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Beatrix Borchard -GARCIA EUROPÄISCHE

KOMPONISTINNEN

Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld

Band 9 Beatrix Borchard

PAULINE VIARDOT-GARCIA Fülle des Lebens

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN Die Reihe »Europäische Komponistinnen« wird ermöglicht durch die Mariann Steegmann Foundation

Weiterführende Quellen und Materialien finden Sie auf der Buchdetailseite http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-50143-3.html unter Downloads

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Pauline Viardot, Porträt von , 1840 (© Stéphane Piera / Musée de la Vie Romantique / Roger-Viollet)

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Korrektorat: Katharina Krones, Wien Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU

ISBN 978-3-412-50143-3 Inhalt

Vorwort der Herausgeberinnen...... 9 Vorbemerkung...... 11

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia ...... 19

Montage I: Die Schönheit der Genialität...... 56

Erben, Weitertragen, Verwandeln ...... 58

Alles was klingt, ist Musik ...... 58

Erben ...... 58 Soy contrabandista: Der Vater...... 58 El poeta calculista ...... 66 Rossini-Tradition ...... 70 Enshrining Don Giovanni ...... 73 Von der Familientruppe zum Familienbiotop ...... 76 Komponieren & Unterrichten...... 77 Die Mutter ...... 79 Der Bruder...... 81 Die Schwester...... 83 Weitertragen und Verwandeln ...... 88 Töchter und Söhne...... 88 Louise Héritte-Viardot ...... 92 Schülerinnen und Enkelschülerinnen...... 102 Dokument I: Kein größerer Gewinn als solch ein lebendiges Vorbild ...... 107

Der Weg zur Selbstbestimmung einer Sängerin ...... 122

Sängerin sein – Lektüren oder: Consuelo ...... 123 Orte – Länder – Räume – Jahreszeiten...... 131

Inhalt 5 Montage II: Ein Genius, der alles Material vergessen macht ...... 134

Selbstverständnis ...... 142 Stimme...... 145 Bühne...... 147 Dokument II: Die Stimme einem Instrumente gleich...... 151 Russland ...... 154 Rollengestaltung...... 162 Dokument III: Rosina, Zerlina, Norma...... 164 Von ihr kreiert: Fidès...... 170 Tonschöpferin: Orphée ...... 188 Konzertsaal ...... 205 Eigene Räume: Salon und Privattheater...... 215 Auf dem Lande...... 217 Dokument IV: Ein Winkel nur für mich...... 217 Experiment Baden-Baden...... 223 Dokument V: ach oder oh ...... 226 ...... 236

Montage III: Melodisch und effektvoll...... 239

Komponieren im Dialog ...... 243 Szenisches Komponieren...... 243 Improvisierendes Komponieren...... 251 Komponieren im Dialog: ...... 258 Komponieren als kulturelles Handeln ...... 272

Über Liebe, Freundschaft und Kunst ...... 274

Lebenspartner ...... 276 Der Ehemann: Louis Viardot (1800–1883)...... 276 Der Liebesfreund: Ivan Turgenev (1818–1883)...... 282 Ausgangskonstellation...... 283 Schaffensgemeinschaft(en)...... 287 Dokumente VI: Meine Wurzel und meine Krone...... 287 Lied der triumphierenden Liebe...... 294 Über Jäger und Schriftsteller...... 297 Jeux d’esprit...... 298

6 Inhalt Schöpferischer Dialog...... 300 Bougival...... 303 Halt inne!...... 304 Erbe...... 306 Briefe als Bühne: Julius Rietz...... 307 Dokument VII: Ich war allein...... 311 Dokument VIII: Was soll der plötzliche Stillstand?...... 329 Dokument IX: Wie schön war es bei Ihnen ...... 334 Freundinnen ...... 338 oder Projektionen...... 340 »Sie sind meine Jugend, mein Ruhm und meine Zukunft«..... 343 Dokument X: Liebe gute Minounne ...... 344 Dokument XI: Lascia ch’io pianga ...... 348 Dokument XII: Huhn am Bratspieß ...... 351 Komponierte Antworten...... 354 Dokument XIII: Tiefes Glück – große Schrecken ...... 357 Zwei Musikerinnen, zwei Kulturen: Clara Schumann...... 359 Umarmungen und Luftküsse...... 361 »Ich sah wieder, daß sie nicht fähig war, diese deutsche innige Musik zu fühlen«...... 366 Partnerkonstellationen und Karriereverläufe...... 368 Dokument XIV: Bedenke, liebes Clärchen...... 369 Dokumente XV: Manchmal recht traurig...... 374 Ein Ort – zwei Welten ...... 377 Der andere Mann...... 380 Nach dem deutsch-französischen Krieg...... 382

Siglenverzeichnis ...... 387 Abbildungsverzeichnis ...... 389 Literatur- und Quellenverzeichnis...... 392 Personenregister...... 428

Inhalt 7 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia

Liebesfeuer oder: Ein Doppeldenkmal in Moskau

Abb. 1: Viardot-Kapseln, Reklamefoto (Bilitsch; Tichonow, 2001).

Ein Weizenkeimöl, das Männern ewiges Liebesfeuer und Frauen lang an- haltende Anziehungskraft verspricht (Bilitsch; Tichonow, 2001); ein Denk- mal in Moskau gemeinsam mit dem Schriftsteller Ivan Turgenev – dafür steht heute der Name Pauline Viardot in Russland. In Deutschland erin- nert eine von der Frauenbeauftragten der Stadt initiierte Büste im Baden- Badener Kurgarten an die Musikerin – und ein unbekannter Cognac im Holzkistchen. In Frankreich verbindet man den Namen Viardot mit Auf- führungen von Opera rara im provenzalischen Pourrières fernab der Metro- pole, in malerischer Umgebung verbunden mit dem Duft und Geschmack von gutem Essen, dessen Rezepte die Dorfbewohner im Winter ausprobie- ren. Woher diese Unterschiede? In Russland ist der Name Viardot mit dem eines Schriftstellers verknüpft, dessen Werke zum Kanon der russischen Literatur gehören. In Deutschland und Frankreich nicht. Der Name Viar- dot steht zwar in Frankreich auch für einen Mann, für ihren Mann Louis Viardot, aber dessen erste Übersetzung des Don Quichotte von Cervantes ins Französische ist heute ebenso unbekannt wie seine zahlreichen Kunst- reiseführer. Also immer der gleiche Mechanismus? Die Namen von Frauen werden nur im Zusammenhang mit auch heute noch bekannten Männern überliefert? Mir ist Pauline Viardot bereits als Kind in einem alten Mädchenjahr- buch begegnet: Das klingende Haus hieß die Geschichte von Paula Knüpffer (1954, S. 218–28). Sie spielt in Baden-Baden. Quelle für die Autorin waren die Erinnerungen von Eugenie Schumann, der jüngsten Tochter von Clara

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 19 und Robert Schumann. Hier läuft die Überlieferung des Namens von Pau- line Viardot über deren Freundschaft mit Clara Schumann als eine deutsch- französische Freundschaft über alle Unterschiede hinweg. Anfang der 1950er Jahre stand die Versöhnung der beiden Länder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf der politischen Tagesordnung.

»Meine Biographie ist weit mehr zu erfinden als nachzuschreiben.«1

Was wissen wir von Pauline Viardot? Was zeugt von ihrer künstlerischen Arbeit? Ihre Persönlichkeit spiegelt sich in gezielt oder zufällig erhaltenen Quellen, in ihren Kompositionen sowie in ihren Briefen und Zeichnungen, in Tagebucheinträgen und Erinnerungen verschiedenster Menschen: Musi- ker_innen oder Schriftsteller_innen, auch Maler, zumeist also Künstler_in- nen. Die vielfältige Schaffensgemeinschaft mit anderen Musikern ist heute nicht mehr offenkundig. Wir wissen im Detail nur, was sich auf der Grund- lage erhaltener Dokumente rekonstruieren lässt, beispielsweise zur Entste- hung und zu Uraufführungen von Kompositionen wie Le Prophète von Gia- como Meyerbeer (Brzoska [u. a.], 2009), Sapho von (Stier, 2012, S. 5; S. 88–95; Héritte-Viardot, 1922, S. 87f.), Les Troyens von Hector Berlioz oder Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns. Auch so mancher Roman, manche Erzählung kann als Reflex ihrer Per- sönlichkeit gelesen werden. George Sand galt sie als »die genialste Frauenna- tur unserer Zeit und zugleich das gütigste Herz« (Sand, 2005, S. 545, frz). Sie wechselte nicht nur zahlreiche Briefe mit Pauline Viardot, sondern lud sie auch regelmäßig zu sich auf ihr Gut Nohant im französischen Berry (Indre) ein und gab ihr einen regelrechten Kulturauftrag mit auf den Weg: Bereits 1840 kündigte die Schriftstellerin in einem in der Revue des Deux Mondes erschienenen Artikel über das Théâtre-Italien die zu diesem Zeitpunkt erst 19-jährige Sängerin als Ausnahmekünstlerin an. Es sei ihre Aufgabe, zu beweisen, dass Frauen sich nicht nur als ausübende Künstlerinnen auf dem Niveau ihrer männlichen Kollegen bewegen könnten, sondern auch als um- fassend schöpferische Musikerinnen: »Das Erscheinen von Mlle Garcia wird als ein Meilenstein in die Geschichte der Kunst, von Frauen ausgeübt, ein- gehen.« (Sand, 1979, S. 39, frz.) Auch in ihren Briefen formulierte George Sand diesen Auftrag immer wieder, als sie sah, wie schwer Pauline Viardot eine Karriere in Frankreich gemacht wurde. So schrieb sie ihr im Juni 1842:

1 Franz Liszt in einem Brief an Lina Ramann vom 3.7.1878 (Ramann, 1983, S. 129). Hervorhebung durch Ramann/Liszt selber.

20 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia »Sie sind die Priesterin des Ideals in der Musik und es ist Ihre Aufgabe, es zu verbreiten, es verständlich zu machen und die Widerspenstigen und Unwis- senden zu einem Instinkt und zu einer Enthüllung des Wahren und Schönen zu führen. Sie haben etwas Größeres zu tun, als Ihren Ruf und Ihren Reich- tum [zu vergrößern].« (Marix-Spire, 1959, S. 159, frz.) Bekanntlich nahm George Sand aktiv an der 1848er Revolution teil. In diesem Kontext ani- mierte sie die junge Freundin zur Komposition einer patriotischen Kantate, La Jeune République VWV 1215, und spitzte ihre Erwartung noch einmal zu: »Ich hoffe, Sie werden uns bald den Trost der Kunst, göttliches Heilmittel, und wohltuende Kraft, bringen. Sagen Sie mir alles, was Sie vorhaben, denn ich zähle auf Sie, daß Sie in der Kunst die Revolution machen, die das Volk gerade in der Politik macht.« (Marix-Spire, 1959, S. 247, frz.) In den Jah- ren der engsten Verbundenheit schrieb sie den Sängerinnenroman Consuelo (1842/43) gefolgt von La Comtesse de Rudolstadt (1843/44). Bereits vor George Sand hatte Alfred de Musset in einem Artikel in der Revue des Deux Mondes vom 1. Januar 1839 über Pauline Garcia und die gleichaltrige Tragödin Elisabeth Rachel Félix, genannt Rachel, prophezeit, dass beider Auftreten den Beginn einer Revolution in der Geschichte der Darstellungskunst markiere: »Es geht jetzt ein frischer Luftzug durch die Welt der Künste! Die alte Tradition war etwas Bewunderungswürdiges und Conventionelles, aber eben etwas Conventionelles; die romantische Ueber- flutung war ein schrecklicher Strom, aber eine erhebliche Eroberung. Das Joch ist gebrochen, das Fieber vorüber. Es ist Zeit, daß die Wahrheit herr- sche, rein, wolkenlos, frei von aller Uebertreibung und Ausschreitung, frei aber auch von allen Fesseln des Conventionellen. Diese beiden jungen Mäd- chen haben den Beruf, die Kunst zur Wahrheit zurückzuführen. Mögen sie dieselbe erfüllen! Mögen sie auf den Pfaden voranschreiten, die ihnen be- stimmt sind […].« (Musset, 1839, zit. n. Lindau, 1877, S. 248–50, frz.) Am Beginn der Laufbahn von Pauline Garcia stand also ein dreifacher Auftrag; ungewöhnlich für eine Debütantin. Der Vergleich zu Robert Schu- manns enthusiastischem Artikel Neue Bahnen von 1855 drängt sich auf. Er machte den 20-jährigen Johannes Brahms mit einem Schlag in der Musik- welt bekannt, bevor auch nur eine Note von ihm veröffentlicht worden war. Dem jungen Brahms war Schumanns Protektion Glück und schwere Bürde zugleich (Meurs, 1996, S. 35–57). Wie ging Pauline Garcia/Pauline Viardot mit diesem Auftrag um? Bis in die späteren Jahre schrieben Autoren und Autorinnen Erzählun- gen und Theaterstücke, die durch die Musikerin inspiriert worden waren, wie Armgart (1870), von der Schriftstellerin George Eliot, die zu ihrem engeren

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 21 Bekanntenkreis in London gehörte. Besonders zu nennen ist Ivan Turgenev, der lebenslange Liebesfreund. Viele seiner Erzählungen und Romane stehen in einem mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit Pauline Viardot, ohne deren Gegenlektüre er kaum eine Zeile veröffentlichte. Er selbst nennt als Wende seines Lebens die Begegnung mit ihr im November 1843. Ohne sie habe sein Leben keinen Sinn, so Turgenev noch 20 Jahre später in einem Brief an einen Freund (Silberstein, 1979, S. 130). Leo Tolstoi (Schklowski, 1981, S. 264–68), Afanassi Fet (1820–1892) (Fet, 1992) sowie andere, vor al- lem russische Schriftsteller sahen diese Beziehung kritisch (Abramow, 1950, S. 262–64). Die Liebe zu Pauline Viardot habe ihren Turgenev zum Sklaven einer launischen Diva gemacht und seiner Heimat entfremdet.

Konstellationen

Sich dem Phänomen Pauline Viardot anzunähern, heißt sich zu vergegen- wärtigen, in welchen Konstellationen sie aufgewachsen ist und wie diese ihr künstlerisches Profil geprägt haben. Auf der Opernbühne gab es bereits vor ihr hochbegabte Frauen, allen voran die eigene Schwester , den Zeitgenossen der Inbegriff einerromantischen Diva (Reparaz, 1979). Genannt seien auch Giulia Grisi, Wilhelmine Schroeder-Devrient, Henriette Sontag oder die fast gleichaltrige Jenny Lind, Schülerin ihres Bruders Manuel. Einzig- artig ist jedoch, dass diese Musikerin, gleich wo sie weilte, eine Art Kunst-Biotop (Thomas Rübenacker) um sich bildete, das nicht nur aus Musikern und Mu- sikerinnen, sondern auch aus Malern und Schriftstellerinnen bestand. In der Erscheinung Pauline Viardot bündelt sich die europäische Kultur des 19. Jahr- hunderts wie in einem Brennglas. Noch in Theodor FontanesEffie Briest aus dem Jahre 1896 wird sie als die »berühmte Viardot« bezeichnet (Fontane, 1896, S. 144). Ihre Gesangskarriere lag zwar bereits weit zurück, nicht jedoch der Ruhm ihrer Unterrichtstätigkeit, die sie bis kurz vor ihrem Tod im Jahre 1910 ausübte. Fontane kannte ihren Namen wahrscheinlich nur vom Hörensagen. Es gab fast niemanden, mit dem sie nicht in Beziehung stand. Ihr mu- sikalisches Jahrhundert reichte von Gioachino Rossini bis zu Claude De- bussy, vom südlichsten Spanien mit seinen arabischen Einflüssen über die USA und Mexiko bis nach Russland und Armenien. Geboren neun Jahre vor der französischen Julirevolution, gestorben vier Jahre vor dem 1. Welt- krieg, erlebte sie den Wechsel von Aufbruchs- und Restaurationszeiten und Krieg. Besonders betroffen war sie durch den Deutsch-Französischen (eigentlich Preußisch-Französischen) Krieg 1870/71 und seine Folgen. Ihr

22 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia geistiger Kosmos wurde durch heftige Debatten über einschneidende politi- sche, technische und kulturelle Veränderungen bestimmt. Besonders betrafen sie Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Künstlern in einer Welt, in der auch Musik immer mehr zur Ware wurde, sowie der Kampf von Frauen um die Bürgerrechte, die ihnen trotz der Französischen Revolution weiterhin verweigert wurden. Als politisch denkender Mensch verfolgte sie die Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Gleichstellung von Menschen verschiedener sozialer Schichten, vor allem um das Ende der Leibeigenschaft in Russland, um die angemessene Staatsform in Frankreich sowie um die Frage: freie Liebe oder Ehe. Zentral wurde für sie vor allem eine Diskussion: »Was ist Musik?« Das, was im Moment der Aufführung erklingt und verklingt, oder der Notentext? Selbst die Erfindung der Schallplatte – und damit die Möglichkeit der tech- nischen Reproduzierbarkeit der bis dahin an die körperliche Präsenz von sin- genden oder spielenden Menschen gebundenen Musikerfahrung – erlebte sie noch. Als intellektuell wache Musikerin, die bis ins hohe Alter geistig präsent war, wird ihr die mit dieser Erfindung verbundene einschneidende Verände- rung der gesellschaftlichen Rolle und der kulturellen Aufgabe der Interpre- ten bewusst gewesen sein. Pauline Viardots Leben und ihre Arbeit wurden durch gesellschaftliche, musikhistorische Entwicklungen und persönliche Konstellationen geprägt. Zugleich schuf sie sich selber die Bedingungen, die sie für ihr Leben und ihre Arbeit benötigte.

Abb. 2: Pauline Garcia, Künstlerin des Théâtre Italien, Lithographie von Bernhard Romain Julien, 1837–1842 (F-Pn, Est.ViardotP.008).

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 23 Fülle der Möglichkeiten

»Sie erinnerte sich nicht, die Musik erlernt zu haben – in dieser Familie García war Musik die Luft, die man atmete.« (Saint-Saëns, 1911, S. 121)

Die Familie García stammte aus Andalusien und ging 1808 nach Paris. Hier kam Pauline als jüngstes von drei Kindern zur Welt. Ihr Geburtsda- tum: 18. Juli 1821, zwei Monate nach dem Tod von Napoleon Bonaparte. Ihr Name: Michelle Ferdinande Pauline, zärtlich Paulita. Die Eltern waren Sänger, Manuel del Popólo Vicente García, später zur Unterscheidung von seinem gleichnamigen Sohn »père« genannt, und Maria-Joaquina García- Sitchèz, einst Geliebte des bereits mit einer Tänzerin verheirateten Manuel García, nun Frau eines Bigamisten, denn das katholische Spanien kannte keine Scheidung. Sie trat auch unter dem Namen Joaquina Brionès auf. Pau- lines Geschwister waren deutlich älter als sie: Manuel Patricio Rodriguez wurde 1805, also 16 Jahre vor ihr, geboren, Maria Felicitá, spätere Maria Ma- libran, 1807. Die Geschwister wurden vom Vater ausgebildet, der Sohn zu- sätzlich in Musiktheorie bei François-Joseph Fétis (1784–1871). Solange die Eltern auf der Bühne standen, reiste die Familie viel. Von 1823 bis 1825 hielt sie sich in London auf. Dort sprang Maria García für die erkrankte Giuditta Pasta in der Rolle der Rosina (Il barbiere di Siviglia von Gioachino Rossini) ein (Weber, 2004, Sp. 911–13). Das war der Anfang einer unvergleichlichen Karriere. Im Spätherbst 1825 schiffte sich die Familie von Liverpool aus nach New York ein. Während der Überfahrt probte der Vater ständig mit seinem Familienensemble, wie Mitreisende berichteten (Radomski, 2000, S. 240). Pauline Viardot selber erwähnt in einem Brief an Julius Rietz kleine Kanons, die er für sie schrieb und auf dem Schiff mit ihr sang (BW Viardot–Rietz, 12.6.1859). Da war sie vier. In New York führten Vater, Mutter, Schwester und Bruder gemeinsam mit anderen am 23. Mai 1826 im Park Theatre Don Giovanni im Beisein von Mo- zarts inzwischen greisem Librettisten Lorenzo da Ponte auf. Anschließend ging es weiter nach Mexico City – ohne die achtzehnjährige Maria, die Hals über Kopf einen Geschäftsmann namens Eugène Malibran geheiratet hatte. Kurz nach der Hochzeit machte dieser Bankrott. Maria kehrte auf die Bühne zurück. Ihre Familie sah sich in Mexiko mit einem Land konfrontiert, das gerade erst selbstständig geworden war und dessen Bevölkerung allem Spani- schen skeptisch gegenüberstand. Zudem gab es kein Orchester, keinen Chor, nichts. Aber ungeachtet aller Schwierigkeiten blieb die Truppe bis Ende No- vember 1828 und Pauline García bekam ihren ersten Klavierunterricht bei

24 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia Marcos Vega, dem Organisten der Kathedrale in Mexiko City. In diesem frü- hen Unterricht lag wohl ihre spätere Vorliebe für das Orgelspiel begründet. Trotz aller Erfolge und voller Kasse kehrte die Familie im Mai 1829 mit leeren Händen nach Paris zurück. Sie war auf dem Rückweg bei Vera Cruz überfallen und vollständig ausgeraubt worden (Radomski, 2000, S. 239–41). Die Reaktion des Vaters: Lachen. Diese Geschichte – von Pauline Viardot selber in einem Brief an den Dirigenten Julius Rietz vom 21. Januar 1859 ausführlich geschildert (vgl. S. ###) – gehört zum eisernen Bestand der Gar- cía- sowie der Viardot-Biographik. Bei Pauline Viardot steht sie für die Le- bensleichtigkeit des früh verlorenen Vaters. Die prägenden Kinderjahre verbrachte Pauline Garcia also »immer unterwegs«, sicher eine der Grundlagen für ihre – so ihre eigene Formu- lierung – »instincts bohémiens«, »ihren Hang zur Bohème« (BW Viardot– Rietz, 21.1.1859, frz.). Bürgerlich kann man diese Herkunft nicht nennen. Wie gut für Pauline Garcia. Denn für ein Mädchen bedeutete dies vor allem Spielräume jenseits geschlechtsspezifischer Polarisierungen; sie musste sich nicht ständig an starren Vorstellungen, was als weiblich oder als männlich galt, abarbeiten. Unermüdliche Arbeitslust, universelle Musikalität, Leichtigkeit, Witz und Humor kennzeichneten aus der Sicht der Tochter den Vater. Er blieb für sie als Mensch wie als Musiker zeitlebens prägendes Vorbild. Während der Vater ihre Geschwister – glaubt man der Überlieferung, die auch Pauline Viardot nur aus Erzählungen kannte – mit rücksichtloser Härte unterrich- tete, zeigte er ihr gegenüber »engelsgleiche Sanftheit« (BW Viardot–Rietz, 21.1.1859, frz.). Nach der Rückkehr der Familie nach Paris – Pauline war nun sieben – wurde sie zur weiteren Klavierausbildung zu Sébastien Arnould Meysen- berg geschickt, nicht, wie bisher angenommen, zu dessen Bruder Charles.2 Anschließend kam sie nach eigener Aussage in den Genuß des Unterrichts bei Franz Liszt, der ein Freund der Familie war. Die genauen Eckdaten las- sen sich nicht mehr feststellen, vermutlich jedoch zwischen 1832 und 1834 (Liszt, 1933, S. 337). Liszt lobte »ganz besonders ihren leichten Anschlag und die vollkommene Abrundung ihrer Passagen« (Liszt, 1859, S. 51). Eine

2 Charles Meysenberg, geb. 1785, starb ca. 1828 (Fétis, 1875, S. 130), Pauline Gar- cia wurde jedoch noch 1833 von »Meysenberg« unterrichtet, der ihr zudem ein Stück widmete. Die Agenda musical von 1836 nennt unter den »professeurs de piano« einen »Meysenberg«, wenn auch ohne Vornamen, in der rue Ste-Apolline, 16 (Agenda musical, 1836, S. 62). Wahrscheinlich war also S. A. Meysenberg, der Bruder von Charles, ihr Lehrer. Für diese Information danke ich Silke Wenzel.

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 25 der wohl ersten Zeitungsnotizen über die Elfjährige rühmt »ihre Kraft« ( Jourdan fils, 1833, S. 3). Bereits mit fünfzehn muss ihr technisches Niveau sehr hoch gewesen sein, denn sie präsentierte sich dem Publikum, wie sie später der Musikschriftstellerin Marie Lipsius (alias La Mara) berichtete, mit Thalbergs Moses- und Hugenotten-Phantasien (La Mara, 1882, S. 266). Ob sie zusätzlich Kompositionsunterricht von Anton Reicha erhielt, ei- nem der wirkungsmächtigsten Lehrer in Paris, der u. a. auch Hector Berlioz, César Franck, Franz Liszt, Charles Gounod und Louise Farrenc ausgebil- det hatte, lässt sich zurzeit zwar nicht belegen, aber es ist wahrscheinlich: Schon in den frühesten Berichten über sie wird Reicha erwähnt (Escudier, 1840, S. 144). Sowohl ihre spätere Orientierung nach Deutschland als auch ihre intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen volksmusikalischen Traditionen könnten auf Anregungen Reichas zurückzuführen sein. Abge- sehen von regulärem Kompositionsunterricht konnte sie für den Bereich der Vokalmusik – zeitlebens Schwerpunkt ihrer kompositorischen Arbeit – in der musikalischen Alltagspraxis lernen, in einer Schule unschätzbaren Werts: Bereits als Kind begleitete sie den Unterricht ihres Vaters am Klavier. Da sie in alle Arbeiten miteinbezogen wurde, lernte sie mit den Schülern und Schü- lerinnen des Vaters, unter ihnen Adolphe Nourrit, ein Sänger, der als einer der führenden europäischen Tenöre galt. Zusammen mit ihm studierte sie die ersten Schubertlieder, die in Paris bekannt wurden (Mackinlay, 1908, S. 94). Der Vater gewöhnte sie auch früh an Auftritte. So berichtet die Zeitschrift Correo literario y mercantil de Madrid am 14. Oktober 1829:

»Kurz vor der Abreise aus Paris wurde ein wunderbares Abendessen zu sei- nen [Rossinis] Ehren von dem berühmten spanischen Sänger Manuel García gegeben […]. Nach dem Kaffee ging er [Rossini] in den Salon, wo das Kla- vier stand, auf dem Rossini sein Talent und seine brillante Fantasie zeigte. Die Schwester von Señora Malibran (ein Mädchen von acht Jahren) sang im Anschluss und überraschte die gesamte Zuhörerschaft, was den Glauben erweckte, sie werde einst so berühmt werden wie ihre Schwester.« (Radomski, 2000, S. 282f., engl.)

Die Familiensprache der Garcías war Spanisch, Umgangssprache wahr- scheinlich von vornherein Französisch. Für ein Kind einer reisenden Künst- lerfamilie war Vielsprachigkeit selbstverständlich. So beherrschte Pauline in kürzester Zeit auch Italienisch, Englisch und sehr früh auch Deutsch. Zu- dem sprach und las sie Russisch. 1848 begann sie auch Altgriechisch zu ler- nen (Borchard, 1999a, S. 84).

26 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia Schließe dein Klavier

1832 starb der Vater, ein einschneidender Verlust für die Elfjährige: »Wenn er länger gelebt hätte, wer weiß, wie mein Leben verlaufen wäre!« (BW Vi- ardot–Rietz, 21.1.1859, frz.) Diese Bemerkung gegenüber Julius Rietz rela- tiviert sie zwar anschließend rasch mit dem Hinweis, dass schon alles gut sei, wie es sei, dennoch – wie ist sie zu deuten? Es war nun die Mutter, die über ihre Laufbahn bestimmte. Sie zog mit ihr nach Brüssel zu ihrer Tochter Maria, die inzwischen mit dem belgischen Geiger Charles de Bériot zusammenlebte. Die Schwester ließ sie in ihren Konzerten nicht nur als Begleiterin auftreten, sondern präsentierte sie auch als Solo-Pianistin und als Komponistin, so in einem aufsehenerregenden Konzert am 18. August 1836, das die Stadt Liège (Lüttich) anlässlich der Pferderennen in der Salle de Spéctacle veranstaltete. Sie spielte u. a. eine Fan- taisie eigener Komposition. Wenig später verunglückte Maria Malibran beim Reiten und starb am 23. September 1836 an inneren Blutungen. Sie wurde nur 28 Jahre alt. Da der Bruder Manuel nur für kurze Zeit öffentlich auftrat und sich erst in Paris, dann in London als Gesangspädagoge niederließ, sollte – so entschied die Mutter – nun die Jüngste der Familie die sängerische Tra- dition der Familie fortführen. So zumindest berichtet es Léon Séché, unter Berufung auf Gespräche mit Pauline Viardot:

»Am Tag als Pauline sechzehn wurde, sagte ihre Mutter zu ihr: ›Geh an dein Klavier und sing das hier für mich!‹ Es war eine Arie von Rossini. Pauline kam der Aufforderung nach. ›Sehr schön, meine Entscheidung steht fest. Schließe dein Klavier, von nun an wirst du singen!‹ Das junge Mädchen, dem seine Mutter auf diese entschiedene Weise die Gesangskarriere eröff- nete, verzog ein wenig sein Gesicht, gab jedoch kein Wort von sich. ›Und dennoch, sagte mir Mme Viardot, brach es mir das Herz, auf das Klavier zu verzichten, für das ich eine unwiderstehliche Neigung verspürte!‹« (Séché, 1907, S. 148, frz.)

Pauline Viardot hat kurze Kindheitserinnerungen hinterlassen (Viardot, 1910, S. 524f.). Die Folgen des Verlustes erst des Vaters, dann der Schwes- ter interpretierte sie im Nachhinein als einschneidend für ihren Lebensweg. Eine professionelle Laufbahn als Pianistin und Komponistin wurde ihr ver- wehrt. Dennoch bewegten sich ihre spielerischen Fähigkeiten auch später noch auf so hohem Niveau, dass sie gemeinsam mit einer der bedeutends- ten Pianistinnen ihrer Zeit, mit Clara Schumann, als Duo auftreten konnte.

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 27 Bevorzugt interpretierten die beiden Musikerinnen Robert Schumanns An- dante und Variationen für zwei Klaviere op. 46. Vielleicht spricht aus ihrer rückblickenden Äußerung, dass ihr der er- zwungene Verzicht auf das Klavier das Herz gebrochen habe, die Trauer dar- über, nicht die Möglichkeit gehabt zu haben, ihre Fähigkeiten konzentrieren zu können. Als Sängerin war sie dem ständigen Vergleich mit der – nicht zu- letzt auch von der Mutter – vergötterten Schwester ausgesetzt. Zudem stand sie dem Theaterleben sehr kritisch gegenüber. Sie beklagte die mangelnde musikalische Bildung vieler Kollegen und Kolleginnen sowie das verbreitete Courtisanenwesen (BW Viardot–Rietz, 30.12.1858, frz.).

Karriereaufbau

Der nächste Schritt galt dem systematischen Karriereaufbau: Bereits ein Jahr nach dem Tod der Schwester debütierte sie als Sängerin in einem Be- nefizkonzert ihres Schwagers Charles de Bériot für die Armen der Stadt in Brüssel (13.12.1837). Sie war sechzehn. Eine von der Mutter begleitete ge- meinsame Konzertreise durch Deutschland schloss sich an. Von vornherein präsentierte sie sich als Sängerin, Pianistin, Bearbeiterin und Komponistin. Das Presseecho auf ihre ersten Auftritte war so positiv, dass Giacomo Meyer- beer eine Kur in Bad Schwalbach unterbrach und nach Wiesbaden reiste, um sie zu hören. Er versprach, wie sie Clara Wieck in einem Brief vom 22. Au- gust 1838 stolz mitteilte, eine Rolle für sie zu komponieren (Borchard, 1999a, S. 71; Meyerbeer, 1975, S. 157). Jahre später löste er mit der Komposition seiner Oper Le Prophète dieses Versprechen ein. Keine Kritik kam ohne Vergleich mit der Schwester aus. Allgemeines Re- sümee: Der Stimmumfang, die spanische, herbe Klangfarbe, die an den »Ge- schmack bittersüßer Orangen« erinnere (Saint-Saëns, 1911, S. 120), der Ge- sangsstil, auch die Vielseitigkeit der Begabung seien sich sehr ähnlich. Ganz anders jedoch der Charakter der Schwestern sowie ihre äußere Erscheinung: Maria galt als wild und schön, Pauline als beherrscht, intellektuell und vielen als hässlich. Diese Markierung als hässlich ist bis heute ein großes Handicap speziell für eine Sängerin. Wie zentral die Zuschreibung schön oder hässlich bezogen auf eine Frau ist, kann allein daran abgelesen werden, dass Pauline Garcias Aussehen immer wieder thematisiert wurde. Es gibt bis heute Au- toren, die ihr Aussehen als Begründung für ihre Einschätzung anführen, es sei unwahrscheinlich, dass es eine sexuelle Beziehung zwischen ihr und Ivan Turgenev gegeben habe (Zviguilsky 2010, S. 9).

28 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia Nach der erfolgreichen Testreise durch deutschsprachige Länder folgte der wohlvorbereitete Schritt auf die Bühne mit noch nicht ganz 18 Jah- ren: Ihr Operndebüt gab sie am 9. Mai 1839 im Londoner Opernhaus Her Majesty’s Theatre mit der Rolle der Desdemona in Rossinis Otello. Der Ort war nicht zufällig gewählt. Als Rosina im Barbier von Sevilla hatte 1828 ihre Schwester im King’s Theatre, wie es damals noch hieß, zum ersten Mal auf der Bühne gestanden. Die Verknüpfung beider Debüts war eine gute Wer- bung. Die Mutter des Baritons Julius Stockhausen, die Sängerin Margarete Stockhausen, schrieb an ihren Sohn am 14. Mai 1839 aus London beein- druckt: »Am 9. [Mai] erlebten wir hier das Debüt von Mlle. Pauline Garcia als Desdemona in ›Othello‹ von Rossini, das großartig ausfiel. Sie besitzt be- reits jetzt so viel Können, als ihre Schwester, die verstorbene Mme. Malib- ran, und ist doch erst siebzehn Jahre alt […].« (Wirth, 1927, S. 39) Diesem professionellen Urteil jenseits eventuell bestellter Presseberichte kommt Ge- wicht zu. Anders als viele Sängerinnen vor und nach ihr fing Pauline Viardot also gleich ganz oben an, als prima donna an der Seite der führenden Sän- ger und Sängerinnen ihrer Zeit, Chance und Druck zugleich für ein junges Mädchen. Sie hielt ihm stand, sängerisch, darstellerisch, psychisch, aber sie blieb zunächst »die Schwester der berühmten Malibran«. Jetzt erst, da sie sich außerhalb Frankreichs der Aufgabe, die Nachfolge ihrer Schwester anzutreten, gewachsen gezeigt hatte, debütierte sie in ih- rer Geburtsstadt. Zunächst ließ sie sich wie damals üblich nur in privaten Kreisen und im Konzert hören, so beispielsweise am 15. Dezember 1838 im Théâtre de la Renaissance in Versailles, wiederum gemeinsam mit Charles de Bériot. Erst ein dreiviertel Jahr später folgte ihr Bühnendebüt im Théâtre- Italien (8.10.1839), erneut als Desdemona. Es wurde eine Sensation! Théo- phile Gautier urteilte sechs Tage nach dem Konzert:

»Sie besitzt eines der zauberhaftesten Instrumente, die man hören kann. Sein Timbre ist bewundernswert, weder zu hell noch zu verschattet. Es ist ganz und gar keine metallische Stimme wie die der Grisi; allein die Töne der mitt- leren Lage haben etwas kaum zu beschreibendes Weiches und Eingängiges, das zu Herzen geht. Der Umfang ist außergewöhnlich. Auf der Fermate des Andante der Kavatine (aus Rossinis Elisabetta entnommen und [in Otello] ein- gefügt) durchlief sie zwei Oktaven und eine Quinte, vom tiefen F des Tenors bis zum hohen C des Soprans. Allein das Timbre des F und die Leichtigkeit, mit der sie das C anstimmt, das sie im Verlauf des Werkes häufiger hören ließ, erstrecken sich eindeutig über wenigstens drei ganze Oktaven […]. Was die hohen Töne betrifft, so wird sie gut daran tun, sie nie zu forcieren und sie so-

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 29 lange nicht zu missbrauchen, bis ihre körperliche Entwicklung abgeschlossen ist. […] Ihre Stimme sitzt wunderbar; die Intonation ist rein und genau. Der Ton wird stets mit großer Sauberkeit angestimmt, ohne Zögern oder Porta- mento. Diese letzte Eigenschaft ist selten und kostbar, sie ist eine ausgezeich- nete Musikerin; ihr feines und geübtes Ohr befasst sich mit Genauigkeit mit den Details der Begleitung, wie wir aus verschiedenen Empfehlungen und Be- merkungen bei den Proben entnehmen konnten.« (Gautier, 2008, S. 360f., frz.)

In der Saison 1839/40 galt sie als die Löwin der italienischen Oper (Marix- Spire, 1959, S. 15). Friedrich List, Korrespondent der in Leipzig erscheinen- den Allgemeinen musikalischen Zeitung, berichtete aus Paris:

»Fräulein Garcia war während der verflossenen Saison der glänzendste Stern am musikalischen Himmel. Man hörte sie mehremale in öffentlichen Kon- zerten, noch öfter aber in glänzenden Privatcirkeln; […] Wer Gelegenheit hatte, sie näher kennenzulernen, ist nicht minder von der Mannichfaltig- keit ihrer Talente und Kenntnisse, von ihrem Geist und von der Liebens- würdigkeit und Anspruchslosigkeit ihres Benehmens, als von der Genialität als Komponistin, dramatische Künstlerin und Sängerin entzückt. Meister sämtlicher europäischer Sprachen, die deutsche nicht ausgenommen, ist sie mit der schönen Literatur aller Nationen vertraut: und ihr Talent für die Zeichenkunst ist so groß, daß sie vielleicht darin nicht minderes zu leisten vermöchte als in der Musik.« (List, AmZ 41, Nr. 148, 28 5.1839, zit. n. C. Schumann, 1996, S. 488)

Umfassende Bildung, Geist, Genialität als Komponistin – eine solche Cha- rakterisierung einer jungen Nachwuchssängerin ist außergewöhnlich. Aber natürlich gab es auch giftige Kommentare, so etwa von Marie d’Agoult, ob- wohl sie das junge Mädchen noch gar nicht gehört hatte: »Pauline Garcia hat die höchste Stufe der Mode erreicht. Nach ihrer Lithographie muß sie scheußlich häßlich sein. Im Barbier hat sie ein halbes Fiasko erlebt.« (Liszt, 1933, S. 260)

Ehe

Mit 19 Jahren entschied sich Pauline Garcia, einen 21 Jahre älteren Mann zu heiraten: Louis Viardot, Kunstsammler, Kunstkritiker, Hispanist und zu dieser Zeit Direktor des Théâtre-Italien. Wahrscheinlich wurde die am

30 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 8. April 1840 geschlossene Ehe durch George Sand vermittelt, mit der sie nicht nur die Leidenschaft fürs Rauchen, Reiten und Billardspielen teilte (Bamberger, 1899, S. 288). George Sand schätzte Louis Viardot sehr und war mit ihm befreundet. Als erfahrene Frau warnte sie die junge Sängerin vor den rufschädigenden Gefahren, die mit dem Leben am Theater verbunden waren. Als ausgerechnet der Dichter Alfred de Musset (1810–1857), einst ihr eigener Liebhaber, Pauline Garcia heftig umwarb, schließlich sogar bei Joaquina Sitchèz um die Hand der Tochter anhielt, fühlte sich ihre amie ma- ternelle umgehend dazu aufgerufen, die junge Frau vor dem ausschweifenden Lebenswandel des Dichters zu warnen. Musset griff aus Wut und Enttäu- schung zum Stift, als er von der überraschenden Heirat seiner Angebeteten mit Louis Viardot erfuhr, und zeichnete eine ganze Reihe von Karikaturen, die er in der Revue des Deux Mondes veröffentlichte. Ihre Eheschließung – so Pauline Viardot im Rückblick – beruhte nicht auf Leidenschaft, sondern auf gegenseitiger Achtung. Als renommierter Übersetzer aus dem Spanischen und Opernenthusiast kannte Louis Viar- dot wahrscheinlich schon ihren Vater, zumindest erwähnt er ihn in seinem Reisekunstführer durch Spanien in einem der Musik gewidmeten Kapitel. Verbürgt ist seine Freundschaft mit Maria Malibran. Laut der ältesten Viar- dot-Tochter Louise, kannte er auch die Jüngste der García-Familie von Kin- desbeinen an (Héritte-Viardot, 1922, S. 52). Er gab seine Stellung auf, wurde ihr Manager und Beschützer, der – in der scharfzüngigen Formulierung von Alexander von Humboldt – »die schiefäugige, mongolische Nachtigall tiger- artig bewachend[e] Gemahl« (Müller, 2010, S. 145). Die Hochzeitsreise führte nach Italien, wo Pauline Viardot zwar nicht auftrat, jedoch im nicht-öffentlichen Rahmen sang und u. a. die Bekannt- schaft von Charles Gounod – Rompreisträger des Jahres 1839 – machte, ein Komponist, für dessen Karriere sie sich noch sehr engagieren sollte. Auch Fanny Hensel, die sich zu dieser Zeit mit ihrem Mann, dem Maler Wilhelm Hensel, in Rom und Neapel aufhielt, erwähnt in ihrem Tagebuch ein Treffen. Sie wunderte sich, wie lang das frisch getraute Ehepaar Viardot morgens im Bett blieb (Hensel, 2002, S. 151; S 154).

Immer unterwegs

Zu ersten Engagements reiste sie 1841 nach England, dann 1842, nach der Geburt der ersten Tochter Louise, über Bordeaux in das Herkunftsland ih- rer Familie. Es folgen 23 Jahre einer für damalige Begriffe internationalen

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 31 Karriere mit umjubelten Auftritten in London, Berlin, Dresden, Hamburg, Wien, Prag, Budapest, Warschau, Moskau und vor allem in St. Petersburg. Dort lernte sie den zweiten Mann kennen, der sein Leben mit dem ihren verknüpfte: den russischen Schriftsteller und passionierten Schachspieler Ivan Turgenev. Er verliebte sich leidenschaftlich in sie. Aber anders als im Falle ihrer Schwester, die nach ihrer überstürzt geschlossenen, rasch gescheiterten Ehe mit dem belgischen Geiger Charles de Bériot wahrscheinlich mindestens ein uneheliches Kind hatte, bevor sie ihn heiraten konnte, vermied Pauline Vi- ardot jede Art von öffentlichem Skandal, sondern integrierte Turgenev in ihre Familie. Turgenev wurde Pauline Viardot und ihrem Mann ein lebenslanger Freund. Über ihn blieb sie zeitlebens in Verbindung mit der russischen Kultur. Sowohl ihr Haus in Baden-Baden als auch ihre Salons in Paris und Bougival wurden Treffpunkte für russische Exilanten und Besucherinnen. Ihre zentralen Rollen fand sie zunächst innerhalb des italienischen Re- pertoires mit Rossini-, Bellini-, Donizetti-Partien, darunter in St. Petersburg zum ersten Mal die Norma (Bellini). Ihr Stimmumfang erlaubte es ihr, Par- tien zunächst bis hin zum hohen Sopran zu übernehmen und später mit Mey- erbeers Fidès (Le Prophète) in den Alt und in das dramatische Fach zu gehen. Allerdings sind diese uns heute geläufigen Stimmeinteilungen mit Vorsicht zu übertragen (Seedorf, 2001; Beghelli, Talmelli, 2011; Charton, 2012). Zwei Verdi-Charakterpartien folgten: Acuzena (Il Trovatore) und Lady Macbeth (Macbeth). Glucks Orphée und Alceste aus den gleichnamigen Opern sowie Beethovens Fidelio-Leonore waren ihre letzten drei großen Rollen. Ihre Eheschließung führte dazu, dass sie sich in Frankreich erst sehr spät durchsetzen konnte, denn Louis Viardot gehörte zur politischen Opposi- tion der sogenannten Julimonarchie, war Republikaner und gab seit 1841 zusammen mit George Sand und die sozialistische Zeitschrift Revue indépendante heraus. Auch Pauline Viardot, obwohl als Sängerin be- ruflich gebunden an die Opernhäuser verschiedener europäischer Höfe, die in erster Linie der Repräsentation der Herrschenden dienten, trat 1848 mit ihrer Kantate La Jeune République politisch in Erscheinung. Das Stück war ein auf Initiative von George Sand bestelltes Auftragswerk für einen Fest- akt im Théâtre de la République und sollte, wie die Schriftstellerin ihrem Sohn Maurice am 24. März 1848 schrieb, eine neue Marseillaise werden (Sand, 1883, S. 16). Aber der Wind drehte sich rasch. Pauline Viardot und ihre Freunde wurden nun wieder als zu bekämpfende Oppositionelle be- trachtet. Dass sie dennoch ein Engagement bekam, war ausschließlich Gia- como Meyerbeer zu verdanken. Er bestand darauf, Le Prophète nur dann zur Aufführung zu bringen, wenn sie für die Rolle der Fidès, der zentralen

32 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia weiblichen Figur seiner Grand Opéra, engagiert werde. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen kam es ein Jahr nach der 1848er Revolution endlich zur Uraufführung (16.4.1849) in der Opéra de Paris, frisch umbenannt in Théâtre de la Nation. Diese Partie, die Meyerbeer nicht nur für ihre Stimme und ihre darstellerischen Fähigkeiten, sondern mit ihrer Stimme geschrie- ben hatte (Sieghart Döhring), ermöglichte ihr die Entwicklung eines neuen Profils als Charakterdarstellerin. Pauline Viardot brachteLe Prophète auch nach England, Deutschland und Russland (unter dem Titel Die Belagerung von Gent). Vor allem in London überwachte sie die gesamte Einstudierung (Stier, 2012, S. 35–64). Nach der kurzen demokratischen Aufbruchsphase herrschte in den 1850er Jahren die Reaktion. 18513 kam es sogar zu Hausdurchsuchungen (Héritte-Viardot, 1922, S. 86f.; Barbier, 2009, S. 166), und Pauline Viardots Vertrag mit der Opéra wurde gelöst. Seit seinem Staatsstreich am 2. Dezem- ber 1851 regierte der von Louis und Pauline Viardot entschieden abgelehnte Louis Napoléon. Nachdem er am 21. November 1852 ein Plebiszit zur Wie- derherstellung des Kaisertums haushoch gewonnen hatte, ließ er sich am 2. Dezember 1852 als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen ausrufen. Die politischen Verhältnisse in Frankreich wurden in der Folge für das Ehepaar Viardot unerträglich, die Chancen für ein Engagement immer geringer. Also ging Pauline Viardot auf Konzertreisen. Sie führten sie vor allem nach Eng- land, Schottland, Irland (Stier, 2012, S. 329ff.) sowie in die deutschsprachi- gen Länder. Ersatz für die Bühne boten sie ihr nicht. Wenn sie in Paris war, lud sie regelmäßig am Donnerstag zum gemeinsa- men Musizieren und Diskutieren ein. So sang sie 1860 mit Richard Wagner, dessen Musik sie zunächst skeptisch gegenüberstand, in ihrem Salon fünf Jahre vor der Uraufführung aus der Partitur den zweiten Akt desTristan prima vista. Bei dieser Privataufführung für Wagners Gönnerin Maria von Mouchanoff-Kalergis saß Karl Klindworth am Klavier. Der einzige Zuhörer neben der Gräfin und der Fürstin Sayn-Wittgenstein: Hector Berlioz. Er war nicht begeistert (Wagner, 1911, S. 731). Im November 1859 konnte sie noch einmal in Paris im Théâtre-Lyrique in der Rolle des Orphée in einer gemeinsam mit Hector Berlioz erarbeite- ten Mischung der italienischen und der französischen Fassung der Gluck- schen Oper Triumphe feiern. Musiker, Maler, Schriftsteller aus aller Welt reisten nach Frankreich, um sie zu hören. Ihr Spiel, ihr Gesang, vor allem ihre Trauerdarstellung galten als prägend für ein zeitgemäßes Verständnis des

3 Peter Urban schreibt fälschlicherweise 1857 (Urban, 1989, S. 261).

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 33 Orpheusstoffes. Die Breitenwirkung dieses Erfolgs wiederholte sich mit der ebenfalls von ihr und Berlioz bearbeiteten Gluckschen Alceste (1861) an der Opéra zwar nicht, doch die Kenner feierten auch diese Wiederaufführung als historische Tat.

Abb. 3: Das Musée de la Vie romantique im alten Stadtpalais des Malers Ary Scheffer in Paris (Foto: Myrabella /Wikimedia Commons/CC-BY-SA-3.0).

Zwischen den Reisen zog sich das Ehepaar aufs Land zurück, zunächst nach Nohant auf das Gut von George Sand, dann ab 1844 auf das eigene Schloss Courtavenel in Rozay-en-Brie (Seine-Marne). In Paris wohnte die Familie zunächst an der Place d’Orléans, im Quartier la Nouvelle Athènes, ein Künst- lerviertel. Im Jahr 1848 ließen sie sich ein Haus in der Rue de Douai/Ecke Rue Bruxelles im 9. Arrondissement am Montmartre bauen, ganz in der Nähe der Barrière Blanche und der Place de Clichy. Das war damals eine ländliche Gegend, in der Artischocken angebaut wurden (P. Viardot, 1910, S. 8). Heute existieren das Haus und der Garten nicht mehr, in dem laut Louise Héritte auch acht Jagdhunde und das Pferd von Pauline Viardot Platz fanden (Héritte-Viardot, 1913, S. 73–75). An dem Nachfolgegebäude hat die Association des Amis d’Ivan Tourguéniev, Pauline Viardot et Maria Malibran (A.T.V.M.) eine Gedenktafel für Pauline Viardot, Louis Viardot und Ivan

34 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia Turgenev angebracht. Auch in diesem Viertel wohnten vor allem Künstler wie der Maler Ary Scheffer (1795–1856), dessen Haus in der Rue Chaptal erhalten ist. Es beherbergt heute das Musée de la Vie romantique und gibt ei- nen guten Eindruck von der ursprünglichen Bebauung des Viertels. In Scheffers ehemaligem Atelier hängt auch sein dort entstandenes Portrait der jungen Pauline Viardot. Es galt lange als verschollen. Erst im Zusam- menhang mit Erinnerungsveranstaltungen an die Musikerin anlässlich ihres 100. Todestages wurde es von entfernten Verwandten an das Museum gege- ben. Pauline Viardot selbst hatte dieses ausdrucksvolle Bild kurz nach ihrer Verheiratung in Auftrag gegeben (Marchesseau, 2010, S. 15). In einem Brief an Julius Rietz vom 7. Juni 1859 beschreibt sie ihr Ar- beitszimmer in dem zunächst laut George Sand nicht besonders komfortabel eingerichteten Haus (Marix-Spire, 1959, S. 263):

»Ich schreibe Ihnen nicht aus meinem großen Salon. Ich habe mir eines der Zimmer im neu gebauten 2. Stock zum Geschenk gemacht – und ich habe es als kleines Arbeitszimmer für mich eingerichtet. Ich werde Ihnen einmal eine kleine Skizze davon schicken. Es wirkt richtig fröhlich. Die im Untergrund hellgrüne Tapete ist übersäht von Rosensträußen und blauen Glockenblumen. Ich habe mein Pianino hineingestellt – ein Regal mit den Werken von Shake- speare, Goethe, Schiller, Byron, den vier großen italienischen Dichtern; Don Quichotte, Homer, Äschylos – Uhland – die Bibel – Heine, Hermann u. Doro- thea – die beiden Bände von Lewes über Goethe. Mit Ausnahme von Homer, von dem ich die Übersetzungen habe, von Jacob und von Monjé (ich ziehe erstere vor) sind alle diese Werke selbstverständlich in der Originalsprache.« (BW Viardot–Rietz, 7.6.1859, frz.)

Nach einer Fehlgeburt, die sie in einem Brief an Clara Schumann vom 8. Fe- bruar 1841 erwähnt, und der Niederkunft mit der ersten, nach ihrem Mann benannten Tochter Louise (14.12.1841) legte Pauline Viardot eine lange Ba- bypause ein. 1852 wurden Claudie sowie 1854 Maria-Anne, genannt Mari- anne geboren. Drei Jahre später kam dann das letzte Kind, der nach Pauline Viardot benannte Sohn Paul (20.7.1857) zur Welt.

Bühnenabschied

»Fast jeden Abend kommt Frau Viardot voller Angst in ihre Loge, hustend und erkältet; wenn man ihr aber dann zuredet, sie solle nicht ängstlich sein

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 35 und die Erkältung vergessen, tritt sie wie eine feurige Löwin auf die Bühne und begeistert mehr als je die Zuhörer. – Man wirft ihr Kränze mit Versen, mit Prosa, auf französisch, auf russisch, auf deutsch«, schrieb Hector Ber- lioz am 3.12.1859 an Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein (Berlioz, 2004, V, S. 73). Bereits mit 42 Jahren zog sich Pauline Viardot von der Bühne zurück. Die Rolle, mit der sie sich offiziell verabschiedete, war nicht eine unter vielen: Es war Orpheus, Inbegriff der durch Liebe inspirierten Macht der Musik sowie der untrennbaren Einheit des Sängers und Dichters, des Findens und des Erfindens.

»Es war ihre maßlose Liebe zur Musik, die ihre Stimme so frühzeitig ver- dorben hat; alles, was sie liebte, wollte sie auch singen, und so sang sie die Valentine aus den ›Hugenotten‹, die Donna Anna aus ›Don Juan‹ und an- dere Rollen mehr, denen sie sich, um ihr Instrument, die Stimme, zu erhalten, nicht hätte nähern dürfen. Am Ende ihres Lebens hat sie das eingestanden. ›Machen Sie es nicht so wie ich‹, sagte sie eines Tages zu einer jungen Sänge- rin, ›ich wollte alles singen und habe mir dabei die Stimme ruiniert!‹« (Saint- Saëns, 1911, S. 125)

Wenn man den Nachruf ihres Freundes Camille Saint-Saëns liest, drängt sich die Parallele zum vergleichsweise frühen Ende der Karriere von Ma- ria Callas auf. Aber kann man diese beiden Ausnahmesängerinnen wirklich miteinander vergleichen? Bereits 1841 – da war sie gerade zwanzig – gingen Gerüchte um, »daß sie an ihrer Stimme bedeutend verloren habe.« (Clara Schumann an Emilie List, 22.6.1841, C. Schumann, 1996, S. 103). Trotz tri- umphaler Erfolge konstatierten Kritiker in den folgenden Jahren durchgän- gig das drohende Auseinanderklaffen von Ausdruckswillen und stimmlichen Möglichkeiten. Allerdings bedeutete ihr früher Bühnenrückzug weder, dass sie nicht mehr auftrat, noch, dass sie sich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Sie sang weiter in Konzerten und brachte u. a. die Altrhapsodie von Johan- nes Brahms am 3. März 1870 in Jena zur Uraufführung. Auch auf den The- aterzetteln öffentlicher Bühnen, etwa in Weimar, Stuttgart, Karlsruhe oder Breslau, findet sich ihr Name von Zeit zu Zeit in besonderen Produktionen. Einige dieser Aufführungen waren als Musteraufführungen vor allem für ihre Schülerinnen gedacht. In privatem Rahmen lassen sich Auftritte bis in die 1880er Jahre belegen. Und dennoch markiert diese am 24. April 1863 stattfindende 138ste und letzte Orpheus-Aufführung im Pariser Théâtre-Lyrique einen Einschnitt. Bis

36 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia heute bringt eine Sängerinnenlaufbahn Abhängigkeit von angebotenen Rol- len und Konzertagenturen mit sich. Für sie war nun die Zeit ihrer travail de nègre, ihrer Sklavenarbeit, wie sie selbst ihre Engagements bezeichnete, been- det. Alles, was sie jetzt tat, tat sie nicht aufgrund vertraglicher Verpflichtun- gen und finanzeller Notwendigkeit, sondern aus Engagement für die Kom- positionen anderer sowie für die Verbreitung eigener Werke.

Baden-Baden

»Eine französische Operette, von einem Russen gedichtet, von einer Spanie- rin mit aller Innigkeit des ›deutschesten‹ Gemüts in Musik gesetzt, von fran- zösischen, spanischen, italienischen, belgischen, deutschen Künstlerinnen und Dilettanti auf dem deutschen Grunde eines russischen Besitzers vor einem aus allen [Hervorhebung Ludwig Pietsch] Nationen gemischten und doch überwiegend deutschen Auditorium aufgeführt, ein solcher ›concours inter- national‹ im reinen Kultus der Kunst und Schönheit, zur Verwirklichung des Begriffs einer idealen, echt menschlichen, befreiten Gesellschaft, ist er außer- halb dieses Tals noch einmal zu finden?!« (Pietsch, 1968, S. 150)

Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie mit ihrem Mann und ihren drei jüngeren Kindern sesshaft, nicht in Frankreich, sondern ab dem Sommer 1863 im Großherzogtum Baden, und zwar in dem zwischen Wiesen und Gärten am Hang des Fremersberges gelegenen Dörfchen Thiergarten bei Baden-Baden. Heute residiert oberhalb des Geländes der Südwestrund- funk. Das Wohnhaus der Viardots, ein Chalet im Schweizer Stil, der weit- läufige Garten, Konzertsaal bzw. Kunsthalle, Theater – alles ist verschwun- den (bis auf den Pferdestall4), nicht jedoch die Villa, die sich Ivan Turgenev nebenan bauen ließ. Damals galt der Kurort als Sommerhauptstadt Europas. Wie in einer Nussschale konzentrierte sich hier im Sommer das, was man damals die große Gesellschaft nannte, magnetisch angezogen durch das von dem Franzosen Edouard Bénazet gegründete Spielkasino sowie von heißen Quellen, die schon die Römer für heilende Bäder nutzten. Unter den in- ternationalen Sommergästen waren vor allem Franzosen und Russen zahl- reich vertreten. Mit dem Bühnenrückzug verknüpft war Pauline Viardots Hoffnung, nun, nachdem sie ihre Pflicht, die Familientradition fortzuführen, erfüllt

4 Freundliche Auskunft von Rüdiger Beermann

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 37 hatte, sich auf das Unterrichten und vor allem das Komponieren konzen- trieren zu können. Eine zweite Karriere als Pianistin, die ihr durchaus of- fen gestanden hätte, lehnte sie ab (Saint-Saëns, 1911, S. 124f.). Kompo- sitorisch setzte sie sich nun in Schaffensgemeinschaft mit Ivan Turgenev systematisch mit dem Œuvre einzelner Dichter, darunter vor allem mit den Gedichten von Mörike, Puschkin und Fet auseinander. Außerdem entstanden mindestens vier Bühnenwerke, sogenannte Opérettes de salon. Drei der Stücke wurden mit Schülerinnen, Familienmitgliedern, Gästen und Turgenev selbst realisiert (Trop de Femmes VWV 2001, Le Dernier Sor- cier VWV 2002, L’Ogre VWV 2003). Dennoch ist nur eine der Partituren komplett überliefert und öffentlich zugänglich. Wo sind die anderen? Die Aufführungen dieser Stücke, von ihr veranstaltete Matineen und Soireen zunächst in der Villa von Ivan Turgenev, dann im eigenen Privattheater, lockten das Baden-Badener Publikum an. Sie, Bohémienne, Kind einer fah- renden Operntruppe, damit einer Familie am Rande der Gesellschaft, und wie ihr Mann überzeugte Republikanerin, war es nun, die das preußische Königspaar, Fürstinnen und Grafen in ihren privaten Konzertsaal und ihr Théâtre du Thiergarten einlud. Sie alle kamen gerne und genossen es, dass bei Pauline Viardot die höfische Etikette außer Kraft gesetzt war und Diskre- tion gewahrt wurde. Besonders persönlich gestalteten sich die Beziehungen zur preußischen Kronprinzessin, dann Königin, schließlich Kaiserin Au- gusta (1811–1890), Tochter des Großherzogs Karl Friedrich von Sachsen- Weimar und der Großfürstin Maria Pawlowna, sowie den Familienmit- gliedern des Badischen und Weimarer Hofes. Vor allem die Frauen waren zumeist musikalisch gebildet, manche von ihnen auch Klavierschülerinnen von Clara Schumann. Dann kam der Einbruch durch den Deutsch-Fran- zösischen Krieg 1870/71, der es undenkbar erscheinen ließ, als Französin weiter in Baden-Baden zu leben, auch wenn sie und ihr Mann als Gegner von Louis Napoléon propreußisch eingestellt waren und Pauline Viardot sich anfangs mit ihren Töchtern an der Versorgung verwundeter deutscher Soldaten beteiligte (E. Schumann, 1925, S. 206). Als sie jedoch erfuhr, dass Napoleon III. gestürzt war und preußische Truppen plündernd durch Frankreich zogen, wendete sie sich in einem Brief direkt an Königin Au- gusta, um gegen den Beutezug zu protestieren (Bamberger, 1899, S. 290). Die Königin, bald deutsche Kaiserin, war selber Kriegsgegnerin. Ob sie geantwortet hat? Wir wissen es nicht. Aber der persönliche Kontakt riss nicht ab, wie unveröffentlichte Briefe in der Houghton Library/Harvard zeigen. Marianne Brandt, zu dieser Zeit Schülerin von Pauline Viardot, notierte in ihren Erinnerungen: »Bald war der glänzende Badeort ganz ver-

38 Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia ödet. Madame Viardot, sich selbst zum Aufbruche vorbereitend, hatte ihre Kinder nach Wildbad geschickt; Herr Viardot schloß sich voll Groll in sein Zimmer und sprach mit niemandem – es war, als ob ein Wirbelwind alles auseinandergejagt hätte.« (Brandt, 1910, S. 1) Wohin nun? Eine Rückkehr nach Paris erschien zunächst undenkbar, das Schloss Courtavenel war durch einen Verwalter veruntreut worden und be- reits 1864 bis auf die Grundmauern abgebrannt. Große Teile des Vermögens waren verloren. Was blieb, war nur das Exil in London. Im Oktober 1870 schiffte sich Pauline Viardot mit ihren Töchtern in Ostende ein. Ihr Mann und Sohn Paul folgten.5

Exil

Pauline Viardot, nun Exilantin wie auch beispielsweise Charles Gounod, gab Unterricht für das tägliche Brot, um Mann und drei noch unmündige Kinder zu ernähren, wohnte in – für ihre Verhältnisse – miserablen Unterkünften. Was andere als ihrem gesellschaftlichen Status unwürdig ansahen, focht sie, soweit wir wissen, nicht an. Sie tat, was zu tun war, soweit es die klimatischen Bedingungen, die ihrer Stimme sehr zu schaffen machten, erlaubten. Sie ver- anstaltete wieder Salons, ihr Bruder Manuel, der seit vielen Jahren als gefrag- ter Gesangslehrer in London lebte, vermittelte ihr Schülerinnen, und sie gab mehrere Konzerte in der Provinz (Stier, 2012, S. 237–60). Die Erinnerungen ihres Sohnes Paul schildern die Zeit des Exils anschaulich aus der Sicht eines Jugendlichen, vor allem die Unterschiede zwischen französischer, deutscher und englischer Kultur. Verhandlungen mit Nikolai Rubinstein über eine Ge- sangsprofessur am neugegründeten Moskauer Konservatorium verliefen im Sande, ebenso Verhandlungen mit Joseph Joachim über den Aufbau einer Gesangsabteilung an der 1869 ebenfalls neugegründeten Berliner Musik- hochschule.6 Trotz ihrer englischen Aktivitäten meldete am 28.4.1871 Le Temps ihren Tod: »Aus Turin wird das Ableben von Mme Pauline Viardot, geborene Garcia, Schwester der Malibran und Schöpferin der Rolle der Fi- dès in Meyerbeers Le Prophète, übermittelt. Die Tragédienne lyrique war

5 Ilja Silberstein gibt den 12.11.1870 als Datum an, an dem sich die Familie Viardot und Turgenev in London niederlassen (Silberstein, 1979, S. 123). 6 In den Hochschulakten befindet sich ein Gutachten von Amalie Joachim über die Kollegin. Warum sich die Berufung Pauline Viardots zerschlug, lässt sich anhand von Akten und Korrespondenzen nicht klären (Borchard, 2005a, S. 299).

Freiheit und Bindung – Pauline Viardot-Garcia 39 EUROPÄISCHE KOMPONISTINNEN HERAUSGEGEBEN VON ANNETTE KREUTZIGER-HERR UND MELANIE UNSELD

BD. 2 | RUTH MÜLLER-LINDENBERG WILHELMINE VON BAYREUTH BD. 7 | MONICA KLAUS DIE HOFOPER ALS BÜHNE DES LEBENS JOHANNA KINKEL 2005. XI, 225 S. 15 S/W-ABB. AUF 15 TAF. ROMANTIK UND REVOLUTION GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-11604-0 2008. XIV, 364 S. 18 S/W-ABB. AUF 16 TAF. GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-20175-3

BD. 8 | ANDREAS HOLZER, TATJANA MARKOVIĆ GALINA IVANOVNA USTVOL’SKAJA KOMPONIEREN ALS OBSESSION 2013. 299 S. 16 S/W-ABB. UND AUDIO-CD- BEILAGE. GB. MIT SU. ISBN 978-3-412-21031-1 BD. 3 | JANINA KLASSEN CLARA SCHUMANN MUSIK UND ÖFFENTLICHKEIT 2009. XIV, 536 S. 21 S/W-ABB. AUF 16 TAF. GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-19405-5

BD. 4 | MARION FÜRST MARIA THERESIA PARADIS MOZARTS BERÜHMTE ZEITGENOSSIN 2005. XII, 405 S. 21 S/W-ABB. UND BD. 9 | BEATRIX BORCHARD 8 NOTENBEISPIELE. GB. MIT SU. PAULINE VIARDOT-GARCIA ISBN 978-3-412-19505-2 FÜLLE DES LEBENS 2016. 439 S. 44 S/W ABB. UND NOTEN- BD. 5 | DETLEF GOJOWY BEISPIELE. GB. MIT SU. MYRIAM MARBE ISBN 978-3-412-50143-3 NEUE MUSIK AUS RUMÄNIEN 2007. XII, 292 S. 10 S/W-ABB AUF 8 TAF. GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-04706-1

BD. 6 | PETER SCHLEUNING FANNY HENSEL GEB. MENDELSSOHN MUSIKERIN DER ROMANTIK 2007. X, 349 S. 22 S/W-ABB. AUF 16 TAF. GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-04806-8

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