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Hörspiel Feature Radiokunst

Freistil Selbstbehauptung Der Schriftsteller und Filmemacher Oskar Roehler Von Thomas David Produktion: WDR 2020

Redaktion Dlf: Klaus Pilger

Sendung: Sonntag, 04.07.2021, 20:05-21:00 Uhr

Regie: Philippe Brühl

Es sprach: Louis Friedemann Thiele Technische Realisation: Gerd Nesgen

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- unkorrigiertes Exemplar -

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Musik (Talking Heads: «Born Under Punches»)

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Tschuldigung, dieses banale Zeug nimmst Du jetzt auf? Mein Gott, das ist doch jetzt wirklich...

Musik (Talking Heads: «Born Under Punches»)

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Das ist doch keine Regieanweisung, das ist doch Quatsch. Das mein ich jetzt ernst. Ne, nimm das nicht... Das ist wirklich.... Da komm ich mir total lächerlich vor, wenn ich das irgendwie... [Hantieren, Umbauten.] Roehler: Das kann ich nicht autorisieren. Es tut mir leid. Das autorisier ich nicht. Ich mach doch nicht so banale Anweisungen, die dann irgendwo im Rundfunk kommen oder... Das kann ich auf gar keinen Fall... Das mach ich nicht... Das funktioniert so überhaupt nicht.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Wir können irgendwie nen Gespräch führen. Aber ich sag doch nich hier, dass er die Unterhose zudecken soll und das kommt dann irgendwie ins Radio. Das mach ich nicht. Das tut mir leid. Dazu sind wir nicht bestellt worden, das tut mir wirklich leid. I don’t do.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Wenn ich «Bitte» sage und die Szenen laufen, dann kannst du von mir aus, wenn die Produktion das erlaubt, von mir aus das Ding anschalten. Wenn die Bavaria das erlaubt. Dann kannst Du was nehmen von den Schauspielern, nachdem ich «Bitte» gesagt habe. Aber nicht, wenn ich irgendwelche vollkommen trivialen Anweisungen gebe... Roehler: Wenn die Szene läuft. Dann habt Ihr ja viel mehr, wie die Schauspieler... Masucci: Jetzt mach endlich den Scheiß! Und mach endlich die Scheiße hier!

Moderation Selbstbehauptung. Der Schriftsteller und Filmemacher Oskar Roehler.

Moderation Feature von Thomas David. Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Mario Striehn: Gut, dann gehen wir auf Anfang zum Drehen. Ruhe zum Drehen! Roehler: Jetzt könnt Ihr, jetzt könnt Ihr aufnehmen. Mario Striehn: Achtung, Ruhe zum Drehen! Und leise. Stehenbleiben.

Erzähler September 2019. Eine Halle auf dem Gelände der Münchner Bavaria. Oskar Roehler dreht «Enfant Terrible», seinen neuen Film. 2

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Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Mario Striehn: Ton ab. Tontechniker: Läuft. Mario Striehn: Okay. Roehler: Weil ich will uns nur schützen davor, dass wir irgendwelchen Scheißdreck da hier übern Äther geht. Tontechniker: Ton läuft. Assistentin: Nur Kamera A. Roehler: Ruhe! [Synchronklappe] Roehler: Und bitte..... RUHE!

Erzähler Scheinwerfer, farbiges Licht. Ein in türkisfarbigem Neon erstrahlendes Doppelbett. Zwei nackte Männer, die sich zwischen zerwühlten Laken in den Armen liegen. Weiter vorn ein frei im Raum stehendes Toilettenbecken.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Masucci: [Schluchzen] Roehler: Danke. Und jetzt gleich nochmal auf Anfang...

Erzähler Schemen im Dunkeln, die Mitglieder der Filmcrew und ein kleines Filmteam des Bayerischen Rundfunks, das Aufnahmen von den Dreharbeiten macht. Oskar Roehler, der am Rand der Szene im Halbschatten steht. Völlige Wachheit, nervöse Konzentration. «Enfant Terrible» ist sein vierzehnter Kinofilm. Roehlers Hommage an , Roehlers künstlerische Auseinandersetzung mit der zerstörerischen Kraft von Fassbinders Genie. Ich stehe im Dunkeln, das Mikrofon in der Hand.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Danke. Mario Striehn: Danke, aus. [Hantieren. Umbauten. Small Talk] Roehler: Jetzt könnt Ihr aufnehmen, wenn Ihr wollt. [Hantieren. Umbauten.] Roehler: Stellt Ihr mal die Toilette hierhin, bitte.

Erzähler «Enfant Terrible» ist Oskar Roehlers Begegnung mit der im Juni 1982 verstorbenen Filmikone, der Lichtgestalt des deutschen Nachkriegskinos, als die Fassbinder bis in

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4 die Gegenwart leuchtet. Dem Übervater des neuen deutschen Films. «Enfant Terrible» ist Oskar Roehlers Begegnung mit sich selbst.

Musik (Einstürzende Neubauten: «Sehnsucht») Sehnsucht kommt aus dem Chaos. Kommt aus dem Chaos. Is die einzje Energie.

Atmo («Gentleman» ) Corinna: Ham wir keine Drogen, oder was? Frank: Kein Problem.

Musik (Einstürzende Neubauten: «Sehnsucht») Sehnsucht.

Atmo («Gentleman») Roehler: Na, haste sie schon gefickt, du dämliches Arschloch? Frank: Was machst du hier?

Atmo («Silvester Countdown») Romeo: Was hältste denn davon, wenn ich dir jetzt eine reinhauen würde? Julia: Mach doch. Dann biste mich los. Romeo: Dann wär die Scheiße endlich vorbei.

Atmo (Gentleman») Roehler: Du bist echt nen Idiot. Ich hätte fünf Minuten gebraucht, dann hätt ich abgelaicht und wär abgehauen. Frank: [schlägt] Roehler: [schreit]

Atmo (Silvester Countdown») Romeo: Du denkst wohl, ich würd mir vor so ner Nutte wie dir die Blösse geben. Hau dir doch selber in die Fresse, machs dir doch selber. Fick dich selber.

Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Dabei hatte alles ganz gut angefangen.

Musik (Einstürzende Neubauten: «Sehnsucht»)

Lesung (Roehler: Selbstverfickung») Es hatte Preise für Filme gehagelt. Er hatte einen Klassiker aus dem Ärmel geschüttelt. Eine Droge für alle, die depressiv, über fünfzig und weiblich waren.

Musik (Einstürzende Neubauten: «Sehnsucht») Sehnsucht, Sehnsucht

Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Einer der großen Produzenten des Landes war auf ihn aufmerksam geworden und wollte mit ihm einen großen Film machen. 4

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Atmo Roehler (durch Gegensprechanlage): Hallo. Th.David: Hi, Thomas hier. Roehler: Versuch mal, ob das klappt mit dem Drücken. [Rütteln an Tür]

Erzähler Seitdem ich Oskar Roehler im März 2006, wenige Wochen nach dem Kinostart der von Bernd Eichinger produzierten Houellebecq-Verfilmung «Elementarteilchen» zum ersten Mal in seiner Berliner Wohnung besucht habe, hat er fünf weitere Filme gedreht und drei Romane veröffentlicht. Mit «Herkunft», «Mein Leben als Affenarsch» und der radikal selbstironischen, Satire «Selbstverfickung», die vom Glanz und Elend eines in die Jahre gekommenen Filmregisseurs handelt, hat sich der 1959 als Sohn der Schriftstellerin Gisela Elsner und des Lektors Klaus Roehler geborene Regisseur auch als Schriftsteller einen Namen gemacht.

Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Aus dem großen, prestigeträchtigen Film wurde, sehr zur Enttäuschung des Produzenten, der so große Stücke auf ihn hielt, leider nur Mittelmaß. Auf der Berlinale wurde er sogar verrissen. Der Produzent wandte sich von ihm ab. Und damit begann auch schon sein unaufhaltsamer Abstieg in die Niederungen des Arthouse-Kinos.

O-Ton (Roehler) [In der Küche] Weißt Du, das schriftstellerische Werk, das ist.... Das muss ich Dir ehrlich sagen, das fordert mir einen immer größeren Respekt ab. [Hantieren in Küche]. Es wird dir ja nichts geschenkt. Beim Film wird dir ja wahnsinnig viel geschenkt.

O-Ton (Roehler) Ich komm ja aus dem Narrativen. Ich hab viele Filme gemacht, ich hab Drehbücher geschrieben, da erzählt man. Und das Erzählen von Szenen und Figurenkonstellationen innerhalb von Szenen, das fällt mir sehr leicht.

Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Die Filme wurden gedreht und verschwanden schnell wieder aus dem Wust des Kinomarkts. Er war ein als Enfant terrible getarnter staatlich subventionierter Filmbeamter, der sehr gut bezahlt wurde.

O-Ton (Roehler) [In der Küche] Du schreibst nen Drehbuch und wenn du tolle Schauspieler hast oder nen paar gute Einfälle... Aber es wird dir ja überhaupt nichts geschenkt, wenn du son Buch schreibst. Und das ist mir beim letzten Mal erschreckend klar geworden. 5

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O-Ton (Roehler) Ich kann immer was erfinden, kann immer leichtfertig irgendwelche Skizzen hinwerfen, und da kann sogar nen Film draus entstehen. Aber nen Buch zu schreiben, das ist für mich mittlerweile... Klingt vielleicht merkwürdig, das ist ne ganz profunde Geschichte.

Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Was hatte man erreicht? Hatte am Ende all die Mühsal nichts gebracht als schlechte Leberwerte und permanente Übelkeit, die von einer möglichen Gastritis kam?

O-Ton (Roehler) Die Frage ist durchaus berechtigt. Weil ich beispielsweise mich auch oft selber frage, warum oder ob ich überhaupt noch Filme machen soll. Weil das ist für mich, sagen wir mal, zu 95 Prozent obsolet geworden. Weil das auch son Vorgang ist, der mich künstlerisch auch gar nicht so fordert.

Erzähler Anfang Juni 2019, etwa zwei Monate vor Beginn der Dreharbeiten von «Enfant Terrible», sitzt Oskar Roehler zu Hause in Berlin an einem Tisch und spricht über sein künstlerisches Selbstverständnis.

O-Ton (Roehler) Also hättest Du mich jetzt gefragt: «Wieso machst Du überhaupt noch Filme?» Dann hätte ich wahrscheinlich geantwortet: «Weiß ich selber nicht, ich mach vielleicht auch bald keine mehr.»

Erzähler Er erzählt von der bevorstehenden Arbeit an seinem neuen Film. Von der Arbeit an «Der Mangel», seinem Ende 2018 fertiggestellten vierten Roman.

Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Hätte er damals, mit Anfang dreißig, schon gewusst, was er heute wusste, nämlich dass es überhaupt keinen Sinn hatte, sich anzustrengen, dann hätte er viel Energie gespart, die er heute brauchen könnte und nicht mehr hatte.

O-Ton (Roehler) Also ich bin im Moment auf so‘m Relax-Modus. Ich muss mich erholen.

Ich kenn ja auch so Leute, die sind nur Schriftsteller, so wie Maxim Biller, das ist so‘n Kampfmeister. Das ist so‘n Zen-Meister. Der setzt sich jeden morgen, geht schwimmen, setzt sich, geht schwimmen, setzt sich...

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Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Aber nein, er war zu dumm gewesen. Er hatte tatsächlich eine Weile geglaubt, Idealist und Romantiker sein und einen «auf Kunst» machen zu müssen.

O-Ton (Roehler) Da kommt jetzt für mich nicht so besonders tolles Zeug dabei raus, aber diesen Kampfmodus, den müsste ich auch wieder herstellen. Das war auch.... [Kaffeemaschine zischt] Das letzte Buch, das war... keine Ahnung, das will ich jetzt auch nicht überdingsen, aber dieser Kampfmodus, vor dem hab ich nen bisschen Angst gerade. Weil du bist ja Tag und Nacht damit beschäftigt, stehst damit auf, gehst damit ins Bett, stehst damit auf, hast keine ruhige Minute. Es lässt dir ja keine ruhige Minute, das ganze Ding.

Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Was für ein bemitleidenswertes, ambitioniertes Würstchen war er doch gewesen und wie langweilig und durchschnittlich war das, was er hervorgebracht hatte, gemessen an den enormen Ambitionen, die er einst gehabt hatte. Mein Gott, hatte er sich damals angestrengt!

Erzähler Seit den Mitte der neunziger Jahre entstandenen Underground-Filmen «Gentleman» und «Silvester Countdown» wird Roehler in der Öffentlichkeit immer wieder als «das Enfant terrible des deutschen Kinos» apostrophiert. Nach dem Erfolg seines Klassikers «Die Unberührbare» der im Jahr 2000 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde, galt er manchen Kritikern als «neuer Fassbinder». Inzwischen ist Oskar Roehler einundsechzig Jahre alt.

Lesung (Roehler: «Selbstverfickung») Die Spuren seines «künstlerischen Schaffens» standen verstaubt in seinem Regal, DVDs seiner Filme, die wahrscheinlich niemanden mehr interessierten. Dabei hatte er damals tatsächlich gedacht, sie seien für die Ewigkeit.

Erzähler Er trägt ein schwarzes Hemd, eine schwarze Hose. Eine der auffälligen Brillen, die sein «Markenzeichen» seien, wie er vor ein paar Jahren sagte, und «die Tränensäcke» kaschieren», die er von seinem «Alten geerbt» habe.

Musik (Joachim Witt: «Der goldene Reiter» )

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Erzähler Roehler hat einen gebräunten Teint, weil er mehrere Monate im Jahr in seinem Haus auf Mallorca verbringt, wo auch sein Roman «Der Mangel» entstanden ist.

Musik (Joachim Witt: «Der goldene Reiter») An der Umgehungsstraße kurz vor den Mauern unserer Stadt...

O-Ton (Gerhard Falkner) Also, unter anderen Dingen, die mir bei Oskar sehr früh aufgefallen sind, waren seine Hände. Immer ein bisschen nervös, sehr feingliedrig. Und eben wie von einem gotischen Schnitzer. Lang, feingliedrig und sensibel.

Erzähler Gerhard Falkner. Lyriker, Autor des Berlin-Romans «Apollokalypse». Darin wirft Falkner auch ein Streiflicht auf Oskar Roehler, der nach Schulbesuchen in Darmstadt, Nürnberg und auf einem im unterfränkischen Wiesentheid gelegenen Internat Anfang der Achtziger nach Berlin zog, wo er zeitweilig in einer Peepshow am Bahnhof Zoo als Putzer jobbte und bereits erste Erzählungen schrieb.

O-Ton (Gerhard Falkner) Ich hab ihn kennengelernt 1981, als mein erster Gedichtband bei Luchterhand erschien, und sein Vater Klaus Roehler war eben mein Lektor.

O-Ton (Roehler) Und von daher: Wo steh ich? Ich steh außerhalb, wie immer. Ich stehe da, wo ich immer schon gestanden habe. Misstrauisch gegenüber den Pharisäern und Schriftgelehrten, den Philistern, die hier in unserer Gesellschaft ihr Unwesen treiben.

O-Ton (Gerhard Falkner) Und da tauchte eines Tages, während wir in Darmstadt in der Viktoriastraße saßen, Oskar Roehler auf. Es war ein Moment, an den ich mich gut erinnere, weil der war sehr eindrücklich. Naja, Oskar hatte zu dieser Zeit, ich weiß nicht, ob er sich dessen bewusst war, ob das auch so ne narzisstische Geste war, aber Oskar hatte zu der Zeit eine enorm starke Ausstrahlung.

O-Ton (Roehler) Keiner politischen Partei zugehörig, keiner politischen Bewegung zugehörig. Konservativ insofern, als ich ne große Skepsis habe und keine Zukunftszuversicht. Ich bin weitgehend auf mich alleingestellt. Hab noch diese drei wichtigen Verbündeten, die ich brauche, um meine Kunst zu verkaufen.

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O-Ton (Gerhard Falkner) Ja, es war, als ob der junge Artaud oder Bataille den Raum betreten hätte.

Musik (Joachim Witt: «Der goldene Reiter») Hey, hey, hey, ich war der goldene Reiter...

O-Ton (Gerhard Falkner) Ich war nen Moment lang wirklich ganz elektrisiert. Und er war für mich eigentlich der Inbegriff oder das Idealbild eines jungen wilden Autors.

O-Ton(Roehler) Sagen wir mal, wenn du in Goethescher Weise das Leben in Lebensalter einteilst, dann bist du mit sechzig Jahren ja an einem Punkt, wo du diese Selbstbehauptung innerhalb der Gesellschaft nicht mehr suchen musst. Die hast du ja hinter dir.

Musik (Joachim Witt: «Der goldene Reiter») ...doch dann fiel ich ab, ja dann fiel ich ab.

O-Ton (Gerhard Falkner) Er hat immer versucht, sehr wild und sehr krass zu sein. Das war eigentlich sein Hauptanliegen.

O-Ton (Harry Hass) Oskar war einer dieser Typen, die ich damals kennengelernt habe, der hervorgestochen ist aus der Meute der anderen.

Erzähler Harry Hass. Schriftsteller, Autor des Berliner Beat-Romans «Koko Metaller».

O-Ton (Harry Hass) Die Zeichen dafür lagen für mich nicht unbedingt an seinen Worten, an seinen Kleidern, an seiner Gestik, an seinem Habitus. Es war noch etwas anderes.

Erzähler Hass ist einer der Autoren des 1984 von Oskar Roehler unter dem Pseudonym Oskar von Reuth bei Luchterhand herausgegebenen Erzählungsbandes «Das Abschnappuniversum». Ein «Freund aus alter Zeit», wie Roehler in «Mein Leben als Affenarsch» schreibt. Diesen Roman über den Westberliner Underground der frühen achtziger Jahre hat er Harry Hass gewidmet. .

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Erzähler Als ich Hass im Juni 2010 in seiner Berliner Wohnung besuchte, hatten sich die beiden schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

O-Ton (Harry Hass) Es war doch das Vorhandensein, die Existenz einer Tragödie. Es war das Vorhandensein eines Geheimnisses. Einer Veränderung, einer Schädigung, einer Narbe, einer Wunde. Es war, ohne dass das zunächst so klar sichtbar war, doch etwas Sichtbares.

O-Ton (Roehler) Ich möchte mir gern ‚nen jungen Körper kaufen und meinen alten Kopf da draufsetzen. Und mich dann irgendwie fluten lassen mit wirklich guten psychedelischen oder wie auch immer gearteten Substanzen.

Musik (Joachim Witt: «Der goldene Reiter») 1-2-3-4 ...

Atmo 17 («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!» ) Robert: Man, ich bin jung. Ich träum von Platinblondinen mit Netzstrümpfen und knallroten langen Fingernägeln und rotgeschminkten Lippen.

Musik (Abwärts: «Maschinenland» )

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!») Robert: Die tragen Strapse in Berlin. Ja, mit zerrissenen Netzstrümpfen, und die ham... ihre langen roten Fingernägel ham die in ihrer feuchten Muschi.

Musik (Abwärts: «Neon Kind») Hey du, kleines superfeines Neonkind...

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!») Robert: Ich bin jung, ich will ficken und Drogen nehmen.

Musik (Abwärts: «Neon Kind») Ich will dich seh’n, ich will dich seh‘n

O-Ton (Roehler) Naja, wir fangen in zwei Monaten an zu drehen, wenn alles gut geht. Gibt Verwerfungen im Moment. Gibt Zwistigkeiten, gibt Sachen, wo man sagt: «Hm, möchte ich jetzt nicht Kompromiss eingehen.»

Musik (Abwärts: «Neon Kind») Kinder fressen rot.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Mario Striehn: Gut, dann gehen wir auf Anfang zum Drehen! 10

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Roehler: Armin? Jochen Schropp: Ja. Roehler: Wenn ich «Bitte» sage, dann versuch doch mal son Auf- und Ablaufen... Mario Striehn: Achtung, Ruhe zum Drehen! Oliver Masucci: Das ist echtes, nä? Die Bayerische Filmförderung hat das bezahlt. Die Bayerische Filmförderung hat uns für 5000 Euro Kokain gegeben für den Film. Roehler: Habt Ihr Schweiß drauf? Oliver Masucci: Damit wir’s ins Klo runterschütten... Mario Striehn: Achtung. Ruhe zum Drehen.

Erzähler September 2019, Bavaria Studios, der letzte von nur 25 Drehtagen. Das Bett und das Toilettenbecken, ein Kasten Bier. Roehlers Aufnahmeleiter Mario Striehn, der Kameramann Charlie Koschnick. Einzelne Crew-Mitglieder, die auf leisen Sohlen durchs Zwielicht gehen.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Tontechniker: Ton läuft. Assistentin: 79, Charlie 1, die Vierte. [Synchronklappe] Roehler: Das ist gut. Und bitte. Jochen Schropp: Das ganze Zeug da runter zu spülen, was soll denn des? Oliver Masucci: Die Bullen sind gerade ins Treppenhaus reingelaufen, Mensch. Jochen Schropp: Wie kimmsten darauf? Bist du paranoid oder was?

Erzähler In einem anderen Teil der weitläufigen Halle die von Sprayern an die Wand gesprühten Kulissen: Die Palmen von Cannes, wo Fassbinder 1974 mit «Angst essen Seele auf» beim Festival den Preis der internationalen Filmkritik gewann. Eine gesprayte Hotelkulisse, gesprayte Blumensträuße und Sessel. Stilisierte Motive. «Caligari» meets «Dogville», eine Reminiszenz an die radikale Künstlichkeit von Fassbinders letztem Film «Querelle».

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Oliver Mascucci: Du bist ein blöder Idiot. Jochen Schropp: Dann bin ich halt nen Idiot. Und Du, Du bist irre und hast zuviel Koks genommen. Dann geh I in die Eichen, da sans wenigstens noch normal. Du Arschloch! Oliver Masucci: Hau ab. Jochen Schropp: Ja. 11

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Oliver Masucci: Dann geh doch!

Erzähler Der Schauspieler Oliver Masucci mit Fassbinders Gesicht. Jochen Schropp in der Rolle von Armin Meier, Fassbinders Geliebtem. In «Enfant Terrible» erzählt Oskar Roehler nach einem Drehbuch von Klaus Richter Episoden aus den verschiedenen Lebens- und Schaffensphasen des Regisseurs.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Gut, jetzt gehen wir auf die Handkamera. Mario Striehn: Einstellung gedreht. [Geräume, Small Talk] Mario Striehn: Kurzer Umbau auf Handkamera.

Musik ( Messiaen:“Oraison“)

Erzähler Roehler trägt eine helle Hose, ein braunes Sakko. Masucci einen weißen Bademantel. Wenn sich die beiden am Set gegenüberstehen, wirkt das wie eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen Roehler und dem seit der Schulzeit bewunderten Fassbinder.

O-Ton (Roehler) Ich bin aus dem Internat raus, das war ne Zeit mit 17, als ich... Da bin ich aus meinem Internat in Wiesentheid am Freitag immer mit nem Bus und dann mit der Bahn nach Frankfurt gefahren. Da saß man da vier Stunden, dann kam man abends in Frankfurt am Hauptbahnhof an, und dann war man im Bahnhofsviertel. Ich bin dahin gefahren, weil ich ins Kino gehen wollte.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Gut dann... Oliver Masucci: Heute mal keine Sexszene, is auch geil. Mario Striehn: Dann sind wir klar?

O-Ton (Roehler) Und die Jahre 76 und 77, als das anfing, war so das beste Kinojahr seit hundert Jahren. Das war das Jahr als «Taxi Driver», «Dear Hunter», «Der letzte Tango von Paris», «Die 120 Tage von Sodom» und so weiter rauskamen. Das war son extrem todessüchtiges Kinojahr. «In einem Jahr mit 13 Monden» kam ein kleines bisschen später. Aber es war so das Jahr, wo das Kino für mich einen unglaublichen Sog verursacht hat.

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Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Assistentin: Nur Kamera. 79, Charlie 2, die Erste. Roehler: Und bitte... Und zu Fassbinder rüber. Jochen Schropp: Das ganze Zeug da runterzuspülen, was soll denn des?

O-Ton (Roehler) Als ich als Autodidakt mir das beigebracht hab, was im europäischen Kino passiert ist. Das geschah recht früh. Das wurde initiiert durch Besuche im Heimkino, das haben so Hippies gemacht kurz vorm Abitur. Durch die hat man die Fassbinder-Filme kennengelernt und «Harold und Maud» und was weiß ich.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Carl-Friedrich Koschnick: Machen wir noch eine? Roehler: Machen wir noch eine. War doch alles drin, oder? Masucci: Haste halt nicht aufgenommen? Ich frag mich, wo guckste mit der Kamera hin? Carl-Friedrich Koschnick: Ich war nur beim Armin, der war so gut. Roehler: Ja, dann mach doch das jetzt doch mal mit. Und mach mal nen anderen Rhythmus. Carl-Friedrich Koschnick: Ja. Roehler: Kannste jetzt bei Fassbinder am Anfang bleiben. Roehler: Geht aus‘m Bild. Geht aus dem Bild!

O-Ton (Roehler) Dann bin ich einmal nach Darmstadt zu meinem Vater gefahren, hab mich mit dem gestritten gehabt und hab dann gesagt: «Okay, ich fahr jetzt nach Frankfurt.»

Musik ( Seefeel: “Aug30“)

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Oliver Masucci: Du bist ein Idiot, verstehst Du? Ein ganz blöder Idiot. Vollidiot!

O-Ton (Harry Hass) Der alte Roehler? [Lachen] Ein Hallodri war das. Ich mochte ihn. Ich möchte jetzt nicht, dass Du diesen Satz so schreibst, wie ich ihn sage. Darauf verlass ich mich. Wenn Du das tust, mach ich Dich kalt. Ja, das sage ich Dir nur...

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible] Oliver Masucci: Sag Dein Satz!

O-Ton (Gerhard Falkner) Also Klaus Roehler fühlte sich in jeder Hinsicht überlegen. In intellektueller und in körperlicher Hinsicht. Und da hat er immer Mittel gefunden, das dem Oskar auf ne unschöne Weise zu vermitteln.

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O-Ton (Harry Hass) ...weil sie sich selber damit geschlagen haben. Und Oskars Vater war manchmal auch so eine Figur.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Oliver Masucci: Hau ab!

O-Ton (Roehler) Und bin dann in Frankfurt gelandet. Und da war ich vor ne ganz merkwürdige Welt gestellt. Ich hatte immer nen bisschen Geld in der Tasche, aber es war nie genug. Das heißt, ich konnte eine Nacht in die Jugendherberge gehen und mir einen Kinobesuch leisten und mir irgendwo noch nen paar Sachen zum Essen klauen. Die hab ich geklaut, weil ich das Geld nicht hatte irgendwie. Ich hab die geklaut. In dem Wissen, dass ich nicht erwischt werde. Dass ich schneller bin.

O-Ton (Gerhard Falkner) Man muss natürlich vorausschicken, dass Klaus Roehler zu der Zeit der bedeutendste deutsche Lektor gewesen ist. Alle Leute wussten, dass er mit so gut wie allen wichtigen Autoren befreundet war – ob das Ingeborg Bachmann war oder Uwe Johnson.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Was ist mit der anderen Kamera? Warum ist die nicht totaler? Oliver Masucci: Weil die Scheiße is!

O-Ton (Gerhard Falkner) Also Klaus Roehler hat ihm das Gefühl gegeben, dass er eigentlich nicht so bedeutend ist für wie er sich hält. Und das war natürlich schmerzhaft, ja.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Oliver Masucci: Blut, Schweiß und Tränen. Das ist die Währung, in der hier bezahlt wird. Blut, Schweiß und Tränen.

O-Ton (Harry Hass) Die Verwundung, diese Wunde, sie ist das, was einen Menschen herausreisst aus seiner eigenen Existenz. Was ihn herausreisst aus seinem üblichen Denken und dem Denken der Anderen.

O-Ton (Gerhard Falkner) Weil ich glaube, dass Oskar doch ziemlich stark drunter gelitten hat, dass er von seinem Vater immer, wenn Zeugen dabei waren, gedemütigt wurde.

O-Ton (Gerhard Falkner) Und Oskar hat unter diesen Vorwürfen ziemlich gelitten, auch sichtlich körperlich mit seinen Bewegungen, die er damals auch immer gemacht hat, wenn er seinen Vater nicht bremsen konnte.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») 14

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Roehler: Jetzt ergreifen Dich so schmerzhafte Gefühle, ich weiß. I know. Oliver Masucci: Jetzt dreh die Scheiße, Mann!

O-Ton (Roehler) Und auf der Bahnhofsstraße gab’s damals schon Nutten. Gab’s damals schon ganz viele Puffs, und die Nutten sahen ganz toll aus. Und die Beleuchtung war irre, und es war eigentlich viel interessanter draußen als ich es je gesehen habe.

Atmo («Enfant Terrible» ) Musik: Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt...

O-Ton (Harry Hass) Es gibt doch Menschen, die werden nur beschriftet. In ihr Fleisch, in ihren Geist und in ihr Unterbewusstes wird nur tätowiert von außen.

O-Ton (Gerhard Falkner) Ich glaube, er war ein extrem unglückliches Kind. Wie man ja weiß, die Mutter hat ihn mehr oder weniger erstmal absetzen wollen und sich dann kaum um ihn gekümmert. Er ist dann auch von seinen Eltern immer in Reuth oder in Franken bei irgendwelchen Verwandten untergekommen.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Jochen Schropp: Und die, die sich umgebracht haben, die san selber dran schuld. Musik: Nur die Sterne, sie zeigen Dir am Firmament...

O-Ton (Gerhard Falkner) Und ich glaube, dass er ein reines Angstkind gewesen ist.

O-Ton (Roehler) Ich konnte mir den Besuch bei den Nutten nicht leisten, und ich war auch zu schüchtern. Aber das war so das, wo ich so dachte: «Wow, that’s the fuck. Das ist jetzt the fucking life. Das ist jetzt das, was ich eigentlich will.»

O-Ton (Harry Hass) Und dann gibt es doch Menschen, die tätowieren sich selbst.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») [Applaus]

Atmo («Enfant Terrible» ) Musik: Bella, bella, bella, Marie... XY: Beim nächsten Film... Fassbinder: Nix, nächster Dreh. Film abgedreht, weißt Du? Aus. Vorbei.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») [Applaus]

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») 15

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Oliver Masucci: So Leute, Ihr wart ein Wahnsinnsteam. Ein Wahnsinnsteam.

Atmo («Enfant Terrible» ) Fassbinder: Der Beifall, die Buhs, ich brauch das alles nicht.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Man, du hast das so toll gemacht. Ich knie vor Dir, das war so großartig. [Applaus ebbt ab]. So jetzt ist Stille, jetzt weiß keiner mehr, was er sagen soll. Is ja auch richtig so. Jetzt ist halt ein Film mehr in dieser Welt, der hoffentlich irgendetwas zu bedeuten hat.

Atmo («Enfant Terrible») Brigitte Mira: Rainer, Rainerchen. 17 Mal, 17 Mal wurde der Film von Ovationen unterbrochen. 17 Mal. Und am Ende gab es frenetische Bravorufe, eine ganze halbe Stunde lang. Oh, es war so schön.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Dann hätte sich’s gelohnt, diese Plackerei. Die Schufterei, der Wahnsinn. Deine unglaubliche, übermenschliche Anstrengung, alles auf Deinen Schultern zu stemmen.

Atmo («Enfant Terrible») Fassbinder: [Schluchzen] Brigitte Mira: Rainerchen. Fassbinder: [Schluchzen] Brigitte Mira: Rainerchen. Ach, Du. Fassbinder: [Schluchzen] Ach Biggi... Brigitte Mira: Ja. Fassbinder: Ich dank Dir. Du hast den Film so mit Leben gefüllt. Brigitte Mira: Und ich danke Dir, Rainerchen. Ich danke Dir. Kurt Raab: [Lachen]

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: ...weil das aus voller Körperkraft und Geisteskraft entsteht, die sich keiner mehr traut. In dieser Filmlandschaft, leider.

Atmo («Enfant Terrible» ) Fassbinder: Ich werd jetzt nur noch Filme drehen, die die Menschen berühren. Kurt Raab: [Lachen] Fassbinder: Für internationales Publikum. Kurt Raab: [Lachen] Fassbinder: Prost, Leute, Prost.

Atmo (Dreharbeiten «Enfant Terrible») Roehler: Jetzt applaudieren wir nochmal. [Applaus, Juchzen, Pfeifen]

Atmo («Enfant Terrible») [Gläser erklingen beim Anstoßen] 16

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Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!») Robert: Fuck. Sanja: What? Robert: Das is meine Mutter. Sanja: What? Robert: Das is meine Mutter.

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!» ) [Robert schaltet Fernseher laut] Interviewer: ... wie sehr Sie die Frauen verachten, weil sie sich seit Jahrtausenden von den Männern als Gebährmaschinen missbrauchen ließen. Aber ist es dann nicht ein Widerspruch, dass Sie selbst einen Sohn haben? Gisela Ellers: Ich habe immerhin alles versucht, um das Balg abzutreiben. Interviewer: Das Balg?

Atmo («Lulu & Jimi» ) Lulu: Das Kind muss weg. Das Kind ist tot. Das Kind muss weg.

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!» ) Gisela Ellers: Ja, das Balg. Anders konnte man den Fleischklumpen ja kaum nennen, der immer größer wurde, bis er mich fast zum Platzen brachte.

Musik (Magda Hain: «Capri Fischer») Männerchor: Wenn bei Capri... Hain: Ahaaaaaaaaa...

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!») Gisela Ellers: Ich habe Wodka in mich hineingeschüttet, um das elendige Getrampel zu ersticken, das mich permanent beim Schreiben meines Romans gestört hat. Aber es hat alles nichts genützt. Interviewer: Das Balg hat es auf die Welt geschafft.

Atmo («Quellen des Lebens») [Babygeschrei. Klappernde Schreibmaschine.]

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!» ) Gisela Ellers: Ich habe bei der Geburt dem Arzt gesagt, tut das Bündel weg. Mir wird schlecht, als er es mir zeigen wollte.

Atmo («Quellen des Lebens») [Hämmern gegen Tür. Öffnen Tür.] Gisela Ellers: Sag mal, was soll das? Ich arbeite.

O-Ton (Roehler) «Daddy’s zu Hause, fuck me. Say fuck me, Daddy’s zu Hause. Say fuck me, Du Fotze!» [Lachen]

Atmo («Quellen des Lebens» )

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Klaus Freytag: Warum lässt Du ihn allein, wenn ich im Rundfunk bin? Er hat Hunger. Er muss gewickelt werden. [Babygeschrei] Gisela Ellers: Ah, ne, tu das weg. Ich muss mich sonst übergeben. Klaus Freytag: Is doch klar, dass er anfängt zu stinken, wenn Du ihn nicht wickelst. Du würdest auch stinken, wenn man Dich in Deiner eigenen Scheiße liegen lassen würde.

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!») Gisela Ellers: Ich hatte recht. Es war die Mühe nicht wert. Mein sogenannter leiblicher Sohn ist heute Putzer in einer Peepshow. Sanja: What a fucking bitch.

Musik (Magda Hain: «Capri Fischer») Männerchor: ... vergiss mich nie. Hain: Ahahahaaaaa.

O-Ton (Roehler) Dann bin ich aber doch noch ins Kino gegangen. Dann hab ich «Taxi Driver» gesehen mit 16, 17 oder so. Und das hatte dann zur Folge, dass ich rumgelaufen bin wie Travis Bickle, dass ich mir die gleiche Lederjacke irgendwie besorgt habe, das gleiche Hemd, die gleichen Hosen...

O-Ton (Roehler) Und in der zweiten Nacht konnte ich mir dann das Hotel nicht mehr leisten, und dann bin ich zum Teil in so Billardsalons in der Nähe vom Bahnhof reingegangen.

Musik (David Bowie: „Warszawa“)

O-Ton (Roehler) Einmal dachte ich tatsächlich, das muss der gewesen sein, wo Fassbinder später «In einem Jahr mit 13 Monden» gedreht hat, weil das war auch son langgestreckter Schlauch, der in som Ozeanlicht und völlig von der Welt abgeschlossen...

O-Ton (Stefan Arndt) Er hat eben wirklich ne herausragende eigene Handschrift im Film geschaffen und auch durchgehalten.

Erzähler Stefan Arndt, Filmproduzent. Mitbegründer und einer der Geschäftsführer von X Filme Creative Pool. Arndt ist seit «Agnes und seine Brüder», Roehlers 2004 angelaufener Hommage an Fassbinders Melodram «In einem Jahr mit 13 Monden», einer von Roehlers wichtigsten Förderern und Mitstreitern.

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O-Ton (Stefan Arndt) Das gehört ja auch dazu, dass man einen bestimmten Weg eben auch durchhält. Und er ist der letzte von diesen Autorenfilmern, die noch Autorenfilme machen.

O-Ton (Mechthild Holter) Ich weiß nicht, ob ich noch jemanden kenne, der so sehr auch Herr seines Werks ist, und das meine ich von Innen heraus.

Erzähler Mechthild Holter. Gründerin und Geschäftsführerin der Agentur Players. Oskar Roehlers Agentin seit «Die Unberührbare». In diesem Film über die letzten Lebenstage der Schriftstellerin Hanna Flanders hat Oskar Roehler sich stark an die Biographie seiner 1992 durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Mutter angelehnt.

O-Ton (Mechthild Holter) Ich glaube, dass die Tatsache, dass er ein Autodidakt ist, damit zu tun hat, dass er woanders nichts hätte lernen können. In seinem Sinne ist dieser unmittelbare Impetus, sich auszudrücken, entweder mit Worten oder filmischen Mitteln, geht nen anderen Weg und muss sich anders finden als über Dritte.

O-Ton (Carl-Friedrich Koschnick) Naja Fassbinder hat die Generation geprägt. Diese Konsequenz, wie er war, und auch hin bis zur Selbstvernichtung und so, das hat auch viel mit Oskar zu tun.

Erzähler Charlie Koschnick, Kameramann. Mit «Suck My Dick», Roehlers 2001 gezeigter Gesellschaftssatire über einen von seinen Urängsten verfolgten Schriftsteller, fing die Zusammenarbeit an. Seitdem hat er acht weitere Oskar-Roehler-Filme gedreht: auch den neuen Film «Enfant Terrible».

O-Ton (Carl-Friedrich Koschnick) Er hat glaub ich auch ne Zeitlang versucht, wirklich so radikal zu sein. Um frei zu werden auf ne Art von allen Zwängen und Gedanken.

O-Ton (Oliver Masucci) Ich glaub, das, was den Roehler antreibt, war schon immer das Gleiche.

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Erzähler Oliver Masucci, Schauspieler. Hauptdarsteller von Roehlers Komödie «». In «Enfant Terrible» Rainer Werner Fassbinder.

O-Ton (Oliver Masucci) Da gibt’s eine unendliche Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach Liebe, Geborgenheit und nach sozialer Anerkennung.

O-Ton (Alexandra Fischer-Roehler) Der Motor seiner Arbeit, zum einen, ist mit Sicherheit immer irgendwo auch der Schmerz. Zum zweiten die Sehnsucht.

Erzähler Alexandra Fischer-Roehler. Modedesignerin. Seit 2000 Oskar Roehlers Ehefrau. Als ich sie im Sommer 2009 in Berlin zum Interview traf, hatte Roehler die Dreharbeiten von «Jud Süß – Film ohne Gewissen» beendet und arbeitete bereits an seinem ersten, 2011 unter dem Titel «Herkunft» veröffentlichten Roman.

O-Ton (Alexandra Fischer-Roehler) Ich hab auch manchmal das Gefühl, dass er sich schon auch eher mit den Verlierern identifiziert als mit den Gewinnern. Es sind eigentlich schon immer die Künstler, die es nicht unbedingt so leicht im Leben hatten und bestimmt auch irgendwo leiden mussten.

O-Ton (Carl-Friedrich Koschnick) Man versucht ja dann irgendwie auszubrechen oder sowas, und das ist ja son Beispiel gewesen, Fassbinder. Ja, so kann man’s schaffen.

O-Ton (Oliver Masucci) Und da sind wir uns irgendwie ähnlich. Mir hat der Oskar wahnsinnig gefallen, weil er von Anfang an so angreifbar war, und weil man die Ängste von ihm so sieht. Und weil er so sehr ein abgründiger Mensch ist und das nicht versteckt.

Musik (Joachim Witt: «Kosmetik»)

O-Ton (Oliver Masucci) Weil wir beide diesen, in gewisser Art, Minderwertigkeitskomplex haben und unsere Phantasie da aber so behaupten müssen gegen eine Gesellschaft, die die unterdrückt hat oder gegen die Eltern.

O-Ton (Oliver Masucci) Ja also zumindest hat er die Liebe nicht von denen bekommen, die sie ihm hätten geben sollen. Das geht mir immer so nah, da möchte ich ihn immer nur in den Arm nehmen und streicheln.

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Musik (Joachim Witt: «Kosmetik») Und meine Hände verursachen Brände, in fremden Seelen können sie quälen.

O-Ton (Roehler) Ich war ja wirklich nen kompletter Einzelgänger auch im Internat. Ich hab das alles alleine gemacht. Das war eigentlich immer diese Totalverweigerung, sagen wir mal, in so ne durchnittliche bürgerliche Gesellschaft mich da einzuschleimen oder einzukaufen.

O-Ton (Roehler) Wo hab ich geschlafen? Da wo heute die Penner schlafen irgendwie...

O-Ton (Roehler) Und wenn ich da heute dran zurückdenke, liebe ich diese Zeit mit mir selbst.

Atmo («Agnes und seine Brüder» ) Agnes: You had such big plans. Your head was so full of ideas.

O-Ton (Roehler) Es war ja ne große Zeit. Und eines hab ich auch gelernt in der Zeit: Dass es nicht wichtig ist, 500.000 Zuschauer zu haben. Ich glaub «In einem Jahr mit 13 Monden» hatte, wenn’s hochkommt 10.000 Zuschauer im Kino. Aber das war so eigentlich einer der Filme, die mein Leben, mein künstlerisches, meine Rezeption am meisten geprägt haben.

Atmo («Agnes und seine Brüder») Agnes: So, have you achieved it all? Are you happy?

O-Ton (Roehler) Ich bin in den Film glaube ich drei Mal hintereinander gegangen, bin die ganze Nacht durchn Park gelaufen und hab den Film verinnerlicht und verarbeitet, weil der mich so beeindruckt hat.

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk! ) Robert: Ich war ohne einen Pfennig Geld in Berlin angekommen. Die herrliche Anonymität der Großstadt erwartete mich. Wo mich niemand kannte und ich ganz von unten anfangen konnte.

Erzähler: Harry Hass:

O-Ton (Harry Hass) Viele Menschen kamen damals nach Berlin, weil sie flüchteten vor der Bundeswehr. Weil sie versuchten, jenseits der herkömmlichen Strukturen, vielleicht eine andere Lebensform, was auch immer das sein mag, zu finden.

O-Ton (Harry Hass) Oder weil sie vorhatten, ihre künstlerischen Ideen zu entwickeln. 21

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Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!») Schwarz: Du kannst hier putzen, wenn Du Geld brauchst.

O-Ton (Harry Hass) ... und ich fand Oskar war in diesem Pulk, in diesem melting pot, in dieser Schattenwelt von Welt, war Oskar ein kleines Glitzermeer.

O-Ton (Gerhard Falkner) In erster Linie war den Leuten klar, die mit ihm bekannt waren und die wir teilweise auch getroffen haben, dass er schreibt.

O-Ton (Harry Hass) In der ganzen Zerrissenheit des Seins, ein bestimmter Fleiß, eine Lust, sich zurückzuziehen und sich stundenlang mit seiner Schreibmaschine oder seiner Geschichte oder Erzählung zu beschäftigen.

Erzähler: Gerhard Falkner

O-Ton (Gerhard Falkner) Er hat auch ne Zeitlang Kampfsport gemacht. Karate, glaub ich.

O-Ton (Gerhard Falkner) Er hat den umgekehrten Weg genommen, den man erwartet hätte.

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!» ) Schwarz: Und jetzt kommt der Moment, auf den Ihr alle gewartet habt, die heißeste Nummer der Show...

Atmo («Gentleman» ) Frank: Ich bin ein Star! Ich bin Johnny Cash! Ich bin der größte Country- Furz der Welt.

O-Ton (Harry Hass) Ja. Das war damals schon sichtbar... Dass ich wusste, da ist nicht nur der Intellekt da, um gewisse Dinge ablesen zu können. Sondern da vernarbt auch die Wunde.

Atmo («Gentleman») Frank: Ich spiele für meine Großmutter, die im Alter von 56 an einem Gehirnschlag gestorben ist.

O-Ton (Gerhard Falkner) Ich hab zufälligerweise ihn dann nochmal getroffen, als er schon mit Film beschäftigt war. Ich musste mir dann auch nen paar fürchterliche grausame Szenen anschauen, und ich mag keine grausamen Szenen in Filmen. Aber Oskar war sehr versessen darauf.

Atmo («Gentleman») 22

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Frank [singt]: Oma....

O-Ton (Harry Hass) «Hey, Harry, Oskars Film ist da. Super. Lass uns hingehen und ihm gratulieren.»

O-Ton (Gerhard Falkner) Und da ham wir auch nochmal kurz gesprochen, weil mich das doch irritiert hat, dass er nicht der Literatur den Vorzug gegeben hat. Das hatte ja auch mit der Erbschaft zu tun, die er gemacht hat, weil vorher konnte er sich das alles einfach nicht leisten.

Atmo («Gentleman») Frank [singt]: Oma, why are you tot?

O-Ton (Harry Hass) «Großartig», meinte ich. «Oskar, Klasse. Warten wir ja schon lange drauf, von ihm was zu hören, von ihm was zu sehen. Das war damals seine erste Filmarbei..»

Atmo («Gentleman») Frank: [singt]: Oma, why are you tot?

O-Ton (Roehler) [beim Gehen Prenzlauer Allee] Das ist nen großer Mist hier. Ne völlig unerträgliche Stadt. Die Leute haben kein Benehmen, sind schlecht angezogen, haben keinen Stil. Und alles, was hier stattfindet, ufert komplett aus.

Erzähler Im Februar 2020 geht Oskar Roehler die Prenzlauer Allee in Berlin entlang Richtung Alexanderplatz. Ende des Monats erscheint «Der Mangel», Roehlers neuer Roman. Darin versetzt er sich in die Landschaft seiner Kindheit zurück, die er teils bei den Großeltern im fränkischen Reuth verbracht hat, und erzählt von der emotionalen und intellektuellen Verarmung im materialistischen «Wohlstandswunder» der frühen sechziger Jahre. Von einer ersten Begegnung mit Kunst. Von der «frühen, kindlichen Droge» der Imagination, die ihm und seinen Mitschülern von einem Lehrer verabreicht wurde. Sein Film «Enfant Terrible» ist in der Post-Produktion.

O-Ton (Roehler) [im Gehen, Prenzlauer Allee] Es ist grässlich, die Stadt ist grässlich. Eine grässliche Stadt. Der einzige Vorteil, den die Stadt hat, ist, dass man halt hier Leute trifft, die wohnen halt alle hier in diesem Scheißhaufen irgendwie.

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Erzähler: Stefan Arndt

O-Ton (Stefan Arndt) Klar ist er ein großer Intellektueller und so weiter, geht auch durch die Gegend wie ein New Yorker oder Pariser Literat, mit großen Schritten und weiten Spaziergängen. Aber letztendlich macht er aus ner tiefen.

O-Ton (Roehler) [Im Gehen, Prenzlauer Allee] Es hat sich nicht verbessert, mein Verhältnis zu der Stadt. Ist eher... Ich flüchte, wann immer ich kann nach Mallorca, mit jedem Flieger, den ich kriegen kann irgendwie.

Lesung (Roehler: «Der Mangel») Das erste Gefühl von grenzenloser Freiheit, das uns erfasste, war, als wir in jungen Jahren, in der Pinakothek in München, große Kunst sahen und uns angesichts dessen, was wir sahen, eine Gänsehaut den Rücken hinunterlief.

O-Ton (Stefan Arndt) Das hat schon bisschen was von Genie, was er hat, und wo ich mich dann auch freuen würde, wenn er sich mal von autobiographischen Zwängen auch nen bisschen mal befreien würde und einfach mal auch für sich selber etwas glücklicher sein Werk schaffen könnte.

Lesung (Roehler: «Der Mangel») In der Pinakothek in München fühlten wir uns ungeheuer bereichert, weil wir, anders als in der Warenwelt der Kaufhäuser, die nur für die Reichen da und nur mit Geld zu bezahlen war, hier kostenlos einen tiefen Zugang zu den Kunstwerken bekamen.

O-Ton (Stefan Arndt) Ich glaube, manche Menschen, und ich würde mal vermuten, Oskar gehört dazu, würden viel geben, diese Biographie nicht zu haben, ja? Und vielleicht ein etwas ruhigeres und etwas froheres Leben zu haben. Und ich bin mir sicher, dass Oskar nicht glaubte, als er anfing, Filme zu machen, dass er so viele Filme machen muss, um mit seiner Biographie abzuschließen.

Lesung (Roehler: «Der Mangel») Trat man wie wir fasziniert und nah an die Visionen auf diesen Leinwänden heran, um auch die überbordenden Details zu studieren, so wurde man überflutet wie auf einem Trip. Man wurde augenblicklich ein Junkie einer Kunst, die, wie es schien, Reize intravenös verabreichte.

O-Ton (Stefan Arndt) Und wenn man jetzt aber sieht, so die letzten Filme, ich glaube, das hat auch son Punkt erreicht, wo das jetzt nicht mehr so wichtig ist. Also

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25 zumindest meinem Gefühl nach hat «Enfant Terrible» quasi nichts mehr mit Oskars Biographie zu tun.

O-Ton (Oliver Masucci) Und dieser ganze Film... In den 25 Tagen, ich muss sagen, wir haben den von 55 Tagen auf 25 runtergebrochen. Das war mal für 8 Millionen budgetiert und wurde dann für glaube ich 3 ½ gedreht. Das heißt, wir waren schon komplett überfordert. Und haben dann das alles im Studio gedreht und haben versucht, selber, während wir das taten, herauszufinden, was wir da eigentlich machen.

Musik (Messiaen: «Oraison»)

Lesung (Roehler: «Der Mangel») Wir waren von der Faszination ergriffen. Wir wollten fasziniert sein und fasziniert werden und nicht mehr aufhören damit.

O-Ton (Oliver Masucci) Viele Szenen waren halt Film im Film. Das heißt, Oskar Roehler hat gesagt: «Ton ab, Kamera und Action», und dann hab ich wieder gesagt: «Ton ab, Kamera und Action.» Und dann gab’s einen Wettstreit, wer das jetzt besser sagt. [Lachen]

Lesung (Roehler: «Der Mangel») Wir wussten damals [...] noch nicht, dass man uns ein Mittel zur Hand gegeben hatte, mit dem wir eines Tages selbst etwas anfangen konnten...

O-Ton (Oliver Masucci) Wir haben uns auch so gestritten bei der Arbeit, wir haben uns oft wie die Kinder in den Haaren gelegen und hatten uns an der Gurgel. Und dann wussten wir nicht, wie’s weitergeht und ich hab wie eine Diva gesagt: «Ich reise ab.» Und er hat gesagt: «Dann geh, verpiss Dich.»

Lesung (Roehler: «Der Mangel») ...dass wir lieber gleich vollkommen mit Haut und Haaren in die Kunst einsteigen wollten, weil uns gar nichts anderes übrig blieb.

O-Ton (Oliver Masucci) Oskar hat mir irgendwann geschrieben: «Es hat sich gelohnt, sich auf dem Altar der Kunst zu opfern.» Sowas irgendwie. Dieses sich komplett preisgeben, dieses sich dahinlegen mit seiner ganzen Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit, die man hat, sich so preisgeben, offen, angreifbar machen und ne große Fläche bieten, wo andere reinschießen können. Ich glaub, das ist etwas, was der Roehler auch in sich trägt.

Lesung (Roehler: «Der Mangel») Wir waren auf den puren Stoff angewiesen, auf den Kick. Wir wollten die volle Dröhnung, bevor wir überhaupt begriffen, was mit uns geschah.

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Erzähler Oskar Roehler erzählt von seiner Hassliebe zu Berlin, von seinem Haus auf Mallorca und den drei Katzen. Er sitzt in seiner Wohnung und liest aus «Der Mangel».

Lesung (Roeher: «Der Mangel») Wenn wir von einem Kunstwerk den Kick gekriegt hatten, waren wir bereit, darüber nachzudenken. Vorher nicht. Wir lasen nicht, wie viele andere, zuerst den Zettel und warfen dann einen flüchtigen Blick auf das Bild. An Konzeptkunst gingen wir einfach vorbei. Wir vertrauten nur auf die Gänsehaut als physische Reaktion auf große Kunst.

Erzähler Er trägt einen lilafarbenen Cordanzug aus dem Fundus von Tele 5, wo er mittlerweile in dritter Staffel «Skandalfilme» präsentiert.

O-Ton (Roehler) Ich muss dazu auch sagen, dass für mich das Schreiben an dem Roman enorm anstrengend war. Also sprich, ich hab zum Teil Zustände durchgehalten, in denen ich nicht schreiben konnte, in denen ich nicht weiter kam, die ich früher nicht durchgehalten hätte. Weil wenn ich dann 3 Tage, 4 Tage keinen Schritt weitergekommen bin oder nur Unsinn verzapft habe, weil ich nicht rangekommen bin an die Quelle, dann hätt ich früher auch aufgegeben.

Erzähler Er hat dunkles, aus der Stirn zurückgekämmtes Haar, im Nacken etwas länger . Er trägt keine Brille. Vor wenigen Wochen ist Oskar Roehler 61 Jahre alt geworden.

O-Ton (Roehler) Und ich hab jetzt ... Ich liege dann halt da und warte ab.

Atmo («Die Unberührbare» ) Viktor: Hallo Mama. Wie geht’s? Hanna: Mhm... Viktor: Komm rein.

Erzähler Eine hohe weiße Decke, gewachstes Parkett. Eine weiße Ledercouch, davor ein weicher weißer Teppich. Ein Fernseher, eine lange Wand voller Bücher. Oben auf der Galerie der Wohnung steht ein Wäscheständer.

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Atmo («Die Unberührbare» ) Viktor: Und? Was machst du? Schreibst Du? Arbeitest Du an einem neuen Roman?

O-Ton (Roehler) Aber ich bilde mir ein, dass achtzig Prozent der Leute gesagt haben: «Was soll das? Warum liegst Du jetzt schon wieder und weißt gar nichts mehr und bist schwindlich und fällst fast in Ohnmacht, weil Du so dumm bist irgendwo.» [Lachen]

Atmo («Die Unberührbare» ) Hanna: Und Du? Was machst Du? Versuchst Du auch noch zu schreiben? Viktor: Was heißt «versuchst»? Natürlich schreib ich. Wie meinst Du das überhaupt: Ob ich’s versuche?

Atmo («Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!») Klaus Rother: Deine Mutter hat damals recht gehabt. Wir hätten Dich abtreiben müssen.

O-Ton (Roehler) Das musst ja auch erstmal durchkämpfen. Ich hab das Buch geschrieben vor allen Dingen im Winter von vier Uhr oder halb fünf Uhr bis zehn Uhr morgens.

Atmo («Die Unberührbare») Hanna: Das war doch überhaupt nicht abwertend gemeint. Bloß, Du hast mir doch immer erzählt, dass Du alles weggeschmissen hast. Viktor: Das war, als ich auf Speed war. Ich bin nicht mehr so selbstzerstörerisch drauf.

Musik (Suicide: «Dream Baby Dream»)

O-Ton (Roehler) Stockdunkel, vollkommen ausgenüchtert in so ner klinischen Atmosphäre, wo um mich herum überhaupt nichts existierte. Außer Dunkelheit und dem weißen Blatt Papier.

O-Ton (Roehler) Das Schreiben ist ja auch im Grunde son Selbstreinigungsprozess. Oder son Prozess, der den eigenen inneren Kosmos zusammenhält, sonst würdest du ja vor lauter Sinnlosigkeit irgendwie auseinanderfliegen in der Gegenwart.

O-Ton (Roehler) Und ich glaub, jeder halbwegs vernünftige Schriftsteller, der im Kern irgendwas auszusagen hat, der hat dieses Momentum, wo er durch ne krasse Zeit von psychischer Dunkelheit gegangen ist. Meist in der Kindheit, und dieser Moment wird immer der Antagonismus sein oder wird auch immer diese Dialektik haben, dass man einerseits versucht, die 27

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Glorie des Lebens darzustellen, die sinnliche Kraft, die das Leben hat, und andererseits aber auch, dass das Leben nur ein ganz, ganz dünner Vorhang vor dem Nichts ist, sagen wir mal, der jederzeit zerrissen werden kann.

Musik (Domenico Mudungo: «Amara terra mia»)

Atmo («Enfant Terrible») Fassbinder: Vielleicht sollt ich doch noch nen bisschen älter werden als ich vorhatte. Frau: Gute Idee. Und vielleicht nen Entzug machen. Fassbinder: Ja und gesünder leben und nen bisschen Sport treiben. Vielleicht noch nen Meisterwerk schaffen. Frau: Ach Rainer, Du hast doch schon so viele gute Filme gedreht. Fassbinder: Aber kein Meisterwerk. Nen Meisterwerk machste nicht so hopplahopp, weisste?

O-Ton (Roehler) Deine Beziehung, das Leben der Anderen, dein eigenes Leben, alles scheint sich in beständiger großer Gefahr zu befinden. Und vielleicht ist es auch deswegen so, dass man versucht, diese Dinge festzuhalten und ihnen so ne Schönheit zu verleihen, weil man sie irgendwann mal als so fragil empfunden hat.

O-Ton (Roehler) Andere Leute kennen das ja gar nicht. Die so robust sind. Die wissen das ja gar nicht, was das bedeutet, wenn du ständig Angst hast, was zu verlieren.

Atmo («Enfant Terrible») Fassbinder: Weißt du, was «Kamikaze» heißt? Frau: Ne. Fassbinder: Götterwind.

O-Ton (Roehler) Die Wirklichkeit ist manchmal brutal, und die kann das Leben eines Schriftstellers von einer Sekunde zur anderen komplett zerstören. Und dagegen bist du nicht gewappnet, weil du kannst ja nur in einem sicheren Raum schreiben. In dem Moment, wo du massiv bedroht wirst, hast du keine Chance, weil dann bricht natürlich deine Imagination zusammen, die muss ja geschützt sein. Du musst geschützt sein. Du schreibst ja über das Ungeschütztsein, immer.

O-Ton (Roehler) Du schreibst über die Momente, in denen du komplett ungeschützt warst – oder ich zumindest. Wo komplett ungefiltert Wirklichkeit dich bedroht hat und in dein Gehirn eingedrungen ist. Und dich vielleicht fast zerstört hat. Das ist eigentlich so das Motto meines künstlerischen Lebens. Und wenn die Wirklichkeit zuschlägt, bist du als Schriftsteller erledigt. Vielleicht nicht für immer, wenn sie dich nicht tötet, gleich, oder du dich nicht selbst tötest irgendwo. Aber du bist erledigt. Und wenn du dann nach Jahren wieder 28

29 zurückkommst, kann es sein, dass du darüber berichten kannst im umfassenderen Maße.

Musik (U2: «Exit» ) The hands of love.

Moderation Selbstbehauptung. Der Schriftsteller und Filmemacher Oskar Roehler. Feature von Thomas David.

Es sprach: Louis Friedemann Thiele

Technische Realisation: Gerd Nesgen Regieassistenz: Katarina Schnell Regie: Philippe Brühl

Redaktion: Imke Wallefeld

Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2020

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