­ sche, halbunterirdische Betonbunker für die Jägerproduktion in Angriff genommen. Da die Arbeitssklaven in Erdhütten vegetieren mußten, völlig unzureichend verpflegt und gekleidet waren und unter barbarischen hygienischen und medizinischen Ver­ hältnissen zu leiden hatten, war die Sterberate exorbitant. In Kaufering lag sie bei bis zu 60 Prozent, in Mühldorf wohl bei etwa 30 Prozent; zusammengenommen dürften in beiden Lagerkomplexen im Laufe ihrer nicht einmal einjährigen Existenz an die 17.000 Gefangene umgekommen sein - mehr als drei Viertel von ihnen im Kauferin­ ger Komplex mit seinen 11 Lagern. Die Evakuierung der Überlebenden von Kaufering hat vermutlich mit der Räumung des Lagers VI im schwäbischen Türkheim ihren Anfang genommen. Ungefähr 1200 Häftlinge wurden über Landsberg am Lech in das etwa 70 Kilometer entfernte Pasing bei München getrieben, wo sie sich dem großen, aus Dachau kommenden Fußtreck anzu­ schließen hatten591 , der in Richtung Gebirge zog. Eine andere, vielleicht gleich starke Türkheimer Gruppe scheint in das Nebenlager Allach (aus dem am 26. April seinerseits erste kleinere Evakuierungszüge nach Süden in Marsch gesetzt wurden592) geschickt worden zu sein. Wie viele Menschen auf diesen bei den Märschen, bei denen einige Gefangene fliehen konnten, umgekommen sind, ist unbekannt.593 Die Häftlinge des Lagers III, in dem Hunderte gestorben waren, hatten am 25. April ebenfalls nach Al­ lach abzumarschieren, wo sie bald darauf befreit wurden.594 Wieder ein anderer Trans­ port, vornehmlich kranke Juden aus dem Lager IV, ging per Güterzug in Richtung Dachau ab, geriet am 27. April aber unterwegs in einen Tieffliegerangriff, dem zahlrei­ che (die Zahlen schwanken zwischen 170 und 1000 Toten) Häftlinge zum Opfer fie­ len. 595 Viele der vermutlich 2000 oder mehr Gefangenen 596 flohen oder versteckten sich bis zur Ankunft der Amerikaner in den umliegenden Dörfern und Wäldern. Das gräßlichste Ende fanden wohl jene Menschen im Lager Hurlach, die dort als nicht transportfähig zurückgelassen worden waren. Ein SS-Arzt, der anschließend Selbstmord beging, gab Befehl, die Hütten mit seinen Patienten kurzerhand anzuzün• den. Mehr als dreihundert über das Lagergelände verstreute Leichen fanden amerika­ nische Soldaten, als sie am 27. April auf das Krankenlager IV stießen. Eine Einheit be­ richtete über Hurlach, die SS habe viele Häftlinge "lebendig verbrannt"597, ein G.I. der

591 Vgl. die detaillierte Aufstellung des Internationalen Suchdienstes v. 28. 4. 1950 "Evacuation of the e.e. Da­ chau and the Kdo's Kaufering, Türkheim and Mühldorf", Anhang 7; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 15.786. 592 Siehe die Zeugenberichte : Rupert Schmidt, "Der Gewaltmarsch"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. Heinrich Pakullis, "Verschleppungs-Todesmarsch nach Tirol", S. 3; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Erich Röhl, "Der Marsch des Schweigens und der Vernichtung. Das letzte Verbrechen der Dachauer SS"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Vgl. auch: Amicale des Anciens de Dachau, Allach. Kommando de Dachau, Paris 1986, S. 43, S. 151 f. 593 Vgl. die Berichte ehemaliger Häftlinge in: Römer, Für die Vergessenen, S. 24ff. und S. 182 ff. 594 Bericht des ehemaligen Häftlings Ivan Hacker; ebenda, S. 47 ff. 595 Volker Gold, Zum Beispiel Schwabhausen: Das Kriegsende in einem oberbayerischen Dorf. Eine Zusam­ menstellung VOn Augenzeugenberichten, Manuskript (1985), S. 7 ff.; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau. Siehe auch Raim, Dachauer KZ-Außenkommandos, S. 329. 596 Raim, "Unternehmen Ringeltaube", S. 211; ITS-Bericht v. 28. 4. 1950, Anhang 8 (Archiv der KZ Gedenk­ stätte Dachau, Nr. 15.786). >97 36th Infantry Division, Military Government Seetion, "Operations in Germany and Austria - Month of May 1945", Bericht v. 1. 6. 1945; NA, RG 407, World War II Operations Reports 336-5, Box 9866. Vgl. auch "Special Report on ,Atrocity' Camp at Hurlach (Center No. 4 at Kaufering)", in: XXI Corps, Weekly Report v. 5. 5. 1945, Anhang B; NA, RG 407, Box 5272. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 901

12th Armored Division schilderte seine Entdeckungen dort später so: ,,Auf dem Bo­ den in der Mitte der niedergebrannten Gebäude waren die verbrannten Reste der jüdi• schen Sklavenarbeiter. Der Geruch der Leichen war entsetzlich. Sie waren in allen möglichen verzerrten Formen ausgestreckt. Einige hatten ihren Mund offen in Ago­ nie."598 Die Tausende von Überlebenden, auf die die U.S. Army im Raum Landsberg gestoßen sei, befänden sich oftmals im fortgeschrittenen Stadium von Unterernährung und Krankheit, meldete das XXI. Corps in seinem Wochenbericht von Anfang Mai: "Die Qual und der Hunger, denen sie unterworfen gewesen waren, zeigten sich an vie­ len Personen; sie gingen wie Marionetten - wenn sie gehen konnten; sie lagen auf blo­ ßen Brettern, zu schwach, um mehr zu tun, als eine unsichere Bewegung zu ihrem Mund hin zu machen. Manche vermochten nicht zu sprechen, andere weinten wie Kinder."599 Die Auflassung der Lager im Raum Mühldorf begann am 26. April 1945 mit der Verladung von etwa 4000 Menschen auf Güterwaggons. Nach der Erinnerung des Häftlings Ernst Israel Bornstein ging das Gerücht, der Transport führe nach Tirol, "wo man alle Juden vernichten wolle"60o. Der Zug war aber noch keine zwei Tage unter­ wegs, da wurden plötzlich die Türen aufgerissen und die SS-Wachen gaben bekannt, die Häftlinge seien frei. Das geschah am 28. April bei Poing, knapp zwanzig Kilome­ ter östlich Münchens. "Überwältigt von der neugewonnenen Freiheit", fielen sich die Gefangenen um den Hals, schüttelten im Überschwang sogar einigen Bewachern die Hand, und an der anschließenden Plünderung des Lebensmittelwaggons beteiligten sich SS-Leute und Häftlinge gemeinsam. Danach ergoß sich die Masse der Ver­ schleppten, bei denen sich schon landsmannschaftliche Griippchen zu bilden began­ nen, in die umliegenden Häuser und Gehöfte. In manchem Bauernhof wurde gerade ein Kessel mit Suppe oder Kartoffeln auf den Herd gestellt, als das "Massaker von Poing" begann. Nach dem Scheitern des unbedachten Aufstandsversuchs der "Freiheitsaktion Bay­ ern"601, der den Mühldorfer Häftlingen einen triigerischen Moment der Freiheit be­ schert hatte, riickte nämlich eine in der Nähe liegende Einheit der Waffen-SS an, um die Verschleppten mit Maschinenpistolen und Bajonetten wieder zusammenzutreiben und zuriick in die Waggons zu jagen. ,,Auf dem ganzen Weg vom Dorf Poing bis zum Bahnhof lagen unsere toten und verwundeten Kameraden, die bei dieser Hetzjagd auf der Strecke geblieben waren", schreibt Israel Bornstein: "Einige wälzten sich in ihrem Blut, stöhnten und baten um Hilfe, aber keiner von uns konnte sich um sie kümmern, jeder rannte um das eigene Leben. Wer nicht schnell genug vorwärtskam, wurde er­ stochen oder erschossen. Ich selbst fühlte die scharfe Bajonettspitze dicht an meinem Leib, aber ich wandte den Kopf nicht, sondern lief mit den letzten mir noch verblie-

>98 Affidavit des Aaron A. Eiferman v. 8. 11. 1986, zit. nach Raim, .. Unternehmen Ringeltaube", S. 112. Siehe dazu auch .. Daily Journal and Report" des Military Government Officer der 12th Armored Division v. 29.4. 1945; NA, RG 407, Box 16179. Vgl. auch die unmittelbar nach der Befreiung gemachten Aufnah­ men (.. The German prison camp Hurlach Lager No. 4 near Landsberg") in: A History of the United States Twelfth Armored Division, 15 September 1942 - 17 December 1945, Baton Rouge 1945, S. 71. Siehe auch das Foto und den Text in Leonard Rapport, Arthur Norwood, Jr., Rendezvous with Destiny. A History of the 101st Airborne Division, Washington 1947, S. 726 f. 599 XXI Corps, Weekly Report v. 5. 5. 1945; NA, RG 407, Box 5272. 600 Ernst Israel Bornstein, Die lange Nacht. Ein Bericht aus sieben Lagern, Frankfurt 1967, S. 235. Die beiden folgenden Zitate ebenda, S. 236 und S. 242. 60' Vgl. VII/2. 902 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland benen Kräften, um dem Tod zu entrinnen ... Keuchend erreichten wir den Bahnhof. Unsere Waggons wurden bereits von der Waffen-SS bewacht, die mit Gewehrkolben auf uns einhieb, damit wir den Weg ins Wageninnere rascher fanden."602 Wie viele Opfer dieses Gemetzel gefordert hat, ist unbekannt.603 Manch einer, der Auschwitz überlebt hatte, starb hier. Der ursprünglich wohl in Richtung Kufstein auf die Strecke geschickte, in Wolf­ ratshausen dann geteilte Güterzug setzte seine Fahrt fort, mußte wegen Gleisschäden wiederholt umgeleitet werden, geriet noch in einen Tieffliegerangriff, doch in T utzing am Starnberger See604 war die Reise zu Ende. Von seiner kompromittierenden Fracht und dem Gefechtslärm der anrückenden Amerikaner zunehmend beunruhigt, hängte der Lokführer in Sichtweite des Bahnhofs nämlich kurzerhand seine Zugmaschine ab und verschwand mit ihr in Richtung Norden. Eine ganze Nacht lang war der gestran­ dete Transport inmitten letzter Kämpfe sich selbst überlassen.6os In den Morgenstun­ den des 30. April kam die Befreiung durch amerikanische Einheiten. "Langsam schob ich mich so weit nach vorne", erinnert sich Bornstein, "bis ich nur die Hand auszu­ strecken brauchte, um einen jener grauen Riesen zu berühren. Oben auf dem Panzer saßen zwei Soldaten, die uns mitleidig verschiedene Eßwaren zuwarfen und uns eng­ lisch ansprachen. In unserem Freudentaumel umfaßten wir die Panzerrohre und leg­ ten uns auf die Raupen.''606 Bald darauf brachte die Besatzungsmacht die Überleben• den des Holocaust, von denen noch mancher an Entkräftung starb, im nahegelegenen Feldafing in der aufgelassenen "Reichsschule der NSDAP" unter. Die U.S. Army hatte solche Todestransporte und Elendszüge wie den bei Tutzing im oberbayerischen Voralpenland seit Anfang April 1945, als sie nach Mitteldeutsch­ land und Nordbayern vordrang, auf Schritt und Tritt überrollt. Da es Zehntausende von Konzentrationslagerhäftlingen waren, die sich in den Tagen des amerikanischen Vorstoßes in großen Konvois und kleinen Grüppchen aus Hunderten von Stamm­ und Nebenlagern über das ganze Land ergossen, bekamen auf den mit Leichen gepfla­ sterten Evakuierungswegen viel mehr amerikanische Soldaten als nur jene G.I.s, die an den spektakulären Befreiungen der Hauptlager selbst beteiligt waren, die Horrortaten des Hitler-Regimes unmittelbar zu Gesicht. So haben die Verschleppungen, die der Vertuschung der deutschen Verbrechen dienen sollten, kräftig mit dazu beigetragen, diese den alliierten Truppen erst breit vor Augen zu führen. Wiederum erreichte das Regime, wenn auch in kleinerem Maßstab als bei den Evakuierungen des Winters 1944/45, also gerade das Gegenteil dessen, was es mit diesen Vertuschungsmanövern bezwecken wollte.

602 Bornstein, Lange Nacht, S.239. Vgl. auch Max Mannheimer, Theresienstadt-Auschwitz-Warschau-Da­ chau. Erinnerungen, in: Dachauer Hefte 1 (1985), H. 1, S. 128. 603 Raim, Dachauer KZ-Außenkommandos, S. 330. Auf der im März 1950 angefertigten Karte des Internatio­ nalen Suchdienstes "Evacuation Ce. Dachau April 1945" (Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 737), auf die sich die Beschreibungen der Räumung Dachaus meist stützen und in der auch Todesziffern ge­ nannt werden, ist Poing nicht aufgeführt. Da es, im Lichte auch später bekanntgewordener Quellen, noch mehrere solcher Diskrepanzen gibt, ist die in dieser Karte genannte Zahl der Opfer im Zuge der Evakuie­ rung der Dachauer Haupt- und Nebenlager eindeutig viel zu niedrig. 604 Die andere Hälfte des Zuges fuhr nach Seeshaupt am Starnberger See; Raim, Dachauer KZ-Außenkom• mandos, S. 330. 60' Augenzeugenbericht Rupprecht von Kellers "Erinnerungen eines Tutzingers an das Kriegsende 1945", S. 3; HZ-Archiv, ZS 2396. Hier auch die Beschreibung der Bemühungen, die ehemaligen KZ-Häftlinge im Zusammenspiel mit der Besatzungsmacht unterzubringen und zu versorgen. 606 Bornstein, Lange Nacht, S. 243. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 903

,,AlItäglichkeit"607 und "entsetzlichster Horror''608 zugleich, erhielten die amerika­ nischen Soldaten bei ihren Begegnungen mit den Lemurenkolonnen "den augenfälli• gen Beweis für die unmenschliche deutsche Brutalität", wie es in der Kriegschronik des XII. Corps hieß.609 Von den Buchenwalder Evakuierungsmärschen etwa hatten die Amerikaner mehrere im Raum Dessau, im Raum Gera und sogar in der Nähe von München gestoppt.610 Aus diesen Erfahrungen ergab sich für sie mitunter bereits eine recht klare Einschätzung, mit welchem Phänomen sie es zu tun hatten: "Das Nazi­ Oberkommando hat offenbar eine Politik der riicksichtslosen Vernichtung der Insas­ sen politischer Konzentrationslager wie des beriichtigten Lagers Buchenwald begon­ nen, damit sie nicht in die Hände der vordringenden alliierten Armeen fallen", resü• mierte das XII. Corps: "Statt umfassende Massaker an einer bestimmten Stelle zu veranstalten, bestand die angewandte Methode darin, potentielle Opfer, die bereits fast verhungert waren, mit keinem anderen Ziel als der Vernichtung im Auge auf Märsche zu schicken oder in überfüllten Zügen zu transportieren."611 Von überall her waren im Hauptquartier dieses Corps inzwischen Meldungen über die grauenhaftesten Ausschreitungen der SS eingegangen, die sich nicht einmal scheue, ihr "Gemetzel" bis unmittelbar zu dem Moment des Anriickens amerikani­ scher Panzer fortzuführen.612 Mit der Schilderung der Unmenschlichkeiten der Wachmannschaften könne man Bände füllen, befand der G-2 Offizier der 99th Infan­ try Division613 , die bei Stamsried in der Nähe von Cham im Bayerischen Wald am 23. April eine Evakuierungskolonne aus Flossenbürg kommender Gefangener be­ freite, unter denen die SS seit mehreren Tagen gewütet hatte. "lch befand mich gerade auf der Straße unter einem langgestreckten Hügel", so ein überlebender Häftling, "als ich Maschinengewehrfeuer in der Weite hörte, das ich zunächst als den Anfang unse­ rer Liquidation deutete. Da sahen wir Panzerwagen auffahren, und unter ihrem Feuer fiel alles zu Boden. Wir begriffen nicht sofort, was vorging. Als wir die Erkennungszei­ chen amerikanischer Panzer erkannt hatten, standen wir alle wieder auf, doch die Ge­ sten der Panzermänner wiesen uns erneut zu Boden, und schon fegten die Maschinen­ gewehrgarben über uns hinweg in die flüchtenden Wachmannschaften hinein."614 Der Periodic Report der 99. Division bestätigt das mit dem lapidaren Satz: "Viele der SS­ Wachen wurden von unseren Truppen getötet, einige auch von den Häftlingen, nach­ dem diese befreit worden waren."615 Nur wenige Tage später stießen andere G.I.s aus anderen Divisionen auf die Bahn­ transporte und Vernichtungsmärsche, die zwischen dem 23. und 26. April aus dem Hauptlager Dachau abgegangen waren. Im bayerischen Voralpenland erwarteten sie dieselben Eindriicke wie weiter nördlich, über die ein Stabsoffizier des XII. Corps

607 The History of the 26th Yankee Division 1917-1919, 1941-1945, Salem/Mass. 1955, S. 122. 608 George Dyer, XII Corps: Spearhead of Patton's Third Army, Baton Rouge 1947, S. 432. 609 Ebenda. 610 Vgl. Schäfer, Evakuierungstransporte, S. 32, S. 51, S. 61 und S. 64. 611 XII Corps, G-5 Summary Nr. 242 v. 27.4. 1945; NA, RG 407, Box 4505. 612 XII Corps, G-5 Summary Nr. 241 v. 26.4. 1945; eben da. 613 99th Infantry Division, G-2, Periodic Report Nr. 173; Sammlung Siegert. 614 Erlebnisbericht über die Befreiung einer Evakuierungskolonne bei Stamsried am Vormittag des 23. April 1945; zit. nach Georg Klitta, Die blutige Straße von Flossenbürg nach Wetterfeld im April 1945, in: Hei­ materzähler. Heimatbeilage für das Schwandorfer Tagblatt und die Burglengenfelder Zeitung 23 (1972), Nr. 10, S. 37. 615 99th Infantry Division, G-2, Periodic Report Nr. 173; Sammlung Siegert. 904 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland schockiert nach Hause schrieb: "Es ist der Geruch, der den Besuch eines Todeslagers tatsächlich zur Realität macht. Der Geruch und der Gestank der Toten und der Ster­ benden. Der Geruch und der Gestank der Hungernden ... Ich kann noch immer die Leichen riechen, die wir vom Flossenbürger Todesmarsch gefunden haben."616 Am 26. April 1945 war der Tag gekommen, den die meisten Insassen des Konzen­ trationslagers in Dachau gefürchtet hatten wie ein Todesurteil. An diesem Donnerstag mußte mehr als die Hälfte der insgesamt mindestens 15.000 von dort evakuierten Häftlinge das Stammlager verlassen, dessen Räumung mit Bahntransporten und Fuß• märschen ähnlich wie in Buchenwald und Flossenbürg offenbar in mehreren Schüben geplant war. Auch wenn das bis zur Ankunft der Amerikaner am 29. April nicht mehr gelang und zwei Dritteln der Lagerinsassen die Verschleppung erspart blieb, hatte sich ein Drittel ihrer Kameraden doch noch in das erwartete Schicksal zu fügen. Es ist heute nicht mehr zu klären, welche Befehle und Gegenbefehle auf der Ebene der SS-Führung wie der Lagerverwaltung in Dachau die grundsätzliche Anordnung Himmlers zur Räumung der Lager von Mitte April617 umzusetzen oder zu konter­ karieren trachteten.618 Zutreffend dürfte immerhin sein, was der Buchenwalder Lager­ kommandant Pister über sein Gespräch beim "Reichsführer-SS" am 15. April berich­ tet. Dieser habe ihn mit seinem Befehl bekannt gemacht, so Pister, daß die Häftlinge aus den Konzentrationslagern in Süddeutschland "nach einem Tal in Tirol zu verla­ gern seien, [und] wenn keine Transportmöglichkeit, zu Fuß. Dort hätten sich die Häft• linge selbst Unterkünfte zu bauen[, und] wenn es sein müßte, Erdlöcher." Als der Kommandant von Buchenwald, dem Himmler eingeschärft hatte, sich persönlich um die Ausführung dieses Befehls zu kümmern, am 18. April in Dachau eintraf, waren hier bereits alle Vorbereitungen getroffen: "Die Häftlinge sollten, teils zu Fuß, teils [per] Bahn nach dem Ötztal abtransportiert werden." Pister scheint sich in den darauf­ folgenden Tagen auch um die organisatorische Vorbereitung der Evakuierungen ge­ kümmert zu haben. Vom Tiroler Gauleiter Franz Hofer, bei dem er wegen der geplan­ ten Transporte anfragen ließ, erhielt er aber nur den Bescheid, die Häftlinge würden zwar aufgenommen, es würde aber keine Verpflegung für sie bereitgestellt. Als Ende April dann der erste aus Dachau kommende Bahntransport in Seefeld in Tirol (der einzige, der die Grenze zu Österreich überschritt) ankam, hatte Hofer nichts Eiligeres zu tun, als diese kompromittierende Fracht schleunigst wieder aus dem "befreiten Österreich" über die bayerische Grenze nach Mittenwald ins "besetzte Deutschland" zurückzuschicken.619 Mit dem Seefelder Transport waren am 23. April in einem ersten größeren Schub etwa 2000 Häftlinge (die dazu zu einem Verladebahnhof bei Fürstenfeldbruck mar­ schieren mußten) aus dem Hauptlager Dachau fortgeschafft worden. Das geschah am selben Tag, an dem jene 1759 jüdische Gefangene in Eisenbahnwaggons gepfercht

616 Brief eines Stabsoffiziers nach Hause, o. 0.; zit. nach Dyer, XII Corps, S. 432. 611 Vgl. oben in diesem Kapitel. 618 Vgl. die folgenden Aussagen: Kaltenbrunner am 11. 4. 1946 in Nümberg; IMT, XI, S. 319 und S. 3311. Die Angaben Gottlob Bergers am 20. 9. 1945 in einem amerikanischen Verhör; IMT, XXXII, S. 523 f. Vgl. auch die Eidesstattliche Erklärung des Gaustabsamtsleiters in München, Bertus Gerdus, v. 18. 12. 1945; ebenda, S. 299. Siehe auch Kimme!, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS­ Zeit, II, S. 410, Anm. 294. 619 Eidesstattliche Erklärung Herrnann Pisters v. 2. bzw. 14.7.1945, S. 41 f., Zitate S. 41; HZ-Archiv, Nürnber• ger Dokumente, NO-254. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 905 und auf dem Stichgleis am Lager sich selbst überlassen worden waren.620 Weitere 3000 Menschen wurden am 25. April, am 27. April noch einmal ungefähr 2000 Perso­ nen, auf einem 20 Kilometer entfernten Bahnhof in Züge verfrachtet.62I Am 26. April hatten die seit drei Tagen in ihren Waggons ausharrenden Juden diese wieder zu ver­ lassen und zur Verladestation zu laufen. Es war derselbe Donnerstag, an dem der Be­ fehl zur Vorbereitung für den "Marsch des Schweigens und der Vernichtung" er­ ging.622 Am 26. April 1945 trat dann, so ein Häftling, das "große Ereignis ein, das wir seit Tagen befürchtet hatten"623; die Arbeitskommandos rückten nicht mehr aus, sämtli• che Gefangenen hatten im Lager zu bleiben und sich auf dem Appellplatz einzufin­ den. Obgleich das Antreten dort so "langsam wie noch niemals in Dachau" vonstatten ging624, blieb den Häftlingen trotz vielfältiger Versuche, Verwirrung zu stiften und Anordnungen so schleppend wie nur möglich Folge zu leisten, selbst jetzt noch nichts anderes übrig, als den Anweisungen der Lagerleitung und der Wachmannschaften zu gehorchen. Diese befanden sich mittlerweile selbst in nervöser Anspannung, brachten es aber doch zuwege, den Abmarsch von insgesamt 6887 Lagerinsassen zu erzwingen, 1213 Deutschen, 1183 männlichen, 341 weiblichen Juden und 4150 Russen.625 Mit ein wenig persönlicher Habe beladen, ein oder zwei Decken und dürftiger Ver­ pflegung zogen sechs zwischen 940 und 1500 Männer starke "Marschblocks" und die Gruppe jüdischer Frauen626 zwischen 21 und 22 Uhr durch das Tor unter dem ,Jour­ haus" in die Nacht hinaus. In den folgenden Stunden und Tagen stießen zu diesem "Verschleppungs- und Todesmarsch"627 aus verschiedenen Nebenlagern und einem liegengebliebenen Bahntransport noch einmal mindestens 3500 Häftlinge, so daß es schließlich 10.000 Menschen gewesen sein müssen, die Ende April von München in Richtung Süden getrieben wurden. Außer daß es dem Gebirge zuging, war wenig darüber zu erfahren, wo dieser Treck enden und welchen Sinn er noch haben sollte. Klar war jedem einzelnen Häftling nur, daß auch er sich nun auf einem dieser inzwischen sattsam bekanntgewordenen "To­ desmärsche" befand. Der Anblick der in Stärke von mehreren hundert Mann mitzie­ henden Wachmannschaften, "schwer bewaffnet mit Karabinern und Pistolen, Hand­ granaten griffbereit vorne im Koppel", mußte den Tapfersten entmutigen. Dazu kam,

620 Siehe oben in diesem Kapitel. 621 Vgl. die Aufstellung bei KimmeI, Konzentrationslager Dachau, in: Broszat, Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 11, S. 409 f. Hauptquelle für die Rekonstruktion der Evakuierungen aus dem Stammlager ist die Aufstellung des Internationalen Suchdienstes v. 28.4. 1950 "Evacuation of the e.e. Dachau and the Kdo's Kaufering, Türkheim and Mühldorf" sowie die dazugehörige Karte v. 7.3. 1950, die freilich beide Unge­ nauigkeiten und Fehler aufweisen; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 15.786 bzw. Nr. 737. 622 Bericht des Häftlings Erich Röhl "Der Marsch des Schweigens und der Vernichtung. Das letzte Verbre­ chen der Dachauer SS"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. 623 Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis "Verschleppungs- und Todesmarsch nach Tirol"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. 62' Bericht des Häftlings Franz Scherz "Sieben Tage. Ein Bericht über den Todesmarsch der Dachauer Häft• linge, vom 26. April - 2. Mai 1945"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 625 Aufstellung des Schutzhaftlagerführers des Konzentrationslagers Dachau v. 27.4. 1945 "Transporte aus dem KL Dachau am 26. April 1945"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 1008. 626 ,,Aufstellung der Evakuierten am 26.4. 1945" v. 26.4. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 1011. 627 So überschrieb der Häftling Heinrich Pakullis seinen Bericht; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Vgl. auch Hans Holzhaider, Der Elendszug nach Süden. Von Dachau nach Waakirchen: Der Marsch von KZ-Häftlingen in den letzten Kriegstagen; Süddeutsche Zeitung, 8./9. 7. 1989. 906 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

daß in bestimmten Abständen Streifen eingeteilt waren, "die die dressierten Blut­ hunde an der Leine führten"628. Mehrfach ließ sich der berüchtigte Rapportführer Böttger mit der Drohung "Wer zurückbleibt, muß verrecken!" vernehmen629, ein SS­ Mann gefiel sich in der Prophezeiung: "Wenn wir untergehen, dann werdet ihr mit uns zugrunde gehen!"630, und ein Wachmann soll zu einem anderen gesagt haben: "Zehn Prozent werden vielleicht ankommen"631. Schon in den ersten Stunden dieses sechs Tage und fünf Nächte währenden Exodus' begann es zu regnen. Dann sanken die Temperaturen, und am vierten Tag begann es zu schneien. Der Dachauer Elendszug führte die Würm entlang nach Starnberg und von dort durch Wolfratshausen bis über Bad Tölz hinaus; einige Marschgruppen gelangten, nachdem sie über 100 Kilometer zu Fuß hinter sich gebracht hatten, bis an den Te­ gernsee. Mancher Häftling, unter denen sich nicht wenige 50- und 60jährige befan­ den, viele von ihnen seit Jahren unterernährt, begann freilich schon in der ersten Nacht zu wanken. Einige brachen bereits nach Stunden zusammen. "Plötzlich rief vor uns jemand: ,Da liegt schon einer!' Und tatsächlich, mitten in der Kolonne lag ein Häuferl Mensch, ein Häftling am Boden. Die Nachfolgenden machten einen Bogen herum und trotteten weiter. Das wiederholte sich öfter, und immer lief es einem eis­ kalt über den Rücken bei dem Gedanken: ,Wann wird es Dich treffen?'." Stündlich wurden es mehr, die nicht mehr weiterkonnten: "Das war erschütternd zu sehen, wie sich Häftlinge, offenbar um zu rasten, an den Straßenrand stellten. Das eine Knie et­ was abgewinkelt nach vor gestellt, den Körper gebeugt, so stand er einige Augenblicke in Ruhe bis sich mit einemmale der Körper straffte, mit einem Ruck aufrichtete und ebenso plötzlich in sich zusammensackte, wie ein leerer Sack. Ein letztes Aufbäumen vor dem Kollaps! Da lagen sie dann in Reihen, die Füße hochgezogen, wie die Hasen nach einer Treibjagd. Selbst die Straße markierte die Tragik, die sich hier abspielte. Weitverstreut lagen die Gegenstände herum, Decken, Brotsäcke, Eßgeschirr, Bücher, Hefte, Schachfiguren, Zigarettendosen."632 Die erste Etappe führte den Elendstreck, der anfangs vor allem nachts marschierte, in die Nähe von Starnberg.633 Er glich, wie ein Überlebender später schreiben sollte, von Beginn an "einem Zug Todgeweihter, die zu ihrem eigenen Begräbnis unterwegs sind"634. Waren es zuerst nur ohnmächtig am Straßenrand Liegende, so sahen die Weiterziehenden bald auch die ersten Erschossenen. "Nur wenig Blut; ein kleiner blu­ tiger Fleck auf der Stirn, aber im Nacken ein großes Loch. Also geht es schon los."635 Von Westen her war immer deutlicher Geschützdonner zu vernehmen; die Amerika­ ner standen bei Landsberg. Einige SS-Leute machten sich bereits davon.636

628 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 629 Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. 630 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 631 Ulrich Wimmer, Dem Ende entgegen; Artikelserie im Isar-Loisachboten, Juni 1965. 632 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 633 Der Evakuierungsmarsch führte von Dachau über Allach, Krailling, Gauting, Stamberg, Percha, Aufkir­ chen, Wolfratshausen, Beuerberg, Königsdorf, Bad Tölz, Waakirchen, Gmund bis nach Tegernsee. An die­ sem Endpunkt kamen freilich nur noch wenige an. Vgl. Distel, Vortrag v. 12.7. 1989; Archiv der KZ Ge­ denkstätte Dachau. 634 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 635 Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. 636 Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 907

In der zweiten Nacht begannen sich die an Erschöpfung Zugrundegegangenen und Ermordeten zu häufen. Einer, der am Ende des Zuges marschierte, berichtete später, "es gab keine 50 Meter, ohne daß nicht eine Reihe am Straßenrand gelegen wäre"637, ein anderer, es habe "alle paar Schritt ein Toter"638 gelegen. Was die Posten nicht schafften, erledigten die Hunde, die, wie selbst ein SS-Unterscharführer in amerikani­ schem Verhör zugab639, auf die Erschöpften und Gefallenen gehetzt wurden. "Die Hunde, die den Transport begleiteten, sind auf Häftlinge dressiert. Ein weißer Pudel", schilderte ein Gefangener später, "hatte die Gewohnheit, die im Graben liegenden Häftlinge in den Kopf zu beißen. Wer sich dadurch nicht stören ließ, wurde für tot ge­ halten. Ein schauderhafter Anblick, wenn 5 bis 6 Hunde zu gleicher Zeit über die be­ wußtlosen und toten Häftlinge herfallen. Decken und Kleiderfetzen flogen in der Luft herum. Schreie vor Schmerz und Schrecken; Kolbenschläge und Schüsse."64o Da sich die Marschkolonne zwischen den Rastorten immer weit auseinanderzog, gelang einigen Häftlingen die Flucht.64I Manche wurden wieder aufgegriffen, einige dürften in diesen eiskalten Nächten schon Stunden später erfroren sein. Dann kam am Morgen des 28. April das Städtchen Wolfratshausen. Hier lebte Ernst Wiechert, der in diesem "Todeszug der Verdammten" wie "in einem schrecklichen Spiegel die Summe der vergangenen Jahre" erkannte.642 Einige Kilometer hinter dem Marktflek­ ken machte der Treck, wohl gestoppt wegen einander widersprechender Meldungen über den Putschversuch der FAB64 3, in einem Waldstück zwei Tage und Nächte lang halt. In der ersten Nacht schlief kaum jemand auf dem durchnäßten Waldboden. Neu angekommene SS-Posten "hatten frisch gebackenes Brot gefaßt und machten sich einen Jux daraus, den ausgehungerten, vor Hunger fast irrsinnigen Häftlingen, Brot hinzuhalten und sie dann durch Gewehrschüsse zurückzujagen"644. Kurz darauf star­ teten russische Häftlinge einen Überfall auf ein Lebensmittelmagazin. Sofort begann eine wilde Schießerei, die SS "feuerte aus ihren Karabinern und Maschinenpistolen wie wild"645. Die Wachen gingen dabei und bei der anschließenden Durchkämmung des Waldstücks offenkundig mit ungezügelter Brutalität vor, denn als der Treck am 30. April weiterzog, lagen auf den Wiesen und in den Schonungen die Leichen der Er­ schossenen und Erschöpften umher646 ; "Instrument der Totenbeschau waren die SS­ Stiefel."647 Wieviele Tote bei diesem Lagerplatz zurückblieben, ist unbekannt. Wäh-

637 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 638 Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. 639 Eidesstattliche Erklärung des Albin Gretsch in seinem Verhör am 31. 10.1945; ebenda, Nr. 5434. 640 Ebenda. 611 Vgl. den Bericht des ehemaligen Häftlings Zwi Katz im Tölzer Kurier, mehrere Folgen, beginnend 27.4. 1988. 642 Ernst Wiechert,Jahre und Zeiten. Erinnerungen, Zürich 1949, S. 374. 643 Vgl. VII/2. 644 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 645 Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. 646 Das zweitägige Lager zwischen Wolfratshausen und Königsdorf nimmt in allen Berichten einen prominen­ ten Platz ein. Vgl. etwa die folgenden Schilderungen: Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Da­ chau, Nr. 233. Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Rupert Schmidt; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. Josef Vogt, "Selbsterlebnisse von Jos. Vogt - pol. Häftling Nr. 30077"; HZ-Archiv, F 64. 647 Bericht des Häftlings Rupert Schmidt v. 19.5. 1945 "Der Gewaltmarsch"; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. 908 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland rend ein Wachmann der SS von 15 Toten sprach648, nannte ein Häftling nach dem Krieg eine Zahl von 100 Umgekommenen und Erschossenen.649 Andere Zeugen­ berichte klingen, als ob es noch mehr gewesen sein könnten. "Regen und Schnee fiel", so Ernst Wiechert, "und dort, im nassen und dunklen Gebüsch, an den Rändern der grünen Wege und angesichts der großen Freiheit starben sie zu Hunderten wie die verlassenen Tiere, ärmer und elender als diese, und der nasse Schnee fiel in ihre offe­ nen Augen."65o Für etwa die Hälfte der Verschleppten endeten die Qualen bald darauf, weil der hintere Teil des Trecks von amerikanischen Truppen eingeholt wurde, der Rest wurde am Nachmittag des 30. April - Dachau, München, Starnberg und das nahe Penzberg befanden sich schon in amerikanischer Hand - ohne Erbarmen weitergetrieben. Bald darauf teilte sich der Elendszug in eine Marschsäule "Reichsdeutscher" und in eine Kolonne von Juden und Russen, die nach der Beobachtung eines österreich ischen Häftlings "noch viel ärger behandelt" wurden als die deutschen Gefangenen.6)[ Nach einem Wettersturz begann es in dicken Flocken zu schneien, und wieder blieb einer nach dem anderen auf der Strecke. "Wie wir später erfuhren", schreibt einer der Mit­ ziehenden, "wurden sie, wenn sie noch lebten, entweder durch eine Benzinspritze oder durch einen Kopfschuß ,erlöst', je nachdem, ob es in einer Ortschaft oder auf freiem Gelände sich zutrug."652 Am Abend breitete sich unter den Häftlingen das Gefühl aus, die SS gehe daran, das lang erwartete Massaker vorzubereiten. In stock­ dunkler Nacht trieben die Wachmannschaften den Treck in eine Talschlucht. "Die Schlucht hatte nur einen Eingang, und da waren die SS mit ihren Gewehren. Die Wände waren so steil, daß keiner von uns Kraftlosen hinaufgekommen"653 wäre - "das schönste Massengrab"654. Doch wer nicht an Unterkühlung oder Hungers starb, überlebte auch diese Nacht. Weshalb es nicht zu der sicherlich erwogenen, vielleicht sogar befohlenen Massentö• tung gekommen ist, ist nicht mehr zu klären. Einerseits hätte es gewiß nicht an Wach­ leuten - manche von ihnen in einer langen Lagerkarriere ohnehin hinreichend blutbe­ sudelt - gefehlt, die selbst jetzt noch oder gerade jetzt dazu bereit gewesen wären, unter den ihnen Anvertrauten, die in wenigen Stunden auf der Seite der Sieger stehen würden, "aufzuräumen". Anders als das Begleitpersonal des Dachauer "Prominenten"­ Transports nach Südtirol65 5, hatten es die SS-Leute hier mit einem Zug "Namenloser" zu tun. Das würde das Mordgeschäft auch einfacher machen. Andererseits konnten die Begleitmannschaften des Dachauer Evakuierungsmarsches nicht übersehen, daß der Krieg für sie jede Stunde zu Ende gehen mußte. Viele Wachen waren bereits de­ sertiert. Anders als noch das Mordpersonal, das die Todesmärsche aus dem Osten be­ gleitete, anders vielleicht auch noch als die Männer, die die Buchenwalder und Flos-

648 Amerikanischer Bericht über die Vernehmung des Unterscharführers Albin Gretsch; Archiv der KZ Ge- denkstätte Dachau, Nr. 5434. 649 Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. 650 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 375. 651 Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dach_u, Nr. 20.967. 652 Bericht des Häftlings Fr_nz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 653 Bericht des Häftlings Rupert Schmidt; Archiv der KZ Gedenkstätte Dach_u, Nr. 5685. Vgl. auch die Be­ richte der Häftlinge Malina und Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dach_u, Nr. 20.967 und Nr. 25.824. 654 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 655 Vgl. oben in diesem Kapitel. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 909 senbürger Häftlinge in eine vermeintliche ,,Alpenfestung"656 trieben, gab es für die Wachen des Dachauer Zuges überhaupt nichts mehr, woran sie sich noch hätten hal­ ten können. Das erhöhte in gewisser Weise zwar die Gefahr, daß einzelne Desperados sich zu einem Amoklauf hinreißen lassen würden, doch scheint die definitiv ausweglos gewordene Situation die Mehrzahl des Wachpersonals eher dazu bestimmt zu haben, Mordbefehlen oder eigener Mordlust im Zweifel weniger schnell nachzugeben als vielleicht sonst. Einige der Überlebenden des Evakuierungsmarsches schreiben es der Intervention eines Wehrmachtsoffiziers zu, daß es zu keiner Massenexekution mehr gekommen ist,657 Doch das ist ebensowenig zu klären wie das, was in dieser Nacht in der Nähe von Bad Tölz wirklich hätte stattfinden sollen. Ein SS-Mann soll kurz nach der Befrei­ ung des Zuges durch die Amerikaner zugegeben haben, daß die Häftlinge tatsächlich hätten "liquidiert" werden sollen.658 "Durch einige SS-Leute, welche ihre Haut retten wollten, erfuhren wir", überliefert ein anderer Gefangener, "daß der Befehl gegeben war, uns umzulegen, falls es unmöglich sei, uns noch weiter nach Tirol mitzuschlep­ pen."659 Als die fünfte Nacht überstanden war, bedeckten 25 bis 30 Zentimeter Schnee den Boden. Da manche sich am Vorabend in Matsch und Schnee einfach fallengelassen und den ein wenig Schutz bietenden Wald nicht mehr erreicht hatten, lagen auch am 1. Mai wiederum überall Leichen umher. "Bereits um 7 Uhr früh hieß es wieder: Auf! Wieder krachten Schüsse, wurden die Hunde auf die Verfolgten gehetzt, weil die er­ schöpften und zu Tode ermüdeten Gefangenen nicht schnell genug auf die Füße ka­ men. Anscheinend hatte es die SS wieder sehr eilig."660 Ein Häftling wurde dabei "mit dem Bajonett durchstochen, weil er sich nicht beeilte und seinen Tee fertigkochen wollte"661. An diesem Morgen kümmerten sich die SS-Posten auch das letzte Mal um Verpflegung für den Gefangenenzug. Sie bestand aus dem Kadaver eines Pferdes, das sich die Wachmannschaft zuvor geschlachtet hatte.662 "Truppweise durften die Häft• linge darüber herstürzen. Ein wildes Balgen und Abreißen begann. Wenn der Andrang zu stark war, gab es Kolbenschläge und Schüsse fielen. Man konnte sehen, daß die SS aus bloßer Begeisterung und Vergnügen schoß, denn so schnell konnte sich kein Häft• ling von dem Kadaver ein Stück abreißen. Der größte Teil hatte überhaupt kein Werkzeug dazu. Ich sah, wie einige Häftlinge sich buchstäblich am Kadaver hingelegt hatten, um sich mit den Zähnen ein Stück abzubeißen."663 Auf diesem Tiefpunkt der Existenz angelangt, konnte mancher Überlebende einer oftmals jahrelangen Odyssee durch den Archipel der deutschen Lager aber doch schon ahnen, daß ihn nur noch Stunden von der Freiheit trennten. Unausdenklich,

65' Vgl. VII/4. 65' Vgl. die Berichte der Häftlinge: Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Rupert Schmidt; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. Siehe auch den Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. 658 Bericht des Häftlings Leopold Mahna; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. 659 Bericht des Häftlings Karl Rüdrich, Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 21.726. 660 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 661 Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Die folgende Schil· derung ebenda. 662 Vgl. den Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. 663 Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. Das folgende Zitat ebenda. 910 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland wie viele von ihnen noch in der Kälte hätten sterben müssen, wenn der Elendszug tat­ sächlich wie geplant bis ins Gebirge getrieben worden wäre. Ein letztes Mal ging es bei dichtem Schneefall weiter; die Wachmannschaften, von denen sich stündlich mehr in die Büsche schlugen, konnten ihre Nervosität zunehmend weniger verbergen; noch durch Bad Tölz hindurch, dann nach wenigen Kilometern erneut ein Nachtlager. Zu­ vor hatten sich bereits die Anzeichen dafür gehäuft, daß es inzwischen mehr und mehr Wehrmachtseinheiten zu sein schienen, die jetzt das Heft in der Hand hatten. Am Morgen des 2. Mai 1945 - wieder hatte es "Tote über Tote" gegeben664 - lief dann tatsächlich die nach und nach zur Gewißheit werdende Nachricht durch die Rei­ hen: "Die SS ist weg! Sie sind abgehauen!"665 Einige ihrer Hunde fand man im Wald an Bäume gebunden.666 Der nächstgelegene Ort hieß Waakirchen, und dorthin zog der Troß der Geschun­ denen nun. Sie strömten in die Heustadel, Scheunen und Ställe, und es dauerte eine Weile, bis die Einheimischen ihr Mißtrauen gegenüber den "KZlern" abzulegen be­ gannen. ,,Als man ihnen erklärte, wer wir seien und was die SS mit uns vorhatte, wur­ den sie langsam warm und faßten Zutrauen zu uns", erinnert sich einer der Gerette­ ten.667 Sogar ein Kalb sollen die Bauern für die befreiten Häftlinge geschlachtet ha­ ben.668 Am Nachmittag dann die ersten Amerikaner: "Es mußten erst Menschen über den Ozean kommen", so wird es nicht nur dem befreiten Konzentrationslagerhäftling Heinrich Pakullis aus Köln-Ehrenfeld durch den Kopf gegangen sein, "um uns in letzter Stunde aus den mörderischen Klauen unserer ,Landsleute' zu befreien"669; für einen anderen Teil des Zuges kam die Befreiung 10,20 Kilometer weiter am Tegern­ see. Unter den oberbayerischen "Landsleuten" der Konzentrationslagerhäftlinge, die mit angesehen haben, wie sich der Dachauer Elendszug in der letzten Aprilwoche 1945 durch ihre Dörfer und Städte wälzte, scheint nach allen vorliegenden Zeugnissen überwiegend Bestürzung und Entsetzen über die viehische Art und Weise geherrscht zu haben, mit der die Unglückseligen vorangetrieben wurden. Mehrere Gefangene ha­ ben nach ihrer Rettung von den "erschrockenen Gesichtern in allen Fenstern"67o, von "zum großen Teil erschütterten" Passanten671 , von "manchen Frauen" am Straßenrand berichtet, denen bei diesem Anblick Tränen in die Augen getreten seien.672 Meist blieb es aber nicht bei solchen Gesten stummen Entsetzens, sondern es kam längs des Marschweges überall zu einer Fülle von Versuchen, den - so der Kreisdekan von München - "wie Tieren"673 Vorwärtsgetriebenen, wenn man schon sonst nichts unter-

664 Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. 665 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 666 Bericht des Häftlings Erich Röhl, Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. 667 Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. 668 Bericht des Häftlings Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 669 Bericht des Häftlings Heinrich Pakullis; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 233. 670 Siehe die Aufstellung des Internationalen Suchdienstes "Evacuation of the e.e. Dachau" v. 28. 4. 1950; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 15.786. 671 Bericht des Häftlings Karl Rüdrich; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 21.726. 672 Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Das Zitat ebenda. Einige Augenzeugenberichte von Passanten bei Ulrich Brochhagen u. a., Auf den Spuren. Evakuierung des KZ Dachau April 1945, Broschüre des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend der Erzdiözese Mün· ehen und Freising, 0.]., S. 24f. 673 Bericht "Zur Lage" des EV.-Luth. Kreisdekans München an die Dekanate des südbayerischen Kirchenkrei­ ses v. 5.5. 1945; LKA Nümberg, Bestand Dek. Oettingen, Nr. 25. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 911

nehmen konnte, wenigstens etwas Wasser zu bringen oder ihnen eine Handvoll Kar­ toffeln und ein Stück Brot zuzustecken. Daß bereits mit kleinsten Diensten wie diesen großes Risiko verbunden war, bekam jeder zu spüren, der irgendwie helfen wollte. Dort, wo der Treck bei Tag durchzog, kam es entlang der gesamten Wegstrecke zu zahlreichen Zwischenfällen mit den Wachen. So gab etwa eine Hausfrau aus Gauting bei München bald nach Kriegsende zu Protokoll, wie es Anwohnern ergangen war, die einem gestürzten Häftling Linde­ rung verschaffen wollten: ,,Als Leute aus der Nachbarschaft Kaffee bringen woll­ ten, wurde vom Posten mit Erschießen gedroht. An der nächsten Straßenecke lag ein anderer Häftling, der mit den Füßen getreten wurde, worauf die Vorübergehenden scharf protestierten. Einer der Posten war besonders roh ... Er drohte den Frauen, daß [sie), wenn sie jetzt nicht ruhig sind, auch mitmarschieren müssen."674 Solche Versu­ che, Hilfe zu bringen, waren keine Einzelfälle. Einige Kilometer weiter, bei Höhen• rain, organisierten die Dorfbewohner eine regelrechte Verpflegungsaktion. Der Bäcker teilte Brot aus, Frauen schleppten kuhwarme Milch, Kartoffeln und was sie gerade im Hause fanden zur Straße. Zahlreichen Häftlingen soll es hier und in einigen Nachbar­ dörfern sogar gelungen sein, vorübergehend in die Häuser zu drängen, wo "sofort überall gekocht"675 worden sein soll. Entsprechend brutal reagierten die mitziehenden Wachen. Ein SS-Mann schoß kurzerhand in ein Haus hinein und verletzte dabei eine Frau. In Wolfratshausen kam es am Morgen zu ähnlichen Zwischenfällen, als die SS einige Frauen daran hindern wollte, Häftlingen Wasser zu bringen. "Darüber empörten sich einige Bewohner sehr, und vor allem die Frauen nahmen energisch gegen die SS-Be­ wachung Stellung", berichtet ein Häftling.676 Nicht nur hier, sondern auch an anderen Abschnitten der Evakuierungsstrecke mußten die Posten Knüppel und Gewehrkol­ ben einsetzen, um Bevölkerung und um Hilfe flehende Gefangene zu trennen. Manchmal ließen sie auch die Hunde von der Leine, und zwar - wie ein anderer Ge­ fangener beobachtete - nicht nur gegen die Marschkolonne, sondern auch "gegen die wehrlose Bevölkerung"677. Selbstverständlich wird unter den Einheimischen, die jetzt so massiv wie niemals zuvor der Brutalität ihres Regimes ansichtig wurden, mancher am Straßenrand gestan­ den haben, der sich um die vorbeigetriebenen "KZler" wenig scherte, die manches auf dem Kerbholz haben und wahrscheinlich sogar mit schuld sein mochten am Unglück des Vaterlands, für den irgendwelche Hilfsdienste für die Verschleppten allein schon aus Abneigung gegen diese unbequeme Spezies nicht in Frage kamen. Letztlich muß• ten aber auch die aus Mitleid und Nächstenliebe kommenden kleinen Dienste der Be­ völkerung im bayerischen Oberland nur aufmunternde Geste und bescheidene Für• sorglichkeit bleiben. Hilfe in dem dringend erforderlichen Maß konnte nur von der

674 Bericht von Lisel Oppermann aus Gauting v. 9. 11. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 773. 675 So die Darstellung des Wolfratshauser Kaplans Ulrich Winner in Teil II und Teil III seiner Dokumenta­ tion "Dem Ende entgegen"; Isar-Loisachbote, 23.6. bzw. 30.6. 1965. Dort auch zum folgenden und wei­ tere Details zu Hilfsaktionen der einheimischen Bevölkerung. 676 Bericht des Häftlings Pranz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 677 Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. Vgl. auch den "Bericht über Mißhandlung" des Gemeindeschreibers von Höhenrain v. 8. 11. 1945; Archiv der KZ Ge­ denkstätte Dachau, Nr. 779. Vgl. auch die Aussage des Unterscharführers Albin Gretsch im amerikani­ schen Verhör am 31. 10.1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5434. 912 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

U.S. Army kommen - und die Amerikaner setzten tatsächlich sofort alle Hebel in Be­ wegung, um das Los der Geschundenen zu erleichtern. Die meisten der in Waakirchen und in der Umgebung Befreiten fanden vor ihrem Weitertransport in Sammellagern oder anderen Unterkünften für einige Tage in der am Stadtrand von Bad Tölz gelegenen Junkerschule der SS eine erste Bleibe. An den Jahren im Konzentrationslager gemessen, genossen die geretteten Häftlinge hier pa­ radisische Verhältnisse - warme Zimmer, warmes Essen, Zigaretten, Zwieback.678 "Von den Amerikanern wurden wir gut behandelt", so der einstige Häftling Leopold Malina aus Wien: "Das Essen war reichlich, und fast jeder hatte sein Bett mit Matrat­ zen und Leintuch, was wir ja gar nicht mehr nach jahrelanger Entbehrung gewohnt waren. Einige kamen später noch nach, die sich verlaufen hatten. Das Wetter wur­ de zusehends schöner, so daß die Leute ohne Hemd auf der Wiese liegen konn­ ten."679 Das Entsetzen der amerikanischen Soldaten der 36. Infanteriedivision, die die Masse der Verschleppten aus Dachau im Voralpenland befreit hatten, war nicht gerin­ ger als die Abscheu ihrer Kameraden, die solche Szenen der Brutalität und Verrohung Tage und Wochen zuvor in Thüringen oder der Oberpfalz zu Gesicht bekommen hat­ ten. "Die ganze Division", so heißt es in einem Bericht zu dem Anblick Tausender "wie Ameisen" auf den Straßen zwischen Weilheim und dem Tegernsee Umherir­ rende "war beim Anblick dieser politischen Häftlinge entsetzt ... In Seeshaupt wurden mehrere Waggons voller Leichen entdeckt. Um der deutschen Zivilbevölkerung die Schwere der Grausamkeiten einzuprägen, die ihre Regierung begangen hatte, wurden Hunderte zu den Schauplätzen geschafft und dort Zeugen dieser grausigen Szenen. Viele waren tief betroffen." Mit in die Fassungslosigkeit über das Vorgefundene, die den Military Government Officer der Division aber dennoch nicht dazu verleitete, in einem ersten Impuls die einheimische Bevölkerung umstandslos für die entdeckten Greuel verantwortlich zu machen, mischte sich bei dem Verfasser zugleich auch die beträchtliche Ratlosigkeit darüber, welchen rationalen Zweck das Regime mit dieser Verschleppungsaktion so kurz vor Kriegsende verfolgt haben könnte. Das führte ihn so weit, in seinen Bericht eine aus nicht näher bezeichneten Quellen stammende Theorie aufzunehmen, nach der die Evakuierungsmärsche wohl eine Taktik der Wehrmacht gewesen seien, um den Vormarsch der amerikanischen Verbände zu be­ hindern.680 Für wie viele Menschen, die sich am 26. April 1945 auf den Vernichtungsmarsch aus Dachau begeben hatten, alle Hilfe zu spät kam, wird sich wie manches in dieser Endphase nicht mehr exakt klären lassen. Sicher ist nur, daß die Zahl der Opfer in die Hunderte gegangen sein muß; auf jeden Fall waren es sehr viel mehr als die knapp 170 Umgekommenen, die vom Internationalen Suchdienst bis 1950 zweifelsfrei nach­ 68 gewiesen waren. ! Von den Häftlingen selbst wurden die unterschiedlichsten Schät• zungen (die vor allem wegen der Dunkelziffer der Geflohenen problematisch sind) an-

678 Vgl. die Schilderungen der Häftlinge Rupert Schmidt; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 5685. Franz Scherz; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 26.448. 679 Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. 680 36th Infantry Division, Military Governrnent Section, "Operations in Germany and Austria, Month of May 1945"; NA, RG 407, Box 9866. Hervorhebung von mir. 681 Vgl. Karte und Übersicht des Internationalen Suchdienstes zu den Dachauer Evakuierungstransporten v. 7.3. bzw. 28.4.1950; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 737 bzw. Nr. 15.786. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 913 gestellt. Einer schrieb etwa, ,,1000 bis 1500" seien auf der Strecke geblieben, "der größte Teil davon von den Mördern und Banditen errnordet"682. Ein anderer hielt ohne nähere Spezifizierung fest: "Ungefähr 3000 Menschenleben hat dieser Todes­ marsch gekostet."683 Wieder ein anderer nennt ohne Angaben von Quellen eine Reihe genauer Zahlen (sie summieren sich auf 636 Tote), zu denen zwei unspezifische Quan­ tifizierungen für den 30. April ("Hunderte von Toten") und den 2. Mai 1945 ("Tote über Tote") hinzuzuaddieren wären.684 Aus diesen Angaben ist mit der nötigen Vor­ sicht wohl der Schluß zu ziehen, daß auf dem am 26. April 1945 beginnenden Ver­ schleppungsmarsch von über 10.000 Dachauer Häftlingen in das bayerische Oberland zwischen Starnberger See und Tegernsee wohl mindestens 1000 Häftlinge erschossen, erschlagen, "abgespritzt" worden oder gestorben sein könnten.685

Der 29. April 1945 Zur selben Zeit als in Süddeutschland die Evakuierungstransporte aus den Dachauer Lagern abgingen, platzte in Norddeutschland die Seifenblase der Himmlerschen Son­ derfriedensbemühungen. Der "Reichsführer-SS", dem die eingeschränkte Handlungs­ möglichkeit Hitlers im abgeriegelten Berlin sehr zupaß kam und seinen Mut beträcht• lich steigerte, hatte den Grafen Folke Bernadotte inzwischen offen dazu gedrängt, nunmehr ein förmliches Kapitulationsangebot an die Westmächte zu bringen und eine persönliche Begegnung mit General Eisenhower zu arrangieren.686 Diese Initia­ tive blieb aber erfolglos, die Alliierten wiesen dieses ,,Angebot" zurück687 , das illusori­ sche, zynische Spiel des "Reichsführers-SS" war vorbei. Hitler erfuhr vom Verrat sei­ nes "treuen Heinrich" in der Nacht vom 28. zum 29. April aus einer Reuter-Meldung - der "schwerste denkbare Schlag"688 für ihn. Habhaft werden konnte er seines Ter­ rorchefs, den er sämtlicher Ämter entkleidete, aber nicht mehr; der brachte sich wäh• rend eines britischen Verhörs selbst um. Dem "Reichsführer-SS" und seinen Hauptkomplicen war in den letzten drei, vier Tagen des April auch ihre Verfügungsgewalt über die noch nicht befreiten Konzentra­ tionslager im Süden (Theresienstadt, Dachau, Mauthausen) abhanden gekommen. Im Stammlager Dachau brach die Evakuierungs-"Politik" der SS nach dem Ausmarsch des großen Verschleppungstrecks am 26. April faktisch zusammen. Am 27. April mußte zwar noch einmal eine letzte Gruppe von ungefähr 2000 Häftlingen zur Bahn­ verladung marschieren, danach ließen sich die Räumungen (schon, weil ein Großteil der Wachmannschaften mit den Evakuierten abgerückt war) nicht mehr durchsetzen.

682 Bericht des Häftlings Leopold Malina; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.967. 6" Bericht des Häftlings Karl Rüdrich; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 21.726. 684 Bericht des Häftlings Erich Röhl; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.824. 685 Aus den Angaben, die den Berichten der U.S. Anny über die Zahl der befreiten Häftlinge zu entnehmen sind, läßt sich ebenfalls keine exakte Verlustbilanz errechnen. Selbst der detaillierte Weekly Report des XXI Corps v. 5.5. 1945 ist dazu nicht ausreichend genau: In und in der Nähe von Wolfratshausen seien "ungefähr 8000 DP's, meist politische Gefangene" befreit worden, "weitere 2000" in Waakirchen. Hervor­ hebung von mir; NA, RG 407, Box 5272. Vgl. auch den Abschnitt "Sicherheitszustand" in dem Lagebe­ richt des Landrats von Bad Tölz an das Regierungspräsidium München v. 11. 6. 1945; StA München, LRA 134066. Vgl. auch die Angaben in: "Kurzer Bericht eines Augenzeugen, des ehemaligen Dachauer Häft• lings Wemer Groß aus Nürtingen, über den Todesmarsch in die Berge", in: Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 289fl. 686 Vgl. oben in diesem Kapitel. 681 Hierzu Pogue, Supreme Command, S. 476f. 688 Fest, Hitler, S. 1015. 914 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

An diesem Punkt hat die Lagerleitung vielleicht tatsächlich auch von sich aus darauf verzichtet.689 Nachdem auch die letzten Gefangenen des "Prominenten"-Transports690 aus Da­ chau fortgeschafft waren, begann sich im Stammlager eine "großartige Anarchie der Befehle"69I breitzumachen. Obwohl am 27. April Anordnungen zu weiteren Evakuie­ rungstransporten ergingen, wurden sie von den Häftlingen, die statt dessen "abwar­ tend auf den Blöcken"692 blieben, nicht befolgt. Am nächsten Morgen erging ein "neuer, schwacher Befehl, aber es wird kein Ernst"693. Ein Abgesandter des Internatio­ nalen Roten Kreuzes - er hatte als erster freier Ausländer überhaupt Zutritt zum La­ ger erhalten - erlebte am vorletzten und letzten Tag vor der Befreiung jene "seltsame Atmosphäre", die inzwischen das ganze Lager erlaßt hatte. Überall waren außerdem massive Anzeichen der Auflösung auszumachen: "Wohin man auch sah", schrieb er, "gab es Anzeichen dafür, daß die Truppen, die in den Baracken gehaust hatten, geflo­ hen waren."694 Die Häftlinge selbst spürten es erst recht, daß das Ende "Dachaus" unmittelbar be­ vorstand; "Zwischentage"695 nannte einer von ihnen die kurze Spanne zwischen Teil­ evakuierung und Befreiung: Seit längerem brannten bereits die "Überreste eines Ef­ fektenzeltes, aus dem die SS die besseren Sachen herausgeholt" hatte; "die SS rafft zusammen, was irgendwie von Wert ist"696; dazwischen "Fallschirmalarm"697 (oder ist es "Panzeralarm"?698), von dem niemand weiß, was er zu bedeuten hat; dann Ge­ rüchte, die Lagerkommandantur sei abgerückt699 , es seien nur noch 400, nur noch 250 SS-Leute im Lager700 ; am Nachmittag des 28. April "das Allerneueste": Die "SS türmt in vollen Zügen"701. Und kurz darauf: "Mächtige Rauchsäulen steigen in der Gegend des Reviers auf. Eine Bewegung geht durchs Lager, als die Ursache bekannt wird: sie verbrennen die letzten Dokumente und Akten. Schluß in Dachau - das ist das Ende." Das nahe Ende von Dachau mußte für die Gefangenen nicht unfehlbar auch die Be-

689 Vgl. Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 281 f. 690 Vgl. oben in diesem Kapitel. 691 Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 196 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). 692 Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 37 (Tagebucheintragung v. 27.4. 1945). Siehe auch Rost, Goethe in Dachau, S. 238 (Tagebucheintragung v. 27. 4. 1945, abends 7 Uhr). 693 Steinbock, Ende von Dachau, S. 25. Vgl. zur Verschleppung der ergehenden Befehle den Bericht des Häft• lings atto Schiftan "Die Befreiung des KZ. Dachau" v. 27.4. 1946; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 11.675. 69' Bericht des IRK-Repräsentanten Victor Maurer; zit. nach Marcus J. Smith, The Harrowing of Hell, Albu- querque 1972, S. 257. 695 Steinbock, Ende von Dachau, S. 25. Das folgende Zitat ebenda. 696 Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 251 (Tagebucheintragung v. 27.4. 1945). 697 Haulot, Lagertagebuch, S. 192 (Eintragung v. 27.4. 1945). 698 Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 194 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Siehe auch Rost, Goethe in Dachau, S. 239 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). 699 Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 250 (Tagebucheintragung v. 27.4. 1945). 700 Vgl. ebenda, S. 252 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 38 (Tagebucheintragung v.28. 4. 1945). 701 Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 199 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). Das folgende Zitat eben da, S. 202. In der Nacht vom 28. auf den 29. April konstituierte sich ein Internationales Häftlings-Komitee, das sich aus 15 Persönlichkeiten aus 12 Nationen zusammensetzte. Vgl. Berben, Dachau, S. 189. Wolfgang Benz, Zwischen Befreiung und Heimkehr. Das Dachauer Internationale Häftlings-Komitee und die Ver­ waltung des Lagers im Mai und Juni 1945, in: Dachauer Hefte 1 (1985), H. 1, S. 39ff. Eine ausführliche Darstellung der Schlußphase des Lagers gibt auch der Bericht von Ali Ku~i und Arthur Haulot vom Inter­ nationalen Häftlings-Komitee "The last Days of Dachau", 16.5. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Da­ chau, Nr. 25.633. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 915

freiung und das Ende ihres Leidensweges bedeuten, jetzt konnte genauso gut der Mo­ ment der Vernichtung der im Stammlager verbliebenen über 30.000 Häftlinge ge­ kommen sein. Bei den Insassen wuchs mit zunehmender Desintegration des Lagers die Furcht, daß (wie der Häftling Edgar Kupfer-Koberwitz am 25. April notierte) "die SS im letzten Fanatismus noch etwas gegen uns unternehmen wird. Es wird für uns mit jeder Stunde gefährlicher."702 Das erschreckende Gerücht lief durchs Lager, alle würden in Kürze ermordet, und einzelne SS-Leute haben wohl auch angedeutet, daß die Insassen "durch Maschinengewehre oder durch Bombenabwurf niedergeschmet­ tert werden" sollten.703 Der berüchtigte Rapportführer Böttger sagte nach seiner Ver­ haftung, es sei geplant gewesen, am 29. April, um 9 Uhr abends, alle Häftlinge auf dem Appellplatz antreten zu lassen. "Dann sollten sie mit dem Maschinengewehr nie­ dergeschossen und das Lager durch Flammenwerfer verbrannt werden."704 Es waren Mitteilungen und Gerüchte wie diese, die nach dem Zeugnis des Mün• chener Weihbischofes Johann Neuhäusler die Gefangenen "fast zum Wahnsinn" trieben.705 Nicht viele, die in "Hochspannung"706 nicht zwischen "Weltuntergangs­ stimmung"707 und erregter Vorfreude auf die Ankunft der amerikanischen Truppen hin- und hergerissen worden wären. Am 27. April waren sogar die besonnenen und umsichtig Agierenden unter den politischen Gefangenen der Meinung, daß "jeden Moment ein allgemeines Massaker stattfinden"708 könne. Am 29. April, dem Tag der Befreiung, schien alles "auf des Messers Schneide"709 zu stehen. Daß Hitler die Häftlinge in den Konzentrationslagern mit in den Untergang reißen wollte, leidet ebensowenig ZweifeFlo wie die Entschlossenheit einer Reihe höchster SS-Führer zum Mord an ihren Gefangenen in letzter Stunde. Von Bergen-Belsen ab­ gesehen, sind nach dem Krieg praktisch für sämtliche Lager irgendwelche Vernich­ tungspläne ans Licht gekommen, und die Bilanz der noch im April 1945 an den Ge­ fangenen begangenen Verbrechen spricht dieselbe Sprache. Es fällt deshalb leicht, dem Kommandanten des Lagers Neuengamme Glauben zu schenken, der in seinem Strafprozeß aussagte, Obergruppenführer Oswald Pohl, Chef des SS-Wirtschaftsver­ waltungshauptamtes und Herr der Konzentrationslager, habe "den Lagerführern ge­ sagt, wir sollten uns darüber Gedanken machen, wie man beim Anrücken der Alliier­ ten die Häftlinge am schnellsten mit Gas oder anderen Mitteln umbringen könnte"711. Im einzelnen sind die Pläne für die Endphasemassaker in den Konzentrationsla­ gern aus naheliegenden Gründen freilich nur sehr schwer eindeutig nachzuweisen. Das gilt auch für Dachau. Da die Creme des nationalsozialistischen Staatsterrorismus

702 Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 249 (Tagebucheintragung v. 25.4. 1945). 703 Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 38. Vgl. auch Rost, Goethe in Dachau, S. 229 (Tagebuchein­ tragung v. 24.4. 1945) und S. 240 (Tagebucheintragung v. 28.4. 1945). 704 So Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 264 (Tagebucheintragung v. 12.5. 1945). Siehe auch Michelet, Frei­ heitsstraße, S. 246. 70' Neuhäusler, Dachau, S. 67. 706 Bericht des Häftlings Kar! Riemer ,,Amerikaner helfen!" v. 11. 5. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Da- chau, Nr. 7639. 707 Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 280. 708 Ku~i, Haulot, The last Days of Dachau, 10.6. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 25.633. 709 Bericht des Häftlings Otto Schiftan; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 11.675. 710 Vgl. oben in diesem Kapitel. 711 Aussage des Konzentrationslager-Kommandanten Max Pauly im Curiohaus-Prozeß in Hamburg am 3. April 1946; zit. nach Rudi Goguel, "Cap Arcon.". Report über den Untergang der Häftlingsflotte in der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945, Frankfurt 1972, S. 29. 916 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland nach 1945 in erster Linie damit beschäftigt war, ihre Machtkämpfe und Privatfehden fortzuführen und sich vor Gericht gegenseitig so schwer zu belasten wie es nur ging, sich in Lügengewebe einzuhüllen oder sich gar als Retter Tausender unschuldiger Ge­ fangener aufzuspielen, wird kaum noch genauer zu klären sein, wer von ihnen wann welchen Mordplan für das Lager Dachau erdacht, befohlen oder vereitelt hat. Immer­ hin liegen ausreichend Erklärungen und Zeugenaussagen vor, nach denen tatsächlich geplant gewesen sein könnte, die Außen lager durch die Luftwaffe bombardieren zu lassen (Operation "Wolke Al ") und die Insassen des Stammlagers, mit Ausnahme der "arischen" Staatsangehörigen der Westmächte, zu vergiften ("Wolkenbrand").712 Mög• licherweise spielte bei diesen Plänen der Münchener Gauleiter Paul Giesler, den Hit­ ler in seinem Testament immerhin zum Nachfolger Heinrich Himmlers bestimmt hatte, eine Hauptrolle. Wie dem gewesen sein mag, jedenfalls scheint es innerhalb der Mordclique an der Spitze wie auch innerhalb der Lagerführung kurz vor der Ankunft der amerikanischen Truppen ausreichend Dissens gegeben zu haben, um den Versuch einer Massentötung der Dachauer Häftlinge scheitern zu lassen. "Ein Nichtsiegen der Amerikaner halten alle für unmöglich", notierte der Häftling 713 Kupfer-Koberwitz am Morgen des 29. April 1945 in sein Tagebuch , die Frage war nur, ob die Insassen des Konzentrationslagers diesen Sieg noch erleben würden. Auf amerikanischer Seite gab es am Sieg selbstverständlich nicht den allermindesten Zweifel, denn seit einer guten Woche konnte in Süddeutsch land von ernstlichen Ge­ fechten nirgendwo mehr die Rede sein.714 Die Soldaten des 157th Infantry Regiment, das an diesem Tag Dachau befreite, spotteten, "man würde überhaupt nicht merken, daß Krieg ist, wenn nicht so verdammt viele Leute in Uniform herumliefen" - "Man spürte den Sieg in der Luft liegen."715 Für die 45th Infantry Division (der das 157. Infanterieregiment unterstellt war) und die 42nd Infantry Division, die den Vorstoß der Seventh Untited States Army in Rich­ tung München und Salzburg hauptsächlich zu tragen hatten, war die Befreiung des in der Welt bekanntesten deutschen Konzentrationslagers - militärisch gesehen - eine Unternehmung en passant. Eine gewisse Unübersichtlichkeit ergab sich lediglich dar­ aus, daß die Grenze zwischen beiden Divisionen nicht nur durch die Stadt Dachau, sondern durch das Lager selbst lief.1 16 Die mutige Aktion einiger geflohener Häft• linge, die sich am 26. April nach Norden zu den amerikanischen Linien durchzuschla­ gen begannen, um die Truppen dort zu alarmieren und zu einer Blitzoperation zur Befreiung des Konzentrationslagers zu bewegen, war ohne jeden Einfluß auf den Vormarsch der U.S. Army - schon allein deshalb, weil die rettenden Kompanien zu dem Zeitpunkt schon unterwegs waren, ja das Lager bereits erreicht hatten, als der aus Dachau entkommene Häftling Karl Riemer seinen Appell an einen amerikanischen Offizier richtete.717 Mitnichten erfolgte "das Eingreifen der Amerikaner erst auf die

712 Ausführlich zu diesen Mordplänen Berben, Dachau, S. 179 H. Siehe auch die Erklärungen und Aussagen im Nürnberger Prozeß: IMT, IV, S. 339 ff.; IMT, XI, S. 315 ff.; IMT, XVII, S. 438 ff.; IMT, XX, S. 336 ff.; IMT, XXXII, S. 294ff. 713 Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 253 (Tagebuch eintragung v. 29.4. 1945). 714 Vgl. VII!4. 71' History of the 157th Infantry Regiment (Rifle), 4 June '43 - 8 May '45, Baton Rouge 1946, S. 162. 716 Vgl. Daly (Hrsg.), 42nd "Rainbow" Infantry Division, S. 96. Vgl. die Lagekarten in: Seventh United States Army, Report of Operations, bei S. 814 und S. 832. 717 Bericht des Häftlings Karl Riemer ,,Amerikaner helfen!" v. 11. 5. 1945; Archiv der KZ Gedenkstätte 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 917

Intervention deutscher Häftlinge" hin, wie Os kar Müller, seit Mitte April letzter "La­ gerältester" in Dachau, Mitglied des Internationalen Häftlings-Komitees und 1945/46 hessischer Arbeitsminister, nach dem Krieg behauptete. Noch weniger Wahrheitsge­ halt steckt in der in die Literatur eingegangenen und zur Legende gewordenen Theo­ rie Müllers: "Wäre es also unseren Kameraden nicht gelungen, bis zu den Amerika­ nern durchzustoßen, dann müßte mit größter Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, daß die 32.000 Häftlinge noch vernichtet worden wären."7IB l9 Das 157th Infantry Regimene , dem nun unversehens eine historische Rolle zu­ fiel, war eine erfahrene Einheit, die schon in Sizilien, Salerno und Anzio gekämpft und noch Anfang April 1945 bei Aschaffenburg harte Gefechte zu bestehen gehabt hatte. Am 26. April war das Regiment bei Marxheim über die Donau gegangen, und am 28. April erhielt es den Hinweis, in seinem Gefechtsabschnitt befinde sich das Konzentrationslager Dachau. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Lieutenant Colonel Felix L. Sparks aus Arizona, der Kommandeur des 3. Bataillons, das die Spitze des Regi­ ments bildete, keinerlei Vorstellung davon, was ihn dort erwarten würde.720 Am frü• hen Morgen des 29. April hatte das Bataillon den Vormarsch auf München bereits wieder aufgenommen, als Sparks kurz danach der Regimentsbefehl erreichte, das La­ ger zu nehmen. Für diesen Auftrag zweigte er die während des Angriffs auf München in Reserve gehaltene I ab, die er bei dem Vorstoß auf das einen guten Kilo­ meter jenseits der Grenzen seines Gefechtsstreifens liegende Konzentrationslager selbst begleitete.721 Kurz vor Mittag erreichten die Amerikaner das Areal des riesigen SS-Lagers, wovon das eigentliche Konzentrationslager nur einen Teil bildete. Noch außerhalb der Stacheldrahtumzäumung erlitten die Soldaten einen "ersten Schock"721, als sie auf den berüchtigten, auf einem Stichgleis abgestellten Güterzug723 mit den Leichen Aberhunderter kurz zuvor nach Dachau evakuierter Häftlinge stie­ ßen. Zur Schützenkette formiert, stürmten die Männer der I Company nun auf das Haupttor im Jourhaus zu. "Der Anblick nahe dem Eingang zur Haftstätte ließ mich erstarren. Dantes Inferno schien blaß gegen die reale Hölle von Dachau", beschreibt Sparks diesen Moment. ,,Als ich mich umwandte, um über den Lagerhof zu schauen, sah ich, meinen Augen nicht trauend, eine große Anzahl toter Insassen, die da lagen, wo sie in den letzten Stunden oder Tagen vor unserem Eintreffen umgefallen waren. Da sich all die vielen Leichen in unterschiedlichen Stadien der Auflösung befanden, war der Gestank des Todes überwältigend." Für einige unter Sparks' Soldaten war die­ ser Anblick zu viel: "Etliche Männer der Ersten Kompanie, allesamt kriegsgewohnte

Dachau, Nr. 7639. Nach Riemers eigenem Bericht richtete er seinen Appell in PfaHenhofen an einen Offi­ zier der dort liegenden amerikanischen Truppen, dessen Namen er "nicht behalten" habe, am 29.4. 1945 um 13 Uhr. 7 i8 Schreiben Oskar Müllers an George Walraeve, Generalsekretär der Amicale de Dachau, v. 23. 10. 1958; Ar­ chiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 4205/49. Zu dieser Version vgl. z. B. Berben, Dachau, S. 192. Siehe auch Anhang 2 bei Rost, Goethe in Dachau, S. 249 ff. 719 Das folgende nach History of the 157th Infantry Regiment, S. 161 H. 720 Felix L. Sparks, Dachau and Its Liberation, Monograph Nr. 14 des 45th Infantry Division Museum, Okla­ homa City, masch., Januar 1990. Mit dieser Darstellung hat Sparks manche falsche oder unzureichende Darstellung über die Befreiung des Lagers zurechtrücken können. 721 Die detaillierte Darstellung der Befreiung sowie eine Auseinandersetzung mit der verstreuten Literatur hierzu bei Buechner, Dachau, S. 22 H., S. 68 H. und S. 115 f. Auch unter Heranziehung sämtlicher einschlä• giger Dokumente läßt sich der Zeitablauf der Befreiung nur auf etwa eine Stunde genau bestimmen. 722 Sparks-Bericht, Dachau and Its Liberation. Die folgenden Zitate ebenda. 723 Vgl. oben in diesem Kapitel. 918 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Veteranen, wurden aufs höchste erregt. Manche weinten, während andere in Raserei gerieten." Inzwischen hatten die Häftlinge bemerkt, daß die Amerikaner da waren: "Sie strömten zu Hunderten aus ihren überfüllten Baracken und drängten bald gegen die Stacheldrahtumzäunung. Sie begannen unisono zu rufen, was rasch zu einem schaudererregenden Brüllen wurde." Es war wohl unvermeidlich, daß bereits am Tag der Befreiung der Wettstreit um den Lorbeer, Befreier Dachaus zu sein, entbrannte. Das führte seitdem zu einer Fülle mehr oder weniger dramatisierter und stilisierter, geschönter, verkürzter oder erfunde­ 724 ner "Berichte" von beteiligten Einheiten und Personen , ganz zu schweigen von manchen Pressereportagen. Tatsache ist, daß eine Patrouille des zur 42. Infanteriedivi­ sion gehörenden 222nd Infantry Regiment, drei Jeeps unter Führung des stellvertre­ tenden Divisionskommandeurs Brigadegeneral Linden, in etwa zur selben Zeit beim Lager anlangte wie die Kompanie unter Sparks; eine amerikanische Zeitungskorre­ spondentin und ein Reporter der "Stars and Stripes" waren praktischerweise gleich mit von der Partie. Bereits am Haupttor zum Konzentrationslager kam es zu einem scharfen Zusam­ menstoß zwischen Oberstleutnant Sparks als dem höchstrangigen anwesenden Offi­ zier der 45. und General Linden von der 42. Division. Sparks hatte den strikten Befehl erhalten, das Camp nach der Ausschaltung der deutschen Wachmannschaften zu übernehmen, es scharf bewachen zu lassen ("airtight guard"725) und bis zur Ankunft von DP-Teams, medizinischem Personal und Spezialisten der War Crimes Commis­ sion niemanden hinein-, aber auch keinen Häftling hinauszulassen. Diese vernünftige und an sich selbstverständliche Maßnahme war mit dem verständlichen Ehrgeiz des Generals und seiner journalistischen Begleiter, die Stunde der Befreiung Dachaus bes­ ser zu nutzen, freilich schlecht vereinbar. Als Linden Zutritt zum Lager und für die Reporterin die Erlaubnis forderte, dort Interviews mit den Häftlingen zu führen, lehnte Sparks ab. Die Situation spitzte sich dramatisch zu, als die kleine Gruppe des 222. Infanterie­ regiments trotzdem begann, sich an dem Tor zu schaffen zu machen, gegen das inzwi­ schen schon die euphorischen und freiheitsdurstigen Häftlinge anbrandeten. Tatsäch• lich gelang ihnen, das Tor kurz zu öffnen und damit für einige Augenblicke ein "Pandämonium" zu entfachen. Es dauerte eine Weile, bis die Soldaten des 157th Re­ giment, die sich nicht mehr anders zu helfen wußten, als einige Salven über die Köpfe der Gefangenen hinweg abzugeben, das Tor wieder geschlossen und die Lage unter Kontrolle gebracht hatten. Danach zwang der mittlerweile ebenfalls schon entnervte Oberstleutnant Sparks den General (ein "Dandy", der sich darin gefiel, einen von Sparks' Männern mit einer Reitpeitsche auf den zu schlagen) mit vorgehal­ tener Pistole und unter energischem Hinweis auf seine Befehle, das Gelände des Da­ chauer Lagers zu verlassen.

724 Unter dem offiziösen amerikanischen Erinnerungsschrilttum sind zu nennen: Daly (Hrsg.), 42nd "Rain­ bow" Inlantry Division, S. 96ff. Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Filth (45th Inlantry Divi­ sion), S. 185ff. The Fumace and the Fire. The Story 01 a Regiment 01 Inlantry (222nd), Wien 1945, S. 6411. History 01 the 157th Inlanty Regiment, S. 161 ff. Vgl. daneben auch die offizielle Kriegsgeschichte der Seventh United States Anny, Report 01 Operations, S. 831 I. Die Version dort kann ebenlalls nicht als ex­ akt gelten. Siehe hierzu: Buechner, Dachau, S. 22 If., S. 681f., Robert H. Abzug, Inside the Vicious Hearl. Americans and the Liberation 01 Nazi Concentration Camps, New York 1985, S. 8711. 725 Sparks-Bericht, Dachau and Its Liberation. Das lolgende Zitat eben da. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 919

Vielleicht war es dieser Zwischenfall, der den endlosen Kampf der beiden an der Befreiung Dachaus beteiligten amerikanischen Divisionen um die an sich nicht sehr spannende Frage angefacht hat, wessen Soldaten nun die ersten am Tor unter dem Jourhaus und im Inneren des Häftlingsteils des Lagers gewesen seien. Die bessere PR­ Strategie entfaltete dabei jedenfalls die 42nd ("Rainbow") Division, und auch Margue­ rite Higgins, die Korrespondentin des "New York Herald Tribune", die dem Ehrgeiz und der Umsicht des General Linden ihren journalistischen Scoop verdankte, tat viel dazu, den Ruhm der "Rainbow"-Division in die Welt hinauszutragen.726 Für manchen Häftling ist die mit Uniform, Stahlhelm und Schutzbrille angetane amerikanische Zei­ tungsreporterin später zum kräftig stilisierten Mythos eines rettenden Engels gewor­ den - einmal mit herabfallendem "goldblonden, lockigem Haar"727, ein andermal mit Mütze und "kurzgeschnittenen, dunkelbraunen Locken"728. Die Soldaten des 157th und des 222nd Infantry Regiment hatten die auf dem Ge­ lände des SS-Lagers verbliebenen, aus verschiedenen Truppenteilen zusammengewür• felten deutschen Verteidiger keineswegs "in einem erbitterten Kampf"72 9 oder in ei­ nem "fürchterlichen Gefecht"730, sondern in einigen Scharmützeln hier und da bin­ nen kurzem überwältigt. Dabei kam es unter den SS-Wachmannschaften und den oftmals erst wenige Tage vor dem 29. April nach Dachau verlegten Soldaten (insge­ samt wohl um die 300 Mann) zu zahlreichen Opfern. Viele G.I.s hatten bereits über dem Anblick der Leichenwaggons außerhalb des Lagers die Fassung verloren und scherten sich in den folgenden Stunden nicht mehr allzuviel um die von ihnen nor­ malerweise sehr wohl respektierten Gebräuche des Krieges; Oberstleutnant Sparks er­ wähnt selber, wie seine Soldaten nach diesem Schock zu Berserkern geworden und in kalter Wut vorgegangen seien.731 In den ,,45th Division News" vom 13. Mai 1945 be­ richtete ein Offizier der I Company, nach dieser Entdeckung seien seine Soldaten nicht mehr wiederzuerkennen gewesen: "Die Männer waren toll vor Kampflust ... Sie stürmten an den SS-Baracken entlang, an jeder Ecke SS-Leute tötend, die sich zu wehren suchten."732 Ein Gefreiter erinnerte sich später an die Konfrontation mit dem Anblick des Güterzuges: "Nachdem wir dies gesehen hatten, gingen wir weiter vor, kochend vor Wut, halb von Sinnen."733 Und ein Soldat derselben Kompanie soll spä• ter sogar zugegeben haben: "Von Mann zu Mann wurde geflüstert, mach hier keine Gefangenen."734 Auch wenn darüber nichts in den Divisionsakten oder dem offiziel-

726 Im einzelnen hierzu Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit, S. 2off. Vgl. die dort abgedruck­ ten Berichte der 42th Division sowie die große Reportage von Higgins in der New York Herald Tribune v. 1. 5. 1945. Der Bericht von Peter Furst (der zu dem Trupp von General Linden gehört hatte) in Stars and Stripes, 2. 5. 1945, erwähnt ebenfalls nur die 42nd Infantry Division. 727 Gun, Stunde der Amerikaner, S. 19f. 728 Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 282. Vgl. auch Michelet, Freiheitsstraße, S. 251. Steinbock, Ende von Dachau, S. 28. Haulot, Lagertagebuch, S. 193 (Eintragung v. 29.4. 1945). Kupfer-Koberwitz, Die Mächti• gen, 11, S. 257 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). 729 So eine AP-Meldung in der New York Times, 1. 5. 1945. 730 The Furnace and the Fire (222nd Infantry Regiment), S.64. 731 Sparks-Bericht, Dachau and Its Liberation. Vgl. auch das Interview von Sparks mit dem Orlando Senitel, 8.9. 1986. 732 45th Division News, 13. 5. 1945; zit. nach Buechner, Dachau, S. XXIX. 733 So der Gefreite lohn Degro aus Ohio in einer Erklärung v. 17.3. 1986; zit. nach Buechner, Dachau, S. XXII. 734 45th Division News, 13. 5. 1945; zit. nach Buechner, Dachau, S. XXIX. Siehe auch Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 183. 920 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

len Schrifttum der Army zu finden ist, spricht manches dafür, daß es so gewesen sein könnte. "Die Amerikaner stürmten durch das Lager in rasender Wut", meldete AP sofort nach der Befreiung Dachaus. "Nicht weit von einem Leichenhaufen lagen die bluten­ den Körper von sechzehn Bewachern, die auf der Flucht erschossen worden wa­ ren."735 Der Daily Telegraph meldete am 1. Mai, "Dutzende von Bewachern wurden getötet."H6 Die 7. Armee gab bekannt, bei der Befreiung Dachaus seien ungefähr 300 deutsche Soldaten und Wachmannschaften "überwältigt", "ausgeschaltet" ("elimina­ ted"H7) worden, bei der 45. Infanteriedivision sprach man ebenfalls von "Dutzenden" von Getöteten.HB Die am wenigsten wahrscheinliche Version der vermutlich nie mehr im Detail zu rekonstruierenden Vorgänge in Dachau am 29. April 1945 sind Darstel­ lungen, die sich der wohlbekannten Formel "auf der Flucht erschossen" bedienen; nur wenige der in Dachau überwältigten Soldaten und Wachen dürften in ihrer vollkom­ men aussichtslosen Lage wirklich einen Fluchtversuch unternommen haben. Eine ganze Anzahl von SS-Leuten und Soldaten sind - obwohl auf amerikanischer Seite of­ fenbar kein Soldat mehr sterben mußte739 - vermutlich tatsächlich bei den Scharmüt• zeln um das Lager gefallen. Die Mehrzahl freilich dürfte von den G.I.s vor allem der 45. Infanteriedivision erschossen worden sein, nachdem sie sich ergeben hatten. Manches wies schon früh darauf hin, daß die Amerikaner in Dachau am Tag der Be­ freiung des Konzentrationslagers an ihren deutschen Kriegsgefangenen ein brutales Verbrechen begangen haben könnten. "Eine nicht bekanntgegebene Anzahl von SS­ Leuten fand auf verschiedene Weise den Tod", berichtete sehr unbestimmt die Ar­ meezeitung The Stars and Stripes am 2. Mai 1945.740 Die im Jahre 1946 erschienene Unit History der 45. Division enthielt bereits eine Fotografie, die für jeden unvorein­ genommenen Betrachter eine Massenerschießung vor einer Mauer zeigt, deren Bild­ unterschrift jedoch weismachen wollte, die am Boden Übereinanderliegenden würden nur "vortäuschen", sie seien tot ("feign death").741 Auch Berichte von amerikanischen Offizieren, die bald nach den Einheiten des 157. und 222. Infanterieregiments im La­ ger zu tun hatten, erwähnen tote SS-Leute nicht in derselben Weise, wie das bei im Kampf gefallenen Soldaten geschehen wäre. General Mickelsen, der Chef der Dis­ placed Persons Branch von SHAEF, etwa meldete dem Oberkommando über seinen Besuch in Dachau am 3. Mai, eine Reihe von Wachmannschaften seien von Soldaten oder Häftlingen getötet worden: "Fakten nicht klar." Er selbst habe über 20 Leichen gesehen.741 Im Diensttagebuch des G-5 des XV. Corps, das das Lager am 30. April

7J5 AP-Bericht in der New York Times, 1. 5. 1945; zit nach Weiß, Dachau und die internationale Öffentlich• keit, S. 24. 736 Daily Telegraph, 1. 5. 1945. 737 Meldung der 7. Armee an die 6. Armeegruppe v. 30.4. 1945; NA, RG 407, Box 2700. Vgl. auch Seventh United States Army, Report of Operations, III, S. 832, hier: "elirninated". "Neutralized" in dem von Eisen­ hower gezeichneten Communique des Alliierten Oberkommandos v. 30.4. 1945; zit. nach Buechner, Da­ chau, S. 60. 738 Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 185. 739 Der Arzt des 3rd Battalion erwähnt, im Zuge der Befreiung Dachaus habe er keine amerikanischen "casual­ ti es" zu Gesicht bekommen. Vgl. Buechner, Dachau, S. 85. 740 "Dachau Cheers Its Liberation. From Horror of Living Death", Reportage vom 29. April 1945 von Peter Furst; The Stars and Stripes, 2. 5. 1945. 741 Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 181. 742 Bericht Mickelsens v. 19.5. 1945 an SHAEF, G-5, "Visit to German Concentration Camp at Dachau", 3. Mai 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2748/1. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 921 vom 157th Infantry Regiment übernommen hatte, heißt es unter dem 1. Mai, 8.00 Uhr: "Es wird empfohlen, die Leichen von Deutschen, welche bei Fluchtversuchen exekutiert (,executed') wurden, zu beseitigen." Ein anderer hoher Offizier war der Mei­ nung, das solle "sofort" geschehen. Schon um 12.30 Uhr hatte Oberst Worthing, Chef des G-5 Stabes, dann mit keinem Geringeren als dem Kommandierenden General des XV. Corps eine Besprechung darüber, wie inzwischen mit den Leichen verfahren wor­ den warH3, ohne in seinem Diensttagebuch jedoch festzuhalten, was mit den Toten geschehen ist. Das zeigt, daß es sich bei dieser Aktion nicht um eine Routineangele­ genheit gehandelt haben kann. Die hätte der Chef des G-5 Stabes eines Corps selbst­ verständlich in eigener Verantwortung routinemäßig erledigen können. Auch Zeugnisse Dachauer Häftlinge gaben schon früh zweifelsfreie Hinweise auf Kriegsverbrechen, die von amerikanischen Soldaten bei der Befreiung Dachaus am 29. April begangen wurden. Der österreichische Häftling Johann Steinbock deutete be­ reits in seinen 1948 erschienenen Aufzeichnungen an, daß die Amerikaner sofort nach der Befreiung SS-Männer "an die Wand gestellt" hätten.744 In zwei ebenfalls publizier­ ten Häftlingstagebüchern kommt dieser Tatbestand noch deutlicher zum Ausdruck. Arthur Haulot, belgischer Schriftsteller, Politiker und Vize präsident des Internationa­ len Häftlings-Komitees, notierte am Befreiungstag: ,,Am selben Nachmittag werden die SS-Offiziere hingerichtet. In der Nacht erleiden die Soldaten das gleiche Schick­ sal."H5 Der tschechische Häftling Frantizek Kadles; hielt in seinem Tagebuch unter dem 29. April 1945 fest: ,,Amerikaner schießen aus Halbzirkelstellung gegen die erge­ benen SS '" Im SS Lager knallen einzelne Schüsse und Rationen aus automatischen Pistolen, Amerikaner ,likvidieren' SS Männer in Dachböden, Baracken und Kanalen verkrochen."746 Am genauesten schildert Kupfer-Koberwitz mit der ihm eigenen Ausführlichkeit die Vorfälle kurz nach der Befreiung: "Die Amerikaner ließen die Po­ sten von den Türmen steigen und aus den Bunkern kommen. Einer von ihnen schoß noch vom Turme herab, dann erst kam er mit erhobenen Händen herunter. Man ließ ihn ein paar Schritte vorwärts machen, dann erschossen sie ihn. Andere SS kam, die Hände hoch. Während die einen die Hände hoch hielten, zog einer von ihnen den Revolver. Ein Amerikaner sah es, gab ihm einen Tritt. Alle wurden erschossen, die Amerikaner ließen keinen der SS-Männer, die ihnen in die Hände fielen, leben. Ein Kamerad, der das sah und es mir erzählte, schilderte mir dann, was er dabei empfand. Es erschreckte ihn zu sehen, wie Menschen trotz erhobener Hände niedergeschossen wurden, stürzten, bluteten und stöhnend starben. Aber dann dachte er an den Tod, den sie uns bereitet hätten, wären die Amerikaner nicht gekommen, und dachte an seine Eltern, die so viel schrecklicher von der SS getötet worden waren. Es muß einen besonderen Grund haben, daß alle SS erschossen wurden."747 Der ehemalige Häftling Nerin E. Gun schließlich berichtet in seinem freilich nicht immer zuverlässigen Erin­ nerungsbuch: "SS-Männer, die mit auf dem Kopf gefalteten Händen regungslos stan-

743 "Log for Dachau - (Col. Kenneth E. Worthing)", Eintragung unter dem 1. 5.1945; NA, RG 407, Box 4865. Hervorhebung von mir. 74' Steinbock, Ende von Dachau, S. 29. '" Haulot, Lagertagebuch, S. 193 (Eintragung v. 29.4. 1945). 746 Tagebuch der Gruppe tschechischer Belegschaft des Blocks Nr. 8 und Nr. 14 des Konzentrationslagers Da­ chau von Frantizek Kadlec; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.629. 747 Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 256 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). Vgl. auch ebenda, S. 254 und S. 259. Auf S. 257 schreibt Kupfer-Koberwitz: "Überall im Lager liegen die toten SS-Männer." 922 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland den, wurden sofort niedergeschossen, ohne daß die Amerikaner auch nur den An­ schein einer Untersuchung machten oder auch nur ein warnendes Wort sagten." An anderer Stelle schreibt Gun, die G.I.s hätten eine regelrechte ,Jagd auf alle Deutschen in SS-Uniformen" veranstaltet: "Nach einer Viertelstunde lebte nicht ein einziger von Hitlers Henkersknechten mehr im Lager."748 Die amerikanischen Morde an deutschen Kriegsgefangenen nach der Befreiung Da­ chaus sind in allen ihren Einzelheiten nicht mehr aufzuklären. Daß sie geschehen sind, unterliegt keinem Zweifel, wie sie genau geschehen sind und wie viele Gefan­ gene, Soldaten und Lagerwachen diesen Exekutionen insgesamt zum Opfer gefallen sind, muß offenbleiben. Immerhin hat der im Jahre 1986 publizierte Bericht von Howard L. Buechner (im Frühjahr 1945 26 Jahre alt und als junger Arzt Angehöriger 749 des Stabes des 3. Bataillons von Oberstleutnant Felix L. Sparks ) weiteres Licht in das Geschehen gebracht, auch wenn diese Darstellung die Zahl der Exekutierten - 480 Mann! - wahrscheinlich übertreibt und als Haupttäter möglicherweise zu Unrecht einen 1977 verstorbenen ehemaligen Offizier des 157th Regiment vorstellt. Die Ver­ öffentlichung der von manchen Veteranen dieser Einheit leidenschaftlich bestrittenen Version Buechners750 führte immerhin dazu, daß Lieutenant Colonel Sparks 1990 die Tötung von zwölf deutschen Kriegsgefangenen durch einen kopflosen 19jährigen Ge­ freiten seines Bataillons einräumte, eine Tatsache, die er bis dahin niemals öffentlich erwähnt hatte.751 Als Tatort bezeichnet Sparks (der außerdem schreibt, die Zahl der insgesamt - also auch im Gefecht - getöteten deutschen Soldaten liege "so gut wie si­ cher" nicht über fünfzig) dieselbe Mauer auf dem Gelände des SS-Lagers wie Buech­ ner. 1st Lieutenant Buechner, der wie alle an der Befreiung des Lagers Beteiligten von dem unbändigen Haß und Rachedurst berichtet, von dem viele seiner Kameraden nach dem Anblick der toten und sterbenden Häftlinge erfaßt wurden, war (nach seiner Version, die hier nicht ohne Vorbehalt wiedergegeben sei) am Nachmittag des 29. April 1945 mit einem weiteren Offizier und einem Fahrer im SS-Lager angekommen. Zu diesem Zeitpunkt war ein kleiner Teil der verbliebenen Wachmannschaften und Soldaten bereits in kurzen Gefechten gefallen, im Kampf von den Türmen geholt oder tatsächlich auf der Flucht erschossen worden. Sehr viel mehr deutsche Soldaten und Wachen sollen bis dahin bereits von den Männern vor allem der 45., aber auch 752 der 42. Division niedergeschossen worden sein , nachdem sie sich ergeben hatten und auf eine Behandlung als Kriegsgefangene hätten hoffen dürfen. Mehrere von Buechner mitgeteilte Äußerungen von beteiligten G.I.s wie "wir schossen auf alles, was sich bewegte", "wir erwischten all die Bastarde", "wir töteten jeden SS-Mann in Da-

'48 Gun, Stunde der Amerikaner, S. 21 und S. 60. 749 Buechner, Dachau. Ein Jahr zuvor erschien die Darstellung von Abzug, Vicious Heart, insbes. S. 92 H., in der auf S. 93 von 122 exekutierten deutschen Kriegsgefangenen gesprochen wird. 750 Vgl. neben dem Sparks-Bericht vom Januar 1990 sein Schreiben an mich v. 22. 10. 1991, sein Schreiben an das VFW Magazine, Kansas City, v. 30. 12. 1987 oder das Schreiben von Bert V. Edmunds, seinerzeit Füh• rer der Company C des 3rd Battalion, an Sparks v. 23.7. 1990; Kopien in meinem Besitz. 751 Die Version seines Berichts "Dachau and Its Liberation" v. 20. 3. 1984, die ansonsten weitgehend mit der Fassung vom Januar 1990 identisch ist, enthält noch nichts über Tötungen deutscher Kriegsgefangener; HZ-Archiv, ZS 2350. 752 Vgl. die Berechnungen Buechners, Dachau, S. 96 H., zur Gesamtstärke der Wachen und Soldaten auf dem Lagergelände zum Zeitpunkt der Befreiung sowie die widersprüchlichen Zahlen der bis zu seiner Ankunft im Lager um 14.35 Uhr ermordeten deutschen Wachen und Soldaten. Die folgenden Zitate ebenda, S. 98. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 923 chau", die genau zu dem aus anderen Quellen Bekannten passen, dürften wohl wirk­ lich gefallen sein. Doch diese Blutorgie soll angeblich nur der Auftakt gewesen sein. Das eigentliche Massaker habe zwischen 14.45 Uhr und 14.53 Uhr an einer langen Mauer nahe des Revierbereichs am Westrand des SS-Lagers stattgefunden - ebenda, wo laut Sparks die zwölf deutschen Soldaten niedergeschossen wurden. Bataillonsarzt Buechner war eben zehn Minuten auf dem Areal, so schreibt er, als er in seiner unmittelbaren Nähe Maschinengewehrfeuer vernahm: "Die Feuerstöße schienen nicht mehr als eine Minute zu dauern. Stille folgte, und dann kam, in unre­ gelmäßigen Abständen, der dumpfe Knall, der für 45er Pistolen so charakteristisch ist."753 Er sei zunächst überrascht gewesen, daß die Scharmützel auf dem Lagergelände noch immer nicht vorüber waren, und habe versucht, sich selbst ein Bild von den Kämpfen in seiner Nähe zu machen. Um eine Ecke kommend, sei er vor einer unge­ heuerlichen Szene gestanden, im Zentrum sein 1977 verstorbener Kamerad 1st Lieu­ tenant Jack Bushyhead, in seiner Nähe einer oder mehrere Soldaten mit einem Ma­ schinengewehr. Unten an der langen Wand aus Ziegel und Zement hätten - das zeigt auch das erwähnte Foto in der Unit history der 45. Division - reihenweise deutsche Soldaten gelegen, "einige tot, einige sterbend, manche, die sich möglicherweise tot stellten. Drei oder vier Insassen des Lagers, in gestreifter Kleidung, jeder mit einer 45er Pistole in der Hand, gingen die Reihe von vielleicht 350 daliegenden Soldaten entlang. Während sie die Reihe passierten, schossen sie systematisch einen jeden ihrer ehemaligen Peiniger, der noch am Leben war, in den Kopf."754 Kurz darauf seien drei von Buechners Kameraden und ein weiterer Offizier am Ort des Geschehens einge­ troffen. Als Buechner auf Bushyhead755 zuging und ihn fragte, warum er dieses Massa­ ker angerichtet habe, habe der Executive Officer der I Company des 3. Bataillons ihm zur Antwort gegeben: "Doktor, sind Sie beim Krematorium gewesen? Haben Sie die Gaskammer gesehen? Haben Sie die Güterwaggons gesehen?" Wie konnte es zu dieser amerikanischen Mordaktion am Tage der Befreiung des Konzentrationslagers kommen, die zwar nicht das einzige756, aber wahrscheinlich das schwerwiegendste Kriegsverbrechen von Angehörigen der U.S. Army während der

'53 Buechner, Dachau, S. 86. Über nach der Befreiung wiederholt aufflammende "Schießereien" auf dem La­ gergelände berichten, freilich unspezifiziert, mehrere Häftlinge. Vgl. die erwähnte Schilderung im Tage­ buch des tschechischen Häftlings Frantizek Kadlec (Eintragung v. 29.4. 1945); Archiv der KZ Gedenk­ stätte Dachau, Nr. 20.629. Vgl. auch die Schilderung des Häftlings Otto Schiftan "Die Befreiung des KZ. Dachau" v. 27.4. 1946; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 1l.675. Goldschmitt, Die letzten Tage von Dachau, S. 40. Steinbock, Ende von Dachau, S. 28 f. Rost, Goethe in Dachau, S. 242 f. (Tagebucheintra­ gung v. 29.4. 1945). Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 209 f. (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). '54 Buechner, Dachau, S. 86. Die Zahl der im Zuge dieser Erschießungen Ermordeten gibt Buechner, S. 99, mit 346 an. Das folgende Zitat eben da, S. 87. 755 Zu 1st LI. Jack Bushyhead, der als Träger des Silver Star in der History of the 157th Infantry Regiment, S. 185, aufgeführt ist, gibt Buechner, Dachau, S. 77ff., folgende biographische Daten: Cherokee-Abstam­ mung, geb. am 18. August 1919 in der Nähe von Grove/Oklahoma, 1940 eingezogen, Teilnehmer an der Landung am "Omaha"-Beach in der Normandie im Juni 1944. Als 1st Lieutenant Angehöriger der E Com­ pany, 2nd Battalion, 157th Infantry Regiment, 45th ("Thunderbird") Infantry Division seit deren verlustrei­ chen Kämpfen bei Reipertsweiler im Unterelsaß Mitte Januar 1945. Danach Executive Officer der I Com­ pany, Feldzug durch Unter- und Mittelfranken und Oberbayem im April 1945, 1947/48 Dienst bei den amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland, 1950 aus gesundheitlichen Gründen Abschied vom Militärdienst, danach Geschäftsmann, 1970 Pensionierung; Rcpresentative to the Cherokee Nation Council in Delaware County; seit 1952 verheiratet, 10 Kinder; gest. am 25. 12. 1977 in Fayetteville/Arkansas. 756 Nach 1945 sind eine Reihe angeblicher oder tatsächlicher Gefangenenerschießungen durch amerikanische Einheiten (vor allem im April 1945 in Süddeutschland) bekanntgeworden. Anmerkungen dazu unten in diesem Kapitel. 924 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Besetzung Deutschlands 1944/45 gewesen sein dürfte? Recht bald nach der Invasion, während der Kämpfe in Nord- und Südfrankreich, waren die meisten G.I.s normaler­ weise bereits irgendwann einmal mit der Tatsache konfrontiert, daß - und vor allem Waffen-SS-Soldaten (denen ohnehin ein übler Ruf vorauseilte) sich bei ih­ rem Rückzug viele Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung hatten zuschulden kommen lassen. Das allein hätte die Einstellung vieler amerikanischer Soldaten frei­ lich kaum derart verhärten können, wie das während der Ardennen-Offensive Ende 1944 geschah, als Soldaten der 1. SS-Panzer-Division "Leibstandarte Adolf Hitler" und andere Einheiten von Sepp Dietrichs 6. SS-Panzer-Armee - nicht nur während des berüchtigten Massakers bei Malmedy - über 300 Kriegsgefangene und mindestens 100 belgische Zivilisten ermordeten.757 Vor allem nach der Rhein-Überschreitung wurde den Amerikanern immer deutlicher bewußt, zu welchen Brutalitäten das NS­ 758 Regime nicht nur gegenüber den alliierten Kriegsgefangenen , abgesprungenen Pi­ loten der Air Force, sondern auch gegenüber den Häftlingen in den Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie gegenüber den Überlebenden seiner rassistischen Ver­ nichtungspolitik fähig war; der eigentliche Schock aber kam auch für diejenigen Sol­ daten, die damit noch keine persönlichen Erfahrungen hatten machen müssen, als die Bilder aus den Lagern Ohrdruf, Dora-Mittelbau, Buchenwald, Bergen-Belsen oder Flossenbürg durch die Zeitungen der Army und die Weltpresse gingen. "Die SS" war nun definitiv zum Synonym für den verbrecherischen Tiefpunkt der Menschheit ge­ worden. Hinzu kamen sowohl bei der 42. Infanteriedivision (in Unterfranken) wie insbeson­ dere auch bei der 45th Infantry Division sehr verlustreiche Kämpfe Anfang April 1945, als der eigentliche Krieg an sich schon vorüber war und die meisten anderen Verbände weitgehend unbehindert in das Innere des Reiches vorstoßen konnten. Ganz besonders schwere Verluste erlitt bei Aschaffenburg das 157. Infanterieregi­ 59 ment1 , dessen 3. Bataillon unter Oberstleutnant Sparks allein viele Dutzend Gefal­ lene hatte. Dieser ganz unerwartete und schmerzliche Rückschlag war ebenfalls keine Erfahrung, in deren Licht die schockierenden "Entdeckungen" in Dachau vielleicht besonnener hätten hingenommen werden können, als es am 29. April 1945 dann tat­ sächlich geschah. Daß das, was die Soldaten der I Company bei ihrer Ankunft im Lager dann vorfanden, ausgereicht hätte, auch jeden anderen Menschen in Wut und Rachedurst und zu Vergeltungsaktionen zu bringen, bedarf ebensowenig der Erwäh• nung wie ein mögliches, etwa in Lebenslauf und Einstellung eines Jack Bushyhead zu suchendes besonderes Tatmotiv. Es mag sein, daß sich Häftlinge, die jetzt - nur zu verständlich - auf Lynchjustiz aus waren, und Soldaten, die keinen Grund sahen, die von ihnen Befreiten daran zu hin­ dern oder sich selbst an diesem Tag irgendwelche Selbstkontrolle aufzuerlegen, gegen­ seitig aufgeschaukelt und sich gegenseitig zu Mord und Totschlag animiert haben. Es mag auch sein, daß mancher G.I. sich durch die kleineren Schießereien, durch die vor den Erschießungen gegebene Kampfsituation bei seinem Tun genügend gedeckt

'" Vgl. IV/I. 758 Zu den alliierten Reaktionen auf die Behandlung der amerikanischen und britischen Kriegsgefangenen in Deutschland vgl. EUCOM, Ramp's: The Recovery and Repatriation of Liberated Prisoners of War, Frank­ furt 1947; IfZ-Archiv, Fg 38/11. 759 Vgl. Seventh United States Army, Report of Operations, III, S. 764 ff. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 925 glaubte, und es mag ebenfalls sein, daß die gefangenen Wehrmachtssoldaten und SS­ Männer - wie der Militärpfarrer des 3rd Battalion Leland L. Loy selbst beobachtet hatte760 - ein ausgesprochen arrogantes Benehmen an den Tag legten und damit bei den amerikanischen Soldaten den letzten Impuls zu dem Dachauer Massaker auslö• sten. Von besonderer Tragik ist freilich, daß die allermeisten Ermordeten erst wenige Tage vor der Befreiung nach Dachau verlegt worden waren und mit ihrem Tod die Schuld anderer büßen mußten. Das ist den Soldaten des 157th Infantry Regiment am 29. April 1945 kaum bewußt gewesen. Es muß aber zweifelhaft bleiben, ob die Ameri­ kaner den deutschen Soldaten und Wachmannschaften ihr Schicksal erspart und die­ ses Kriegsverbrechen an der Stätte tausendfachen Todes nicht begangen hätten, wenn sie besser gewußt hätten, was sie tun. Als das Morden vorüber war, legten sich (wie es aussieht) die über diese Racheorgie erschrockenen oder mindestens verlegen gewordenen vorgesetzten Offiziere und die zuständigen Army-Dienststellen die Frage vor, welche Konsequenzen nach der Untat ihrer Soldaten zu ziehen seien. Zunächst hat es offenbar Versuche gegeben, die Ange­ legenheit noch an Ort und Stelle zu vertuschen, indem nämlich erwogen wurde, die Leichen der Exekutierten an verschiedene Stellen des Lagers zu schaffen und so den Eindruck zu erwecken, die Deutschen seien im Kampf gefallen?61 Dieser Gedanke soll dann aber rasch wieder fallengelassen worden sein, vielleicht, weil einige Soldaten bereits Aufnahmen von den Erschießungen gemacht hatten. So blieb nichts anderes übrig, als eine amtliche Untersuchung einzuleiten. Zu einer Anklage wegen Kriegs­ verbrechen gegen die beteiligten Soldaten des 3rd Battalion ist es aber nie gekom­ men.762 Auch ein tatsächlich begonnenes Ermittlungsverfahren gegen vier Offiziere (darunter Felix L. Sparks, Jack Bushyhead, Howard A. Buechner) und mehrere Sol­ daten wurde eingestellt. Das soll nach übereinstimmenden Aussagen von Sparks763 , Buechner764 und anderen Beteiligten einige Zeit nach der Kapitulation auf persönli• che Intervention General Pattons geschehen sein. Der habe eines Tages sämtliche Of­ fiziere, die an den kriegsgerichtlichen Ermittlungen beteiligt waren, zu sich befohlen; alle Dokumente und Fotografien, derer sie in dieser Sache habhaft geworden waren, hatten sie zu dieser Besprechung mitzubringen: "Nachdem er sicher war, daß niemand etwas zurückbehalten hatte", beschreibt Buechner die Szene bei Patton, "steckte er alle Papiere in einen metallenen Papierkorb, verlangte ein Feuerzeug und hielt per­ sönlich die Flamme an die Dokumente."765

760 Siehe die Aussage von Leland L. Loy v. 13.1. 1986, in: Buechner, Dachau, S. 76. Vgl. auch ebenda, S. 101 und S. 106. 761 So ebenda, S. 117. 762 Auf Anfrage erklärte die Legal Services Agency of the Judge Advocate General, gegen Offiziere oder Solda­ ten des 157th Infantry Regiment hätten keine Verfahren wegen eines Vergehens oder Verbrechens am 29. April 1945 stattgefunden. Brief an den Autor v. 30.11. 1991. 763 Telefonisches Gespräch des Verfassers mit Felix L. Sparks am 22. 10. 1991. 764 Siehe hierzu das Kapitel "General Patton, The Court Martial Charges and The Cover Up" bei Buechner, Dachau, S. 117 ff. Die Darstellung der Intervention Pattons eben da, S. 119. 76' Darstellung, wie sie Bushyheads Angehörige Buechner am 22.2. 1986 gegeben haben sollen. Vgl. Buech­ ner, Dachau, S. 119. Eine ganz ähnliche Szene beschreibt Felix L. Sparks, nach dessen Bericht die ganze Untersuchung von dem frustrierten General Linden ins Rollen gebracht worden sein soll, in beiden Versio­ nen seines Berichts "Dachau and Its Liberation". Im Falle von Sparks soll es angeblich um den erwähnten Zwischenfall gegangen sein, bei dem dieser Linden mit vorgehaltener Pistole zwang, das Lagertor zu verlas­ sen. Es bleibt freilich der Verdacht, daß es bei der kriegsgerichtlichen Untersuchung gegen Sparks in 926 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Da die Dachauer Morde (vielleicht in der geschilderten Weise) vertuscht, jedenfalls aber nicht gerichtlich verfolgt worden sind und dies nur mit der Rückendeckung von ganz oben geschehen konnte, wird man annehmen dürfen, daß General Patton, der nach einer Besichtigung des Lagers Ohrdruf und dann Buchenwaids zutiefst schok­ 766 kiert gewesen war , ein gewisses Maß an Verständnis für die Selbstjustiz seiner Sol­ daten hatte und daß ihm wohl auch klar gewesen sein wird, daß der U.S. Army 1945 nicht daran gelegen sein konnte, ein derartiges Kriegsverbrechen der eigenen Solda­ ten publik werden zu lassen - ganz gleich, wie himmelweit es sich in seinen Motiven und Dimensionen auch von den nationalsozialistischen Ausrottungsgewohnheiten unterscheiden mochte. Was den Kriegsruhm der 45. Infanteriedivision und seines 157th Infantry Regiment schließlich anbelangt, so mag es gut sein, daß bei der Army großes Interesse daran bestand, lieber die Männer der 42. ("Rainbow") Division als Be­ freier Dachaus nach vorne zu schieben und zu feiern, die am 29. April 1945 zwar ebenfalls in Dachau waren, aber viel weniger zu verbergen hatten als ihre Kameraden von "Thunderbird". Die Exzesse bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau waren wohl das schwerwiegendste, aber nicht das einzige Kriegsverbrechen, das von amerikanischen Soldaten auf deutschem Boden begangen worden ist. Die Army selbst ist Hinweisen und Gerüchten dazu offenbar weder 1945 noch später nachgegangen, so daß dieses düstere Kapitel wohl nie zweifelsfrei geklärt und der Aura eines zwielichtigen Lieb­ lingsthemas apologetischer Autoren entkleidet werden kann. Es hat den Anschein, als richteten sich solche Taten vorwiegend gegen Soldaten der Waffen-SS und als seien sie seit der verantwortungslosen Werwolfpropaganda von Goebbels Anfang April 1945 und der etwa gleichzeitig einsetzenden Flut von Berichten und Bildern aus den befreiten deutschen Lagern häufiger aufgetreten als zuvor. Zugleich vermitteln die in der Regel nicht hieb- und stichfest zu verifizierenden Anhaltspunkte den Eindruck, als seien Kriegsverbrechen dort vermehrt geschehen, wo die Amerikaner in den letz­ ten Kriegstagen - wie zwischen Main, Neckar und Jagst - noch unerwarteten Wider­ stand und dabei zahlreiche besonders "unnötige" Verluste hinzunehmen hatten.767

Wahrheit auch um die Tötung deutscher Kriegsgefangener am 29. April 1945 gegangen ist. Auch Buechner ist dieser Ansicht; Telefonat mit dem Verfasser am 31. 10. 1991. 766 Vgl. seine Tagebucheintragung v. 11. 4. 1945, in: Patton-Papers, S.683. Siehe auch ebenda, S. 685 ff. und S.692. 767 Zur Goebbelschen Werwolf-Agitation sowie zu den Kämpfen zwischen Main und Neckar vgl. VII/4. Be­ sondere Aufmerksamkeit widmete alliierten Übergiffen und Kriegsverbrechen gegen deutsche Soldaten und Zivilisten seit jeher das Veteranen- und Verbandsschrifttum der ehemaligen Soldaten der Waffen-SS. Aus der einschlägigen Literatur vgl. z.B. Erich Kern, Deutschland im Abgrund. Das falsche Gericht, Göt• tingen 1963. Ders., Verbrechen am deutschen Volk, Göttingen 1964. Spiwoks, Stöber, Endkampf. Hans Stöber, Die Eiserne Faust. 17. SS--Division "Götz von Berlichingen", Neckargmünd 1966. Helmut Günther, Die Sturmflut und das Ende. Mit dem Rücken zur Wand. Geschichte der 17. SS-Panzer­ grenadier-Division "Götz von Berlichingen", München 1991. Eine Auswertung solchen Schrifttums und von Hinweisen, soweit sie nicht apriori abwegig erschienen, aus Veteranenzirkeln (Unterlagen im HZ, Ma­ terial Henke), aber auch von Publikationen wie Blumenstock, Einmarsch, und lokalem Schrifttum bzw. Aktenmaterial (allerdings nur für Süddeutschland) erbrachte 92 lokale Anhaltspunkte in Deutschland, wo - bei allem prinzipiellen Vorbehalt - amerikanische Kriegsverbrechen an deutschen Soldaten geschehen sein könnten. Im Falle der Tötung von möglicherweise 20 kriegsgefangenen SS-Soldaten in der Gemeinde Jung­ holzhausen im Landkreis Schwäbisch Hall am 15./16. April 1945 war eine Verifizierung anhand des Evan­ gelischen Gemeindeblattes für Württemberg von Juli 1951 (Arbeitsbeilage Orlach-Jungholzhausen), eines Elternbriefes und mehrer Zeugenaussagen mit Unterstützung des Kreisarchivars Dr. Hans Müller möglich. Dort dürfte tatsächlich die Ermordung von Kriegsgefangenen stattgefunden haben; die Zahl der Getöteten 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 927

Im Konzentrationslager Dachau brachen sich an jenem 29. April 1945 und in den Tagen nach der Befreiung auch bei den Häftlingen Rachegefühle und Vergeltungs­ sucht Bahn. Nach einem Wort des Rabbiners David Max Eichhorn, der am Nachmit­ tag des 30. April das Konzentrationslager besuchte, flossen nach der Ankunft der Amerikaner viele "Tränen des Hasses", fiel eine unbekannte Zahl von Wachen, Kapos und Zuträgern der Selbstjustiz der Geretteten zum Opfer. "Wir standen beiseite", schreibt Eichhorn, "und schauten zu, als die Insassen des Lagers ihre ehemaligen Be­ wacher aufspürten, von denen sich viele irgendwo im Lager zu verbergen suchten. Wir standen beiseite, als diese Wachen zu Tode geprügelt wurden, so schwer geschlagen, daß ihre Körper aufplatzten und die Eingeweide heraustraten. Wir schauten mit weni­ ger Empfinden zu, als wenn ein Hund geprügelt worden wäre. In Wahrheit, so kann gesagt werden, fühlten wir gar nichts."768 Soldaten beobachteten, wie befreite Häft• linge in Raserei mit Fäusten und Steinen über Wachmänner herfielen, einige von ih­ nen mit amerikanischen Waffen erschossen und in die Wassergräben warfen769 ; nach einer Schätzung der 42. Division sollen in den ersten 24 Stunden nach der Befreiung "wenigstens 25, vielleicht auch 50 SS-Männer" auf diese Weise umgebracht worden sein.77o Die Jagd auf die Folterknechte von gestern, die häufig versuchten, in Sträflingsklei• dern unterzutauchen, muß einige Tage lang angehalten haben. Jedenfalls beobachtete Marcus J. Smith, Medical Officer im Displaced Persons Team 115, das am 30. April in Dachau ankam 771, wie Häftlinge "beinahe täglich SS-Leute und Kollaborateure" aus ihren Verstecken holten. Noch am vierten Tag nach der Befreiung fielen ihm bei­ spielsweise mehrere beieinanderstehende Soldaten auf: "Sie haben einen Kreis gebil­ det und schauen drei blaugestreiften Insassen zu, wie sie zwei schreiende grün geklei­ dete Bewacher - Kollaborateure - schlagen und treten. Wir beobachten das ein paar Minuten lang und setzen dann unseren Weg fort. Ungefähr vier Stunden später kom­ men wir zurück. Der Racheakt dauert noch immer an; die verschwollenen, grün und blau geschlagenen Opfer sind noch am Leben, schreien aber nicht mehr, weil sie ihren Atem brauchen, um mit Mühe nach Luft zu schnappen. Die Insassen fluchen und tre­ ten nach wie vor. Die amerikanischen Soldaten - in der Menge ist ein hoher Infante­ rieoffizier - schauen noch immer schweigend ZU."772 Natürlich beteiligten sich nur einige der einstigen Gefangenen an solchen weiß Gott verständlichen Quälereien und an der oft beschriebenen, unter dem "Donner­ lachen der ehern. Häftlinge"773 vollführten Demütigung des berüchtigten Rapportfüh-

ließ sich nicht mehr ermitteln. Ein Delinquent, der die Erschießung überlebte, weil er sich - unverletzt - tot stellte, bestätigte den Vorfall in einem Telefonat am 14.8. 1990. 768 "Dachau", Bericht des Rabbiners David Max Eichhorn über einen Besuch im befreiten Lager am 30. 4. 1945, geschrieben in der ersten Maiwoche; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 479. 769 Zusammenfassender Bericht des 222nd Infantry Regiment zu den Operationen im April 1945; NA, RG 407, Box 4865. 770 Hektographiertes Flugblatt der 42nd Inf.ntry Division v.!. 5. 1945; zit. nach Weiß, Dachau und die inter­ nationale Öffentlichkeit, S. 21. 771 Vgl. XV Corps, G-5, "Log for Dachau - (Major Gustav M. Berg)" v. 30.4. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 271117.3. 772 Smith, Harrowing of Hell, S. 132f. 773 Frantizek Kadlec, "Tagebuch der Gruppe tschechischer Belegschaft des Blocks Nr. 8 und Nr. 14 des Kon­ zentrationslager Dachau" (Eintragung v. 3. 5. 1945); Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 20.629. Vgl. auch Steinbock, Ende von Dachau, S. 44 ff. Rovan, Geschichten aus Dachau, S. 285. Goldschmitt, Die letz­ ten Tage von Dachau, S. 45. 928 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland rers Böttger, der danach den Amerikanern übergeben, in den Dachauer Prozessen dann zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet wurde. Mancher Befreite, der vielleicht weniger zu erleiden gehabt hatte oder, wie der Geistliche Karl Adolf Gross, aus innerer Überzeugung "nichts von der zähnefletschenden Engstirnigkeit"774 der Selbstjustiz wissen wollte, war enttäuscht und entsetzt über solche Wildheit. Andere Häftlinge wollen von Revanche-Exzessen überhaupt nur wenig bemerkt haben ("Ex­ zesse sind fast nicht vorgekommen ... "775), zogen es vor, nicht darüber zu sprechen, oder stilisierten die Reaktion auf die Befreiung beinahe zu einer Art Sieg von Human­ tität und Gesittung ("Das Gefühl der Zusammengehörigkeit regiert die Gemüter und läßt der Rachsucht keinen Platz."776). Ein solcher Triumph des Edelmutes war die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau gewiß nicht gewesen, andererseits nahmen Lynchjustiz und Rache am 29. April 1945 nur bei einigen Überlebenden Denken und Handeln ganz gefangen. An diesem Sonntag überstrahlte, wie es der Häftling Otto Schiftan sagt, ein Gedanke und ein Ge­ fühl alles andere: "Wir zählten wieder zur menschlichen Gesellschaft!"777 Und so war der Tag der Befreiung für die beinahe 32.000 Überlebenden im Dachauer Stammlager zuallererst ein Tag des Überschwanges und der Dankbarkeit, für die Amerikaner ein "irres Schauspiel"778. Als der Ruf erscholl, "Die Amerikaner sind da!", war das ganze Lager in Bewegung geraten. "In einem einzigen, brüllenden, jubelnden, langanhalten­ den Schrei entlud sich die aufgespeicherte Spannung der letzten Stunden, und Tau­ sende stürzten auf die Amerikaner zu: lachend, weinend, rufend ...", schrieb Nico Rost in sein Tagebuch.779 Einige Lagerinsassen "liebkosten und umarmten die ameri­ kanischen Truppen, küßten den Boden vor ihren Füßen und trugen sie auf den Schul­ tern herum ... Zerlumpte ausgemergelte Männer drängten haufenweise zum Tor, weinten, brüllten, kreischten ,Lang lebe Amerika!"<780, Fahnen kamen heraus, Feiern, Andachten, Gebete, Volksfeststimmung: "It was a mardi-gras", lesen wir im Bericht der 7th U.S. Army.781 Die allermeisten Häftlinge hatten in ihrem Leben noch nie einen leibhaftigen ame­ rikanischen Soldaten gesehen, und die Kranken und Siechen im Revier, wo viele durch den Schock der Nachricht von der Befreiung noch gestorben waren, so Nico Rost, "wollten und konnten es einfach nicht glauben, bis D. sich entschloß, einen ,le­ benden' Amerikaner zu holen und ihn in unsere Stube zu bringen. Als er dann herein­ kam, breit, stark und wohlgenährt, das Gesicht von der Sonne verbrannt und von Ge­ sundheit strotzend, glich er einer Erscheinung aus einer anderen Welt. Alle wollten sie ihm danken; jeder ihm die Hand drücken; aus allen Betten streckten sich ihm ma-

'74 Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 207 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). '" Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 257 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). VgL auch Gun, Stunde der Amerikaner, S. 62 f. 776 Gross, Fünf Minuten vor Zwölf, S. 212 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). 777 Bericht des Häftlings Otto Schiftan; Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Nr. 11.675. 778 So Marguerite Higgins in ihrer Reportage in der New York Herald Tribune am 1. 5. 1945; zit. nach Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit, S. 26. 779 Rost, Goethe in Dachau, S. 244 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). '80 Reportage von Marguerite Higgins in der New York Herald Tribune am 1. 5.1945; zit. nach Weiß, Dachau und die internationale Öffentlichkeit, S. 26. '81 "Dachau", Bericht des G-2 Stabes der 7. Armee vorn Mai 1945, S. 30; Archiv der KZ Gedenkstätte Da­ chau, Nr. 2063. VgL zum Befreiungstag in Dachau neben vielen anderen Zeugnissen Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, 11, S. 252ff. Steinbock, Ende von Dachau, S. 27ff. Gun, Stunde der Amerikaner, S. 14ff. Einfühlsam Robert Antelme, L'Espece humaine, Paris 1947, S. 287ff. 3. Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau 929 gere Hände entgegen - aus allen drei übereinander liegenden Bettreihen, und von al­ len vier Seiten ... Er stand mitten in der Stube, sehr verlegen und linkisch, nur müh• sam seine Rührung verbergend und kaum imstande, seine Tränen zurückzuhalten. Dann legte er kurz entschlossen seine Maschinenpistole auf den Tisch und ging von Bett zu Bett, um jeden einzelnen der Kranken zu umarmen. Er tat es sehr vorsichtig und sacht, als ob er befürchtete, er könne diese zerbrechlichen Körper mit seinen star­ ken Armen zerdrücken."782 Für manchen Häftling, und unter ihnen in besonderem Maße für die überlebenden Juden, brachte die Ankunft der Amerikaner in den Konzentrationslagern "nur eine physische Befreiung"783. Von den Schrecken der Vergangenheit waren sie nicht zu er­ lösen, und viele, die ihre Rettung nicht mehr erwartet, die ihre Freunde und Angehö• rigen sterben gesehen hatten, blieben inmitten des Begeisterungstaumels, nach den Worten eines Häftlings, der Auschwitz-Birkenau überlebt hatte, "völlig trostlos und einsam". Sigmund Strochlitz, ein Jude, der am 15. April 1945 in Bergen-Belsen befreit worden war, sagt rückblickend: "Nur wir sahen vor uns eine ungewisse Zukunft. Nur wir konnten nirgendwo hin zurückkehren. Nirgends gab es eine Heimat. Wo einst un­ sere Vorfahren generationenlang gelebt hatten, warteten keine Fa'milien auf uns. Bloß Steine, behaftet mit dem Gestank der Würdelosigkeit und der Demütigung, würden uns begrüßen. Dies war kein glückliches Ende. Es war der Beginn von etwas Unbe­ kanntem, Verstörendem. Ein leerer Sieg."784 Sofort nach der Befreiung Dachaus begann die U.S. Army ihre Hilfsmittel zu mobi­ lisieren, um den Menschen hier wirkungsvoll unter die Arme zu greifen. Der Stabs­ chef des XV. Corps, das das Konzentrationslager am Vormittag des 30. April 1945 vom 157. Infanterieregiment übernahm, sagte zum Auftakt in einer vorbereitenden Konferenz im Namen seines Kommandierenden Generals, "daß dies zu den wichtig­ sten Aufgaben gehört, die das Corps zu erfüllen hat". Diese Aufgabe habe Vorrang vor allem anderen.785 Die für Dachau gebildete "Special Group" des XV. Corps, die sich aus mehreren Stabsoffizieren, DP-Teams, CIC sowie Military Government Detachments und auch einer Lautsprechereinheit zusammensetzte, stand vor einer herkulischen Herausforde­ rung: 31.432 Häftlinge hielten sich am 1. Mai 1945 im Stammlager auf, etwa 4000 von ihnen lagen im Krankenrevier, 6000 brauchten sonstige ärztliche Hilfe786, 400 Fälle von Typhus, 800 von TBC und noch sehr viel mehr Fälle von Ruhr (von anderen an­ steckenden Krankheiten wie Scharlach nicht zu redenr87 waren bereits zwei Tage

781 Rost, Goethe in Dachau. S. 245 (Tagebucheintragung v. 29.4. 1945). 78' Ausführungen von Anthony F. van Velsen auf der im Oktober 1981 vom Holocaust Memorial organisier­ ten Konferenz über die Befreiung der Konzentrationslager, in: Chamberlin, Feldman (Hrsg.), Liberation of the Nazi Concentration Camps, S. 149. Das folgende Zitat ebenda. 784 Ausführungen von Sigmund Strochlitz, ebenda, S. 154. 78' Colonel Kenneth E. Worthing, Chef des G-5 Stabes des XV Corps, "Notes on Conference at Forward Echelon, 29 April 45" v. 29.4.1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 27lll7.3. Die einzelnen Schritte bei der Übernahme des Lagers durch das Corps sind detailliert festgehalten im "Log for Dachau - (Col. Kenneth E. Worthing)" und im "Log for Dachau - (Major Gustav M. Berg)"; ebenda. Der detaillierteste Bericht über die amerikanischen Maßnahmen und die Situation im Lager bei Smith, Harrowing of Hell, S. 79 ff., der Arzt im Dachauer DP-Team Nr. 115 gewesen ist. 786 Siehe den Bericht des Kommandierenden Generals des XV Corps an den Chef des G-5 Stabes der 7. Ar­ mee "G-5 Report, Concentration Camp, Dachau" v. 5.5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 27lll7.3. 787 "Observations Made on Medical Matters at Dachau, Germany", Bericht von Colonel W. L. Wilson an den 930 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland nach der Befreiung erkanne88 ; täglich starben noch immer mehr als 100 Häftlinge, ganze 500-600 Kilokalorien hatte bei der Befreiung die Tagesration nur noch gehabt. Trotz einer Reihe von Unzulänglichkeiten bei der medizinischen Versorgung in den allerersten Tagen789 gelang es den Amerikanern (die sich bei der inneren Organi­ sation ganz auf das verläßliche und effektiv arbeitende Internationale Häftlings-Ko• mitee stützten790), die Situation in dem unter Quarantäne gestellten Lager Schritt für Schritt zu stabilisieren. Zehntausende von Armeerationen und tonnenweise Lebens­ mittel aus deutschen Beständen wurden herbeigeschafft, die Mahlzeiten vorsichtig, aber stetig aufgestockt; ab 15. Mai geschah das nach einem von einem Ernährungs• fachmann ausgearbeiteten diätetischen Plan.791 Am 3. Mai, zwei Tage bevor die 7. Armee die unmittelbare Verantwortung für das Lager übernahm, begannen umfassende Desinfizierungsmaßnahmen mit DDT-Pulver sowie breit angelegte Impfaktionen.792 Bald trafen zwei Army Evacuation Hospitals mit einigen hundert Betten und mehrere Mitglieder der United States Army Typhus Commission ein. Und allmählich begann die Masse der befreiten Gefangenen, von de­ nen einige das Lager auf eigene Faust verlassen hatten, auch zu akzeptieren, daß die Befreier sie nicht sofort hatten nach Hause entlassen konnten. Doch schon im Laufe des Mai kam es dann zu den ersten größeren Entlassungen; den Anfang machten Bel­ gier und Franzosen. Drei Wochen nach der Befreiung lebten in Dachau noch beinahe 27.000, fünf Wochen nach der Befreiung nur noch 12.166 Menschen, vor allem Rus­ sen, Polen und Jugoslawen.793 Anfang Juli 1945 befanden sich auch Holländer, Lu­ xemburger, Slowaken, Albaner, Armenier, Türken, Korsen, Dänen, Ägypter, San Sal­ vadorianer bereits auf dem Weg zurück in ihre Heimat. Nur 4935 Befreite, knapp die Hälfte von ihnen krank79 4, hielten sich jetzt noch, medizinisch gut betreut, an dem Ort auf, der der Welt lange vor der deutschen Kapitulation, erst recht aber nach 1945 als "Symbol nationalsozialistischer Gewaltherrschaft"795 galt und gilt. Die Amerikaner hatten die ehemaligen Häftlinge in die soliden, vorzüglich ausgestatteten Wohnungen im angrenzenden ehemaligen SS-Lager verlegt. In den Baracken des einstigen Kon­ zentrationslagers hausten inzwischen über 1000 kriegsgefangene Wehrmachtssolda­ ten, die das verseuchte und verdreckte Camp in einen passablen Zustand zu versetzen

Chef der Public Health Branch, SHAEF, G-5, v. 7. 5.1945; NA, RG 331, Adjutant General, War Diaries, G-5 Division 1943-1945. 788 Smith, Harrowing of Hell, S. 98 und S. 105. 789 Vgl. hierzu vor allem den WiIson-Bericht v. 7.5.1945; NA, RG 331, Adjutant General, War Diaries, G-5 Division 1943-1945. 790 Die vorzügliche Arbeit des Internationalen Häftlings-Komitees wird in verschiedenen Army-Berichten hervorgehoben, so etwa vom Kommandierenden General des XV Corps an die Seventh U.S. Army v. 5. 5. 1945: "This Committee operated during the first days very ably and efficiently and was responsible for much of the discipline and internal management of the kitchen and hospital."; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711/7.3. Vgl. auch Smith, Harrowing of Hell, S. 120fl. 791 Meldung der 7. Armee an SHAEF v. 9.6. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2711/7.3. 792 Smith, Harrowing of Hell, S. 111 f. und S. 131. Siehe auch "Visit to German Concentration Camp at Da­ chau", Bericht des Chefs der Displaced Persons Branch des Alliierten Oberkommandos an den Chef des G-5 Stabes von SHAEF; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2748/1. 793 Siehe Smith, Harrowing of Hell, S. 215 und S. 243 f. 794 "Report on the Conditions in Dachau Concentration Camp, 2 July 1945", interner Bericht der Displaced Persons Branch, SHAEF, G-5, v. 9.7. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, 2748/1. 795 Peter Steinbach, Modell Dachau. Das Konzentrationslager und die Stadt Dachau in der Zeit des National­ sozialismus und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Passau 1987, S. 6. 4. "Kehraus" 931 hatten. Noch 1945 begannen hier vor amerikanischen Militärgerichten bereits die Pro­ zesse gegen Hunderte von nationalsozialistischen Gewaltverbrechern. Die 45th Infan­ try Division war nach der Befreiung des Konzentrationslagers bald weitergezogen. Am 13. Mai 1945 hatte sie ihre Divisionszeitung mit der Schlagzeile erscheinen lassen: "Dachau gibt Antwort auf die Frage, warum wir gekämpft haben."796

4. "Kehraus"

Von der Donau zu den Alpen

Eine Woche vor der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, am 22. April 1945, als Nürnberg und Stuttgart gefallen und die letzten eilig gezogenen Verteidigungsli­ nien in Süddeutschland von Eisenhowers Truppen zerrissen waren797 , notierte der Adjutant des Obersten Befehlshabers, Harry C. Butcher, in seinem Tagebuch: "Deutschland ist nun besiegt."798 Man schrieb jenen 22. April, an dem Hitler in Berlin seinen Nervenzusammenbruch hatte, Akten und Dokumente zum Verbrennen in den Hof der Reichskanzlei bringen ließ, den weiteren Kampf für "aussichtslos" erklärte und ohne Unterlaß über "Verrat und Versagen, Korruption in der Führung und bei der Truppe"799 lamentierte. Auch George S. Patton Jr., der Befehlshaber der Third Uni ted States Army, die die letzte große Operation amerikanischer Truppen in Europa vor allem zu tragen hatte, machte sich an diesem Tag endgültig mit dem Gedanken vertraut, daß "das Kriegs­ ende in Sicht" war und im Süden jetzt der "Kehraus" begann. Der Befehl zur "Donau­ Offensive"80o war eine Woche zuvor ergangenBOt, am 22. April gewann die Operation, die einen mächtigen Stoß das Donautal hinab und die Vereinigung mit den von Wien kommenden sowjetischen Gardearmeen vorsah, vollen Schwung.Bo2 Der 22. April 1945, der den Beginn des kurzen "letzten Spiels" (Patton)B03 markiert, sah ferner einen Coup, den die amerikanische Armeezeitung etwas angestrengt dem "Drama von Remagen"804 gleichzusetzen versuchte, nämlich den Übergang von Ein­ heiten der Seventh Uni ted States Army über eine intakte Donaubriicke in dem schwä• bischen Städtchen Dillingen - psychologisch für Angreifer wie Verteidiger nicht gänz-

796 45th Division News, 13.5. 1945. Vgl. Bishop, Glasgow, Fisher (Hrsg.), Fighting Forty-Fifth (45th Infantry Division), S. 183. Zur amerikanischen Reaktion auf die "Entdeckung" der Konzentrationslager ausführlich Frei, "Wir waren blind, ungläubig und langsam", S. 385 ff. 797 Zu den Kämpfen in Süddeutschland während der ersten drei Aprilwochen vgl. VII/I. 798 Butcher-Diary, Eintragung v. 22.4. 1945; Eisenhower-Library Abilene/Kansas. 799 , Der letzte Monat. Die Tagebuchaufzeichnungen des ehemaligen Chefs des Generalstabes der deutschen Luftwaffe vom 14. April bis zum 27. Mai 1945, Mannheim 1949, S. 25 ff.; Zitate S. 28 und S. 31. 800 Bradley, Blair, A Genera!'s Life, S. 430. 801 Vgl. VII/I. 802 Die letzten Operationen von Wehrmacht und U.S. Army in Bayern sind wiederholt ausführlich beschrie­ ben worden, u.a. bei: MacDonald, Last Offensive, S. 407 ff. Manfred Rauchensteiner, Der Krieg in Öster• reich 1945, Wien 1984, S. 283 ff. Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 74ff. Zorn, Bayerns Geschichte, S. 51Off. Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 301 ff. Neben den "Unit Histories" der beteiligten amerikanischen Divisionen und den einschlägigen Foreign Military Studies vgl. den Report by the Supreme Commander to the Combined Chiefs of Staff on the Operations in Europe of the Allied Expeditionary Force, 6 June 1944 to 8 May 1945, o. O. (Washington), 0.). (1946), S. 112 ff., sowie den Report of Operations der Seventh U.S. Army, III, S. 804ff., und den After Action Report der 3. US-Armee, I, S. 353 ff.; HZ-Archiv, Material Henke. 803 General Patton in einem Brief an seine Frau v. 17.4. 1945; Patton-Papers, S. 689. 80' The Stars and Stripes, 26.4. 1945. 932 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland lich ohne Belang und immerhin ein Symbolname für die problemlose Überwindung der letzten großen Flußbarriere, in diesem Stadium des Krieges freilich nur noch eine Fußnote der Militärgeschichte. Unmittelbar zuvor, 24 Stunden nach seinem Befehl, daß "Bayern an Iller und Do­ nau verteidigt und dem Gegner hier ein endgültiger Halt geboten werden" müsse80 \ hatte der Befehlshaber im Wehrkreis VII zusammen mit dem weitgehend einflußlo• sen, bei Truppe und Bevölkerung aber nach wie vor gewisse Autorität genießenden Reichsstatthalter General Ritter von Epp den Oberbefehlshaber West aufgesucht, um ihn zur Einstellung des aussichtslosen Kampfes zu bewegen. Kesselring blieb jedoch unzugänglich. Er müsse gehorchen und habe außerdem den "besseren Überblick" über die Lage, beschied der Feldmarschall die beiden - an sich das schlechteste Argu­ ment für ein Weiterkämpfen. Aber um schlechte Argumente war der "Soldat bis zum letzten Tag" noch in seinen Memoiren nicht verlegen, wo er im Kontext anderer Un­ gereimtheiten tatsächlich feststellt, man habe noch in diesen letzten Tagen "so lange und so intensiv als möglich kämpfen" müssen, "um auch den Gegner zu zermürben und vielleicht dadurch verhandlungswilliger zu machen"; es habe gegolten, ein ähn• lich "mitleidloses" Diktat wie das von Versailles zu verhindern.806 Sogar Hitler selbst hatte in seiner schwachen Stunde am 22. April aufgegeben und eingeräumt, es gebe nun "nicht mehr viel zu kämpfen"807, und jeder Gefreite wußte mittlerweile, daß die Amerikaner nicht mehr zu zermürben oder verhandlungswillig zu machen waren. So wird auch der deutsche Oberbefehlshaber in Süddeutschland nicht wirklich über• rascht gewesen sein, als seine Phantastereien (soweit sie tatsächlich aus ernsthafter Überlegung entstanden waren) binnen einer Woche zerstoben. Buchstäblich auseinandergelaufen war nun auch die deutsche Führung in Berlin, nachdem die Größen des Dritten Reiches ein letztes Mal gemeinsam Hitlers Geburts­ tag begangen hatten. Am 22. April, als die Granaten der Roten Armee bereits in Ber­ lin-Mitte einschlugen, war der "Exodus" aus der zerbombten Hauptstadt fast perfekt. Göring weilte inzwischen in Berchtesgaden und wurde am Tag darauf wegen seines von Hitler als Verrat und "Ultimatum" empfundenen Versuchs, sich als dessen Nach­ folger ins Spiel zu bringen, sämtlicher Ämter enthoben und verhaftet. Anderntags wurde Himmler aktiv, der den Zeitpunkt gekommen sah, den Westmächten sein seit längerem ins Auge gefaßtes Kapitulationsangebot zu machen808 - der zweite, für Hit­ ler nachgerade niederschmetternde Fall von Treuebruch im engsten Führungszirkel des Regimes; der Innenminister und Reichsführer-SS wurde, wie erwähnt, ebenfalls aus allen Partei- und Staatsämtern ausgestoßen. Unmittelbar nach dem 22. April 1945 löste sich auch die oberste Führung der Wehrmacht auf. "Fiuchtartig"809 zog sich das OKW aus der fast schon eingeschlosse­ nen Reichshauptstadt zurück und ordnete, einem Befehl Hitlers ("Befehlsgliederung im Nord- und Südraum im Falle ihrer Aufspaltung") entsprechend, die Errichtung ei­ nes Führungsstabes Süd (Führungsstab B) an, gewissermaßen die "südliche Zweig-

805 Befehl v. 20.4. 1945, zit. nach Briickner, Kriegsende in Bayern, S. 87; dort und S. 88 auch zum folgenden. Zitat auf S. 88. 806 Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, S. 410. 807 Koller, Letzter Monat, S. 31. 808 Zusammenfassend hierzu Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 50 ff. 809 Briickner, Kriegsende in Bayern, S. 117. Zum folgenden und zu Einzelheiten Joachim Schultz-Naumann, Die letzten dreißig Tage. Das Kriegstagebuch des OKW April bis Mai 1945, München 1980, S. 38ff. 4. "Kehraus" 933

stelle"BlO des Oberkommandos der Wehrmacht. Oberbefehlshaber in dem rapide schrumpfenden Südraum war faktisch und bald auch offiziell Generalfeldmarschall Kesselring. Seit dem 24. April wurde hier unabhängig von Berlin und dem in den Nordraum ausgewichenen OKW geführt. Diese Notorganisation wurde keinen Tag zu früh in Gang gesetzt, denn tags darauf war Berlin eingeschlossen, an der Eibe reichten sich Amerikaner und Russen die Hand.8l1 Wie überall ging es jetzt auch südlich der Donau weniger um Führung als um Liquidierung. Die praktisch ungehindert vorgehenden Amerikaner und Franzosen hatten inzwi­ schen überall die Donau erreicht oder überquert, nach einem 60-Kilometer-Raid ("Wie ein Messer durch Käse"BI2) als erste die 12th Armored Division bei Dillingen. Am Oberlauf nahmen französische Einheiten zu gleicher Zeit Sigmaringen, amerika­ nische Ehingen, am 24. April fiel Ulm, am 26. setzten im Bereich der Seventh Army Teile der 42nd Infantry Division (die schon wenige Tage später in München einziehen sollte) bei Donauwörth über den Strom. Pattons Corps hatten die Donau am 24. April erreichtBl3 und überquerten sie 24 Stunden später an mehreren Stellen, am 26. April wurde Ingolstadt, anderntags Regensburg besetzt. An diesem 27. April gab General Patton, den der "Kehraus" in Süddeutschland militärisch zu langweilen begann ("Der Krieg ist recht langweilig")8l4 eine Pressekonferenz, auf der er sagte, es sei ihm uner­ findlich, wieso die Deutschen weiterkämpften. Zum Gang der Kampfhandlungen und zum Übergang über die Donau gab das Rauhbein nur noch abfällige Sottisen zum be­ sten: "Es passiert nichts von Interesse. Ich war heute da drunten und überquerte die Donau, und es stand nicht einmal dafür, hineinzupissen."8l5 Nach der Rhein-Über• querung fünf Wochen zuvor hatte er sich diesen Spaß noch gegönnt. Einen einheitlichen Zusammenhang oder "Frontlinien" gab es jetzt im Bereich der deutschen Heeresgruppe G, die Süddeutschland zwischen Schwarzwald und Böhmer• wald verteidigen sollte, nirgends mehr. Die 7. Armee war auf die tschechische Grenze abgedrängt und isoliert. Die zwischen Oberrhein und Iller kämpfende, mittlerweile auf Regimentstärke zusammengeschmolzene 19. Armee beurteilte die Lage am Abend des 23. April als "hoffnungslos"8l6, und auch die in der Mitte der Heeresgruppe Gin Ober- und Niederbayern operierende 1. Armee unter General Hermann Foertsch wurde nun von den Amerikanern überall "spielend überrollt"8l7. Der Stabschef des am längsten auf Durchhalten und Aushalten fixierten XIII. SS-Armeekorps räumte später ein, nach dem Donau-Übergang des Feindes in der Woche des 22. April habe "infolge der eigenen Unterlegenheit und völligen Erschöpfung der Truppe kaum noch ernstlich Widerstand geleistet" werden können.BlB Selbst der Kommandeur der am linken Flügel dieses Korps auf die Alpen zurückgehenden "Kampfgruppe Hobe", bei

810 Ebenda, S. 46. Vgl. im einzelnen auch Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 144Of!. Die folgende Feststel- lung bei Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 118. 811 Vgl. Vl/1.

812 The Stars and Stripes, 26.4. 1945. Siehe auch History of the U.S. Twelfth Armored Division. 813 Third United States Army, After Action Report, Bd. 1, Regensburg 1945, S. 363 ff.; HZ-Archiv, Material Henke. 814 Vgl. verschiedentlich in Briefen und dem Tagebuch Pattons nach dem 26. April 1945; Patton-Papers, S. 694. Zitat aus einem Brief an seine Frau v. 30.4. 1945, ebenda. 815 Pressekonferenz Pattons am 27. April 1945 in Erlangen; ebenda, S. 693. 816 Brückner, Kriegsende in Bayern, S. 128. 817 So Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, S. 413, allgemein zu den in Süddeutschland vergleichsweise am stärksten gesicherten Verteidigungsabschnitten. 818 Zit. nach Spiwoks, Stöber, Endkampf, S. 309; das folgende Zitat eben da, S. 341. 934 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland dem sich so gar kein Verständnis für die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung einstellen wollte, verglich seine Soldaten mit "gehetztem Wild". Die 20th Armored Division, die ihren Weg durch die "Festung Europa" von Le Havre über Cambrai, Aachen, Bonn, Würzburg und München nach Salzburg genommen hatte, griff in ihrem After Action Report zur Verdeutlichung des sonderbaren Krieges in Bayern nach dem 22. April ebenfalls zu einem eingängigen Bild. Der Bericht beschrieb die Desorganisation des Feindes und fuhr fort: "Seine Bewegungen können mit denen eines kleinen Kindes verglichen werden, das einen Stein auf seinen Gegner wirft und dann zu einem siche­ reren Ort zurückrennt."819 Eine andere amerikanische Division sah in dem "Krieg" an Lech, Amper, Isar und Loisach bloß noch "eine Angelegenheit, intakte Brücken über die vielen kleinen Flüsse zu finden"820. Solange die Waffen nicht endgültig schwiegen, hatte der Krieg für die Wehr­ machtsoldaten und die Bevölkerung in Bayern diesen spielerischen Anstrich freilich noch nicht. Bombardierungen und Beschießungen brachten noch mancher Stadt nördlich und südlich der Donau - Neumarkt in der Oberpfalz, Schwandorf, Donau­ wörth, Memmingen, Bad Reichenhall etwa - schwere Zerstörung. Den meisten Städ• ten im Süden blieb dieses Schicksal in den letzten zwei, drei Kriegswochen aber er­ spart. Im Bereich der Third U.S. Army waren die Panzerdivisionen nach Belieben links und rechts der Donau hinunter- und östlich an München vorbeigestoßen. Am 29. April überquerten die ersten Einheiten die Isar, zwei Tage später südlich Mühl• dorfs bereits den Inn, Straubing fiel am 28., Landshut am 29., am 30. April standen die Amerikaner vor Passau. Die Erfolge auf dem "Nebenkriegsschauplatz" der Sixth Army Group waren in die­ sen Tagen fast noch spektakulärer. Nach dem Fall Ulms am 24. April und der mühelo• sen Ausschaltung der "Flußbarriere" Donau überschwemmten die drei Corps der 7. US-Armee in einer guten Woche Süddeutschland zwischen Iller und Inn bis zum Al­ pensaum. Jede Tagesetappe war nun für eine Schlagzeile gut: Memmingen und Min­ delheim (26. 4.), Kempten und Landsberg (27. 4.), Augsburg, das von einer Gruppe mutiger Bürger übergeben wurde, und Füssen (28. 4.), Weilheim und Garmisch-Par­ tenkirchen (29. 4.). Am 30. April 1945 schließlich wurde die bayerische Landeshaupt­ stadt besetzt. "Die ganze Alliierte Expeditionsstreitmacht gratuliert der 7. Armee zur Einnahme von München, der Wiege der Nazi-Bestie", schrieb Eisenhower in seinem Tagesbefehl.821 Die Spitzen von General Patchs Armee hatten am letzten Apriltag die Grenze nach Österreich bereits überschritten und standen unweit des Fernpasses bei Leermoos in den Lechtaler Alpen.822 Mehr Kopfzerbrechen als der schwächliche deutsche Widerstand bereitete den amerikanischen Kommandeuren im Bereich der Sixth Army Group die prestigesüch• tigen Eigenmächtigkeiten der Premiere Armee Franc,:aise (Rhin et Danube) de Lattre de Tassignys.823 Aus verständlichen politischen und patriotischen Motiven heraus be­ strebt, noch möglichst viel Waffenruhm an die eigenen Fahnen zu heften, vollführten die Franzosen in den letzten Wochen des April eine regelrechte "opera buffe" (Charles

819 20th Annored Division, After Action Report für die Woche v. 23. 4. bis 30. 4. 1945 v. 20. 5. 1945; NA, RG 407, Box 16364. 820 4th Infantry Division, Narrative History, Kap. VIII "Central Europe", S. 46; NA, RG 407, Box 6429. 821 Abgedruckt in: Seventh United States Army, Report of Operations, II1, S. 837. 822 Nichols, Impact (10th Annored Division), S. 287 If. 813 Vgl. MacDonald, Last Offensive, S. 430ff.; das folgende Zitat ebenda, S. 480. 4. "Kehraus" 935

B. MacDonald), um den Amerikanern - ohne deren Wohlwollen eine französische Teilnahme an dem Feldzug in Süddeutschland unmöglich gewesen wäre - bei der Er­ oberung wichtiger Abschnitte oder geschichtsträchtiger Orte (wie Ulm) unbedingt zu­ vorzukommen. Trotz solcher Irritation sah Eisenhower die Ziele seiner letzten Offen­ sive Ende April erreicht. Die Feindaufklärung des Alliierten Oberkommandos begann ihre Wochenübersicht denn auch mit dem Satz "Die deutsche Armee stirbt" und schloß ihn mit der Feststellung: "Und so kann man nun sagen, daß die Möglichkeiten des Feindes gleich null sind."824 Während die amerikanischen und französischen Korps die Heeresgruppe G des Generals der Infanterie Friedrich Schulz in die Alpen trieben, unterstrichen drei wei­ tere Ereignisse, daß das Ende des Endkampfes unwiderruflich gekommen war: Die Aufspaltung Deutschlands durch den Kontakt der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koali­ tion an der Eibe, der wenigstens den Militärs als eigentliches "Symbol des definitiven Sieges" (Omar N. Bradley)825 galt; am 29. April kapitulierte außerdem die deutsche Italien-Armee mit Wirkung zum Mittag des 2. Mai 1945, die einzige Teilkapitulation, die - ohne ihm allerdings zur Kenntnis gelangt zu sein - noch zu Lebzeiten Hitlers erfolgte; am Nachmittag des nächsten Tages, auch unter dem Eindruck des brutalen Endes Mussolinis auf der Piazza Loreto in Mailand, erschoß sich schließlich der "Füh• rer", Reichskanzler und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht. Erst jetzt war der Weg frei, den verlorenen Krieg auch zu beenden. Bevor es soweit war, beschleunigte sich der amerikanische Vormarsch in den ersten Maitagen ein letztes Mal. Über Passau, das am 2. Mai besetzt wurde, erreichte die Third U.S. Army am 5. Mai Linz und verharrte dann einige Kilometer östlich der Stadt an der entlang der Straße Linz-Budweis und weiter entlang der Enns verlaufen­ den Demarkationslinie826, zu der die Rote Armee dann erst nach der deutschen Kapi­ tulation aufschloß.827 Zum nordöstlichen Vorstoß in die Tschechoslowakei erhielt Pat­ ton, der jetzt mit über einer halben Million Soldaten die größte amerikanische Armee des Krieges befehligte, am 4. Mai grünes Licht; einen Tag später war Pilsen befreit.828 Danach rückten seine Truppen an die andere, von Karlsbad über Pilsen nach Budweis laufende Demarkationslinie vor. Das letzte große Datum für die Seventh United States Army in diesem Krieg war der 4. Mai 1945. Bei Sterzing in Südtirol trafen ihre Spitzen am Vormittag auf die ersten Einheiten der aus Italien heraufkommenden amerikanischen 5. Armee, Salzburg fiel am selben Tag ("weniger ein militärisches Pro­ blem als ein Fahrzeugmarsch"829). Am Nachmittag des 4. Mai 1945 erreichten die er­ sten Soldaten der alliierten Invasionsarmee dann das "Führersperrgebiet" auf dem . Der schwere amerikanische Luftangriff zehn Tage zuvor, bei dem der

'" SHAEF, G-2, Weekly Intelligence Summary Nr. 58 v. 29.4.1945; NA, RG 331, SHAEF, G-2, Intelligence Reports 1942-1945, Entry 13. m Bradley, Blair, A General's Life, S. 432. 826 Vgl. das Telegramm Eisenhowers an den Generalstabschef der Roten Armee v. 30.4. 1945; Eisenhower­ Papers, IV, S. 2663 f. 827 Die amerikanischen (französischen und sowjetischen) Operationen in Österreich sind detailreich geschil­ dert bei Rauchensteiner, Krieg in Österreich. Siehe auch Theo Rossiwall, Die letzten Tage. Die militärische Besetzung Österreichs 1945, Wien 1969. Auch Gabriele Hindinger, Das Kriegsende und der Wiederaufbau demokratischer Verhältnisse in Österreich im Jahr 1945, Wien 1968. 828 Die "CiviI Affairs Directive for Liberated Areas of Czechoslovakia" des Alliierten Oberkommandos datiert v. 19.4. 1945; sie findet sich in: NA, RG 260, AGTS 2-16. 829 Seventh United States Army, Report of Operations, III, S. 854; HZ-Archiv, Material Henke. 936 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland eben entmachtete Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, seine Frau und etliche Bedienstete "aus ihren Betten in Schlafanzügen und Nachthemden"830 zu den Luftschutzbunkern gerannt waren, hatte Hitlers Refugium bereits in Trümmer gelegt. Aus einigen Ruinen quoll noch immer Rauch, als sich die Männer der 3rd In­ fantry Division, der lOlst Airborne Division und der 2e Division Blindee des General Lederc nach passenden Souvenirs umzusehen begannen: Haus Speer, leicht beschä• digt; Haus Bormann, total zerstört; Landhaus Göring, total zerstört; , zerstört, Außen mauern erhalten - "noch schwelend"831. Als die amerikanischen Soldaten in Berchtesgaden am Ende ihres "Kreuzzuges" (Eisenhower) angelangt waren, hatten der Selbstmord Hitlers, die Wehrlosigkeit der Wehrmacht und die Entschlossenheit des neuen Staatsoberhauptes, Großadmiral Karl Dönitz, den Krieg sofort zu beenden und dabei gleichzeitig möglichst viele Flücht• linge und Soldaten dem Zugriff der Roten Armee zu entziehen, im Norden wie im Süden bereits eine Kaskade von Teilkapitulationen ausgelöst832 ; nicht alle fügten sie sich in die von der neuen, kurzlebigen Reichsregierung verfolgte Strategie einer "zen­ tral gesteuerten stufenweisen Gesamtkapitulation". General Patton vermutete richtig, als er auf die Nachricht von der Kapitulation der deutschen Italien-Armee hin in sein Tagebuch schrieb, dieses Vorbild könne "ansteckend" wirken, der Krieg jede Minute zu Ende sein.833 In den frühen Morgenstunden des 2. Mai hatte der Kampfkomman­ dant des eingeschlossenen Berlin aufgegeben, zu Mittag trat die Kapitulation der Ita­ lienfront in Kraft, am selben Tag legten in Mecklenburg nach lokalen Übergabever• handlungen die Soldaten der 3. Panzer-Armee sowie der 21. Armee ihre Waffen nieder und brachten sich hinter den Linien der Alliierten in Sicherheit.834 Anderntags begannen die "Verhandlungen" Generaladmiral von Friedeburgs über die Gesamtka­ pitulation des Nordraumes im Hauptquartier des britischen Oberbefehlshabers Mont­ gomery, die dann am 4. Mai unterzeichnet wurde; kurz zuvor hatte General Wencks 12. Armee die Waffen gestreckt und mit dem Übergang auf das Westufer der Eibe be­ gonnen. Am Abend des Vortages war Kesselring von Dönitz autorisiert worden, die Kapitu­ lation der inzwischen von den alliierten Verbänden gründlich zermalmten Heeres­ gruppe G einzuleiten. Zum Unterhändler bestimmte der OB Süd General Foertsch, den Oberbefehlshaber der 1. Armee, die in der letzten Aprilwoche vergeblich versucht hatte, die Amerikaner an der Donau aufzuhalten. Die "Verhandlungen" fanden am 5. Mai 1945 in "eisiger" Atmosphäre835 im Hauptquartier des amerikanischen XV. Corps in einem HJ-Heim in Haar bei München und zeitweise in dem riesigen Atelier des Bildhauers Thorak im nahegelegenen Baldharn statt.836 Dabei machte General Devers,

830 Koller, Letzter Monat, S. 51; Aufzeichnung zum 25.4. 1945. '31 So die Bildunterschrift zu einer Aufnahme des Berghofes nach der Besetzung des Obersalzberges, in: Rap­ port, Norwood, Rendezvous with the Destiny (101st Airbome Division), S. 747. 831 Eine genaue Schilderung der Teilkapitulationen und der Gesamtkapitulation bei Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 109 H.; das folgende Zitat eben da, S. 130. '33 Eintragung v. 3. 5. 1945; Patton-Papers, S. 695. 83' Vgl. V1/2. m Vgl. den Bericht des Hauptmanns Hans-Otto Behrendt, Mitglied der Delegation von Foertsch, v. 10.7. 1973; BA/MA, RH 19 XII/58. Dieser Bericht wurde mir von Herrn Brückner freundlicherweise überlassen. 83. Vgl. hierzu Seventh United States Army, Report of Operations, III, S. 856ft. (die im folgenden zitierte Se­ quenz eben da, S. 859). Rauchensteiner, Krieg in Österreich, S. 367 ft. Brückner, Kriegsende in Bayem, S. 263ft. Zu den besonderen Umständen der Kapitulation der 19. und 24. Armee eben da, S. 250f. Vgl. 4. "Kehraus" 937

Oberbefehlshaber der Sixth Army Group, wiederholt klar, daß nicht über einen Waf­ fenstillstand, sondern über eine bedingungslose Kapitulation zu beraten sei. Am Nachmittag unterschrieb Kesselrings Emissär die Vereinbarung, die am Mittag des folgenden Tages in Kraft trat. Nach der amerikanischen Schilderung der Szene war die Unterzeichnung ein bitterer Moment für den General der Infanterie: "Foertsch saß steil in militärischer Haltung. Es dauerte eine volle Minute, bis er etwas sagte. Der Mann stand offensichtlich unter der Wirkung eines Gefühls der heftigsten Art. Schließlich beugte er leicht seinen Kopf, errötete etwas und erwiderte: ,Ich verstehe. Ich habe keine Wahl. Ich habe nicht die Macht, etwas anderes zu tun.'" Im Haupt­ quartier der Alliierten Invasionsarmee in Reims traf wenig später Generaladmiral von Friedeburg ein. Dönitz hatte ihn geschickt, um bei Eisenhower die Kapitulation der restlichen noch gegen die Westmächte kämpfenden deutschen Streitkräfte zu bewerk­ stelligen. Das mißlang. Die Strategie der militärischen Teilkapitulationen hatte sich er­ schöpft.837

"Kernfestung Alpen (( und" Werwolf" Bis zur Nachricht von Hitlers Tod durfte die Generalität auf deutscher wie alliierter Seite mit gutem Grund annehmen, daß der "Führer" es in den noch unbesetzten Re­ gionen des Reiches auf einen mythenstiftenden Endkampf anlegen werde. Zweifellos hätten sich viele Heeressoldaten und sehr viele Soldaten der Waffen-SS - erst recht Befehlshaber wie Kesselring oder Schörner - selbst angesichts eines so offenkundig verantwortungslosen Entschlusses nicht aus ihrer Bindung an Hitler lösen können. Nach Meinung des Generalstabschefs beim OB West hätte ein Endkampf in dem da­ für besonders geeigneten Südraum "zu einem Blutbad geführt"838. Der Selbstmord Hitlers ersparte den in die Alpen zurückgedrückten deutschen Truppen wenigstens dieses mörderische Finale. Eine "alpine Götterdämmerung"839 blieb aus. Die westliche Presse war über den für sie beinahe enttäuschenden Untergang als Antiklimax leicht irritiert, hatte sie doch monatelang in immer neuen phantastischen Berichten eine ,,Alpenfestung", eine "nationale Redoute" konstruiert gehabt, die sich bei Kriegsende dann aber als reines "Phantom"840 entpuppte. Wie "Werwolf", "Wunderwaffen" oder "Lebensborn" gehört auch die ,,Alpenfe­ stung" zu jenen schillernden Prunkstücken des unerschöpflichen Arsenals, aus dem phantasiebegabte Bewunderer des "Dritten Reiches" mit Leidenschaft immer wieder dunkle Faszinosa hervorholen. Es erübrigt sich, erneut nachzuweisen, daß die soge­ nannte Redoubt nur eine Erfindung gewesen ist, an der die schweizerische und dann die internationale Presse, deutsche und amerikanische Agenten bald nach der Inva­ sion 1944 zu arbeiten begannen und die dann von interessierter Seite - vor allem vom Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Tirol-Vorarlbergs, Franz Hofer - aufge­ griffen und schließlich der Führung in Berlin als ernst gemeinter Vorschlag präsentiert auch die Schilderung der Kapitulation der 19. Annee in dem Brief des Legationsrats Johann Georg Leh­ mann an seine Frau v. 9. S. 1945; BA/MA, Mg 2/2269. Zur Übergabe der 7. Annee vgl. Gersdorff, Soldat im Untergang, S. 182 fI. 831 Zur Gesamtkapitulation in Reims und Berlin vgl. VII/So B38 Westphal, Erinnerungen, S. 339. 839 So Rodney G. Minott, The Fortress that never was. The Myth of Hitler's Bavarian Stronghold, New York 1964, S. 78. Ausführlich zur ,,Alpenfestung" ebenfalls Rauchensteiner, Krieg in Österreich, S. 285 ff. 8'0 Lothar Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg. Kriegführung und Politik, München '1982, S. 447. 938 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland wurde. Bormann und Jodl ließen diese Phantastereien lange gar nicht erst zu Hitler durchdringen. Es dauerte bis zum 11./12. April, ehe Hofer seine Pläne für eine Alpen­ festung beim "Führer" vortragen konnte. Gedacht war nicht etwa an eine bloße Intensivierung des in den Alpen ohnehin seit längerem in Gang befindlichen Baus von Verteidigungslinien und Befestigungsanla­ gen, sondern an eine wirkliche Festung. Sie sollte praktisch den gesamten Alpenraum zwischen Bayern und Oberitalien, der Schweiz und Oberösterreich umgreifen, eine riesenhafte, stark befestigte Zitadelle mit unterirdischen Fabriken, riesigen Waffen-, Munitions-, Material- und Lebensmittellagern, mit Zehntausenden von Soldaten auf den Zinnen und in den Kasematten. Politisches Ziel dieser "militärischen Notwendig­ keit" (Hofer)841 war es, die Kämpfe um eine Spanne von ein bis zwei Jahren hinzuzie­ hen, dadurch doch noch mit dem Gegner ins Gespräch zu kommen und so der bedin­ gungslosen Kapitulation zu entgehen. Hitler ließ sich für diesen Plan gewinnen, und zwei Tage vor seinem Selbstmord erließ er die Anordnung zu Erkundung und Ausbau der "Kernfestung Alpen"842. Die meisten Offiziere und Parteifunktionäre, die dieser "Führerbefehl" - verzweifeltes ,,Anklammern an eine letzte Hoffnung"843 - angegan­ gen wäre, haben davon erst nach der Kapitulation erfahren. Die späte Zuflucht Hitlers zu den Absurditäten Hofers (dem es inzwischen selbst nur noch um den Schutz seines eigenen Gaues zu tun war) ist ebenso erklärlich wie das vorausgegangene lange Zögern der obersten Führung, sich mit den Eingebungen des Tiroler Gauleiters überhaupt zu befassen. Nicht allein die schlichte Tatsache, daß die zur Verwirklichung eines solch gigantomanischen Vorhabens notwendigen Kräfte und Materialien natürlich nirgends mehr zu finden waren (bzw. für naheliegendere Vorhaben wie etwa die Ardennen-Of­ fensive benötigt wurden), ließ Bormann und Jodl die Initiative Hofers zunächst igno­ rieren. Eine zweite, nicht weniger simple Überlegung verbot die ernsthafte Befassung mit Hofers ,,Alpenfestung" sogar. Schließlich hätte Berlin die eigenen Zweifel am Sinn der Fortführung des Krieges nach innen wie nach außen kaum besser demon­ strieren können als durch die Präparierung einer letzten Zitadelle verzweifelten Wi­ derstands. Erst als im Frühjahr 1945 die Sinnlosigkeit des Berliner Kurses vollends of­ fen zu Tage lag, konnte man sich dort getrost auch diesem sinnlosen Projekt zuwen­ den. Die Alliierten besaßen keine zuverlässigen Informationen darüber, ob die Deut­ schen den Alpenraum tatsächlich in eine veritable Festung verwandeln wollten oder nicht. Während sich durch die Berichterstattung der amerikanischen Presse eine mit allerlei Anleihen bei den germanischen Heldensagen angereicherte "Festungs-Psy­ chose"844 aufbaute, die amerikanische Armeezeitung wie selbstverständlich von der deutschen "nationalen Redoute" sprach, machten die Stäbe des Alliierten Oberkom­ mandos mit zunehmender Annäherung an die Reichsgrenze und dann an den Rhein

841 So Franz Hofer in seinem Memorandum für Bormann v. 6.11. 1944. Vgl. Hofers im Rahmen des Foreign Military Studies Program angefertigte Studien B-457 (dort das Zitat) und B·458; MGFA Freiburg, Doku­ mentenzentrale. Einschlägig zu diesem Komplex ferner U.a. die Studien B-130 (Ludwig Mühe), B-133 00- sef Punzert), B-140 (Otto Hofmann), B-159 (Kar! Kriebel), B-187 (August Marcinkiewicz), B-188 (AlfredJa­ cob), B-225 (Gottlob Berger), B-325 Oulius Ringel), B-459, B-461 (Georg Ritter von Hengl). 842 Kriegstagebuch des OKW, IV, S. 1447. 84, So Alfred Jacob in seinem "Bericht über die deutsche Alpenfestung" v. 24. 5. 1946. Studie B-188 des Foreign Military Studies Program; MGFA, Dokumentenzentrale. 844 So der General der Gebirgstruppen Georg Ritter von Hengl in seiner Studie "Zusammenfassender Bericht über die Alpenfestung" (B-461); ebenda. 4... Kehraus" 939 immer energischere Versuche, zu ergründen, wie substantiell die umherschwirrenden Gerüchte und Behauptungen wirklich waren. Dabei hatten die Intelligence-Offiziere, denen es selbst nicht immer gelang, sich den Phantastereien oder auch betont sachlich aufgeputzten Sensationsreportagen der Presse zu entziehen, mit einer erdrückenden Fülle höchst unterschiedlicher Informationen zu kämpfen. Entsprechend unterschied­ lich und widersprüchlich fielen die zahlreichen Studien zur ,,Alpenfestung" aus, die auf den verschiedenen Ebenen des OSS und der Invasionsstreitkräfte produziert wur­ den. Entscheidend ist deshalb die Frage, wie Eisenhower, Bradley und ihre Stäbe die Analysen über die "nationale Redoute" im Süden Deutschlands aufgenommen und wie diese Expertisen die strategischen und operativen Entscheidungen der beiden maßgeblichen Köpfe der alliierten Streitkräfte beeinflußt haben. Die Memoiren beider Generäle scheinen zu belegen, das Phantom ,,Alpenfestung" habe wirklich Einfluß auf den Gang der amerikanischen Eroberung des Reiches genommen.845 Viele Historiker sind dem gefolgt.846 Die Einschätzung der deutschen Aktivitäten und Absichten im Alpenraum, mit de­ nen sich das Alliierte Oberkommando intensiver erst zu befassen begann, als die große Offensive an und über den Rhein seit Ende Februar rasche Fortschritte zu machen be­ gann, war in dem Riesenkosmos der Invasionsarmee naturgemäß unterschiedlich. Bei mancher Division847 , aber beispielsweise auch bei der Seventh United States Army (deren Intelligence-Offiziere im Entwurf von Horrorszenarios exzellierten848) oder beim G-S Stab des Oberkommandos849 bestanden bis in den April hinein wahrhaft groteske Vorstellungen über die "nationale Redoute". Von größerem Gewicht für die Entscheidungsfindung waren freilich die Analysen, die der G-2 Stab von SHAEF und vor allem das Joint Intelligence Committee des Oberkommandos unter dem Vorsitz des britischen Generals Kenneth W. D. Strong ("die oberste Autorität in allen nach­ richtendienstlichen Fragen"850) vorlegte. Die Beurteilung der deutschen Möglichkeiten im Alpenraum durch die verschiede­ nen alliierten Stäbe war zudem nicht statisch, sondern wandelte sich im Lichte der ra­ santen Entfaltung der Offensive im Laufe des März und April erheblich. Eine frühe, geradewegs ins Schwarze treffende Bemerkung machte die Psychological Warfare Di­ vision bereits Ende Februar mit ihrer Feststellung, das ganze Aufhebens mit der ,,Al­ penfestung" sei recht dubios und habe seinen Ursprung wohl in der sattsam bekann­ ten Propagandataktik der Nazis, gewisse eigene Aktivitäten maßlos zu übertreiben, um damit die alliierte Politik zu stören. Außerdem sei sehr zweifelhaft, daß Deutschland bei dem eklatanten Mangel an Arbeitskräften, Lebensmitteln und Munition überhaupt in der Lage sei, eine "Kernfestung" der beschriebenen Ausmaße zu schaffen.851 Die oftmals eigenwilligen PWD-Berichte waren freilich keine Quelle, aus der die maß-

845 Vgl. etwa Eisenhower, Kreuzzug, S. 461 und S. 476. Omar N. Bradley, A Soldier's Story of the Allied Cam- paigns fram Tunis to the Eibe, London 1951, S. 5361. Bradley, BIair, A Genera]'s Life, S. 4181. und S. 431. 846 Eine Ausnahme ist MaeDonald, Last Offensive, S. 407 ff., der die nüchternste Bewertung vornimmt. 817 Vgl. etwa den G-2 Report der 90th Infantry Division v. 14./15.4.1945; NA, RG 407, Box 13298. 848 Vgl. Minott, Fortress, S. 54 f. 849 Vgl. SHAEF, G-5 Weekly Journal of Information Nr. 9 v. 19 4. 1945; NA, RG 331, 131.11 SHAEF, G-5, Information Braneh, Entry 54. 850 Pogue, Supreme Command, S. 72. 85! SHAEF, PWD, Weekly Intelligenee Summary for Psychologieal Warfare Nr. 22 v. 24.2. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Exeeutive Seetion, Deeimal File 1944-45, Entry 87. 940 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland geblichen Militärs viel und gerne geschöpft hätten. Wahrscheinlich haben die meisten von ihnen dies treffende Urteil gar nicht zur Kenntnis genommen. Vierzehn Tage später wurden die skeptischen Stimmen von einem Paukenschlag der Twelfth Army Group übertönt. In ihrem Weekly Intelligence Summary brachte Bradleys Armeegruppe nämlich eine umfassende Studie, nach deren Lektüre es schwerfallen mußte, "die Nazi-Pläne für eine Fortführung des Widerstands nach der Zerschlagung der deutschen Armeen" als bloßes Phantasieprodukt übereifriger Analy­ tiker abzutun. Auf fünf Schreibmaschinenseiten waren in bestimmtem Ton ("starke Beweise") all die Maßnahmen beschrieben, mit denen die deutsche Führung den Al­ penraum soeben in eine kaum zu knackende Festung verwandelte; auch von einer ",Walhalla der Götter' in der Berchtesgadener Gegend" war die Rede.s52 Einen Tag nach dem Handstreich auf die Brücke von Remagen befaßte sich dann das Joint Intelligence Committee mit dem schillernden Gegenstand und rückte dabei die Proportionen wieder ein wenig zurecht. Das Gremium war zwar davon überzeugt, daß - solange Hitler lebte - die deutsche Führung den Kampf auch in aussichtsloser Lage nicht einstellen werde, dennoch sei die gesamte Alpenzone samt Vorland im Norden und im Süden kaum längere Zeit zu verteidigen. Was eine enger gefaßte "Re­ doute" im westlichen Österreich angehe, wo Hitler und seine engsten Mitstreiter zu­ sammen mit nationalsozialistischen Fanatikern angeblich ihr "letztes Gefecht" plan­ ten, so sei es unwahrscheinlich, daß dort bereits militärische Vorbereitungen in größe• rem Umfange getroffen würden. Denkbar sei allerdings, daß wichtige Verwaltungsstel­ len und hohe militärische Stäbe in die Salzburger Region verlegt würden: "Eine solche Stellung zu beziehen, wäre dazu bestimmt, der jüngeren Generation zu beweisen, daß der Nationalsozialismus und Deutschland niemals kapituliert haben", warnte JIC ab­ schließend. Diese Gefahr könne allein durch eine rasche Besetzung Süddeutschlands gebannt werden.sB Aus dieser Analyse ergab sich klar, daß Süddeutschland und die Alpenregion trotz der Schwäche der Wehrmacht nicht als strategische Nebensache behandelt werden durften, und zwar unabhängig davon, ob die Deutschen den Alpen­ raum nun tatsächlich bereits zu einer veritablen Festung verwandelt hatten oder ob die "Reduit" den zurückgehenden Hitler-treuen Verbänden lediglich als gut zu vertei­ digendes Rückzugsareal dienen sollte. In den beiden ersten Aprilwochen, die mit der Ausschaltung des RuhrgebietesS54 und dem Erreichen der Elbe855 die Höhepunkte der Schlußoffensive gegen das Reich brachten, legte sich auch die Aufregung im G-2 Stab der amerikanischen 12. Armee­ gruppe ein wenig. Nun hieß es dort sehr viel vorsichtiger als vor Monatsfrist, noch lä• gen keine Beweise dafür vor, daß die "Redoute" in eine für den Endkampf bestimmte "uneinnehmbare Festung" verwandelt würde; viele Informationen beruhten eingestan­ denermaßen nur auf "Hörensagen".S56 Vielleicht hing dieser Sinneswandel damit zu­ sammen, daß Eisenhower und Bradley inzwischen fest entschlossen waren, keine alli-

'52 "Enemy Plans for Continued Resistanee", Anhang Nr. 5 zum Twelfth Army Group Intelligenee Summary Nr. 30 v. 6. 3. 1945; NA, RG 331, Hqs Twelfth Army Group, G-2, Intelligenee Braneh, Weekly Intelligenee Summary 1944-45, Entry 176. m SHAEF,jIC, Studie "The Inner Zone and the Redoubt" v. 10.3.1945; NA, RG 260, AGTS 14-3. 854 VgL V/I. '" VgL VI/I. 856 "The Redoubt", Studie in Anhang Nr. 1 zum Weekly Intelligenee Summary Ne. 34 der Twelfth Army Group v. 3.4. 1945; NA, RG 331, Hqs Twelfth Army Group, G-2, Intelligenee Braneh, Weekly Intelli­ gen ce Summaries 1944-45, Entry 176. 4. "Kehraus" 941 ierten Truppen auf Berlin anzusetzen, die scharfe, aber mittlerweile entschiedene De­ batte mit dem britischen Verbündeten857 deshalb keiner Flankierung durch die Be­ schwörung eines unausdenklich großen Gefahrenherdes mehr bedurfte, der nur durch ein gewaltiges, durch Süddeutschland vorgehendes Heer würde ausgeschaltet werden können. Die Military Intelligence Division des Kriegsministeriums in Washington er­ klärte zum selben Zeitpunkt kurz und bündig: "Die vielen Gerüchte über deutsche Vorbereitungen zur Verteidigung einer ,alpinen Redoute' werden als substanzlos ange­ sehen." Die Kampfentschlossenheit der zurückgehenden deutschen Truppen in dieser Region werde ganz davon abhängen, ob Hitler oder das deutsche Oberkommando ihre Hauptquartiere in den Alpenraum verlegten oder nicht: "Wenn Hitler das tut, könnte die Alliierten im ,Redouten'-Raum noch immer eine recht formidable Auf­ gabe erwarten, die eine beträchtliche Anzahl von Divisionen erfordert."858 Bald darauf trafen Eisenhower und Bradley die Entscheidung, die Third U.S. Army und die amerikanisch-französische 6. Armeegruppe nach Südosten und Süden ein­ schwenken zu lassen.859 Am Tag bevor die beiden Generäle diesen Entschluß faßten, hatte das Joint Intelligence Committee von SHAEF seine zweite, weiter präzisierte Lageanalyse vorgelegt. Sie zeigt, daß der Oberkommandierende seinen Befehl zum Vorstoß das Donautal hinunter und auf die Alpen zu auf der Basis wohl erwogener Ar­ gumente und keineswegs deshalb traf, weil er sich von dem Trugbild ,,Alpenfestung" hätte in die Irre führen lassen. Zunächst wiederholte das Gremium sein Axiom, dem­ zufolge der Feind bis zur letzten Patrone kämpfen werde, solange Hitler an der Spitze des Regimes stehe. Das erzwinge die Besetzung aller unter deutscher Kontrolle ver­ bliebenen Gebiete, womöglich einschließlich Norwegens. Es gebe keine Hinweise dar­ auf, daß die Strategie des Oberkommandos der Wehrmacht darauf ziele, zu gegebener Zeit etwa die "sogenannte nationale Redoute" zu beziehen: "Die alliierten Operatio­ nen werden jedoch die deutsche Armee wahrscheinlich in zwei Teile spalten, und so­ lange der Widerstand anhält, wird es in den Operationen des Feindes eine natürliche Tendenz geben, Teile seiner Streitkräfte nach Süden zurückzunehmen. So wird die nationale Redoute von bestimmten Resten der West- und der Ostfront und auch der italienischen Front besetzt werden." Der Alpenraum verfüge zwar nicht über die Res­ sourcen, große Truppenkontingente über lange Zeit hinweg zu versorgen, das Gelände sei dort aber außerordentlich unwegsam und - falls es Hitler-treuen Truppen und der "Creme" junger Fanatiker in beträchtlicher Anzahl gelingen sollte, dort Fuß zu fassen - hervorragend zu verteidigen. Nichts an dieser Analyse atmete den Geist der über• hitzten öffentlichen Spekulationen über die phantastischen Anstrengungen der Natio­ nalsozialisten beim Ausbau ihrer Endkampf-Festung. Das Gremium machte lediglich darauf aufmerksam, daß der Krieg in Europa so lange nicht beendet sein würde, wie noch größere deutsche Kräfte, eventuell unter Hitlers persönlicher Führung, den Kampf nicht eingestellt hatten. Als Ziele eines solchen "last stand" im Alpenraum vermutete das Committee unter General Strong die Absicht, das Kriegsende hinauszuziehen, eine Operationsbasis für Guerillaaktionen gegen das besetzte Gebiet zu gewinnen, vor allem aber eines: "eine

857 Vgl. VI/l. 858 "Expected Developments of April 1945 in the Gennan Reich", Studie der Military InteUigence Division des War Department General Staff v. 2.4. 1945; NA, RG 165, CAD, 014. Gennany (7-10-42) (sec. 12). 859 Vgl. VII/l. 942 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Legende zu schaffen, daß der Nazismus, das Symbol Deutschlands, niemals kapituliert habe, und so die Tradition des deutschen Militarismus am Leben zu halten." Die Ana­ lyse fuhr fort: "Durch das Erreichen dieser Ziele und durch die Fortsetzung des Krie­ ges in den Winter 1945/46 hinein, so mag der Feind hoffen, könnten die Alliierten, kriegsmüde und uneins, zu dem Schluß kommen, daß Deutschland nie unterworfen werden kann, oder untereinander in Streit geraten."860 Auch wenn es nicht zu einer derart verheerenden Entwicklung kommen würde, mußten die verantwortlichen Mili­ tärs im Alliierten Oberkommando spätestens nach Lektüre dieser Studie die sehr un­ angenehme Konsequenz in Rechnung stellen, daß ein Kleinkrieg im Alpenraum eine beträchtliche Anzahl amerikanischer Divisionen binden würde. Die geplante Verle­ gung starker Kräfte von Europa nach Ostasien würde davon erheblich berührt, die 86 amerikanische Strategie im Pazifik womöglich ernstlich tangiert. ! Am 11./12. April, die JIC-Analyse war einen Tag alt, beschlossen Eisenhower und Bradley den Stoß durch Süddeutschland.862 Der Terminus "national redoubt" hatte - im Gegensatz zu dessen sensationshei­ schenden Verwendung in der Presse - im internen Sprachgebrauch der Stäbe der In­ vasionsarmee spätestens im Laufe des April alle zuvor mitschwingenden, "befestigtes Gebiet", "Festung" durchaus mit einbegreifenden Konnotationen verloren. Er be­ zeichnete nunmehr ganz nüchtern einen unwegsamen und deshalb gut zu verteidi­ genden größeren Versammlungsraum. Unmittelbar belegt wird das unter anderem durch eine Passage im Weekly Intelligence Summary von SHAEF, G-2, in dem gegen Ende April davon gesprochen wurde, Deutschland sei "in zwei ,Redouten' gespal­ ten"86J, nämlich eine die Nordseeküste, Friesland, Dänemark und Norwegen umfas­ sende "Redoute" im Norden und eine im Süden. Es ist deshalb durchaus irreführend und eine unbedachte Reverenz an die abwegige Schulmeinung, das Alliierte Ober­ kommando sei auf Gaukelspiel hereingefallen, wenn Omar Bradley später beiläufig sagte, bei Kriegsende habe man "entdeckt", daß die "alpine Redoute ein Mythos" ge­ wesen sei.864 Natürlich war die ,,Alpen festung" ein Mythos, aber es waren keineswegs Mythen und Chimären, sondern nüchternes strategisches Kalkül, die Eisenhower und Bradley dazu bewogen, ihre Armeen gegen die Alpen eindrehen zu lassen. Niemand kann sagen, auf welche Ideen der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht zu später Stunde noch verfallen wäre, hätten Patton, Patch und de Lattre de Tassigny durch das Tempo ihres Vormarsches nicht alle weitere Planung in Süddeutschland illusorisch gemacht, und niemand konnte zum Zeitpunkt der amerikanischen Entscheidung, "jede erfolgreiche Reorganisierung von Resten feindlicher Verbände in der Gebirgsre­ gion im Süden zu vereiteln" (General George C. Marshall)865, voraussehen, daß Hitler

860 SHAEF,JIC, Studie "The National Redoubt" v. 10.4. 1945; NA, RG 260, AGTS 14-3. Auch der G-2 Stab der Twelfth Army Graup sprach inzwischen von der "sogenannten Redoubt". Vgl. dessen Weekly Intelli­ gence Summary Nr. 36 v. 17.4.1945; NA, RG 331, Hgs Twelfth Army Graup, G-2, Intelligence Branch, Weekly Intelligence Summaries 1944-45, Entry 176. Vgl. auch Kenneth Strang, Geheimdienstchef in Krieg und Frieden, Wien 1969, S. 232 f. 861 Vgl. Bradley, Blair, A Genera]'s Life, S. 418. 862 Vgl. VII/I. 863 SHAEF, G-2, Weekly Intelligence Summary Nr. 57 v. 22.4.1945; NA, RG 331, SHAEF, G-2, Intelligence Reports 1942-45, Entry 13. Hervorhebung von mir. 86' Bradley, Blair, A Genera]'s Life, S. 431. 86' Gcorge C. MarshalI, Biennial Report of the Chief of Staff of the United States Army, July 1, 1943 toJune 30,1945 to the Secretary of War v. 1. 9.1945, Washington 1945, S. 51. 4. "Kehraus" 943 in Berlin ausharren, Selbstmord begehen, und seiner geschlagenen Armee so das von General Westphal befürchtete "Blutbad"866 in den Alpen erspart bleiben würde. Die begründete Sorge der Amerikaner vor der Bindung beträchtlicher Kräfte in einem mühseligen Kleinkrieg wurde durch ein Fanal verstärkt, das von einem sogar für deutsche Verhältnisse beispiellosen Verbalradikalismus war. Am Ostersonntag, den 1. April 1945, wandte sich nämlich auf gängiger Frequenz und leistungsstarkem Sen­ der eine "Bewegung der nationalsozialistischen Freiheitskämpfer" an die Bevölkerung, die sich angeblich in den besetzten Gebieten des Reiches gebildet hatte und sich "Werwolf" nannte. Die Proklamation ihres "Hauptquartiers" sprach von einem feierli­ chen Eid der Mitglieder dieser angeblich in den besetzten Reichsgebieten entstande­ nen Guerillabewegung, "sich niemals dem Feinde zu beugen". Jeder Bolschewist, jeder Brite und jeder Amerikaner auf deutschem Boden sei nunmehr "Freiwild". Der Feind solle wissen, daß ihm auch da, wo die Wehrmacht habe weichen müssen, ein Gegner erwachse, der ihm "umso gefährlicher wird, je weniger Rücksicht er zu nehmen braucht auf veraltete Vorstellungen einer sogenannten bürgerlichen Kampfführung". Die Aufstachelung zum unbeschränkten Partisanenkrieg gipfelte in dem blasphemi­ schen Ruf: "Haß ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei!"867 Weitere Aufrufe und Erklärungen folgten, ehe der Sender "Werwolf" am 24. April seinen Betrieb ein­ stellte und Aktivitäten dieser Organisation zwei Wochen später von Großadmiral Dö• nitz formell verboten wurden.868 Die Alliierten hätten das rohe Feldgeschrei des "Werwolfes" vielleicht nicht sonder­ lich ernst genommen, wäre nicht wenige Tage zuvor zum Entsetzen der Besatzungs­ macht der Aachener Oberbürgermeister Oppenhoff von einem deutschen Komman­ dounternehmen ermordet worden.869 Diese Tat, die die Welt aufhorchen ließ und die phantastischsten Spekulationen über nationalsozialistische Untergrundaktionen nährte, verbot es, die Proklamierung des Partisanenkrieges auf die leichte Schulter zu nehmen. Man wußte bei SHAEF, daß die SS seit Herbst 1944 Spezialeinheiten für den Kleinkrieg aufzog870, und hatte hinter den eigenen Linien immer wieder unbe­ kümmert feindselige Hitlerjungen oder verdächtige Gestalten mit Funkgeräten und Sabotagematerial aufgegriffen.871 Da den Alliierten mittlerweile völlig klar war, daß Hitler niemals seine Zustimmung zu einer Kapitulation geben würde, lag schon seit längerem die Vermutung nahe, daß (wie Eisenhower am Tag nach der Ermordung Op­ penhoffs in kleinem Kreis sagte) "nach der Niederlage noch lange Partisanentätigkeit in Deutschland herrschen werde"872. Die über alle Erwartung schnell bewerkstelligte Umfassung des Ruhrgebietes und der Vorstoß der amerikanischen Armeen ins Innere des Reiches hatten solche Befürchtungen freilich bereits ein wenig dämpfen können,

866 Westphal. Erinnerungen, S. 339. 867 Völkischer Beobachter, 3.4.1945. Arno Rose. Werwolf 1944-1945, Stuttgart 1980, S. 263f. 868 Der "Werwolf" ist behandelt bei: Hellmuth Auerbach, Die Organisation des "Werwolf", in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. I, München 1958, S. 353 ff. Rose. Werwolf 1944-1945. CharIes Whiting, Werewolf. The Story of the Nazi Resistance Movement 1944-1945, London 1972, handelt das Thema auf seine Weise ab. Vgl. auch den Faszikel ZS/A 48 im lfZ-Archiv, der verschiedene amerikanische Befra­ gungsberichte zum "Werwolf" enthält. 869 Vgl. III/2. 870 Siehe die zusammenfassenden Studien in den Situation Reports "Central Europe" des OSS, Research and Analysis Branch, v. 10.3. 1945 und v. 14.4. 1945. die auf seit dem Herbst 1944 eingelaufenen Informatio­ nen beruhten; lfZ-Archiv, Material Henke. 871 Vgl. II/2 und III/2. 872 Butcher, Drei Jahre mit Eisenhower, S. 783; Notiz unter dem 26.3. 1945. 944 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland als der "Werwolf" seine Existenz über den Äther kundtat und man im Lager der Alli­ ierten und Neutralen daranging, diese neuerliche Ausgeburt des nationalsozialisti­ schen Terrors in der Apokalypse des Regimes zu deuten. Für eine nüchtern gebliebene Zeitung wie die schweizerische "Weltwoche", die sich nach der Proklamation des "Werwolfs" nicht an den bald ins Kraut schießenden, mitunter schaurig illustrierten Feme- und Widergängerreportagen873 beteiligte, stand schnell fest, daß auch die offene Ankündigung des Partisanenkrieges nur als Teil jener Vernichtungsstrategie zu begreifen sei, mit der das NS-Regime im Sturz das eigene Volk mit ins Verderben reißen wollte. Hitler sei inzwischen zum "Mitkriegführenden der Alliierten"874 geworden, schrieb das Blatt. Und wirklich war der Vernichtungswille des Regimes gegen die "Kollaborateure" im besetzten Territorium nur die logische Ergänzung des lediglich einfacher zu praktizierenden Durchhalteterrors in den noch unbesetzten Gebieten. Die Propagierung einer "Werwolf"-Bewegung war auch des­ halb ein Akt von unüberbietbarer Verantwortungslosigkeit und hemmungslosem Zy­ nismus, weil damit den übermächtigen Besatzungsarmeen das (in sechs Jahren Krieg in bis dahin ungekannte Niederungen verfeinerte) Instrumentarium der "Bandenbe­ kämpfung" geradezu aufgenötigt wurde. Da nützte es wenig und täuschte niemanden, daß das offizielle Berlin vorspiegelte, "amtliche Stellen hätten mit diesen Abwehr- und Selbsthilfeverbänden nichts zu tun"875. Das Alliierte Oberkommando, das die Umgänglichkeit der Zivilbevölkerung in Deutschland zu schätzen wußte, kam niemals in die Versuchung oder auch nur auf den Gedanken, sich auf die radikalen "Werwolf"-Erklärungen hin die von deutschen Verbänden vornehmlich im Osten vorexerzierte Praxis der Bandenbekämpfung zum Vorbild zu nehmen. Daß die nationalsozialistische "Werwolf"-Kampagne allenfalls eine kleine Minderheit erreichen würde, stand für das Joint Intelligence Committee von SHAEF, das Mitte April eine umfassende Einschätzung zum Untergrundkrieg in Deutschland vorlegte, fest. 876 Da die Bevölkerung "verzweifelt kriegs müde" sei, so be­ fand das Committee, seien ein breit gefächerter Widerstand gegen die Besatzungs­ macht und subversive Aktionen großen Stils äußerst unwahrscheinlich. Der Feind habe bisher keinen einzigen nennenswerten Sabotageakt zustande gebracht, könne als Erfolg bislang vor allem die Ermordung Oppenhoffs verbuchen. Die am l. April ge­ startete Kampagne des Senders "Werwolf" stecke voller Übertreibungen und ziele darauf ab, "die Idee des Widerstands unter diesem Symbol zu glorifizieren" und den Alliierten zu demonstrieren, wie hoffnungslos das Bemühen sei, Deutschland zu un­ terjochen. Gleichwohl hielten Eisenhowers Intelligence-Experten die "Werwolf"-Be­ wegung von allen denkbaren Spielarten der Subversion und Sabotage für die gefähr• lichste: "Es besteht die Gefahr", schrieben sie, "daß sich die Alliierten, falls Himmlers Radiokampagne die Imagination der fanatischen Nazi-Jugend entzündet, einer zuneh­ menden Guerillabewegung gegenüber sehen." Um dem vorzubeugen, empfahl das JIC allerschärfste Maßnahmen gegenüber aufgegriffenen "Werwolf"-Mitgliedern und, im-

873 Vgl. etwa den Artikel "Werewolves" in Warweek, 21. 4. 1945. 874 Die Weltwoche, 6. 4. 1945. '" Neue Zürcher Zeitung, 3.4. 1945. 876 SHAEF,jIC, Studie "Security Problems Facing the Allies in Germany" v. 12.4.1945; NA, RG 260, AGTS 14-3. 4. "Kehraus" 945 plizit, die möglichst rasche Besetzung des Ruhrgebiets und Süddeutschlands, zweier Regionen, die sich noch am ehesten für den Partisanenkampf eigneten. Andere Analysen lauteten ganz ähnlich. OSS sah in der Verkündung des Guerilla­ krieges über Rundfunk vor allem eine "Propagandawaffe zur Einschüchterung poten­ tieller Kollaborateure und zur Erschwerung der Arbeit der Militärregierung"; die "Werwolf"-Propaganda solle die Bevölkerung auf subversive Aktionen vorbereiten und sie dazu bringen, diese dann auch zu unterstützen.877 Eine besonders informierte und differenzierte Analyse legte der Civil Affairs/Military Government-Stab von SHAEF wenige Tage vor Verstummen des "Senders Werwolf" vor.878 Offenbar seien nur für das linksrheinische Gebiet Guerillavorkehrungen getroffen, hieß es darin, au­ ßerdem wende sich die Propaganda, die eine ausgesprochen revolutionäre Sprache führe, explizit an eine entschlossene Minderheit; letztlich solle die alliierte Militärver• waltung zum Scheitern gebracht werden. Andererseits aber sei der Einsatz des Rund­ funks eher ein Zeichen von Schwäche: "Der massenhafte Einsatz von Rundfunkpro­ paganda kann vielleicht als Beweis dafür genommen werden, daß die Alliierten zu früh angegriffen haben, noch ehe die Pläne richtig ausgearbeitet waren. Es werden nämlich offensichtlich Versuche gemacht, über den Rundfunk Instruktionen zu erteilen, die doch wohl eigentlich mündlich hätten gegeben werden müssen ... Im Innern Deutsch­ lands, wohin die Alliierten unerwartet schnell durchbrachen, ist wahrscheinlich wenig getan worden." Tatsächlich war die Ende Februar 1945 gestartete Blitzoffensive der Amerikaner von Aachen zur Eibe und an den Inn ein wichtiger Grund dafür, daß die noch immer zahlreich vorhandenen Desperados in der SS, der Hitlerjugend oder im "Werwolf" gar nicht mehr in Versuchung kamen, sich ernstlich die Frage vorzulegen, ob sie in den Untergrund gehen und die Besatzungsmacht in einen Kleinkrieg verwik­ keln sollten oder nicht. Vorbereitungen dafür waren durchaus getroffen. Heinrich Himmler war es, der nach dem Einbruch feindlicher Truppen in das Reichsgebiet im Herbst 1944 etwa zur selben Zeit, als er die Aufstellung des "Volks­ 879 sturmes" in die Wege leitete , SS-Obergruppenführer und General der Polizei Hans Adolf Prützrnann den Auftrag erteilte, kleine geheime Spezialkommandos aufzu­ bauen, die in den besetzten Reichsteilen hinter den feindlichen Linien Sabotageakte verüben und die Bevölkerung von einer Kollaboration mit der Besatzungsmacht ab­ schrecken sollten. Die paramilitärischen Kampfgruppen, die sich aus SS-Leuten, Hit­ lerjungen, SA-Männern, Parteifunktionären, Wehrmachtssoldaten, aber auch ausländi• schen Freiwilligen zusammensetzten, sollten regional von den Höheren SS- und Poli­ zeiführern dirigiert werden. Ihr Training absolvierten die nationalsozialistischen Parti­ sanen meist in den Lagern der SS-Jagdverbände Otto Skorzenys; bei Ausrüstung, Bewaffnung und Verpflegung half die Wehrmacht mit. Prützmann, dessen Funktion 880 den Alliierten bald bekannt wurde, mag "eitel, faul und ein Prahler" gewesen sein , ein Fachmann war er. Seit dem Überfall auf die Sowjetunion hatte er - zuletzt als

877 OSS, Research and Analysis Branch, Situation Report Central Europe v. 14.4. 1945; lfZ-Archiv, Material Henke. 878 SHAEF, G-5 Weekly Journal of Information Nr. 9 v. 19.4. 1945; NA, RG 331, 131.11. SHAEF, G-5, Infor­ mation Branch, Entry 54. 879 SS-Obergruppenführer und General der Polizei Prützmann wurde am 19.9. 1944 zum "Generalinspekteur für Spezialabwehr" ernannt; vgl. Ruth Bettina Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertre­ ter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986, S. 342. 880 Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, S. 76. 946 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Höchster SS- und Polizeiführer in der Ukraine - die dort übliche grausame Partisa­ nenbekämpfung geleitet. Er trug nun die Amtsbezeichnung "Generalinspekteur für Spezialabwehr", war ein gesuchter Kriegsverbrecher und konnte sich ausrechnen, daß er das Ende des Dritten Reiches kaum sehr lange überleben würde; nach seiner Ver­ haftung und einer kurzen Vernehmung durch die Alliierten beging er, 43jährig, Selbstmord. Ebenso wie andere Verzweiflungsmaßnahmen des NS-Regimes in letzter Stunde unterlag auch der Aufbau der deutschen Guerillatrupps dem prinzipiellen Dilemma, daß alle Planung eine Niederlage des Reiches axiomatisch auszuschließen hatte, für den Einsatz nach der Kapitulation in einer Art Selbstblockade also keine Vorsorge ge­ troffen werden konnte. Allgemeiner Planungshorizont war und blieb bis in das Früh• jahr 1945 hinein die Annahme, der Feind würde im Linksrheinischen wohl Einbrüche erzielen, die Rhein-Barriere selbst aber nicht überwinden können. Im Rahmen der noch verbliebenen Möglichkeiten scheint die unter strengster Geheimhaltung betrie­ bene Aufstellung des "Werwolfs" keine schlechten Fortschritte gemacht zu haben. Ende 1944 sollen in Berlin immerhin an die 5000 Freiwillige registriert gewesen sein.88l Damit war der Bedarf freilich noch nicht gedeckt, weshalb Bormann, aber auch die Wehrmacht im Februar Anweisungen zur Abstellung von Guerillakämpfern hinausgehen ließen. Einer dieser Befehle, von Ende Februar 1945, fiel den Alliierten in die Hände882 und gab wohl den Anstoß zu den Bemühungen, sich vor allem durch Befragungen ein ungefähres Bild von der deutschen Partisanenorganisation zu ver­ schaffen. Im April, als der Sender "Werwolf" dann an die Öffentlichkeit ging, lag die­ ses Bild in groben Umrissen und ausreichender Schärfe vor. Ohne im Herbst 1944 bereits etwas vom Aufbau einer Guerillatruppe geahnt zu ha­ ben, verwarfen die Alliierten schon nach wenigen Wochen Erfahrung mit der Militär• verwaltung in Deutschland ihre zuvor gehegten Befürchtungen, womöglich drohe ih­ nen in "Transsylvanien"883 eine aufreibende Auseinandersetzung mit einer im Volk verankerten anti-alliierten Untergrundbewegung. Nichts davon war nach der Über• schreitung der Reichsgrenze zu bemerken gewesen, und bald machte sich bei den Amerikanern die Erkenntnis breit, man sei wohl vor dem Zerrbild erschrocken, das die eigene Propaganda von dem monolithischen, in der Einheit von Volk und Füh• rung gehärteten Hitler-Regime geschaffen hatte. Als nach einiger Zeit die ersten Agenten und Saboteure aufgegriffen wurden88 \ bestätigten sich die anfänglichen Er­ fahrungen der Besatzungsverwaltung in Deutschland, und es erwies sich zweifelsfrei, daß die deutschen Guerilleros keineswegs wie die Fische im Wasser schwimmen konnten, das Hauptmerkmal des "Werwolfs" vielmehr die komplette Isolierung in sei­ nem heimatlichen Operationsgebiet hinter den Linien der Besatzungstruppen war.

881 Diese Zahl nennt Rose, Werwolf, S. 107. Zum folgenden eben da, S. 230ff. Das XX Corps sprach nach ei­ ner Gefangenenbefragung Mitte April 1945 von einer Stärke des "Werwolfs" von etwa 10.000 Mann. Vgl. den im G-2 Periodic Report der 90th Infantry Division wiedergegebenen Bericht v. 14.4. 1945; NA, RG 407, Box 13298. 882 Es handelt sich um den in alliierten Studien mehrfach erwähnten Befehl des UII. Armeekorps an drei ihm unterstellte Volksgrenadierdivisionen v. 22.2. 1945; BA/MA, LII!. A.K.176117. Darin hieß es: "Zum be­ schleunigten Aufbau der Werwolf-Organisation veranlassen die Div. die Auswahl von besonders bewähr• ten, tapferen, als Führer von W-Truppen geeigneten Soldaten aller Dienstgrade, die in feindbesetzten Ge­ bieten beheimatet sind. Es kommen Soldaten der besetzten Ost- und Westgaue in Frage." 883 Hierzu 11/2. 884 Vgl. 1II/2. 4. "Kehraus" 947

Am 23./24. März wurde im Raum Montabaur von Soldaten der First U.S. Army eine 16köpfige Sabotagegruppe der SS aufgegriffen, die den Auftrag gehabt hatte, im besetzten Gebiet nachts eine kleine feindliche Panzereinheit zu überfallen. Dieser Überfall sollte nur das Vorspiel zu einer viel umfassenderen Aktion sein, die die Infil­ tration der mit amerikanischen Uniformen ausgestatteten Gruppe in das rückwärtige Gebiet der 1. Armee vorsah. Der Führer des Trupps gab im Verhör nicht nur bereit­ willig Auskunft über Training, Aufbau und Einsatzdoktrin deutscher Sabotageeinhei­ ten und damit auch des "Werwolfs", seine Aussagen bestätigten den Amerikanern ein weiteres Mal, daß sie es gewiß nicht mit einem "Volkskrieg" (Völkischer Beobach­ 885 ter ) zu tun bekommen würden. Die Gruppe, zu der auch eine Anzahl französischer Freiwilliger gehörte, habe einige Monate Ausbildung hinter sich, erzählte der deutsche Leutnant seinen Befragern. Die Idee sei es gewesen, die Amerikaner mit einem Parti­ sanenkrieg zu konfrontieren, wie die Wehrmacht ihn in Rußland erlebt habe, wobei allerdings nicht geplant gewesen sei, den Kleinkrieg auch nach dem deutschen Zu­ sammenbruch fortzuführen; dies habe man sich bis vor kurzem überhaupt nicht vor­ stellen können. Eine Fortführung des Untergrundkampfes nach der Kapitulation hielt der Leutnant für unmöglich. Lege die Wehrmacht die Waffen nieder, erkenne natür• lich auch die Bevölkerung die Sinnlosigkeit weiterer Guerillaaktivitäten und werde ih­ rem Unmut über Unternehmungen, die nur Repressalien der Besatzungsmacht her­ ausfordern müßten, gewiß deutlich Luft machen: "Die Leute werden sich in diesem Falle gegen die Partisanen wenden, und ,gegen die Bevölkerung ist kein Partisanen­ krieg möglich"', gibt der Vernehmungsbericht die Einsicht des Truppführers wieder. Auf die Frage, weshalb seine Partisanengruppe nur so eine kümmerliche Bilanz vorzu­ weisen habe, entgegnete der Leutnant, der rasche amerikanische Vormarsch habe alle Pläne zunichte gemacht886 Die Befragung kriegsgefangener Wehrmachtssoldaten etwa zur selben Zeit ergab noch viel radikalere Absagen an das gefährliche Experiment eines Kleinkrieges gegen die Besatzungsarmee. Es waren zwar nicht mehr als 18 deutsche Soldaten, die von Psychological Warfare hierzu interviewt wurden, außerdem war, wie auch PWD an­ merkte, ein Kriegsgefangenenlager natürlich nicht der Ort, um sich zu hazardösen Widerstandsprojekten zu bekennen, dennoch unterscheiden sich die geäußerten An­ sichten kaum von anderen Stellungnahmen zu "diesem letzten Versuch der Nazis, sich selbst zu retten". Der "Werwolf", sagten die Soldaten, werde "das Elend des deut­ schen Volkes nur vergrößern", und machten abfällige Bemerkungen wie: "Das ist rei­ ner Blödsinn", "Was soll denn der ,Werwolf' ausrichten, wo die Wehrmacht in Stücke gehauen ist" oder "Wahrscheinlich hat Himmler diese Proklamation gemacht. Wenn er das selbst gewesen ist, würden ihn die Leute in den besetzten Gebieten in Stücke reißen". Eine bald danach durchgeführte Befragung unter 500 erst im März in Gefan­ genschaft geratenen Soldaten bestätigte diese allgemein ablehnende Haltung. Die meisten glaubten nicht daran, daß die Nationalsozialisten eine illegale Untergrundbe­ wegung in einem vollständig besetzten Deutschland aufziehen könnten. Auf die Frage, ob der durchschnittliche Landser eine solche Guerilla unterstützen würde, ant-

885 Völkischer Beobachter, 3.4. 1945. 886 Investigation Report der First United States Army, G-2, Interrogation Center, v. 6.4. 1945; NA, RG 331, First U.S. Army, G-2, CBI/CI Information, Germany, Folio 2. 948 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland worteten ganze vier Prozent mit Ja. 887 In einem Bericht über die Vernehmung Prütz• manns kurz vor dessen Selbstmord findet sich die Feststellung: "Die Zivilbevölkerung ist den Angehörigen des Werwolf im allgemeinen nicht behilflich. Mehrere gefangen­ genommene Angehörige sagten aus, daß es ihnen ebenso viel Mühe bereitete, deut­ schen Zivilisten zu entgehen wie den amerikanischen Truppen."888 Der spätestens seit März bestehenden Gewißheit, keinem Volkskrieg im besetzten Deutschland entgegenzugehen, entsprach die Besorgnis der Alliierten, die "Werwolf"­ Propaganda könne die Phantasie der großen Masse der Jugendlichen - die noch im­ mer und am meisten in die vermeintlich idealen Sphären der deutschen Sendung ver­ strickten Hitler-Anhänger - beflügeln und sie dazu treiben, gerade in hoffnungsloser Lage ihr Leben für die "Idee" einzusetzen. Seit den ersten Tagen der Besetzung hatten die Detachments und das CIC immer wieder Belege dafür gefunden, daß in der Gruppe der etwa 12- bis 18jährigen Jungen und Mädchen das größte "trouble­ maker"-Potential schlummerte.889 Das Joint Intelligence Committee des Oberkom­ mandos hatte in seiner "Werwolf"-Studie von Mitte April erneut sehr deutlich auf diese Gefahr verwiesen.89o Auch jetzt griffen die Amerikaner laufend Jugendliche auf, die den Besatzungssoldaten trotzig und in erschreckender Radikalität ihr ungebroche­ nes Weltbild präsentierten. Ein zwölfeinhalbjähriger Jungenschaftsführer etwa erklärte bei seiner Vernehmung durch den CIe bündig, er hasse alle Amerikaner: "Wenn ich eine Pistole hätte, würde ich euch alle umbringen. Ich werde meinen Führer niemals im Stich lassen, solange ich atmen kann." Sobald er freikomme, werde er weiterkämp• fen; Dutzende seiner Kameraden dächten genauso wie er. Das sei alles, was er zu sa­ gen habe, und jetzt könnten sie mit ihm machen, was sie wollten.891 Die amerikani­ sche 9. Panzerdivision faßte ihre Erfahrung im April in dem Satz zusammen: "Der Fanatismus der Hitlerjugend ist eines der Hindernisse bei den Kehraus-Operationen in Deutschland."892 Entsprechend scharf fielen denn auch die Warnungen aus. Das amerikanische Oberkommando etwa gab in bebilderten Plakatanschlägen bekannt, am 23. April 1945 sei Erich B. nach Verurteilung durch ein Militärgericht wegen Sabotage und versuchten Mordes an einem amerikanischen Soldaten hingerichtet worden. Sa­ boteure wie dieser müßten wissen, daß nicht nur die Besatzungsmacht, sondern auch die deutsche Bevölkerung ein scharfes Auge auf solche verbrecherischen Aktivitäten habe.893 Für wie stark man die Bereitschaft zu einem veritablen Untergrundkrieg bei den deutschen Jungen und Mädchen halten mag, die Entfaltung einigermaßen gezielter

887 ,,Attitudes Towards Werewolf", Erhebung der Psychological Warfare Division, in: SHAEF, PWD, Weekly lntelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 29 v. 16. 11. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Deci­ mal File 1944-45, Entry 87. 888 Navy Department, Office of the Chief of Naval Operations, Intelligence Report "Germany - Subversive Activities" v. 25.6. 1945; NA, RG 226, XL 12109. 889 Vgl. 11/2. 890 SHAEF,]IC, Studie "Security Problems Facing the Allies in Germany" v. 12.4.1945; NA, RG 260, AGTS 14-3. 891 103rd CIC Detachment, Monthly CIC Report v. 20.4. 1945, in: CIC-History, Kap. XX, S 138f.; U.S. Army Intelligence and Security Command, Fort George G. Meade, Maryland. Das Propagandamaterial des "Werwolf" wandte sich häufig explizit an die Hitlerjugend. Ein solches Flugblatt ist beispielsweise im In­ formation Bulletin Nr. 60 der Seventh Army v. 2.5. 1945 wiedergegeben; NA, RG 407, Box 2631. 892 Zitiert in dem Periodic Report der 90th Infantry Division v. 22.4. 1945; NA, RG 407, Box 13298. 89' Bekanntmachung des amerikanischen Oberkommandos v. 24.4. 1945, in: Seventh U.S. Army, Monthly Counter Intelligence Report Nr. 14 v. 25.4. 1945; NA, RG 407, Box 2633. 4. "Kehraus" 949

und auch nur notdürftig koordinierter Aktionen von noch so opferwilligen Jugendli­ chen - die "Opferwilligkeit" verflog bei ihnen freilich bei der ersten Berührung mit der ernüchternden Realität des Krieges glücklicherweise besonders rasch - hing ent­ scheidend davon ab, ob die jungen "Werwölfe" von erfahrenen Soldaten angeleitet wurden und ob, neben vielen anderen Vorbedingungen, eine eingespielte Führungs• und Versorgungsorganisation aufgebaut werden konnte. Das aber gelang schon wäh• rend der weitgehend statischen Phase der Besetzung im Herbst 1944 und im darauf­ folgenden Winter nicht mehr, geschweige denn im Frühjahr 1945, als die Alliierten in zehn Wochen ganz Deutschland überrannten. Rechts des Rheins waren die Ansätze zur Bildung des "Werwolfs" denn auch besonders kümmerlich. In Franken erhielt Obergruppenführer Martin, der Höhere SS- und Polizeiführer, erst im Februar 1945 den Befehl Prützmanns zum Aufbau des "Werwolfs". Da er da­ von überzeugt war, es werde den amerikanischen Truppen nicht gelingen, bis in den Wehrkreis XIII vorzudringen, unternahm er nichts. Erst nach der Rhein-Überschrei• tung der Alliierten betraute er einen seiner Brigadeführer mit dieser Aufgabe. Einige Tage später mußte er ihn jedoch wieder zurückpfeifen, da ein vom "Generalinspekteur für Spezialabwehr" in Berlin entsandter SS-Standartenführer eintraf, der Prützmann direkt unterstand. Mit einem guten Dutzend SS-Leuten der Region, mehreren SD­ Angehörigen, einem Bannführer der HJ und zwei Frauen, die ihre nationalsozialisti­ sche Zuverlässigkeit vielfach unter Beweis gestellt hatten, machte er sich an die Ar­ beit. Er kam aber nicht weit, da die Amerikaner am 6. April Würzburg, zwei Wochen später Nürnberg besetzten.894 In München ging die Order Himmlers überhaupt erst Anfang April ein. SS-Obergruppenführer Freiherr von Eberstein betraute einen seiner Kriminalräte, der als Mitglied der Feldpolizei einschlägige Erfahrungen im Partisanen­ kampf gesammelt hatte, mit der Organisation der Guerillatruppe, jedoch nicht ohne diesem zu sagen, er halte das alles für nutzlos, weil es viel zu spät komme. Da Himm­ ler aber nun einmal den Befehl gegeben habe, bleibe wohl keine andere Wahl. Am 17. April trafen die ersten Unterlagen, Vorschriften, Einzeldirektiven und Propagandama­ terialien zur "Werwolf"-Organisation aus Berlin an der Isar ein. Vierzehn Tage später fiel die bayerische Landeshauptstadt an die U.S. Army.895 Insgesamt standen Ziel und Ergebnis der "Werwolf"-Aktivitäten in einem nachgerade jämmerlichen Mißverhältnis zueinander. Der spektakulärste Terrorakt des "Werwolfs" war und blieb die von Himmler persönlich angeordnete Ermordung des Oberbürgermeisters von Aachen am 25. März 1945. Im Zuge des Endphaseterrors des NS-Regimes gegen die eigene Bevölkerung896, gegen Häftlinge und Fremdarbeiter geschahen eine Fülle von Morden und Verbre­ chen im Namen des "Werwolfs", doch die wenigsten von ihnen sind auch tatsächlich von der Organisation Prützmanns verübt worden: "Werwolf" wurde im April 1945 vielmehr zu einer wohlfeilen allgemeinen, gern benützten Metapher des nationalsozia­ listischen Endphaseterrors schlechthin. Im Sinne der radikalen Aufrufe des Senders

894 "Organization of Werewolf in Wehrkreis XlII", Darstellung auf der Basis von Gefangenenbefragungen, in: Twelfth Arrny Group, Weekly Intelligenee Summary Nr. 42 v. 29.5. 1945; NA, RG 331, Hqs Twelfth Arrny Group, G-2, Intelligenee Braneh 1944-45, Entry 176. 895 "Werewolf in ", auf der Befragung eines mit dem Aufbau der Untergrundorganisation beauftragten Kriminalrats beruhende Studie des XX Corps, in: Anhang 1 zum Weekly Intelligenee Summary Nr. 2 der 80th Infantry Division v. 5.6. 1945; NA, RG 407, Box 12004. 896 Vgl. VII/2. 950 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

"Werwolf" bedienten sich jetzt einfach viele, die aus eigenem Antrieb oder auf höhe• ren Befehl mordeten und Einschüchterung betrieben, dieser geheimnisumwitterten Formel, sehr viele ohne zu wissen, was es mit der Prützmannschen Organisation auf sich hatte. Einigen wenigen wurden die seit dem 1. April gesendeten Aufrufe viel­ leicht wirklich zum Antrieb ihres - allerdings fast ausschließlich gegen die eigenen Landsleute gerichteten - Tuns, so wie es das Joint Intelligence Committee von SHAEF befürchtet hatte. Die meisten Mörder aber nahmen die bedeutungsvolle Me­ tapher "Werwolf" als Generalrechtfertigung ihres schrankenlosen Terrorismus'. Und wenn etwa, wie bei der Leiche des Anfang April erschossenen Bürgermeisters von Kirchlengern (Landkreis Herford) ein Zettel mit der Aufschrift "Verräter! Die Wer­ 897 wölfe" gefunden wurde , dann bedeutete das ebensowenig wie etwa bei den Morden Ende April in Bayern, daß die Tat auf das Konto der kläglich wirkungslosen national­ sozialistischen Partisanentruppe zu buchen war. Es wird nie mehr zu entwirren sein, bei welchen Taten es sich um "geplante Aktionen Prützmanns" und bei welchen es sich um davon gänzlich unabhängige, von der Hetze des Senders "Werwolf" aber viel­ leicht zusätzlich angestachelte Unternehmungen handelte.898 Jene häufig zu beobachtenden harmloseren Aktivitäten wie das Beschmieren von Mauern und Wänden mit der sogenannten "Wolfsangel", dem Symbol der "Spezialab­ wehr" der SS - im württembergischen Bopfingen etwa legten Angehörige des BDM 899 zu Ostern aus Steinen an einem Abhang eine riesige Wolfsangel -, gingen wohl nur in ganz seltenen Fällen auf die Untergrundeinheiten zurück. Manche Hitlerjungen mögen sie als Mutprobe angesehen haben, mit der zugleich die ungeliebten Besat­ zungssoldaten auf einfache Weise ins Bockshorn zu jagen waren. Die NS-Propaganda gab sich redliche Mühe, "Werwolf"-Aktionen aufzubauschen, Pressemeldungen über den Widerstand insbesondere der deutschen Jugend waren je­ doch meist frei erfunden.90o So schrieb der "Völkische Beobachter" am 9. April bei­ 01 spielsweise den Tod eines amerikanischen Panzerhelden den "Werwölfen" ZU9 , eine Behauptung, die nicht einmal die 3rd Armored Division aufstellen wollte, deren Kommandeur jener Generalmajor Maurice Rose bis zu seinem Tod in der Nähe von gewesen war. 902 Besonders kläglich waren die Resultate, die die "Bewegung der nationalsozialisti­ schen Freiheitskämpfer" in den auf die Kapitulation folgenden Wochen erzielen konnte, obgleich sie von ihrem Sender noch kurz vor dessen Verstummen aufgefor­ dert wurde, den Kampf fortzusetzen. Darüber gab es nie einen Dissens zwischen der deutschen und der amerikanischen Seite. Otto Skorzeny, dessen Männer die meisten "Werwölfe" geschult hatten, meinte nach dem Krieg, die Aktionen der Partisanen­ trupps hätten "kein nennenswertes Ergebnis" gezeitigt.903 Der Intelligence-Stab der Twelfth Army Group bescheinigte den deutschen Guerilleros, sie hätten "praktisch

897 Vgl. die Untersuchungsakten zum Mordfall Wilhelm P. im Gemeindearchiv Kirchlengern, die mir freund- licherweise Herr Rolf Botzet zur Verfügung stellte. Zu ähnlichen Mordaktionen Rose, Werwolf, S. 232 ff. 898 So zutreffend schon Auerbach, Organisation .. Werwolf", in: Gutachten des HZ, I, S. 355; Zitat ebenda. 899 Bopfingen im Zweiten Weltkrieg", Gemeindebericht aus dem Jahr 1948; HStA Stuttfgart,J 170, Büschel!. 900 Vgl. die Schilderung des Falles der Maria Bierganz, [[/2. 901 Völkischer Beobachter, 9.4. 1945. 902 Vgl. Spearhead in the West, 1941-45. Third Arrnored Division, Frankfurt 1945, S. 1441. 903 Otto Skorzeny, Meine Kommandounternehmen. Krieg ohne Fronten, Wiesbaden 1976, S. 195. 4. "Kehraus" 951 nichts" erreicht.904 Die 7th Army stellte im Mai fest, ständig liefen irgendwelche Hin­ weise auf angebliche "Werwolf"-Banden ein, welche sich dann normalerweise als kleine Gruppen versprengter Landser entpuppten; größere Banden seien nirgends zu entdecken.905 Die 3. US-Armee in Bayern schrieb in ihrem Historical Report für Mai und Juni 1945, die größte Bedrohung habe man nach der Kapitulation von seiten der geheimnisumwitterten "Werwölfe" erwartet: "Die Gefahr erwies sich im wesentlichen als Halluzination - als eine Halluzination der Deutschen sowohl wie ihrer Feinde."906 Als einziger nennenswerter Sabotageakt in ihrem Besetzungsgebiet galt die Sprengung eines Munitionszuges durch zwei Hitlerjungen im Alter von 10 und 14 Jahren. Große Aufregung verursachten auch zwei gewaltige Sprengstoffexplosionen im Bremer Poli­ zeihaus am 4. Juni, die von den Alliierten zunächst deutschen Saboteuren zugeschrie­ ben wurden, sich dann aber als Katastrophe entpuppten, bei der kein Vorsatz im Spiel war.907 Brachiale Einschüchterungsversuche gegen deutsche "Kollaborateure" gab es ebenfalls nicht mehr, und nur noch ein paar unentwegte, zumeist sehr junge Buben und Mädchen ließen das "wire cutting", das Zerschneiden der Fernmeldeleitungen der Army, noch immer nicht sein. Wie schon während der Besetzung, wurden in den Ber­ gen und Wäldern auch jetzt wiederholt noch Verstecke gefunden, in denen "Wer­ wölfe" und Versprengte den Kampf gegen die amerikanischen Eindringlinge hatten fortsetzen wollen. Des öfteren stießen CIC und Military Government auf Waffenlager oder lösten kleine Cliquen Jugendlicher auf, in denen das Gift der "Werwolf"-Hetze nachwirkte. Im Juni 1945 erhielt der CIC zum Beispiel Hinweise aus der Bevölkerung auf ein Waffenversteck in einem Wald bei Dinkelsbühl, das eine 7köpfige Gruppe meist 17jähriger Jungen unter Führung eines älteren Sturmbannführers kurz vor Kriegsende dort angelegt hatte. Der ",Werwolf'-Trupp" war inzwischen auseinandergefallen, weil sich sein Anführer ("ein Auge fehlt, trägt Glasauge, Narbe an oberer Wange nahe dem fehlenden Auge") seit Ende April nicht mehr blicken ließ. Die Amerikaner sprengten den Unterschlupf in die Luft, in dem neben Motorrädern und Fahrrädern, Pistolen, Gewehren, Handgranaten und großen Mengen Munition auch Panzerfäuste, Maschi­ nengewehre und sogar Granatwerfer lagerten. 90B Mitte Juli nahm das CIC der 80th In­ fantry Division in Füssen einen Major fest, der im Auftrag des Gauleiters Kar! Wahl den "Werwolf" in Schwaben zu organisieren gehabt hatte. Dazu schaffte er noch im April 30 Gewehre, 4 Maschinengewehre, 500 Handgranaten, 500 Schuß Munition, Wehrmachtzelte, Konserven sowie 7000 Liter Benzin auf die Seite und versteckte al­ les für spätere Sabotageaktionen, gab dann diese gefährlichen Besitztümer aber bald an die örtliche Feuerwehr, die ihrerseits nichts Eiligeres und Vernünftigeres zu tun hatte, als die Arnerikaner ins Bild zu setzen.909 Auch in Schwäbisch Gmünd war es ein Tip

904 Twelfth Army Group, G-2, Weekly Intelligence Summary Nr. 45 v. 19.6. 1945; NA, RG 331, Twelfth Army Group, G-2, Intelligence Braneh 1944-45, Entry 176. 90' Seventh Army, G·5, "Military Govemment Activities 29 April - 5 May 1945", Bericht v. 8. 5. 1945; NA, RG 407, Box 2673. 906 Third Army, G-5, Historieal Report for May and June 1945; NA, RG 331, SHAEF, G·5, Information Branch, Entry 54. 907 Twelfth Army Group, G·2, Weekly Intelligence Summary Nr. 44 v. 12.6. 1945; NA, RG 331, Twelfth Army Group, G-2, Intelligence Branch 1944-45, Entry 176. 908 Vgl. die Untersuchungsberichte des CIC·Detachments Dinkelsbühl v. 13.6. und 14.6.1945; NA, RG 260, 13/153-2/4. 909 80th Infantry Division, G·2 Weekly Intelligence Summary Nr. 8 v. 17.7.1945; NA, RG 407, Box 12004. 952 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland von deutscher Seite, der im Sommer 1945 dazu führte, daß das Counter Intelligence Corps eine Gruppe ausheben konnte, die meinte, den "Werwolf"-Gedanken weiter hoch halten zu müssen: "Eine erfolgreiche Razzia am 4. Juli führte zur Festnahme der ganzen Gruppe von acht Jugendlichen, Alter zwischen 14 und 17 Jahren, von denen vier verwundet sind", meldete das CIC, das auch sonst noch allerlei zutage förderte: ,,49 unterschiedliche deutsche Gewehre, ein leichtes MG, zwei Maschinenpistolen und rund 10.000 Schuß Munition ... Es gab keinen Hinweis auf das Bestehen einer größeren Untergrundorganisation oder auf Leitung von außen. Vorhergegangene Zu­ sammenkünfte hatten nicht zu spezifischen Planungen geführt, nur zu der Absicht, Waffen zu sammeln und weitere Mitglieder anzuwerben. In der Zeit vor der Razzia waren keine Sabotageakte verübt worden."910 Das übliche Bild. Wo immer die Army den Überresten des pompösen Versuchs, den nationalsozialistischen "Volkskrieg" gegen die feindlichen Eindringlinge zu orga­ nisieren, auf der Spur war, konnte sie damit rechnen, daß ihr die Bevölkerung den Weg zu diesem Waffenversteck oder jenem konspirativen Zirkel versprengter, orien­ tierungsloser, deprimierter und so gut wie immer inaktiver "Werwölfe" wies. Trotzdem dauerte es nach der Kapitulation noch Monate, ehe sich bei den Soldaten der Besatzungsarmee Guerillafurcht, "Werwolf"-Hysterie und entsprechend nervöse Überreaktionen ganz gelegt hatten, die mitunter erstaunliche Blüten treiben konnten. Ein köstliches Beispiel dafür, wie schlecht mancher Angehörige der Militärverwaltung dieses Klima vertragen haben muß, bietet das General Intelligence Bulletin von ECAD, der administrativen Mutterorganisation der Military Government Detach­ ments.911 Noch im Juni 1945 fand sie nichts dabei, sich mit einem sehr merkwürdigen Hinweis zur Identifizierung von "Werwölfen" an die Mitglieder der Militärregierung zu wenden. Auf Paßbildern für Kennkarten, so erläuterte das Bulletin zunächst, müsse in Deutschland das linke Ohr sichtbar sein, und verriet sodann: "Viele Angehörige des Werwolf tragen Kennkarten, für die sie sich inkorrekt vor die Kamera gesetzt hatten, und als Folge ist das rechte Ohr zu sehen. Das rechte Ohr ist das Werwolf-Ohr."912 So war der emphatischen "Werwolf"-Propaganda im April 1945 doch noch ein beschei­ dener Erfolg gegönnt. Unendlich weit davon entfernt, seine eigentlichen Ziele zu er­ reichen, war es Joseph Goebbels immerhin geglückt, eine noch nach seinem Selbst­ mord weiterwirkende Irritation bei den Soldaten des ihm so verhaßten jüdisch-pluto• kratischen Amerika auszulösen. Joseph Goebbels und nicht Heinrich Himmler, wie jedermann glaubte, war es näm• lich gewesen, der der Welt am 1. April die schauerliche Fratze des deutschen "Wer­ wolfs" präsentiert hatte - jener Figur des Widergängers, Mensch und Wolf zugleich, die die Phantasie nationaler Kreise schon in den zwanziger Jahren viel beschäftigte. (In einem Roman von Hermann Löns hatten sich die wüsten Selbstschutzhorden der Heidebauern im Dreißigjährigen Krieg "Werwölfe" genannt.) Die verbreitete Ansicht, der Reichsführer-SS und Innenminister habe das Geheimnis seiner Guerillaorganisa­ tion selbst gelüftet, beruhte neben der Tatsache, daß den Alliierten bekannt war, die

910 Seventh Army, Weekly G-2 Report Nr. 291 v. 11. 7. 1945; NA, RG 338, Files 1944-46, Box 18. Zur An­ lage von Waffenverstecken vgl. auch Rose, Werwolf, S. 153f. 911 Zu ECAD vgl. JlI/1. 912 ECAD, General Bulletin Nr. 47 v. 11. 6.1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Braneh, Entry 54. Hervorhebung im Original. 4. "Kehraus" 953

SS baue eine "Werwolf"-Truppe, vor allem darauf, daß Himmler am 18. Oktober 1944, als er die Aufstellung des "Volkssturmes" bekanntgab und die Tradition der Freiheits­ kriege beschwor, in einer Rundfunkrede gesagt hatte: "Wie die Werwölfe werden to­ desmutige Freiwillige dem Feinde schaden und seine Lebensfäden abschneiden."913 Das blieb bis Ende März 1945 die einzige öffentliche Erwähnung des "Werwolfes". Nach dem Willen Himmlers sollte die deutsche Widerstandsbewegung eine geheime Kaderorganisation bleiben und gerade nicht den Versuch machen, einen allgemeinen "Volkskrieg" auszulösen, sollte sie gegen die feindlichen Truppen und "Kollabora­ teure" vorgehen, sich aber nicht auch noch gegen jeden wenden, der sich dem Ver­ dacht aussetzte, zum "inneren Feind" zu gehören oder ein Defätist zu sein. Goebbels, der im Untergang des Reiches noch einmal einen großen Aufstieg er­ lebte, dachte ganz anders. Wie Hitler versprach er sich im Frühjahr 1945 eine Diszi­ plinierung von Volk, Partei und Armee, eine Überwindung der allgemeinen Kriegs­ müdigkeit und des grassierenden "Defätismus" nur noch von einem Einsatz "gewalttä• tigster Mittel"914. Auch in der Kriegführung war es seiner Auffassung nach hoch an der Zeit, sich von allen völkerrechtlichen Fesseln zu befreien. Anders als Himmler hatte er längst alle Brücken hinter sich abgebrochen und war damit frei, der Inszenie­ rung eines gewaltigen Infernos auf deutschem Boden das Wort zu reden, eines Infer­ nos, in dem Volk und Staat entweder untergehen oder die Feindkoalition doch noch abschrecken oder gar niederringen würden. Das waren im März 1945 zwar Halluzina­ tionen eines kleinbürgerlichen Literaten in Revolutionärspose, doch wenn das Axiom allen Tuns, wie es bei Hitler und Goebbels tatsächlich der Fall war, "Sieg oder Unter­ gang" lautete, dann war die Zeit einer kleinen, im geheimen operierenden, hier und dort einen Nadelstich setzenden Guerillatruppe Anfang April wirklich abgelaufen. Nach der Rhein-Überschreitung der Alliierten schwante selbst dem Propagandami­ nister, daß der Krieg in ein "außerordentlich kritisches, fast tödlich erscheinendes Sta­ dium"915 eingetreten war. Für das, was der "Werwolf" bisher zuwege gebracht hatte, konnte er sich nicht erwärmen, denn es entsprach überhaupt nicht seiner Vorstellung von der nun unabdingbaren "revolutionären Kriegsführung". Dieses neue Stadium ge­ dachte er mit seiner "Werwolf"-Kampagne einzuläuten: "Es muß revolutionär gedacht und vor allem revolutionär gehandelt werden", notierte er in seinem Tagebuch. "Es ist die Stunde gekommen, um die letzten bürgerlichen Eierschalen abzustoßen." Bald be­ schloß er, sich die träge Guerillaorganisation "anzueignen", und am 30. März gab Hit­ ler, der die Auffassung seines Propagandaministers teilte, sehr zum Entsetzen der Ver­ antwortlichen in der SS seine Zustimmung zu der am 1. April einsetzenden Goebbels­ schen Propagandakampagne. Der "Führer" und Reichskanzler war von der alle Rück• sichten über Bord werfenden Hetze des Senders "Werwolf", die der Minister bis in alle Einzelheiten persönlich gestaltet hatte, begeistert. Sie traf genau den Ton, der sei­ ner Wendung gegen das eigene Volk den adäquaten Ausdruck verlieh. Auch wenn die Strategie, "mit diesen Sendungen die Aktivisten zu einer festen Ge­ meinschaft im ganzen Reich zusammenzuschließen", mittels des "Werwolfs" jetzt "eine eherne Spitze am bleiernen Keil des Volkes zu bilden", innerhalb des Denkhori-

913 Völkischer Beobachter, 19. 10. 1944. 914 Tagebucheintragung v. 12.3.1945, in: Goebbels, Tagebücher 1945, S. 167. 91> Tagebucheintragung v. 25. 3.1945; ebenda, S. 310. Die folgenden Zitate ebenda, S. 357 (28. 3. 1945), S. 363 (28.3. 1945), S. 369 (29.3. 1945), S. 413 (2.4. 1945). 954 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

zonts und Handlungsrahmens des Regimes gewiß naheliegender war als die Himm­ lers, so hatte diese Strategie in den Realitäten inzwischen natürlich längst keine Stütze mehr. Das haben Goebbels und Hitler gewiß auch geahnt, aber während die Amerika­ ner an den Main und die Eibe stürmten, bedeuteten ihnen solche Ahnungen oder Einsichten täglich weniger. Die Aufzeichnungen des Propagandaministers zeigen, daß die Anrichtung eines Infernos in Deutschland, zu dem solche barbarischen Töne, wie sie der Sender "Werwolf" jetzt den alliierten Armeen entgegenschleuderte, einiges beitragen konnten, Hitler und Goebbels wie eine Selbstbefreiung von vielen Fesseln erschien, die sie sich nach ihrer Überzeugung in den zwölf Jahren an der Spitze des Regimes hatten auferlegen müssen. Bevor sie abtraten, wollten sie in uneingestande­ ner Sentimentalität oder Larmoyanz noch einmal die erfrischende Ungebundenheit, den Radau und die hemmungslose Selbstbestimmung der "Kampfzeit" zurückholen, mit "revolutionären" - wie sie es nannten - Methoden die schlappe und defätistische bürgerliche Welt, die sich längst wieder von ihnen abgewandt hatte, gewissermaßen mit der herbeigezwungenen Hilfe der Besatzungsmächte (die vielleicht ebenfalls alle Fesseln des Völkerrechts und der Humanität abzulegen gezwungen sein würden) doch noch in den Abgrund stoßen. Eher als der Goebbelssche Unmut über eine ineffektive Untergrundorganisation war dies wohl der letzte Existenzgrund des Senders "Wer­ wolf".

Windstille beim Deutschen Volkssturm im Westen Im völligen Versagen als Instrument der Kriegführung stand der etwa zur gleichen Zeit aus der Taufe gehobene Deutsche Volkssturm916 dem "Werwolf" in nichts nach. Der Military-Government-Stab des Alliierten Oberkommandos verwies nach Einset­ zen der "Werwolf"-Propaganda Anfang April ausdrücklich auf die bisher gemachten Erfahrungen mit den deutschen Milizen, als er prophezeite, die nationalsozialistische Guerilla werde eine geordnete Militärverwaltung ebensowenig vereiteln können wie das Riesenheer der Knaben und alten Männer im "Volkssturm"917. Erste Berührung mit dem Deutschen Volkssturm hatten die Truppen Eisenhowers, der die deutsche Miliz immer als militärische Quantite negligeable ansah, schon im Herbst 1944 gehabt. Dabei erlebten sie Mitte November beim Kampf um Metz das Schauspiel, wie sich ein Volkssturmbataillon schon nach der ersten in Schnee und Re­ gen zugebrachten Nacht sofort kampflos ergab.918 Die Befragungsteams der Psycholo­ gical Warfare Division fanden anschließend schnell heraus919, daß die gefangenen Mi­ lizionäre keinerlei Vorstellung davon hatten, worin ihr Kampfauftrag eigentlich be­ stand: "Sie scheinen tatsächlich nichts weiter getan zu haben, als sich in Kellern zu verstecken und den Spaß zu genießen, während sie darauf warteten, daß die Amerika-

916 Zu Aufbau und Organisation des Volkssturms vgl. 1/6 und Franz W. Seidler, Deutscher Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/45, München 1989. 917 SHAEF, G-5 Weekly Journal of Information Nr. 9 v. 19.4.1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Branch, Entry 54. 918 Vgl. Hugh M. Cole, The Lorraine Campaign, Washington 1950, S. 432. The Fifth Infantry Division in the ETO 1945, hrsg. von 5th Infantry Division, Historieal Section, Atlanta 1945, Kapitel "Prelude to Metz". 919 Twelfth Army Group, G-2, Weekly Intelligence Summary Nr. 29 v. 27.2. 1945, Anhang Nr. 2 "The Mili­ tary Value of the Volkssturm"; NA, RG 331, Hqs Twelfth Army Group, Intelligenee Branch, Entry Nr. 176. 4. "Kehraus" 955 ner kommen und sie vereinnahmen."92o Gleichermaßen ruhmlos verlief der eine Wo­ che später erfolgende, von grotesken organisatorischen Pannen und menschlichem Versagen begleitete Einsatz des Bataillons Saarbrücken-Stadt bei der Sicherung einiger Westwall-Bunker östlich von Saarlautern.921 Die Einheit hatte keinen einzigen Schuß abgegeben, als sie Anfang Dezember in Gefangenschaft ging. Der ganze Einsatz sei eine verantwortungslose Aktion gewesen, sagte einer der Kompanieführer einem In­ terrogation Team später, das aus den geschilderten Einzelheiten nur den Schluß zie­ hen konnte, daß eine derart demotivierte Miliz der Army wohl wenig anhaben werde. Sogar am Oberrhein, wo im Abschnitt der 19. Armee bis April 1945 keine Kämpfe zu bestehen waren, funktionierte nur wenig. Es ist den zahlreichen Beschwerden der dor­ tigen Wehrmachtkommandeure, die hier mit dem Volks sturm zusammenzuarbeiten hatten, anzumerken922, daß in den traurigen Formationen von Hitlers letztem Aufge­ bot selbst in den ruhigen Frontabschnitten weniger eine Hilfe als eine Last gesehen wurde. Nachdem die Amerikaner während der Winterschlacht in den Ardennen den Kon­ takt mit der deutschen Miliz vorübergehend verloren hatten, trafen sie mit Beginn ih­ rer Schlußoffensive wieder regelmäßig auf den Volkssturm; im Rheinland und in der Pfalz kämpfte er nicht besser als in Lothringen und im Saarland. Die Heeresgruppe G richtete deswegen sogar ein geharnischtes Protestschreiben an den Gauleiter Mosel­ land, in dem es hieß, die eingesetzten Volkssturmbataillone hätten "in der Masse ver­ sagt"923. Das Bataillon mit dem stolzen Namen "Porta Nigra" sei beim Angriff der Amerikaner einfach auseinandergelaufen, eine Wittlicher Einheit noch während der Aufstellung. Außerdem monierte die Heeresgruppe das - an diesem Ort naheliegende - Verhalten des Bataillons Ruwer, das "sich vor dem Einsatz in der Masse betrunken" hatte. Wenige Tage nach dieser Beschwerde brach die Heeresgruppe dann selbst zu­ sammen.924 Mit der Auflösung der Front im Westen brachen auch die Korsettstangen der Miliz. Wo das Heer geschlagen war, gab auch der Volkssturm auf. Brachten sich überdies die örtlichen Parteifunktionäre allzu zeitig in Sicherheit (was beinahe immer geschah925), dann war damit ein weiteres Signal zur Selbstauflösung des Volksaufgebots gegeben. Das war in Minden926 nicht anders als in Kulmbach.927 Im württembergischen Aalen "verkrümelten"928 sich die Milizionäre ebenso wie in dem Dörfchen Wachbach im

920 SHAEF, PWD, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 9 v. 25. 11. 1944; zit. nach Siegwald Ganglmair, Amerikanische Kriegspropaganda gegen das deutsche Reich in den Jahren 1944/45, Diss., Wien 1978, S. 708. 921 Vgl. zu dieser Episode die Schilderung in: SHAEF, PWD, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 14 v. 30.12.1944; NA, RG 331, SHAEF, Special Staff, PWD, Executive Section, Entry Nr. 87. 922 VgL hierzu das Fernschreiben des Generalstabschefs der 19. Armee an den OB West v. 17.3. 1945, das Schreiben des Höheren Artillerie-Kommandeurs 321 an den Ia des AOK 19 v. 26.3. 1945 oder auch das Schreiben des Generals Hans Obstfelder an den Gauleiter von Baden; alle in: BA/MA, RH 20-19/139. 923 Schreiben der Heeresgruppe G an Gauleiter Gustav Simon v. 6. 3. 1945; zit. nach Gerhard Förster, Richard Lakowski (Hrsg.), 1945, Berlin (Ost) 1975, S. 212. 924 Vgl. IV/2. m Vgl. VII/2. 926 Vgl. den als Manuskript gedruckten Katalog "Der totale Krieg und seine Folgen. Minden 1944-1946", Minden 1975, S. 9 f. 927 Vgl. Wilhelm Lederer, Dokumentation 1945. Kulmbach vor und nach der Stunde Null, Kulmbach 1971, S.44. 928 Hugo Theurer, Die letzten Tage von Aalen. Bericht aus dem Jahre 1948; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 1. 956 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Landkreis Bad Mergentheim.929 Oftmals waren die örtlichen Kampfkommandanten, Parteifunktionäre oder Volkssturmführer auch vernünftig und umsichtig genug, Ein­ satzbefehle so zu erteilen, daß sie als plausible Rechtfertigung von Absetzbewegungen oder gebührender Zurückhaltung im Kampf dienen konnten. In Freising im Norden von München etwa, wo ein SS-Führer seinen Respekt vor der Miliz in das Bonmot kleidete, ein Schneesturm sei ihm lieber als der Volkssturm, wurde die letzte Schlacht recht nüchtern vorbereitet. Der dortige Bataillonsführer hielt den Befehl des Kampf­ kommandanten, jedes Haus unter Mithilfe von Frauen und Kindern zu verteidigen, für "Blödsinn". Das ließ er auch gegenüber seinen Leuten durchblicken. Ein Regie­ rungsoberinspektor, der sich am Morgen des Einzugs der Amerikaner mit 29 Streitge­ nossen seiner nominell 108 Mann starken Kompanie zu einer Lagebesprechung ein­ fand, hörte das aus der Ansprache seines Kommandeurs auch sogleich heraus und merkte, daß "die Suppe nicht zu heiß gegessen" werden mußte. Damit war die Marschroute bei den Anstrengungen der Miliz zur Verteidigung der Domstadt vorge­ geben. Ein Kompanieführer nahm sich die Freiheit, Volkssturmsoldaten, die Kinder hatten, zu ihren Familien nach Hause zu schicken, beim ersten Schuß verschwand das restliche Häuflein im Wald.930 In Schwäbisch Gmünd sprach sich der Kampfkommandant von vornherein gegen die Verteidigung der Stadt aus. Das erleichterte es dem Führer des Volkssturms be­ trächtlich, seinerseits Vernunft walten zu lassen. Er entließ seine Männer gegen deren Versprechen nach Hause, sich am nächsten Morgen wieder einzufinden. Anderntags hatte auch der Kreisleiter ein "Einsehen und ordnete an, daß alle unausgebildeten Volkssturmleute nach Ulm zu einem mehrwöchigen Waffendienst in Marsch gesetzt werden sollten". So marschierten diese Kämpfer noch einige Tage im Schwäbischen umher, bis auch für sie der Krieg vorbei war. Die am Ort verbliebenen Milizionäre, die weder Uniform noch Waffen hatten, liefen unverrichteter Dinge auseinander. "Damit war die Tätigkeit des Volkssturms in Gmünd erschöpft. Er war und blieb eine Totge­ burt", wie es eine kleine heimatkundliche Schrift ausdrückt.931 Praktisch im ganzen amerikanischen Besetzungsgebiet blieben dem Volkssturm Kämpfe, Leiden und Opfer erspart. Doch hing auch hier viel an der örtlichen Kon­ stellation, wie wiederum das Beispiel Heilbronns und seines berüchtigten Kreisleiters Drauz932 zeigt. In den ersten Apriltagen ließ er nämlich den stellvertretenden Orts­ gruppen leiter von Sontheim durch Volkssturmmänner erschießen, weil der nichts ge­ gen den Abbau der Panzersperren in seinem Dorf unternommen hatte.933 Der Einsatz des Heilbronner Volks sturms läßt sich nicht mehr genau rekonstruieren, er soll aber "in schwere Straßenkämpfe in vorderster Linie verwickelt" gewesen sein.934 Auch die 100th Infantry Division berichtet von zahlreichen dort eingesetzten Volkssturmleu­ ten. Am 5. April wurde eine Gruppe Milizsoldaten von den Amerikanern gefangenge­ nommen: "Siebenunddreißig junge Deutsche strömten durch den Bahneingang und

929 Bericht des Gemeinde-Archivars Herz aus dem Jahre 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 12. 930 Freising von 1945 bis 1950. 2l. Sammelblatt des Historischen Vereins Freising für das Jahr 1950, S. 32 ff. 931 Albert Deibele, Krieg und Kriegsende in Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 1954, S. IOff. 932 Zu Drauz vgl. auch VII/2. m Vgl. das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Heilbronn gegen Hans Friedrich u.a. v. 24. 5. 1947; IfZ­ Archiv, Material Henke. 934 Bericht des Ortspfarrers von Neipperg/Landkreis Heilbronn, Gerhard Bunz, aus dem Jahre 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8. Vgl. auch Robert Bauer, Heilbronner Tagebuchblätter, Heilbronn 1949, S. 45 und S. 48. 4. "Kehraus" 957 in die Hände des zweiten Zuges", beschreibt eine Darstellung der Division die Szene, "weinend, blutend und hysterisch schreiend. ,Es waren bloß Kinder', sagte Leutnant Slade nach dem Gefecht. ,Bevor die Werfergranaten auf sie runterkamen, hatten sie wie die Teufel gekämpft, aber jetzt waren sie nur ein desorganisierter Haufen von 14- bis 17jährigen'."935 In Oberdorf im Landkreis Aalen trieb "ein ganz junger SS-Leutnant" den Volks­ sturm, der die Verteidigungsstellung der dort liegenden Einheit der Waffen-SS ver­ stärken sollte, in den Kampf. Vor dem Dorf, direkt den anrollenden amerikanischen Panzern gegenüber, wurden 14- bis 16jährige Jungen in ihre Schützenlöcher eingewie­ sen, von wo aus sie dann mit ihren Gewehren auf die Shermans schossen. Die nur we­ nige Stunden dauernde Verteidigung von Oberdorf am 21. April 1945 forderte noch einmal mehrere Todesopfer unter den "Volkssturmjungens"936. Doch dies waren Ausnahmefälle, die eine Regel bestätigten, die amerikanische In­ telligence-Offiziere nach mehrmonatiger Erfahrung mit der deutschen Miliz zutref­ fend in die Feststellung faßten: "Nirgends an der Westfront war der Volkssturm fähig, auch nur hinhaltende Gefechte zu liefern oder einen Haus-zu-Haus-Widerstand zu leisten, wofür er ja aufgestellt worden war."937 Im Westen erwiesen sich die jeder Volksmiliz zugrunde liegenden Vorstellungen als vollendete Fehlspekulationen. Die Bataillone aus Nachbarn und Bekannten wurden nirgendwo zu jenen verschworenen Kampfgemeinschaften, von denen Bormann und Himmler geträumt hatten. Eine kriegsmüde Bevölkerung schöpfte nach Jahren militärisch offensichtlich vergeblicher Anstrengung nicht schon deshalb wieder Kampfesmut, weil ihr neben altbekannten Parolen nun auch noch Kombattanten-Armbinden ausgehändigt wurden. Erst recht auch schon deshalb nicht, weil sie wußte, daß Verteidigung des Besitzes Vernichtung des Besitzes bedeutete, die Vernichtung des Nationalsozialismus aber gewiß nicht auch die Vernichtung des Volkes bringen würde. Was die Stärke einer Miliz ausma­ chen kann - aus persönlicher Bekanntschaft, patriotischer Gesinnung und politischer Überzeugung erwachsende Einsatzbereitschaft -, fehlte Hitlers letztem Aufgebot von Beginn an. Die jetzt als militärische Führer auftretenden NSDAP-Funktionäre genos­ sen im allgemeinen schon seit längerem kein Vertrauen mehr, außerdem gab es in die­ sen Feierabendeinheiten selbstverständlich auch nicht den geringsten Gruppenzusam­ menhalt, aus dem allein so etwas wie "Kampfgeist" hätte entstehen können.938 Auch der gemeinsame, die Grenzen der Lächerlichkeit nur zu häufig hinter sich lassende Dienst im Volkssturm erwies sich als eine Erfahrung, die die Abneigung des einzelnen gegen ein Heldentum in letzter Minute noch förderte. Damit war die, ebenso wie der "Werwolf", nach der Überschreitung der Reichsgrenzen durch alliierte Truppen im

935 Bass, Story of the Century (IOOth Infantry Division), S. 145. 936 Bericht von Karl Laib "Geschichtliche Darstellung der letzten Tage des Krieges 1939/45 in der Gemeinde Oberdorf a. Ipf"; HStA Stuttgart, J 170, Büschel I. Zu den dramatischen Ereignissen im Zusammenhang mit einem Einsatz des Volkssturms in Neuhof an der Zenn vgl. die von Theodor Georg Richert gesammel­ ten Zeugenaussagen Neuhofer Bürger (verwahrt von der Verwaltungsgemeinschaft Neuhof a.cl. Zenn) und dessen Aufsatz: Neuhof an der Zenn im April 1945, in: Fürther Heimatblätter 17 (1967), Nr. 5. 937 So der G-2 Periodic Report der 103rd Infantry Division v. 19.4.1945; NA, RG 407, World War 11, Opera­ tions Reports, Box 14545. Siehe auch das Kapitel "The Volkssturm in the Battle" bei Burton Wright, Army of Despair: The German Volkssturm 1944-1945, Diss., The Florid. State University 1982. Vgl. ebenso Franz W. Seidler, "Deutscher Volkssturm". Das letzte Aufgebot 1944/45, München 1989, S. 323. 938 Vgl. die Bemerkungen bei Shils, Janowitz, Cohesion and Disintegration, S. 288. 958 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Herbst 1944 ins Leben gerufene Miliz ein besonders scharf konturiertes Abbild der kriegsmüden und "defätistischen" deutschen Bevölkerung. Anders verhielt es sich freilich bei den im Osten eingesetzten Volkssturmeinheiten, wie den Amerikanern durchaus bewußt war. So äußerte etwa der Stab der Twelfth Army Group bald nach dem Vorrücken der Roten Armee an die Oder im Februar 1945 die Vermutung, der deutschen Miliz in Ostpreußen, Pommern und Schlesien sei durchaus ein gewisser - wenn auch geringer - militärischer Wert zuzubilligen.9J9 Be­ sonders massiv und unter schrecklichen Opfern kam das letzte deutsche Aufgebot zur Verteidigung der Oder-Linie zwischen Mitte Januar und Mitte April 1945, dann in Pommern, Breslau und Berlin zum Einsatz. Der entschlossenere Kampfeswillen vieler Milizeinheiten im Osten speiste sich keineswegs allein aus der jahrelangen anti-sowje­ tischen Propaganda, manch ein Angehöriger des Volkssturms hat erst mit dem Be­ kanntwerden der von der Roten Armee verübten Greueltaten einen Sinn in seinem Einsatz erkennen können. Solche Voraussetzungen fehlten im Westen völlig, und auch Goebbels' hartnäckige Bemühungen, die anglo-amerikanische Besetzung für ebenso schrecklich auszugeben wie den sowjetischen Einmarsch, konnten daran nichts ändern. Sie fielen nirgends auf fruchtbaren Boden.

Die Evidenz der Niederlage Das Debakel des Deutschen Volkssturms, das die nun laufend bekräftigte allgemeine Erfahrung nur bestätigte, nach der der Krieg auf heimischem Boden Volk und Füh• rung nicht einte, sondern die gegenseitige Entfremdung kräftig verschärfte, war natür• lich unmittelbar mit dem seit der Jahreswende 1944/45 immer deutlicher hervortre­ tenden Zerfall der Wehrmacht verknüpft. Hätten jene Angehörigen des Volkssturms, die in diesem Stadium des Krieges noch dazu bereit waren, sich an der regulären Truppe orientieren, sich an deren Offizieren und Soldaten ein bißchen "aufrichten" können, hätten sich die vielfältigen inneren Schwächen der schwächlichen deutschen Miliz vielleicht halbwegs ausgleichen lassen. Doch gerade das Gegenteil war der Fall. Ein Heer in voller Desintegration, wie es sich im Frühjahr 1945 im Westen überall und im Osten vielerorts präsentierte, mußte selbst den illusionswilligsten Milizionär demoralisieren. Durch den beständigen Rückzug an allen Fronten zwar seit vielen Monaten angekündigt, wurde der totale Bankrott der Wehrmacht der deutschen Be­ völkerung gleichwohl doch erst in dem Moment in aller Drastik vor Augen geführt, als sich die Haufen der demoralisierten und abgerissenen Soldaten - sich dabei manchmal wie eine fremde Soldateska benehmend - durch die Straßen ihrer Dörfer und Städte wälzten. 1945 lehrte es der Augenschein, daß dieses Heer keineswegs im Felde unbesiegt, sondern im Kampf zerschmettert war - von dieser Tatsache und von der Verfassung der Wehrmacht konnte sich jedermann selbst überzeugen. Die Evi­ denz der Niederlage ließ keinen Raum für Zwecklügen und Legenden. Aus den Zeugnissen, die uns vorliegen, spricht durchweg ungläubige Verwunde­ rung, auch Schmerz und Entsetzen, darüber, wie gründlich die Alliierten die Armee zerstört hatten und wie unerwartet rauh die eigenen Soldaten mit ihren Landsleuten

939 Vgl. Twelfth Army Group, G-2, Anhang Nr. 2 ("The Military Value 01 the Volkssturm") zum Weekly Intel­ ligence Summary Nr. 29 v. 27. 2.1945; NA, RG 331, Twelfth Army Group, Intelligence Branch, Entry Nr. 176. 4. "Kehraus" 959 umsprangen. Die Psychological Warfare Division von SHAEF hatte bereits Anfang Dezember 1944 darauf verwiesen, daß das Verhalten der zurückgehenden Wehrmacht für viel böses Blut sorge: "Viele Deutsche haben hinsichtlich Landser Hermann, seit er nach Hause marschiert, einen tiefgreifenden Sinneswandel erlebt", beobachtete PWD. "Die Wehrmacht ist eine Armee in der Niederlage und auf dem Rückzug, und ihre Soldaten sind durch eine böse Phase der Desorganisation und der Demoralisie­ rung gegangen. Das hat die Neigung uniformierter Männer, den unglücklichen Zivili­ sten zu mißhandeln, noch verstärkt." Nicht nur weil die Landesverteidigung zugleich die Zerstörung von Besitz und Eigentum bringe, sondern auch wegen zahlreicher Übergriffe wachse die Feindseligkeit gegenüber der eigenen Truppe: "Sollte sich diese Feindseligkeit in der deutschen Bevölkerung ausbreiten, wird sie ihre letzte konkrete Verkörperung von Hoffnung verloren haben. Denn die Wehrmacht war stets, selbst in anti-nazistischen Schichten, ein Symbol deutscher Macht und Größe."940 Die Wirkung der örtlichen Rückzüge im Herbst 1944 war freilich nur das Vorspiel zu jener bald stark anwachsenden Erbitterung in der Bevölkerung und einer zuneh­ mend gründlicheren "Deglorifizierung der Armee"941. Voll entfaltete sich beides erst mit dem - im Westen - seit Februar 1945 immer regelloser werdenden Zurückgehen der Truppe. Überall häuften sich jetzt die Klagen über das Rowdytum und Lands­ knechtsgebaren der durchziehenden Wehrmachtsoldaten. Mitte März beschwerte sich beispielsweise der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD beim Höheren SS­ und Polizeiführer Südwest in einem Schreiben an das Oberkommando der 19. Armee über die "Haltungsmängel in der Truppe". Vielfach hätten abziehende Einheiten acht­ los Waffen und Gerät zurückgelassen, verschiedentlich sei die Bevölkerung erheblich belästigt, außerdem sei "gestohlen worden, was nur beweglich war, einem Bauern sei Motorrad bis auf den Rahmen ausgeschlachtet; unverschämte Quartier- und Verpfle­ gungsanforderungen gestellt", zählte die Beschwerde im Telegrammstil auf. Die Ange­ hörigen einer anderen Einheit seien durch ausfallende Kommentare und dadurch auf­ gefallen, daß sie unter dem Fenster eines Gasthauses eine Handgranate abgezogen hätten, "so daß die ganze Wirtsstube zerstört wurde"942. Der Gendarmerieposten in Fladungen etwa berichtete Anfang April an den Landrat in Mellrichstadt, aus der Be­ völkerung liefen "fortgesetzt Klagen ein, daß die in Fladungen gelegen gewesenen Truppen alles mögliche wie Fahrräder, Handwagen usw. mitgenommen hätten ... Auch mir wollten sie mein Motorrad, als ich von einer auswärtigen Dienstfahrt kam und in einem Hause in Fladungen noch dienstlich zu tun hatte, beschlagnahmen. Ich konnte dies noch rechtzeitig verhindern. Nachdem ich ihnen meine Meinung sagte und sie als Straßenräuber und Banditen bezeichnete, waren sie auch noch frech und beriefen sich auf ihren Offizier."943 In Landshut meldete ein Gendarmerieposten Ende des Monats: "Weiterhin besteht großes Ärgernis über die Unmassen sich her­ umtreibender Soldaten, die bettelnd durchs Land ziehen und selbständig Einquartie­ rung suchen, auch im letzten Hause. Bedauerlich ist es, daß sich hieran Dienstgrade

940 SHAEF, PWD, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 10 v. 2.12. 1944; NA, RG 331, SHAEF, Special Staff, PWD, Executive Sec ti on, Entry Nr. 87. 941 Steinert, Hitlers Krieg, S. 552. 942 Schreiben des Befehlshabers der Sicherheitspoli2ei und des SO beim HSSPF Südwest an das AOK 19 v. 17.3. 1945; BAlMA, RH 20-19/196. 943 Lagebericht des Gendarmeriepostens Fladungen an den Landrat des Kreises Mellrichstadt v. 4. 4. 1945; StA Würzburg, LRA Mellrichstadt, 1011. 960 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

bis zum höheren Offizier beteiligen. Die Bevölkerung muß auch das Letzte herausge­ ben auf dem Lande."944 In einem Gemeindebericht aus dem Württembergischen heißt es, durchziehende Soldaten der Waffen-SS hätten "sich als Freibeuter und die Bevölkerung als Freiwild" betrachtet, "so daß in der Bevölkerung eine starke Erbitte­ rung" Platz gegriffen habe. 945 Freilich stand daneben mancherorts auch die Bereit­ schaft, den verlorenen Landsern zu helfen, so gut es die eigene Lage erlaubte, doch insgesamt war das Erstaunen über das völlig unerwartete marodierende Auftreten vie­ ler Soldaten, das dem Bild von der disziplinierten Wehrmacht so sehr widersprach, bei Kriegsende längst in Unmut, Verbitterung, ja oft in unverhohlene Feindseligkeit um­ geschlagen. Es spricht einiges dafür, daß auch solche Erfahrungen mit dazu beigetra­ gen haben, das Militär und alles Militärische bei der Bevölkerung bis auf weiteres nachhaltig in Verruf zu bringen. Das schneidendste Verdikt, mit dem Wehrmachtsol­ daten damals wohl bedacht werden konnten, war aus dem Osten in Berlin eingegan­ gen, als ein Kreisleiter an Bormann schrieb, "sehr oft" habe er aus der Bevölkerung hören müssen: "Schlimmer können die Russen nicht hausen!"946 Noch bleibendere Eindrücke als diese für einen wohlwollenden Betrachter zur Not mit der Verwahrlosung in sechs Jahren Krieg entschuldbaren "Haltungsmängel" dürfte freilich das bloße Erscheinungsbild der durchziehenden Truppen hinterlassen haben. Bei diesem Anblick erschloß sich selbst einem hartnäckigen Optimisten das bis dahin unvorstellbare Ausmaß des deutschen militärischen Zusammenbruchs. Kurz nach der Rhein-Überschreitung der Amerikaner beobachtete im hessischen Friedberg zum Beispiel ein Polizeihauptmann, wie sich zahllose Wehrmachtseinheiten "teils ge­ schlossen, teils in vollkommen aufgelöster Marschordnung" in östlicher Richtung ab­ setzten: "Es war ein jammervolles Bild, diese abgekämpften, abgerissenen und zum größten Teil waffenlosen Reste des deutschen Heeres auf der Flucht zu sehen", schreibt er: "Es war ein Bild der Demoralisierung und Auflösung."947 Zur selben Zeit strömten Teile der geschlagenen Armee auch durch Franken zurück: "Der Eindruck, den die müden und abgekämpften, zumeist waffenlosen deutschen Truppen machten, war vielfach erschütternd und gab ein eindringliches Bild von dem im Westen erfolg­ ten Zusammenbruch deutscher Abwehr", hielt ein Pfarrbericht aus dem Dekanatsbe­ zirk Feuchtwangen fest. 948 Dieselben erschütterten Kommentare auch aus dem An­ fang April noch einmal heftig umkämpften nördlichen Württemberg: "Schlacke!" nennt der Pfarrer eines Dorfes im Landkreis Crailsheim die zurückflutenden Einhei­ ten verächtlich.949 Aus dem Kreis Künzelsau wird überliefert, die durchziehenden Soldaten hätten ein "erschütterndes Bild" geboten: ,,viele konnten kaum noch laufen,

944 Monatsbericht des Gendarmeriepostens Kronwinkl an den Landrat in Landshut v. 22.4. 1945; StA Lands­ hut, 164/10, Nr. 5095 und Nr. 5096. '45 "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" der Gemeinde Herbrechtingen von Ende 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 7. 946 Bericht des NSDAP-Kreisleiters Küstrin-Königsberg an Bormann v. 5.4. 1945; zit. nach Steinert, Hitlers Krieg, S. 568. 947 Aufzeichnungen des Polizeihauptmanns Fritz Rust "Nachtrag zu meinem Kriegstagebuch 1939 bis 1945. Ereignisse vor und nach dem 28.3. 1945, die für die Nachwelt erhalten bleiben sollen"; zit nach Münkler, Machtzerfall, S.93. "8 Lagebericht des evangelischen Pfarrers von Oberampfrach an das Dekanat Feuchtwangen v. 24. 5. 1945; LKA Nürnberg, Aktenbestand des Landeskirchenrates München "Berichte über Vorgänge bei der militäri• schen Besetzung", '4' "Entwurf einer geschichtlichen Darstellung der letzten Kriegstage, wie sie von dem Pfarrer der Gemeinde Goldbach, Kreis Crailsheim, erlebt worden sind" von Oktober 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4. 4. "Kehraus" 961 sie warfen Mäntel, Stahlhelm, Patronen taschen und Decken weg, sie stützen sich schwer auf ihre Knotenstöcke und schieben die kümmerlichen Reste ihres Gepäckes auf einem Karren oder einem Kinderwagen vor sich her."95o Und in der Gemeinde Frankenbach bei Heilbronn schließlich: "Ein Bild des Jammers waren die vielen ver­ wundeten deutschen Soldaten, die völlig ohne Waffen und meist auch ohne Gepäck, ja oft an Stecken humpelnd, hier durchzogen. Sie waren von westwärts liegenden La­ zaretten oder Verbandplätzen in Marsch gesetzt worden, um sich in Heilbronn oder weiter südlich in ärztliche Behandlung zu begeben. Die Bevölkerung nahm sich dieser Unglücklichen nach besten Kräften an. Man wurde schmerzlich erinnert an die Bilder Artur Kampfs über den Rückzug der Großen Armee aus Rußland 1812."951 Zur Kennzeichnung solcher Szenen, wie sie etwa auch der ehemalige Reichsfinanzmini­ ster Heinrich Köhler in seinem Refugium bei Künzelsau beobachten konnte952 , schie­ nen nur noch Parallelen zu den gewaltigen Katastrophen der Kriegsgeschichte geeig­ net. Anders ließ sich die nachhaltige Erschütterung der von solchen Eindrücken förm• lich überrumpelten Bevölkerung offenbar nicht mehr zum Ausdruck bringen. Der schockierenden Offenbarung der wahren Verfassung der Wehrmacht und dem Entsetzen über die Verwahrlosungserscheinungen wie des verbreiteten Marodeurturns folgte mit dem unfaßlichen Schauspiel, das die amerikanischen Truppen bei ihrem Einzug boten, überall und unmittelbar eine zweite unauslöschliche Erfahrung. Erst aus diesem doppelten Eindruck ergab sich die volle Evidenz des kompletten deut­ schen Bankrotts. Das Alliierte Oberkommando war sich der gewaltigen Wirkung des bloßen Augenscheins der durchziehenden Besatzungsarmee auf die Zivilbevölkerung bewußt, wie eine seiner Analysen bei Kriegsende zeigt: "Der tiefere Grund dieses Gefühls, vollständig zerschmettert worden zu sein", wie es der Military Government­ Stab von SHAEF nannte, "ist zweifellos der starke psychologische Eindruck, den die großartige Ausrüstung der alliierten Armeen - ,Eine Lawine aus Stahl' - auf alle ge­ macht hat, die sie gesehen haben."953 Einige wenige Beispiele mögen genügen, um eine Vorstellung von dieser "starken psychologischen Wirkung" zu geben, die den Amerikanern aufgefallen war. "Und wie sahen sie aus?", fragte ein Geistlicher aus Neckargemünd Ende März 1945 in seiner Schilderung, die er unter dem noch frischen Eindruck der Ereignisse gab.954 "Wie aus­ gezeichnet war diese amerikanische Armee ausgerüstet! Ganz anders als man uns im Rundfunk glauben machen wollte. Die Soldaten sahen blühend aus, gesund und wohl­ genährt mit Uniformen aus den besten Stoffen bekleidet und mit vorzüglichem Lederzeug. Dazu diese großartige Motorisierung. Von der technischen Überlegenheit der Amerikaner konnten wir uns in jeder Hinsicht überzeugen. Fußsoldaten waren - außer bei den kleinen Gefechten - überhaupt nicht sichtbar, alle Truppen wurden mit

950 Bericht der Gemeinde Aschhausen (wohl ebenfalls aus dem Jahre 1948); zit. nach Blumenstock, Ein­ marsch, S. 25 f. 951 "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" durch das Bürgermeisteramt der Gemeinde Franken­ bach von Dezember 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 8. 952 Vgl. dessen Aufzeichnung "Karwoche (25. bis 31. März) 1945", in: Heinrich Köhler, Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878-1949. Unter Mitwirkung von Franz Zilken hrsg. v. Jose! Becker, Stuttgart 1964, S. 338 ff. 953 SHAEF, G-5 Weekly Journal of Information Nr. 12 v. 11. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Branch, Entry 54. Hervorhebung von mir. 954 "Kriegschronik der Stadt Neckargemünd", verfaßt von Richard Nutzinger im August 1945; HStA Stutt­ gart, J 170, Büschel 42. 962 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Autos nach vorn befördert in langen Kolonnen von Personenwagen. Sie waren mit al­ lem, was nur irgendwie für den Kampf oder für die Ruhezeit gebraucht werden könnte, aufs reichlichste versehen, besonders auch mit Lebensmitteln. Sie aßen blü• tenweißes Brot wie es bei uns wohl nie gebacken worden ist, hatten Schokolade in Hülle und Fülle, rauchten ständig ... Wenn man demgegenüber unsere aus dem Feld oder den Gefangenenlagern zurückkehrenden ausgehungerten und abgemagerten Sol­ daten mit ihren abgeschabten Uniformen und ihren von Kämpfen und Leiden durch­ furchten Gesichtern sah, so war man von diesem Anblick um so mehr erschüttert, wenn man daneben auf den Straßen die in feingebügelten Uniformen einherschreiten­ den Amerikaner sah. Es wurde jedem, der diese Ausrüstung beobachten konnte, ohne weiteres klar, daß der Krieg in dem Augenblick für uns verloren war, als Amerika mit seinen frischen Truppen und seinen ungeheueren Reserven an Streitkräften zu Land, zu Wasser und namentlich in der Luft und an Kriegsmaterial uns den Krieg erklärte." Zur selben Zeit beobachtete Heinrich Köhler in Mudau die Besetzung. Auch er verknüpfte die Schilderung mit einer Beschreibung seiner Gefühle und Reflexionen, die in ihm bei diesem Anblick aufstiegen: "Tränen der Trauer, der Scham und der Wut rinnen mir die Wangen herunter, und ich wehre ihnen nicht. Mein armes kran­ kes Herz droht zu zerspringen vor innerer Erregung", bekannte Köhler: "So weit ist es nun gekommen mit dem badischen Vaterland, dem Deutschen Reich und mit uns. Ist das, was sich vor mir abspielt, nicht ein wüster Traum? Ist es Wirklichkeit? Mein Gott, mein Gott! Panzer auf Panzer rollte heran, dicht hintereinander, wirkliche Ungetüme mit langen Geschützrohren und Maschinengewehren nach allen Seiten. Finster und stolz blicken die Soldaten auf uns herab. Auf vielen Panzern sind noch Soldaten auf­ gesessen, die mit angeschlagenem Gewehr die Fenster der Häuser beobachten. Ich be­ ginne die Ungetüme zu zählen. Bei der Zahl 52 höre ich auf. Doch immer weitere rol­ len heran. Und während so ein gewaltiger Zug von Schloßau einmarschiert, vollzieht sich dasselbe Schauspiel auf der Straße von Scheidental her. Am Schlusse folgt moto­ risierte Infanterie, darunter auch Neger. Und wie frisch und wohlgenährt sie alle aus­ sehen, die weißen wie die Negersoldaten. Keine Kinder und keine Veteranen, lauter Männer zwischen 20 und 30 Jahren ... Und gegen diese vielfache Übermacht waren unsere paar Pakgeschütze zum Kampf angetreten! War etwas anderes zu erwarten als schleuniger Rückzug bei eingetretener Kampfberührung? Welch gewaltiges Material rollte an uns vorüber! Tanks in allen Größen, Pak und Artilleriegeschütze, Infanterie­ sturmgeschütze, Munitionskolonnen und motorisierte Infanterie mit je etwa 20 Mann auf dem Wagen ... Die peinliche Überraschung über die alle Mutmaßungen übertref• fende Stärke der ,Panzerspitzen' war allgemein, die führenden Nazis sah man über• haupt nicht mehr auf der Straße."955 Im zwischen Ingolstadt und Augsburg gelegenen Pöttmes erlebte eine evakuierte Frau die amerikanische Besetzung Ende April mit: "Wir sahen [dann) diese bis auf die Zähne ausgerüsteten Truppen, diese wohlgenährten Gesichter", hielt sie später fest. "Der Kontrast zwischen ihnen und unseren ausgemergelten, erbärmlich ausgerüste• ten, fliehenden, verzweifelten Soldaten war unbeschreiblich, und ein noch tieferer Ab­ scheu ergriff uns gegen eine Heeresleitung, die unsere im Begriff der soldatischen Ehre erzogenen Männer dieser gewaltigen Übermacht so sinnlos wie unverantwortlich

955 Tagebucheintragung v. 30.3. 1945; zit. Köhler, Lebenserinnerungen, S. 342 f. 4. "Kehraus" 963 ausgeliefert hatte."956 Ein letztes Zeugnis, dem sich weitere an die Seite stellen lie­ ßen957 , überliefert ein Arzt und Bürgermeister aus Bad Mergentheim: "Tagelang roll­ ten Panzer auf Panzer durch die Stadt", heißt es in seiner Darstellung, "Riesen typen, die man sich nicht vorgestellt und die man hier noch nie gesehen hatte. Erst jetzt kam es vielen zum Bewußtsein, welcher furchtbaren Übermacht unsere Truppen gegen­ übergestanden hatten und daß unser Kampf schon längst aussichtslos geworden war."958 Nicht allein der grelle Kontrast zwischen der Verfassung des eigenen und des turm­ hoch überlegenen feindlichen Heeres (der es den Unterlegenen gewiß erleichterte, sich in die Niederlage zu schicken959) bewegte die Gemüter so außerordentlich. In der Bevölkerung, die sich eben noch des vielfach rüden Gebarens der Wehrmachtssolda­ ten zu erwehren gehabt hatte, machte sich auch ein "ungläubiges Staunen"960 darüber breit, wie unerwartet "anständig" und human sich die in ihrer Machtgewißheit so ge­ lassenen neuen Herren im allgemeinen betrugen. Schon Ende Februar, nach der kurz­ fristigen Rückeroberung einer saarländischen Ortschaft, hatte sich die Wehrmacht nachsagen lassen müssen, die amerikanischen Soldaten benähmen sich gegenüber der Zivilbevölkerung korrekter als die eigene Truppe. Und kurze Zeit später mußte das Reichspropagandaamt Westmark bekennen, es ließen sich so wenige Beweise für Aus­ schreitungen amerikanischer Soldaten beibringen, daß man sich sehr schwer damit tue, mit bloßer Propaganda das gute Image der G.I.s zu zerstören. Der evangelische Kirchenrat Adolf Rusam, aus einfachen Verhältnissen zum Dekan aufgestiegen und gewiß ein Mann evangelisch-nationaler Denkungsart, der den Ein­ zug der Besatzungstruppen am 20. April 1945 im fränkischen Dekanatsbezirk Feucht­ wangen erlebte (und diese Ereignisse in seinem Tagebuch mit einer nur in wenigen Dokumenten anzutreffenden Anschaulichkeit und Genauigkeit festhielt), hatte, als die Amerikaner mit ihrer Streitmacht durchzogen - "Phantastisch!" -, nicht nur erkennen müssen, "daß dieser Krieg verloren ist", Pfarrer Rusam empfand die Fremden sofort auch "sympathisch, ,germanischen' Typs, freilich auch manche dunklen Gesichter dar­ unter". Am nächsten Tag machte er beim Ortskommandanten etwas nähere Bekannt­ schaft mit ihnen und lernte dabei, daß Zackigkeit und Drill keineswegs unabdingliche Vorbedingung zu sein schienen, um eine überlegene Armee zu formen: "In der ,Schreibstube' sitzen und liegen die Soldaten herum, rauchen ihre Zigaretten, lesen, lassen den Radio laufen und kümmern sich scheinbar um nichts. Undenkbar nach deutschen Begriffen, daß ein Soldat, hingeflegelt auf einen Liegestuhl, wie ich es hier sah, seinem Offizier mit lässiger Handbewegung den Füllhalter zur Unterschrift reicht ohne die mindeste Regung, seine Haltung zu verändern! - Aber es geht auch so!" Über den Nachbarort Grimmschwinden notiert Rusam anderntags, dort sei es den

956 "Pöttmes-Chronik einer Evakuierten 1944/45" von Have-Behler; zit. nach Brückner, Kriegsende in Bayern, S.1571. 957 Vgl. etwa .,Die letzten Kriegstage in Hausen am Bach im April 1945" (Landkreis Crailsheim), Gemeindebe­ richt vom 8. 10. 1948. Vgl. auch die .,Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage" der Gemeinde Oppenweiler, Kreis Backnang, v. 4. 11. 1948; HStA Stuttgart, J 170, Büschel 4 bzw. Büschel 2. 95S "Geschichtliche Darstellung der letzten Kriegstage auf Grund persönlicher Erlebnisse" von Bürgermeister Daiker Anfang 1949; HStA Stuttgart,J 170, Büschel 12. 959 Münkler, Machtzerfall, S. 182. 960 Lutz Niethammer, Privat-Wirtschaft. Erinnerungsfragmente einer anderen Umerziehung, in: Lutz Niet­ hammer (Hrsg.), "Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist". Nachkriegserfahrun­ gen im Ruhrgebiet, Berlin 1983, S. 22. Die beiden folgenden Beispiele bei Steinert, Hitlers Krieg, S. 559f. 964 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Bewohnern "schier unfaßlich" erschienen, "daß etliche Amerikaner sich sogar an den nun einsetzenden Löscharbeiten beteiligten, durch die wenigstens ein Weitergreifen der Brände verhütet werden konnte. Einer der Soldaten zog mit großer Mühe ein Mädchen aus dem Löschweiher, das fast darin ertrunken wäre. So hatten die Grimm­ schwinder manches zu rühmen von der Hilfsbereitschaft des zuvor doch mit einigem Bangen erwarteten ,Feindes'." Und am 24. April, vier Tage nach der Besetzung, unter­ mauert er diese unerhörten Erfahrungen bei der Begegnung mit der Besatzungsmacht durch die Schilderung einer weiteren ihm charakteristisch erscheinenden Episode aus einem anderen Nachbarort. In jenem Dorf war im Hause des Schmieds just in dem Augenblick, als die Granaten einschlugen und die Besetzung begann, ein Kind zur Welt gekommen. "Die arme Mutter mußte gleich nach der Geburt auf ihren eigenen Füßen hinunter in den Keller, während oben in der Stube ihr Kindlein gebadet und gewickelt wurde", trug Pfarrer Rusam in sein Tagebuch ein. "Da kam auch schon der erste Amerikaner in das Haus. Er beschaute das Neugeborene mit sichtlichem Inter­ esse und wollte dann auch die Mutter sehen. Man führte ihn in den Keller und im Schein eines Zündhölzchens besah er dann voller Teilnahme die geängstete Mutter, die doch so gar keine Angst mehr zu haben brauchte. - Und das sind nun die ,Gang­ ster' und ,Mordbrenner', vor denen uns eine lügnerische Propaganda gewaltsam Furcht einflößen wollte!"961 Zu den unübersehbaren Zeichen des Bankrotts des in Lüge und Selbstzerstörung untergehenden Regimes gehörte auch eine Welle von Selbstmorden, die nicht nur dem Leben der Hitler und Goebbels oder von Gauleitern wie Paul Giesler, Wilhelm Murr, Bernhard Rust, Gustav Simon, Josef Terboven ein Ende setzte, sondern auch viele weniger prominente Politische Leiter der NSDAP, SS-Mitglieder, Wehrmachts­ angehörige und Beamte erfaßte. So vielfältig deren Motive gewesen sind, so wenig ist im einzelnen darüber und über den Umfang dieser Selbsttötungen bekannt, die den Rahmen der normalen Suizidalrate überschritten. Immerhin ist das Faktum einer brei­ ten Selbstmordwelle in der Endphase des Krieges selbst in jenen Gebieten, die nicht unter sowjetische Kontrolle gerieten, von deutschen und amerikanischen Beobachtern damals verschiedentlich festgehalten worden. Aus Düsseldorf etwa berichtete Psych­ ological Warfare Division lapidar von der "üblichen Quote an Selbstmorden"962. Han­ nah Arendt hatte bereits im November 1944 Anhaltspunkte genug, "eine Selbstmord­ weIle nach der anderen"963 zu diagnostizieren, die Reporterin Margaret Bourke-White, die sich im April 1945 in Deutschland aufhielt, schrieb ebenfalls von "Selbstmordwel­ len"964; desgleichen Thomas Mann in seinen Tagebucheintragungen vom 23. und 30. April sowie vom 26. Mai 1945 - "endlich!", setzte er einmal hinzu.965 Eine Stichprobe für Oberbayern, wohin sich in der Endphase des Krieges besonders viele Stützen und Nutznießer des Nationalsozialismus abgesetzt hatten, bestätigt den sprunghaften An-

961 ,,Aus meinem Leben als Dorfpfarrer in der Kriegszeit. Tagebuch über die Ereignisse der letzten Kriegswo­ chen, die militärische Besetzung und den politischen Umschwung in Oberampfrach, 26. März - 10. Mai 1945", Eintragungen v. 20.4.,21. 4., 22.4. und 24.4. 1945; LKA Nümberg, Aktenbestand des Landeskir­ chemats München, Berichte über Vorgänge bei der militärischen Besetzung. 962 SHAEF, PWD, Weekly Intelligence Summary for Psychological Warfare Nr. 32, v. 7.5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, PWD, Decimal File 1944-45, Entry 87. 963 Hannah Arendt, Organisierte Schuld, in: Die Wandlung, (1945/46), S. 343. 964 Margaret Bourke-White, Deutschland April 1945, München 1979, S. 79. 96' Thomas Mann, Tagebücher 1944-1. 4.1946, Frankfurt 1986, S. 192 (Eintragung v. 23.4. 1945), S.196 (30.4.1945), S. 210 (26. 5.1945); Zitat S. 192. 5. Bedingungslose Kapitulation 965 stieg von Selbsttötungen in den Tagen des Zusammenbruchs. Bewegte sich in den 17 Städten, für die Daten vorliegen, die Suizidalrate während der Monate April und Mai sowohl in den späten dreißiger wie den späten vierziger Jahren insgesamt zwischen 3 und 5 Fällen, so waren es dort im April und Mai 1945 nicht weniger als 42 Selbst­ tötungen. Auch für Oberbayern insgesamt liegt die Indexzahl für Selbstmorde im Durchschnitt der Jahre 1946-1951 (100) deutlich niedriger als 1945 (124).966 So dürf• ten es selbst in den von den Westmächten besetzten Gebieten viele hundert, insge­ samt in Deutschland wohl mehrere tausend Menschen in herausgehobenen Funktio­ nen gewesen sein, die bei Kriegsende aus, im weitesten Sinne, politischen oder patrio­ tischen Motiven freiwillig aus dem Leben geschieden sind.

5. Bedingungslose Kapitulation, Demobilisierung der Invasionsarmee, Konsolidierung der Militärregierung

Die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 und die "Berliner Erklärung" vom 5.Juni 1945 Nachdem Hitlers Selbstmord den Bann, der bis zum Ende über der Führungsspitze des Reiches lag, gelöst und sein Nachfolger Dönitz mit der Konzeption einer "durch den Abschluß von Teilkapitulationen stufenweise zu vollziehenden Gesamtkapitula­ tion der deutschen Wehrmacht"967 umgehend den Weg aus dem Krieg eingeschlagen hatte, war es binnen dreier Tage - zwischen dem 2. und 5. Mai 1945 - zur Waffen­ streckung mehrerer deutscher Armeen gekommen. Mit der Kapitulation der Heeresgruppe G in Haar bei München am 5. Mai 1945 hatte sich das Konzept des Großadmirals freilich erschöpft. Das zeigte sich sogleich, als Generaladmiral von Friedeburg, der bereits tags zuvor avisiert worden war, am spä• ten Abend des 5. Mai im Hauptquartier des Alliierten Oberkommandos in Reims ein­ traf. 968 Da Friedeburg (nach Eisenhowers Verständnis ein "Repräsentant von Dö• nitz"969) lediglich den Auftrag hatte, nunmehr in ähnlicher Weise wie in den voraufge­ gangenen Tagen die restlichen den Westmächten noch gegenüberstehenden deut­ schen Verbände zu übergeben, waren die Unterredungen, die der deutsche Emissär gerne als "Verhandlungen" verstanden wissen wollte, schnell beendet. Eisenhower, so Friedeburg an Dönitz, lasse sich auf keinerlei Verhandlungen über eine weitere Teil­ kapitulation ein, sondern bestehe "auf sofortiger bedingungsloser Kapitulation an al­ len Fronten gleichzeitig"970.

966 Die Stichprobe wurde im Mai 1990 durchgeführt und basiert auf den Angaben folgender Städte: Bad Aib· ling, Dorfen, Ebersberg, Eichstätt, Erding, Freilassing, Grafing, Kolbermoor, Landsberg, Miesbach, Neuöt· ting, Penzberg, Stamberg, Tegernsee, Bad Tölz, Traunstein, Wasserburg. Die Berechnung der Indexzahl für Oberbayern 1945 beruht auf: Statistisches Jahrbuch für Bayern 1947, S. 69, sowie Bericht über das Bayeri­ sehe Gesundheitswesen für die Jahre 1950 und 1951, 59. Band, München 1953, S. 106. Alle Unterlagen in: lfZ-Archiv, Material Henke. 967 Reimer Hansen, Die Kapitulation und die Regierung Dönitz, in: Winfried Becker (Hrsg.), Die Kapitulation von 1945 und der Neubeginn in Deutschland, Köln 1987, S. 35. 968 Die drei wichtigsten Studien zur bedingungslosen Kapitulation sind nach wie vor: Pogue, Supreme Com­ mand, S. 475 ff. Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 133 ff. Steinert, 23 Tage, S. 193 ff. 969 Telegramm Eisenhowers an die Combined Chiefs of Staff v. 4.5. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2682. 970 Schultz-Naumann, Dreißig Tage, S. 92. 966 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Der Oberkommandierende der Expeditionsstreitkräfte hatte die sowjetische Füh• rung vorab über das Kommen eines deutschen Abgesandten informiert. In seinem Te­ legramm vom 4. Mai 1945 teilte Eisenhower Moskau auch mit, daß er nur einer nach Möglichkeit zeitgleich stattfindenden Gesamtkapitulation zuzustimmen gedenke, ei­ ner Teilkapitulation der Wehrmacht im Westen aber nicht.971 Noch vor dem Eintref­ fen Friedeburgs in Reims hatte der sowjetische Generalstabschef Antonov dem zuge­ stimmt und sich bei Eisenhower für die sofortige Benachrichtigung bedankt. Als Vertreter der Roten Armee bei den Kapitulationsgesprächen benannte er General Iwan Susloparow, den Chef der sowjetischen Militärmission in Frankreich.972 Die Zustimmung zu einer weiteren deutschen Teilkapitulation war für Eisenhower schon deshalb ausgeschlossen, weil er mit dem Abgesandten des deutschen Staats­ oberhauptes keine - den interalliierten Absprachen klar zuwiderlaufende973 - Separat­ regelung treffen konnte. Eine weitere partielle Übergabe wäre ferner schon deshalb gänzlich unmöglich gewesen, weil nach einer neuerlichen Teilkapitulation (die für die Norwegenarmee, Teile der im Bayerischen Wald und in Böhmen stehenden 7. Armee und verschiedene "Festungen" und Inselbesatzungen im Mittelmeer und im Atlantik gegolten hätte) kein einziger deutscher Soldat mehr im Kampf gegen die Westmächte gestanden, die Wehrmacht im Osten und Südosten, genauso wie es im Dönitzschen Kalkül lag, aber weiterhin mit mehreren Armeen gegen die sowjetischen Streitkräfte gekämpft hätte. Dies hätte zu verheerenden politischen Rückwirkungen in der Allianz führen müssen. Auf eine neuerliche - und letzte - "lokale Übergabe", die in den Ta­ gen zuvor Sache seiner Armeegruppen- und Armeebefehlshaber gewesen war, konnte sich der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte schließlich auch deshalb nicht einlassen, weil er damit den ohnehin angreifbaren Modus der Serie von Teil­ übergaben nachträglich vollends ad absurdum geführt hätte. Dönitz, der bei seinem Amtsantritt eine Mindestfrist von acht bis zehn Tagen für die Rückführung von Soldaten und Flüchtlingen aus dem Machtbereich der Roten Armee veranschlagt hatte974 , war von der kompromißlosen Haltung Eisenhowers (über die Friedeburg ihn in einem Telegramm in Kenntnis setzte97») schockiert. "Un­ annehmbar"976, war der erste Kommentar in Flensburg, und zwar nicht allein deshalb, weil nun die Gefahr akut wurde, vielleicht doch nicht alle, sondern nur einen Teil der Soldaten und Flüchtlinge aus dem Osten in den Westen retten zu können. Die deut­ sche Führung nahm auch an, die Einheiten an der Ostfront würden einem Befehl, die Waffen zu strecken und sich an Ort und Stelle in sowjetische Gefangenschaft zu bege­ ben, einfach nicht Folge leisten.977 Schließlich entsandte der Großadmiral, der zu­ gleich der gesamten Ostfront den Befehl erteilte, "sich möglichst schnell unter Ret­ tung möglichst zahlreicher deutscher Soldaten möglichst weit nach Westen abzuset-

971 Telegramm an die Militärrnission in Moskau zur Information des sowjetischen Oberkommandos v. 4.5. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2683. 972 Die Antwort Antonows in dem Telegramm Eisenhowers an die ces v. 5. 5. 1945; ebenda, S. 2687. 973 Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 69 f. 974 Hansen, Kapitulation, in: Becker (Hrsg.), Kapitulation 1945, S. 33. 975 Wortlaut bei Steinert, 23 Tage, S. 195 f. 976 Walter Lüdde-Neurath, Regierung Dönitz. Die letzten Tage des Dritten Reiches, 3., wesentlich erweiterte Auflage, Göttingen 1964, S. 69. 977 Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 148. Dort und Steinert, 23 Tage, S. 196, auch zum folgenden. 5. Bedingungslose Kapitulation 967 zen"978, dann doch GeneraloberstJodl- den entschiedensten Gegner einer Gesamtka­ pitulation - nach Reims. Er hatte den Auftrag, die Verhandlungen mit den Alliierten "unter möglichst großem Zeitgewinn für die Rettung deutscher Menschen aus dem Ostraum zu führen"979. Am Nachmittag des 6. Mai traf der Generaloberst im Alliier­ ten Hauptquartier ein. Jodl sollte bei Eisenhower eine Teilkapitulation unterzeichnen; falls das nicht er­ reichbar war, wenigstens eine gewissermaßen gestreckte Gesamtkapitulation, die einen Anfangstermin (Ende der Kampfhandlungen) und einen Endtermin (Ende der Trup­ penbewegungen) vorsah. Wenn es bei Eisenhower gelang, vier Tage - in denen der Rückzug einzelner Soldaten hinter die amerikanischen Linien prinzipiell erlaubt sein sollte - zwischen diese beiden Termine zu legen, den Stopp der Truppenbewegungen also bis etwa zum 10. Mai hinauszuzögern, so das Kalkül von Dönitz, würde seine Rettungsstrategie im großen und ganzen doch noch aufgehen. Sehr viel Hoffnung hatte man in Flensburg aber nicht. Eisenhower, der sämtliche Gespräche mit Friedeburg und Jodl von seinen Generä• len Walter Bedell Smith und Kenneth W. D. Strong führen ließ, telegraphierte noch am Abend des 6. Mai an die Combined Chiefs of Staff in Washington, vom Beginn der Unterredung mit dem Chef des Wehrmachtführungsstabes an sei klar gewesen, daß die Deutschen auf Zeit spielten: "Ich mußte ihnen schließlich mitteilen, daß ich alle Verhandlungen abbrechen, die Westfront dichtmachen und jede weitere Bewegung deutscher Soldaten und Zivilisten nach Westen gewaltsam verhindern würde, wenn sie meine Bedingungen nicht annähmen."98o Diese mit der Drohung einer Wiederauf­ nahme des Bombenkrieges unterstrichenen Bedingungen waren eindeutig und ultima­ tiv: sofortige Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde, 48 Stunden später Einstel­ lung aller Kampfhandlungen und jeglicher Truppenbewegung. Jodl erhielt eine halbe Stunde Bedenkzeit.98 1 Da die Lage der Wehrmacht selbstverständlich absolut hoff­ nungslos war, die Alliierten sich immerhin aber auf eine "Galgenfrist"982, die Gewäh• rung einer Zeitspanne von zwei Tagen zwischen Unterzeichnung und Inkrafttreten der Kapitulationsurkunde, eingelassen hatten983 , telegraphierte der Generaloberst in der Nacht des 6. Mai an Dönitz, er sehe "keinen anderen Ausweg als Chaos oder Un­ terzeichnung". Obgleich Eisenhowers Vorgehen nach wie vor als Erpressung empfun­ den wurde98 \ gab der Großadmiral Jodl bald darauf per Funk die Vollmacht zur Un­ terzeichnung der Kapitulationsurkunde. In den frühen Morgenstunden des 7. Mai 1945, um 1.41 Uhr (MEZ) setzte der Chef des Wehrmachtführungsstabes dann seine Unterschrift unter das Dokument.985 Am 8. Mai 1945, 23.01 Uhr (MEZ), trat die be­ dingungslose Kapitulation, die in einer zweiten Zeremonie in Berlin "ratifiziert"

978 Zit. nach Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 149. 979 Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1478 (6. Mai 1945). 980 Telegramm Eisenhowers an die CCS v. 6. 5. 1945; Eisenhower-Papers, IV, S. 2695. 981 Vg!. die "Notizen über Besprechung Generaloberst Jodl mit Generalleutnant Bedell Smith am 6. 5. nach- mittags in Reims", in: Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1479ff. Das Telegramm Jodls ebenda, S. 1481. 982 Bodo Scheurig, Alfred Jod!. Gehorsam und Verhängnis, Frankfurt 1991, S. 332. 98' Vg!. die Darstellung bei Strang, Geheimdienstchef, S. 254. 984 Steinert, 23 Tage, S. 198. Das folgende Zitat ebenda, S. 200. 985 Zur Verwirrung um die von der Europäischen Beratenden Kommission vorbereitete Urkunde, die in Reims kurzfristig durch ein ad-hoc-Dokument ersetzt wurde, vg!. Hansen, Ende des Dritten Reiches, S. 152H. Vg!. auch Pogue, Supreme Commander, S. 483ff. Der Text der Urkunde ist U.a. abgedruckt in: Schultz-Naumann, Dreißig Tage, S. 165 f. Zur rechtlichen Würdigung Hansen, Kapitulation, in: Becker (Hrsg.), Kapitulation 1945, S. 37 H. 968 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland wurde986, in Kraft. In einer kleinen, unpassenden Erklärung, in der er bemerkte, das deutsche Volk und die deutsche Wehrmacht habe in diesem Krieg mehr geleistet und "mehr erduldet, als vielleicht je ein Volk auf der Erde", bat Jodl die Sieger, gnädig mit ihnen zu verfahren. Danach wurden der Generaloberst und seine Delegationen einige Türen weiter zu Eisenhower geführt, der sich - wie sein Biograph vermutet987 - wegen des Schocks, der ihm nach der Besichtigung der befreiten Konzentrationslager noch in den Kno­ chen steckte, geweigert hatte, vor der Kapitulation mit einem Emissär der Reichsre­ gierung ein Wort zu wechseln. "Streng" fragte der Oberkommandierende der Alliier­ ten Expeditionsstreitkräfte die vor ihm stehenden deutschen Offiziere, "ob sie alle Klauseln voll und ganz begriffen hätten und ob sie bereit seien, sie auszuführen. Ge­ neral Strong übersetzte die Frage. Die Deutschen antworteten bejahend, machten eine steife Verbeugung und verließen das Zimmer."988 Den Bemühungen von Großadmiral Dönitz, mit seiner Strategie der Teilkapitula­ tionen und der Taktik, in den Verhandlungen mit den Alliierten so lange wie möglich auf Zeit zu spielen und dadurch so viele Soldaten und Zivilisten wie möglich hinter die amerikanischen und britischen Linien zu retten, war, als in der Nacht des 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte wirksam wurde, in­ folge seines rapide abnehmenden Handlungsspielraumes kein voller, aber doch ein beträchtlicher Erfolg beschieden gewesen. Innerhalb einer Woche hatte er immerhin 2,5 bis 3 Millionen deutsche Soldaten und Flüchtlinge "in den Westen gerettet"989. Außerdem gelang es ihm, eine geordnete Räumung der noch besetzten Gebiete in Holland, Dänemark und Norwegen und eine disziplinierte Übergabe der besiegten Streitkräfte zu bewerkstelligen. Immerhin hatte der Mann, von dem Hitler die größte Entschlossenheit zur Fortsetzung dieses bis "fünf Minuten nach Zwölf" geführten Krieges erwartet hatte, "den Mut gehabt, seine eigenen bedingungslosen Kampfparo­ len Lügen zu strafen und nur nach den Erfordernissen der Lage und seinem Gewissen zu handeln"990. V-E-Day ("Victory-Europe-Day"), der Tag der Kapitulation auf dem Kriegsschau­ platz in Europa, löste im Lager der Alliierten eine Lawine von Tagesbefehlen, Glück• wunschtelegrammen, Presseerklärungen, Parlamentsreden, Regierungserklärungen, Leitartikeln, Freudenfesten und bald auch von Siegesparaden aus. Eisenhower hatte seine Rundfunkansprache zum Sieg über Deutschland bereits aufnehmen lassen, noch ehe von Friedeburg in Reims eingetroffen war. Es war eine große Rede, auch eine wohltuende Rede für den namenlosen G.I. Joe, und sie enthielt einige deutliche Worte zu dem Gegner, den die Alliierten endlich zu Boden geworfen hatten: "Die mächtigste Eroberungsmaschine der Geschichte ist völlig zerstört", sagte er. "Der be-

986 So der Terminus in der Bevollmächtigung von Dönitz für Keitel v. 7. 5. 1945, in: eben da, S. 167. Vgl. auch das Kriegstagebuch des OKW, IV/2, S. 1483. Vgl. auch den Report by the Supreme Commander to the Combined Chiefs of Staff vom 13. Juli 1945, S. 120. 987 Stephen E. Ambrose, The Supreme Commander: The War Years of Dwight D. Eisenhower, New York 1969, S. 659. Vgl. auch Steinert, 23 Tage, S. 195. Weder in Eisenhowers Erinnerungen (Kreuzzug, S. 4871.), noch in seinen Telegrammen aus den Tagen der Kapitulation findet sich für diese Deutung eine Bestäti• gung. Vgl. auch die Beschreibung der Kapitulation bei Butcher, Drei Jahre mit Eisenhower, S. 821 ff. 988 Butcher, Drei Jahre mit Eisenhower, S. 829. Die Schilderung dieser Szene auch bei Eisenhower, Kreuzzug, S. 488. Strong, Geheimdienstchef, S. 256. 989 Gruchmann, Zweiter Weltkrieg, S. 463. 990 Steinert, 23 Tage, S. 342. 5. Bedingungslose Kapitulation 969 wußte Plan zu brutaler, weltweiter Vergewaltigung, den die deutsche Nation mit Eifer vom kranken Hirn Hitlers übernahm, hat das Schicksal gefunden, das ihm die ver­ letzte Gerechtigkeit bestimmte. Die selbsterklärte Herrenrasse, die vor sechs Jahren zu einem Raubzug aufbrach, verkriecht sich nun in den Ruinen ihrer zertrümmerten Städte und hofft auf ein besseres Geschick, als sie ihren eigenen hilflosen Opfern be­ reitet hat. In allen Vereinten Nationen erschallt das Geläut der Freudenglocken."991 Unmittelbar nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch Jodl in Reims wurde im Alliierten Hauptquartier erneut nach den richtigen Worten für das weltgeschichtliche Ereignis gesucht. Mehrere der engsten Mitarbeiter Eisenhowers versuchten sich an elaborierten Wendungen für das historische Telegramm, mit dem die bedingungslose Kapitulation nach Washington gemeldet werden sollte. Nach ei­ ner Weile setzte sich der Oberkommandierende der Expeditionary Forces selbst hin und verfaßte in Erinnerung an den Auftrag, den er am 12. Februar 1944 erhalten hatte, einen Text992 , der dann an die Combined Chiefs of Staff durchgegeben wurde: "The mission of this Allied force was fulfilled at 0241, local time, May 7th, 1945."993 Der bedingungslosen militärischen Kapitulation folgte die "bedingungslose staat­ lich-politische Kapitulation Deutschlands"994; ohne daß sich die Alliierten mit diesem zweiten Akt explizit auf den vorangegangenen bezogen hätten, geschah er ausschließ• lich "kraft ihres Siegerrechts". Am 5. Juni 1945 unterzeichneten Eisenhower, de Lattre de Tassigny, Montgomery und Schukow die "Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt".995 Das Dokument war in weiten Teilen mit dem Schriftstück identisch, das von der Europäischen Bera­ tenden Kommission als Kapitulationsurkunde sorgsam erarbeitet und bereits Mitte 1944 verabschiedet, am 7. Mai 1945 dann aber nicht beriicksichtigt worden war. Das erste Besatzungsstatut, wie die "Berliner Erklärung" mitunter genannt wurde, wirkte deshalb passagenweise etwas überholt, war in seinen Kernsätzen aber um so aktueller: "Es gibt in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde, die fähig wäre, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Lan­ des und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte zu überneh• men", hieß es in der Präambel. Ohne weitere Spezifizierung wurde in Artikel 13 dann verkündet, die vier alliierten Regierungen würden diejenigen Maßnahmen treffen, "die sie zum künftigen Frieden und zur künftigen Sicherheit für erforderlich halten". Fer­ ner würden die Siegermächte "Deutschland zusätzliche politische, verwaltungsmäßige, wirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Forderungen auferlegen, die sich aus der vollständigen Niederlage Deutschlands ergeben"996. Diese eindeutige Ab­ sichtserklärung bedurfte keiner Gegenzeichnung. Nach der Verhaftung der Regierung

991 Rede Eisenhowers zum Victory·Europe-Day, aufgenommen am 4.5. 1945; zit. nach Eisenhower·Papers, IV, S. 2676. 992 Hierzu Ambrose, Supreme Commander, S. 667 f. 993 Telegramm Eisenhowers an die CCS v. 7. 5.1945; eben da, S. 2696. 99' Hansen, Kapitulation, in: Becker (Hrsg.), Kapitulation 1945, S. 37. Auch zum folgenden (Zitat ebenda, S. 38) und zur staatsrechtlichen Beurteilung dieser beiden Akte. 995 Zur Vorgeschichte dieses Treffens vgL FRUS 1945, II1, S. 289ft., insbes. S. 328 ff. VgL auch die Schilderung bei Robert Murphy, Diplomat unter Kriegern. Zwei Jahrzehnte Weltpolitik in besonderer Mission, Berlin 1965, S. 314ff. 996 Text bei Ernst Deuerlein, Die Einheit Deutschlands. Ihre Erörterung und Behandlung auf den Kriegs- und Nachkriegskonferenzen 1941-1949. Darstellung und Dokumentation, Frankfurt 1957, S. 218 ff. 970 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Dönitz am 23. Mai 1945 und dem Ende des "Epilogs des Dritten Reiches"997 gab es dafür auch keinen Partner mehr. Hatten die Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht in Berlin (wo die Zeremonie wiederholt worden war) und Reims mit ih­ ren Unterschriften unter die militärische Kapitulationsurkunde den Totenschein deutschen Weltmachtstrebens noch selbst beglaubigen können, so verkündeten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges nun souverän die Magna Charta der Besat­ zungsjahre, die erst im Herbst 1949 ihre Gültigkeit verlor.

Auflösung der Invasionsarmee und des Alliierten Oberkommandos Der Triumph der Alliierten über die Streitkräfte Adolf Hitlers und seiner Verbünde• ten in Europa setzte zugleich das Signal für die Auflösung der gewaltigsten Koali­ tionsarmee, die es in der Geschichte je gegeben hat. Bei Kapitulation der Wehrmacht standen ungefähr 4 Millionen Mann unter dem Kommando von General Eisenhower, 3 Millionen davon Amerikaner. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen, 1.622.000 Solda­ ten der U.S. Army, konnten den Tag der Niederlage des "Dritten Reiches" auf dem Territorium des geschlagenen Feindes feiern. 998 Im Moment des Sieges begann die amerikanische Streitmacht ihr Gesicht aber bereits zu verändern, denn Eisenhower mußte, wie er in seinen Memoiren schreibt, sofort den "Rückwärtsgang" einlegen.999 Zwei Monate nach "Victory-Europe-Day" waren bereits 800.000 meist für den pazifi­ schen Kriegsschauplatz bestimmte G.I.s aus Europa abgezogen. lOoo Als Japan Mitte August seine Kapitulationsbereitschaft signalisierte, mußten die Redeployment- und Verschiffungspläne für das amerikanische Millionenheer von Grund auf geändert wer­ den. Aus den Truppenverlegungen wurde ein Rückführungs- und Entlassungspro­ gramm, das seinen Höhepunkt im November erreichte, als binnen vier Wochen über 400.000 Soldaten nach Hause zurückkehren konnten. Bis Ende des Jahres 1945 hatte das War Department nicht weniger als 80 Prozent seiner Truppen von den Schlacht­ feldern Europas abgezogen; am 1. Januar 1946 standen dort nur noch 622.789 Solda­ ten der Vereinigten Staaten. Zu diesem Zeitpunkt war längst klargeworden, daß es unnötig sein würde, Besat­ zungstruppen in der ursprünglich geplanten Stärke auf deutschem Territorium zu un­ terhalten. Seit den ersten Tagen der Besetzung im Herbst 1944 hatten sich zur Über• raschung der Amerikaner so gut wie keine Anzeichen für einen Widerstand der Be­ völkerung gegen die Besatzungsmacht gezeigt. So wurden statt der vorgesehenen sie­ ben nur drei Divisionen in Deutschland und Österreich stationiert. Die Gesamtstärke der amerikanischen Truppen auf deutschem Gebiet pendelte sich (einschließlich Luft­ waffe und Versorgungseinheiten) schließlich bei etwa 280.000 Mann ein. [00 [ Knapp 40.000 davon gehörten zu dem in der ersten Hälfte des Jahres 1946 geschaffenen "U.S. Constabulary", einer besonders gekennzeichneten (goldfarbenes Seidenhalstuch, gelb-blaue Streifen um den Stahlhelm, Fallschirmjägerstiefel) mobilen Eliteeinheit mit

997 Hansen, Kapitulation, in: Becker (Hrsg.), Kapitulation 1945, S. 43. 998 Vgl. MacDonald, Last Offensive, S. 477. Ziemke, U.S. Army, S. 320. 999 Eisenhower, Kreuzzug in Europa, S. 412. 1000 Zur Demobilisierung und Verlegung der SHAEF unterstellten amerikanischen Truppen im einzelnen: Eucom, Occupation Forces in Europe Series, 1945-46, The First Year of the Occupation, Teil I: The Transition from Combat to Military Occupation (8 May - 17 July 1945), Frankfurt 1947, S. 60f. und S. 128ff.; lfZ-Archiv, Fg 38/1. 1001 Eucom, First Year of the Occupation, S. 142f. 5. Bedingungslose Kapitulation 971

Polizeiaufgaben unter dem Kommando von Generalmajor Harmon.t002 Die Angehö• rigen der Militärregierung fühlten sich bei ihrer Arbeit im Feindesland schon bald so wenig gefährdet, daß auf deutschem Territorium viele Military Government Detach­ ments gar nicht wußten, wo die nächste Truppeneinheit stationiert war, die im Falle von aufrührerischen Anwandlungen der deutschen Bevölkerung hätte zu Hilfe geru­ fen werden können. tOO ] Mit dem Truppenabbau veränderten die amerikanischen Streitkräfte in Europa ihr Gesicht völlig. Die First United States Army unter General Hodges (nach der Cha­ rakterisierung der Zeitschrift Life "wahrscheinlich die stärkste amerikanische Ar­ mee"t004), die im September 1944 als erste den Westwall durchstoßen hatte, wurde Ende Mai 1945 auf den Kriegsschauplatz im Pazifik verlegt. "Conquer", die Ninth U.S. Army von General Simpson, die den linken Flügel des amerikanischen Heeres in Mitteleuropa gebildet hatte, wurde einen Monat später in die USA zurückgeführt. Die kurze Existenz der Fifteenth Army, die kaum in die Kämpfe eingegriffen hatte und seit März 1945 vorübergehend für die Militärverwaltung im Linksrheinischen zustän• dig gewesen war, war noch 1945 wieder zu Ende. Deren Stabsoffiziere widmeten sich in einem "General Board" genannten Expertengremium der Analyse des Feldzuges; Corps und Divisionen der 15. Armee wurden anderen Verbänden unterstellt oder ebenfalls in die Vereinigten Staaten verschifft. Die drei Armeen gehörten zu der am 1. August 1944 in der Normandie operativ gewordenen Twelfth Army Group, dem Kraftzentrum der alliierten Invasionsstreitkräfte. Genau ein Jahr danach war General Omar Bradleys "Adler" - einst 1,5 Millionen Mann stark - ebenfalls nur noch eine Re­ miniszenz der Militärgeschichte. Die Seventh United States Army unter General Patch, die im August 1944 in Südfrankreich gelandet war und zur Mitte Juli 1945 ebenfalls aufgelösten amerikanisch-französischen 6. Armeegruppe gehört hatte, be­ stand noch bis zum März 1946. Danach wurde der Großteil ihrer Offiziere und Mann­ schaften dem "U.S. Constabulary" und der einzigen jetzt im ehemaligen European Theater of Operations (ETO) noch verbliebenen amerikanischen Armee, der Third Uni ted States Army ("die keckste aller Armeen und die schnellste"), zugeteilt. Aber kein halbes Jahr nachdem die Panzer von General Patton bei Pilsen und Linz haltge­ macht hatten, war der Haudegen bereits seines Kommandos enthoben. Da er auch in seiner Position als Militärgouverneur von Bayern ungeschickte und leichtfertige politi­ sche Äußerungen nicht unterdrücken konnte, blieb General Eisenhower keine andere Wahl, als ihn Ende September 1945 von seinem Kommando abzuberufen; am 21. De­ zember starb George S. PattonJr., in Heidelberg an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Zugleich mit der Demobilisierung ihrer Armeen zogen sich die Amerikaner auf ihre Besatzungszone in Süddeutschland zurück. Die Übergabe des zum britischen Ok­ kupationsgebiet gehörenden Territoriums in Nord- und Westdeutsch land, die Anfang Juni 1945 begonnen hatte, war am 9. Juli vollzogen. Anfang Juli räumten die amerika­ nischen Truppen die links- und rechtsrheinischen Gebiete, in die nun die Franzosen einrückten. Am 8. Juli zog die 1. Französische Armee aus Nordbaden und Nordwürt-

1002 Dazu Brian Arthur Libby, Policing Germany. The United States Constabulary, 1946-1952, Diss., Ann Ar· bor 1977. Vgl. auch Ziemke, U.S. Army, S. 341. 100' Vgl. Eucom, Office of the Chief Historian (Hrsg.), Civil Affairs, Frankfurt 1947, S. 137f.; IfZ-Archiv, Fg 38/7. Zum folgenden Eucom, Office of the Chief Historian (Hrsg.), Organization and Administration of the European Theater and its Headquarters, Frankfurt 1947, S. 144ff.; IfZ-Archiv, Fg 38/6. 1001 "Salute to the Armies", in: Life, 9. 4. 1945. Die übrigen Charakterisierungen ebenda. 972 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

temberg ab. Zwischen dem 1. und 4. Juli übergaben die Amerikaner die sächsischen und thüringischen Regionen Mitteldeutschlands an die Rote Armee1005 , am 6. Juli 1945 zogen die ersten Einheiten der 2nd Armored Division in den US-Sektor Berlins ein. (Die Enklave befand sich schon seit Ende Mai unter amerikanischer Kon­ trolle.) Rechtzeitig zum Auftakt der Konferenz der "Großen Drei" in Potsdam konnte das amerikanische Hauptquartier in Europa den Rückzug seiner Streitkräfte auf die vereinbarte Besatzungszone in Deutschland bekanntgeben. 1006 Sowohl die Übernahme der Besatzungszonen durch die Truppen der Westalliierten als auch die radikale Strukturveränderung der siegreichen Armeen Frankreichs, Groß• britanniens und der Vereinigten Staaten fanden noch unter dem gemeinsamen Dach der Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force, SHAEF, statt. Zwar war mit der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches der Eisenhower Anfang Fe­ bruar 1944 erteilte Auftrag erfüllt, "Operationen durchzuführen, die gegen das Herz Deutschlands gerichtet und auf die Vernichtung der deutschen Streitkräfte abgestellt sind"1007, doch stand schon lange vor dem Sieg in Europa fest, daß eine Auflösung von SHAEF erst riskiert werden sollte, wenn ein Wiederaufleben organisierten deut­ schen Widerstands ausgeschlossen werden konnte und einer Verwaltung Deutsch­ lands durch den dafür vorgesehenen Alliierten Kontrollrat nichts mehr im Wege stand. Zudem mußten nach dem Ende der Kampfhandlungen die zahlreichen Ab­ kommen und Absprachen zwischen SHAEF und den befreiten Ländern erst noch von neuen, jetzt zumeist bilateralen Vereinbarungen abgelöst werden. Es war General MarshalI, der zwar eine kurzzeitige Weiterexistenz von SHAEF be­ fürwortete, sich andererseits aber gegen damals auch kursierende Pläne aussprach, die Auflösung des Obersten Hauptquartiers aus praktischen Überlegungen und aus Grün• den einer besseren Kontrolle der Wirtschaft in den befreiten europäischen Ländern möglichst weit hinauszuschieben. In seinem Memorandum an Präsident Truman von Anfang Juli 1945 erinnerte der amerikanische Generalstabschef daran, daß das Alli­ ierte Oberkommando ins Leben gerufen worden sei, um gegen Hitler-Deutschland Krieg zu führen. Der Versuch einer britisch-amerikanischen militärischen Organisa­ tion wie SHAEF, sich maßgeblich in die Kontrolle der Wirtschaft der befreiten Staa­ ten einzuschalten, sei weder für die betroffenen Länder noch für Großbritannien und die USA akzeptabel. Außerdem müsse der Anschein, als ob Eisenhower eng mit den Engländern und den Franzosen zusammenwirke, die Russen aber ausschließe, die Ar­ beit des Kontrollrates behindern. lOoB So wurden die Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force, am 14. Juli 1945 um 00.01 Uhr aufgelöst. Siebzehn Monate lang hatte SHAEF bestanden und ein Heer geführt, "das dreißigmal größer war als die Ar­ meen der Alliierten, die Napoleon auf dem Schlachtfeld bei Waterloo besiegten", wie Eisenhower in seinem großen Rechenschaftsbericht an die Combined Chiefs of Staff herausstellte. Über 90 Divisionen und eine Armada von fast 11.000 Flugzeugen hatten ihm zu Gebote gestanden; ungefähr 160.000 alliierte Soldaten unter seinem Kom-

1005 Vgl. V1/4. 1006 Vgl. "History of the Office of Military Government for Germany (U.s.)", Mai-November 1945, S. 21; NA, RG 260, AG 1945/46,58/5. 1007 Pogue, Supreme Command, S. 53. 1008 Memorandum v. 4. 7. 1945, zit. nach Alfred D. Chandler (Hrsg.), The Papers of Dwight David Eisenhower, Bd. VI: Occupation, 1945, Baltimore 1978, S. 184, Anm. I. 5. Bedingungslose Kapitulation 973 mando hatten ihr Leben lassen müssen. 1009 "Es ist meine heiße Hoffnung und mein Gebet", so der scheidende Oberste Befehlshaber in seinem letzten Tagesbefehl, "daß die beispiel10se Einigkeit, die von den Al1iierten Nationen im Krieg erreicht worden ist, als Quel1e der Inspiration für einen dauerhaften Frieden dienen und den Weg zu ihm weisen wird." Für die amerikanischen Soldaten in Europa änderte sich mit der Auflösung des Al­ liierten Oberkommandos wenig. "Ike", der schon als Oberster Befehlshaber der Inva­ sionsarmee zugleich Oberbefehlshaber der amerikanischen Komponente der Allianz, des European Theater of Operations, U.S. Army (ETOUSA), gewesen war, blieb weiterhin ihr höchster Vorgesetzter. Er befehligte jetzt die in Europa verbliebenen Streitkräfte der Vereinigten Staaten, die United States Force in the European Theater (USFET), die ihr Hauptquartier in dem gewaltigen, völ1ig unversehrt gebliebenen Konzernsitz der I.G. Farben in Frankfurt errichteten. 10 10 Seine Position nach der Auf­ lösung von SHAEF konnte für einen Mann mit der Erfolgsbilanz und der Erfahrung, die Eisenhower (jetzt zugleich amerikanischer Militärgouverneur in Deutschland) inzwischen vorzuweisen hatte, nur eine Wartestel1ung für höhere Aufgaben sein. Am 11. November 1945 verließ er denn auch Europa, um George C. Marshal1 als General­ stabschef der amerikanischen Streitkräfte abzulösen. Zwei Wochen später traf sein Nachfolger, General Joseph T. McNarney, in Frankfurt ein. Der neue Oberbefehlsha­ ber und Militärgouverneur zeigte freilich "nur geringes Interesse für die Deutschland betreffenden Fragen", und General Clay, der Chef der amerikanischen Militärregie• rung in Deutschland, hatte noch manchen Strauß mit seinem Vorgesetzten auszufech­ ten, ehe er am 15. März 1947 dessen Ämter übernahm.loll Viele der engsten Mitarbei­ ter von Eisenhower im Stab von SHAEF und ETOUSA taten auch nach dem 14. Juli 1945 noch einige Zeit lang in Deutschland Dienst, unter ihnen Generalleutnant Wal­ ter Bedel1 Smith, der bis zum Dezember 1945 Stabschef von USFET blieb und danach als Botschafter der Vereinigten Staaten nach Moskau ging. Wie seit langem geplant, teilte USFET die amerikanische Besatzungszone am 1. August 1945 in zwei Militärdistrikte. 1012 Der Eastern Military District umfaßte das Land Bayern. Militärgouverneur war George S. Patton, Kommandierender General der dort stehenden 3. US-Armee. Als Chef des G-5 Stabes, der bald die Bezeichnung Of­ fice of Military Government for Bavaria erhielt und mit dem für Bayern bestimmten Regional Detachment verschmolzen wurde, fungierte Colonel Roy L. Dalferes, der

1009 "Report by the Supreme Commander to the Combined Chiefs of Staff on the Operations in Europe of the Allied Expeditionary Force, 6 June 1944 to 8 May 1945" v. 13.Juli 1945 (Zitat auf S. 122). Vgl. ferner Po­ gue, Supreme Command, S. 543 ff. Das folgende Zitat ebenda, S. 549. Mit welchen praktischen Proble­ men ein kleiner Stab von gut zwanzig Historikern zu kämpfen hatte, dessen Aufgabe es war, inmitten der Schlacht den wichtigsten historischen Dokumenten zu den Civil Affairs/Military Government-Aktivitäten von SHAEF nachzujagen und damit den Nachruhm des G-5 Stabes zu fördern, zeigt der ausführliche Er­ fahrungsbericht des Chefs der Historical Section, G-5, SHAEF; PRO, WO 219/3779. 1010 Siehe hierzu den "Re port on Reconnaissance Mission to Frankfurt-on-the-Main, Gennany" von USGCC v. 25.5. 1945; NA, RG 84, Polad 728/4. 1011 Vgl. hierzu die folgenden Arbeiten: John H. Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay. Der Weg zur Bundesrepublik 1945-1949, München 1983 (Zitat ebenda, S. 126). Wolfgang Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, Stuttgart 1987. In seinen Erinnerungen schreibt Robert Murphy auf S. 355: "McNarney hatte sich im Einsatz ausgezeichnet bewährt und führte die amerikanische Garnison einwandfrei, aber ihm fehlte der Sinn für Politik, der Eisenhower und Clay so auszeichnete, und er zeigte wenig Interesse für die politischen Angelegenheiten in Deutschland." 1012 Zu dieser Umorganisation vgl. Eucom, Civil Affairs, S. 102 ff. 974 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland diese Position schon seit Pattons Rheinübergang im März 1945 innehatte. Zum We­ stern Military District, dem Besatzungsgebiet der 7. US-Armee unter General Wade H. Haislip bzw. General Geoffrey Keyes (ab September), gehörten neben Bremen die württembergischen, badischen und hessischen Gebiete der US_Zone. 10I3 Den Military Government-Stab im westlichen Distrikt (Hauptquartier Wiesbaden) leitete Colonel Harvey S. Gerry. General Haislip, 1942 einer der Wegbereiter der frühzeitigen Schu­ lung von Civil-Affairs-Offizieren1ol 4, machte diesen zugleich zum Stellvertretenden Stabschef der Seventh U.S. Army, um die Bedeutung seiner Aufgabe hervorzuheben. Die vielfältigen militärorganisatorischen Umstrukturierungen waren durch die Re­ duzierung der amerikanischen Streitkräfte und deren Rückzug auf eine Besatzungs­ zone, die so viel kleiner war als das zwischen September 1944 und Mai 1945 besetzte Gebiet, unabdingbar geworden; eine Antwort auf die Frage nach der künftigen Vertei­ lung der Kompetenzen zwischen der Leitung der amerikanischen Militärregierung und dem Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland war damit aber noch nicht gefunden. Während des Feldzuges in Europa - in der mobilen Phase der Besatzungsverwaltung - hatte sich die unmittelbare Anbindung der Civil Affairs/ Military Government Detachments an die Truppenstäbe als sehr effektiv und vernünf• tig erwiesen; sie sollten der Army helfen, den Krieg zu gewinnen. Nach der Nieder­ werfung des Dritten Reiches - in der statischen Phase der Militärregierung - hatte Military Government eine ganz andere, ungleich viel anspruchsvollere Aufgabe zu er­ füllen, nämlich die Politik der Vereinigten Staaten sowie des Alliierten Kontrollrats in Deutschland und insbesondere in der amerikanisch besetzten Zone Deutschlands durchzusetzen. Zwar hatte lange vor der Invasion innerhalb und außerhalb der Army Einigkeit dar­ über bestanden, daß bis zur Kapitulation der Wehrmacht und noch einige Wochen danach ("Zwischenzeit") die Befehlshaber der in Deutschland stehenden Truppen das Heft in der Hand behalten sollten, aber irgendwann bald danach würde die Trennung von Armeekommando und Militärregierung erfolgen müssen. Praktisch bedeutete dies, daß die in Frankfurt residierende G-5 Abteilung des USFET-Generalstabes unter General Bedell Smith - nach der Auflösung von SHAEF das Führungsorgan der Mili­ tärregierung in der amerikanischen Besatzungszone - nach und nach ihre Kompeten­ zen an die am 9. August 1944 auf Befehl Eisenhowers errichtete, seither unter dem Kommando von General Cornelius W. Wickersham stehende "Uni ted States Group Control Council (Germany)"IOI5 abzutreten hatte. Es dauerte eine Weile, bis alle Offi­ ziere im amerikanischen Hauptquartier - allen voran Stabschef Bedell Smith selbst - einsahen, daß die Angelegenheiten der Militärregierung (die nach dem Ende der Kampfhandlungen natürlich die reizvollere Aufgabe in Deutschland waren) von einem Truppenstab nicht einfach miterledigt werden konnten. General Lucius D. Clay war der Mann, der dies seinen ruhmverwöhnten Kameraden in Frankfurt nahezubrin­ gen hatte. Das sollte nicht ohne beträchtliche organisatorische Probleme und handfe­ ste persönliche Konflikte abgehen.

1013 Im einzelnen hierzu: OMGUS-Handbuch. Die amerika nische Militärregierung in Deutschland 1945- 1949, hrsg. von Christoph Weisz, München 1994. 1014 Vgl. Ziemke, U.S. Army, S. 6. 1015 Zu USGCC ebenda, S. 91 H. S. Bedingungslose Kapitulation 975

Lucius D. Clay und der Aufbau der Militärregierung Die durchschlagenden Erfolge der alliierten Schlußoffensive Ende Februar 1945 ver­ langten nach einer raschen Entscheidung in der noch vor der Ardennen-Offensive aufgenommenen, danach aber zurückgestellten Suche nach einem geeigneten Kandi­ daten für das Amt des Chefs der Militärregierung in Deutschland. 1016 Präsident Roo­ sevelt gab des öfteren zu erkennen, daß ihm als Kopf der amerikanischen Kontroll­ ratsgruppe ein Politiker oder Beamter in Generalsuniform am liebsten wäre. Namen wie Averell Harriman, Harry Hopkins, John J. McCloy oder James F. Byrnes waren in Washington für diese wichtige Position im Gespräch. Letztlich gab aber die Ansicht von Kriegsminister Stimson den Ausschlag, in den chaotischen Monaten nach Kapi­ tulation oder Zusammenbruch des Dritten Reiches werde sich die Militärregierung notgedrungen auf die Streitkräfte stützen müssen, und deshalb solle ein hoher Offizier das Amt in Deutschland übernehmen. Ein Militär werde sich gegenüber den Deut­ schen, aber auch gegenüber den hochdekorierten eigenen Truppenbefehlshabern bes­ ser Respekt verschaffen können als ein Zivilist mit geborgtem Generalsrang. Eisen­ hower war erleichtert, daß ihm die - wie er aus eigener Erfahrung wußte - schwierige Zusammenarbeit mit einem Stab von Zivilisten erspart bleiben sollte, und überließ die Auswahl eines geeigneten Offiziers den Politikern. Die in Washington zirkulierenden Kandidatenlisten führten manchen bewährten General auf: zwei Männer, die sich berechtigte Hoffnungen machen zu können glaub­ ten, waren jedoch nicht darunter: Brigadegeneral Cornelius W. Wickersham und Ge­ neralleutnant Walter Bedell Smith. Wickershams Aussichten auf die Ernennung zum Stellvertretenden Militärgouverneur und Chef der amerikanischen Kontrollratsgruppe waren schon im Herbst 1944 auf Null gesunken, als John H. Hilldring, der Leiter der Civil Affairs Division des War Department, Europa besucht hatte. Nach seiner Rück• kehr machte er nämlich kein Hehl daraus, daß Wickersham schon in seinem Amt als Leiter von USGCC überfordert sei. Die Gruppe "drifte ziellos dahin", schrieb er an Ei­ senhower und Smith (die dem natürlich widersprachen). Fast alle Probleme mit dem Planungsstab könnten auf "unsichere Führung" zurückgeführt werden. 1017 Die Aus­ sichten für Bedell Smith standen besser. Er hätte an der Seite von Eisenhower sehr gerne das Amt eines Stellvertretenden Militärgouverneurs übernommen; "Smith selbst hat sich den Job in den Kopf gesetzt", schreibt ein Kenner über dessen Ambi­ tionen. 1018 Zudem war er der Kandidat von Generalstabschef MarshalI, der ihn noch aus seiner Zeit als Ausbildungsleiter in der Infanterieschule Fort Benning kannte. Die herausragende Plazierung des Stabschefs in der Hierarchie der alliierten Invasionsar­ mee und der amerikanischen Besatzungstruppen schien Smith außerdem alle Hebel bereitzustellen, um die Weichen zu seinen Gunsten zu stellen. Doch der General scheiterte am Einspruch der Politik. Kriegsminister Stimson und sein Staatssekretär McCloy sprachen ihm die erforderliche charakterliche Ausgeglichenheit und das nö• tige politische Feingefühl für die schwierige Aufgabe ab. Außerdem, so notierte der

1016 Hierzu vor allem Jean Edward Smith, Selection of a Proconsul for Germany: The Appointment of Gen. Lucius D. Clay, 1945, in: Military Affairs 40 (1976), S. 123 ft. Jetzt ders., Lucius D. Clay. An American Li!e, New York 1990. 1017 Zit. nach Ziemke, U.S. Army, S. 222, Anm. 64. 10iS Jean Edward Smith im Vorwort zu den Clay-Papers, S. XXXI. Vgl. auch Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay, S. 8. 976 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Minister in seinem Tagebuch, habe Bedell Smith "genug damit zu tun, sich um seine Aufgaben als Stabschef zu kümmern, auch ohne zu versuchen, ihnen so gänzlich an­ dersgeartete Dinge wie die zivilen Angelegenheiten Deutschlands hinzuzufügen"loI9. Da sich auch Eisenhower in Washington nicht nachdrücklich genug für ihn einsetzte, mußte der Stabschef zurückstecken. Das war eine herbe Schlappe für den zweiten Mann der amerikanischen Streitkräfte in Europa. Die Berufung Clays erfolgte am 24. März 1945, dem Tag, an dem die Armeen Ei­ senhowers den Rhein auf breiter Front überschritten hatten und zur Schlußoffensive in Deutschland übergegangen waren. Sein Name fand sich schon in einem Memoran­ dum vom Oktober 1944, in dem das Kriegsministerium die Notwendigkeit begründet hatte, einen Offizier mit der Militärregierung in Deutschland zu betrauen. Inzwischen war Clay "die einstimmige Wahl der Schlüsselfiguren der Roosevelt-Administra­ tion"lo2o. Der General, der nun in das besiegte Deutschland geschickt wurde, wußte kaum etwas über das Land, nie hatte er im Krieg gegen Hitler ein Frontkommando innegehabt. Den guten Ruf in Washington verdankte er seinen schon in der Zwi­ schenkriegszeit, dann als "Director of MaterieI" im Kriegsministerium und schließlich als Stellvertreter und rechte Hand von lames F. Byrnes (dem Direktor des "Office of War Mobilization and Reconversion") unter Beweis gestellten organisatorischen Fä• higkeiten. Im Oktober 1944 hatte er für Eisenhower (mit dem er seit den gemeinsa­ men Tagen im Stab von Douglas McArthur in Manila befreundet war) in der Norman­ die einen Engpaß beim Nachschub beseitigt. General Clay galt als der Mann, dem Washington die Lösung der in Deutschland anstehenden Probleme zutraute, die lohn ]. McCloy seinem Präsidenten einmal anschaulich so ausgemalt hatte: "Es wird zuerst primär ein militärisches Problem sein", sagte er. "Der Mann, der dorthin geht, wird sich in einer Situation wie bei einer Mississippi-Katastrophe finden. Woher sollen die Rationen kommen? Wie sind die Menschen zu ernähren? Logistische Grundpro­ bleme."1021 Die Begabung des neuen Stellvertretenden Militärgouverneurs ging aber über seine ausgeprägte Fähigkeit zum Krisenmanagement hinaus. Vielleicht weil er aus einem politischen Elternhaus stammte (sein Vater war lange Senator gewesen), fes­ selten den ungewöhnlich belesenen Soldaten zeit seines Lebens Politik und Ge­ schichte. Er verfügte über ein hohes Maß an genau jenem diplomatisch-politischen Geschick, das seinem Rivalen Bedell Smith fehlte. Byrnes setzte sich für ihn bei Roo­ sevelt unter anderem mit der Empfehlung ein, er kenne keinen Offizier des Heeres, der den Standpunkt des Zivilisten so gut verstehe wie Clay.1022 Nach lohn Galbraiths Urteil war er "einer der geschicktesten Politiker, die je die Uniform der Armee der Vereinigten Staaten getragen haben". Der Ernannte erfuhr von seiner Ernennung, die im politischen Washington längst kein Geheimnis mehr war, erst, als sie schon beschlossene Sache war. 1023 Die Beru­ fung auf die "zentral wichtige Position" (Stirnson) in Deutschland kam ihm ungelegen,

1019 Stimson-Diary, Eintragung v. 31. 3. 1945; HZ-Archiv, MA 1424. 1020 Smith, Selection of a Proconsul, S. 128. Zu Person und Berufung Clays vgl. Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay, insbes. S. 60 H. Krieger, General Lucius D. Clay, S. 54 H. 1021 Interview,JohnJ. McCloy, 16. I. 1971; zit. bei Smith, Selection of a Proconsul, S. 127. 1022 Vgl. Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay, S. 16. Das folgende Zitat aus Jean Edward Smith (Hrsg.), The Papers of General Lucius D. Clay: Germany 1945-1949,2 Bde., London 1974, S. XXXI. 1023 Vgl. Lucius D. Clay, Entscheidung in Deutschland, Frankfurt 1950, S. 15H. Murphy, Diplomat unter Kriegern, S. 299 ff. 5. Bedingungslose Kapitulation 977 denn sie verbaute ihm die Übernahme eines Feldkommandos, das er seit langem an­ strebte. Als Soldat akzeptierte er aber seine politische Mission in Übersee. Clay er­ kannte sogleich das Problem, das es in Europa als erstes zu lösen galt: "Schon im Au­ genblick, da man mir sagte, daß ich diesen Job hätte, sah ich Schwierigkeiten voraus", erinnerte er sich später. "Ich wußte, daß die Militärs diesen Job unter der Kontrolle des Generalstabs halten wollten. Ich war aber überzeugt, daß er nicht unter General­ stabskontrolle stehen könne. Das hatten wir schon seinerzeit in Kuba gelernt ... "1024 Anfang April 1945 brach General Lucius D. Clay in das Hauptquartier des Alliierten Oberkommandos in Reims auf, um sich bei seinem neuen Vorgesetzten zu melden. Der Empfang in Frankreich war kühl; nicht so sehr durch Eisenhower, der seit Herbst 1944 wußte, daß Clays Name für die wichtige Position in Deutschland gehan­ delt wurde, als von seiten Bedell Smiths. Der gab in seiner schroffen Art, mit der er Untergebene und Kollegen manchmal einzuschüchtern pflegte, dem Neuankömmling "unverblümt" zu verstehen, daß er "von der Ernennung eines Stellvertreters General Eisenhowers für die Militärregierung keineswegs angetan" sei. 1025 Im Vergleich zur Machtfülle des Stabschefs des Obersten Befehlshabers nahmen sich die Befugnisse Clays im Frühjahr 1945 noch mehr als bescheiden aus. Solange SHAEF bestand und die G-5 Stäbe der Streitkräfte für die Militärverwaltung zuständig waren, gab es für den Chef der künftigen amerikanischen Militärregierung nur wenig zu tun. Clay war ein Gouverneur in spe und hatte nur einen "Titel ohne Amt" vorzuweisen, wie er in seinen Memoiren schreibt. In den ersten Monaten nach seiner Ankunft in Europa widmete er seine Zeit deshalb größtenteils den Truppenverlegungen in den Pazifik. Doch weder das War Department noch der im Wartestand befindliche Clay selbst ver­ säumten es, alsbald deutlich zu machen, wer das Heft in der amerikanischen Zone schließlich in die Hand nehmen werde. Bevor Washington den designierten Deputy Military Governor nach Reims schickte, hatten sich bei Bedell Smith und der Mehrzahl seiner Stabsoffiziere recht ei­ genwillige Vorstellungen von ihrer künftigen Rolle in Deutschland festgesetzt. Als Entscheidungszentrum amerikanischer Besatzungspolitik dachten sie sich den Gene­ ralstab der U.S. Army in Europa. Clay sollte Chef der G-5 Abteilung unter Bedell Smith werden, der diesen Posten "für ebenso wichtig oder für wichtiger" hielt als den eines Stellvertretenden Militärgouverneurs. 1026 Die U.S. Group Control Council (Ger­ many) wurde in dieser Planung bloß als eine Art "Gesandtschaft"I027 beim Kontrollrat angesehen. Welch periphere Rolle USGCC spielen sollte, zeigte sich schon in dem Befremden des G-5 Stabes, als ihm Pläne der Kontrollratsgruppe zu Gesicht kamen, aus denen hervorging, USGCC müsse auch dem G-5 Stab Befehle erteilen können. Als er Widerstand spürte, zog General Wickersham sofort zurück. In einer Bespre­ chung mit seinen Abteilungsleitern stellte er Mitte März klar: "Es hat eine gewisse Neigung zur Aneignung der Befugnis gegeben, dem US-Zonenstab und nachgeordne­ ten Dienststellen Befehle zu erteilen. Dazu hat die Gruppe nicht die Befugnis.M028 Clay dagegen verstand die künftige Rolle von USGCC ganz anders und faßte seine

1024 Interview mit Lucius D. Clay, 16.12. 1970; zit. nach Smith, Selection of a Proconsul, S. 127. 1025 Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 21. Das folgende Zitat ebenda, S. 22. 1026 Schreiben von BedelI Smith an General Hilldring v. 3.3. 1945; zit. nach Ziemke, US. Army, S. 224. 1027 Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 67. 1028 Protokoll des Staff Meeting of Division Directors of US Group ce, 12.3. 1945; HZ-Archiv, Fg 12/1. VgL Ziemke, U.s. Army, S. 223. 978 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Kritik an den im Frühjahr 1945 schon weit gediehenen Vorstellungen von Stabschef Smith und seinen Mitarbeitern sogar noch in seinen Memoiren in recht deutliche Worte: "Ich zweifelte nicht daran, daß die Armee imstande war, wirksam zu verwalten. Wir wollten aber mehr erreichen. Unser Versuch galt der Schaffung einer deutschen zivilen Regierung auf demokratischer Grundlage. Diese unsere Hauptaufgabe gehörte nicht zum Zuständigkeitsbereich einer der fünf Stabsabteilungen des Hauptquar­ tiers."I029 Die Ambitionen des Armeestabes in Europa sind wohl nicht nur Ausdruck kurz­ sichtigen Machtstrebens einer erfolgsverwöhnten Offiziersgruppe oder des persönli• chen Ehrgeizes ihres Chefs gewesen. Neben der üblichen Neigung von Bürokratien, beständig neue Kompetenzen an sich zu ziehen, lag diesen Bestrebungen wohl ein­ fach auch eine durch Gewohnheit verengte Perspektive zugrunde. Es war für einen überaus erfolgreichen Generalstab, dem seine Civil Affairs/Military Government-Be­ fugnisse im Laufe von mehr als zwei Jahren zur Selbstverständlichkeit geworden wa­ ren, am Ende des Krieges wohl wirklich nicht leicht einzusehen, weshalb nach dem maßgeblich von ihm miterfochtenen Sieg nicht einfach alles beim alten bleiben konnte. Von Washington aus war die Notwendigkeit, Armeekommando und Militärregie• rung in Deutschland zu trennen, deutlicher zu erkennen. Etwa zur selben Zeit, als Ge­ neral Wickersham seine Gruppe ermahnte, sich keine Befehlsbefugnisse gegenüber dem Armeestab anzumaßen, notierte der amerikanische Kriegsminister in seinem Ta­ gebuch, Bedell Smith habe angedeutet, er könne neben seinen anderen Aufgaben die Militärregierung in der amerikanischen Zone einfach mitverwalten - ein Gedanke, der Stimson mißfiel: "Das ist töricht, und ich werde es nicht dulden." Vierzehn Tage spä• ter, Ende März, wurde er in seinen privaten Aufzeichnungen noch deutlicher. Smith's Pläne seien "schierer Unsinn". Eisenhowers Stabschef, so befand der Minister, "ist der Kamm ein bißchen geschwollen"lo3o. Um dem designierten Militärregierungschef den Weg zu ebnen und der Armeeführung in ebenso taktvoller wie nachdrücklicher Weise die Auffassung der politischen Führung nahezubringen, entsandte Stimson unmittel­ bar vor der Abreise Clays aus den USA seinen Staatssekretär McCloy nach Reims. Ei­ senhower, den ein besonderes Vertrauensverhältnis mit dem Emissär des War Depart­ ment verband, war zwar zunächst auch noch ein wenig zögerlich 1031, sah aber keinen Grund, gegen die wohlüberlegten Pläne Washingtons ernstlich Einspruch zu erheben. Selbst die Loyalität zu seinem langjährigen bewährten Stabschef konnte ihn nicht zu dem Versuch verleiten, die Entscheidung des Kriegsministeriums - was vielleicht in seiner Macht gestanden hätte - womöglich zugunsten seines engsten Mitarbeiters zu korrigieren. Am 17. April 1945 wurde Lucius D. Clay zum Generalleutnant befördert und hatte damit den gleichen Rang wie Drei-Sterne-General Bedell Smith. Zugleich ernannte ihn das War Department zum Stellvertretenden Stabschef der amerikanischen Streit­ kräfte in Europa. Tags darauf wurde seine Ernennung zum Deputy Military Governor bekanntgemacht, mit der das wichtige Amt des amerikanischen Vertreters im Koordi­ nierungskomitee des künftigen Alliierten Kontrollrats verbunden war. Eine Woche

1029 Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 67. 10JO Stimson-Diary, Eintragungen v. 14.3. 1945 und 31. 3.1945; HZ-Archiv, MA 1424. 1031 Ebenda, Eintragung v. 19.4. 1945. 5. Bedingungslose Kapitulation 979 später schließlich wurde Clay Kommandierender General der US Group Control Council. l032 Er löste den Civil Affairs-Pionier Wickersham (1942/43 Kommandeur der School of Military Government in Charlottesville, seit Anfang 1944 militärischer Berater von Botschafter Winant bei der European Advisory Commission in London) ab, dessen Karriere damit be endet war und der bald darauf enttäuscht in die Vereinig­ ten Staaten zurückkehrte. Mit einer fein austarierten Kombination von Kommandos und Ämtern hatte Washington seinen kommenden Mann in Deutschland etabliert. Erleichtert berichtete Robert Murphy sogleich dem Außenministerium von der inge­ niösen Lösung, mit der das War Department den Stellvertretenden Militärgouverneur an der Seite Eisenhowers zugleich im Armeekommando von USFET verankert hatte. Da Clay drei so wichtige Ämter in Personalunion vereinige, schrieb er, müsse eigent­ lich eine zufriedenstellende Koordinierung aller Besatzungsorgane und die Beseiti­ gung "aller Spuren von Konkurrenz und Reibereien" zwischen diesen möglich sein. l033 Generalleutnant Lucius D. Clay hatte nun gute Aussichten, fremde Ambitio­ nen in die Schranken zu weisen und seine Vorstellungen von Organisation und Politik der amerikanischen Besatzungsmacht zur Geltung zu bringen. Jetzt galt es, die Chance zu nutzen. Als erste bekam es die Kontrollratsgruppe zu spüren, daß mit der Ankunft Clays ein anderer Wind zu wehen begann. Sofort fiel diesem nämlich auf, daß die Gruppe, der Nukleus der künftigen Militärregierung, schon seit langem in eine falsche Rich­ tung marschiert war und daß sie dies nicht einmal bemerkt zu haben schien. Die Pla­ nungen der Gruppe waren unter anderem dadurch stark gehandikapt gewesen, daß zwischen ihr und SHAEF (das im Herbst 1944 nach Versailles übergesiedelt war) ein halbes Jahr lang nur loser Kontakt bestand. So orientierte sich die Gruppe stärker an den Erörterungen in der Londoner Europäischen Beratenden Kommission (EAC) über die zukünftige Behandlung Deutschlands und weniger an dem sich im alliierten Hauptquartier in Versailles besser abzeichnenden Bild der tatsächlichen Lage im feindlichen Territorium, das bald Besatzungsgebiet sein würde 1034; erst nach dem Rheinübergang der Alliierten ging auch das inzwischen auf gut 800 Mann angewach­ sene US-Team nach Frankreich. Ganz im Sinne der von der EAC am 14. November 1944 verabschiedeten Vereinbarung ,,Agreement on Control Machinery in Ger­ many"1035 sah die Kontrollratsgruppe es bis in das Frühjahr 1945 als ihre künftige Hauptaufgabe an, die deutschen Ministerien bzw. entsprechende deutsche Zentralbe­ hörden zu überwachen. Von dieser inzwischen gänzlich überholten Vorstellung hatte sich USGCC unter General Wickersham nicht mehr zu lösen vermocht. Zwar waren eine Reihe von Plänen unabhängig davon, in welcher Verfassung das besiegte Land vorgefunden würde, nützlich (beispielsweise Überlegungen zur Entwaffnung der Wehrmacht oder zur Rückführung von alliierten Kriegsgefangenen und Zwangsarbei­ tern), ein erheblicher Teil der unter dem Axiom, Deutschland als "funktionierenden Betrieb" übernehmen zu können, geleisteten Arbeit aber war umsonst, wie USGCC

1032 Zu den Ernennungen Clays vgl. neben seinen Memoiren Eucom, Civil Affairs, S. 81, sowie "Office of Mili­ tary Government for Germany (U.S.), U.S. Graup Contral Council to May 1945", S. 12; NA, RG 260, USGCC, 44-45/1-3. lOH Schreiben Murphys an das Außenministerium v. 10.5. 1945; FRUS 1945, III, S. 939. loH "United States Group Control Council (Germany), November 1943 - April 1945", 29seitige interne Dar­ stellung, S. 11; NA, RG 260, USGCC 44-45/1-3. 1035 FRUS, Conferences at Malta and Yalta 1945, S. 124fl. 980 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland später selbst einräumen mußte: "Die schließlich vollständige Auflösung der deutschen Ministerien machte viele Vorschläge zunichte."lo36 Auch in anderen Einheiten, die sich seit Monaten auf ihren Einsatz vorbereiteten, hielt sich die Vorstellung hart­ näckig, Deutschland gewissermaßen funktionsfähig übernehmen zu können. 1037 Von einem zentralen Planungsstab aber hätte man, wie General Clay bei seiner Ankunft in Europa auch zu erkennen gab, etwas mehr Weitsicht erhoffen dürfen. Vierzehn Tage nach seiner Ankunft in Europa schrieb Clay an James F. Byrnes, USGCC habe in einer gänzlich abgeschiedenen und akademischen Atmosphäre ge­ plant. Doch auch in Washington, so meinte er nach dem ersten Eindruck von seinem neuen Arbeitsfeld, sei man offenbar zu sehr von einem Deutschland ausgegangen, "in dem eine existierende Regierung kapituliert hat, mit einem großen Teil des Landes in­ takt". Tatsächlich aber "sieht es faktisch so aus, als ob jeder Zentimeter Boden besetzt werden muß". Dieser Mangel an Realitätssinn sei auch für eine Unmasse von USGCC­ Planungspapieren kennzeichnend, die von einem einzelnen überhaupt nicht mehr überschaut und verstanden werden könnten; die amerikanische Gruppe sei "planungs­ satt". Er habe all die zweifelhaften Planspiele deswegen mehr oder weniger abrupt ab­ brechen lassen und einen großen Teil seiner Experten in die Stäbe von SHAEF ge­ schickt, schrieb er am 7. Mai 1945 an General Hilldring, damit sie sich mit der wirklichen Lage vertraut machen könnten: "Wenn sich dies auch für die Planung un­ günstig auswirken mag, so wird es doch unsere Leute in den ,Dreck' bringen, und die Erfahrung, die sie sammeln, wird für Berlin nützlicher sein als noch mehr Planun­ gen."1038 Nachdem General Clay den Elfenbeinturm seiner Kontrollratsgruppe kräftig durch­ lüftet hatte, machte er sich mit derselben Energie daran, die Herauslösung der Militär• regierung aus der Befehlsstruktur der Besatzungsarmee zu betreiben, ein Vorhaben, das Härte und Geschick verlangte; es dauerte ein ganzes Jahr, bis diese Operation ge­ lungen war. Die ersten nach der Ankunft Clays vom amerikanischen Armeekom­ mando erlassenen Direktiven sahen vor, dem Stellvertretenden Militärgouverneur bei allen Entscheidungen, die der G-5 Stab der Army in der US-Zone fällte, lediglich den Status eines "Beraters" zuzubilligen. 1039 Das aber hätte die Umsetzung einer im Kon­ trollrat abgestimmten Politik der Alliierten - und gerade Clay gehörte zu denen, die lange Zeit genau dies anstrebten - in der amerikanischen Zone außerordentlich er­ schweren müssen. Zudem wäre die Kontrollratsgruppe von der praktischen Politik in der Besatzungszone selbst weitgehend abgeschnitten geblieben. Deshalb nahm der Stellvertretende Militärgouverneur jede Gelegenheit wahr, den Einfluß von Eisen­ howers Stabschef zurückzudrängen. Ende Mai 1945 setzte er beispielsweise eine Ex­ pertengruppe ein, die in Bayern eine Woche lang Arbeitsweise und Organisation der Military Government Detachments unter die Lupe nahm. Das Team, das von keinen

1036 "United States Group Contral Council (Germany), November 1943 - April 1945", S. 16; NA, RG 260, USGCC 44-45/1-3. 1037 Vgl. 1/5. 1038 Die Zitate sind Clays Schreiben an Byrnes v. 20.4. 1945, an McCloy v. 26.9. 1945 und an Hilldring v. 7.5. 1945 entnommen; Clay-Papers, S. 5 ff. Selbst die nunmehr revidierten Planungen, so USGCC später selbstkritisch, seien noch immer ziemlich gekünstelt und wenig realitätsgerecht gewesen. Vgl. "Office of Military Government for Germany (US.), US. Group Contral Council to May 1945", S. 20; NA, RG 260, USGCC 44-45/1-3. 1039 Vgl. Ziemke, US. Army, S. 224. Vgl. auch den Bericht Murphys an das State Department v. 3.6. 1945; FRUS 1945, III, S. 942 f. 5. Bedingungslose Kapitulation 981

Geringeren als von Lewis Douglas, Clays erstem Finanzberater, und von General Oli­ ver P. Echols (zunächst einer von Clays Stellvertretern und ab März 1946 als Leiter der Civil Affairs Division im War Department der Nachfolger John Hilldrings) angeführt wurde, gelangte unter anderem zu der bei USGCC gewiß nicht ungern gesehenen Auffassung, daß die Militärregierung auf den unteren Stufen der deutschen Verwal­ tung auf schnellstem Wege aus der Zuständigkeit der Besatzungstruppen befreit wer­ den müsse "und größere Anstrengung darauf verwandt werden soll, die Militärregie• rungs-Detachments mit den amerikanischen Zielen hinsichtlich diverser Aspekte der Militärregierung vertraut zu machen"I040. Das war kein Votum, auf das die Armee ihre ehrgeizigen Ansprüche gründen konnte. Ein wichtiger bei seinen Bemühungen um Straffung der Militärregierung und ihrer Trennung von der Besatzungsarmee erwuchs dem Stellvertretenden Militär• gouverneur in seinem Jugendfreund und West Point-Gefährten General Clarence L. Adcock, der als Leiter der G-5 Abteilung des USFET-Stabes unter Bedell Smith vor­ gesehen war. Wie Clay war er der Meinung, daß nur die Beseitigung gespaltener Zu­ ständigkeiten und die Schaffung einer einzigen Militärregierungsbehörde die Voraus­ setzung für eine wirksame politische Kontrolle des amerikanischen Besatzungsgebie­ tes schaffen könne. Noch vor Auflösung des Alliierten Oberkommandos verabredeten beide deshalb, die einzelnen Abteilungen ihrer jeweiligen Stäbe unter die Leitung des­ selben Direktors zu stellen. "Ich möchte sogar noch weiter gehen und aus Group Council in Berlin und G-5 das Amt der Militärregierung machen", schrieb Clay Ende Juni an McCloy über seine noch darüber hinausreichenden Pläne. Er sei von der Not­ wendigkeit der Verschmelzung beider Organe - auch angesichts der dünnen Decke politisch erfahrener Militärregierungsoffiziere - inzwischen überzeugter denn je. 1041 Daß Staatssekretär McCloy, dem Lewis Douglas mittlerweile persönlich Bericht erstat­ tet hatte, mit seinen Plänen einverstanden war, wußte Clay seit seiner Ernennung. Nach seiner Rückkehr von einem Aufenthalt in Washington konnte Bedell Smith nur noch zur Kenntnis nehmen, wie weit der Stellvertretende Militärgouverneur seine Pläne inzwischen vorangetrieben hatte. Damit war die entscheidende Bresche in die Abwehrfront des amerikanischen Ar­ meekommandos in Europa geschlagen. Clay konnte freilich nur deshalb so zielstrebig vorgehen, weil er sich der Unterstützung Washingtons sicher war. Deshalb erübrigte es sich für ihn auch, aus der Angelegenheit einen spektakulären "Fall" zu machen, was ihm damals, so betonte er noch in seinen Memoiren, durchaus möglich gewesen wäre. Im Juni 1945, nur ein gutes Vierteljahr nach seiner Ernennung, hatte er den "Macht­ kampf"lo42 mit dem Generalstabschef der amerikanischen Streitkräfte in Europa ziemlich lautlos für sich entschieden. Zugleich mit der Weichenstellung für eine Vereinheitlichung der Militärregierungs• spitze wurde die - unumstrittene - Vereinfachung des Befehlsweges hinunter zu den örtlichen Detachments eingeleitet. Ebenfalls noch im Juni wurden die Kampfver­ bände, die seit den Tagen der Invasion die Civil Affairs/Military Government-Opera­ tionen getragen hatten, von ihrer unmittelbaren Verantwortung für die Detachments

1040 Bericht Murphys an das State Department v. 13.6. 1945; FRUS 1945, III, S. 945. loH Schreiben Clays an McCloy v. 29.6. 1945, in: CIay-Papers, S.40. Vgl. auch Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 69. Dort auch das folgende Zitat. 1042 Ziemke, U.S. Army, S. 402. 982 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland entbunden; ab Mitte Juli ging sie auf USFET bzw. auf die beiden kurzlebigen Militär• distrikte über. 1043 Aus deutscher Perspektive war das nur eine wenig ins Gewicht fal­ lende Verschiebung der Kompetenzen auf seiten der Besatzungsmacht, für die Masse der G-5 Offiziere in den Corps und Divisionen aber war damit das Ende einer Ära ge­ kommen. Ihr Auftrag, als Military Government Officers den Krieg gewinnen zu hel­ fen, war jetzt erfüllt. Der Militärgouverneur und Oberkommandierende der amerika­ nischen Streitkräfte erachtete es deshalb auch für nötig, seinen Soldaten das binnen eines Jahres völlig gewandelte Verhältnis zwischen den Aufgaben der Truppe und dem Auftrag der Militärregierung zu beschreiben. Auf einer großen Tagung von Trup­ penoffizieren und Angehörigen der Militärregierung im Hauptquartier in Hoechst Ende August 1945 erklärte General Eisenhower, "daß die primäre Aufgabe der Armee in Europa nun die Militärregierung ist und daß sämtliche Teile der Armee dieser Auf­ gabe ihre vollständige Kooperation und Unterstützung zu geben haben". Verständli• cherweise fiel es so bald nach dem Ende der Kämpfe nicht allen seinen Zuhörern leicht, umzudenken und säuberlich zwischen den gänzlich verschiedenen Funktionen einer mobilen Militärverwaltung während des Einmarsches in ein feindliches Land und einer fest etablierten Militärregierung zu unterscheiden, die in dem eroberten Land die politischen Ziele der Siegermacht umzusetzen hatte. Der Stellvertretende Militärgouverneur maß dem Appell von General Eisenhower große Bedeutung bei. "Diese Ansprache", schrieb Clay zufrieden an das Kriegsministerium, "müßte die au­ ßerordentlich wohltätige Wirkung haben, den Job in die rechte Perspektive zu rük• ken."lo44 Im Spätsommer 1945, als Eisenhower seine Soldaten zum Umdenken aufrief, hatte auf seiten der Besatzungsmacht ein Gemisch aus unmittelbaren Zwängen und weiter­ reichenden politischen Überlegungen bereits eine unwiderstehliche Schubkraft entfal­ tet. Das führte binnen weniger Wochen eine definitive Klärung des Verhältnisses der Okkupationstruppen zur Militärregierung und damit auch die Umorganisation und entscheidende Festigung der amerikanischen Besatzungsverwaltung in Deutschland herbei. Nach der Kapitulation war abzusehen gewesen, daß der Militärverwaltung in dem sofort einsetzenden Demobilisierungsfieber ein großer Teil gerade ihrer erfahren­ sten Kräfte verlorengehen würde; ein gleichwertiger Ersatz war nicht zu finden. Clay hegte zudem die berechtigte Befürchtung, der Kongreß werde die Aufrechterhaltung des aus der "Kampfphase" hervorgegangenen personalintensiven, kostspieligen Appa­ rates der MilitärverwaItung kaum sehr lange tolerieren. 1045 Dies um so weniger, als mittlerweile alle Beobachter darin übereinstimmten, daß in den besetzten Gebieten mit ernsten Sicherheitsproblemen nicht mehr zu rechnen sei. Aus dieser Not verstand Clay es, eine Tugend zu machen.1046 Je eher in der amerikanischen Zone deutsche Landesregierungen installiert waren, so Clays Kalkül, desto früher konnte er den De­ tachments unterhalb der Länderebene ihre unmittelbare Weisungsbefugnis nehmen

1013 Hierzu vgl. Eucom, Civil Affairs, S. 87ff. 10" Schreiben Clays an McCloy v. 3. 9.1945, in: Clay-Papers, S. 66. Vgl. auch das Schreiben Murphys an das Außenministerium v. 1. 10. 1945; FRUS 1945, Ill, S. 970. 1045 Vgl. dazu Murphys Schreiben an das State Department v. 8.9. 1945; FRUS 1945, Ill, S. 960. 1016 Ziemke, U.S. Army, S. 364. Zur Konsolidierung von Militärregierung und deutscher Verwaltung im Herbst 1945 vgl. auch John Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland 1945-1949, Frank­ furt 1968, S. 74ff. Vgl. auch das 1. Kapitel ("Der General nimmt die Zügel in die Hand") in der Studie von Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay, S. 13 ff. S. Bedingungslose Kapitulation 983 und sie personell radikal ausdünnen. Das würde endlich zu der dringend erforderli­ chen Vereinheitlichung und Verstetigung der Verwaltung führen und die Militärregie• rung von der über längere Dauer gar nicht tragbaren Bürde befreien, das besetzte Land selbst verwalten zu müssen. Die Entmachtung der anfangs zum Teil recht autokratisch auftretenden lokalen Detachments versprach nicht nur eine gleichförmigere Umset­ zung amerikanischer Politik in der Zone, dadurch konnten endlich auch die Prinzi­ pien der "indirekten Herrschaft" zur Anwendung gelangen, die der Ausbildung des Militärregierungspersonals zugrunde gelegen hatten und die bisher nur wenig Beher­ zigung hatten finden können. In einer der regelmäßigen Stabsbesprechungen sagte Clay Mitte September 1945 seinen Direktoren, er habe das Gefühl, "daß wir zuviel Verantwortung selbst übernehmen. Er sei dafür", so das Protokoll, "diese Verantwor­ tung auf die Schultern der deutschen Länderbehörden zu legen."lo47 Diese organisatorischen Notwendigkeiten harmonisierten ausgezeichnet mit den politischen Vorstellungen und Verpflichtungen der Vereinigten Staaten. In Potsdam hatten sich die Siegermächte darauf geeinigt, die lokale Selbstverwaltung in Deutsch­ land nach demokratischen Grundsätzen rasch wiederherzustellen, politische Parteien zuzulassen, bald Wahlen abzuhalten und zentrale deutsche "Verwaltungsabteilungen" zu errichten. Im Gegensatz zu den meisten seiner Berater, im Gegensatz auch zur Überzeugung der meisten deutschen Politiker, sah General Clay in den von ihm für Anfang 1946 angesetzten kommunalen Wahlen wohl tatsächlich eine für die Deut­ schen nützliche und durchaus nicht verfrüht kommende Übung in praktischer Demo­ kratie. Außerdem konnte er damit den ab Herbst 1945 zugelassenen politischen Par­ teien ein ausreichendes Betätigungsfeld zuweisen. Was Clay öffentlich selten aus­ sprach 1048, was bei seinem gleichzeitigen Drängen auf Abbau der Militärregierungs• kontrolle in den Städten und Landkreisen und bei seinem Bestehen auf baldigen Kommunalwahlen aber eine wichtige Rolle gespielt hat, war die politisch umsichtige Überlegung, daß es riskant sei, die örtlichen Detachments zu entmachten, ohne gleichzeitig die nun gewissermaßen an deren Stelle tretenden deutschen Stadt- und Landkreis-"Regierungen" von der Bevölkerung mit einer ausreichenden Legitimation versehen zu lassen. Die unabweislichen Forderungen der inneren Organisation der Militärregierung und die Postulate der Konferenz von Potsdam waren kaum geschick­ ter miteinander zu versöhnen, als der Stellvertretende Militärgouverneur es nun tat. Dieser innere Zusammenhang der von Lucius D. Clay durchgepaukten Politik des "Übertragens auf die Deutschen" ist mitunter übersehen worden. Selbst ein so scharf­ sichtiger Beobachter wie Harold Zink meinte dazu: "Es kann schwerlich behauptet werden, daß in der amerikanischen Zone viel gewonnen wurde, indem man hinsicht­ lich der Wahlen so schnell vorging."I049 Wie mancher Beobachter damals und später unterschätzte Zink die Tatsache, daß die notwendige, zugleich höchst sachgerechte und den deutschen Spielraum erheblich erweiternde Strukturreform der amerikani­ schen Militärregierung eine in freien Wahlen gefestigte Selbstverwaltung geradezu zur Voraussetzung hatte. So wie Clays Berater vor frühen Wahlen warnten ("ein voreiliger Sprung in das, was als Demokratie gilt"), so sträubten sich die Offiziere in den Detach-

1047 Staff Meeting v. 15.9. 1945; HZ, Fg 12/2. Vgl. hierzu auch Clays Schreiben an Hilldring v. 7.5. 1945; Clay-Papers, S 11. 1048 Vgl. aber seinen Bericht an McCloy v. 16.9. 1945; Clay-Papers, S. 77. 10'9 Zink, American Military Government, S. 182. 984 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland ments beinahe einhellig gegen den scharfen Schnitt, der nun geführt werden sollte. 1050 Der Stellvertretende Militärgouverneur ging über alle Bedenken hinweg, ohne es je­ doch zu versäumen, seine Politik mit einer suggestiven Verpackung zu versehen: "Wir wollen nicht den low level job", pflegte er seinen Männern zu sagen. "Wir wollen, daß die Deutschen ihn tun."I051 Nachdem der Kontrollrat seine Arbeit aufgenommen hatte und in den Vereinbarungen von Potdam die Grundzüge der Behandlung des be­ siegten Deutschlands festgelegt waren, duldete die Verwandlung der Militärregierung in ein schlagkräftiges Exekutivorgan amerikanischer Politik keinen Aufschub mehr. Denn schon meldeten sich ernstzunehmende kritische Stimmen zu Wort. Robert Murphy berichtete beispielsweise von internen Analysen der Kontrollratsgruppe, die zu dem Schluß kamen, "daß die Militärregierung weniger entwickelt sei als erwartet. Viele - vielleicht die meisten - der Schwierigkeiten haben ihren Grund in der inter­ nen Organisation und Arbeitsweise der Militärregierung und hängen nicht mit Fragen der Politik zusammen."1052 Fast alle Anordnungen, mit denen die Weichen für die gleichzeitige Klärung der Strukturen auf deutscher und amerikanischer Seite gestellt wurden, stammen vom Herbst 1945. In General Eisenhowers Proklamation Nr. 2 wurden mit Bayern, Groß• hessen und Württemberg-Baden "Verwaltungsgebiete gebildet", so der Text, "die von jetzt ab als Staaten bezeichnet werden"1053. Bald darauf standen der Militärregierung mit Kar! Geiler, Wilhelm Hoegner und Reinhold Maier drei deutsche Regierungs­ chefs gegenüber, die sich zu dieser in einer Art persönlichem Verantwortungsverhält• nis befanden. "Wir müssen uns der Ministerpräsidenten bedienen", bedeutete Clay seinen Abteilungsleitern, "und nur drei Deutschen Weisungen erteilen."1054 Einen Tag nach der Proklamation des amerikanischen Oberbefehlshabers wies USFET die Militärregierungen in den Ländern an, bis spätestens zum 10. Oktober von den Deut­ schen Wahlgesetze für die auf Anfang 1946 angesetzten Kommunalwahlen ausarbei­ ten zu lassen. l055 Ende September hatte Clay seine Direktoren zudem mit dem Plan bekannt gemacht, im amerikanischen Besatzungsgebiet einen Rat der Ministerpräsi• denten zu bilden. Keine drei Wochen später - Kar! Geiler war gerade einen Tag im Amt - fand am 17. Oktober 1945 in Stuttgart die konstituierende Sitzung des Länder• rats statt. Parallel dazu gelangten General Clays Bestrebungen, die Militärregierung zu einem schlagkräftigen Organ zu formen, an einen ersten Meilenstein. Am 1. Oktober 1945 konstituierte sich seine knapp 5000 Mann starke Kontrollratsgruppe in Ber!in als "Of­ fice of Military Government for Germany (U.5.)". Am selben Tag wurde in Frankfurt die G-5 Abteilung aus dem Generalstab der amerikanischen Streitkräfte in Europa

10'0 Vgl. dazu die folgenden Historical Reports für 1945/46: Militärregierung von Württemberg-Baden, S. 19; HZ-Archiv, Fg 21. Militärregierung von Hessen, Section 1, S. 7 1., und Section 2, S. 5; HZ-Archiv, Fg 27. Das Zitat entstammt einem von Earl F. Ziemke in "Improvising Stability and Change in Postwar Ger­ many" (in: Robert Wolfe [Hrsg.), Americans as Proconsuls. United States Military Government in Ger­ many andJapan, 1944-1952, Carbondale 1984), S. 66, überlieferten Detachment-Bericht zu den geplanten Kommunalwahlen. 1051 Zit. nach Ziemke, U.S. Army, S. 404. 1o" Bericht Murphys an das State Department v. 22. 9. 1945; FRUS 1945, III, S. 966. 10" Zit. nach R. Hemken (Hrsg.), Sammlung der vom Alliierten Kontrollrat und der Amerikanischen Militär• regierung erlassenen Proklamationen, Gesetze, Verordnungen, 3 Bde., Stuttgart 0.]. lOH OMGUS Staff Meeting v. 17.11. 1945; HZ-Archiv, Fg 12/2. 10" Vgl. Monthly Report of the Military Governor, Mai 1946, S. 3; HZ-Archiv, Dk 101.006. 5. Bedingungslose Kapitulation 985 ausgegliedert und in das "Office of Military Government (U.S. Zone)" - OMGUSZ - umgewandelt. I056 Ihre Weisungen empfing die vornehmlich mit Überwachungsfunk• tionen betraute Frankfurter Behörde General Adcocks von OMGUS Berlin. Den we­ nige Monate zuvor noch so mächtigen G-5 Stab gab es nun nicht mehr. "Künftig", be­ merkte bald darauf eine Studie der Army etwas wehmütig, "sollte die Militärregierung ihren eigenen Weg gehen - sollte als eine von den taktischen Streitkräften getrennte Sache angesehen werden"I057. Dabei war Clay noch recht behutsam verfahren. Zwar hatte er bei der Errichtung von OMGUS angekündigt, daß der Dependance in der Zone, bei der eine Anzahl von G-5 Offizieren fürs erste unterkommen konnten, nur eine kurze Existenz beschieden sein würde lo58 ; er war jedoch versiert genug, die für manchen schmerzliche Trennung der Militärregierung von der Besatzungstruppe nicht über das Knie zu brechen. Es dauerte bis zum 1. April 1946, ehe OMGUSZ, das zuletzt nur noch ein Schattendasein führte, aufgelöst wurde. Einige Zuständigkeiten verblieben aus praktischen Gründen allerdings auch nach der Konsolidierung der Be­ satzungsbehörden bei der Army. Im wesentlichen waren das "alle Funktionen, die mit der Kontrolle großer Menschengruppen zu tun haben"lo59, die Betreuung der Dis­ placed Persons etwa, das Kriegsgefangenen- und Interniertenwesen, aber beispiels­ weise auch die Durchführung der Kriegsverbrecherprozesse. Ein weiteres "hochwichtiges Dokument" - so Robert Murphy - aus der Serie der Herbsterlasse wurde ebenfalls Anfang Oktober 1945 verabschiedet. In logischer Er­ gänzung zur Klärung der Kompetenz an der Spitze der Militärregierung regelte es den künftigen Status der untergeordneten Besatzungsorgane in der amerikanischen Zone. I060 Danach erlosch zum 15. November 1945 das unmittelbare Weisungsrecht der örtlichen Detachments an die deutschen Behörden, zum 15. Dezember 1945 die Befehlsbefugnis der Militärregierungsteams in den Regierungsbezirken. I061 Ab Jahres­ anfang sollten sämtliche amerikanischen Anordnungen ausschließlich über die deut­ schen Landesregierungen laufen. Am selben Stichtag wurden deren Gegenüber, die "Offices of Military Government" in den Ländern (mit den "Land Directors" an der Spitze), autonome, von der Besatzungstruppe unabhängige Kommandos, die ihre Richtlinien und Befehle jetzt direkt aus Berlin bzw. aus Frankfurt empfingen. Unmittelbar nach Abschluß der Konferenz der Großen Drei in Potsdam hatte Lu­ cius D. Clay seinen Stab, das künftige "Office of Military Government for Germany (U.S.)", von Hoechst in die alte Reichshauptstadt verlegt, die nach seiner Erwartung bald "der Schwerpunkt der Regierung"I062 in Deutschland sein würde. In direktem und bezeichnendem Gegensatz zum Verhalten des französischen Verbündeten, der sein Entscheidungszentrum die gesamte Besatzungszeit hindurch in Baden-Baden be-

10'6 Vgl. hierzu "Office of Military Government for Germany (U.S.), May 1945 - November 1945"; NA, RG 260, AG 1945/46-5815. Eucom, Civil Affairs, S. 107 ff. Bericht Murphys an das State Department v. 1. 10. 1945; FRUS 1945, III, S. 969 ff. 1057 Eucom, Civil Affairs, S. 108. 10'8 Vgl. Clays Schreiben an McCloy v. 16.9. 1945; Clay-Papers, S. 74ff. 10'9 Eucom, Civil Affairs, S. 129. 1060 Gemeint ist die USFET-Direktive "Reorganization of Military Government Channels in Order to Develop German Responsibility for Self-Government" v. 5. 10. 1945. Vgl. das Schreiben Murphys an das State De­ partment v. 23. 10. 1945; FRUS 1945, III, S. 990. Dort auch das Zitat. 1061 Vgl. dazu etwa den Historieal Report des Office of Military Govemment for Greater Hesse, Oktober 1945-Juni 1946, Section 1, S. 7. Im Juni 1946 wurden die Kreis-Detachments in meist mit nur zwei, drei Offizieren besetzte "Liaison and Security Offices" umgewandelt. 1062 Memorandum v. 11. 4. 1945; FRUS 1945, III, S. 934. 986 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

ließ ,063, kam in dem Wechsel nach Berlin auch Clays Plädoyer für eine gemeinsame alliierte Politik in Deutschland zum Ausdruck. ,o64 Mit den für die deutsche Selbst­ verwaltung und die amerikanische Militärregierung wegweisenden Entscheidungen, die im Sommer 1945 vorbereitet und im Herbst gefällt wurden, war - nur ein Jahr nachdem die ersten Soldaten der U.S. Army ihren Fuß auf deutschen Boden gesetzt hatten - die mobile militärische Struktur der amerikanischen Besatzungsverwaltung endgültig von einer stabilen politischen Militärregierung abgelöst. Damit begann in der Tat "eine neue Ära"'065.

Der Primat des Pragmatismus Die Verabschiedung der Army-Stäbe aus dem Geschäft des Military Government be­ deutete nicht, daß Lucius D. Clay damit gleichzeitig auch deren seit den ersten Tagen der Besetzung im Herbst 1944 eingeschlagenen Kurs einer pragmatischen Stabilisie­ rung verlassen hätte. Das Gegenteil war der Fall. In keiner Minute neigte der neue Mi­ litärgouverneur zu jenen Vae-victis-Visionen, wie sie sich bei einigen Verfechtern ei­ nes "harten" Friedens innerhalb der Administration in Washington noch immer hiel­ ten und wie sie insbesondere in der öffentlichen Meinung gerade im Frühjahr 1945 - als das Verbrecherturn des Hitler-Regimes unverhüllt zu besichtigen war 1066 - be­ trächtliche Wellen schlugen. 1067 Andererseits wußte General Clay, was die Nation nach der Niederschlagung des NS-Regimes vom Chef der amerikanischen Militärre• gierung in Deutschland hören wollte. Also erklärte er, ganz wie es die heimischen Korrespondenten erwarteten, auf seiner im Hotel Scribe in Paris abgehaltenen ersten Pressekonferenz in Europa: "Ich möchte ganz klarmachen, daß die Regierung, die wir in Deutschland einzurichten gedenken, eine Militärregierung sein wird, und daß die Deutschen auch spüren werden, daß sie es mit einer Militärregierung zu tun haben. Wir haben Zeit genug, um später die langfristigen Verhältnisse Deutschlands und die Regeneration des deutschen Volkes zu bedenken. Unser erstes Ziel besteht jedoch darin, die Reste der Macht zu zerschlagen, die Deutschland zur Entwicklung eines künftigen Kriegspotentials verblieben sein mögen, die Nazis aus der Macht zu jagen und von der Macht fernzuhalten. Kriegsverbrecher werden für ihre Verbrechen mit dem Leben bezahlen, mit ihrer Freiheit und mit ihrem Schweiß und ihrem BlUt."'068 Das hörte sich gut an, aber als Clay diesen Fanfarenstoß tat, wußte er längst, daß es in Deutschland nach dem brutalsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kol­ laps seit dem "Zusammenbruch des Römischen Reiches" (wie McCloy in einem Me­ morandum für Präsident Truman sagte '069), "in der vielleicht schlimmsten Situation, die die Welt je gesehen hat" (wie Kriegsminister Stimson in seinem Tagebuch no-

106' Vgl. dazu Klaus-Dietmar Henke, Politik der Widersprüche. Zur Charakteristik der französischen Militär- regierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: VfZ 30 (1982), S. 508ff. 1064 Vgl. hierzu Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik, S. 52. Vgl. auch Ziemke, U.S. Army, S. 402. 106> Eucom, Civil Affairs, S. 109. 1066 Vgl. VII/2 und V1I/3. 106, Zur Besatzungsplanung vgl. 1/5. 1068 Pressekonferenz General Clays am 16.5. 1945; NA, RG 260, 15/107-1/13. 1069 Memorandum McCloys an Truman v. 26.4. 1945; zit. nach Krieger, General Lucius D. Clay, S. 61. Diese Studie gibt eine gute Vorstellung von dem frühen Kurs des Generals in Deutschland. Auch in ihren Wer­ tungen rückt sie die Bedeutung des Einflusses der Morgenthau-"Schule" präziser zurecht als die farbige Arbeit Backers, Die deutschen Jahre des Generals Clay. Auf diese beiden Werke - sowie auf die Arbeiten von Gimbel und Ziemke - stützt sich das folgende vor allem. 5. Bedingungslose Kapitulation 987 tierte 1070), zuallererst darauf ankam, zu kitten, zu flicken und zu helfen, und nicht dar­ auf, das Chaos mutwillig zu vergrößern. Bereits am Tag, als Hitler seinen letzten Geburtstag feierte, hatte Clay in einem Brief an James F. Byrnes seinem Erstaunen darüber Ausdruck gegeben, wieviel größer, als man in Washington angenommen habe, Zerstörung und Desorganisation in dem Besetzungsgebiet doch seien. Dadurch, so schrieb er in diesen Monaten mehr als ein­ mal nach Hause, sei eines der Hauptziele der Besetzung, die Ausschaltung des deut­ schen Kriegspotentials, bereits erreicht. Für lange Zeit brauche man sich darum nicht mehr zu sorgen. Es werde in Deutschland Jahre dauern, "eine Wirtschaft zu schaffen, die wenigstens in der Lage ist, das bare Minimum an Lebensstandard zu ermöglichen". Deshalb dürfe die Industrieproduktion nicht eingeengt werden, vielmehr sei sie in Gang zu setzen. Am Tag, als in Reims die Kapitulationsurkunde unterzeichnet wurde, wandte sich Clay ein weiteres Mal an das Kriegsministerium. Er sei sich bewußt, schrieb er an General Hilldring, daß der tatsächliche Zerstörungsgrad in Deutschland nach Erhebung aller Daten vielleicht niedriger anzusetzen sei, als es der Anschein mo­ mentan erwarten lasse, auf jeden Fall seien die Schäden aber sehr viel schwerer, als die meisten Besatzungsplaner in Washington angenommen hätten. "Für mich erfordert ,Härte' gegenüber Deutschland keine unnötige Zerstörung der Wirtschaft", stellte er sodann klar. "Härte ist nun psychologisch wichtig, um dem deutschen Volk zu zeigen, wie schwer Deutschlands Militärrnacht geschlagen worden ist." An McCloy schrieb Clay bald darauf, Kälte und Hunger würden den Deutschen im kommenden Winter die Konsequenzen des von ihnen vom Zaun gebrochenen Krieges schon vor Augen führen, aber der Chef der amerikanischen Militärregierung fügte auch hinzu: "Zwi­ schen der Kälte und dem Hunger, wie sie für diesen Zweck erforderlich sind, und der Kälte und dem Hunger, die menschliches Elend schaffen, besteht ein großer Unter­ schied. Wir sind vielleicht nicht imstande, letzteres zu verhüten, aber es ist gewiß un­ sere Pflicht, es zu versuchen."1071 Um den von ihm für unabdinglich gehaltenen Kurs einer notdürftigen Stabilisie­ rung von Wirtschaft und Gesellschaft im besetzten Gebiet steuern zu können, setzte Clay sich zunächst für eine Modifizierung der im Frühjahr 1945 verabschiedeten, wäh• rend der SHAEF-Periode aber noch nicht in Kraft befindlichen Direktive JCS 1067 ein. Er sah aber schnell ein, daß dies nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig war. Die maßgeblichen Männer im War Department - Stimson, McCloy, Hilldring -, die genauso dachten wie der Militärgouverneur und sein Stellvertreter, waren bereits bei der Abfassung der Direktive (vor allem mit der Plazierung der "Krankheits- und Un­ ruhe" -Formel 1072) auf der Hut gewesen, um mittels interpretationsfähiger Kompro­ mißbestimmungen die relative Entscheidungsfreiheit der Army im besetzten Gebiet zu sichern. Jetzt liehen sie ihrem Mann in Deutschland die nötige Rückendeckung, um ihm die pragmatische Auslegung seiner Richtlinien zu erleichtern. Obwohl die "hard peace"-Fraktion in Washington politisch inzwischen aus dem Felde geschlagen

1070 Stimson-Diary, Eintragung v. 19.4. 1945; HZ-Archiv, MA 1424. 1071 VgL die Schreiben und Berichte Clays an Bymes v. 20.4. 1945 (dort das erste Zitat), an McCloy v. 26.4. 1945, an Hilldring v. 7.5. 1945 (dort das zweite Zitat) und wiederum an McCloy v. 16.6. 1945 (dort das dritte Zitat); C1ay-Papers, S. 5 f., S. 7 ff., S. IOff. und S. 23f. 1072 VgL 1/5. 988 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland schien, waren die Befürworter eines Karthago-Friedens unter den Mitarbeitern der Militärregierung und im Kongreß noch immer eine nicht zu unterschätzende Potenz. Ende Mai 1945 antwortete General Hilldring, der Direktor der Civil Affairs Divi­ sion im Kriegsministerium, auf die Modifizierungswünsche von Clay. So hinderlich JCS 1067 momentan erscheinen möge, schrieb er, so werde sich doch bald zeigen, daß es für die Streitkräfte und auch für Clay selbst das beste sei, über eine von der Regie­ rung der Vereinigten Staaten gebilligte Richtlinie zu verfügen und nicht gewisserma­ ßen persönlich die Verantwortung übernehmen zu müssen. Denn bald, wenn die Öf• fentlichkeit sich für die Verhältnisse in der amerikanischen Besatzungszone zu inter­ essieren beginne, sagte Hilldring zutreffend voraus, werde der Stellvertretende Militär• gouverneur in Deutschland vor allem zwei Dinge dringend nötig haben: Rückendek• kung durch die Regierung und den besten PR-Mann des Abendlandes. Im übrigen werde die langfristige Politik nach den Fakten auszurichten sein, die Clay im Besat­ zungsgebiet vorfinde - eine Idee und Absicht, deren Keim Staatssekretär John J. McCloy in der AnweisungJCS 1067 gelegt habe. lo73 McCloy selbst, der wohl umsich­ tigste und weitsichtigste besatzungspolitische Stratege in Washington, hatte General Clay schon zwei Wochen nach dessen Amtsantritt deutlich gemacht: "Für die Bevöl• kerung muß sofort etwas Konkretes getan werden, wenn sie nicht im nächsten Winter verelenden soll. Abgesehen von humanitären Erwägungen bin ich überzeugt, daß es vom finanziellen Standpunkt aus und wegen der Rohstoffe und der Arbeitskraft zum Vorteil der Vereinigten Staaten gereichen wird, dieses Volk zu retten, statt es dem Un­ tergang preiszugeben." McCloy wie bald darauf auch Minister Stimson selbst ver­ säumte es nicht, sich in diesem Sinne Ende April 1945 auch an den neuen Präsiden• ten zu wenden, der sich einen ersten Einblick in die Deutschlandplanung zu verschaf­ fen suchte. lOH Trotz des häufig herausgestellten Diktums des ersten Finanzberaters von General Clay, Lewis Douglas, die Direktive JCS 1067 sei von ökonomischen Idio­ ten ausgearbeitet worden, ist seit den Forschungen von John Gimbel erwiesen, daß der Stellvertretende Militärgouverneur und das Kriegsministerium in den Richtlinien schon vor Potsdam eine brauchbare, den Kurs der pragmatischen Stabilisierung in Deutschland kaum behindernde Anweisung erblickten. lo75 Clays Erinnerung kam in diesem Punkt den Tatsachen näher als seine Memoiren. Durch großzügige Auslegung und kleine Abweichungen, sagte er Jahre später in einem Interview, "begannen wir JCS 1067 langsam auszuradieren"I076. Wirksamer Flankenschutz bei der auf der Tradition der Army und den seit Herbst 1944 gemachten Erfahrungen fußenden, aus Realismus und Pragmatismus geborenen und mit politischer Sensibilität betriebenen Dehnung der Direktive JCS 1067 erwuchs den Streitkräften aus einer ansonsten eher widerstrebend übernommenen Verpflich­ tung, die ihnen von Präsident Truman auferlegt wurde. Noch vor der Kapitulation Deutschlands, danach mit zunehmender Deutlichkeit, zeigten übereinstimmende Analysen, daß im befreiten Europa ein Engpaß der Kohleversorgung von Ausmaßen bevorstand, der, falls nicht Abhilfe geschaffen wurde, unweigerlich zu katastrophalen

1073 Vgl. Ziemke, u.s. Army, S. 2831. Dort auch das Zitat aus dem Schreiben Hilldrings v. 21. 5. 1945. 1074 Vgl. Krieger, General Lucius D. Clay, S. 61. Dort auch das Zitat aus dem Schreiben McCloys an Clay v. 25.4. 1945. 107> Vgl. Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik, S. 25. 1076 Interview am 16.7. 1974; zit. nach John H. Backer, From Morgenthau Plan to Marshall Plan, in: Wolfe (Hrsg.), Americans as ProconsuIs, S. 158. 5. Bedingungslose Kapitulation 989

Folgen für die Bevölkerung und zu gefährlichen politischen Eruptionen führen mußte. Spätestens seit dem Bericht, den Lord Hyndley und Charles J. Potter Anfang Juni 1945 vorlegten, war klar, daß Deutschland als Lieferland (" ... ungeachtet der Kon­ sequenzen für Deutschland ... "'077) nicht ausfallen durfte. Der amerikanische Präsident zögerte nicht, seiner Besatzungsarmee zu befehlen, unverzüglich alle der Förderung und dem Export von Kohle aus Deutschland dienlichen Schritte einzuleiten. Diese Entscheidung nun war für die gesamte deutsche Wirtschaft bedeutsam, wie Stimson den Präsidenten bald eindringlich vor Augen führte. Ein Wirtschaftsexperte aus dem Stabe Robert Murphys hat Ende Juni 1945 die viel­ fältigen praktischen Hindernisse anschaulich beschrieben, die es zu überwinden galt, um eine Erhöhung der Förderquote zu erreichen. Daneben verwies er aber auch auf den stimulierenden ökonomischen Effekt, der sich aus der Ankurbelung des Bergbaus zwangsläufig in Deutschland ergeben mußte. In der Analyse, die der politische Berater Eisenhowers sofort an das Außenministerium weiterleitete, hieß es, alle Fachleute von Armee und Militärregierung im Besatzungsgebiet seien der Auffassung, "daß eine ge­ nerelle Wiederherstellung der Wirtschaft betrieben werden muß, um die Kohlepro­ duktion erheblich zu steigern". Auf höchster politischer Ebene müsse eine Entschei­ dung getroffen werden, "in welchem Maße die deutsche Industrie angesichts des dringenden Bedarfs an deutscher Kohle in den befreiten Ländern wiederbelebt wer­ den soll",078. Zur selben Zeit betonte auch Clay gegenüber dem Kriegsministerium: "Eine erfolgreiche Förderung von Kohle in großem Maßstab erfordert eine gewisse Wiederherstellung der deutschen Wirtschaft und eine gewisse industrielle Tätigkeit in Deutschland zur Stützung der Kohleförderung.",079 Ende Juli 1945, in den letzten Ta­ gen der Konferenz von Potsdam, übertrug der Präsident der Army die Verantwortung für die im Zusammenhang mit seiner Entscheidung über die Kohlelieferungen aus Deutschland notwendig werdenden Import- und Exportprogramme - eine weitere "Entscheidung von größter Tragweite für die US-Besatzungspolitik",080. Im Lichte der Nöte der befreiten europäischen Länder wirkten die Morgenthau­ schen Pläne mittlerweile nur noch wie ein ebenso luxuriöses wie ruinöses Kuriosum. Eine - je nach Standpunkt - willkommene oder bittere, jedenfalls eine unvermeidli­ che Ironie der Geschichte wollte es, daß bereits im Augenblick der völligen Nieder­ lage des Zerstörers des europäischen Friedens und Wohlstands das Elend seiner Opfer die ersten zögernden Schritte zu dessen bescheidener Rehabilitierung verlangte. Der im Schatten einer wahrlich nicht "weich" klingenden Besatzungsdirektive eingeschla­ gene Kurs pragmatischer Stabilisierung war der Militärregierung in Deutschland frei­ lich schon vor Potsdam so geläufig, daß bereits in den ersten, den Monat Juli abdek­ kenden offiziellen "Report of the Military Governor" Sätze aufgenommen werden konnten, die nach dem heftigen Glaubenskrieg um die für Eisenhower bestimmten Richtlinien in den Ohren der Verfechter eines "harten Friedens" geradewegs ketze-

1077 "The Coal Situation in North West Europe - Summary 01 Main Recommendations" v. 7.6. 1945; FRUS, Conlerence 01 Berlin, I, S.620. Die Hauptlinien der Entstehung der Kohle-Direktive Trumans zeichnet Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik, S. 261f., nach. Vgl. auch V12. 1078 "German Coal", Bericht von Froelich G. Rainey v. 27.6. 1945; FRUS, Conlerence 01 Berlin, I, S. 615 ff. 1079 Schreiben Clays an McCloy v. 29.6. 1945; Clay-Papers, S. 44. Treffend bemerkt F. S. V. Donnison, Civil Affairs and Military Govemment in North West Europe, 1944-1946, London 1961, S. 415, zum Effekt der Kohle·Direktive: "The military authorities were lormally enjoined to do what common sense and vital necessity had lrom the beginning led them to do." 1080 Vgl. Krieger, General Lucius D. Clay, S. 100. 990 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland risch klingen mußten: "Die deutsche Wirtschaft", hieß es da, "ist gegenwärtig gründ• lich entmilitarisiert, und statt wiederauflebendes Wirtschaftsleben zu hemmen, müs• sen vielmehr große Anstrengungen unternommen werden, industrielle Anlagen, Transport- und Verbindungs einrichtungen aufzubauen, die für die Produktion der in Westeuropa gebrauchten Kohle unentbehrlich sind, ebenso für die Erwirtschaftung des Lebensmittelminimums und anderer lebenswichtiger Güter."IOBI Die erstaunliche Selbstverständlichkeit, mit der hier von einem wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland gesprochen wurde, zeigt, wie weit sich die Militärregierung bereits von Geist und Rhetorik ihrer maßgeblichen Politikanweisung entfernt hatte. Seit dem Sommer 1945 war es allerdings auch ein zunehmend geringeres Risiko, kon­ struktivere Töne anzuschlagen. Eisenhower und Clay war der rapide Einflußverlust der "hard peace"-Fraktion in der Administration Trumans nicht entgangen, und sie wuß• ten, daß ihr Kurs vom War Department gedeckt und vom State Department befür• wortet wurde. Die vielen tausend Mitarbeiter der amerikanischen Militärregierung mußten die deutlichen Worte in dem Monatsbericht für Juli 1945 als ein bewußt ge­ setztes politisches Signal auffassen. Das wirkungsvollste Signal ging freilich von den Beschlüssen der Konferenz der Großen Drei selbst aus, die in der zweiten Julihälfte in Potsdam tagte. Der politisch befreiende Effekt, der für die Militärregierung von dem Konferenzergebnis ausging, ist oft beschrieben worden. loB2 Clay, der in seinen Telegrammen nach Washington aus seiner Erleichterung darüber damals keinen Hehl machte lOB3 , hat in seinen Memoiren selbst die "sehr bedeutsame Änderung unserer offiziellen Linie" durch Potsdam her­ ausgestellt lOB4 . Überall dort, wo sich Diskrepanzen zwischen der in ihren Bestimmun­ gen zur Wirtschaftskontrolle "realitätsfremden"IOB5 Direktive JCS 1067 und dem An­ fang August 1945 verkündeten Ergebnis der Konferenz ergaben, galten ab sofort - wie Clays Rechtsberater Fahy in einer Stabsbesprechung bekanntgab lOB6 - die Beschlüsse der drei Staats- und Regierungschefs. Zwar ging ein Gutteil der ohnehin nie umstrit­ tenen Passagen der amerikanischen Direktive JCS 1067 in die Potsdamer Vereinba­ rungen ein, hatten diese für die Offiziere der amerikanischen Militärregierung "einen vertrauten Klang"IOB7, doch in ihren Kernaussagen wurde die formell noch bis Mitte 1947 geltende Richtlinie JCS 1067 bereits im Sommer 1945 außer Kraft gesetzt. Poin­ tierend darf von ihr als einer politischen Eintagsfliege gesprochen werden, deren Exi­ stenz faktisch nur vom 14. Juli 1945 (Auflösung des Alliierten Oberkommandos) bis zum 2. August 1945 (Vereinbarungen von Potsdam) währte. loBB Die Beschlüsse der "Berliner Konferenz" waren die ersten ins einzelne gehenden politischen Vereinbarungen der Siegermächte über das Schicksal des besiegten

1081 Bericht für Juli 1945, S. 4; lfZ-Archiv, Dk 101.006. Hervorhebung von mir. 1082 Vgl. Z. B. Paul Y. Hammond, Directives for Germany: The Washington Controversy, in: Harold Stein (Hrsg.), American Civil-Military Decisions. A Book of Case Studies, Birmingham 1963, S. 4.35 f. Gimbel, Amerikanische Besatzungspolitik, S. 30 ff. Backer, Die deutschen Jahre des General Clay, S. 73. Allgemein zur Konferenz von Potsdam: CharIes C. Mee jun., Die Teilung der Beute, Wien 1977. 1083 Vgl. das Schreiben Clays an das War Department v. 2.12. 1945; Clay-Papers, S. 127. 1084 Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 57 f. 108' Krieger, General Lucius D. Clay, S. 62. 1086 Staff Meeting USGCC, 11. 8. 1945; lfZ-Archiv, Fg 12/2. 1087 "Office of Military Government for Germany (U.S.), Mai 1945 - November 1945", S. 18; NA, RG 260, AG 1945/46,58-5. 1088 Vgl. auch Krieger, General Lucius D. Clay, S. 49. 5. Bedingungslose Kapitulation 991

Deutschland. Zum ersten Mal erfuhren auch die Deutschen selbst Näheres über die Maßnahmen, die sie zu gewärtigen hatten. Für die Militärregierung erbrachten die Be­ ratungen in Schloß Cecilienhof eine bedeutende Erweiterung ihres Handlungsspiel­ raumes. Neben einer ganzen Reihe folgenschwerer Beschlüsse, die hier außer Betracht bleiben können, vereinbarten die Großen Drei, daß künftig in ganz Deutschland die Bildung demokratischer politischer Parteien und Gewerkschaften zu gestatten war. Die Kompetenzen des Zonenbefehlshabers erfuhren gegenüber JCS 1067 eine Stär• kung. Man kam ferner überein, deutsche zentrale Verwaltungsstellen zu errichten und das Land als wirtschaftliche Einheit zu behandeln; die Obergrenze von Deutschlands Lebensstandard sollte jetzt dem Durchschnitt (Großbritannien und die Sowjetunion ausgenommen) und nicht mehr dem niedrigsten Niveau in den europäischen Nach­ barländern entsprechen. Die restriktiven Bestimmungen der amerikanischen Direk­ tive wurden auch in einem anderen Punkt liberalisiert. Die Alliierten forderten näm• lich ausdrücklich die rasche Wiederherstellung des deutschen Verkehrsnetzes, von Unterkünften und öffentlichen Versorgungsbetrieben sowie eine energische Steige­ rung der Produktion in der Landwirtschaft und im Kohlebergbau. Die Modifizierung von JCS 1067 durch Potsdam signalisierte so fraglos "den Beginn eines positiven Pro­ grammes für die Besatzung" \089. General Clay selbst hielt in seinen Memoiren fest: ,Jetzt waren wir direkt verpflichtet, eine ausgeglichene Wirtschaft zu entwickeln, die Deutschland auf eigene Füße stellen sollte."I090 Was der Chef der Militärregierung nicht so deutlich betonte, war die Tatsache, daß die faktische Liberalisierung der amerikanischen Besatzungsdirektive durch Potsdam nicht der Auftakt, sondern nur die willkommene Bestätigung des schon immer gehal­ tenen, auf die pragmatische Stabilisierung der Verhältnisse in Deutschland zielenden Kurses der Army gewesen ist. Diesen Kurs hatten die Streitkräfte behutsam, aber selbstbewußt schon längst vor der Julikonferenz der Siegermächte eingeschlagen. Sie begnügten sich nicht mit den skeptischen und kritischen Memoranden über das Be­ satzungsgebiet, mit denen sie Washington seit dem April überschütteten, die Army unterlief die wenig geschätzte Direktive JCS 1067 auch sehr direkt. Die Streitkräfte in Deutschland taten das nicht in kleinen Korrekturen hier und geringfügigen Übertre• tungen dort, sondern sie taten es seit dem Frühjahr 1945 planmäßig und in wahrhaft atemberaubendem Maßstabe. Die Instrumente dafür waren zwei Organe, die die Army im April und Mai 1945 ins Leben rief: die Production Control Agency (PCA) und die Economic Control Agency (ECA). Daß die maßgebenden Offiziere dabei das Gefühl gehabt haben, ein wenig mit dem Feuer zu spielen, kann man wohl daraus schließen, daß die ersten Erwägungen zur Errichtung dieser beiden Organe im Oberkommando der Alliierten Expeditionsstreitkräfte unter "Top Secrd', der höchsten Geheimhal­ tungsstufe, liefen. "Hilfe für den Feind" war zu diesem Zeitpunkt nun einmal "eine höchst delikate Angelegenheit" \091. Die diesbezüglichen Erörterungen bei SHAEF hatten in dem für Nachschubfragen

1089 Ziemke, U.S. Army, S. 345. 1090 Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 57. Die US-Grunddirektive v. 7. 7. 1945 wurde den Maßgaben der Konferenz selbstverständlich ebenfalls angepaßt. Vgl. die Anweisung Eisenhowers an die Kommandieren­ den Generäle der beiden Militärdistrikte v. 7.8. 1945; FRUS 1945, II1, S. 954f. 10'1 John E. Farquharson, Hilfe für den Feind. Die britische Debatte um Nahrungsmittellieferungen an Deutschland 1944/45, in: VfZ 37 (1989), S. 264. 992 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland zuständigen G-4 Stab ihren Ausgang genommen. Sie gründeten auf der Erwartung der Logistikexperten, daß die Armee wegen der zerrissenen deutschen Infrastruktur er­ hebliche Koordinierungsanstrengungen zu bewältigen haben würde. R. W. Crawford, G-4 Stabschef und Generalmajor der U.S. Army, wandte sich deshalb Anfang April 1945 an Bedell Smith mit der Feststellung: "Übernahme positiver industrieller Kon­ trolle ist für die Ziele der Okkupation essentiell."I092 Mit dem Terminus "positive Kontrolle" gelang dem General eine treffende, mit den gewohnten amtlichen Wen­ dungen in bezeichnender Weise kontrastierende Wortschöpfung. Besser ließ sich die seit Herbst 1944 gewachsene und weitverbreitete nüchterne Einstellung der Mehrzahl der Offiziere in der Besatzungsarmee zu ihrer Aufgabe im zerstörten Deutschland kaum umschreiben. In Crawfords Memorandum und einigen weiteren Stabsstudien kam zum Ausdruck, wie deutlich die Besatzungsoffiziere erkannten, daß Armee und Militärverwaltung gar nicht anders konnten, als wenigstens den Versuch zu unterneh­ men, in ihrem Gebiet die Funktionen der übergeordneten deutschen Behörden und Wirtschaftsorgane vorübergehend mit zu übernehmen. Der riesige Stab für den Ar­ meenachschub mit seiner Organisations- und Improvisationserfahrung, seinem routi­ nierten Management und seiner soliden Verankerung im Gefüge der Streitkräfte war zweifellos der geeignete Träger dafür. Der Civil Affairs/Military Government-Stab be­ argwöhnte zwar etwas dessen Machtfülle auf einem Felde, das auch von der Militärver• waltung gepflegt wurde, aber schließlich stimmte SHAEF, G-5, den Plänen zu, merkte jedoch an, die Kollegen von G-4 strichen in ihren Memoranden die Produktion von für die U.S. Army brauchbaren Artikeln in deutschen Fabriken doch wohl zu stark heraus. Es werde sich vielmehr sehr bald herausstellen, so G-5, "daß die Masse der Produktion in Deutschland, mit der es die alliierten Streitkräfte zu tun haben werden, für zivile Zwecke benötigt werden wird"lo93. Überlegungen, wie eine "positive Kon­ trolle" Deutschlands am besten zu gewährleisten sei, hatten also bereits eingesetzt, be­ vor General Clay zum Stellvertretenden Stabschef der amerikanischen Besatzungs­ truppen und zum Stellvertretenden Militärgouverneur bestellt wurde. Nach seiner Ankunft in Europa hat er diese Ansätze freilich sofort sehr energisch gefördert. Ende April schrieb er eher beiläufig an McCloy: "Wir haben alle amerikanischen Produk­ tionsfachleute im Group Council in G-5 und G-4 zusammengefaßt, um ein War Pro­ duction Board en miniature zu bilden."lo94 Am 29. April 1945, ironischerweise einen Tag nach der Genehmigung von JCS 1067 in Washington, erging der Befehl zur Errichtung der "Production Control Agency".I095 Sie hatte die Aufgabe, die Produktion von Industriegütern für die Armee und die Zivilbevölkerung ("minimale zivile Grundbedürfnisse"I096) sicherzustellen. Produktionskontrolle galt "für alle Tätigkeiten, die bei der Herstellung von Versor­ gungsgütern anfallen, von der Gewinnung der Rohstoffe bis zum Endprodukt". Dar­ unter fielen so gut wie alle Industriegüter, was in dem Hauptbefehl aber recht ge-

1092 Undatiertes Schreiben Crawfords an Smith v. 2. oder 3.4. 1945; NA, RG 260, AGTS 2/4. Dort weitere Unterlagen zur Entstehungsgeschichte der Production Control Agency. Hervorhebung von mir. Das In­ teresse, die PCA etwas näher zu untersuchen, geht auf eine entsprechende Textstelle bei Ziemke, U.S. Army, S. 284, zurück. 1093 Kommentar von SHAEF, G-5, zu den Vorschlägen von G-4 v. 13.4. 1945; NA, RG 260, AGTS 2/4. 1094 Schreiben Clays an McCloy v. 20.4. 1945; Clay-Papers, S. 7. 1095 Befehl des Stellvertretenden Stabschefs von ETOUSA v. 29. 4. 1945; NA, RG 332, Box 52, File Nr. 263. 1096 Befehl von SHAEF an die Armeegruppen v. 17. 5. 1945; NA, RG 331, SHAEF, 240/4, Entry 40, Box 272. 5. Bedingungslose Kapitulation 993 schickt verschleiert war. Höchst auslegungsfähige ergänzende Bestimmungen erlaub­ ten die Aufrechterhaltung von "essentiellen Industrien" und die Betreibung von Anla­ gen, "die sofort erforderlich sind, damit der Oberbefehlshaber seinen Verantwortlich­ keiten gerecht werden kann"1097. Die Befehle waren aus verständlichen Gründen zwar um eine restriktive Sprache besorgt, doch garantierten sie die beinahe uneinge­ schränkte Handlungsfreiheit der Streitkräfte. So wirkte die umsichtigerweise ange­ fügte verbale Rückversicherung beinahe kurios: "Sie werden keine anderen Schritte zur wirtschaftlichen Erholung Deutschlands unternehmen"; ganz so, als ob es noch sehr viele "andere Schritte" gegeben hätte, die nicht von dieser Art "Produktionskon­ trolle" gedeckt gewesen wären. Den führenden amerikanischen Experten, die um diese Zeit die Arbeit der Army und General Clays unter die Lupe nahmen, ist dieser massive, ohne die stillschwei­ gende Unterstützung durch Stirnson, McCloy und Hilldring undenkbare Versuch, das deutsche Chaos zu ordnen, natürlich nicht entgangen. Und sie hielten, wie etwa die beiden hochrangigen Emissäre des Directors of the Budget, die in der letzten April­ woche 1945 das Okkupationsgebiet bereisten, diese Initiative "angesichts der Lage für gerechtfertigt"1098. Mit großem Interesse, so berichteten Donald C. Stone und Eric H. Biddle nach Washington, seien sie den Ausführungen General Clays gefolgt: "Sie schienen uns ein kühnes und schöpferisches Konzept zur Mobilisierung der Produk­ tionsfähigkeiten und -ressourcen der Armee zu bieten." Dieses Konzept bedürfe zu seiner Umsetzung hinsichtlich des Verhältnisses von Armee und Militärregierung frei­ lich einer klareren als der gegenwärtigen Organisations struktur. Vor allem aber müsse dessen Umsetzung einhergehen mit enger politischer Führung und Abschirmung, schrieben sie: "Überlegungen zum vorgeschlagenen Produktionskontrollplan lassen eine Frage hoher Politik bewußt werden, nämlich die Wünschbarkeit der Re-Integra­ tion der Funktionen von Zuteilung und Verteilung von Material und Dienstleistungen in den deutschen Verwaltungsapparat." Moses Abramowitz, Mitglied der amerikani­ schen Delegation bei den alliierten Reparationsverhandlungen, zeigte sich zur selben Zeit in einem Memorandum an Isidor Lubin, den Stellvertreter des Delegationschefs Botschafter Edwin W. Pauley l099 geradezu begeistert von der neu entstehenden Orga­ nisation: "Vom organisatorischen Standpunkt aus gesehen, ist der hoffnungsvollste Aspekt unserer Besatzungsplanung", schrieb Abramowitz Mitte Mai 1945, "wahr­ scheinlich die kürzlich erfolgte Schaffung (im Rahmen von SHAEF, G-4) einer Pro­ duction Control Agency." 1100 Als Modell der PCA, die in ganz ähnlicher Weise funk­ tionieren solle, diene das War Production Board in den Vereinigten Staaten. Clay versuchte bis zu einem gewissen Grad also, seine profunde Kenntnis staatlicher Wirt­ schaftsorganisation in Kriegs- und Krisenzeiten und seine Erfahrungen damit auf die Situation im zerstörten Deutschland zu übertragen. Zu den Besonderheiten der Production Control Agency gehörte es, daß sie zwar unter dem Dach des Alliierten Oberkommandos errichtet wurde, diesem auch bis zu

1091 Ebenda. 1098 "Control Maehinery for Germany. Mission of Donald C. Stone and Erie H. Biddle to Germany, April 24th - May 1st, 1945", Bericht v. 11. 5. 1945; NA, RG 165, CAD, 014. Germany, sec. 13. 1099 Zu Lubin, Pauley und den alliierten Reparationsverhandlungen vgl. Bruee Kuklik, Ameriean Poliey and the Division of Germany. The Clash with Russia over Reparations, Ithaea 1972. 1100 "Trip Through Western Germany", Bericht von Moses Abramowitz an Isidor Lubin v. 14.5. 1945; NA, RG 165, CAD, 014. Germany, sec. 13. 994 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland dessen Auflösung unterstellt war, daß die PCA aber bewußt nicht-integriert (bei SHAEF durchaus unüblich) angelegt war, also aus getrennten britischen und amerika­ nischen Elementen errichtet wurde. Damit wollte man die Kontinuität der Produk­ tionsleitbehörde - wie sie treffend zu nennen wäre - über die Kapitulation und die Auflösung des Oberkommandos hinaus sicherstellen. Was da im April 1945 aus der Taufe gehoben wurde, sollte ein riesenhaftes Instrument werden. Mit den vorgesehe­ nen 1200-1400 Offizieren und 5800 Mann entsprach die Personalausstattung beinahe jener der gesamten amerikanischen Militärregierung. l101 Für den Sektor "Walzwerke, einschließlich des Schmelzens und der Fabrikation von Eisen und Nicht-Eisen-Metal­ len" waren die meisten, nämlich über 1000 Kontrolloffiziere vorgesehen, im Bereich "mechanische Herstellung, einschließlich von Werkzeugen" 625, in der Bekleidungs­ industrie 600 Experten in Uniform. Die vorgesehene Personalstärke wurde vor Auflö• sung des Oberkommandos freilich nicht mehr erreicht. Im August 1945 waren auf amerikanischer Seite in der Produktionsaufsicht aber immerhin schon 500 Fachleute tätig. 1102 Ende des Monats ging das amerikanische PCA-Element in der Industry Branch, USFET, G-5 und schließlich in OMGUS auf.1 I03 Nun darf man sich von Effektivität und Reichweite der Production Control Agency im Frühjahr und Sommer 1945 keine übertriebene Vorstellung machen. Sie hat in den Monaten vor Potsdam zwar durchaus ihre Spuren hinterlassen, vermochte in der nachgerade chaotischen Desorganisation des industriellen Sektors bei Kriegsende aber selbstverständlich keine Wunderdinge zu vollbringen. Die Industrieproduktion in Deutschland war nach der Kapitulation zwar nicht zum Stillstand gekommen, wie PCA-Chef, Oberst James Boyd (zugleich Leiter der Industrieabteilungen von USGCC und USFET, G-5), wiederholt zu bemerken pflegte. Aber wenn auch über 80 Prozent der Anlagen den Krieg überstanden hatten, war die Industrie im Sommer 1945 doch beinahe paralysiert. Hauptursache waren Engpässe im Bereich des Transports und der Energieversorgung. Im Juli schätzte die Production Control Agency, daß in den von ihr kontrollierten Branchen der amerikanischen Zone etwa 15 Prozent der Betriebe arbeiteten. Die industrielle Gesamterzeugung taxierte PCA auf etwa 5 Prozent der Vorkriegsproduktion. 1104 Eine wichtige erste Aufgabe der Behörde war es, einen groben Überblick über die Lage der Industrie im Besatzungsgebiet zu gewinnen, ein auch im Zusammenhang mit der politisch brisanten Frage des deutschen Industrieniveaus und der Reparations­ leistungen bedeutsamer Auftrag. (Die Produktionsbehörde ermittelte beispielsweise II05 auch die in Deutschland benötigte Menge an Kohle. ) Allein in Bayern wurden bis Ende 1945 nicht weniger als 4109 Industrieberichte angefertigt. llo6 Der Weekly Re­ port von Oberst Boyd an SHAEF von Mitte Juni 1945 etwa gab eine knappe Über• sicht zur Lage in dreizehn Branchen. Zur pharmazeutischen Industrie hieß es in dem Bericht des Chefs der Production Control Agency beispielsweise: ,,Ausreichende Pro-

1101 ETOUSA-Personalplan v. 30.4. 1945; NA, RG 260, 3/255/2. 1102 Memorandum von USFET, G-4, v. 10. S. 1945; NA, RG 332, Box 1, ETO G-4 Section. 1103 Eucom, Civil Affairs, S. S3. 110' Eucom, Historical Division (Hrsg.), Policy and Functioning in Industry, Bd. I, Frankfurt o. J., S. 41; IfZ­ Archiv, Fg 40/S. Zur Situation der Industrie vgl. auch V/I und V/2. 1105 Vgl. die Expertise Froelich G. Raineys aus dem Stab von Robert Murphy v. 27.6. 1945; FRUS, Confer­ ence of Berlin, I, S. 61S. 1106 Eucom, Policy and Functioning in Industry, I, S. 65. 5. Bedingungslose Kapitulation 995

duktionskapazität zur Befriedigung des einheimischen Bedarfsminimums steht zur Verfügung ... Begrenzt auf synthetische Produkte auf der Basis einheimischer Beliefe­ rung mit tierischen Drüsen und Schlachthof- und Fischerei-Nebenprodukten."1107 Bei der Steuerung der Rohstoffzuteilung sowie der Lizenzierung von Betrieben kam der PCA ebenfalls eine Schlüsselrolle zu. Firmen mit weniger als hundert Beschäftigten wurden von der Militärregierung lizenziert, die, so eine frühe Studie der Army, manchmal allerdings wenig von den Restriktionen wußten, die von höherer Stelle festgelegt waren. 110S Produktionsgenehmigungen für Werke mit größerer Belegschaft erteilte die Production Control Agency. Natürlich war die Zuteilung von Grundstof­ fen, Energie und Zwischenprodukten eine Aufgabe, die eine (und schon hier wurde die Parallele zum amerikanischen War Production Board schief) landesfremde Be­ hörde zu lösen nicht einmal erhoffen konnte, und zwar schon deshalb nicht, weil sich fast alle Firmen auf kaum kontrollierbare Tauschgeschäfte untereinander verließen. Gleichwohl war es für manchen Betrieb mitunter eine Existenznotwendigkeit, die zahlreichen Antragsformulare auf Materialzuteilung auszufüllen. Manchmal kam es vor, daß die Produktionsagentur der Besatzungsmacht direkt eingriff, "sogar bis zur Einsetzung von Armeepersonal in kritischen Betrieben, um dort die Produktion zu lenken und Sabotage zu verhindern". Die Tätigkeit der Streitkräfte auf dem Feld der Wirtschaft während des Frühjahrs und Sommers 1945 ist noch ein blinder Fleck der Forschung, doch wird man annehmen dürfen, daß der Einfluß von PCA in manchen Branchen sehr früh "als positive Kontrolle" spürbar geworden ist. Robert Murphy war diese Tendenz der Army - er befürwortete sie - selbstverständlich nicht verborgen ge­ blieben. Anfang Mai 1945 schrieb er an das Außenministerium: "Die Tendenz hier geht dahin, daß auf ökonomischem Felde unsere Hände nicht durch eine rigide Di­ rektive gebunden sein sollten."1109 Eine noch viel genauere Beschreibung der Trends, die in der Army und in der Mili­ tärregierung General Clays dominierten, erhielt Isidor Lubin mit dem erwähnten be­ merkenswerten Memorandum von Moses Abramowitz. Der beschrieb das wirschafts­ politische Denken bei den amerikanischen Offizieren in Deutschland so: "Wir fanden Anzeichen", so sein Bericht von Mitte Mai 1945, "zweier partiell in Gegensatz stehen­ der Tendenzen. Das am durchgängigsten, wenn auch nicht auf jeder Ebene der Orga­ nisation von General Clay und McSherry bis hinunter zu den örtlichen Militärregie• rungs-Detachments ausgedrückte Gefühl ging dahin, daß die deutsche Wirtschaftstä• tigkeit wiederhergestellt werden müsse. Dies wird in allgemeiner Form vorgetragen, ohne Spezifizierung der zuzulassenden Arten von Tätigkeit oder ihres Umfangs. Das Gefühl scheint einer Vielfalt unterschiedlicher Motive und Überlegungen zu entsprin­ gen. Eine davon ist die Überzeugung, daß Beschäftigung und ein gewisser Lebensstan­ dard und eine normale Betätigung gegeben sein müssen, wenn wir eine ordentliche und erfolgreiche Besatzungszeit haben wollen. Die Frage lautet natürlich, wieviel ist notwendig und wer bestimmt diese Größe. In militärischen Kreisen heißt die Ant­ wort, daß der Kontrollrat und der amerikanische Zonenbefehlshaber freie Hand zur Festlegung der notwendigen Standards haben müssen. Es gibt allen Grund zu der Sorge, daß solchermaßen festgesetzte Standards weit von jenen abweichen, für die

1107 "Weekly Report of Production Control Activities" v. 18.6. 1945; NA, RG 260, USGCC 44-45, 1/14. 1108 Eucom, Policy and Functioning in Industry, I, S. 67; die folgenden Zitate ebenda, S. 64. 1109 Schreiben Murphys an das State Department v. 3.5.1945; NA, RG 84, Polad 737/26. 996 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland höhere politische Gesichtspunkte sprechen könnten. Für das Problem der Standards ist ein weiteres Motiv von Belang, das wir stark und weit verbreitet fanden, nämlich der instinktiv konstruktive Drang von Offizieren, die mit stillstehenden Maschinen konfrontiert sind, mit Eisenbahnen, die nicht rollen, mit Menschen, die arbeitslos sind. Sie finden es unnatürlich und schmerzhaft, die Dinge nicht ins Lot zu bringen und nicht den Versuch zu machen, die Leistung des Gebiets oder des Tätigkeitsbe• reichs, für die sie verantwortlich sind, zu steigern. Unsere begrenzten Beobachtungen führen uns zu der Ansicht, daß man gut daran tut, die Fähigkeit örtlicher Offiziere zur Umgehung der Hindernisse, die ihnen die hohe Politik in den Weg stellen mag, nicht zu gering einzuschätzen. Ein drittes und recht deutliches Motiv ist die begreifliche Sympathie von Administratoren für alle Menschen, die in so desolaten Verhältnissen existieren wie derzeit die Deutschen. Von Kleidung abgesehen, gibt es keinen Aspekt des deutschen städtischen Lebens (in Westdeutschland), der nicht nach allen Maßstä• ben, erst recht nach amerikanischen Maßstäben, erschreckend schlecht wäre. Im Ge­ gensatz zu dieser starken Neigung zur Wiederherstellung der Wirtschaftstätigkeit steht eine schwächere und begrenztere Tendenz zur Beschränkung der deutschen Produktion. Überraschenderweise entspringt dies nicht so sehr Sicherheitserwägun• gen, sondern mehr der Furcht, daß Deutschland als Konkurrent der USA und des Vereinigten Königreichs auf den Weltmärkten auftreten könnte. Wir hörten nie die ausgeprägte Überzeugung ausgesprochen, daß Deutschlands Wirtschaftspotential eine Sicherheitsbedrohung darstellen könnte. (Es war jedoch die allgemeine Meinung, daß spezifische Industrien, z. B. die Flugzeugindustrie und die Herstellung von syntheti­ schem Treibstoff, aus Sicherheitsgründen unterbunden werden könnten.) Gegenwärtig hat das Personal, das die zivilen Angelegenheiten verwaltet, keine politische Leitlinie und keine Belehrung zur Kontrolle und Lenkung ihrer instinktiven, doch starken Nei­ gungen." 11 10 Die Aktivitäten der Armee beschränkten sich nicht allein auf die Production Agency und auf den industriellen Bereich. Am 15. Mai 1945 errichtete SHAEF auf­ grund ganz ähnlicher Überlegungen und in verwandter Form wie im Fall der Produk­ tionsbehörde eine, allerdings sehr viel kleinere, Economic Control Agency (ECA) un­ ter der Verantwortung des G-5 Stabes.llil Für diese Organisation, die von Brigadege­ neral William H. Draper Jr., (zugleich Direktor der Economics Group von USGCC) geleitet wurde, forderte das amerikanische Armeekommando im Sommer 1945 im­ merhin 46 Offiziere und 70 Mann an. Auch diese Wirtschaftskontrollbehörde der Streitkräfte ging später in OMGUS auf. Die Aufgabe von ECA war es, gestützt auf die deutschen Bewirtschaftungsorgane, die Aufsicht über den nichtindustriellen Wirt­ schaftsbereich zu führen, beispielsweise die Preise oder die Erzeugung, Ablieferung und Rationierung von Nahrungsmitteln zu überwachen. Außerdem war sie für die

1110 "Trip Through Western Germany", Bericht von Moses Abramowitz an Isidor Lubin v. 14.5. 1945; ebenda. Aufschlußreich. und für das pragmatische Denken der Mehrzahl der Besatzungsoffiziere auf wirtschaftli­ chem Feld typisch ist der Verlauf der SHAEF-Konferenz ("Conference to Consider Personnel Require­ ments for Economic Function in Germany") am 19. Februar 1945, in der Bernstein, Direktor der Finanz­ abteilung von USGCC und ein Mann Morgenthaus, in eine geradezu mitleiderregende Defensive geriet; Protokoll in: NA, RG 59,740.00119 Control (Germany), 2-2145. 1111 Vgl. Eucom, Civil Affairs, S. 83 f. 5. Bedingungslose Kapitulation 997

Festlegung "des lebenswichtigen zivilen Bedarfs an allen Gütern und Dienstleistun­ gen" zuständig. 1112 So punktuell und improvisiert die Aktivitäten der Economic Control Agency und der Production Control Agency im Frühjahr 1945 auch waren, Intention und Kurs der amerikanischen Streitkräfte waren eindeutig. Mit der Rhein-Überschreitung Ende März 1945, als Kontrolle und Stabilisierung der Wirtschaft in Deutschland zu wirklich akuten Problemen wurden, setzte die Army einen kräftigen Gegenakzent zu der zwar mit dehnungsfähigen Klauseln versehenen, aber dennoch ausgesprochen restriktiv an­ gelegten Direktive JCS 1067. Das geschah just zu dem Zeitpunkt, als die Politiker in Washington sich auf deren Tenor geeinigt hatten. Diesen Gegenakzent setzten die Streitkräfte nicht bloß in Appellen und Denkschriften, er bestimmte ihr Handeln. Ge­ neral Clay hat diesen Kurs im besetzten Deutschland sofort nach seiner Ernennung entschlossen gefördert und sich lange vor Potsdam als Motor dieses Denkens gezeigt. Eingeleitet hat der Chef der Militärregierung diesen Kurs aber nicht. Das war nicht er­ forderlich. Denn der Kurs der Stabilisierung von Wirtschaft und Lebensverhältnissen im deutschen Besatzungsgebiet, der Primat des Pragmatismus, lag in doppelter Hin­ sicht in Tradition und Gewohnheit der amerikanischen Streitkräfte. Beide Elemente wurden von dem in Washington eine Zeitlang geführten Glaubenskrieg um einen "harten" oder "weichen" Frieden mit Deutschland nur wenig tangiert. Da war einmal die Gewohnheit des pragmatischen "Durchwurstelns", die sich mit dem 12. Septem­ ber 1944 anzudeuten begann, als die Soldaten der US. Army zum ersten Mal deut­ schen Boden betraten - ein Pragmatismus, der von Improvisationsfähigkeit, von einem gegenüber allzu pauschalisierenden Deutschlandbildern und exzessiven Karthago­ Visionen wenig anfälligen common sense und von Verantwortungsgefühl bestimmt wurde. Und da war zum anderen eine Haltung, die zugleich von den Normen einer langen Tradition amerikanischer Besatzungsverwaltung geleitet war. Dieses Erbe war in den Streitkräften und den meisten ihrer Mitglieder tief verwurzelt. Es vermochte selbst durch die verständliche Verschärfung anti-deutscher Sentiments gegen Kriegs­ ende nie wirklich übertönt zu werden. Sein Kern findet sich in der Überzeugung, die in der Anweisung für die Invasionsstreitkräfte vom Frühjahr 1944 noch deutlich aus­ gesprochen war: "Die Verwaltung soll fest und bestimmt sein. Sie wird in bezug auf die Zivilbevölkerung zugleich aber gerecht und human sein, soweit es sich mit den militärischen Erfordernissen vereinbaren läßt."1113

Fehlschlag der "Poliey of Civilianization" Die mit Augenmaß und auch mit einem gewissen Erfolg agierende Army hatte nach dem Sieg über Hitler die mit tausend unvorhersehbaren Problemen belastete Verwal­ tung eines Teiles des bezwungenen Deutschen Reiches an sich so rasch wie möglich wieder abgeben wollen. Auch für Roosevelt war das demokratische Prinzip, wonach Politik nicht Sache der Militärs sei, ebenso selbstverständlich wie für seinen Nachfol­ ger. Bald nach der Amtseinführung sagte Truman denn auch zu Spitzenbeamten des State Department, die politische Kontrolle in Deutschland habe nach der gegenwärti-

1112 "Establishment of Economic Control Agency", ETOUSA-Befehl v. 14.5.1945; NA, RG 84, Polad 737/26. 1113 "Combined Directive for Military Government in Germany Prior to Deleat or Surrender", CCS 551, v. 28.4. 1944, abgedruckt bei Hajo Holbom, American Military Govemment, Washington 1947, S. 135ff. Vgl. 1/5. 998 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland gen "rugh-and-tumble period" so schnell wie möglich in die Hände von Zivilisten überzugehen. Diesen Wunsch unterstrich er mit der Feststellung, "daß es zu unseren Traditionen gehört, daß das Militär über die Erfordernisse militärischer Operationen hinaus keine Verwaltungsverantwortung tragen soll"1114. Lucius D. Clay selbst wußte sich dieser Tradition nicht nur verpflichtet, ihm war bei seiner Ernennung auch aus­ drücklich der Auftrag mit auf den Weg gegeben worden, in Deutschland die Voraus­ setzungen für einen Rückzug der Streitkräfte aus der Besatzungspolitik zu schaf­ fen. 1115 Gerade hieraus speiste sich ja mit ein Teil seiner energischen Aktivitäten sofort nach Amtsantritt. Am Rande der Konferenz von Potsdam bekräftigte Truman diese "Policy of Civilianization" und erklärte sich mit einer Absprache über diese Auf­ gabenverteilung zwischen dem State Department als der für die Außenpolitik verant­ wortlichen Institution und dem Kriegsministerium als derjenigen Behörde einverstan­ den, die über die Machtmittel in den besetzten Gebieten verfügte. In die Zuständig• keit des Außenministeriums fielen danach "die politischen Aspekte der Fragen, die sich ergeben werden. Das Kriegsministerium", so die Übereinkunft, "wird es primär mit den exekutiven und administrativen Aspekten solcher Fragen zu tun haben."1116 Das war eine durchaus künstliche, kontroversen Interpretationen und interministeriel­ len Rivalitäten weiten Raum lassende Vereinbarung. Denn wie die Dinge lagen, sah sich die Militärregierung ständig mit politischen Fragen konfrontiert, die sie in eigener Verantwortung zu entscheiden hatte. Auf der anderen Seite konnte das Außenmini• sterium seine politischen Initiativen ohne die Unterstützung durch die Streitkräfte nicht in die Praxis umsetzen. Bei welcher in Deutschland auftauchenden Frage han­ delte es sich um eine politische, bei welcher um eine Verwaltungsfrage? Wer sollte darüber befinden? Eisenhowers und Clays Bestrebungen, die Verantwortung in die Hände der Politik zu legen, zielten nicht auf die Anfangsphase der Besatzungszeit. Ihnen war klar, daß die Streitkräfte zwischen Kriegsende und "Friedensanfang" das Heft in der Hand be­ halten, ihre Präsenz und Organisationsmacht in den Dienst der Besatzungsverwaltung zu stellen hatten. Beide Generäle wollten aber vermeiden, daß die Militärregierung in Deutschland für die Armee zu einer Daueraufgabe wurde. Auch die Direktive JCS 1067 galt ausdrücklich nur für die "anfängliche Periode nach der Niederlage". Die Army, die alle Einmischungsversuche Washingtoner ziviler Behörden während der Kampfhandlungen in den besetzten Ländern mit guten Argumenten nach und nach zurückgedrängt hatte, war um manche schmerzhafte Erfahrung in politicis reicher ge­ worden, seit sie in Nordafrika die ersten Kontingente angelandet hatte. Dort, wie spä• ter in Italien und im Rheinland, hatten die Streitkräfte gelernt, daß es kaum eine Civil Affairs-Maßnahme gab, die nicht als Verirrung auf das Feld der Politik ausgelegt oder - schlimmer noch - der Armee als mutwillig-undemokratischer Mißbrauch ihrer dik­ tatorischen Befugnisse angelastet werden konnte. Wie vieler ungebetener Ratgeber in Sachen Demokratie hatte sich der Oberste Befehlshaber der alliierten Truppen seit Ende 1942 erwehren müssen! Die ganze Erbitterung des an sich besonnenen Eisen-

111' Memorandum über ein Gespräch am 10.5.1945; FRUS 1945, III, S. 509. Den besten Überblick zum fol­ genden gibt John Gimbel, Goveming the American Zone of Germany, in: Wolfe (Hrsg.), Americans as Proconsuls, S. 92 H. 111' Vgl. das Schreiben Clays an das War Department v. 18.9.1945; Clay-Papers, S. 82. u 1116 Vgl. das "Memorandum by the Secretary of State to President Truman v. 30.8. 1945; FRUS 1945, III, S.958. 5. Bedingungslose Kapitulation 999 hower - hinsichtlich politischer Ambitionen geradezu das Gegenbild seines Kollegen Douglas MacArthur - über die nach seiner Meinung allzu ungeduldige und unge­ rechte Kritik an der Armee brach in einem Briefauf, den er drei Wochen nach der deutschen Kapitulation an Stabschef Marshall richtete: "Ich sehe, daß ein gut Teil die­ ser Kritik entsteht, weil gedankenlose und uninformierte Leute glauben, das Goldene Zeitalter sei in 24 Stunden zu schaffen. Ihre Haltung geht dahin, daß das Schießen aufgehört hat, es also keinerlei Grund mehr gibt, die Errichtung einer perfekten de­ mokratischen Organisation in Deutschland hinauszuzögern."!!!7 Eine Siegesfeier löste noch die andere ab, da nutzten Eisenhower und sein Stellver­ treter die "rough-and-tumble period" nach der Niederlage Deutschlands bereits zu den nötigen Vorkehrungen, um die Verantwortung für die Politik in Deutschland in absehbarer Zeit an eine zivile Behörde in Washington zu übergeben. Über den Zeit­ punkt des Wechsels mußte auf höchster Ebene entschieden werden. Den Boden für diesen Schritt bereitete die von Clay so energisch betriebene Trennung von Armee­ kommando und Militärregierung und die von ihm ebenfalls bald eingeleitete, anfangs aber nur bescheidene Fortschritte erzielende Ersetzung von Militärregierungsoffizie• ren durch zivile Experten. "Diese Organisation muß so schnell zivil werden, wie das mit effizienter Leistung vereinbar ist", schrieb der Stellvertretende Militärgouverneur im Mai in einer internen Organisationsdirektive, "so daß sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt ein Rahmen für die Ausübung der politischen Kontrolle in Deutschland durch die geeigneten zivilen amerikanischen Stellen werden kann."11!8 Im Juni fand Clay das einprägsame Diktum, Military Government sei "kein Job für Soldaten", im Juli kündigte Eisenhower den Befehlshabern der Militärdistrikte eine Personalpolitik an, die mehr und mehr Zivilisten in die Stäbe der Militärregierung schleusen werde.!!!9 In der maßgeblichen, Ende September ergehenden Anordnung zur Errich­ tung von OMGUS wurde als eines der Ziele der Umorganisation die baldige Übertra• gung der Besatzungsverwaltung auf "amerikanische zivile Stellen, die von den militäri• schen Streitkräften getrennt sind", genannt.1120 Seinen Abteilungsleitern kündigte Clay die "civilianization and demilitarization" der Militärregierung bis spätestens Ende Juni 1946 an. 1I2 ! Genau zur selben Zeit, als General Clay die Stärkung der deutschen Selbstverwal­ tung und die Straffung der Militärregierungsorganisation durchdrückte, drang die amerikanische Führung in Deutschland zugleich mit aller Energie darauf, die Verant­ wortung des Militärs für die Besatzungsverwaltung abzugeben. Der Militärgouverneur und sein Stellvertreter versuchten, die Entscheidung Washingtons darüber zu erzwin­ gen. Treibende Kraft dabei war wiederum General Clay, der noch in seinen Memoiren darüber klagt, daß es eine "beinahe unlösbare Aufgabe" gewesen sei, "Deutschland zur Zufriedenheit der öffentlichen Meinung zuhause zu regieren"!!22. Viel Negatives war schon im Sommer über die Militärregierung zu lesen gewesen; ihre Offiziere seien

1117 Telegramm v.!. 6.1945, in: Eisenhower-Papers, VI, S. 115. 1118 Direktive "Organization for Military Govemment of the V.S. Zone" v. 13.5. 1945; zit. nach Ziemke, V.S. Army, S. 401. Das folgende Zitat eben da. Vgl. auch das "Memorandum by Lucius D. Clay" v. 11. 4.1945; FRVS 1945, III, S. 934. 1119 Schreiben an die Generäle Haislip und Patton v. 25. 7. 1945; Eisenhower-Papers, VI, S. 220. 1120 VSFET-Direktive v. 26.9. 1945; zit. nach ebenda, S. 438, Anm. 4. 1121 Staff Meeting von VSGCC am 8.9. 1945; HZ-Archiv, Fg 12/2. 1122 Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 76.

5. Bedingungslose Kapitulation 1001

Job, sehr befremdlich. ("Dabei wird impliziert, daß die Armee die zivile Verwaltung Deutschlands benützt, um Generäle im Dienst zu halten und eine Reduzierung der Truppenstärke zu vermeiden.") Solche Auffassungen hätten sich in den USA inzwi­ schen offenbar verfestigt. Deswegen seien zahlreiche Besucher und Kongreßdeiegatio• nen in Deutschland geradezu verblüfft darüber, daß die Besatzungsarmee in Wahrheit das genau entgegengesetzte Interesse habe. Dann faßte er sein und General Clays Credo in eine Grundsatzerklärung, die sich auch vorzüglich dazu eignete, in der Hauptstadt endlich eine definitive Entscheidung darüber herbeizuführen, wann die Militärregierung an zivile Stellen übergeben werden könne: "Die wahre Funktion der Armee in Mitteleuropa besteht darin, die Vereinigten Staaten mit der Reserve an Kraft und Stärke zu versehen, die in unserer Zone die prompte Durchsetzung all jener Gesetze und Verordnungen sicherzustellen vermag, welche vom Kontrollrat, der die vier Regierungen repräsentiert, erlassen werden. Da die Verwaltung in Deutschland ihre Arbeit in einer äußerst chaotischen Situation aufnehmen mußte, war niemand au­ ßer der Armee fähig, diesen Anfang zu machen. Dennoch vertritt das Kriegsministe­ rium konsequent den Standpunkt, daß die Kontrolle und Überwachung Deutschlands auf lange Sicht eine zivile Aufgabe ist, wobei als Ausführungsorgane deutsche zivile Organe dienen sollen, welche nach Grundsätzen geschaffen werden müssen, die wir diktieren, und welche die Reformen durchführen müssen, die wir fordern. Auf Grund dieser Auffassung ist die amerikanische Organisation in Europa so konstruiert und wird sie so gehandhabt, daß in dem Augenblick, in dem höhere Autoritäten eine ent­ sprechende Entscheidung treffen können, der Transfer aller Verwaltungsfunktionen auf zivile Behörden möglichst reibungslos vonstatten geht. Danach werden die Besat­ zungsstreitkräfte nur noch eine Macht-Reserve sein, die auf Anforderung eingesetzt werden kann."1126 Der amerikanische Generalstabschef war derselben Auffassung wie Eisenhower und leitete diesen politisch bedeutsamen Appell an den Präsidenten weiter. Truman bat den Militärgouverneur daraufhin, sich mit einem Schreiben ähnlichen Inhalts direkt an das Weiße Haus zu wenden. Das tat Eisenhower Ende Oktober 1945. Er erinnerte Truman zunächst daran, daß sie noch im Sommer der übereinstimmenden Ansicht gewesen seien, die Militärverwaltung schnellstmöglich in die Hände von Zivilisten zu legen. Die organisatorischen Vorbereitungen dazu seien nun getroffen, schrieb er, und nannte den Juni 1946 als das von Clay in Aussicht genommene Zieldatum. Wirkungs­ voll schloß er den Brief mit dem vom Präsidenten selbst wiederholt bekräftigten Be­ kenntnis, wonach es ein amerikanisches Prinzip sei, "die Armee als solche von dem Feld der zivilen Verwaltung fernzuhalten" I 127. Truman handelte sofort. Am 31. Okto­ ber 1945 wurde der Brief des amerikanischen Militärgouverneurs in Deutschland ver­ öffentlicht, und der Präsident erklärte in einer Pressekonferenz, War Department, State Department und er selbst seien mit Eisenhowers Vorschlägen einverstanden. I 128 Eisenhower und Clay konnten sich gratulieren. Ihre Politik schien eine glänzende Be­ stätigung erfahren zu haben, die Übergabe der Besatzungsverwaltung an das Außenmi• nisterium nur noch eine technische Frage zu sein.

1126 Schreiben Eisenhowers an Marshall v. 13.10.1945; ebenda, S. 433ff. 1127 Brief Eisenhowers an Truman v. 26. 10.1945; eben da, S. 4281. ll2a Vgl. Times, 1. 11. 1945. 1002 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland

Wichtige Politiker und einflußreiche Ministerialbeamte in Washington waren von der Weisheit der "policy of civilianization" freilich nicht überzeugt. Weil zu ihnen keine Geringeren als John J. McCloy, Acting Secretary of State Dean Acheson und Außenminister James F. Byrnes (den manche als ,,Assistant President" titulierten) zählten, weil diese Politiker zudem die besseren Argumente auf ihrer Seite hatten, wurde aus den Plänen der Streitkräfte nichts. Selbst der neu ernannte Kriegsminister Robert P. Patterson, der sich bis zuletzt vehement für die Vorstellungen Eisenhowers und Marshalls einsetzte, konnte nicht verhindern, daß Präsident Truman seine öffent• lich verkündete Einstellung binnen acht Wochen revidierte. Ungeachtet aller Absprachen und hoher amerikanischer Prinzipien gab Byrnes noch vor der Pressekonferenz des Präsidenten in einer gemeinsamen Besprechung mit dem Kriegs- und dem Marineminister zu Protokoll, er habe zwar Verständnis da­ für, daß sich die Streitkräfte zurückziehen wollten, doch verfügten diese nach seiner Ansicht einfach über die besten organisatorischen Voraussetzungen für die Aufgabe in Deutschland. Es wäre ein "großer Fehler", Eisenhowers Vorschlag zu folgen. 1129 Eine Woche nach Trumans Ankündigung war es John J. McCloy, der auf einer weiteren State-War-Navy-Konferenz in Anwesenheit seines Ministers und in direktem Gegen­ satz zu diesem bemerkte, "es war unklug, den Wandel unserer Politik ausgerechnet jetzt anzukündigen, weil dies nur dem Gefühl Nahrung gab, daß wir unseren Einfluß und unsere Interessen in Europa preisgeben"I130. McCloy, der wie kein zweiter in Washington mit den politischen Implikationen der Besatzungsverwaltung in Übersee vertraut war, mißfiel nicht nur der Zeitpunkt der Ankündigung, er verurteilte den Vorstoß Eisenhowers und Clays auch grundsätzlich. Er hatte sich (aus persönlichen Gründen) bereits zum Rücktritt entschlossen 1131, als er gegenüber einem hohen Be­ amten des Außenministeriums den Hintergrund der erregten Kontroverse umriß. Die öffentliche Debatte um den Wechsel in der Verantwortung für die Militärverwaltung in Deutschland müsse sich demoralisierend auf die Stäbe beiderseits des Atlantiks auswirken, sagte er nach einer Aufzeichnung dieses Gesprächs Mitte November 1945.1132 Ferner war McCloy der Ansicht, es sei "verschwenderisch, das ,funktionie­ rende' Unternehmen, das von der Armee betrieben wird, einfach wegzuwerfen und unter den Auspizien des State Department eine völlig neue Organisation aufzubauen", der es an jeglicher Erfahrung fehlen werde. Er habe dem Präsidenten deutlich ge­ macht, daß er das "vorzeitige Begehren" der Armee sehr bedauere, und dieser tue das

1129 Protokoll der Besprechung von Außen-, Kriegs- und Marineminister am 23.10. 1945; FRUS 1945, III, S.989. 1130 Protokoll der Sitzung am 6. 11. 1945; ebenda, S. 999. In die Zeit der Auseinandersetzungen in Washing­ ton fiel auch die Klärung der von Clay recht energisch zur Sprache gebrachten Frage, welcher Charakter den über Murphy (der über einen eigenen Übermittlungsweg nach Washington verfügte) an ihn geleiteten Stellungnahmen des Außenministeriums zukomme. ,,Als Ergebnis wurde festgestellt", so Clay, "daß In­ struktionen immer über das Kriegsministerium gesandt werden sollten, die Mitteilungen des Außenmini• steriums an den politischen Berater hingegen als Ratschläge aufzufassen seien." Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 74. Vgl. auch James W. Riddleberger, Impact of Proconsular Experience on American Foreign Policy, in: Wolfe (Hrsg.), Americans as Proconsuls, S. 39211. Vgl. zudem das Schreiben Murphys an das Außenministerium v. 19.11. 1945; FRUS 1945,111, S. 1003. 1131 Zu McCloy und dessen Rücktritt im November 1945 vgl. Thomas A. Schwartz, America's Germany.John J. McCloy and the Federal Republic of Germany, Cambridge 1991, S. 2511. 1132 "Memorandum of Conversation, by Mr. Franz Schneider, Consultant to the Assistant Secretary of State for Administration" v. 13. 11. 1945; FRUS 1945, III, S. 1000f. Siehe auch die auf S. 1000, Anm. 50, wiederge­ gebene Notiz für Bymes. 5. Bedingungslose Kapitulation 1003

mittlerweile ebenfalls. Es werde freilich "schrecklich schwierig" sein, die Entscheidung wieder rückgängig zu machen. Staatssekretär McCloy gab seinem Gesprächspartner im Außenministerium auch ei­ nige Interna der Army preis. Er bedauere es, sagte er, daß Patterson die Angelegen­ heit, die er bislang federführend bearbeitet habe, während seiner Abwesenheit so eska­ liert habe. Als treibende Kraft hinter dem Vorstoß der Streitkräfte erkannte er General Clay. Der hätte nicht nur den Kriegsminister gedrängt, sondern auch Eisenhower, der als aussichtsreichster Kandidat für General Marshalls Nachfolge galt, nachdrücklich darauf hingewiesen, "daß sein Ansehen leiden werde, wenn er weiterhin eine Zivilver­ waltung kontrolliere", und ihn davon überzeugt, daß angesichts der scharfen Pressekri­ tik die Zeit zum Handeln gekommen sei. Daß McCloy die Hintergründe der Inter­ vention der Militärregierungsspitze recht genau traf, belegt eine Äußerung von Eisen­ howers Stabschef Bedell Smith, der von seinen Ambitionen in Deutschland inzwi­ schen gründlich geheilt war. Auch er hatte mittlerweile bemerkt, daß das Image der Army zu leiden begann. Zu Byron Price, einem prominenten Publizisten, der sich im persönlichen Auftrag des Präsidenten im Herbst zu einer Erkundungsreise im Besat­ zungsgebiet aufhielt, sagte Smith nämlich, "von einem rein egoistischen Standpunkt aus gesehen, wird es für das Militär um so besser sein, je früher die Armee aus diesem sehr umstrittenen Job heraus ist"ll33. John J. McCloy, dessen Rücktritt am 15. November 1945 bekanntgegeben wurde, hatte in seinem Gespräch im Außenministerium nur einige der Argumente aufge­ führt, die gegen den Vorschlag Pattersons und Eisenhowers sprachen. Das Gesamtta­ bleau der Ablehnungsgründe wurde in verschiedenen Memoranden des State Depart­ mentll34 präsentiert, die sich um eine gründliche Analyse der weiterreichenden Kon­ sequenzen des geplanten Wechsels bemühten. Neben einigen Bemerkungen über die Hilfsmittel und Einrichtungen der Armee, die für die Bewältigung von Verwaltungs­ und Versorgungsfragen noch längere Zeit unabdingbar seien, wurde darin besonders ein Punkt hervorgehoben, den Eisenhower selbst auch schon erwähnt hatte. Die Deutschland betreffenden Vereinbarungen der USA mit den übrigen Alliierten sahen als gemeinsames Kontrollorgan einen Rat von Militärgouverneuren vor. Das war eine Übereinkunft, die in langwierigen Verhandlungen zustande gekommen war. Der Um­ wandlung in eine zivile Kommission mußten auch die UdSSR, Großbritannien und Frankreich zustimmen, was bei den politischen Kontroversen, die sich inzwischen an­ gesammelt hatten, als ein aussichtsloses und beinahe übermütiges Unternehmen zu gelten habe. Doch nicht nur das. Mit einer etwaigen Umwandlung des Kontrollrats in eine zivile Behörde, so das Außenministerium weiter, "würden wir sehr wahrscheinlich in die Verhandlungen der Vertreter im Kontrollrat den politischen Hintergrund des Ver­ hältnisses mit den anderen dort repräsentierten Regierungen hineinbringen". Und Unterstaatssekretär James C. Dunn fuhr fort: "Sie werden sich als politische Vertreter ihrer Regierungen bei ihrer Arbeit zweifellos vor dem Hintergrund von vielen ande­ ren Elementen in den Beziehungen der diversen Regierungen finden, und nicht nur

1133 Zit. nach Ziemke, U.S. Army, S. 403. 1134 Vgl. "Memorandum by the Assistant Secretary of State for European Affairs (Dunn)" v. 18.12. 1945 und "Memorandum by the Assistant Secretary of Stale for Administration (Russe 11) 10 the Secretary of State" v. 2.1. 1946; FRUS 1945, III, S. 1016ff. und S. 1026ff. 1004 VII. Das Kriegsende in Süddeutschland allein und ausschließlich mit den Problemen beschäftigt sein, die mit unseren Zielen in Deutschland selbst zu tun haben." Im übrigen, so Dunn, schaffe eine mit Militärs besetzte Kontrollbehörde "die bestmögliche Atmosphäre, um bei der schwierigen Aufgabe der Behandlung eines besiegten und zerfallenen Deutschland weiterzukom­ men". Ein anderes gewichtiges Gegenargument des State Department war haushalts­ politischer Natur. Die Mittel für die noch auf längere Zeit für nötig gehaltenen Nah­ rungsmittelimporte nach Deutschland wurden seit Beginn der Besetzung von den Bewilligungsausschüssen des Kongresses genehmigt, eine eingespielte Übung, die sich vermutlich aufrechterhalten lassen würde. Das State Department hatte in Besatzungs­ angelegenheiten mit den Ausschüssen für Auslandsbeziehungen zu tun. "Es wäre für jede zivile Institution dieser Regierung, einschließlich des State Department, sicherlich sehr schwierig, mit dem Kongreß von neuem die Frage der Bewilligung von Geldern für das handling der deutschen Bevölkerung aufzunehmen", warnte das Memorandum. Neben all diesen schlecht widerlegbaren Erwägungen zogen es die Spitzenbeamten des Außenministeriums auch in Zweifel - und hier unterschätzten sie die Fortschritte in Deutschland ein wenig -, daß bis Mitte 1946 schon mit ausreichender Sicherheit beurteilt werden könne, ob man es in der amerikanischen Zone tatsächlich mit einer funktionierenden Selbstverwaltung zu tun haben werde. Assistant Secretary Donald Russell kam in seinem Papier jedenfalls zu dem Schluß, bis zu der Errichtung einer deutschen Regierung sei es unabdingbar, daß die Besatzungsverwaltung von den Streitkräften getragen werde. Russell versagte es sich zudem nicht, die Pläne der Ar­ mee einer zwar ätzenden, aber doch nicht unberechtigten Wertung zu unterwerfen. Er schrieb über die Interventionen Eisenhowers und Pattersons: "Tatsache ist einfach, daß die Armee angesichts der Vorstellung, die Militärregierung in Deutschland ver­ wandle sich in eine Belastung, in Panik geriet. Hier liegt der Grund für den Wunsch des Kriegsministeriums, den Job auf das State Department abzuwälzen - und nicht in den diversen Rationalisierungen", die der Kriegsminister offeriert habe. Im übrigen, so vermerkte Russell mit Interesse, habe Patterson für das besetzte Japan keine solchen Forderungen erhoben wie für das besetzte Deutschland. Sein Kollege Dunn faßte die Empfehlungen für seinen Minister in den Rat, "in Deutschland beim Wechsel von militärischer zu ziviler Verantwortung sehr langsam vorzugehen". Bis über den Jahreswechsel 1945/46 hinaus gab der neue Kriegsminister, der seine Karriere nicht mit einer eklatanten Niederlage beginnen wollte, den Kampf um die schon im November verlorene Sache nicht auf. Truman war mittlerweile aber auf die Linie des State Department eingeschwenkt. Wiederholt erhob Patterson heftigen Pro­ test, doch es half nichts. Die Streitkräfte mußten zurückstecken und sich damit abfin­ den, die lästige Bürde in Deutschland weiterhin zu tragen. Ende Januar 1946 telegra­ fierte Eisenhower an Joseph T. McNarney, seinen Nachfolger als Militärgouverneur, alle Versuche, doch noch eine Entscheidung im Sinne der Streitkräfte herbeizuführen, seien erfolglos verlaufen. Er habe keine Hoffnung mehr, daß die Angelegenheit in ab­ sehbarer Zeit zur Zufriedenheit der Army geregelt werden könne. 1135 Der neue Stabs­ chef der amerikanischen Streitkräfte täuschte sich nicht. Am 25. April 1946 unter­ zeichneten Secretary of State James F. Byrnes, Secretary of War Robert P. Patterson und Secretary of the Navy James V. Forrestal eine Vereinbarung über "Grundsätze

1135 Vgl. Ziemke, U.S. Army, S. 432. 5. Bedingungslose Kapitulation 1005 und Verfahren hinsichtlich der politischen Behandlung und der Verwaltung besetzter Gebiete"1136. Sie bestätigte die alte Absprache zwischen Truman, Byrnes und den Streitkräften vom Sommer 1945, wonach das Außenministerium für die Formulierung und die Armee für die Durchführung der Besatzungspolitik zuständig war, schrieb den Status quo also fest. Der im Dezember 1944 ins Leben gerufene State-War-Navy­ Koordinierungsausschuß unter dem Vorsitz von Unterstaatssekretär Dunn wurde be­ auftragt, ein "Directorate for Occupied Areas" zu errichten, an dessen Spitze ein hoher Beamter des State Department stehen sollte, der auch dem Kriegs- und Marinemini­ sterium genehm sein mußte. Die Wahl fiel auf General John H. Hilldring. Er gab die Civil Affairs Division im War Department ab, zog seine Generalsuniform aus und wechselte in das Außenministerium hinüber. Das war nur ein schwacher Trost für die Streitkräfte. Die von den Militärs betriebene "policy of civilianization" war am Wider­ stand der Politik gescheitert. Zu General Clay konnte der Staatssekretär für die besetz­ ten Gebiete bald nach seiner Ernennung am Telefon auch nur sagen: "Die Armee sucht noch immer einen Weg, diese Sache loszuwerden", wie er sich ausdruckte. "Ich kann aber nicht sagen, daß sie dabei irgendwelche Fortschritte gemacht hat."1137 Nach dem Fehlschlag der Streitkräfte verstummte die Debatte für ein gutes Jahr. Sie wurde erst 1947 im Zusammenhang mit der Entwicklung des European Recovery Program wieder aufgenommen. 113B Im Januar 1948 gaben Außenminister Marshall und Armeeminister Royall bekannt, am 1. Juli würden die Streitkräfte die Militärre• gierung abgeben. Doch bereits acht Wochen später, am 23. März 1948, ließ Präsident Truman erklären, "im Hinblick auf die gegenwärtige Lage"1139 - am 25. Februar hatte der kommunistische Staatsstreich in Prag stattgefunden, am 20. März war General So­ kolowski aus dem Alliierten Kontrollrat ausgezogen - wolle er die Armee nicht aus ihrer Verantwortung in Deutschland entlassen. Lucius D. Clay, dessen Pensionierung zum 1. April 1948 bereits genehmigt war, blieb ein weiteres Jahr als Militärgouverneur und Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Amt. Inzwischen, Anfang 1949, war OMGUS beinahe eine reine Zivilbehörde. Weniger als fünf Prozent der un­ gefähr 2500 Mitarbeiter waren Militärs; drei Jahre zuvor, bei über 10.000 Mann Perso­ nal, war das Verhältnis noch in etwa umgekehrt gewesen. 1140 Erst mit Gründung der Bundesrepublik gelangte Clays "policy of civilianization" an ihr Ziel. 1141 Lucius D. Clay verließ die Bundesrepublik am 15. Mai 1949, drei Tage nachdem die westlichen Militärgouvemeure das Grundgesetz genehmigt hatten. Als zivilen Hochkommissar ernannte das Außenministerium niemand anderen als John J. McCloy, der am 2. Juli 1949 in Berlin eintraf. Seit er den ersten Anlauf Clays und der Streitkräfte, die Kon­ trolle der Besatzungszone in die Hände von Zivilisten zu legen, an maßgeblicher Stelle mit vereitelt hatte, waren fast vier Jahre vergangen. Nur eine kurze Spanne, doch lang genug, um das Gesicht Deutschlands und Europas zu verändern.

1136 FRUS 1946, V, S.674fl. 1131 Telefonkonferenz zwischen Clay und Hilldring am 1. 3. 1946; Clay-Papers, S. 170. 113' Zum folgenden Gimbel, Governing American Zone, in: Wolfe (Hrsg.), Americans as Proconsuls, S. 101 I. Vgl. auch Clay-Papers, S. 529. 1139 Vgl. Neue Zeitung, 25.3. 1948. 1140 Vgl. Clay, Entscheidung in Deutschland, S. 82, und "Office of Military Government for Germany (US.), May 1945 - November 1945", S. IOff.; NA, RG 260, AG 1945/46, 58-5. 1141 Hierzu Gimbel, Goveming American Zone, in: Wolfe (Hrsg.), Americans as Proconsuls, S. 102.