Wilfried Kürschner: »dreck! – – dreck! – o dreck! – o süsses wort! – dreck!«: ›Obszönes‹ bei Mozart und seine Verarbeitung.

In: Kulturerinnerungen – Erinnerungskulturen. Mozart, Heine, Benn: Musik, Literatur, Denkmäler. Herausgegeben von Wilfried Kürschner. Berlin: Lit Verlag. (Vechtaer Universitätsschriften. 27) [ISBN 978-3-643- 11627-7] S. 33–59.

„dreck! – – dreck! – o dreck! – o süsses wort! – dreck!“: ,Obszönesʻ bei Mozart und seine Verarbeitung

Wilfried Kürschner

Man lese sich bitte einmal den folgenden Text durch: 1

Mannheim, den 28. 2. 1778 Mademoiselle, ma très chère cousine! Sie werden vielleicht glauben oder gar meinen, ich sei gestorben, ich sei krepiert oder verreckt. Doch nein, meinen Sie es nicht, ich bitte Sie, denn gemeint und ge- schissen ist zweierlei! Wie könnt ich denn so schön schreiben, wenn ich tot wär? Wie wäre das wohl möglich? Wegen meinem so langen Stillschweigen will ich mich gar nicht entschuldigen, denn sie würden mir so nichts glauben; doch, was wahr ist, bleibt wahr! Ich habe so viel zu tun gehabt, dass ich wohl Zeit hatte, an das Bäsle zu denken, aber nicht zu schreiben. Mithin habe ich’s müssen lassen bleiben. Nun aber habe ich die Ehre, sie zu fragen, wie sie sich befinden und sich tragen. Ob Sie noch offen’s Leibs sind? Ob sie etwa gar etwa haben den Grind? Ob sie mich noch ein bisschen können leiden? Ob Sie’s öfters schreiben mit einer Kreiden? Ob sie noch dann und wann an mich gedenken? Ob sie nicht bisweilen Lust haben sich aufzu- henken? Ob sie etwa gar bös waren auf mich armen Narren? Ob sie nicht gutwillig wollen Fried machen, oder ich lass bei meiner Ehr einen krachen! Doch sie lachen – Victoria! Unsre Arsch sollen die Friedenszeichen sein. Ich dachte wohl, dass sie mir nicht länger widerstehen könnten, ja, ja, ich bin meiner Sache gewiss, und sollt ich heut noch machen einen Schiss, obwohl ich in 14 Tägen geh nach Paris. Wenn sie mir also wollen antworten aus der Stadt Augsburg dorten, so schreiben sie mir bald, damit ich den Brief erhalt, sonst, wenn ich etwa schon bin weg, bekomme ich statt einen Brief einen Dreck. Dreck, Dreck, o Dreck, süßes Wort Dreck. Schmeck – auch schön! Dreck, schmeck! Dreck, leck, o charmante, Dreck, leck. Das freuet mich! Dreck, schmeck und leck, schmeck Dreck, und leck Dreck! Nun, um auf etwas ande- res zu kommen […].

Nach diesem starken Tobak ist wohl erst einmal ein Sündenbekenntnis ange- bracht:

Ich johannes Chrisostomus Amadeus Wolfgangus sigismundus Mozart giebe mich schuldig, [...], daß ich vorgestern und gestern |: auch schon öfters :| erst bey der nacht um 12 uhr nach haus gekommen bin; und daß ich von 10 uhr bis zur benenn- ten stund beym Canabich, in gegenwart und en Compagnie des Canabich, seiner

1 In der Vorlesung wurde der Text eingangs nur zu Gehör gebracht, nicht auch schon schriftlich zur Ver- fügung gestellt. Die hier wiedergegebene Version folgt dem Wortlaut, in dem er auf der CD „Wolf- gang Amadeus Mozart: Die Bäsle-Briefe. Korrespondenz an Maria Anna Thekla Mozart. Gelesen von Sven Görtz“, Track 5, gelesen wird. Die Verschriftlichung wurde gemäß den geltenden Rechtschreib- regeln vorgenommen.

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gemahlin und dochter, H: schazmeister, Raam, und Lang, oft und – – nicht schweer, sondern ganz leichtweg gereimet habe; und zwar lauter Sauereyen, nemmlich, vom Dreck, scheissen, und arschlecken, und zwar mit gedancken, worten und – – aber nicht mit wercken. ich hätte mich aber nicht so gottloß aufgeführt, wenn nicht die Rädl =führerin, nemlich die sogenante lisl |: Elisabetha Cannabich :| mich gar so sehr darzu annimiret und aufgehezt hätte; und ich muß bekennen daß ich ordentlich freüde daran hatte. ich bekenne alle diese meine sünden und vergehungen von grund meines herzen, und in hofnung, sie öfter bekennen zu därfen, nimm ich mir kräftig vor, mein angefangenes sündiges leben noch immer zu verbessern; darum bitte ich um die heilige dispensation, wenn es leicht sein kann; wo nicht, so gilt es mir gleich, denn das spiell hat doch seinen fortgang. (Bauer/Deutsch 1962; Bd. II, S. 123/124)

So schreibt der 21-jährige Mozart am 14. November 1777 an seinen Vater Leo- pold. Wolfgang hält sich mit seiner Mutter Maria Anna (getaufte Anna Maria) Mozart in Mannheim auf und sucht am Hofe des Großherzogs eine auskömmliche Stelle als Kompositeur zu erlangen. Sie machen die Bekanntschaft unter anderem von Christian Cannabich, Geiger und Kapellmeister im kurfürstlichen Hof- Orchester, und seiner Familie. Zu dieser gehören zwei Frauen, „gemahlin und dochter“. Cannabich ist mit Marie Elisabeth de la Motte verheiratet. Von dieser Frau nun als „Rädl =führerin“ wurde Wolfgang nach eigenem Bekunden zu seinem sündigen Tun „annimiret und aufgehezt“. In der Mozart-Forschung ist ungeklärt, auf welche Reimereien sich Wolfgang hier beziehen mag – auf einige mögliche Kandidaten, allerdings aus späteren Jahren, kommen wir weiter unten zu sprechen –, aber so viel ist auch ohne Forschung klar: Mozart parodiert hier einen kanoni- schen Text, nämlich die Beichtformel. Dort nennt sich der Sünder erst einmal selbst beim Namen.2 Danach muss der reuige Sünder das Vergehen nennen, dessen er sich schuldig gemacht hat: er hat „nicht schweer, sondern ganz leichtweg ge- reimmet“, „und zwar lauter Sauereyen“. Ich will die „Sauereyen“ nicht noch ein- mal wiederholen – im Laufe des Beitrags kommen wir zwangsläufig immer wieder darauf zu sprechen und zu lesen –, wichtig ist mir aus unserem Text aber die Vari- ation, die Mozart dem Teil der Formel zuteil werden lässt, der den Sündenort be- trifft. Die kanonische Form ist: „... gesündigt habe in Gedanken, Worten und Wer- ken“. Mozart gibt zu: „mit gedancken, worten und“, bricht dann aber ab: „– aber nicht mit wercken“. Dies ist eine schöne Überleitung auf das, worum es hier geht: um Worte oder noch schlichter: um Wörter. Denn ich bin Sprachwissenschaftler

2 In einer Form, die unserem heute geläufigen „Wolfgang Amadeus“ nicht ganz entspricht und übrigens auch nicht der Eintragung im Taufbuch. Dort findet sich nämlich weder „Sigismundus“ noch „Ama- deus“, statt Letzterem vielmehr „Theophilus“; der Vater berichtet gar, der am 27. Januar 1756 am Festtag des Kirchenlehrers Chrystomos, in Salzburg geborene Sohn heiße „Gottlieb“, unter anderem. Nun ist „Amadeus“ bekanntlich die lateinische Fassung des griechischen „Theophilus“ und des deut- schen „Gottlieb“ (welchen Namen er nach dem Taufpaten Pergmayr erhalten hat [Geck 2005: 12]). „Amadeus“ oder noch öfter „Amadé“, in französischer Form, beginnt Mozart sich im Jahr 1777 zu nennen, aus dem unser Sündenbekenntnis stammt; in Italien nannte er sich „Amadeo“. Den Brief, um den es hier geht, unterzeichnet er übrigens mit „Wolfgang gottlieb Mozart“.

,Obszönesʻ bei Mozart und seine Verarbeitung 35 und habe keinerlei musikalische Talente, sodass ich über den Musiker Mozart nichts Eigenes sagen kann. Und auch auf einem weiteren Gebiet, auf das wir kom- men werden, bin ich kein Experte, nämlich auf dem Gebiet der Medizin. Man ver- mutet nämlich, dass Mozart unter einer Krankheit gelitten haben könnte, die ihn zum Ausstoßen der genannten „Sauereyen“ gezwungen haben könnte. Doch dazu, wie gesagt, erst später.

I

Um Worte, Wörter geht es hier, in der Hauptsache um „schmutzige“ oder „dre- ckige“ Wörter, um Wörter, die man besser nicht verwendet, und die einen in schlechtem Licht dastehen lassen, wenn man’s dennoch tut. Offiziell und seriös werden sie wie im Titel als „obszön“ bezeichnet. Im „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“ des Duden (3. Aufl., 1999) heißt es zum Stichwort „obszön“ folgendermaßen: obs|zön [lat. obscoenus, obscenus, H. u. {= weitere Herkunft ungeklärt}]: 1. (bildungsspr.) in das Schamgefühl verletzender Weise auf den Sexual-, Fäkalbereich bezogen; unanständig, schlüpfrig: -e Witze; ein -er Film, Roman; ein -es Foto; K. be- richtet von dem Fund einer Menge -er Zeichnungen in des Verstorbenen Schreibtisch (Reich-Ranicki, Th. Mann 166); ..., die Wände mit -en Parolen zu bekritzeln (H. Ger- lach, Demission 10); einige Stellen des Buches sind sehr o.; etw. o. darstellen; o. reden. 2. (Jargon) [moralisch-sittliche] Entrüstung hervorrufend: der Laden hat -e Preise; Die - en Bilder, auf denen Saddam sich zeigt, wie er Kinder tätschelt, die er zu seinen Geiseln gemacht hat (Spiegel 6, 1991, 26); dieser Kriegsfilm ist o. In lateinischen Wörterbüchern wird das lateinische Adjektiv obscēnus oder obs caenus, dessen Herkunft vom Duden als ungeklärt vermerkt wird, als Zusammen- setzung aus ob und cēnum bzw. caenum gedeutet, wobei Letzteres ‘Schmutz, Kot, Unflat’ bedeute und „stets mit dem Nebenbegriff des Ekelhaften“ verbunden sei, wie es im „Ausführlichen lateinisch-deutschen Handwörterbuch“ von Karl Ernst Georges (1913) heißt. So erklärt sich dann auch die Bedeutungsangabe im Duden, die aber zusätzlich zum Fäkalbereich („Schmutz, Kot, Unflat“) explizit den Sexu- albereich nennt. Aus den Beispielangaben des Duden-Wörterbuches geht hervor, dass sich der Ausdruck „obszön“ primär auf sprachliche Gegenstände beziehen kann (obszöne Witze, Romane oder Parolen), aber auch auf andere Hervorbringungen (Filme, Fotos, Zeichnungen). Er kann aber auch im übertragenen Sinn auf Gegebenheiten bezogen werden, die nicht der Fäkal- oder Sexualsphäre angehören; Beispiele fin- den sich in Bedeutungsgruppe 2. In den Wörterbüchern wird bei den entsprechen- den Wörtern das Attribut „obszön“, anders als vielleicht zu erwarten wäre, übri- gens nicht zur Charakterisierung der Stilebene dieser Wörter eingesetzt. Stattdessen sind Bezeichnungen wie „derb“ oder „vulgär“ in Gebrauch. Sie werden verwendet bei zwei der drei Wörter, die Mozart im vorhin zitierten Brief als Beispiele für die

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„Sauereyen“ im Hause Cannabich anführt, bei scheißen und bei Arsch.3 Solche sti- listischen Angaben sind für die Wörterbuchmacher problematisch. Im „Großen Duden-Wörterbuch“ (Bd. 1, S. 33) wird dies so beschrieben: Es ist eine Frage des individuellen Sprachgefühls‚ in welcher Qualität Wörter wie „Scheiße“‚ „blöd“‚ „Dreckspatz“‚ „saukalt“‚ „affengeil“ oder „beölen“ wahrgenommen werden. Was manchen Benutzern normalsprachlich‚ weil dem eigenen vertrauten Lebens- und Sprachalltag entstammend‚ erscheint‚ ist für andere schon „ugs.“ (= um- gangssprachlich)‚ ja gar „derb“ oder sogar „vulg.“ (= vulgär). Ähnlich verhält es sich mit Bewertungen wie „geh.“ (= gehoben) oder „dichter.“ (= dichterisch). Angaben zum Sprachstil‚ zur Sprachebene‚ sind immer wertend und damit zwangsläu- fig oft subjektiv. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für dieses Wörterbuch‚ ob- gleich seine Einstufungen und Bewertungen aufgrund einer Fülle von Belegmaterial vielfach als empirisch abgesichert angesehen werden können. Wie verhält es sich eigentlich mit dem dritten Wort, das Mozart in Erinnerung geblieben ist, nämlich dem Wort Dreck? Uns Heutigen kommt es wahrscheinlich relativ unproblematisch vor, was die Wörterbücher bestätigen, indem sie es als schlimmstenfalls umgangssprachlich einstufen. Wie kommt aber Mozart dazu, es zu den „Sauereyen“ zu rechnen? Hier liegt offenbar ein Sprachwandel vor. Im 18. Jahrhundert – der Brief stammt aus dem Jahr 1777 – konnte, wie wir den histori- schen Wörterbüchern entnehmen können, Dreck noch im Sinn von Kot verwendet werden, eine Verwendung, die in der Gegenwartssprache noch in Verbindungen wie Hühnerdreck, Katzendreck, Kuh, Mäuse, Mücken Tauben und Vogeldreck erhalten ist. 4 Also wird wohl auch in der Titelzeile dieses Vortrags mehr stecken, als auf den ersten Blick zu erkennen ist: „dreck! – – dreck! – o dreck! – o süsses wort! – dreck!“ Dass Mozart mit Dreck entsprechend dem Sprachgebrauch seiner Zeit Deftige- res meinte als wir heute, ergibt sich auch aus einem weiteren Text:

Madame Mutter! Ich esse gerne Butter. Wir sind Gottlob und Dank Gesund und gar nicht krank. Wir fahren durch die Welt, Haben aber nit viel Geld; Doch sind wir aufgeräumt

3 Arschlecken findet sich als eigener Eintrag in den konsultierten Wörterbüchern der Duden- und der Wahrig-Familie nicht und auch nicht im Langenscheidt-Wörterbuch „Deutsch als Fremdsprache“. 4 Beim Zusammenstellen dieser Wörter – dem Computer sei Dank! – stieß ich übrigens auch auf Bären dreck und Schnepfendreck . Mit Ersterem meint man im Süddeutschen, im Österreichischen und Schweizerischen ‘Lakritze’, und der Schnepfendreck ist eine kulinarische Spezialität, nämlich eine aus Leber, Herz und Gedärm der Schnepfe hergestellte Delikatesse. – Die Funktion „Erweiterte Suche“ in der Duden-Office-Bibliothek ermöglicht es, Wörter nicht nur von ihrem Anfang her aufzulisten, son- dern auch nach gemeinsamen Bestandteilen. Die obige Liste ergab sich durch die Sucheingabe „*dreck“, d. h. es wurde nach allen Wörtern gesucht, die auf dreck ausgehen.

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Und keins von uns verschleimt. Ich bin bei Leuten auch Die tragen den Dreck im Bauch, doch laßen sie ihn auch hinaus So wohl vor, als nach dem Schmaus. Gefurzt wird allzeit auf die Nacht Und immer so, daß es brav kracht. Doch gestern war der Fürze König, deßen Fürze riechen wie Hönig, Nicht gar zu wohl in der Stille, Er war auch selbsten voller Grille. Wir sind ietzt über 8 Täge weck Und haben schon geschißen vielen Dreck . Herr Wendling wird wohl böse seyn, Daß ich kaum nichts geschrieben sein, Doch wenn ich komm’ über d’ Rheinbrücke So komm ich ganz gewiß zurücke Und schreib die 4 Quartetti ganz Damit er mich nicht heißt ein Schwantz. Und das Concert spar ich mir nach Paris, Dort schmier ichs her gleich auf den ersten Schiß. Die Wahrheit zu gestehen, so möcht ich mit den Leuten Viel lieber in die Welt hinaus und in die große Weiten, Als mit der Tac-gesellschaft, die ich vor meiner seh, So oft ich drauf gedenke, so thut mir der Bauch weh; Doch muß es noch geschehen, wir müssen noch zusamm – Der Arsch vom Weber ist mehr werth, als der Kopf vom Ramm Und auch von diesem Arsch ein Pfifferling Ist mir lieber als der Mons: Wendling. Wir beleidigen doch nicht Gott mit unserem Scheißen Auch noch weniger, wenn wir in Dreck nein beißen. Wir sind ehrliche Leute die zusammen taugen, Wir haben summa summarum 8 Augen Ohne dem wo wir drauf sitzen. Nun will ich mich nit mehr erhitzen Mit meiner Poesie; nur will ich Ihnen sagen Daß ich Montag die Ehre hab, ohne viel zu fragen, Sie zu embrassiren und dero Händ zu küssen, Doch werd’ ich schon vorhero haben in die Hosen geschißen. à dieu Mamma Dero getreues Kind ich hab’ den Grind Trazom. Worms den 1778ten Jenner Anno 31.“ (Bauer/Deutsch 1962, Bd. II, S. 245–247)

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Dies ist ein Brief, den Mozart am 31. Januar 1778 von Worms aus an seine Mutter in Mannheim schrieb. Von heute her gesehen, wirkt er, um das Mindeste zu sagen, doch wohl recht befremdlich. Doch wäre es falsch, aus ihm ein ungebührli- ches Benehmen gegenüber der Mutter ablesen zu wollen. Vielmehr, so erfahren wir aus der Sekundärliteratur (Sauder 1995: 74), war „die Sprache über diese ,natürlichen Dinge‘ ... im 18. Jahrhundert kaum tabuisiert. Diese Äußerungen gehö- ren zum täglichen Leben. Hinzu kommt, dass Vater Mozart, aber auch die Mutter sehr viel von Volksmedizin oder einer Art Popularmedizin verstehen und sich selbst immer wieder medizinisch zu helfen versuchen. ... Bei den Diätetikern des ausgehenden 18. Jahrhunderts kann man noch lesen, dass die Beachtung eines ,gesunden Verdauungsgeschäftes‘ eines der wesentlichen Mittel sei, das menschli- che Leben zu verlängern“. Und Mozarts Mutter selber schließt einen Brief ihres Sohnes aus München an seinen Vater, ihren Mann (26. September 1777) mit der Formel:

adio ben mio leb gesund, Reck den arsch zum mund. ich winsch ein guete nacht, scheiss ins beth das Kracht. es ist schon über oas iezt kanst selber Reimen. (Bauer/Deutsch 1962, Bd. II, S. 14)

Dieser Formel werden wir weiter unten noch einmal begegnen. Erich Müller von Asow, der Herausgeber des Mozart’schen „Familienbriefwechsels 1769–1779“ (1942), fügt übrigens folgenden Kommentar an: Die Nachschrift der Mutter ist in ihrer Derbheit typisch salzburgisch. Der versteckte Reim, den Maria Anna ihrem Gatten zu finden überlässt, lebt noch heute im salzburgi- schen Volksmunde; er heißt: „Scheiß ins Bett, dass ’s übergeht, morgen ist Elisabeth.“ Späteren Zeiten war der Umgang mit solcher Derbheit, der wir auch in Briefen von Mozarts Vater und seiner Schwester begegnen, nicht mehr selbstverständlich, sondern eher peinlich. Die in den Briefen angehäuften derben Wendungen erschei- nen geeignet, das Bild vom göttlichen Genie Mozart zu beschädigen, in dem die ersten großen Biografen (Otto Jahn) den „Gipfel der Musikgeschichte“ erblicken (Gruber/Brügge 2006: 118). So verwundert es nicht, dass in den ersten Ausgaben der Briefe der Mozarts bestimmte Stellen einfach weggelassen werden. Dies ergibt sich aus einem Vergleich der Fassungen des Briefes, dem unsere Titelzeile ent- nommen ist und dessen Anfang den Beginn dieses Beitrags bildet. Es handelt sich dabei um einen der berühmten Bäsle-Briefe, die Wolfgang zwischen Oktober 1777 und Oktober 1781 an seine Kusine Maria Anna Thekla Mozart in Augsburg rich- tete. Unser Brief stammt vom 28. Februar 1778; er ist in allen vier großen Brief- editionen enthalten – hier in synoptischer Darstellung:

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Nohl (1865) Müller von Asow (1942) = Bauer/Deutsch Schiedermair (1914) (1962–2006)

Mannheim 28. Febr. 1778. Mademoiselle [Mannheim, den 28. Mademoiselle, ma très ma très chère Cou Februar 1778] chère Cousine! sine! Mademoiselle ma trés chére Cou- sine! Sie werden vielleicht glau- Sie werden vielleicht glau- Sie werden vielleicht glau- ben oder meinen, ich sey ben oder meynen ich sei ben oder meynen ich sei gestorben! – – gestorben! – ich sey cre gestorben! – – ich sey cre- pirt? – oder verreckt? – pirt? – oder verreckt? – Doch nein, meinen Sie es doch nein meynen Sie es doch nein! meynen Sie es nicht, ich bitte Sie – nicht ich bitte Sie, denn nicht, ich bitte Sie, denn gemeint und geschissen ist gemeint und geschissen ist wie könnte ich denn so zweyerley! – wie könnte zweyerley! – wie könnte schön schreiben, wenn ich ich denn so schön schrei- ich denn so schön schrei- todt wäre? wie wäre das ben, wenn ich todt wäre? – ben, wenn ich tod wäre? – wohl möglich? – Wegen wie wäre das wohl mög- wie wäre das wohl mög- meinem langen Still- lich? – wegen meinem lich? – – –wegen meinem schweigen will ich mich langen Stillschweigen will so langen Stillschweigen gar nicht entschuldigen, ich mich gar nicht ent- will ich mich gar nicht denn Sie würden mir so schuldigen denn sie würden entschuldigen, denn sie nichts glauben, doch was mir so nichts glauben, doch würden mir so nichts glau- wahr ist bleibt wahr, ich was wahr ist bleibt wahr! ben; doch, was wahr ist, habe so viel zu thun gehabt, ich habe so viel zu thun bleibt wahr! – ich habe so daß ich wohl Zeit hatte an gehabt, daß ich wohl Zeit viell zu thun gehabt, daß das Bäsle zu denken, aber hatte an das Bäsle zu den- ich wohl zeit hatte, an das nicht zu schreiben, mithin ken, aber nicht zu schrei- bäsle zu denken, aber nicht habe ich es müssen lassen ben, mithin habe ich es zu schreiben, mithin habe bleiben. Nun aber habe ich müssen lassen bleiben. Nun ich es müssen lassen blei- die Ehre Sie zu fragen, wie aber habe ich die Ehre sie ben. Nun aber habe ich die Sie sich befinden und sich zu fragen, wie sie sich Ehre, sie zu fragen, wie sie tragen? befinden und sich tragen? – sich befinden und sich Ob Sie noch offenes Leibs tragen? – ob Sie noch offe- sind? – ob sie gar etwa nes Leibs sind? – ob sie gar haben den Grind? – Ob sie etwa haben den Grind? – – ob Sie mich noch können mich noch können ein ob sie mich noch können ein bischen leiden? ob Sie bischen leiden? – Ob Sie ein bischen leiden? – ob Sie öfters schreiben mit einer öfters schreiben mit einer öfters schreiben mit einer Kreiden? ob Sie noch dann Kreiden? Ob sie noch dann kreiden? – ob sie noch dann und wann an mich geden- und wann an mich geden- und wan an mich geden- ken? ob Sie nicht zuweilen ken? Ob sie nicht zuweilen cken? – ob sie nicht zu- Lust haben sich aufzuhen- Lust haben sich aufzuhen- weilen lust haben sich ken? ob Sie etwa gar böse ken? Ob sie etwa gar böse aufzuhencken? Ob sie etwa waren auf mich armen waren? auf mich armen gar bös waren? auf mich Narren? ob Sie nicht gut- Narren, ob sie nicht gut- armen narrn; ob sie nicht willig wollen Fried ma- willig wollen Fried ma- gutwillig wollen fried ma-

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Nohl (1865) Müller von Asow (1942) = Bauer/Deutsch Schiedermair (1914) (1962–2006) chen? – chen, oder ich laß bei mei- chen, oder ich lass bei ner Ehr einen krachen! meiner Ehr einen krachen! doch, Sie lachen – Victoria! Doch sie lachen – Victoria! Doch sie lachen – – victo- – unsere Arsch sollen die ria! – – unsre arsch sollen Friedenszeichen sein. ich die friedens =zeichen sein. Ich dachte wohl daß Sie dachte wohl, daß sie mir ich dachte wohl, daß sie mir nicht länger widerste- nicht länger wiederstehen mir nicht länger wiederste- hen könnten, ja, ja, ich bin könnten, ja ja ich bin mei- hen könnten, ja ja, ich bin meiner Sache gewiß, ner Sache gewiß, und sollt meiner sache gewis, und ich heut noch machen einen sollt ich heut noch machen Schyß, obwohl ich in 14 einen schiss [Br: „trau ich obwohl ich in 14 Tagen Tägen gehe nach Paris . mich nicht zu sagen“], gehe nach Paris. Wenn Sie Wenn sie mir also wollen obwohl ich in 14 Tägen mir also wollen antworten antworten aus der Stadt gehe nach Paris. wenn sie aus der Stadt Augsburg Augsburg dorten, so mir also wolln antworten dorten, so schreiben Sie mir schreiben sie mir bald da- aus der stadt Augsburg balde damit ich den Brief mit ich den Brief erhalt, dorten, so schreiben sie mir erhalte, sonst wenn ich sonst wenn ich etwa schon baldt, damit ich den brief etwa schon bin weg, erhalte bin wek, bekomm ich statt erhalt, sonst wenn ich etwa ich statt einen Brief einen einen Brief einen Drek. – schon bin weck, bekomme Dreck. Drek! – ...... ich statt einen brief einen dreck. dreck! – – dreck – o dreck – o süsses wort – dreck – schmeck – auch schön! – dreck, schmeck! – dreck – leck – o char mante – dreck, leck – das freüet mich! – dreck, schmeck und leck – schmeck dreck, und leck dreck! – – Nu, um auf etwas Ande- Nu um auf etwas anderes Nun um auf etwas anderes res zu kommen zu kommen zu kommen [...] [...] [...] Apropos, wie steht es mit Apropos , wie stehets mit Apropos , wie stehets mit der französischen Sprache? der französischen Sprache? der französischen Sprache? darf ich bald einen ganz Darf ich bald einen ganz Darf ich bald einen ganz französischen Brief schrei- französ. Brief schreiben? – französ. Brief schreiben? – ben? von Paris aus, nicht Von Paris aus nicht wahr? Von Paris aus nicht wahr? wahr? sagen sie mir doch haben sagen sie mir doch haben Sie den spuni cuni fait Sie den spuni cuni fait noch; – das glaub ich, nun noch; – das glaub ich, nun Nun muß ich Ihnen doch muß ich Ihnen doch bevor muß ich Ihnen doch bevor bevor ich schließe ich schließe ich schließe, [...] [...] [...] nu, das ist wirklich ein Nu das ist endlich ein Ding Nu das ist endlich ein Ding

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Nohl (1865) Müller von Asow (1942) = Bauer/Deutsch Schiedermair (1914) (1962–2006) Ding, ob es Triebstrill oder ob es Tribsterill wo der ob es Tribsterill wo der Burmsquiek war – Drek ins Meer rinnt oder Drek ins Meer rinnt oder Burmesquik wo man die Burmesquik wo man die krummen Arschlöcher krummen Arschlöcher dräht war; mit einem Wort, dräht war; mit einem Wort, es war halt ein Ort. Da war es war halt ein Ort. – Da es war halt ein Ort. – Da ein Hirt oder Schäfer, der war ein Hirt oder Schäfer war ein Hirt oder Schäfer schon ziemlich alt war der schon zimmlich alt war der schon zimmlich alt war [...] [...] [...] und es ist besser daß ich u. es ist besser daß ich u. es ist besser daß ich aufgehört habe, als wenn aufgehört habe, als wenn aufgehört habe, als wenn ich etwa dazu gelogen ich etwa dazu gelogen ich etwa dazu gelogen hätte; da hätten Sie mir hätte; da hätten sie mir die hätte; da hätten sie mir etwa die ganze Historie ganze Historie nicht ge- etwa die ganze schistori nicht geglaubt, aber so glaubt; aber so – glauben [Br: „Geschichte“] nicht glauben Sie mir doch – die sie mir doch – die halbe geglaubt; aber so – glauben halbe nicht. noch. sie mir doch – die halbe [...] [...] noch. [...] Nun muß ich schließen, Nun muß ich schließen, ob Nun muß ich schließen, ob ob es mich schon thut ver- es mich schon thut verdrie- es mich schon thut verdrie- drießen, wer anfängt muß ßen, wer anfängt muß auch ßen, wer anfängt muß auch auch aufhören, sonst thut aufhören, sonst thut man aufhören, sonst thut man man die Leute stören. An die Leute stören, an alle die Leute stören, an alle alle meine Freunde mein meine Freunde mein meine Freunde mein Compliment, und wers Compliment , und wer’s Compliment , und wer’s nicht glaubt der soll mich nicht glaubt, der soll mich nicht glaubt, der soll mich küssen ohn End, von nun leken ohne End, von nun an leken ohne End, von nun an an bis in Ewigkeit, bis ich bis in Ewigkeit, bis ich bis in Ewigkeit, bis ich einmal werd wieder ge- einmal werd wieder ge- einmal werd wieder ge- scheit; da hat er gewiß zu scheit. Da hat er gewiß zu scheit. Da hat er gewiß zu küssen lang, mir wird dabei leken lang, mir wird dabey leken lang, mir wird dabey schier selbsten bang. schier selbsten bang; schier selbsten bang; ich ...... fürcht der dreck der geht mir aus, und er bekommt nicht gnug zum schmaus. Adieu, Bäsle! Ich bin, ich Adieu Bääßle. ich bin, ich Adieu Bääßle. ich bin, ich war, ich wäre, ich bin ge- war, ich wär, ich bin gewe- war, ich wär, ich bin gewe- wesen, ich war gewesen, sen, ich war gewesen, ich sen, ich war gewesen, ich ich wäre gewesen, o wenn wär gewesen, o wenn ich wär gewesen, o wenn ich ich wäre, o daß ich wäre, wäre, daß ich wäre, wollte wäre, daß ich wäre, wollte wollte Gott ich wäre; ich Gott ich wäre; ich würde Gott ich wäre; ich würde werde seyn, ich würde sein, ich werde sein, wenn sein, ich werde sein, wenn seyn, wenn ich seyn würde, ich seyn würde, o daß ich ich seyn würde, o daß ich o daß ich sein würde, ich seyn würde, ich würde seyn würde, ich würde würde gewesen sein, ich gewesen, ich were gewesen gewesen, ich were gewesen

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Nohl (1865) Müller von Asow (1942) = Bauer/Deutsch Schiedermair (1914) (1962–2006) wäre gewesen, o wenn ich sein, o wenn ich gewesen sein, o wenn ich gewesen gewesen wäre, o daß ich wäre, o daß ich gewesen wäre, o daß ich gewesen gewesen wäre, wollte Gott wäre, wollte Gott ich wäre wäre, wollte Gott ich wäre ich wäre gewesen – was? – gewesen, was? – ein Stock- gewesen, was? – ein Stock- ein Stockfisch! Adieu, ma fisch. Adieu ma chère Cou fisch. Adieu ma chère Cou chère Cousine! wohin? – sine , wohin? ich bin der sine , wohin? ich bin der ich bin der nämliche wahre nämliche wahre Vetter nämliche wahre Vetter Vetter Wolfgang Amadé Mozart Wolfgang Amadé Mozart W.A.M. Mannheim den 28 Febr. 1778. Aus: Angermüller (2005) [AUTOGRAPH: Hörfassungen: Görtz UNBEKANNT. ABDRUCK (2006); Brandauer (2006): NACH: SCHIEDERMAIR CD 1: „Wolfgang Amadeus I, NR. 115] Mozarts Abschied von Salzburg, beobachtet durch „Die englische Ausgabe einen Freund der Familie, der Mozartbriefe, der das Josef Nepomuk Bullinger. Original vorlag, ergänzt Aufgenommen live beim das Ende des ersten Absat ,Musikfest Bremen‘ am 3. zes (Anderson, S. 740 ff.): September 2005“. CD 2: Ah, muck! Sweet word! „Brandauer liest Mozart. Muck! chuck! That to is Exklusiv 26 Briefe“. fine. Muck, chuck! – muck! – suck – o charmante! muck, suck! That's what I like! Muck, chuck and suck! Chuck muck and suck muck . Auch die ziemlich am Ende unserer Vorlage durch Punkte ersetzten Worte gibt die englische Ausgabe: for I fear that my muck will soon dry up and that he won't have enough if he wants“ Aus: Angermüller (2005)

Die Briefausgaben setzen 1865 mit Ludwig Nohl ein, der nach eigenem Bekun- den eine „vollständig und authentische Ausgabe von Mozarts Briefen“ bringt. Die nächste Ausgabe wurde veranstaltet von Ludwig Schiedermair, bezeichnet sich als

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„erste kritische Gesamtausgabe“ und erschien 1914. Den schon erwähnten „Fami- lienbriefwechsel“ gab Erich H. Müller von Asow 1942 heraus. Die „Gesamtaus- gabe“ schließlich der „Briefe und Aufzeichnungen“, gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, begann 1962 zu erscheinen; die sechs Textbände lagen 1971 abgeschlossen vor, 1975 erschien das Register und Jubi- läumsjahr 2006 ist Band 8 unter dem Titel „Einführungen und Ergänzungen“ er- schienen. Bevor wir zum Vergleich der Fassungen kommen, ist vorauszuschicken, dass der Erhalt dieses Briefes wie der übrigen Bäsle-Briefe insgesamt keinesfalls selbstverständlich ist. Constanze Mozart, Wolfgangs Witwe, schrieb 1799 an die Verleger Breitkopf & Härtel, die Unterlagen für eine Biographie des acht Jahre zu- vor Verstorbenen sammelten:

die freilich geschmacklosen, aber doch sehr wizigen briefe an seine Base verdienen auch wohl eine Erwähnung, aber freilich nicht ganz gedruckt zu werden (Eibl/Senn 1978, S. 14).

Wie der Literatur weiter zu entnehmen ist, gelangte ein Teil dieser Briefe in den Besitz von Carl Thomas Mozart, einem von Wolfgangs Söhnen, „der sogar daran dachte, die Briefe des Vaters der darin enthaltenen ,derben Späße halber‘ zu ver- nichten“ (ebd.). Dies ist zum Glück nicht oder wenigstens nicht vollständig ge- schehen. Nun zum Vergleich des Anfangs unseres Bäsle-Briefes in den vier Briefausga- ben, wobei wir uns auf drei Versionen beschränken können, da Müller von Asow hier die Fassung von Schiedermair textgetreu übernimmt. Wir betrachten den Text jeweils bis einschließlich unserer Titelwörter und einige Passagen ziemlich am Schluss. Die meisten Auslassungen finden sich, wie nicht anders zu erwarten, in der frü- hesten Ausgabe. Es beginnt gleich am Anfang, wo Wolfgang das Wort gestorben synonymisch weiterführt, allerdings ins Derbe hinein: zu krepiert und verreckt. Die neueren Ausgaben füllen die Lücke. Wenige Zeilen später fehlt die laut Kommen- tar von Bauer/Deutsch auch heute noch im bayerisch-österreichischem Raum ge- bräuchliche Redensart gemeint und geschissen ist zweierlei. Auch die Anfragen nach der Regelmäßigkeit des Stuhlganges der Kusine („ob Sie noch offenes Leibs sind?“) und die womöglich aus Reimfreude folgende Frage „ob sie gar etwa haben den Grind?“, also Schorf, sind gestrichen, in den neueren Ausgaben aber wieder vorhanden. Dies geschieht in gleicher Weise mit der wenig später folgenden scherzhaften Drohung „oder ich laß bei meiner Ehr einen krachen“ sowie bei den folgenden fäkalsprachlichen Sprüchen „unsre arsch sollen die friedens =zeichen sein“, „und sollt ich noch heut machen einen schiss“. Die erste größere Diskrepanz zwischen den vier Ausgaben findet sich an der Stelle, der die Titelwörter dieses Beitrags entnommen sind. Erst die jüngste, maß- gebliche Edition enthält sie, die zehnmalige Wiederholung von dreck, dreimal ge- würzt mit leck und dreimal mit schmeck. Ausgangspunkt für diese Eruption ist die

44 Wilfried Kürschner harmlose Verwendung von Dreck im Satz „sonst ... bekomme ich statt einen brief einen dreck“, also ‘gar nichts’. Die beiden mittleren Ausgaben nehmen lediglich die erste Wiederholung von Drek auf und geben danach durch eine punktierte Zeile wenigstens zu erkennen, dass Text weggelassen ist; Nohl verschweigt dies noch. Bei Müller von Asow passiert etwas Kurioses. Zunächst gibt er an, dass ihm das handschriftliche Original dieses Briefes nicht vorgelegen habe („Autograph: unbe- kannt“) und er deshalb Schiedermairs Ausgabe als Vorlage benutzt habe. Zwi- schenzeitlich ist aber eine englische Übersetzung der Mozartbriefe erschienen, de- ren Herausgeberin, Emily Anderson, das Original unseres Briefes vorgelegen habe, sodass die englische Übersetzung der anstößigen Passage zitiert werden kann:

Ah, muck! Sweet word! Muck! chuck! That to is fine. Muck, chuck! – muck! – suck – o charmante! muck, suck! That’s what I like! Muck, chuck and suck! Chuck muck and suck muck. (S. 29986 – Ausgabe der Digitalen Bibliothek)

Auf diese Weise erhält der deutsche Leser wenigstens eine ungefähre Vorstel- lung vom Inhalt der getilgten Passage. Gegen Ende des Briefes passiert dasselbe noch einmal. Wieder lässt Nohl ohne Kennzeichnung eine nun etwas kürzere Pas- sage aus; Schiedermair und der ihm folgende Müller von Asow zeigen dies wie- derum durch Punktierung an. Letzterer teilt abermals die englische Übersetzung des Fehlenden mit:

for I fear that my muck will soon dry up and that he won’t have enough if he wants (ebd.)

Es brauchte nach Müller von Asow also nochmals zwanzig Jahre, bis 1962 in der großen Gesamtausgabe von Mozarts Briefen und Aufzeichnungen, die Bauer und Deutsch veranstalteten, die anstößigen Passagen im Original ans Licht ge- bracht wurden. Ob sie jetzt wohl auch immer zu Gehör gebracht werden? Ich muss dazu eine kleine Geschichte erzählen. Anlass für die Beschäftigung mit dem Thema war die in vielen deutschen Rundfunkanstalten ausgestrahlten Sendereihe mit täglichen Le- sungen der Briefe Mozarts durch den Schauspieler Klaus Maria Brandauer. Von dort stammt auch die Idee, in der Überschrift die dreckWortreihe zu verwenden. Brandauers Lesung unseres Bäsle-Briefes vom 28. Februar 1778 wurde passender- weise am 28. Februar 2006 ausgestrahlt, in einer gekürzten Fassung, die im Inter- net auf der dazugehörigen Website nachzulesen war:

28. Februar 1778 Mademoiselle Ma trés chére Cousine! Sie werden vielleicht glauben oder gar meynen ich sey gestorben! – – ich sey Cre- pirt? – oder verreckt? – doch nein! Meynen sie es nicht, ich bitte sie; denn gemeint und geschissen ist zweyerley! – Nun aber habe ich die Ehre, sie zu fragen, wie sie

,Obszönesʻ bei Mozart und seine Verarbeitung 45

sich befinden und sich tragen? – ob sie noch offens leibs sind? – ob sie etwa gar ha- ben den grind? – – ob sie mich noch in bischen können leiden? – ob sie öfters schreiben mit einer kreiden? – ob sie noch dann und wan an mich gedencken? – ob sie nicht bisweilen lust haben sich aufzuhencken? – ob sie etwa gar bös waren? Auf mich armen narrn; ob sie nicht gutwillig wollen fried machen, oder ich lass bei mei- ner Ehr einen krachen! Doch sie lachen – – victoria! – – unsre arsch sollen die frie- dens-zeichen seyn! – ich dachte wohl, daß sie mir nicht länger wiederstehen könn- ten. Ja, ja, ich bin meiner sache gewis, und sollt ich heut noch machen einen schiss, obwohl ich in 14 Tägen geh nach Paris. Wenn sie mir also wolln antworten, aus der stadt Augsburg dorten, so schreiben sie mir baldt, damit ich den brief erhalt, sonst wenn ich etwa schon bin weck, bekomme ich statt einen brief einen dreck. Dreck! – – dreck! – o dreck! – o süsses wort! – dreck! – schmeck! – auch schön! – dreck, schmeck! – dreck! – leck – o charmante! – dreck, leck! – das freuet mich! – dreck, schmeck und leck! – schmeck dreck, und leck dreck! Adieu bääsle. Ich bin, ich war, ich wär, ich bin gewesen, ich war gewesen, ich wär gewesen, o wenn ich wäre, o daß ich wäre, wollte gott ich wäre, ich wurde seyn, ich werde seyn, wenn ich seyn würde, o das ich seyn würde, ich wurde gewesen, ich werde gewesen seyn, o wenn ich gewesen wäre, o daß ich gewesen wäre, wollte gott ich wäre gewesen, was? – ein stockfisch. Addieu Wolfgang Amadé Mozart

Leider waren im Internet die Texte nicht auch zu hören, sodass ich mir die CD „Brandauer liest Mozart“ besorgte, um den Brief gesprochen hören zu können. Nun stellte sich aber heraus, dass ausgerechnet dieser Brief auf der CD mit den Radio- ausstrahlungen fehlte. Dafür ist aber auf einer zweiten CD in diesem Album eine Lesung des gesamten Briefes durch Brandauer enthalten. Wenn man sie sich an- hört, ergibt sich Merkwürdiges: unsere Stelle fehlt (was in der Synopse oben durch doppelte Unterstreichung markiert ist). Warum? Liegt es daran, dass es sich um ei- nen Mitschnitt einer öffentlichen Lesung handelt, und zwar beim „Musikfest Bre- men“ am 3. September 2005? Mochte Brandauer dem anwesenden Publikum die anstößige Passage nicht zumuten, schämte er sich, die Worte in den Mund zu neh- men? Ist die Weigerung, das Wort schiss auszusprechen – man hört Brandauers Bemerkung: „trau ich mich nicht zu sagen“ – mehr als nur Koketterie? Dass Bran- dauer in der Rundfunkausstrahlung, wenn ich mich recht entsinne, keine Skrupel hatte, das Anstößige, Derbe, Obszöne auszusprechen, mag mit der Aufnahmesitua- tion und der antizipierten Ausstrahlungssituation zu erklären sein: Hier steht der Vorleser nicht vor konkretem Publikum, sondern im Studio und er wendet sich an anonyme Hörer. – Wer weiß? 5 In der Forschung hat man danach gefragt, wie es dazu kam, dass die unter- schiedlichen Ausgaben differierende Texte abdrucken, und zwar insbesondere hin-

5 Eine andere Vermutung, die ich kurzfristig hatte, erwies sich als unzutreffend. Vielleicht, dachte ich, liest Brandauer aus der Briefsammlung, die im Manesse Verlag Zürich erschienen ist. Sie ist erstmalig 1948/1949 erschienen, basiert auf Schiedermairs Ausgabe und ist noch immer im Buchhandel erhält- lich. Doch unser Bäsle-Brief fehlt dort ganz.

46 Wilfried Kürschner sichtlich der uns hier interessierenden Passagen aus der Fäkal- und Analzone. Da- bei ist zuallererst zu bedenken, dass die Briefe, wie wir sie bislang besprochen ha- ben, der Privatsphäre angehören und sicherlich nicht mit der Absicht der Veröf- fentlichung verfasst wurden. Wenn unsere Briefe, E-Mails und SMS eines Tages im Druck erscheinen würden – was bei den meisten von uns, unterstelle ich einmal, aus Gründen mangelnder Bedeutsamkeit Gott sei Dank nicht zu erwarten ist –, würden wir uns wahrscheinlich selber sehr wundern, was wir zu Papier und Datei gebracht haben. Abgesehen von der Privatheit ist aber auch, wie bereits angespro- chen, ein Wandel in der Einstellung zu den hier interessierenden Phänomenen fest- zustellen. Die Kommentatoren der Bäsle-Briefe Eibl und Senn charakterisieren die sprachlichen Veränderungen beim Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert folgen- dermaßen:

Welcher Wandel in der Beurteilung spielte sich während der Zeitspanne ab, seit Mozart dem Bäsle geschrieben hatte? – Während sich einst Bürger, Bauer und Edelmann der gleichen Ausdrucksweise bedienten, ist mit dem Aufstieg einer Bevölkerungsschicht zu einem Stand mit einer mehr oder weniger höheren Bildung auch eine Verfeinerung von Sprache und Sitte verbunden. Die Grundschichten, vor allem die Bauern, halten aber an der urtümlichen Umgangssprache, die zum Dialekt deklassifiziert wird, und an der na- turhaften, von den „Gebildeten“ als derb-kräftig empfundenen Ausdrucksweise fest. Zur Zeit Mozarts zeigte die Salzburger Mittelschicht zwar bereits einen gewissen Stan- desdünkel, aber in der Umgangssprache redete man, ohne Anstoß zu erregen, im rauen Ton der Vorfahren. Wie abfällig apostrophierte[n] doch Vater und Sohn Mozart die un- gebildeten, ordinären Kapellkollegen! Aber hat Leopold seinen Sohn zurechtgewiesen, als ihm dieser schrieb (16.12.1780), er würde sich am letzten Dekret des Erzbischofs „den Hintern geputzt haben“? Verschiedene Komponenten, auch die gelehrten Zirkel der Großstädte, wirkten zusam- men, dass an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Verfeinerung der Sprache und Sitten ausging. Derbkräftige Worte – im heutigen Sinn –, die man früher unbe- kümmert gebraucht, als natürlich oder als einen harmlosen Scherz aufgefasst hatte – wurden nun als unästhetisch, als degoutant verpönt. (S. 14/15)

II

Nach den Briefen möchte ich nun im zweiten Teil auf Texte Mozarts eingehen, die, anders als die Briefe, unzweifelhaft der öffentlichen Sphäre angehören. Es geht um Kanons, in denen Obszönitäten, „Sauereyen [...] vom Dreck, scheissen, und arschlecken“ im Sinne des Briefs vom 14. November 1777 vorkommen. 6 Hier in der linken Spalte der Text des ersten Beispiels:

6 Im Vortrag wurden die im Folgenden zu besprechenden Stücke von der CD „Der heitere Mozart“ (2005) zu Gehör gebracht.

,Obszönesʻ bei Mozart und seine Verarbeitung 47

KV 559: Difficile mihi lectu Mars für drei Stimmen

Wolters (1956) = Mozart-Kanons im Urtext. Herausgegeben von Gottfried Wolters. Wolfenbüttel: Möseler Verlag, 1956 S. 43: S. 75 KV 559 In den älteren Aus- [Fritz] Jöde [Der Kanon. Ein Singbuch für Eintragung Mozarts gaben mit der Text- alle, Wolfenbüttel 1926. 2. Teil: Von der in sein Werkver- unterlegung von Mitte des 18. Jahrhunderts bis Cherubini. zeichnis: Breitkopf „Nimm, Daraus: , 2. September 1788 ist’s gleich warm“. Kanons, Wolfenbüttel 1930] Komponiert: Ver- mutlich 1785 mit eigener Text- Spätere Auflagen unterlegung mit dem Text

Difficile lectu mihi Nimm, ist’s gleich Heut ist uns ein Nun freut euch alle mars et jonicu, warm, ist’s gleich Kindelein geborn groß und klein jonicu difficile, lectu Sonnenschein, den von einer Jungfrau zu diesem lieben lectu lectu mihi Mantel um; laß die auserkorn ... Wäre Kindelein. mars, mihi mars Narr’n auch drüber uns das Kindelein Kommt all herbei lectu lectu difficile schrei’n. Ist’s auch nicht geborn, so und singt es ein, lectu lectu jonicu gleich warm, ist’s wär’n wir allesamt das allerliebste jonicu jonicu jonicu gleich Sonnenschein, verlorn Knäbelein ... jonicu jonicu jonicu laß die Narr’n, laß nur jonicu difficile. die Narr’n auch drüber schrei’n! Laß sie nur schrei’n! Nimm, ist’s gleich warm, ist’s gleich warm, ist es gleich Sonnenschein, nimm den Mantel nur um; laß die Narr’n drüber schrei’n; laß nur die Narren schrei’n! „Der heitere Mozart“ (2005), Track 4, Wiener Akademie Kammerchor, Leitung: Xaver Meyer

Den Lateinkenner wird bei den Worten „ mihi Mars et jonicu“ schaudern: Sie sind schlicht unverständlich. Die Tarnung ist aber schnell aufgelöst: „lec–tu mih–i m–ars“, auch bekannt unter dem Namen „Götz-Zitat“. Das „difficile“ davor kann vielleicht wörtlich verstanden werden: „es ist schwierig“. Was machen wir mit dem „jonicu“? Am Ende wird es acht Mal wiederholt: „jonicu jonicu jonicu

48 Wilfried Kürschner

...“ und beim Ineinanderfließen und Neu-Trennen ergibt sich „cujoni“, also das Verb kujonieren – kujonieren bedeutet nun so viel wie ‘(bei der Arbeit) unwürdig behandeln, schikanieren, unnötig und bösartig bedrängen’. Dieses Verb ist abge- leitet vom Substantiv Kujon, das einen Menschen meint, der als gemein, nieder- trächtig angesehen wird. Dem Wörterbuch ist zu entnehmen, dass Kujon aus dem Französischen stammt: coïon oder couillon hat dort die Bedeutung ‘Schuft, Memme’. Es geht seinerseits auf das italienische coglione zurück, das die Bedeu- tung ‘der Entmannte’ hat und auf lateinisch coleus mit der Bedeutung ‘Hodensack’ zurückzuführen ist. Ob Mozart diese etymologischen Hintergründe bekannt waren, wissen wir nicht – sie passen aber gut in den Textzusammenhang. Offenbar wurde Mozarts Text, über dessen Entstehung gleich noch etwas auszu- führen ist, trotz seiner gebildeten Tarnung als anstößig empfunden, sodass er zu- nächst nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Dies ist Spalte 2 der obigen Textzusammenstellung zu entnehmen, wo von einer „Textunterlegung von Breit- kopf“ die Rede ist, die „in den älteren Ausgaben“ enthalten ist. Damit ist Folgendes gemeint: Partitur und Text unseres Kanons erschienen im Druck erstmals um 1804, und zwar im Rahmen der „Oeuvres de Mozart au Magasin de Musique de Breit- kopf & Härtel, à Leipsic“. „Cahier XV“, also Heft 15, enthielt unser Stück (diese und die folgenden Angaben nach Wolters 1956, S. 75/76). Die Textunterlegung stammt von einem der beiden Verleger selbst, Breitkopf. Ein Nachdruck dieser Ausgabe – wir würden heute sagen: ein Raubdruck – mit dem Titel „XXII Canons von weiland W. A. Mozart“, um 1810 erschienen im Verlage der Chemischen Dru- ckerey, Wien, trug diesen Text weiter wie auch das 38. Heft der „Sämmtlichen Werke“, die bei Tobias Haslinger in Wien erschienen. Zu beachten ist allerdings, dass in einer anderen Ausgabe der „Canones“, die ebenfalls 1804 erschien, und zwar bei Simrock in Bonn, der Originaltext abgedruckt wurde. Dieser ist dann auch in der „Gesamt-Ausgabe“, die zwischen 1876 und 1907 herauskam, enthalten und sicherlich auch in der „Neueren Ausgabe sämtlicher Werke“ (seit 1955). Ich habe der Literatur, soweit ich sie zur Kenntnis nehmen konnte, nicht entnehmen können, welche Gründe dazu führten, dass Breitkopf & Härtel der Partitur einen anderen Text unterlegten – von heute her gesehen würde man sagen: eine Fälschung begin- gen –, während bei Simrock im selben Jahr, 1804, das Original abgedruckt wurde. Sollte etwa dort die Anstößigkeit nicht erkannt worden sein? Oder wandte man sich an ein anderes Publikum, dem man meinte den Originaltext zumuten zu dürfen? Wie dem auch sei: Als „Kuriosum“ verzeichnet das Köchelverzeichnis (1965), dass 1926/1930 der Kanon nochmals mit einer anderen Überschrift versehen wurde, nämlich mit der Überschrift „Zu Weihnachten“. Dies geschah in Fritz Jödes Sam- melwerk „Der Kanon“, und der unterlegte Text begann mit den Worten „Heut ist uns ein Kindelein geborn von einer Jungfrau auserkorn ...“ – sehr passend in einem „Singbuch für alle“, wie der Untertitel von Jödes Sammlung lautet. Der Text wurde, wie Wolters in seinem Buch „Mozart-Kanons im Urtext“ (1956) mitteilt, in

,Obszönesʻ bei Mozart und seine Verarbeitung 49 späteren Auflagen ersetzt durch einen thematisch auf derselben Linie liegenden: „Nun freut euch alle groß und klein zu diesem lieben Kindelein“. Kehren wir noch einmal zur Entstehung dieses Kanons zurück. Sie ist aufs Engste mit der eines zweiten verknüpft, den wir nun betrachten wollen. In der Zeit- schrift „Caecilia“ (1824, I) berichtet Gottfried Weber über die Entstehungs- geschichte der beiden Kanons das Folgende (Wiedergabe bei Wolters 1956, S. 76, und im Köchelverzeichnis 1965):

Der sonst vortreffliche Joh. Nepomuk Peierl (Tenorist in München) hatte einige Eigen- heiten in der Wortaussprache, über welche Mozart im freundlichen Umgang mit ihm und anderen Freunden oft scherzte. An einem Abend solch fröhlichen Beisammenseins kam Mozarten der Einfall, ein paar lateinische Worte: „Difficile lectu mihi Mars“, bei deren Absingen Peierls Aussprache in komischem Licht hervortreten mußte, zu einem Kanon zu verarbeiten, und in der Erwartung, daß dieser die Absicht nicht merken und in die Falle gehen werde, schrieb er gleich auf die Rückseite desselben Blattes den Spott- kanon „O du eselhafter Peierl“. Der Scherz gelang, und kaum waren jene wunderlichen lateinischen Worte aus Peierls Mund in der erwarteten komischen Weise zum allgemei- nen Behagen gehört worden, so drehte Mozart das Blatt um und ließ nun die Gesell- schaft statt Applaus den komischen Triumph- und Spottgesang anstimmen: „O du esel- hafter Peierl“.

Eine Vorbemerkung: Auf der CD „Der heitere Mozart“ ist nicht der ursprüngli- che Text, also „O du eselhafter Peierl“, zu hören, sondern eine von Mozart abgeän- derte Fassung, die unter dem Titel „O du eselhafter Martin“ bekannt geworden ist. Es wird vermutet, dass mit „Martin“ der „Impresario“ Philipp Jacob Martin ge- meint sein könnte (Köchelverzeichnis 1965). In der folgenden Tabelle stehen in den eingerückten Zeilen die Passagen übereinander, in denen sich die beiden Fas- sungen unterscheiden, und zwar jeweils oben in Kursivschrift die auf Peierl bezo- gene Version (KV 560a), unten in Normalschrift die auf Martin bezogene (KV 560b); nach links herausgerückt erscheinen die textidentischen Teile.

KV 560a: O du eselhafter Peierl KV 560b: O du eselhafter Martin für vier Stimmen

Wolters (1956) S. 44: S. 77: KV 560b Die älteren Ausgaben mit der Mit neuer Textunter- Eintragung Mozarts in sein Textunterlegung durch Breit- legung „Singet, die ihr Werkverzeichnis: 2. September kopf: sitzt im Saale“ („Hoch- 1788 – komponiert: vermutlich zeitskanon“) von Edgar 1785 (KV 560a) Rabsch in „Musik im Leben“, Singbuch (Moritz Diesterweg Verlag, Frankfurt, 1955, S. 34). O du eselhafter Peierl, Gähnst du Fauler, denn Singet, die ihr sitzt im O du eselhafter Martin, schon wieder? Träg, so wie Saale bei dem frohen

50 Wilfried Kürschner

Wolters (1956) S. 44: S. 77: o du peierlicher Esel, alle deine Glieder, zieht sich Hochzeitsmahle: Es o du martinischer Esel, das Maul, auch das ist faul, lebe hoch das junge du bist so faul als wie ein selbst wenn es essen, trinken Paar, viel Glück und Gaul, soll. Mit dir ist gar nichts Segen immerdar! Laßt der weder Kopf noch Haxen anzufangen, wenn selbst am lustig fließen alle hat. Himmel Geigen hangen, Fässer! Ergreifet nun Mit dir ist gar nichts hängst du doch’s Maul, die vollen Gläser! anzufangen, bleibst immer faul, vom Erhebt euch dann und ich seh dich noch am Galgen Schlafe voll, hast sonst kein stoßet an, es singe hangen, andres Verlangen; drum jeder, wie er schön nur du dummer Gaul, öffne’s Maul, Freund, ich singen kann: Ein Vivat du dummer Paul, bitte dich recht sehr; sonst hoch auf unsre liebe du bist so faul kriegt es nicht zu essen Braut, dem Bräutigam halt du das Maul, mehr. Sperr auf! sperr auf auch! Stoßt an und du dummer Paul, das Maul, sonst kriegt es rufet laut: Vivat! Vivat! ich scheiß dir auf’s nichts zu essen mehr; denn Hört, wie die Gläser Maul, alles, Freund, schläft ja an hell erklingen! Ein du bist so faul als wie dir, vor Schlaf, vor Schlaf Vivat darzubringen wir ein Gaul, verhungerst du noch mir. alle kräftig singen: so hoff ich, wirst du Sperr auf! Du sonst Vivat! Vivat! Vivat! erwachen. verhungerst mir. Sie leben hoch! O lieber Freund, O lieber Martin, ich bitte dich, ich bitte dich recht sehr, o leck mich doch geschwind, geschwind im Arsch, o leck, o leck, o leck mich doch geschwind, geschwind im Arsch. Ach, lieber Freund, O, lieber Freund, verzeihe mir, den Arsch, den Arsch petschier ich dir, Peierl, Nepomuk, Peierl, Martin, Martin, Martin, verzeihe mir! „Der heitere Mozart“ (EMI 1988/2005), Track 13: „O du eselhafter Martin“ – Wiener Akademie Kammerchor, Leitung: Xaver Meyer

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Derb ging es zu unter Männern damals, wenn die Geschichte stimmt, die wir gerade von Gottfried Weber gehört haben. So ist es verständlich, dass sämtliche frühen gedruckten Ausgaben nicht den Originaltext bringen, sondern eigene Texte unterlegen. Der von Breitkopf (1804) ist oben in der mittleren Spalte abgedruckt, Simrocks Text (1804) beginnt mit „O du dümmster aller Diener“. Die Originaltexte finden sich erst in der Gesamtausgabe (1876–1907). Die späteren Kanonsammlun- gen haben eigene Texte, die mit „O du dümmster aller Diener“ oder „Freunde, laßt uns beim Marschieren“ (nach Wolters 1956, S. 77) beginnen. Bislang haben wir Texte betrachtet, die in gedruckten Ausgaben komplett durch andere ersetzt wurden. Dies ist auch beim nächsten Beispiel der Fall, wo wiederum die frühen Ausgaben Breitkopfs Textunterlegung haben. In späteren Lieder- büchern, so dem von Jöde, das wir bereits von „Difficile“ her kennen, werden aber nur anstößige Zeilen ersetzt; ansonsten bleibt der ein bisschen freche Text („bist a rechta Ox“) erhalten. Auf der CD „Der heitere Mozart“ erklingt das Original (linke Spalte):

KV 561: / (Gute Nacht) für vier Stimmen

Wolters (1956) S. 46: S. 46/79: S. 79: KV 561 „Gereinigte Textfassung“ Die frühen Ausgaben mit Eintrag Mozarts in sein [...]: Verfasser unbekannt, in Breitkopfs Textunterlegung Werkverzeichnis: 2. September Jöde, S. 188, danach in „Gute Nacht“ 1788 vielen Liederbüchern Text: nach Salzburgischem Volksmund – in vermutlich speziell Mozartischer Familien- Ausprägung. Bona nox! Bona nox! Gute Nacht, bist a rechta Ox; bist a rechta Ox; bis der Tag erwacht! bona Notte, bona Notte, Alle Sorgen, liebe lotte; liebe lotte; ruht bis morgen! bonne Nuit, bonne Nuit, Euch gu–te Nacht! pfui, pfui, pfui, pfui, Schlaft wohl, good Night, good Night, good Night, good Night, schließt nur die Augen zu, heut müß ma no weit, heut müß ma no weit, schlaf mein Liebchen, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht, fein sanft, scheiß ins Bett, daß’ kracht s ’wird höchste Zeit, schlaf in guter Ruh, gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht! schlaff fei g’sund schlaff fei g’sund Träume süß, und reck’ den Arsch zum und bleib recht kugelrund. bis nun der Tag erwacht Mund. „Der heitere Mozart“ (EMI 1988/2005), Track 20, Wiener Akademie Kammerchor, Leitung: Xaver Meyer

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Was die beiden anstößigen Zeilen angeht, erinnert man sich gewiss, dass wir das schon bei Mozarts Mutter im Brief an ihren Mann vom 26. September 1777 la- sen: „adio ben mio leb gesund, Reck den arsch zum mund. ich winsch eine guete nacht, scheis ins beth das Kracht“. Und im Brief vom 5. November 1777 schreibt Wolfgang an das Bäsle:

iez wünsch ich eine gute nacht, scheissen sie ins beet daß es kracht; schlafens gesund, reckens den arsch zum mund [...]

Auf Italienisch sagt Wolfgang dies in der Nachschrift zum Brief seines Vaters an seine Frau vom 7. Juli 1770 aus Rom, indem er sich an seine Schwester wendet, so:

„addio statevi bene, e cacate nel letto che egli fà fracasso.“ (Bauer/Deutsch 1962, Bd. II, S. 369)

Dieser Spruch ist also offenbar in der Familie Mozart und wahrscheinlich dar- über hinaus geläufig und wird im Kanon zitiert. Von den hierher gehörigen Kanons bleiben noch zwei übrig, die schon in der Überschrift ihre Zugehörigkeit zur Sphäre der Fäkalkomik und Analerotik (wie Wolfgang Hildesheimer [im Vorwort zu Eibl/Senn 1988, S. 7] es nennt) deutlich werden lassen – genauer gesagt, bestehen sie eigentlich nur aus der Überschrift. Der eine, KV 231, besteht aus den Anfangsworten „“, der an- dere, KV 233, in anderer syntaktischer Konstruktion „Leck mir den Arsch fein“ – „recht schön sauber“, wie das Köchelverzeichnis (1965) ergänzt:

KV 231: Leck mich im Arsch / (Laßt froh uns sein) für sechs Stimmen KVE 382c

Wolters (1956) S. 45: S. 78: KV 231 (KVE Textunterlegung B. Textergänzung von Jöde (1926/1930) 382c) Härtel Gottfried Wolters Komponiert: Vermutlich 1782 in Wien Text: nach Volksmund – nur die Anfangsworte überliefert. Leck mich im Laßt froh uns sein, Leck mich im Kommt her und singt. Arsch! laßt uns froh sein! Arsch! Goethe! (Untertitel: „Der Götz- Murren ist Goethe! Götz von Kanon“. Fußnote: „Der vergebens, Berlichingen! Originaltext Mozarts

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Wolters (1956) S. 45: S. 78: Knurren, Brummen Götz von entzieht sich der Wieder- ist vergebens, Berlichingen, gabe, ist aber im Unterti- macht uns nicht zweiter Akt; die tel zur Genüge angedeu- von Sorgen frei; Szene kennt ihr ja! tet.“) Knurren, Brummen Rufen wir nur ist vergebens, ganz summarisch: Knurren, Brummen Hier wird Mozart ist vergebens, ja, literarisch, Knurren, Brummen literarisch, ja, hier ist vergebens, wird Mozart Knurren, Brummen literarisch, rufen ist vergebens, wir nur ganz summarisch Arien (1991); „Leck mich im Arsch. Laßt froh uns sein“: Arias (2006)

KV 233: Leck mir den Arsch fein / (Nichts labt mich mehr) für drei Stimmen KVE 382d

Wolters (1956) S. 42: KV 233 (KVE 382d) Mit der Textunterlegung von Textergänzung G. Wolters Originaler Text nach Volksmund Härtel „Nichts labt mich – nur die Anfangsworte mehr“ überliefert Textergänzung vom Herausgeber [Gottfried Wolters] Textunterlegung B: Härtel Leck mir den Arsch fein ... Nichts labt mich mehr als Leck mir den Arsch fein ... Wein; er schleicht so sacht (Nein?! Soll das denn hinein, er schleicht so Urtext sein?! Soll das denn sachte, sachte hinein. Mozarts Urtext sein?! Er netzt, wenn alles gleich Leck mir?! O nein, nein! O lechzet, die trocknen nein! Dies Bildnis ist so Kehlen allein; läßt, wenn rein, ist so weiß wie ein Murrkopf auch ächzt, läßt Schwan, ist so weiß wie ein er fröhlich mich sein. Schwan! Drum schwingt mit mir die Leck mir?! Das kann nicht Gläser! Stoßt an! Laßt alle sein, nein! O nein! Soll das Sorgen sein! Stoßt an! Wir denn wirklich Urtext sein?! ersäufen sie im Wein. Nein, der Mozart war ein feiner Mann!)

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Beide Kanons werden in das Jahr 1782 oder 1783 datiert. Wohl deshalb, weil die Gesamttexte, wie gesagt, nicht überliefert sind, werden sie mit den Textunter- legungen der Ausgabe bei Breitkopf & Härtel, die dieses Mal allerdings nicht von Breitkopf, sondern von seinem Kompagnon Härtel stammen, abgedruckt und sind in dieser Form auch in Liederbücher eingegangen. Die Textergänzungen, die Wol- ters (1956) vorgenommen hat, beziehen sich auf die Quelle dieser berühmen Worte, auf Goethes Drama „Götz von Berlichingen“ von 1773. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen, denn das Feld, das sich sonst eröffnete, ist schier un- übersehbar. Es möge genügen, aus Sigmund Freuds kleiner Schrift über „Charakter und Analerotik“ aus dem Jahre 1908 zu zitieren: Zum Ausdrucke des Trotzes und der trotzenden Verhöhnung wird bei uns immer noch wie in alter Zeit eine Aufforderung verwendet, die die Liebkosung der Afterzone zum Inhalte hat, also eigentlich eine von der Verdrängung betroffene Zärtlichkeit bezeichnet. Die Entblößung des Hinterns stellt die Abschwächung dieser Rede zur Geste dar; in Goethes Götz von Berlichingen finden sich beide, Rede wie Geste, an passendster Stelle als Ausdruck des Trotzes angebracht. Schöner kann man es wohl nicht sagen. Im Voranstehenden habe ich mich auf das Buch von Gottfried Wolters „Mozart- Kanons im Urtext“ gestützt. Es ist im Jahre 1956 erschienen, als es noch keines- wegs üblich und problemlos möglich war, die erwähnten Kanons zu singen und über die hier thematisierten Gegenstände unbefangen zu sprechen. Wolters’ Vor- bemerkungen tragen daher deutlich apologetische Züge. Er schreibt: Mozarts Kanons sind im Gesamtwerk des Meisters nur ein kleiner, jedoch besonders liebenswerter Zug – wie ein Rasenstück in einer großartigen Landschaft. Wir können sie nicht missen, wenn es um das Ganze eines neuen Mozart-Bildes geht. Zeigt doch diese kleine Provinz eindrückliche Züge des Menschen Mozart. Und indem wir an den klei- nen Äußerungen dieser vox humana teilnehmen, wird die Ehrfurcht von den großen Aussagen des Genies nicht geringer werden. (S. 3) Mozarts Stellung bleibt also unangetastet, wenn auch Wörter in den Mund und auf die Feder genommen werden müssen, die dem entrückten Genie nicht zu ent- sprechen scheinen. Die zweite Rechtfertigung ist die der Wissenschaft, der Wissen- schaftlichkeit: Unsere Sammlung bemüht sich zunächst um wissenschaftliche Genauigkeit. Die Ka- nons werden in ihrer Gesamtheit und nach Text und Weise in originaler Gestalt darge- boten. Was zur Aufhellung des historischen Textbestandes zusammengetragen wurde, ist in den Anmerkungen (als Revisions-Bericht) niedergelegt. Es will der Sache dienen: einer mozartfröhlichen Wissenschaft. (Ebd.) Schließlich gibt Wolters eine Empfehlung, indem er unterscheidet zwischen ei- nem „gesellig singenden Kreis“, der „Mozarts kanonische Späße fröhlich in sein eigenes Dasein“ trägt, einerseits und „ernsthafter Chorgemeinschaft“ andererseits, die sich „vokale Kostbarkeiten von hohem Rang“ erarbeitet:

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Hier [in der ernsthaften Chorgemeinschaft] sollte man den Urtext ehren ... und ihn dort [im gesellig singenden Kreis] – wo nötig – fröhlich übertreten, zumal wenn sich Texte nicht jedem Kreis und jeder Stunde gemäß erweisen. Da nimmt dem geselligen Urbild getreu edle Freiheit diese Kanons in mutwilligen Gebrauch! (Ebd.)

III

Im dritten und letzten Teil möchte ich auf eine Sichtweise von Mozarts Sprache, wie sie sich in den Briefen, besonders in den Bäsle-Briefen, und in den gerade be- sprochenen Kanons darstellt, zu sprechen kommen, die bei Wolters und in der Kommentierung der Briefe durch Eibl und Senn noch nicht in den Blick gekom- men ist, nicht in den Blick kommen konnte. Diese Sichtweise deutet Auffälligkei- ten in Mozarts Persönlichkeit als Ausdruck einer Krankheit, und zwar des Tourette- Syndroms. Vorgetragen wurde dies bereits vor einigen Jahren von Stefan Schaub (1994), jetzt wieder von Werner Felber, Professor an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Dresdner Universitätsklinik. Beim Tourette-Syndrom handelt es sich um eine neuropsychiatrische Erkran- kung, deren grundlegende Merkmale in motorischen und verbalen Tics bestehen, zu denen verhaltensmäßige Auffälligkeiten wie Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität, Zwanghaftigkeit, emotionale Störung sowie Spiegel- und Echophä- nomene treten. In Schilderungen von Mozarts Persönlichkeit wird ein Bild ge- zeichnet, das hierzu passt: Das äußere Betragen Mozarts erweckte oftmals den Eindruck von hektischer Unruhe und angespannter Nervosität und erschien durch extreme Stimmungsschwankungen ge- kennzeichnet. Joseph Lange, in ständigem persönlichen Kontakt mit seinem Schwager, charakterisiert dieses Auftreten prägnant: „Nie war Mozart weniger in seinen Gesprä- chen und Handlungen als ein großer Mann zu erkennen, als wenn er gerade mit einem wichtigen Werk beschäftigt war. Dann sprach er nicht nur verwirrt durcheinander, son- dern machte mitunter Späße einer Art, die man an ihm nicht gewohnt war, ja er ver- nachlässigte sich sogar absichtlich in seinem Betragen ... Entweder verbarg er vorsätz- lich aus nicht zu enthüllenden Ursachen seine innere Anstrengung unter äußerer Frivo- lität, oder er gefiel sich darin, die göttlichen Ideen seiner Musik mit dem Einfüllen platter Alltäglichkeit in scharfen Kontrast zu bringen und durch eine Art von Selbstiro- nie sich zu ergötzen.“ (Mozart-Lexikon 2006, S. 569) In anderen Quellen wird berichtet, dass Mozart oft Purzelbäume schlug und Laute ausstieß. Was nun die sprachliche Seite, in der Sprache der Medizin die „verbalen Tics“, angeht, werden insbesondere die folgenden Symptome hervorgehoben, die an Mo- zarts erhalten gebliebenen schriftlichen Produktionen überprüft werden können: – Echolalie: Imitation von Lauten und Wörtern anderer – Palilalie: Wiederholung, kurzer eigener Äußerungen und Wörter (Wittmann o. J., S. 33)

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– Koprolalie: zwanghafter Gebrauch vulgärer Ausdrücke, häufig aus dem Bereich der Fäkalsprache (Pschyrembel 2002, s. v.) Für den Mediziner stellt sich also die Frage, ob der häufige Gebrauch fäkal- sprachlicher Ausdrücke, über den wir ja die ganze Zeit geredet haben, in den Be- reich der Koprolalie fällt, also nicht Ausdruck übermütiger Lebensfreude, über- schäumender Lebenslust oder für die Zeit und Situation normaler Sprachgebrauch ist, wie die Deutungen zunächst lauteten. Fraglich ist dann auch, ob Wolfgang Hil- desheimers Deutung der zehnmaligen Wiederholung des Wortes Dreck und zu- sätzlich der Reimwörter schmeck und 4 Mal leck trägt. Hildesheimer schreibt: „Die hier enthaltene Toccata gibt beinah den Akt des Komponierens wieder, assoziative Aneinanderreihung kurzer Notenwerte. Dazwischen erscheinen rezitativische Ausrufe: ,O süßes Wort!‘ “ (Hildesheimer, S. 122, zit. nach Mozart-Lexikon 2006, S. 793) Hildesheimer, der in seinem Buch mit dem Titel „Mozart“ „den Prozessen des Schöpferischen auf den Grund zu kommen versucht“, sieht also die Abfolge der genannten Wörter eher in Analogie zur Komposition einer Toccata als den zwang- haften Wiederholungstic des Tourettekranken. Gleichzeitig verwendet er aber auch den Begriff „Zwang“, wenn er vom „zwanghaften Abwandlungsmechanismus“ spricht, mit dem manche Textpassagen sich erklären lassen sollen. Ich bin der Letzte, der in dieser Frage eine Entscheidung treffen möchte. Dazu bin ich viel zu unbewandert in Musikologie, psychiatrischer Medizin, ja sogar auch in Psycholinguistik. Ich sehe vor allem auch das methodische Problem, das darin besteht, auf der Grundlage von doch eher zufällig erhalten gebliebenen Sprach- äußerungen, noch dazu schriftlicher Texte, die doch in weiten Teilen anderen Pro- duktionsbedingungen unterliegen als spontane mündliche Äußerungen, ein medizi- nisches Ferngutachten zu erstellen. Interessant ist die Hypothese von Schaub und Felber aber allemal, zeigt sie doch an, in welche Bereiche eine sich weit verste- hende Sprachwissenschaft blicken kann. Wir begannen mit Dreck und schließen mit Dreck – und mit einem letzten Text. Denn es gibt einen weiteren Kanon Mozarts, der von Tourette-Theoretikern als Koprolalie (also wörtlich übersetzt: Kotrede) in Kombination mit Palilalie (das heißt wörtlich übersetzt: Wiederholungsrede) gedeutet werden könnte: Er endet mit den Worten „... und im Prater giebt’s Haufen voll Dreck, voll Dreck, voll Dreck“. Viel Vergnügen ein letztes Mal für heute mit dem Wiener Akademie-Kammerchor unter der Leitung von Xaver Meyer: „Gehn wir im Prater“:

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KV 558: Gehn wir im Prater für vier Stimmen

Wolters (1956) S. 38: S. 73: KV 559 Frühe Ausgaben mit der Textunterlegung von Eintragung Mozarts in sein Werkverzeichnis: Breitkopf „Alles ist eitel“ 2. September 1788 Gehn wir im Prater, Alles ist eitel gehn wir in d’Hetz, hier auf der Welt! gehn wir zum Kasperl, das sagt ein Weiser, zum Kasperl, zum Kasperl. ja, das sagt ein Weiser! Der Kasperl ist krank, doch wem’s nicht gefällt der Bär ist verreckt, hier in dieser Welt, was thät’ ma in der Hetz drauß, der trolle sich nur leiser, in der Hetz drauß, in der Hetz drauß? trolle sich, trolle sich leiser hinaus, Im Prater giebt’s Gelsen* aus dem Leben, und Haufen von Dreck, er trolle sich leiser, im Prater, im Prater giebt’s Dreck, er trolle sich leiser hinaus, der Bär ist verreckt, er trolle sich ’naus, der Kasperl ist krank, hinaus aus dem Leben, und im Prater giebt’s Haufen voll Dreck, und bleib immerhin, bleibe immerhin ein voll Dreck, voll Dreck. Weiser. *Gelsen = Mücken, Schnaken „Der heitere Mozart“ (EMI 1988/2005), Track 16, Wiener Akademie Kammerchor, Leitung: Xaver Meyer

Literatur

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Hildesheimer (1975) = Mozart – Briefe. Ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Hildesheimer. Franfurt am Main: Insel. Jöde (1930) = Wolfgang Amadeus Mozart – Kanons, zum Singen und Spielen auf Instru- menten, Wolfenbüttel: Kallmeyer. – Sonderdruck aus: Der Kanon. Ein Singbuch für alle. Herausgegeben von Fritz Jöde. Wolfenbüttel: Möseler, 1926. Jöde (1951) = Der Kanon. Ein Singbuch für Alle. Herausgegeben von Fritz Jöde. 2. Teil: Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis Cherubini. Wolfenbüttel: Möseler. – Neu- ausgabe unter dem Titel „Der Kanon. Ein Singbuch für alle. Gesamtband“. Wolfen- büttel: Möseler, 1997. Köchelverzeichnis (1965) = Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amadé Mozarts. Nebst Angabe der verlorengegangenen, angefangenen, von fremder Hand bearbeiteten, zweifelhaften und unterschobenen Kompositionen. Von Ludwig Ritter von Köchel. 7., unveränderte Auflage, bearbeitet von Franz Giegling. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel. – Auch auf CD: Angermüller (2005). Müller von Asow (1942) = Gesamtausgabe der Briefe und Aufzeichnungen der Familie Mozart. Herausgegeben von Erich H. Müller von Asow. Berlin: Metzner. – Auch auf CD: Angermüller (2005). Nohl (1865) = Mozarts Briefe. Nach den Originalen. Herausgegeben von Ludwig Nohl. Salzburg: Mayr. – Auch auf CD: Angermüller (2005). Reich (1948) = Wolfgang Amadeus Mozart – Briefe. Herausgegeben von Willi Reich. Zü- rich: Manesse. Schiedermair (1914) = Die Briefe W. A. Mozarts und seiner Familie. Erste kritische Ge- samtausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Ludwig Schiedermair. München: Müller.

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