Masarykova univerzita Filozofická fakulta

Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky

Magisterská diplomová práce

2016 Bc. Martina Mutlová

Masaryk Universität Philosophische Fakultät

Institut für Germanistik, Nordistik und Nederlandistik

Deutsche Sprache und Literatur

Martina Mutlová

„Wilhelm Gustloff“ in der Literatur Diplomarbeit

Betreuer: Mgr. Aleš Urválek, Ph. D.

2016

Hiermit erkläre ich, dass ich meine Diplomarbeit selbstständig mit Hilfe der

angeführten Bibliographie und Quellen erarbeitet habe.

……………………………………………..

Martina Mutlová

Motto dieser Magisterarbeit:

„Wenn der lange, harte Winter der Vergangenheit angehört und allmählich vor dem blühenden Frühling zurückweicht, müssen die Gedanken wieder frei werden für die Gegenwart, die es sich wahrlich zu leben lohnt.“1

1 WEISE, Peter. Hürdenlauf: Erinnerungen eines Findlings. Rostock: BS-Verlag, 2006, S. 256.

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung ...... 1

1 Historische Hintergründe ...... 2

1.1 Wilhelm Gustloff ...... 2

1.2 „Wilhelm Gustloff“ – KdF Schiff ...... 6

2 Günter Grass ...... 13

2.1 Leben ...... 13

2.2 Werke ...... 20

2.2.1 Danziger Trilogie ...... 23

2.2.2 Romane, Novellen und Erzählungen ...... 24

2.3 Im Krebsgang ...... 31

2.3.1 Inhalt ...... 32

2.3.2 Aufbau der Novelle ...... 37

2.3.1 Titel ...... 39

2.3.2 Tabubrecher ...... 40

2.3.3 Ursula („Tulla“) Pokriefke ...... 43

2.3.1 Paul Pokriefke ...... 45

2.3.2 Der Alte ...... 47

2.3.3 Konrad („Konny“) Pokriefke...... 50

2.3.4 Elektronische Medien und Grass ...... 52

2.3.1 „Warum erst jetzt?“ ...... 53

3 Weitere Autoren und Verfilmungen ...... 55

3.1 Willi Fährman ...... 55

3.2 Tanja Dückers ...... 57

3.3 Peter Weise ...... 59

3.4 Ruta Sepetys ...... 61

3.5 Verfilmungen ...... 62

Zusammenfassung ...... 65

Literaturverzeichnis...... 68

Primärliteratur ...... 68

Sekundärliteratur ...... 68

Internetquellen ...... 69

Einleitung

Die vorliegende Magisterarbeit beschäftigt sich mit dem Thema „Wilhelm

Gustloff“ in der Literatur. Zuerst ist es notwendig zu erklären, wer Wilhelm Gustloff eigentlich war und was für ein Leben er gelebt hatte. Dann beschreibt diese Arbeit, wie es dazu kam, dass nach Wilhelm Gustloff ein Schiff benannt wurde und warum es versunken ist. Das wird in dem ersten Kapitel beschrieben.

Wohlgemerkt ist die „Wilhelm Gustloff“ ein ungewöhnliches Schiff, welches ein tragisches Schicksal erlitt. Aus diesem Thema entwickelten sich einige belletristische Bücher. Diese Bücher sind in dieser Magisterarbeit untersucht worden, vor allem aber die Novelle von Günter Grass Im Krebsgang, die im Jahr 2002 herausgegeben wurde. Das ganze zweite Kapitel beschäftigt sich mit Grass‘ Novelle und seinem Leben. In dem Kapitel wird außerdem der Inhalt der Novelle, die

Hauptfiguren und auch die Rezeption des Buches beschrieben.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit anderen Werken, die „Wilhelm Gustloff“ auch behandeln. Es geht um Das Jahr der Wölfe von Willi Fährmann, Himmelskörper von Tanja Dückers, Hürdenlauf von Peter Weise und Salz für die See von Ruta

Sepetys. Neben diesen Büchern wurde die „Wilhelm Gustloff“-Thematik auch mehrmals verfilmt und das wird im letzten Kapitel auch besprochen.

Warum wissen so wenig Leute über das Schicksal von „Wilhelm Gustloff“

Bescheid? Ist es noch heute ein Tabu darüber zu sprechen? Wie hat Günter Grass und andere Autoren dieses Thema in ihren Büchern verarbeitet? Hat Grass ein jahrelanges

Tabu mit seinem Buch gebrochen? Und wie hat sich die Ansicht auf ihn verändert, als er seine Mitgliedschaft zur SS zugegeben hat? Das sind die Hauptfragen, die diese

Magisterarbeit beantworten sollte. 1

1 Historische Hintergründe

1.1 Wilhelm Gustloff

Wilhelm Gustloff ist am 30. Januar 1895 in geboren. Nach der mittleren Reife begann er eine Banklehre. Weil er sehr krank war (er hatte ein chronisches Lungenleiden und einen angegriffenen Kehlkopf), konnte er nicht als

Soldat im Ersten Weltkrieg kämpfen. Im Jahr 1917 zog er nach der Schweiz um und dort möchte er sich in Davos kurieren. Nach der Kur blieb er in der Schweiz und arbeitete als Observationssekretär am Meteorologischen Institut. Im Jahr 1921 wurde er Mitglied der nationalistischen und antisemitischen Organisation Deutschvölkische

Schutz- und Trutzbund (DVSTB). In 1929 trat Gustloff der Nationalsozialistische

Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bei und in September 1930 gründete er den

Stützpunkt Davos der NSDAP. Ab 1932 war er hauptamtlicher Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz. Bis 1936 warb er mehr als 5000

Parteimitglieder an.2,3 Als er gefragt wurde, wie er sein Amt als Landesgruppenleiter verstehe, antwortete er: „Ich liebe auf der Welt am meisten meine Frau und meine

Mutter. Wenn mein Führer mir befähle, sie zu töten, würde ich ihm gehorchen.“4 Aus dem Zitat ist es klar, dass er ein treuer Nazi war, der über alles seinem Führer diente.

Die linken Zeitungen bezeichneten ihm als „der Diktator von Davos“.5

2 FUHRER, Armin. Tod in Davos: und das Attentat auf Wilhelm Gustloff. Berlin: Metropol, 2012. 3 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. : Reclam, 2004, S. 17-18. 4 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 10. 5 Ebenda, S. 23. 2

Am 4. Februar 1936 war Gustloff durch vier Schüsse aus einem Revolver in seiner Privatwohnung in Davos getötet. Der Schütze war jüdischer Medizinstudent

David Frankfurter. Frankfurter ist am 9. Juli 1909 in Daruvar (damals Österreich-

Ungarn, heute Kroatien) geboren. Er hatte einen Knochentumor und wurde häufig operiert. Die Ärzte gaben ihm keine hohe Lebenserwartung. Er war ein Sohn des Oberrabbiners und studierte, ohne Erfolg, Medizin in Wien, Leipzig, Berlin und

Frankfurt am Main.6 In 1933, nach Machtergreifung Hitlers, erlebte er die

Judenverfolgung. Er sah, wie die Bücher jüdischer Autoren verbrannt wurden, wie man seinen Onkel (einen Rabbiner) mit dem Ruf „Jude, hepp, hepp“ verhöhnten, wie sein Arbeitsplatz im Labor mit einem Davidstern gekennzeichnet wurde.7 „Damit konnte er nicht umgehen. Das hielt er nicht aus.“8 In Oktober 1933 floh er vor dem deutschen Antisemitismus nach Bern. Er verfiel in eine Depression und hatte den

Gedanke an Selbstmord. Ein medizinisches Gutachten erklärte während des Prozesses:

„Frankfurter kam aus inneren seelischen Gründen persönlicher Natur in die psychologisch unhaltbare Situation, von der er sich freimachen musste. Seine

Depression gebar die Selbstmordidee. Der in jedem immanenten Selbsterhaltungstrieb hat aber die Kugel von sich selbst auf ein anderes Opfer abgelenkt.“9 Frankfurter fühlte sich als Jude verpflichtet, ein Zeichen des jüdischen Widerstandes gegen das

Benehmen der Nationalsozialisten zu setzen. Er hat Gustloff in die Brust, in den Hals

6 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 18. 7 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 16-17. 8 Ebenda, S. 16. 9 Ebenda, S. 17. 3

und in den Kopf getroffen. Dann ist er weggegangen und niemand hat ihm angehalten.

Sofort nach der Tat hat er sich der Schweizer Polizei gestellt.10

Sein Prozess in Chur hat internationale Aufsehen erregt. Vor dem Gericht hat er gesagt, dass er der Tat in den Namen des Judentums gemacht hat: „Ich habe geschossen, weil ich Jude bin. Ich bin mir meiner Tat vollkommen bewusst und bereue sie auf keinen Fall.“11 Frankfurter wurde am 14. Dezember 1936 für den unstrittigen

Mord zu achtzehn Jahren Haft und lebenslänglicher Landesverweisung verurteilt.12

Paradoxerweise besserte sich während der Haft im Sennhof-Gefängnis in Graubünden sein Gesundheitszustand. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Frankfurter am 1. Juni 1945 freigelassen und aus der Schweiz ausgewiesen. Dann hat er die

Israelische Bürgerschaft gewonnen. In Israel wurde er Beamter im

Verteidigungsministerium und später Offizier der israelischen Verteidigungskräfte. Er ist am 19. Juli 1982 in Tel Aviv gestorben.13

Das Attentat hatte ein großes Aufsehen zur Folge. Die NSDAP machte Gustloff daraufhin zum Blutzeugen der Bewegung und nahm die Tat zum Anlass für judenfeindliche Stimmungsmache.14 NS- verwandte Gustloff als Märtyrer.

Die Tat wurde von der nationalsozialistischen Regierung Deutschlands zur antijüdischen Propaganda sowie zu Angriffen auf die Schweiz benutzt.15 Schwerin hat

Gustloff ein Staatsbegräbnis veranstaltet, das von , ,

10 Ebenda, S. 28. 11 Ebenda. 12 WICHERS, Hermann. David Frankfurter. In: Historisches Lexikon der Schweiz [online]. 13 FUHRER, Armin. Tod in Davos: David Frankfurter und das Attentat auf Wilhelm Gustloff. Berlin: Metropol, 2012. 14 BRASSEL-MOSER, Ruedi. Gustloff-Affäre. In: Historisches Lexikon der Schweiz [online]. 15 WICHERS, Hermann. David Frankfurter. In: Historisches Lexikon der Schweiz [online]. 4

Herman Göring und anderen Vertretern des Naziregimes besucht wurde. Hitler mit seinen Helfern trugen Gustloff vor 35000 Trauergästen zu Grabe. Hitler hat auch eine

Rede gehalten, die aber wegen der sich nähernden Olympischen Winterspiele in

Garmisch-Partenkirchen relativ zurückhaltende und maßvolle war. Er hat in seiner

Grabrede gesagt: „Das deutsche Volk hat einen Lebenden im Jahr 1936 verloren, allein einen Unsterblichen für die Zukunft gewonnen.“16 Die Nationalsozialisten setzten Gustloff in Schwerin ein Denkmal und benannten Straßen, Plätze und Schulen nach ihm.17 Nach Gustloff wurde es auch Stiftung Wilhelm Gustloff-Stiftung (ein

Wirtschaftsimperium mit Waggonwagenfabrik und Waffenfabrik18) und der größten deutschen Passagierschiff „Wilhelm Gustloff“ benannt.

16 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 37. 17 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 18. 18 LÜTTGENAU, Rikola-Gunnar. Weimar im Nationalsozialismus: Ein Stadtplan [online]. 5

1.2 „Wilhelm Gustloff“ – KdF Schiff

Die „Wilhelm Gustloff“ war eines der beiden KdF-Schiffe, die zweite hieß

„Robert Ley“ nach dem Leiter des Einheitsverbands Deutsche Arbeitsfront. (Robert

Ley hat den berühmten Heil Hitler-Gruß, der das Volk einigte, eingeführt. „Ihm, dem

Mondgesicht mit Stirnlocke, fiel es ein, allen Staatsbeamten, danach allen Lehrern und

Schülern, schließlich den Arbeitern aller Betriebe die erhobene Hand und den Ruf

,Heil Hitler‘ als Tagesgruß zu befehlen.“19.) KdF ist die Abkürzung von Kraft durch

Freude, es handelte sich um eine Freizeitorganisation der Deutschen Arbeitsfront.20

Die Deutschen waren sehr arm und plötzlich konnten sie dank der Partei ganz billig und günstig reisen.21 KdF ermöglichte der deutschen Bevölkerung erschwingliche

Freizeitunternehmungen und der „einfachen“ Bevölkerung gab das Gefühl ein wertgeschätztes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Das Schiff war ein großer Erfolg und diente die Propaganda: „Dass mit dem klassenlosen Schiff war wirklich ein

Knüller.“22 Damit forderte KdF die Bindung an das NS-Regime. Das Angebot des

Unternehmens ging über Theater- und Filmvorführungen,

Weiterbildungsveranstaltungen bis zu sehr beliebten Fernreisemöglichkeiten mit einem Schiff der eigenen Flotte, der auch die „Wilhelm Gustloff“ angehörte.23 Das neueste und größte KdF-Schiff hätte nach Adolf Hitler genannt werden sollen, Hitler

19 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 38. 20 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 37. 21 SOLBACK, Karin. Günter Grass - Im Krebsgang: Das deutsche Volk als Opfer und Täter. Falun, 2013, S. 10. 22 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 50. 23 KIRSCH, Lisa. Günter Grass - Im Krebsgang: Wie wird der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ in dieser Novelle literarisch verarbeitet. Münster, 2010, S. 6. 6

entschied jedoch, das Schiff „Wilhelm Gustloff“ zu nennen.24 „[…], doch als der

Reichskanzler bei jener Trauerfeier neben der Witwe des in der Schweiz ermordeten

Parteigenossen saß, fasste er den Entschluss, das geplante KdF-Schiff nach dem jüngsten Blutzeugen der Bewegung benennen zu lassen […].“25

Das Schiff war auf 417 Besatzungsmitglieder und 1.463 Passagiere ausgelegt.

Es war 208,5 Meter lang, 23,5 Meter breit, 56 Meter hoch und 25 484

Bruttoregistertonnen groß – zum Zeitpunkt seiner Erbauung das größte Schiff der

Welt.26 Der Schornstein war 13 Metern hoch, aber er war eine Attrappe, weil „Wilhelm

Gustloff“ ein Motorschiff war. Die Passagiere wurden in der Touristenklasse für zwei oder vier Personen untergebracht. Jede Kabine verfügte überfließend kaltes und warmes Wasser, Tisch, Sofabank, Stockbetten und einen Kleiderschrank für jeden

Fahrgast. „Wilhelm Gustloff“ war am 5. Mai 1937 vom Stapel gelaufen und transportierte Tausende deutscher Urlauber an Mittelmeerstrände und nordische

Fjorde.27 Die Taufe des Schiffes vollzog Hitler gemeinsam mit Hedwig Gustloff. Die

Witwe Wilhelm Gustloffs zerschlug die Flasche am Schiffsrumpf und gab damit das

Schiff frei zum Stapellauf. Die Witwe des Ermordeten war bis zum 8. November 1923

Hitlers Sekretärin. Sie erhielt monatlich einen Ehrensold von 400 Reichsmark von

Hitler persönlich.28

24 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 37. 25 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 41. 26RIEDEL, Katja. „Wilhelm Gustloff“: Eisiges Grab für über 9000 Menschen. FOCUS Online [online]. 2008. 27 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 36. 28 Ebenda, S. 37. 7

Am 15. März 1938 war das Schiff fertiggestellt. Die erste Fahrt fand am 23.

März 1938. Das Schiff war nicht zu luxuriös, aber es war modern und alles war ordentlich und sauber. Dort gab es ein Schwimmbad, sieben Bars, Tanzräume, eine

Bücherei, ein Wintergarten, ein Musiksaal, ein Rauchsalon, ein Bordkino, ein

Sonnendeck und zwei Promenadendecks. Alle Kabinen waren gleich ausgestattet, mit der Ausnahme der Führerkabine für Adolf Hitler, die hat er aber niemals benutzt. Es war wirklich ein Schiff des Nationalsozialismus und Schiff ohne Klassen (so heißt auch der Propagandafilm über dem Schiff aus dem Jahr 1938). Der Luxus auf dem

Schiff war für alle, sogar auch für den Normalbürger.29

Auf seiner ersten regulären Fahrt lief das Schiff am 2. April 1938 London an und diente als schwimmendes Wahllokal. Hitler wollte die Zustimmung von den damals in

England lebenden Deutschen und Österreichern bei dem so genannten Anschluss

Österreichs gewinnen. Das Wahlergebnis war nicht überraschend, 99 von 100 votierten für Hitler.30

Das Schiff kostete 25 Millionen Reichsmarken zu bauen31 und „in allen Sälen hingen Bilder des Führers, der über uns weg ernst, aber entschlossen in die Zukunft sah.“32 Zu Beginn des zweiten Weltkrieges wurde das Schiff nicht mehr als

Erholungsschiff benutzt, sondern diente es als Lazarettschiff der deutschen

29 Ebenda, S. 37-38. 30 Ebenda, S. 43. 31 SOLBACK, Karin. Günter Grass - Im Krebsgang: Das deutsche Volk als Opfer und Täter. Falun, 2013, S. 11. 32 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 59. 8

Kriegsmarine und versorgte die deutschen Truppen in Norwegen. Ab dem Jahr 1940 war es das Wohnschiff für das Militär in Gotenhafen-Oxhöft.33

Am Ende des Zweiten Weltkrieges müssten tausende Flüchtlinge weg von

Ostpreußen entfliehen. Die Rote Armee schnitt aber alle Straßen und

Zugverbindungen mit dem Westen ab. Ostpreußen war eingekesselt und der einzige

Weg für Flüchtlinge war der Weg über die Ostsee. Das Schicksal der Flüchtlinge war in den Händen der deutschen Marineleitung. Ende Januar 1945 bekam die „Wilhelm

Gustloff“ den Auftrag, ostpreußische Flüchtlinge in den Westen Deutschlands zu befördern. Die Seerettungsaktion war von Großadmiral Karl Dönitz und

Konteradmiral Konrad Engelhardt geleitet. Alles, was schwimmen konnte, wurde für die Flüchtlinge benutzt: Handelsschiffe, Schulschiffe, Vorpostenboote, Minenräumer und so weiter. Die „Wilhelm Gustloff“ konnte nicht fehlen und sollte sich an der

Evakuierung beteiligen. Das größte KdF-Schiff veränderte seinen Zweck und das ehemaliges Fernreiseschiff wurde zum Rettungsschiff.34

Am Anfang hatten alle einen Ausweis zu dem Schiff, es wurde 7956 Passagiere registriert. Dann gab es aber kein Papier mehr für die Ausweise, deshalb weiß niemand genau, wie viele Passagiere an Bord waren. Man sagt, dass an Bord um 10000 Leute waren. (Laut Historiker Heinz Schön35 gab es an Bord 10582 Leute.)36 Dort befanden sich Matrosen, Marinenhelferinnen, Säuglinge, Kinder, Jugendliche, verwundete

33 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 43. 34 Ebenda, S. 31. 35 Heinz Schön war ein Zahlmeisteraspirant auf der „Wilhelm Gustloff“, hat sein gesamtes Leben die Geschichte des Schiffes recherchiert und alle Dokumente und Aussagen zusammengetragen. 36KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 59-60. 9

Soldaten und alte Frauen und Männer.37 Ingeborg Piepmeyer, die war an Bord dazu sagte: „Der Strom der Flüchtlinge, die auf die „Gustloff“ kamen, riss überhaupt nicht mehr ab. Es gab keine halbe Stunde, in der niemand kam. Anfangs konnte man noch durch die Speisesäle gehen […], nachher lagen dort überall nur noch Matratzen und

Leute. jeder Platz war belegt, so viele Menschen waren an Bord.“38 „Die Leute lagen bereits wie die Heringe nebeneinander,“ sagte Ursula Resas, die auch an Bord war.39

Am Morgen des 30. Januar 1945 beschloss man, keine Menschen mehr an Bord zu nehmen. Das Schiff war voll. Der Pier war aber noch immer schwarz von

Menschen. Gegen 13 Uhr ist das Schiff aus dem Hafenbecken von Gotenhafen-Oxhöft ausgefahren.40 Neben dem Hauptkapitän Friedrich Petersen gab es noch drei weitere junge Fahrkapitäne an Bord, Wilhelm Zahn, Heinz Weller und Karl-Heinz Köhler.41

Es war kalt, gegen minus 18 Grad, Wasser nur gegen 2 Grad. Alle sollten

Schwimmwesten tragen, aber es gab nicht für alle. Die Richtung des Schiffes war erst auf Meer, dann nach Kiel.42 Die vier Kapitäne an Bord haben stundenlang darum gerungen, auf welchem Weg das Schiff fahren sollte. Am Ende war es entschieden, dass das Schiff wegen seiner Überladung durch tiefe Gewässer fahren sollte. Weil deutsche Minenleger unterwegs waren, wurden Positionslichter zu der Vermeidung von Kollisionen gesetzt. Und die „Gustloff“ war für jeden auszumachen.43

37 SOLBACK, Karin. Günter Grass - Im Krebsgang: Das deutsche Volk als Opfer und Täter. Falun, 2013, S. 13. 38 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 52. 39 Ebenda, S. 54. 40 Ebenda, S 63-65. 41 Ebenda, S. 57-58. 42 SOLBACK, Karin. Günter Grass - Im Krebsgang: Das deutsche Volk als Opfer und Täter. Falun, 2013, S. 13. 43 REICHERT, Steffen. Ein Rostocker Kapitän war das Findelkind der „Gustloff“. Lausitzer Rundschau [online]. 2008. 10

Wenige Seemeilen westlich gab es russische U-Boot S 13 unter dem Kommando des 32-jährigen Kommandanten Alexander Marinesko.44 Gegen 21.05 Uhr näherte sich das U-Boot seinem Zielobjekt bis auf 700 Meter. Um 21.15 traf der erste Torpedo den Bug des Schiffes, der zweite den Schwimmbecken und der dritte den

Maschinenraum. Binnen weniger Minuten senkte sich das Vorderschiff um mehrere

Meter ab. Theoretisch hatte das Schiff Rettungsmöglichkeiten für 5000 Menschen, tatsächlich war aber ein Großteil der Flöße an Deck festgefroren. Die meisten

Passagiere haben die Temperatur des Wassers nur wenige Minuten überlebt. Wer keine

Schwimmweste hatte, war in Gefahr, vom Gewicht der eigenen Kleidung in die Tiefe gezogen zu werden. Im Wasser um die sinkende „Gustloff“ hallte die Schreie der ertrinkenden und erfrierenden Menschen.45 „,Gustloff‘ sinkt nach drei

Torpedotreffern!“46

Als das Schiff im Meer versenkte, war es 22.15 Uhr. Seit dem Einschlag der

Torpedos war gerade eine Stunde vergangen. Meisten Leute klammerten sich an

Wrackteile oder hängten hilflos in ihrer Schwimmweste.47 „Danach rührte sich nichts mehr. Abgefischt wurden nur noch Tote. Die Kinder, Beine nach oben. Schließlich beruhigte sich die See über dem Massengrab.“48

Die „Wilhelm Gustloff“ wurde am 30. Januar 1945 auf Befehl des sowjetischen

U-Boot Kapitäns Alexander Marinesko torpediert und daraufhin versenkt. Eine genaue

44 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 65. 45 Ebenda, S. 91-105. 46 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 133. 47 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 110-111. 48 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 152. 11

Angabe der Opferzahlen gibt es nicht, sie wird aber auf 7000-9000 Tote geschätzt, davon etwa 5000 Kinder.49 Die Versenkung „Gustloffs“ wurde zu der schwersten

Schiffskatastrophe der Geschichte. Nur 1252 konnten von deutschen Handels- und

Kriegsschiffen gerettet werden Nur 1252 konnten von deutschen Handels- und

Kriegsschiffen gerettet werden, 13 von ihnen starben später noch an Unterkühlung.50

30. Januar 1945 wäre zum einen der fünfzigste Geburtstag des Namensgebers

Wilhelm Gustloff gewesen und zum anderen war er der zwölfte Jahrestag von Hitlers

Machtergreifung.51 Was für ein sonderbarer Zufall. Das Schicksal des Schiffes kann man auch als eine Metapher sehen: „Im Bau und im Untergang Gustloff spiegeln sich

Aufstieg und Untergang des Regimes. Im Hintergrund sind die Taten und Untaten vom

Ermächtigungsgesetz über die Bücherverbrennung bis zu den unsinnigen Befehlen des

Führers am Ende des Krieges deutlich gemacht. Im Blickpunkt - als unübersehbare

Metapher - bleibt immer das Schiff. Planung, Bau, Einsatz und Zerstörung des Schiffs können aus Allegorie aufgefasst werden, in der bildhaft Aufstieg und Untergang des sogenannten Dritten Reiches abgehandelt werden.“52

Durch den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ „[…] ist der Untergang des

Großdeutschen Reiches schon eingeläutet […].“53

Als das Schiff versank, versuchten die Nazis, die Geschichte zu verbergen (und die Tatsache, dass sie den Krieg verloren hatten). Der sowjetische U-Bootkommandant

49 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 138. 50 SCHÖN, Heinz. Die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff: Dokumentation eines Überlebenden. Stuttgart: Motorbuch Verlag, 2008, S. 174. 51RIEDEL, Katja. „Wilhelm Gustloff“: Eisiges Grab für über 9000 Menschen. FOCUS Online [online]. 2008. 52 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 37. 53 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 123. 12

Marinesko, der den Gustloff torpedierte, wurde kurz darauf unehrenhaft entlassen, so dass die Russen nicht auf die Geschichte aufmerksam machten.54 Und nach dem Krieg veröffentlichte Deutschland das Sinken nicht, weil es unangemessen war, von den

Verlusten während des Krieges unter Berücksichtigung der Gräueltaten der Nazis zu sprechen.

2 Günter Grass

2.1 Leben

54 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 20. 13

Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 im Danziger Vorort Langfuhr geboren. Seine Eltern hatten einen Kolonialwarenladen. Sein Vater Wilhelm Grass war

Protestant und war aus einer Handwerkerfamilie, seine Mutter Helene Grass war katholisch und kaschubischer Herkunft. Er hatte eine Schwester, Waltraud, in 1930 geboren.

Die Stadt Danzig gehörte nicht zu dem Deutschen Reich, sie war eine Freie

Stadt, eingeschlossen von der Republik Polen.55 Grass und seine Eltern waren deutschorientierte Freistadtler, er war katholisch getauft. Grass war kein guter Student, er musste die Mittelschule zweimal wechseln. Doch schon in der Schule sind seine erste Literatur- und Bildhauerwerke entstanden.

Sein Vater trat in 1936 in die NSDAP ein, Grass war in Danzig ins Jungvolk eingetreten. Nach Einsätzen als Luftwaffenhelfer und im Reichsarbeitsdienst wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Er hat sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und war zur 10. SS-Panzer-Division Jörg von Frundsberg der Waffen-SS einberufen. Er war bei Cottbus verwundet und hat einen Lazarettaufenthalt in Marienbad durchgemacht.

Dass er als Jugendlicher bei der Waffen-SS gewesen war, gab Grass erst 61 Jahre später zu, am 12. August 2006 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das späte

Bekenntnis erregte starke kontroverse Reaktionen.56

Am Ende des Zweiten Weltkrieges war er in amerikanische

Kriegsgefangenschaft in Bayern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges arbeitete er kurz als Landarbeiter und Arbeiter in einem Kalibergwerk bei Hildesheim. 57 Dann

55 Heute ist diese Stadt polnisch und heißt Gdansk. 56 WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: 1927 – 2015 / Biografie. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016. 57 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 74. 14

er entdeckte die Namen seiner Eltern und seine Schwester auf einer Flüchtlingsliste des Roten Kreuzes und fuhr zu ihnen in die Nähe von Köln. Dort blieb er aber nur ein paar Wochen.58

Er hat eine Praktikantenstelle als Steinmetz und Steinbildhauer in Düsseldorf angenommen. Seit 1948 bis 1952 studierte Grass Grafik und Bildhauerei an der

Kunstakademie in Düsseldorf. In den frühen fünfziger Jahren unternimmt er

Autostopp-Reisen nach Italien und Frankreich um dort zu schreiben und malen. In

1953 hat er nach Berlin umgezogen. Dort ging er mit dem Studium auf der Universität der Künste Berlin weiter und in 1954 heiratete er eine schweizerische Tänzerin, Anna

Margareta Schwarz. Zusammen hatten sie vier Kinder (Franz, Raoul, Laura und

Bruno). In 1972 hat er sich von seiner Frau getrennt und begann eine Beziehung mit

Architektin und Malerin Veronika Schröter. Sie hatten ein Kind (Helene). Er hatte auch ein Kind mit Lektorin Ingrid Kruger (Nele). In 1979 heiratete er Organistin Ute

Grunert und aus seiner zweiten Ehe hatte er zwei Stiefsöhne (Malte und Hans). Grass hatte 18 Enkel bei seinem Tod.59

In 1955 hat er dritter Preis im Lyrikwettbewerb des Süddeutschen Rundfunks für das Gedicht Lilien aus Schlaf bekommen. Er hatte seine erste Lesung vor der

Gruppe 4760 in Berlin.

In 1956 kam es zu der ersten Buchveröffentlichung von Grass. Die Vorzüge der

Windhühner ist ein Sammelband, das Gedichte, Zeichnungen und Prosa des Autors

58 WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: 1927 – 2015 / Biografie. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016. 59 Ebenda. 60 Gruppe 47 war eine Gruppe von deutschsprachigen Schriftstellern, die von Hans Werner Richter und Alfred Andersch 1947 gegründet wurde. Die Gruppe hatte sehr großen Einfluss auf die bundesdeutsche Literatur. 15

enthält. In demselben Jahr hatte er seine erste Ausstellung von Plastiken und Grafiken in Stuttgart und hat sein erstes Drama Die bösen Köche geschrieben.61

Seit 1956 bis 1960 lebte er zusammen mit seiner Frau Anna in Paris und dort hat das Manuskript für das Buch Die Blechtrommel geschrieben. Ab 1957 gehörte er zu der Gruppe 47 an und parallel zu seiner Arbeit als bildender Künstler begann er auch zu schreiben. In 1958 hat er nach der Lesung aus dem Manuskript Preis der Gruppe

47 für Die Blechtrommel bekommen. Der Roman ist ein Jahr später, in 1959, erschienen. Mit diesem Buch erreichte er seinen literarischen Durchbruch. Der Roman machte ihn weltberühmt.62

In 1960 kam er von Paris zurück nach Berlin und lebte dort bis 1972. Im Jahr

1961 protestierte er öffentlich gegen die Errichtung der Berliner Mauer. In 1963 wurde er in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen. Zeichnen wurde für ihn eine

Möglichkeit, um Dinge zu erfahren und zu verstehen.63 „Ich zeichne immer, auch wenn ich nicht zeichne, weil ich gerade schreibe oder konzentriert nichts tue. Und auch beim Zeichnen schreiben sich Sätze fort, die angefangen auf anderem Papier stehen.“64 Auch seine Lyrik ist in demselben Beziehung zu seiner graphischen

Schaffung. „Oft sind die Graphiken gezeichnete Gedichte und viele Gedichte umschreiben Konturen, stufen Grautöne ab.“65

61 Biographie. Grass Medienarchiv[online]. Bremen. 62 WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: 1927 – 2015 / Biografie. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016. 63 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 78. 64 GRASS, Günter und Fritze MARGULL. Günter Grass: in Kupfer, auf Stein. Göttingen: Steidl, 1986, S. 7. 65 Ebenda. 16

Grass hat sich immer in dem politischen Leben engagiert. In 1961 unterstützte er Willy Brandt, dem damaligen Berliner Oberbürgermeister, im Wahlkampf der

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Er hat für ihn die Reden geschrieben.

Später trat er selbst als Wahlredner auf und unternahm einige Wahlreisen für die SPD

(in 1965, 1969, 1972). Er nahm Teil am Wahlkämpfe für die SPD in Schleswig-

Holstein und Berlin, in Nordrhein-Westfalen und Bayern, in Rheinland-Pfalz und in

Baden-Württemberg.66 Aber erst in 1982 wurde Grass Parteimitglied. In 1993 verließ er die Partei aus Protest gegen ihre Asylpolitik.

In 1965 trat er mit der Wahlrede Ich klage an an die Öffentlichkeit. Er beschuldigte Konrad Adenauer, dass er Hans Globke an der hohen Staatsposition entscheiden gelassen hat (wegen ihm waren die Nürnberger Rassengesetze eingeführt). „Ich klage an. Einen Mann namens Konrad Adenauer klage ich an, weil er einen Mann namens Globke während Jahren an wichtigster Stelle folgenreiche

Entscheidungen hat treffen lassen.“67 Er wollte keine Revolution, es ging ihm um

Reformen. Sein Programm gleicht er an eine Schnecke. Seine Erfahrungen aus dem

Wahlkampf fasst er in dem Buch Aus dem Tagebuch einer Schnecke.68 Im Jahr 1968 veröffentlichte Grass sein Buch mit einem Gespräch über dem Prager Frühling mit dem tschechischen Schriftsteller Pavel Kohout Briefe über Die Grenze: Versuch eines

Ost-West-Dialogs. Durch dieses Buch wurde er zum unerwünschten Schriftsteller in damaligen Deutschen Demokratischen Republik. 69

66 Biographie. Grass Medienarchiv[online]. Bremen. 67 BEUTIN, Wolfgang. Der Fall Grass: Ein deutsches Debakel. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, 2007, S. 13. 68 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 77. 69 GRASS, Günter und Pavel KOHOUT. Briefe über die Grenze: Versuch eines Ost-West-Dialogs. Hamburg: Christian Wegner Verlag, 1968. 17

Im Jahr 1970 Kaufte Grass ein Haus in Wewelsfleth. Dieses Haus wurde in 1698 als Kirchspielvogtei von Kirchspielvogt Peter Hellmann erbaut. Grass rettete das Haus vor dem Abriss. Dort hat er zum Beispiel das Buch Der Butt oder Kopfgeburten geschrieben. In 1985 schenkte er das Haus an das Land Berlin. Das Alfred-Döblin-

Haus wird von Schriftstellern zu Arbeitsaufenthalten genutzt.

In 1976 begründete er zusammen mit Heinrich Böll und Carola Stern die viermal jährlich erscheinende Zeitschrift L’76 und in 1980 hatte er den Verlag L’80 gegründet.

In 1983 wurde er zum Präsidenten der Berliner Akademie der Künste gewählt, in 1986 hat er die Tätigkeit als Präsident der Akademie beendet. In 1989 ist er aus der

Akademie der Künste in Berlin wegen Meinungsverschiedenheiten aufgrund der vorherrschenden Solidarität mit Salman Rushdie ausgetreten. Aber neun Jahre später wurde er wieder zum Mitglied der Akademie.70

Grass hat viele ins Ausland gereist. Im Jahr 1973 ist er zusammen mit dem

Bundeskanzler Willy Brandt nach Israel gefahren. In demselben Jahr reiste er auch in die USA. In den achtziger Jahren wurde er aktiv in der Friedensbewegung und zusammen mit seiner zweiten Ehefrau hat er von August 1986 bis Januar 1987 einen

Aufenthalt in Kalkutta unternommen. Ein Tagebuch mit Zeichnungen wurde als Zunge zeigen in 1988 veröffentlicht, eine Anspielung auf Zunge von Kali71. In 1993 ist er nach Kuba und Mexiko gereist. Er hat auch die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien,

Jugoslawien, die Sowjetunion, Japan oder Indonesien besucht.

70 WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: 1927 – 2015 / Biografie. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016. 71 Kali oder „Die Schwarze“ ist im Hinduismus eine bedeutende Göttin des Todes und der Zerstörung, aber auch der Erneuerung. 18

Bei den Ereignissen, die von 1989 bis 1990 zur Wiedervereinigung

Deutschlands führten, plädierte Grass für die weitere Trennung der beiden deutschen

Staaten. Er behauptete, dass ein vereinigtes Deutschland wahrscheinlich seine Rolle als kriegführender Nationalstaat wiederaufnehmen konnte. Dieses Argument hat viele

Deutsche entfremdet, die ihn als zu viel moralisierende Figur betrachteten.72

Im Jahr 1999 erhielt Grass den Nobelpreis für Literatur für sein Lebenswerk,

„whose frolicsome black fables portray the forgotten face of history“73.74

In 2000 hat er ein Paar Reden vorgetragen. Nie wieder schweigen war eine Rede bei der Kongresseröffnung des Internationalen P.E.N. in Moskau, Ich erinnere mich… war sein persönliches Statement bei den Litauisch-, Deutsch-, Polnischen Gesprächen

über die Zukunft der Erinnerung beim Goethe-Institut in Vilnius und Ohne Stimme war eine Rede vor dem Europarat in Straßburg.75

In 2002 eröffnete er das Lübecker Günter-Grass-Haus, das als Forum für

Literatur und bildende Kunst bestimmt ist. Dort befindet sich der überwiegende Teil seiner literarischen und künstlerischen Originalwerke.76

Am 4. April 2012 wurde in der Süddeutsche Zeitung sein Prosagedicht Was gesagt werden muss veröffentlicht. Im Gedicht warnt Grass vor einem Krieg gegen

Iran und sagt, dass Israel keine deutschen U-Boote mehr bekommen sollte.77 Israel hat

Grass wegen seines Gedichts zur Persona non grata erklärt. Als unerwünschte Person

72 GRASS, Günter. Don’t Reunify Germany. The New York Times: The Opinion Pages [online]. 1990. 73 weil er „in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat“. 74 The Nobel Prize in Literature 1999. The Official Website of the Nobel Prize [online]. 75 Biographie. Grass Medienarchiv[online]. Bremen. 76 Ebenda. 77 GRASS, Günter. Was gesagt werden muss. Süddeutsche Zeitung [online]. 2012. 19

durfte Grass nicht mehr nach Israel einreisen. Das Einreiseverbot geht auf ein Gesetz von 1952 zurück, das die Einreise ins Land für ehemaligen Nazis zu verweigern.78

Seit 1995 bis zu seinem Tod lebte Grass nicht weit von Lübeck, in Behlendorf.

Er ist am 13. April 2015 in Lübeck im Alter von 87 Jahren an den Folgen einer

Infektion gestorben.79

2.2 Werke

Man kann sagen, dass Grass der bedeutendste Repräsentant der deutschsprachigen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert ist. Seine Werke sind in viele Sprachen übersetzt und er wurde zum literarischen Lehrmeister bezeichnet. Er hat viele Ehrungen verdient, darunter ist der Nobelpreis für Literatur aus dem Jahr 1999 die wichtigste. Er war nicht nur Schriftsteller, aber auch Grafiker,

Maler, bildender Künstler und nicht in der letzten Reihe auch engagiertet Bürger.

„Seine Stimme als ,Gewissen der Nation‘ wird von den einen eingefordert, von

78 Empörung über Gedicht und Einreiseverbot. Zeit Online [online]. 2012. 79 Biographie. Grass Medienarchiv[online]. Bremen. 20

anderen gefürchtet, von allen zur Kenntnis genommen. Er engagiert sich da, wo die

Menschenrechte bedroht sind, wo die Demokratie gestärkt werden kann, wo der

Friede gefährdet ist und wo begangene Schuld geleugnet wird.“80

Neben Romanen, Novellen und Erzählungen hat Grass auch Dramen und Lyrik geschrieben. Aus seinen Dramen zum Beispiel Die bösen Köche (1956), Hochwasser

(1957), Onkel, Onkel (1958), Noch zehn Minuten bis Buffalo (1958), Die Plebejer proben den Aufstand (1966). Seine lyrischen Sammlungen sind: Die Vorzüge der

Windhühner (1956), Gleisdreieck (1960), Ausgefragt (1967), Gesammelte Gedichte

(1971), Letzte Tänze (2003), Lyrische Beute (2004), Dummer August (2007),

Eintagsfliegen (2012), Poesiealbum 302 (2012).

Ein Hauptthema in Werken von Grass ist der Zweite Weltkrieg und seine

Auswirkungen auf Deutschland und das deutsche Volk. In seinem Werk beschäftigt sich er häufig mit der Frage, wie die Ideologie der Nationalsozialisten entstehen und sich verbreiten konnte.81 Er befasst sich mit der Kritik an den Formen des ideologischen Denkens, die das NS-Regime unterworfen hat. Er schreibt gegen das

Vergessen. „Als Neunzehnjähriger begann ich zu ahnen, welch eine Schuld unser Volk wissend und unwissend aufgehäuft hatte, welche Last und Verantwortung meine und die folgende Generation zu tragen haben würde.“82

Die Stadt Danzig (Gdansk) und sein zweideutiger historischer Status zwischen

Deutschland und Polen steht oft als Symbol für die Ambiguität zwischen ethnischen

80 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 73. 81 HÄCKERMANN, Ursula. Unterrichtsmaterialen: Das neue Grass-Haus. Akademie der Künste. [online]. 82 NEUHAUS, Volker. Schreiben gegen die verstreichende Zeit: zu Leben und Werk von Günter Grass. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997, S. 11. 21

Gruppen, die auch im Grass‘ Erbe zu finden sind, das sowohl deutsche als auch slawische Familienmitglieder einschließt, die auf entgegengesetzten Seiten des

Krieges kämpften.

Seine Werke zeigen auch eine anhaltende Sorge für die marginalen Themen wie zum Beispiel Oskar Matzerath, der Zwerg in der Blechtrommel, dessen Körper als eine unwürdige Abweichung für die Nazi-Ideologie war. Ein anderes marginales Thema sind Roma und Sinti, die unrein und unwürdig angesehen wurden und waren zu

Eugenik und Völkermord unterworfen.

Sein literarischer Stil kombiniert die Elemente des magischen Realismus mit einer Vorliebe für die Befragung und in seinen Büchern gibt es häufig die Fragen der

Autorschaft. Er kompliziert realistische autobiographisch Elemente durch die

Mischung mit unzuverlässigen Erzählern, fantastischen Ereignissen, Ereignissen, die

Ironie erstellen oder verhöhnten Ereignissen, die die soziale Kritik bilden. Die

überambitionierten stilistischen Experimente belustigten Grass ebenfalls: „Man kann eine Geschichte in der Mitte beginnen und vorwärts wie rückwärts kühn ausschreitend

Verwirrung anstiften. Man kann sich modern geben, alle Zeiten, Entfernungen wegstreichen und hinterher verkünden oder verkünden lassen, man habe endlich und in letzter Stunde das Raum-Zeit-Problem gelöst. Man kann auch ganz zu Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich einen Roman zu schreiben, dann aber, sozusagen hinter dem eigenen Rücken, einen kräftigen Knüller hinlegen, um schließlich als letztmöglicher Romanschreiber dazustehn.“83

83 GRASS, Günter. Die Blechtrommel: Roman. Göttingen: Steidl, 1993, S. 12. 22

Grass interessierte sich auch für die Musik, vor allem für Jazz. Als er in

Düsseldorf studierte, verdiente er sin Geld in einer Jazzband. Zusammen mit Günter

„Baby“ Sommer84 hat er in dem Jahr 1987 das Album Es war einmal ein Land herausgegeben. Grass liest die ausgewählten Texte aus Die Blechtrommel und Die

Rättin und Sommer begleitet ihn mit Perkussion-Musik.

Um sein Schreiben und Leben zu verstehen, ist es notwendig seine Werke zu kennenlernen. Sein ganzes Leben ist mit der literarischen, beziehungsweise künstlerischen Schaffung verbunden. Deshalb folgen die Kurzcharakteristiken von seinen Werken, die helfen ihn zu begreifen.

2.2.1 Danziger Trilogie

Die Blechtrommel (1959), Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963) gehören zu der sogenannten Danziger Trilogie. Die selbständigen Werke spielen in

Danzig (Gdansk), der Heimat von Grass, und stehen in einem Zusammenhang von

Ereignissen, Figuren und Zeitumständen.85

Die Blechtrommel gehört zu den wichtigsten Romanen der deutschen

Nachkriegsliteratur. Der Roman kann man als historischer Roman, Zeitroman,

Schelmenroman und Entwicklungsroman bezeichnen. Er ist in einer sehr bildlichen

Sprache geschrieben. Die Hauptfigur ist ein Sonderling, Oskar Matzerath, der im Alter von drei Jahren nicht mehr zu wachsen beschließt. Er ist ein Kind, aber sein Verstand

84 Günter „Baby“ Sommer ist ein international profilierter deutscher Schlagzeuger und Perkussionist. Er zählt zu den Free-Jazz-Musikern der ersten Generation in Europa. 85 JARN, Maria. Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und deren Verarbeitung in der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass. Stockholm, 2007, S. 4. 23

ist vollständig entwickelt. Er beschreibt die Erwachsenenwelt von seiner sonderbaren

Kinderperspektive und hat eine Blechtrommel, dank der er auch über Ereignisse berichten kann, an denen er nicht unmittelbar beteiligt war. Mit diesem Roman erreichte Grass seinen literarischen Durchbruch. Die Reaktionen auf den Roman sind aber nicht nur positiv, einige bezeichnen den Text als obszön und pornografisch. Die

Blechtrommel wurde im Jahr 1979 von Volker Schlöndorff verfilmt.

Katz und Maus ist das zweite Buch von der Danziger Trilogie. Es geht um eine

Novelle, in der die Geschichte des Jungen Joachim Mahlke erzählt wird. Sie war der

Anlass zu einem Skandal wegen einer Onanierszene. Wegen unsittlichen Inhalts sollte die Novelle indizieren, auf Protest der Öffentlichkeit und anderer Schriftsteller wurde der Antrag zurückgezogen. In dieser Novelle ist zum ersten Mal Tulla Pokriefke erwähnt, die später auch in anderen Romanen erscheint. Das Buch wurde im Jahr 1967 verfilmt.

In Hundejahre gibt es drei verschiedene Erzählungen von drei verschiedenen

Erzählern. Sie berichten von der Kriegs- und Nachkriegszeit. In diesem Roman verhöhnt Grass mit der Aufzählung des Hundestammbaums die NS-Rassenpolitik. Der

Roman besteht aus drei Büchern. Das erste Buch reicht bis zum Krieg, das zweite Buch schildert die Lebensverhältnisse während des Krieges und ist in der Form von

Liebesbriefen, die an Tulla Pokriefeke gerichtet sind. Das dritte Buch spricht von der

Nachkriegszeit mit dem beginnenden Wirtschaftswunder.86

2.2.2 Romane, Novellen und Erzählungen

86 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 83. 24

Im Jahr 1969 ist der Roman örtlich betäubt erschienen. In diesem Buch ist es erste Mal, dass Grass von einem aktuellen Thema schreibt. Dort gibt es ein Studienrat

Starusch, Lehrer für Deutsch und Geschichte, und er unterzieht einer langwierigen zahnärztlichen Behandlung während der Schüler- und Studentenproteste in Berlin im

Jahr 1967. Er setzt sich mit aktuellen Problemen auseinander, reflektiert seine eigene

Biographie und seine Möglichkeiten als Lehrer.87

Aus dem Tagebuch einer Schnecke ist ein Roman, der erstmals in 1972 erschienen ist. Das Buch beginnt mit der Wahl Gustav Heinemanns zum

Bundespräsidenten und schließt mit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler. In diesem Roman beschreibt Grass sein Engagement im Wahlkampf für die SPD zwischen den Jahren 1969 und 1972. Das Tagebuch ist tatsächlich fiktiv, zeichnet jedoch tatsächliche Ereignisse nach.88

Der Roman Der Butt erschien im Jahr 1977. Es geht um Grass‘ bedeutendstes

Werk nach dem Roman Die Blechtrommel. Der Butt ist in diesem Roman ein sprechender Fisch, den der Autor als allzeitiger Berater der Männersache vorführt. Das

Buch hat drei Ebenen. Erstmals beschreibt Grass in diesem Buch viertausende

Menschengeschichte bis zur Streikbewegung89 im Jahr 1970. Das Buch ist in neun

Kapitel gegliedert, die die Schwangerschaft von der Hauptheldin Ilsebill entsprechen, und das ist die zweite Ebene. In jedem Kapitel erscheint eine Köchin und dadurch ist

87 Ebenda. 88 ZIMMER, Dieter Eduard. Kriechspur des Günter Grass: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Zeit Online [online]. 1972. 89 Die Streikbewegung in Polen war ein Arbeiteraufstand vom 14. bis 22. Dezember 1970 in der Volksrepublik Polen. Dort gab es Streiks, Massenkundgebungen und Demonstrationen in Gdingen, Danzig und Stettin. Ausgelöst wurden die Unruhen durch plötzliche drastische Preiserhöhungen für Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs. 25

die dritte Ebene erreicht. Der erste Satz von Der Butt („Ilsebill salzte nach.“90) wurde im Jahr 2007 zum schönsten ersten Satz91 der deutschsprachigen Literatur gewählt.92

Grass hat zu diesem Buch auch eine gleichnamige Skulptur geschafft, die sich im dänischen Sonderborg befindet.

Im Jahr 1979 brachte Grass die Erzählung Das Treffen in Telgte heraus. Diese

Erzählung ist Hans Werner Richter93 zu dessen 70. Geburtstag gewidmet. Das Buch spielt sich in die Schlussphase des Dreißigjährigen Krieges ab. In Telgte haben sich die bedeutendsten Autoren der Zeit getroffen, zum Beispiel Simon Dach, Hans Jakob

Christoffel von Grimmelshausen, Paul Gerhardt, Friedrich von Logau, Andreas

Gryphius, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau und andere. Sie tragen dort ihre literarischen Streitigkeiten aus.94 Die einzelnen Schriftsteller präsentieren die

Mitglieder der Gruppe 47, zum Beispiel Simon Dach sollte Hans Werner Richter darstellen oder Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen entspricht Günter Grass selbst.

Im Jahr 1980 ist Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus erschienen. Es geht um eine Mischung von literarischem Essay, Roman und Drehbuch. Nach einer

Reise durch Asien wollte Grass seine Erlebnisse verfilmt, dazu aber niemals kam. In diesem Buch sind seine realen Erlebnisse aus der Asienreise mit fiktionalen

Fragmenten vermischt. Ein norddeutsche mitdreißig-jährige Lehrerehepaar Harm und

90 GRASS, Günter. Der Butt: Roman. Göttingen: Steidl, 1993, S. 9. 91 Der schönste erste Satz war ein im Jahr 2007 veranstalteter Wettbewerb der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Gesucht wurde der schönste erste Satz in der deutschsprachigen Literatur. 92 WIENß, Juliane. Der schönste erste Satz ist von Günter Grass. WeltN24 [online]. Berlin, 2007. 93 Hans Werner Richter war ein deutscher Schriftsteller und der Koordinator der Gruppe 47, der die Treffen der Gruppe ins Leben rief und leitete. 94 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 84. 26

Dörte Peters reisen durch Indien, China und Indonesien. Sie können sich nicht entscheiden, ob ein Kind zu haben oder nicht. Sie beiden wünschen ein Kind, aber wegen der politischen Realität am Ende der siebziger Jahre entschließen sie sich für kein Kind zu haben. In seinen Köpfen ist das Kind geboren, aber nicht in der Realität, deswegen der Titel des Buches. Neben dieser Erzählung spricht Grass in diesem Buch auch von verschiedenen Gedanken, die zur Zukunft Deutschlands sich beziehen. Er stellt sich vor, wie wurde es aussehen, wenn es plötzlich eine Milliarde Deutsche gäbe oder wenn es schon keine deutschen Einwohner nicht mehr gäbe. Er schreibt von dem demographischen Wandel, von der Angst vor Überfremdung und davon, dass

Deutschen konnten zu einer Minderheit im eigenen Land würden.95

In dem Jahr 1986 erschien der Roman Die Rättin. Es ist ein apokalyptischer

Roman. In diesem Roman zerstört die Menschheit ihre Lebensgrundlagen durch einen

Atomkrieg und die Erdkugel wird zu einer Wüste. Dort bildet sich ein Rattenstaat.

Nach Genmutationen nehmen die Ratten der posthumanen Periode erste menschliche

Merkmale ein. In den Träumen des Erzählers, der scheint, in einem Raumschiff zu sein, das die verwüstete Erde umkreist, zwingt eine sprechende Rättin den Erzähler auf, die Zerstörung der Menschheit zu überprüfen und ihrer dominierenden Position durch Ratten zu folgen. Die Ratten bauen in einer durch Abholzung,

Umweltverschmutzung und Atomkrieg zerstörten Welt eine neue, solidarische

Zivilisation. Der Erzähler durchlebt den Untergang der Menschheit noch einmal. In einem abschließenden Gespräch zwischen der Rättin und dem Erzähler ist das

Vorhergehende wieder in Frage gestellt. Die beiden können nicht zustimmen, ob die

95 GRASS, Günter. Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Göttingen: Steidl, 1993. 27

Rättin nur ein Traum des Erzählers ist, oder ob dieser auch zusammen mit dem Rest der Menschheit nur eine Vorstellung der Phantasie auf der Erde verbliebenen Ratten ist. Der Roman Die Rättin wurde in dem Jahr 1997 verfilmt.96

Im Jahr 1992 ist die Erzählung Unkenrufe erschienen. Grass bemüht sich in diesem Buch um die Versöhnung der Deutschen mit sich und den östlichen Nachbarn.

Ein in Danzig geborene und in Deutschland lebende Professor und eine polnische in

Vilnius geborene Restauratorin sich verlieben. Beide sind Vertriebene und beider

Eltern wünschten einst in ihrer Heimaterde zu ruhen. Sie kommen auf die Idee eine

Polnisch-Litauisch-Deutsche Friedhofsgesellschaft zu gründen. Die Gesellschaft wächst schnell. Der Erfolg bringt die Gesellschafter auf weitere Geschäftsideen. Sie möchten Altenheime und Golfhotels für die Trauergäste bauen. Dann verlassen sie das

Unternehmen, heiraten sie und fahren in die Flitterwochen nach Italien. Dort haben sie einen Unfall mit tödlichem Ausgang und werden auf einem Friedhof in Italien begraben.97

In 1995 erschien der Roman Ein weites Feld. Der Roman spielt sich in Berlin zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, aber die deutsche Geschichte von der

Revolution 1848 bis zur deutschen Wiedervereinigung im Buch gesprochen werden.

Der Titel weist auf den Schlusssatz des Romans Effi Briest von Theodor Fontane hin.

Der letzte Satz des Romans ist: „Ach Luise, laß … das ist ein zu weites Feld.“98 Der

Hauptprotagonist heißt Theo Wuttke, er identifiziert sich mit Theodor Fontane und

96 WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: Die Rättin. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016. 97 Unkenrufe: Eine Erzählung von Günter Grass. Deutscher Taschenbuch Verlag [online]. München. 98 FONTANE, Theodor. Effi Briest von Theodor Fontane: Text im Projekt Gutenberg. Spiegel Online [online]. Hamburg. 28

sein Deckname ist Fonty. Der zweite Protagonist ist Spitzel Hoftaller und identifiziert sich mit der Figur aus dem Roman Tallhover von Hans Joachim Schädlich. Die beiden zitieren auf Schritt und Tritt und setzen die Ereignisse des 20. Jahrhunderts in

Beziehung zu den Geschehnissen im 19. Jahrhundert. Der Roman ist ein Versuch, die deutsche Wiedervereinigung auf literarische Weise zu verarbeiten. „Wir lebten in einer kommoden Diktatur.“ Dieser Satz aus dem Roman wurde zum geflügelten Wort.

Grass hat dazu gesagt: „Wenn man sich mit mir über diesen Satz auseinandersetzen will, wenn ich die DDR-Verhältnisse in Vergleich bringe zu den Verhältnissen, wie sie in der Sowjetunion die längste Zeit herrschten, oder in Rumänien bis zum Schluss herrschten, oder in Chile herrschten, oder im Obristen-Griechenland, dann ist die

DDR eine relativ kommode Diktatur gewesen.“99 In Sommer 1995 wurde der Roman von Marcel Reich-Ranicki in einer Spiegel-Titelstory verrissen. Reich-Ranicki erklärte, dass Grass als große Schriftsteller gescheitert ist.100 Der Verriss begründete eine lange Feindschaft zwischen Grass und Reich-Ranicki.

Mein Jahrhundert ist ein Erzählband aus dem Jahr 1999. Jedes Kapitel in dem

Buch ist nur ein paar Seiten lang. Zu jedem Jahr von 1900 bis 1999 dachte Grass sich eine ernste, tragische oder komische Begebenheit aus. Die Geschichte jedes Jahres wird unterschiedlich erzählt, ausgedrückt durch Veränderungen in Zeit, Ort, Erzähler und literarischem Stil. Ein hundert Ereignisse spiegeln das 20. Jahrhundert: Kriege,

Katastrophen und Verbrechen, kulturelle Leistungen, wissenschaftliche

99 FAMLER, Walter a Günter KAINDLSTORFER. Wir alle sind Kinder der Aufklärung: Günter Grass über Botho Strauß, das Böse am Kapitalismus und seine „Vernunftbeziehung“ zur SPD. Wespennest[online]. Wien, 1996(102). 100 REICH-RANICKI, Marcel. . . . und es muß gesagt werden. Der Spiegel: „Mein lieber Günter Grass ...“ [online]. Hamburg, 1995(34). 29

Entdeckungen, technische Erfindungen, Expo, Ölkrise, Mode oder Sport. Grass hat zu diesem Buch hundert passende Aquarelle gemalt.101

Das Buch Beim Häuten der Zwiebel ist ein autobiographisches Werk aus dem

Jahr 2006. Bevor dieses Buch herausgegeben ist, gab Grass in Frankfurter Allgemeine

Zeitung zu, dass er ein Mitglied der Waffen-SS während des Zweiten Weltkrieges war.102 Es war ein Schock für die Öffentlichkeit. Der, er immer moralisierte, war selbst schuldig. Damit gelang es Grass jedenfalls, besondere Aufmerksamkeit auf sein neues

Buch zu lenken. In dem Buch beschreibt er die Zeit von dem Ende seiner Kindheit in

Danzig bis zu dem Jahr 1959, in dem sein Buch Die Blechtrommel erschienen ist. Er erinnert an die Kindheit und Jugend und an seine Mutter, die an Krebs gestorben ist.

Er beschreibt die Zeit in der Wehrmacht und später seine Kriegsgefangenschaft. Er spricht auch von seiner Familie, von Freunden, Lehrern oder Weggefährten.103

101 WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: Mein Jahrhundert. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016. 102 GRASS, Günter. „Ich war Mitglied der Waffen-SS“. Frankfurter Allgemeine Zeitung [online]. 2006. 103 GRASS, Günter. Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen: Steidl, 2006. 30

2.3 Im Krebsgang

Die Novelle Im Krebsgang erschien im Jahr 2002. Grass verwendet in dieser

Novelle einen auf die Wirklichkeit bezogenen Bericht über den Untergang des Schiffes

„Wilhelm Gustloff“ und die damit verbundenen historischen Personen als

Rahmenhandlung für eine fiktive Erzählung der Familie Pokriefke. In dieser Novelle erfährt die Danziger Trilogie eine Fortführung in der Gegenwart, indem einige aus der

Danziger Trilogie bekannte Figuren dort auftreten und einige Ereignisse erwähnt werden, zum Beispiel Ursula (Tulla) Pokriefke taucht dieses Mal als Mutter und Oma auf.

Erst jetzt hat Grass verstanden, dass es „Aufgabe seiner Generation gewesen wäre, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen

Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in

Eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der

Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer

31

Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen…Flucht…Der weiße Tod…“104

2.3.1 Inhalt

Die ganze Novelle dreht sich um das Schiff „Wilhelm Gustloff“, seine

Versenkung und die Geschichte der Familie Pokriefke. „Wilhelm Gustloff“ war ein

KdF-Schiff, es hat der deutschen Bevölkerung erschwingliche

Freizeitunternehmungen geboten.

Der Erzähler der Novelle heißt Paul Pokriefke und seine Großeltern, August und

Erna Pokriefke, durften einmal mit der „Wilhelm Gustloff“ von Hamburg nach

Norwegen reisen. Sie haben die Plätze von dem Tischlermeister Liebenau wegen eines gut gehenden Geschäfts bekommen. Der Tischlermeister und seine Ehefrau waren von der Kreisleitung im Danziger Vorort Langfuhr zu der Schifffahrt eingeladen worden, weil Hitlers Schäferhund Prinz von ihrem Harras abstammte.

In der Nacht auf den 25. August 1939 erhielt der Kapitän des Schiffes

Anweisung, die Ferienfahrt sofort abzubrechen und ins Deutsche Reich zurückzukehren. Am Anfang des Krieges wurde das der Kriegsmarine übergebene

Schiff zu einem Lazarettschiff mit 500 Betten umgebaut und vom 20. November 1939 diente es als schwimmende Kaserne im Hafen der Stadt Gotenhafen.

Im Januar 1945 flohen Hunderttausende Leute aus Ostpreußen wegen der Angst vor den Russen. Diejenigen, die Pillau, Danzig oder Gotenhafen erreichten, wollten an

Bord von Schiffen nach Westen zu flüchten. Auch auf der „Wilhelm Gustloff“ in

104 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 99. 32

Gotenhafen-Oxhöft quetschen sich ab 28. Januar 1945 von Flüchtlingen zusammen mit etwa 1000 Matrosen und 370 Marinehelferinnen. Es wurden um 6600 Passagiere, darunter 5000 Flüchtlinge registriert, dann gab es kein Papier mehr, also ist es möglich, dass beim Auslaufen am 30. Januar mehr als 10 000 Menschen an Bord waren.

Ziemlich eine Hälfte von den Leuten waren Kinder und Jugendliche.

Auch Erna und August Pokriefke gehörten mit ihrer knapp achtzehnjährigen hochschwangeren Tochter Ursula („Tulla“) zu den Flüchtlingen an Bord. Aber die

„Wilhelm Gustloff“ wurde von dem sowjetischen U-Boot S 13 torpediert. Ohne zu ahnen, dass Tausende von Flüchtlingen auf dem Schiff waren, hat Alexander

Marinesko, der 32-jährige Kommandant des U-Boots, das Schiff für einen deutschen

Truppentransporter gehalten. Deshalb hat er einen Angriff aus 600 Meter Entfernung befohlen. Es gab „[…] vier zum Abschuss bereiten Torpedos. Der erste war „Für das

Mutterland“ bestimmt, der Torpedo in Rohr zwei hieß „Für Stalin“, in den Rohren drei und vier sprachen sich die gepinselten Widmungen auf aalglatter Oberfläche

„Für das sowjetische Volk“ und „Für Leningrad“ aus.“105 Drei Torpedos haben die

„Wilhelm Gustloff“ getroffen.

Die Menschen, die ins Wasser gefallen oder gesprungen sind, hatten fast keine

Chance zu überleben, weil es minus 18 Grad war und die Wassertemperatur war um den Gefrierpunkt. „Ein […] Boot kippte, weil zu hastig gefiert und nur noch an der

Vorderleine hängend, alle Bootsinsassen in die bewegte See und stürzte dann, als die

Leine riß, auf jene, die im Wasser trieben.“106

105 Ebenda, S. 130. 106 Ebenda, S. 137. 33

Erna und August Pokriefke hatten kein Glück und sind bei dem Untergang des

Schiffes gestorben. Tulla Pokriefke ist dem Tod entkommen und gehörte zu den 1252

Überlebenden der Katastrophe. Später erzählte sie, wie sie an Bord des Torpedoboots

Löwe mit ihrem Sohn gekommen ist, und genau in dem Augenblick, als die „Wilhelm

Gustloff“ versunken ist. Der Schrei des Neugeborenen mischte sich mit dem Schrei der Ertrinkenden.

Das Torpedoboot Löwe legte am frühen Morgen des 31. Januar 1945 im Hafen von Kolberg an und Tulla Pokriefke ging mit dem Neugeborenen an Land. Mitte März ist sie mit dem Säugling und einem Rucksack nach Westen gezogen und blieb in

Schwerin, wo sie nach dem Krieg Tischlermeisterin wurde und sich als Aktivistin berühmt wurde.

Wer Pauls Vater war, wusste Tulla möglicherweise selbst nicht. Kurz vor dem

Mauerbau schickte sie ihren Sohn nach Westberlin, wo er in einer Kammer bei ihrer

Freundin Jenny Brunies wohnte. Nach dem Abitur studierte er Germanistik, brach aber das Studium 1967 ab. Er wurde zum Journalist, er hat zu Beginn seiner Karriere „[…] bei einer Springer-Zeitung volontiert, bald gekonnt die Kurve gekriegt, später für die

,taz‘ Zeilen gegen Springer geschunden, mich dann als Söldner von

Nachrichtenagenturen kurz gefaßt […]“.107

In dem Jahr 1980 heiratete Paul Gabriele („Gabi“), eine Gymnasiallehrerin. Sie hatte heimlich die Pille abgesetzt und dadurch eine Schwangerschaft hat sie die

Eheschließung erzwungen. Nach sieben Jahren ist sie mit ihrem Sohn Konrad

(„Konny“) nach Mölln umgezogen und hat sich scheiden gelassen.

107 Ebenda, S. 7. 34

Vom 28. bis 30. Januar 1995 stattfindet im Ostseebad Damp die Gedenkfeier zu der Gelegenheit des 50. Jahrestages des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“. Tulla hat darauf bestanden, dass ihr Sohn Paul und ihr 15-jähriger Enkel Konrad sie zu der Feier begleiteten. Starrsinnig wiederholte sie immer wieder, man dürfe die

Flüchtlingskatastrophe aus dem Jahr 1945 nicht vergessen. "Ech leb nur noch dafier, daß main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen." 108

Paul Pokriefke ist von „dem Alten“109 beauftragt, über die Katastrophe zu schreiben. Mit Widerwillen beginnt er im Internet zu recherchieren. Er stößt auf die

Webseite www..de, die angeblich von einer „Kameradschaft Schwerin“ betrieben ist. Dort befindet sich ein Chatroom, wo debattieren zwei Männer. Einer hat den Decknamen „Wilhelm“ und vertritt rechtsradikale Ansichten. Der zweite nennt sich „David“ und tritt als Jude auf. Paul verfolgt, wie hier eine Auseinandersetzung mit einem ideologisch anders ausgerichteten „David“ stattfindet. Er entdeckt sofort, dass die „Kameradschaft Schwerin“ gar nicht existiert und www.blutzeuge.de die

Webseite eines Einzelnen ist. In Wirklichkeit handelt es sich um „Wilhelm“. Und

„Wilhelm“ sein Sohn Konrad ist.

Konrad Pokriefke alias Wilhelm trifft sich am 20. April 1997 in Schwerin mit

„David“. In Wirklichkeit heißt „David“ Wolfgang Stremplin. Konrad zeigt seinem angeblichen jüdischen Gegner die Stadt. Er führt ihn auch zu dem zerstörten Denkmal für Wilhelm Gustloff. Als „David“ darauf spuckt, zieht „Wilhelm“ einen Revolver aus der Tasche und feuert vier Schüsse auf „David“. Dann geht er zu der nächstliegenden

108 Ebenda, S. 19. 109 „Der Alte“ wird als weitere Figur zwischen Grass und dem Erzähler Paul platziert, er weiß mehr als der Erzähler und setzt diesen in einem hierarchischen Verhältnis unter Druck. 35

Polizeiwache und lässt sich in Haft nehmen. Dort sagt er: „Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin.“110

Dieser Mord ist der Kontrapunkt zu dem Tag, an dem David Frankfurt Wilhelm

Gustloff erschossen hat. Paul hat eine bange Frage: „Hört das nicht auf? Fängt diese

Geschichte immer auf neue an?“111

Konrad muss vor Gericht kommen. Dort stellt er fest, dass Stremplin gar nicht ein Jude war. Sein Vater stammt aus einem württembergischen Pfarrhaus und seine

Mutter kommt aus einer badischer Bauernfamilie. Konrad wird wegen der Ermordung zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt. Während eines Besuches seines Vaters zerstört er ein von ihm selbst gebautes Modell der „Wilhelm Gustloff“. „ ,Zufrieden jetzt, Vati?‘ Danach kein Wort mehr.“112 Paul versucht ein neues Verhältnis zu seinem

Sohn aufzubauen, aber dieser Versuch bleibt offen.

Wenige Tage später wird Paul von jemandem („dem Alten“) aufgefordert, im

Internet nach einem passenden Schlusswort zu suchen. Zu seinem Erschrecken stößt er an eine Webseite. „[…] stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine

Website vor, die als ,www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de‘ für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. ,Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir ...‘

Undsoweiter undsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“113 Und das ist die

Antwort zu den früher gestellte Frage Pauls. Durch die Novelle kann man sehen, dass die Vergangenheit noch lebendig ist und Grass will darauf aufmerksam machen.

110 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 175. 111 Ebenda, S. 208. 112 Ebenda, S. 216. 113 Ebenda. 36

2.3.2 Aufbau der Novelle

Grass hat drei Geschehnisse verbunden, die weit auseinander stehen und auf den ersten Blick nur wenig Gemeinsames haben, und setzt sie in eine Beziehung. „[…] am

30. Januar 1945 begann, auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der Geburt des

Blutzeugen, das auf ihn getaufte Schiff zu sinken und zwölf Jahre nach der

Machtergreifung, abermals auf den Tag genau, ein Zeichen des allgemeinen

Untergangs zu setzen.“114

In der Novelle verknüpft Grass das Schicksal von drei realen Personen mit dem

Schicksal einer fiktiven Familie. Es handelt sich um den Nationalsozialisten Wilhelm

Gustloff, seinen jüdischen Mörder David Frankfurter und den sowjetischen U-Boot-

Kommandanten Alexander Marinesko, der die „Wilhelm Gustloff“ torpedierte. Fiktiv sind Ursula („Tulla“) Pokriefke, ihr Sohn Paul und dessen Sohn Konrad.

Wilhelm Gustloff Tulla -Deutschland -Großmutter

David Frankfurter Paul -jüdisch -Vater

Alexander Marinesko Konrad

-Sowjetunion -Sohn

3 Nationen 3 3 Generationen 3

↓ reale Personen das Schiff ↓ fiktive Personen

114 SOLBACK, Karin. Günter Grass - Im Krebsgang: Das deutsche Volk als Opfer und Täter. Falun, 2013, S. 11. 37

verbindet reale und fiktive Personen

Drei Ebene kann man in der Novelle erkannt. Die erste Ebene ist die nacherzählende Handlung durch den Bericht des Erzählers. Die zweite Ebene ist eine fiktive Ebene, die unter Decknamen im Internet auf der Webseite Konrads sich abspielt. Und die dritte Ebene ist die Einmischung und Vorschriften des „Alten“. Er dient dort als der Auftrag- und Arbeitgeber für den Text von außen an die Adresse des

Erzählers Paul.115

Äußerlich ist die Novelle in neun Kapitel gegliedert und hat 216 Seiten. Diese

Länge entspricht einem Roman, doch geht es um eine Novelle, wie in den Namen des

Buches steht. Der Umfang ist nämlich ein nebensächliches Kriterium, wenn man ein literarischer Text zu einer Textsorte zuordnet.116 Es gibt keine eindeutige und klare

Definition der Novelle. „Die Erklärungen ,Erzählung in Prosa‘ und ,gedrängte

Erzählung einer neuen Begebenheit‘ sind allzu weit. […] Von der jüngeren

Kurzgeschichte unterscheidet sich die Novelle unter anderem, durch ihre geschlossene

Form, von Legende, Fabel und Märchen durch ihren Realitätsbezug, von Anekdote,

Schwank und Kalendergeschichte durch bewusst kunstvollen Aufbau und gehaltliches

Gewicht, vom Roman durch die Konzentration auf Ereignis und Einzelkonflikt.“117

Der Erzähler behauptet, sein „Bericht habe das Zeug zu einer Novelle. Eine historische Einschätzung, die mich nicht kümmern kann. Ich berichte nur.“118Der

115 FRICKE, Hannes. Günter Grass: Im Krebsgang: Der Zwang, Zeugnis abzulegen, und die virtuelle Realität. In: Romane des 20. Jahrhunderts: Band 3. Stuttgart: Reclam, 2003, s. 351. 116 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 35. 117 Ebenda, S. 53. 118 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 123. 38

Fakt, dass er nur berichtet, ist offenbar auch aus dem folgenden Zitat: „Ich kann nur berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist.“119

Johannes Klein vergleicht ein Roman mit einer Novelle: „Der Roman etwa gehe von dem aus, was der Mensch ist, die Novelle aber von dem, was dem Menschen geschieht, und lasse entsprechend die Fragen offen, die der Roman stellt.“ Und

Goethe hat die Novelle als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit definiert. 120

Grass spielt sich mit Goethes Definition der unerhörten Begebenheit, die bis heute als das wichtigste Schlagwort zur Charakterisierung einer Novelle erhalten geblieben ist.

Der Untergang ist nicht unerhört im Sinne von neu und überraschend, sondern unerhört, weil er gesamtgesellschaftlich nicht Teil der deutschen Erinnerungskultur geworden ist. Diese eigenwillige Umdefinierung der unerhörten Begebenheit kann den

Leser zum Schluss bringen, dass der Untergang der Gustloff zwar nicht im traditionellen Sinne als unerhörte Begebenheit, aber im modernen und von Grass gedachtem Sinne sehr wohl als unerhörte Begebenheit angesehen werden kann.

Das Buch ist wie fast alle seine Werke politisch, die eigene Meinungen und

Vorstellungen sind zwischen den Zeilen immer wieder herauszulesen.

2.3.1 Titel

Bevor Grass sich für den endgültigen Titel Im Krebsgang entschied, plante er die Novelle unter den Namen Schiffe versenken und Nachträglich - ein Bericht

119 Ebenda, S. 137. 120 FRICKE, Hannes. Günter Grass: Im Krebsgang: Der Zwang, Zeugnis abzulegen, und die virtuelle Realität. In: Romane des 20. Jahrhunderts: Band 3. Stuttgart: Reclam, 2003, s. 357-358. 39

auszugeben.121 Auch seine anderen Bücher haben Tiere in den Titeln – zum Beispiel

Katz und Maus (1961), Hundejahre (1963) oder Rättin (1986) –, deshalb hat er wahrscheinlich schließlich für einen Krebs entschieden. Der Titel ist aber vor allem metaphorisch. „Der Titel beschreibt in diesem Fall die Erzählhaltung, die die

Bewegung der Krebse nachahmt: Krebse haben ja eine merkwürdige Gangart: Sie scheren seitlich aus, tauschen fast einen Rückwärtsgang vor und kommen dennoch voran.“122 Und genauso ist die Novelle geschrieben. Grass schreibt nicht chronologisch. Einmal erzählt Grass von der Gegenwart, dann geht er zurück zu der

Vergangenheit und dann geht er mit der Erzählung 20 Jahre vor. Der Erzähler bewegt sich zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten „[…] nach Art der

Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“123

Der Krebsgang kann auch einen abstrakteren Rückblick auf die Geschichte bedeuten, um es einem Volk zu ermöglichen, vorwärts zu kommen. Die unangenehmen Beziehungen des Protagonisten Paul zu seiner Mutter Tulla und seinem entfremdeten Sohn Konrad sind durch den krabbelnden Prozess des Scheuerns der Trümmer der Geschichte für therapeutische Einsicht erforscht und dieser Prozess verleiht dem Titel die Angemessenheit.

2.3.2 Tabubrecher

121 SOLBACK, Karin. Günter Grass - Im Krebsgang: Das deutsche Volk als Opfer und Täter. Falun, 2013, S. 11. 122 MAYER-ISWANDY, Claudia. Günther Grass. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, S. 224. 123 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 8. 40

Die Anzahl der deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges war nicht gering, aber die Geschehnisse und die Folgen des Krieges aus der deutschen Perspektive betrachtete noch lange keiner. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Jahr 1945 fanden die

Flüchtlingsproblematik und das Thema der Vertreibung wieder Eingang in die

öffentliche Diskussion.124 Das Thema Flucht und Vertreibung als Gegenstand der

Grass‘ Novelle hat im Jahr 2002 große Aufmerksamkeit erregt und hat kontroverse

Diskussionen ausgelöst. Er galt nach der Veröffentlichung des Buches als ein

Tabubrecher.125

Am und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (laut dem Beschluss der

Potsdamer Konferenz) mussten ungefähr 14 Millionen Deutsche Polen, die

Tschechoslowakei, Ungarn und andere Ländern verlassen.126 Die Angst vor den

Racheakten der Roten Armee war zu groß. Trotz des ausdrücklichen Verbots

Ostpreußen zu verlassen, flüchteten zahlreiche Menschen aus diesem Gebiet. Die Rote

Armee zurückschreckte nicht auch vor Vergewaltigung zahlreicher Frauen und

Ermordung der deutschen Bevölkerung.127 Die Flucht war in Januar 1945 nur noch mit

Schiffen über die Ostsee möglich. Die Großoffensive der Roten Armee überraschte die

Menschen. Die Zeit des Abschiedes war gekommen und dieses Mal war keine

Rückkehr mehr möglich.128

124 DEBRÓCZKI, Edit. Täter und/oder Opfer?: Geschichte und Gedächtnis in Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang. Debrecen, 2011, S. 4. 125 Ein Unrecht verdrängte das andere: Im Krebsgang: Arbeitsmaterial für einen Besuch im Günter Grass-Haus. Akademie der Künste [online]. 126 BERNHARDT, Rüdiger: Erläuterungen zu Günter Grass Im Krebsgang. Hollfeld: Bange, 2006, S. 19. 127 KIRSCH, Lisa. Günter Grass - Im Krebsgang: Wie wird der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ in dieser Novelle literarisch verarbeitet. Münster, 2010, S. 5. 128 KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002, S. 16. 41

Das Schicksal der Flüchtlinge war sehr schwer. Durch ganz Ostpreußen reihten sich die Flüchtlingswagen aneinander – immer Richtung Westen. Aber Temperaturen von 25 Grad unter null, hoher Schnee und starkes Schneetreiben behinderten die

Flucht. Viele Menschen, vor allem Kleinkinder und alte Menschen, waren durchgefroren und verzweifelt und die Kälte zusammen mit der Mangelernährung und

Magen-Darm-Krankheiten forderten bald erste Opfer. Der Anblick von Leichen wurde für die Flüchtlinge bald zur grausamen Gewohnheit.129

„Direkt zu Anfang merkt der Erzähler, dass nicht die Fakten Probleme bereiten, sondern deren Einschätzung, Bewertung und ideologische Ausschlachtung.“130 In

Seinen Büchern stellt Grass die Zuverlässigkeit von persönlicher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis in Frage. Er sieht das Übel nicht nur in Hitler. „Hitler als

Dämon und das deutsche Volk verführt – diese These ist falsch, abgrundtief verlogen und falsch, und wirkt doch bis heute nach in Formulierungen wie, es seien im Namen der Deutschen Verbrechen begangen worden. Mir kam es darauf an zu zeigen, dass alles am helllichten Tag geschehen ist.“131 Der Autor beschreibt die Nazi-Zeit und die von der deutschen Bevölkerung erlebten Katastrophen am Ende des Zweiten

Weltkrieges. Er beschreibt die Folgen und macht dem Leser klar, dass die Deutschen diese Themen verschwiegen haben. Im Zusammenbruch des Dritten Reiches wurden die Informationen im Dunkel verborgen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen im Westen einseitig als

Täter und Verbrecher bezeichnet und im Osten wurde die Kriegsgeschichte nur mit

129 Ebenda, S. 17-23. 130 PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 56. 131 VORMWEG, Heinrich. Günter Grass: mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1986, S. 45. 42

Verbot und Schweigen behandelt. Im Osten konnte nicht das deutsche Volk mit seiner

Geschichte umgehen und darüber diskutieren, deshalb Kinder und Enkel der

Kriegsgeneration unwissend und fragend blieben.132 „Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht. Die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen.“133 Die bisher tabuisierten Themen von Flucht und Vertreibung sowie Täter als Opfer wurden dank Grass‘ Novelle endlich erörtert.

2.3.3 Ursula („Tulla“) Pokriefke

Tulla ist bereits in Günter Grass‘ Novelle Katz und Maus und in seinem

Roman Die Rättin erwähnt. Ihr Auftreten in vorangehendem Werk schließt sich an. So werden Ereignisse aus beiden Werken, wie zum Beispiel der Tod des taubstummen kleinen Bruders Konrad hier hineingezogen und die Figuren wie Jenny Brunnies,

Eddie Amsel, Harry Liebenau oder Walter Matern aus der Danziger Trilogie werden erwähnt. Jenny Brunnies ist die Ziehmutter des Erzählers Paul, Harry Liebenau und

Walter Matern werden als seine möglichen Väter gehandelt.

Die Mutter des Erzählers Paul Pokriefke wurde im Jahre 1927 in Danzig als

Tochter von August und Erna Pokriefke geboren. Sie hat den Untergang der „Wilhelm

Gustloff“ überlebt und kurz nach der Rettung hat sie ihren Sohn Paul geboren. Sie ist die einzige Augenzeugin des Untergangs in der Novelle.

132 SOLBACK, Karin. Günter Grass - Im Krebsgang: Das deutsche Volk als Opfer und Täter. Falun, 2013, S. 2. 133 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 31. 43

Sie wurde zum „Ostflüchtling“134 genannt. Dieses Zitat zeigt, dass viele

Deutsche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Flüchtlinge betrachtet werden.

Mit 21 Jahren beendete sie erfolgreich ihre Tischlerlehre und nachfolgend leitete sie als SED135-Mitglied die Tischlereibrigade. Zu seinem Sohn hat sie ein sehr angespanntes Verhältnis. Sie möchte ihm überzeugen, ein Buch über die Geschehnisse des Unglücks zu schreiben, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Sie ist aber nicht erfolgreich. Ursula versucht diese Aufgabe an ihren Enkel Konrad heranzutragen.

Die inzwischen siebzigjährige Mutter des Erzählers Paul, die den Untergang der

„Wilhelm Gustloff“ und die Nazi-Regime überlebte und sich in der DDR als Aktivistin hervortat, kommt immer wieder auf die Katastrophe zu sprechen. Sie ist aber keine zuverlässige Zeitzeugin, denn in ihrer Naivität lässt sie sich für unterschiedliche

Ideologien einspannen. Während sie aus eigener Erfahrung vom Leid der Flüchtlinge erzählt, ohne es im größeren Zusammenhang zu sehen, sammelt ihr Sohn obsessiv

Details über die Versenkung der „Wilhelm Gustloff“, ohne sie vernünftig einordnen zu können.

Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ ist für Tulla ein großes Trauma. Von

Schock wird ihr Haar nach der Geburt für immer weiß. Tulla möchte darüber erzählen, kann es aber nur teilweise. Wenn sie sich an den Untergang erinnert, bekommt sie manchmal ein „Binnichtzuhauseblick“.136 „Kann man nich vergässen, sowas. Das heert nie auf. Da träum ech nich nur von, wie, als Schluß war, ain ainziger Schrei

134 Ebenda, S. 12. 135 Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) war eine in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der Viersektorenstadt Berlin aus der Zwangsvereinigung von SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) zur SED 1946 hervorgegangene politische Partei. 136 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 57. 44

oeberm Wasser losjing. Ond all die Kinderchen zwischen die Eisschollen…“137 Tulla hat sich mit der Katastrophe noch nicht bewältigen.

Das Motiv der ertrunkenen Kinder kommt in der Novelle sehr oft zurück und kann mit der Tatsache, dass Tullas Bruder, als er klein war auch ertrunken ist, verbunden werden. Tulla hat bei dem Schiffsuntergang wieder dieses Ertrinken ihres

Bruders erlebt, jetzt aber in großer Zahl. Sich beschäftigen sich mit dem Tod von so vielen Kinder muss für ihr riesig schwer zu sein.

Nach der Wiedervereinigung 1989-1990, zieht Tulla Konny zu ihr. Sie erzählt ihm von den Opfergeschichten und er wird neugierig. Sie hat „ihn mit

Flüchtlingsgeschichten, Greuelgeschichten, Vergewaltigungsgeschichten vollgepumpt.“138 Sie gibt Konny an seinem 15. Geburtstag einen Computer und er sofort recherchiert über Wilhelm Gustloff. Wegen Tullas einseitiger Opfergeschichten interpretiert er aber alles verzerrt. Er wird von Nazi-Propaganda völlig geblendet, was ihn später schlimm beeinflusst.

2.3.1 Paul Pokriefke

Paul wurde im Augenblick des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ am 30.

Januar 1945 geboren. Paul kein hohes Selbstbild von sich selbst hat und dieses Datum sieht er als Zeichen seines Lebens und des fortlebenden Unglücks. Das Datum ist

Symbol den Aufbau und zu gleicher Zeit Symbol den Untergang des Dritten Reiches.

137 Ebenda. 138 Ebenda, S. 100. 45

Paul erträumt sich ein anderes Leben und stellt eine alternative Biographie auf.

(Diese Biographie ist eigentlich eine wirkliche Biographie von Peter Weiße. Peter

Weiße war der letzte Überlebende des Untergangs, er war nach sieben Stunden nach der Versenkung gerettet. Später wurde er zu Matrose und auch Schriftsteller. Er hat von dem Untergang „Wilhelm Gustloff“ auch geschrieben.139)

Paul hat keine eigene Erinnerung an das Sinken der Gustloff. Er führt oft eine bestimmte Ungewissheit ein. Er betont, dass er bestimmte Sachen nicht sicher wissen, sie sich nur einbilden kann. Es kann man in einigen Sätzen sehen: „So wird, so kann es gewesen sein. So ungefähr ist es gewesen.“140 oder „Ich kann nur mutmaßen, was den Kapitän von S13 bewogen hat, [...].“141

Paul ist vaterlos, Harry Liebenau und Walter Matern werden als seine möglichen

Väter gehandelt. „Weiß der Teufel wer Mutter dickgemacht hat.“142Er ist mit seiner

Mutter Tulla in Schwerin aufgewachsen. In 1961 verließ er DDR und wohnte bei ehemaliger Schulfreundin von Tulla in West-Berlin.

Sein Verhältnis mit der Mutter ist in keinem Fall tief oder eng. Schon als ein

Säugling hat er „[…] immer wieder an fremder Brust gelegen.“143 In West-Berlin

„begann [er] Freiheit zu schnuppern.“144

Wenn er herausfindet, dass hinter der rechtsextremen Webseite www.blutzeuge.de sein Sohn versteckt ist, ist er erschreckt. Für Konny ist es aber leider zu spät. „Ist es möglich, daß sich jemand, der halbwegs linksliberal erzogen

139 Siehe Kapitel 3. 140 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 101. 141 Ebenda, S. 128. 142 Ebenda, S. 151. 143 Ebenda, S. 156. 144 Ebenda, S. 18. 46

wurde, so weit nach rechts hin verirren kann?“145 Paul versucht mit seinem Sohn zu sprechen, aber der lächelt nur und sagt: „Seit wann interessiert dich, was ich tue?“146

Nach dieser Feststellung beginnt Paul die Geschichte von „Wilhelm Gustloff“ zu recherchieren. Er versucht ein on-line Kontakt mit Konny zu erstellen, aber es ist zu spät. Paul ist enttäuscht, dass er seinen Sohn nicht retten kann. Konny verübt einen

Mord. Paul hat große Schuldgefühle, weil er die Vaterrolle nicht gut ausgefüllt hat.Er möchte die Schuld auf Tulla abzuwälzen. „Sie, allein sie ist schuldig.“147 Aber er ist auch schuldig, weil er mit seinem Sohn zu wenig sprach und über die deutsche

Nazigeschichte geschwiegen hat.

2.3.2 Der Alte

Am Anfang der Novelle kommt eine Frage, die keine Ergänzung hat. Es ist nicht klar, worum es überhaupt geht. „ ,Warum erst jetzt?‘ sagte jemand, der nicht ich bin.“148 Man weiß nicht, wer angesprochen hat. Später stellt der Leser fest, dass jemand, der auch der Alte genannt wird, stellt diese Frage.

Es gefallen dem Alten keine Ausreden und er beauftragt Paul um die Geschichte endlich schreiben und veröffentlichen. Der Alte ist müde, er sucht eine Hilfskraft oder einen Ghostwriter, der „über den Einfall der sowjetischen Armeen ins Reich, über

145 Ebenda, S. 73. 146 Ebenda, S. 76. 147 Ebenda, S. 193. 148 Ebenda, S. 7. 47

Nemmersdorf149 und die Folgen zu berichten.“150 Der Alte setzt auf den Erzähler: „Als

Person von eher dürftigem Profil, sei ich dennoch prädestiniert: geboren, während das Schiff sank.“151 Der Alte bedauert, dass er die Geschichte des Schiffes nicht selbst erzählt hat, aber zum Glück hat er im Erzähler endlich seinen Stellvertreter gefunden.

Die geheimnisvolle Person des Alten steht zwischen Grass und dem Erzähler

Paul. Der Erzähler bezeichnet ihn als seinen „Arbeitgeber“ oder „Chef“. Er erfordert ausführliche und genaue Beschreibungen, was zu Auseinandersetzungen führt. Er versucht regelmäßig Einfluss zu nehmen, drängt auf Genauigkeit und Ausführlichkeit und führt Arbeitsgespräche durch. Paul beherrscht aber keine Details. Der Alte steht im Hintergrund der Novelle und beobachtet alles. Er ist kompetent und behauptet, dass alles, was „mit der Stadt Danzig und deren Umgebung verknüpft oder locker verbunden sei, seine Sache“152 ist. Er spricht ironisch und distanziert von sich selbst, weil er es nicht geschaffen hat, das Schicksal der Pokriefkes zu erzählen, und für ihn es jetzt zu spät ist, weil er müde ist. „Leider, sagte er, sei ihm dergleichen nicht von der Hand gegangen. Sein Versäumnis, bedauerlich, mehr noch: sein Versagen.“153

149 Als Massaker von Nemmersdorf werden die Ereignisse um den 21. Oktober 1944 im damals deutschen Dorf Nemmersdorf (heute Majakowskoje, Russland) bezeichnet, bei denen nach heutigen Erkenntnissen zwischen 19 und 30 Menschen getötet wurden, nachdem die Rote Armee den ostpreußischen Ort besetzt hatte. Im Kern dieser Ereignisse steht die Erschießung von 13 einheimischen Zivilisten, die sich vor den Kampfhandlungen zwischen der Wehrmacht und den sowjetischen Truppen in einen Bunker geflüchtet hatten. Hinzu kommen sechs weitere Nemmersdorfer und möglicherweise auch einige ortsfremde Personen, die bei der Einnahme Nemmersdorfs ums Leben kamen. Die Hintergründe für den Tod der dortigen Zivilisten sind bis heute nicht restlos geklärt. FISCH, Bernhard. Nemmersdorf, Oktober 1944: was in Ostpreußen tatsächlich geschah. Berlin: Edition Ost, 1997. 150 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 99. 151 Ebenda, S. 78. 152 Ebenda, S. 77. 153 Ebenda. 48

Wenn Paul von dem Alten erzählt, geht es meist um die Themen Schuld,

Versäumnis, Tabuisierung und die Verantwortung einer ganzen Generation. „Nach

Erscheinen des Wälzers Hundejahre sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden,“ aber die gefräßige Gegenwart hat die Ausführung verhindert. „Doch wolle er sich nicht rausreden, nur zugeben, dass er gegen Mitte der sechziger Jahre die Vergangenheit sattgehabt, ihn die gefräßige, immerfort jetztjetztjetzt sagende Gegenwart gehindert habe, rechtzeitig auf etwa zweihundert Blatt Papier…Nun sei es zu spät für ihn.“154

Der Alte ist eine andere Person von einer höheren Instanz mit weiterem Horizont und größerer Kompetenz. Er ist der Ansicht, dass das allgemeine Schweigen eine

Erklärung hat, dass in der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart hinein „die eigene

Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei.“ Der Alte ist aber auch der Meinung, dass es an der Zeit ist, über Flucht und

Vertreibung nicht mehr zu „schweigen, [sondern] das gemiedene Thema“155 aufzunehmen. Man muss jetzt die unerhörte Begebenheit des Untergangs von der

Gustloff hören und vor allem auch erörtern.

Am Anfang des neunten Kapitels macht der Alte eine einzige und direkte

Stellungnahme. Der Alte zeigt hier „grassische“ Züge, weil man in diesem

Textabschnitt die Meinung von Grass finden kann: „Die Oberfläche sagt nicht alles, aber genug. Keine Gedanken also, auch keine nachträglich ausgedachten. So, sparsam mit Worten, kommen wir schneller zum Schluss.“156

154 Ebenda. 155 Ebenda, S. 99. 156 Ebenda, S. 199-200. 49

Der Autor der Novelle hat Ähnlichkeiten mit dem Alten. Sie sind aber nicht identisch. In der Novelle kann man von einem Dozenten einer Berliner Universität lesen, der sich leergeschrieben hat. Diese Person ist der Alte. Er ist

Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Man kann sagen, dass der Alte Grass‘ Alter

Ego157 ist.

2.3.3 Konrad („Konny“) Pokriefke

Konny ist Sohn von Paul und Gabi. Er ist in 1980 in Berlin geboren. Nach sieben

Jahren zieht er mit seiner Mutter nach Mölln in Westdeutschland um. Er hat ziemlich kein männliches Vorbild, weil er wenig Kontakt mit seinem Vater hat.

Nach der Wiedervereinigung zieht er zu seiner Großmutter Tulla um. Sie beeinflusst ihm mit ihrer Geschichte und er beginnt über die Nazi-Geschichte zu recherchieren. „[…] meine liebe Großmutter [ist], der ich im Namen der

Kameradschaft Schwerin bei ihrem weißen Haar geschworen habe, die Wahrheit zu bezeugen: Es ist das Weltjudentum, das uns Deutsche für alle Zeit und Ewigkeit an den Pranger ketten will…“158 Es ist klar, dass Tulla ihm beeinflusst hat. Dort zeigen sich auch seine rechtsextremen Interpretationen seiner Recherchen. Er nimmt Kontakt mit den Rechtradikalen auf in Möln, und später auch bei Tulla in Schwerin. Seine

157 Alter Ego ist lateinisch und bedeutet „anderes ich“. Ein Autor schafft ein Alter Ego, um sich selbst darzustellen. Das Alter Ego fungiert meist als fiktive und eigenständig handelnde Personen, die aber eng mit der eigentlichen Person verbunden ist. 158 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 73-74. 50

Interpretationen sind ganz falsch. „In Ruhe und Ordnung nahm das Schiff die vor der russischen Bestie fliehenden Mädchen und Frauen, Mütter und Kinder auf…“159

Konny hat „der Wunsch nach einem ungetrübten Feindbild.“160Er sieht nicht, dass die Deutschen selber die Feinde oder Täter sind, glaubt an den rassistischen Nazis und gibt den Juden die Schuld.

Er entdeckt die rechtsradikale Ideologie und den „Blutzeuge“ Wilhelm Gustloff, gründet eine Webseite und nennt sie www.blutzeuge.de. Er tritt in seinem Chat unter den Decknamen „Wilhelm“ auf und schreibt sich mit dem 18-jährigen Wolfgang

Stremplin, der den Decknamen „David“ hat. Konny wird immer mehr radikal. „Gelebt für die Bewegung – Gemeuchelt vom Juden – Gestorben für Deutschland.“161 Das ist eine Inschrift des ehemaligen Denkmals des Nazihelden Gustloff in Schwerin.

Konny wird zum Neonazi. Er streit sich über den Mord Wilhelm Gustloffs mit

„David“ und der Chat zeigt ihre verschiedenen Stellungen. „Tschüss, du geklontes

Nazischwein! und Mach’s gut, Itzig162!“163

Konny lädt „David“ nach Schwerin am 20. April 1997 (Adolf Hitlers

Geburtstag). „David“ spuckt dort dreimal auf das Wilhelm Gustloff Denkmal. Gleich danach Schießt Konny „David“, auf derselben Weise wie damals David Frankfurt

Wilhelm Gustloff erschossen hat. Der Kreis ist zu. „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“164

159 Ebenda, 102-103. 160 Ebenda, S. 104. 161 Ebenda, S. 171. 162 Itzig ist ein Schimpfwort für Juden. 163 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 49. 164 Ebenda, S. 216. 51

2.3.4 Elektronische Medien und Grass

Günter Grass stand den elektronischen Medien fern. Er nutzte weder das

Internet, noch besaß er einen Computer. Die Veröffentlichung seiner Werke in digitaler Form lehnte er entschlossen ab. Seine ersten Romanmanuskripte hat er zunächst mit der Hand geschaffen, weitere Fassungen hat er auf einer altmodischen

Reiseschreibmaschine geschrieben. Dennoch spielte das Internet in der Novelle eine tragende Rolle. Grass hat sich den Chat-Slang angeeignet und sich mit Decknamen und virtueller Realität beschäftigt. Der Grundton, vor allem von dem Ich-Erzähler Paul

Pokriefke artikuliert, ist eher skeptisch:165 „Jedenfalls sind sich Gabi und ich darin immerhin einig: als Konny den Computer geschenkt bekam, begann all das

Unglück.“166

Auf der Internet-Seite www.blutzeuge.de in Chatroom wird die Unklarheit der

Bezüge ziemlich extrem. Konrad alias „Wilhelm“ und Wolfgang alias „David“ bewegen sich im Cyberspace mit ihren Scheinidentitäten. Im Internet gibt es die

Möglichkeit „weg von Einheit, Herkunftsgeschichte, Stabilität und so weiter“ sich einzelne Identitäten zusammenzustellen und diese dann auszuprobieren. Die totale

Kontrolle über die Aufmachung der Seite geht Hand in Hand mit der totalen Kontrolle des Selbst. In der Sicherheit des Cyberspace ist es möglich der andere zu werden. Dort befindet sich die Spannung zwischen der Möglichkeit mit dem körperlosen Identitäts-

Spiel auf der eine Seite und der symbolischen Gewalt, die die Form der Verwendung dem anderen antut. Damit entstehen aber keine neuen Formen der Identität, es geht

165 Ein Unrecht verdrängte das andere: Im Krebsgang: Arbeitsmaterial für einen Besuch im Günter Grass-Haus. Akademie der Künste. 166 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 64. 52

immer um dieselben Stereotype, die aber bekräftigt werden.167 Diese Stereotype kann man deutlich in der Novelle zu sehen. David Frankfurter begründete seinen Mord an

Wilhelm Gustloff mit dem Satz: „Ich habe geschossen, weil ich Jude bin.“168 Konny begründet seinen Mord ähnlich wie Frankfurter mit den Worten: „Ich habe geschossen, weil ich ein Deutscher bin.“169

2.3.1 „Warum erst jetzt?“

„Warum erst jetzt?“170, das ist der erste Satz der Novelle, die erste Frage, die dem Erzähler Paul gestellt wird. Warum beschäftigt sich erst jetzt die deutsche

Literatur mit dem Leid der Flüchtlinge in dem Jahr 1945? Warum wurde so lange geschwiegen? Diese Frage nach der Erinnerung ist eine ganz zentrale Frage, die sich relativ häufig und nicht nur in der Literatur befindet. Schriftsteller Martin Walser vertrat in 1998 die Meinung, die öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen

Schuld zu beenden und einen Schlussstrich unter das Kapitel Zweiter Weltkrieg zu setzen.

Grass kritisiert die Nichtbehandlung des Flüchtlingsthemas in der

Nachkriegsliteratur, weil dadurch traumatische historische Erlebnisse unverarbeitet blieben, und es hatte die Herausbildung solcher radikalen Haltungen zur Folge, die in der Novelle am Beispiel von Konny und Wolfgang zu sehen sind. Nach dem

Erscheinen der Novelle öffnete sich eine Diskussion um die Unterlassung der

167 FRICKE, Hannes. Günter Grass: Im Krebsgang: Der Zwang, Zeugnis abzulegen, und die virtuelle Realität. In: Romane des 20. Jahrhunderts: Band 3. Stuttgart: Reclam, 2003, s. 355-356. 168 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 29. 169 Ebenda, S. 175. 170 Ebenda, S. 7. 53

deutschen Nachkriegsliteratur. „Die maßgebenden Autoren der westdeutschen

Nachkriegsgesellschaft […] standen und schrieben unter dem Schock von Auschwitz.

Das ließ für Anderes keinen Raum. Und die große Masse der Deutschen wollte ohnehin in diesen Jahren von Krieg und Vertreibung nichts hören oder lesen. / Jetzt, mehr als fünfzig Jahre nach Ende des Krieges, besinnen sich die Autoren der

Flakhelfergeneration – allen voran Günter Grass – auf die vernachlässigte Tatsache, dass auch Deutsche millionenfach zu Opfern wurden.“171

Grass macht es deutlich, dass Erinnerung und Gedenken auch noch heute von hoher Wichtigkeit ist. Durch die Darstellung eines fiktiven Falles, den Mord von Konrad an Wolfgang Stremplin, belegt er beispielhaft die Notwendigkeit der

Erinnerung. Grass warnt somit in seiner Novelle vor rechtsextremen Gedankengut und dessen Einfluss auf die junge Generation.

171 DEBRÓCZKI, Edit. Täter und/oder Opfer?: Geschichte und Gedächtnis in Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang. In: Werkstatt [online]. (6) 2011, Debrecen, S. 11. 54

3 Weitere Autoren und Verfilmungen

3.1 Willi Fährman

Willi Fährmann ist am 18. Dezember 1929 in Duisburg in einer Arbeiterfamilie geboren. Nach einer Maurerlehre hat er das Abitur an Abendschulen abgelegt. Dann studierte er an der Pädagogischen Hochschule in Oberhausen und Münster. Er arbeitete als Lehrer und Schulrat. Er ist verheiratet, hat mit seiner Frau Elisabeth drei Kinder und lebt seit 1963 in Xanten am Niederrhein.172

Sein großes Thema sind Menschenschicksale. Seine Bücher sind nicht schwarz- weiß, sondern glaubwürdig, weil er Personen und Handlungen differenziert. Viele von

172 Biographie von Willi Fährmann. Willi Fährmann [online]. Xanten. 55

seinen Büchern sind in der Zeit des Nationalsozialismus angesiedelt, doch beschäftigt sich er auch mit anderen Themen.

Im Jahr 1962 ist sein Roman Das Jahr der Wölfe erschienen. Es geht um den dritten Teil der Tetralogie Die Bienmann-Saga. Die Bienmann-Saga ist eine

Jugendroman-Reihe. In jedem Roman steht ein Protagonist aus einer anderen

Generation der Familie im Vordergrund. In den Romanen geht es um die deutsch- polnische Geschichte, die Erzählung beginnt in 19. Jahrhundert mit der

Auswanderungswelle in Richtung Amerika (Der lange Weg des Lukas B.). Der zweite

Teil (Zeit zu hassen, Zeit zu lieben) behandelt die Zeit in dem entmilitarisierten Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg. Der dritte Teil (Das Jahr der

Wölfe) beschreibt den Zweiten Weltkrieg und die Flüchtlingsströme aus Ostpreußen im Jahre 1944 und 1945 und der letzte Roman ist von den

Spätaussiedlern, die in siebziger Jahren aus Polen in die Bundesrepublik kamen

(Kristina, vergiß nicht). Alle vier Romane haben ihre eigene Geschichte und können unabhängig voneinander gelesen werden.173

Das Buch Das Jahr der Wölfe spielt sich in den Kriegsjahren 1944-1945 ab. Die ostpreußische Familie Bienmann muss aus ihrem Heimatort Leschinen vor der heranrückenden russischen Front fliehen. Der 12-jährige Konrad erlebt die bittere

Wirklichkeit des Krieges: brennende Dörfer, Tiefflieger, Artilleriefeuer sowie die

Furcht vor dem Feind. Mit Mutter Agnes, Vater Johannes, Schwester Hedwig und

Brüder Albert und Franz muss Konrad nach Berlin zu einem Bruder von Johannes entfliehen. Die Mutter ist hochschwanger und auf der Flucht kommt Schwester

173 Die Bienmann-Saga. Willi Fährmann [online]. Xanten. 56

Elisabeth noch zur Welt. Die Russen dringen in das Land ein und zerstören alles, was auf ihrem Weg liegt. Die Familie Bienmann kommt in Gdingen und möchte mit einem

Schiff ins Reich fahren. Sie besorgeen die Karten für die Fahrt. Aber plötzlich will die

Mutter nicht einsteigen. „Johannes, ich will nicht auf das Schiff, ich will nicht! Hörst du! […] Verzeih mir, Johannes, aber ich kann nicht. Ich kann nicht auf das Schiff.“174

Später erfuhren Bienmanns, dass sie sehr glücklich waren, weil es die letzte Fahrt der

„Wilhelm Gustloff“ war. Später fahren die Bienmanns mit vielen anderen Menschen in einen kleinen Wagen. Auf der Reise gibt es eineinhalb Tage kein Wasser zum

Trinken, außerdem ist es stickig und heiß in dem Waggon. Konrad erfährt, dass die nächste Stelle, an der der Zug halten sollte, Berlin ist. In der Nacht schleicht sich die ganze Familie Bienmann aus dem Waggon und zum Bruder des Vaters geht.

3.2 Tanja Dückers

Tanja Dückers wurde am 25. September 1968 in West-Berlin geboren. Sie hat an der Freien Universität Berlin Germanistik, Nordamerikastudien und

Kunstgeschichte studiert und ihr Studium hat sie mit einer interdisziplinären Arbeit

über die Ästhetik des Erhabenen in der modernen Malerei am Beispiel Barnett

Newmans beendet.175 Sie ist Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und

Journalistin und hat zahlreiche Romane, Hörspiele, Erzählungen, Lyrikbände und

Essays veröffentlicht. Sie kommentiert regelmäßig die gesellschaftspolitischen

Themen und hat für verschiedene Zeitungen und Magazine als Kolumnistin gearbeitet

174 FÄHRMAN, Willi. Das Jahr der Wölfe. Würzburg: Arena Verlag, 1962, S. 139. 175 Biographie. Tanja Dückers [online]. 2012 57

(zum Beispiel Die Zeit, Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, National

Geographic, Brigitte, taz, Emma, Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung, Berliner

Morgenpost oder Jungle World). Dank den verschiedenen Lehraufträgen und

Stipendien reiste sie viel, zum Beispiel nach Los Angeles, Meadville (Pennsylvania),

Bristol, Barcelona, Paris, Prag, Krakau, Bukarest, Sibiu (Siebenbürgen), Gotland

(Schweden), Amsterdam, Vollezele (Flandern), Salzburg oder Zypern. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin. Jedes Jahr organisiert sie dort eine große Benefizlesung mit musikalischen Rahmenprogramm zu Gunsten von Berliner Obdachlosen.176

Im Jahr 2003 hat Dückers ihren Roman Himmelskörper veröffentlicht. Die

Schriftstellerin hat an diesem Buch drei Jahre gearbeitet.177 Der Titel des Buches ist irreführend, weil er nur auf die Nebensache in dem Roman verweist (die Hauptheldin

Freia ist Meteorologin und sammelt Wolkenbilder.) Das Hauptthema des Buches, mit dem sich die Autorin beschäftigt, ist der Flucht von Ostpreußischen Gotenhafen.

Dückers‘ Generation ist die „erste, die sich - dank zeitlicher und emotionaler Distanz

- endlich kritischer mit Krieg und Vertreibung auseinandersetzen und dabei die Rolle der Deutschen als Opfer anerkennen könnte, ohne revisionistisch zu sein.“178

Die Ich-Erzählin Freia erwartet bald ein Kind. Sie erinnert sich an ihre eigenen

Kindheits- und Jugendjahre und leuchtet die Familiengeschichte aus. Sie will mehr

über ihre Familie wissen und beginnt Frage zu stellen. Es ist offenbar, dass die Familie ein Geheimnis hat und das Buch ist ein Beispiel, wie die Vergangenheit immer bis in

176 Autorenlexikon: Tanja Dückers. Literatur Port [online]. Berlin. 177 HAHN, Anne Kathrin. Nicht mal bereut: Die Berliner Dichterin und Autorin Tanja Dückers im Gespräch über Himmelskörper. Satt.org [online]. 2004. 178 PETER, Stefanie. Immer Urlaub auf der Krim: Das verpaßte Schiff: Tanja Dückers heuert bei der Historie an. Frankfurter Allgemeine Zeitung [online]. 2003, (96), S. 36. 58

die Gegenwart hineinwirkt. Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Paul sucht Freia nach dem Spuren der Familiengeschichte. Die Geschichte wird von ihren Großeltern

Jo und Mäxchen geschildert. Sie beschreiben die Geschichte des Schiffes „Theodor“.

Durch einen glücklichen Zufall sind sie nicht in „Wilhelm Gustloff“ eingestiegen.

Aber die Geschichte ist nicht einfach zufällig. Eine bittere Feststellung folgt: „[…] die

Großeltern waren parteitreu und die damals vierjährige Mutter der Erzählerin reckte im rechten Moment den Arm zum Hitlergruß, woraufhin die nebenstehende Familie auf die ,Gustlof‘ verwiesen wurde.“179 Nach Freia war „diese Geschichte […] beängstigend.“180

Am Ende des Buches lässt die Autorin Renate, die Mutter der Ich-Erzählerin,

Selbstmord begehen. Auf die Frage ,Warum?‘ beantwortet die Schriftstellerin: „Weil der Leser solch eine Figur am wenigsten für schuldig hält, da ist der

Überraschungseffekt am größten!“181

3.3 Peter Weise

Peter Weise (auch Kapitän genannt) ist der letzte, der sieben Stunden nach dem

Untergang der „Wilhelm Gustloff“ gerettet war. Er wurde am 31. Januar 1945 von einem Rostocker Matrosen vor den eiskalten Fluten der Ostsee herausgeholt. Er wurde zu dem Findelkind und sein Retter adoptierte ihm. „Natürlich habe ich keine eigenen

179 WILD, Thomas. Opas Mitgliedsnummer: „Himmelskörper”: Tanja Dückers betreibt Familiengeschichte. Süddeutsche Zeitung. [online]. 2004, S. 14. 180 DÜCKERS, Tanja. Himmelskörper: Roman. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2003, S. 142. 181 HAHN, Anne Kathrin. Nicht mal bereut: Die Berliner Dichterin und Autorin Tanja Dückers im Gespräch über Himmelskörper. Satt.org [online]. 2004. 59

Erinnerungen an die Situation damals. Schließlich war ich etwa 10 bis 12 Monate alt, als mir ein zweites Mal das Leben geschenkt wurde.“182 Durch einen Amtsarzt wurde sein Alter auf ein Jahr geschätzt und sein Geburtsdatum auf den 31. Januar 1944 in

Gotenhafen festgelegt.

Alles, was Weise über den Untergang und seine Rettung weiß, hat er von seinem

Adoptivvater erfahren, als er zwölf Jahre alt war. Und er benutzte es später während des Schreibens seines Buches. Es heißt Hürdenlauf und war im Jahr 2006 herausgegeben. Eigentlich war es Günter Grass, wer inspirierte Weise zu dem

Schreiben. Grass hat die dramatische Rettung und Leben von Weise in seinem Buch

Im Krebsgang erwähnt.183

Weise bemerkt in dem Vorwort seines Buches: „Im Krebsgang war mein bisheriges Leben nicht verlaufen. Mehr ähnelte es einem Hürdenlauf.“184 Weise schreibt über sein Leben, er sucht nach seiner bis heute unbekannten Herkunft und beschreibt seine biographischen Episoden. Er beschreibt, wie er als Säugling an Bord aufgenommen wurde. Sein später Adoptivvater gehörte zur Besatzung eines Bootes, das nach Überlebenden suchen sollte. Die Suche war bei einer Temperatur von minus

18 Grad nahezu hoffnungslos. Es war eine glückliche Fügung, dass einer der Männer, die mit seinem Adoptivvater unterwegs waren, noch einmal in das Boot sprang, in dem

Weise zwischen Ertrunkenen und Erfrorenen lag. Und so geschah es dann, dass er den

182 RUTSATZ, Christian a Frank SCHOLLENBERGER. Der Untergang als Anfang. In: 0381- magazin [online]. Rostock, 2016. 183 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 144. 184 WEISE, Peter. Hürdenlauf: Erinnerungen eines Findlings. Rostock: BS-Verlag, 2006, S. 9. 60

Namen Peter bekam, wie der Fels in der Brandung. Seine Kindheit und Jugend hat er dann bei seinen Rettern und späteren Adoptiveltern in Rostock-Gehlsdorf durchlebt.185

Weil er in Gehlsdorf aufgewachsen ist, mit Blick auf den Stadthafen, wo man jeden Tag Schiffe beobachten konnte, hat er für die Ausbildung in der Handelsflotte der DDR entschieden. Im Jahr 1968 hat er das Kapitänspatent auf großer Fahrt erworben und hat als Kapitän von 1974 bis 1982 gearbeitet. Später hat er die Tätigkeit im Seehafen Rostock begonnen. Dann studierte er die Seeverkehrswirtschaft an der

Universität Rostock und ab dem Jahr 1990 war er Vorstandsmitglied der Seehafen

Rostock AG/GmbH und Marketing Manager und Pressesprecher der Seehafen

Rostock Umschlagsgesellschaft. Von 1995 bis 1998 arbeitete er als Präsident der

Baltic Ports Organisation. Heute lebt Weise in Rostock. Er hat autobiographische

Erzählungen, Kurzgeschichten und Tiergeschichten in Gedichtform veröffentlicht.186

3.4 Ruta Sepetys

Ruta Sepetys ist eine amerikanische Schriftstellerin mit litauischen Stämme. Im

Jahr 2016 hat sie einen Roman Salz für die See geschrieben. Der Roman behandelt den

Untergang der „Wilhelm Gustloff“ in 1945. Für den Roman hat sie sich von ihren eigenen Familiengeschichten inspirieren, ihr Vater und Großvater Waren litauische

Flüchtlinge, die während des Zweiten Weltkrieges mussten ihr Land verlassen.

185 RUTSATZ, Christian a Frank SCHOLLENBERGER. Der Untergang als Anfang. In: 0381- magazin [online]. Rostock, 2016. 186 Peter Weise: Autor. BS-Verlag-Rostock [online]. 61

Vor allem interessierte sie sich für das Schicksal der namenlosen Menschen. Von

Danzig waren auch Litauer, Letten, Esten, Kroaten gesegelt und ihre Geschichten sind völlig unbekannt. Innerhalb von mehreren Jahren der Vorbereitungen sprach Sepetys mit vielen Frauen und Kindern, die überlebt haben. Ihre Geschichte findet sie fesselnd und interessant und sie benutzte sie für ihre Buchcharaktere. Ihr Buch ist eine

Möglichkeit für diese fremden Leute ein Gesicht zu bekommen. „Wenn wir unsere

Geschichte nicht im Auge halten, kann es passieren, dass sie zurückkehren werden.

Wir müssen aus der Geschichte lernen.“187

3.5 Verfilmungen

Der erste Film von „Wilhelm Gustloff“ war ein Nazi-Propagandafilm aus dem

Jahr 1938. Der Film heißt Schiff ohne Klassen – Die Wilhelm Gustloff und ist 20

Minuten lang. Das Schiff ist dort wie das erste Urlauberschiff der Deutschen

Arbeitsfront beschrieben und der Film schildert seine erste große Atlantikfahrt. Der

Film zeigt, wie kann man billig von dem Schiff telefonieren, was kann man dort essen und wie kann man während der Fahrt unterhalten.188

Die Versenkung von „Wilhelm Gustloff“ war mehrmals in den Filmen verarbeitet. Erstmal war es schon im Jahr 1959 und der Film heißt Nacht fiel über

Gotenhafen. Er war unter der Regie von Frank Wisbar gedreht. Der Film hatte keinen großen Erfolg, weil „[…] aktuelle Probleme und die Schrecken der Erinnerung wollte

187 HRONOVÁ, Zuzana. Spisovatelka připomíná námořní katastrofu šestkrát horší než Titanic. Svět ji chtěl navždy zamlčet. Aktualne.cz [online]. 2016. 188 Schiff ohne Klassen - Die Wilhelm Gustloff. 1938. 62

das Kinopublikum lieber verdrängen als auf der Leinwand sehen.“189 Der Film war in

Schwarzweiß und zum Schluss gab es dort […] heroische Liebesgeschichte als

Zusatzstoff und Füllmasse […], als wäre das Sinken eines überbelegten Schiffes nicht spannend, der tausendfache Tod nicht tragisch genug.“190

Die Gustloff ist ein Film aus dem Jahr 2007. Es geht um ein inszeniertes fiktionales Drama, in welchem der Untergang des Schiffes thematisiert ist. Die Regie hat Joseph Vilsmaier geführt und es geht um ein Fernsehprojekt. Ursprünglich sollte der Film den Namen Hafen der Hoffnung – Die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff haben, aber die Produzenten haben sich für den kurzen Namen entschieden. Der Film dauert gegen 3 Stunden und besteht aus zwei Teilen: Hafen der Hoffnung und Flucht

über die Ostsee. Trotzdem der Film zehn Millionen Euro Budget und fast hundert

Drehtage hatte, ist er leider nicht sehr gut. Dort gibt es Unzulänglichkeiten des Skripts und der Regie. „Auf Vilsmaiers „Gustloff“ aber ist nie ganz klar, wo Vorn und Hinten,

Oben und Unten ist; die Gänge führen in alle Richtungen, die Regie in keine.“191 Dem

Film fehlt eine Qualität, die alle Katastrophenfilme haben sollen – erzählerische

Dichten und Konzentration. „Auf eine ganz elementare Weise ist „Die Gustloff“ misslungen, als Erzählung und als Film.“192

Nach dem Roman Salz für die See von Ruta Sepetys ist jetzt ein neuer Film vorbereitet. Hoffentlich wird es ein großer Kinokassenschlager.

189 KOSSERT, Andreas. Kalte Heimat: die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München: Siedler Verlag, 2008, S. 271. 190 GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002, S. 113. 191 KILB, Andreas. Schmacht fiel über Gotenhafen. Frankfurter Allgemeine Zeitung [online]. 2008. 192 Ebenda. 63

Es gibt auch verschiedene dokumentarische Filme über das Schiff: History’s

Mysteries: Killer Submarine (2001), The Sea Hunters: The Sinking of the Wilhelm

Gustloff (2002), Unsolved History: Wilhelm Gustloff – World’s Deadliest Sea Disaster

(2003), Die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff (2004), Ghost of the Baltic Sea (2005),

Sinking Hitler’s Supership (2008), Triumph und Tragödie der Wilhelm Gustloff

(2008), Sinking The Gustloff: A Tragedy Exiled From Memory (2016). Diese

Dokumentarfilme versuchen herauszufinden, warum so viele Menschen auf dem

Schiff waren, warum es so schnell sank und wer wollte die ganze Sache über die Jahre verdeckt haben. Ein interessantes aber tragisches Fakt ist, dass die Rettungswesten auf die Kinder tatsächlich mehr von ihnen getötet haben, weil aus irgendeinem Grund sie drehten sie rund im Wasser. Mit Experten und Überlebenden versuchen die

Dokumentarfilme, die Wahrheit über eine Tragödie, die so ziemlich im Laufe der Zeit vergessen hat, zu erreichen. Die Taucher gehen zum versunkenen Schiff und entdecken, was scheint, eine Art von Sabotage zu sein. Es ist aber klar, dass das Schiff mit zusätzliche Hilfe zerstört war, nachdem es bereits auf dem Meeresboden war.193

193 Laut IMDb.com. 64

Zusammenfassung

Diese Magisterarbeit beschäftigte sich mit „Wilhelm Gustloff“ in der Literatur.

Wilhelm Gustloff war Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der

Schweiz. Am 4. Februar 1936 war Gustloff durch vier Schüsse aus einem Revolver der jüdischer Medizinstudent David Frankfurter in Davos getötet. Die NSDAP machte

Gustloff zum Blutzeugen der Bewegung und NS-Propaganda verwandte Gustloff als

Märtyrer. Adolf Hitler hat nach Gustloff ein Erholungsschiff benannt, das später als

Lazarett der deutschen Kriegsmarine und Wohnschiff für das Militär in Gotenhafen-

Oxhöft diente. Am Ende des Zweiten Weltkrieges sollte das Schiff als ein

Rettungsboot für circa 10000 Leute – Flüchtlinge aus Ostpreußen, Matrose und

Marinenhelferinnen benutzt werden, es kam aber zu einem tragischen Ende der Fahrt.

Das Schiff wurde von den sowjetischen U-Boot S 13 torpediert und es war nur 1252

Leute gerettet.

65

Diese Fakten sind mit der Fiktion in der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass verknüpft. Das Thema Flucht und Vertreibung am Ende und nach dem Zweiten

Weltkrieg war bis die Veröffentlichung dieses Buches ein verbotenes Thema. Die fiktionale Familie Pokriefke übertragt den Untergang und das Thema Flucht und

Vertreibung bis in die heutige Zeit. Es handelt sich um die Chronik der Familie

Pokriefke, deren Schicksal durch ein historisches, bzw. fiktionalisiertes Ereignis geprägt ist.

Die Novelle Im Krebsgang von Günter Grass ist ein Beitrag zu der Verankerung der „Wilhelm Gustloff“-Katastrophe in dem deutschen kulturellen Gedächtnis, und somit zugleich ein Beitrag zu der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Grass beschäftigt sich in diesem Buch sehr ausführlich mit der Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und mit deren Verarbeitung.

In diesem Text vermischt sich drei verschiedene Ebene ineinander. Die erste

Ebene ist die nacherzählende Handlung durch den Bericht des Erzählers. Die zweite

Ebene ist eine fiktive Ebene, die sich im Internet abspielt. Und die dritte Ebene ist die

Einmischung von den „Alten“. Die Ebene beeinflussen und überschneiden sich.

In allen Ländern findet man Tabus. Wer diese Tabus bricht, ist mutig und hat die

Gelegenheit die Gesellschaft weiter zu entwickeln und verbessern. Deutschland hat seine eigenen Tabus, weil die älteren Generationen eine traurige Vergangenheit vergessen wollten. Es ist aber diesen Deutschen nicht gelungen, alles zu vergessen.

Günter Grass hat mit seiner Novelle nämlich eine solche Tabu gebrochen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen zu den Tätern bezeichnet. Niemand wollte darüber sprechen, dass auch die Deutschen zu den Opfern wurden. Mehr als fünfzig

Jahre nach dem Jahr 1945 fanden die Flüchtlingsproblematik und das Thema der

66

Vertreibung wieder Eingang in die öffentliche Diskussion. Das Thema Flucht und

Vertreibung als Gegenstand der Novelle hat im Jahr 2002 große Aufmerksamkeit erregt und hat kontroverse Diskussionen ausgelöst. Grass bekam der Bekannteste, der von dieser Problematik überhaupt schrieb. Als er in 2006 zuerkennt hat, dass er

Mitglied der Waffen-SS war, schockierte er die Öffentlichkeit. Der, er immer moralisierte, war selbst schuldig. Es muss er aber gesagt hat, damit sein Leben und literarische Schaffung komplett zu werden.

Im Krebsgang ist ein Versuch, bisher noch nicht aufgelöste Aspekte der deutschen Vergangenheit entdecken und damit die Wiederholungsgefahr entschieden zu bekannt machen, sowie über das historische Ereignis hinaus in der Gegenwart den

Boden auszumachen, aus dem die Wiederholungen sprießen. Die

Wiederholungsgefahr sieht Grass in dem Rechtsradikalismus und in seinem Werk von ihm warnt.

Neben Grass beschäftigen sie mit dem Thema „Wilhelm Gustloff“ auch andere

Schriftstellern: Willi Fährmann, Tanja Dückers, Peter Weise und Ruta Sepetys. Jeder beschäftigt sich mit der Thematik unterschiedlich. Willi Fährmann benutzt das Thema in der Literatur für die Kinder und Jugend, Tanja Dückers bringt das Thema durch eine

Großeltern-Enkelkinder Beziehung nahe, Peter Weise schreibt von seiner eigenen

Rettung dank seinem Adoptivvater und Ruta Sepetys bezieht sich ihre Schreiben auf die Familie Erfahrung mit der Flucht aus Ostpreußen.

Die „Wilhelm Gustloff“ wurde auch verfilmt, zwar in 1959 als Nacht fiel über

Gotenhafen und in 2007 als Die Gustloff. Ein neuer Film mit dieser Thematik wird gedreht und schon bald in Kinos gespielt wird.

67

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

DÜCKERS, Tanja. Himmelskörper: Roman. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2003. ISBN 978-3-746-62063-3. FÄHRMAN, Willi. Das Jahr der Wölfe. Würzburg: Arena Verlag, 1962. ISBN 978-3-401-02528-5. GRASS, Günter. Im Krebsgang: Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002. ISBN 978-3-423-13176-6. WEISE, Peter. Hürdenlauf: Erinnerungen eines Findlings. Rostock: BS-Verlag, 2006. ISBN 978-389-9542-028.

Sekundärliteratur

BERNHARDT, Rüdiger: Erläuterungen zu Günter Grass Im Krebsgang. Hollfeld: Bange, 2006. ISBN 3-80-441791-4. BEUTIN, Wolfgang. Der Fall Grass: Ein deutsches Debakel. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, 2007. ISBN 9783631570043. 68

FISCH, Bernhard. Nemmersdorf, Oktober 1944: was in Ostpreußen tatsächlich geschah. Berlin: Edition Ost, 1997. ISBN 3-932180-26-7. FRICKE, Hannes. Günter Grass: Im Krebsgang: Der Zwang, Zeugnis abzulegen, und die virtuelle Realität. In: Romane des 20. Jahrhunderts: Band 3. Stuttgart: Reclam, 2003, s. 351-368. ISBN 3-15-017522-4. FUHRER, Armin. Tod in Davos: David Frankfurter und das Attentat auf Wilhelm Gustloff. Berlin: Metropol, 2012. ISBN 3-86-331069-1. GRASS, Günter. Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen: Steidl, 2006. ISBN 3865213308. GRASS, Günter. Der Butt: Roman. Göttingen: Steidl, 1993. ISBN 3882432845. GRASS, Günter. Die Blechtrommel: Roman. Göttingen: Steidl, 1993. ISBN 3882432799. GRASS, Günter. Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Göttingen: Steidl, 1993. ISBN 3882432861. GRASS, Günter und Fritze MARGULL. Günter Grass: in Kupfer, auf Stein. Göttingen: Steidl, 1986. ISBN 3-88-243065-6. KNOPP, Guido. Der Untergang der "Gustloff": Wie es wirklich war. München: Econ Taschenbuch, 2002. ISBN 3-548-75101-6. KOSSERT, Andreas. Kalte Heimat: die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München: Siedler Verlag, 2008. ISBN 978-3-88680-861-8. MAYER-ISWANDY, Claudia. Günther Grass. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002. ISBN 34-233-1059-6. NEUHAUS, Volker. Schreiben gegen die verstreichende Zeit: zu Leben und Werk von Günter Grass. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997. ISBN 3-423-12445-8. PELSTER, Theodor. Günter Grass: Im Krebsgang. Stuttgart: Reclam, 2004. ISBN 978-3-15-015338-3. SCHÖN, Heinz. Die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff: Dokumentation eines Überlebenden. Stuttgart: Motorbuch Verlag, 2008. ISBN 978-3-613- 02897-5. VORMWEG, Heinrich. Günter Grass: mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1986. ISBN 3-499-50359-X.

Internetquellen

69

Autorenlexikon: Tanja Dückers. Literatur Port [online]. Berlin [zitiert 2016-08- 22]. Erreichbar von: . Biographie. Grass Medienarchiv[online]. Bremen [zitiert 2016-08-22]. Erreichbar von: . Biographie. Tanja Dückers [online]. 2012 [zitiert 2016-08-22]. Erreichbar von: . Biographie von Willi Fährmann. Willi Fährmann [online]. Xanten [zitiert 2016- 08-15]. Erreichbar von: . BRASSEL-MOSER, Ruedi. Gustloff-Affäre. In: Historisches Lexikon der Schweiz [online]. Bern, 2006 [zitiert 2016-06-21]. Erreichbar von: . DEBRÓCZKI, Edit. Täter und/oder Opfer?: Geschichte und Gedächtnis in Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang. In: Werkstatt [online]. (6) 2011, Debrecen, S. 1-17. ISSN 2061-8999. [zitiert 2016-06-21]. Erreichbar von: . Die Bienmann-Saga. Willi Fährmann [online]. Xanten [zitiert 2016-08-15]. Erreichbar von: . Ein Unrecht verdrängte das andere: Im Krebsgang: Arbeitsmaterial für einen Besuch im Günter Grass-Haus. Akademie der Künste [online]. [zitiert 2016-07-13]. Erreichbar von: . Empörung über Gedicht und Einreiseverbot. Zeit Online [online]. 2012 [zitiert 2016-07-15]. Erreichbar von: . FAMLER, Walter a Günter KAINDLSTORFER. Wir alle sind Kinder der Aufklärung: Günter Grass über Botho Strauß, das Böse am Kapitalismus und seine „Vernunftbeziehung“ zur SPD. Wespennest[online]. Wien, 1996(102) [zitiert 2016-06-19]. Erreichbar von: . FONTANE, Theodor. Effi Briest von Theodor Fontane: Text im Projekt Gutenberg. Spiegel Online [online]. Hamburg. [zitiert 2016-06-19]. Erreichbar von: . GRASS, Günter. Don’t Reunify Germany. The New York Times: The Opinion Pages [online]. 1990 [zitiert 2016-07-13]. Erreichbar von: . 70

GRASS, Günter. „Ich war Mitglied der Waffen-SS“. Frankfurter Allgemeine Zeitung [online]. 2006 [zitiert 2016-05-19]. Erreichbar von: . GRASS, Günter und Pavel KOHOUT. Briefe über die Grenze: Versuch eines Ost-West-Dialogs. Hamburg: Christian Wegner Verlag, 1968. Erreichbar von: . GRASS, Günter. Was gesagt werden muss. Süddeutsche Zeitung [online]. 2012 [zitiert 2016-07-16]. Erreichbar von: . HÄCKERMANN, Ursula. Unterrichtsmaterialen: Das neue Grass-Haus. Akademie der Künste. [online]. [zitiert 2016-07-13]. Erreichbar von: . HAHN, Anne Kathrin. Nicht mal bereut: Die Berliner Dichterin und Autorin Tanja Dückers im Gespräch über Himmelskörper. Satt.org [online]. 2004 [zitiert 2016-08-22]. Erreichbar von: . HRONOVÁ, Zuzana. Spisovatelka připomíná námořní katastrofu šestkrát horší než Titanic. Svět ji chtěl navždy zamlčet. Aktualne.cz [online]. 2016 [zitiert 2016-10-29]. Erreichbar von: . JARN, Maria. Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und deren Verarbeitung in der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass. Stockholm, 2007. Erreichbar von: . KILB, Andreas. Schmacht fiel über Gotenhafen. Frankfurter Allgemeine Zeitung [online]. 2008 [zitiert 2016-08-07]. Erreichbar von: . KIRSCH, Lisa. Günter Grass - Im Krebsgang: Wie wird der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ in dieser Novelle literarisch verarbeitet. Münster, 2010. [online]. [zitiert 2016-08-21]. Erreichbar von: .

71

LÜTTGENAU, Rikola-Gunnar. Weimar im Nationalsozialismus: Ein Stadtplan [online]. [zitiert 2016-06-18]. Erreichbar von: . PETER, Stefanie. Immer Urlaub auf der Krim: Das verpaßte Schiff: Tanja Dückers heuert bei der Historie an. Frankfurter Allgemeine Zeitung [online]. 2003, (96), S. 36. [zitiert 2016-08-22]. Erreichbar von: . Peter Weise: Autor. BS-Verlag-Rostock [online]. [zitiert 2016-08-26]. Erreichbar von: . REICHERT, Steffen. Ein Rostocker Kapitän war das Findelkind der „Gustloff“. Lausitzer Rundschau [online]. 2008 [zitiert 2016-08-26]. Erreichbar von: . REICH-RANICKI, Marcel. . . . und es muß gesagt werden. Der Spiegel: „Mein lieber Günter Grass ...“ [online]. Hamburg, 1995(34) [zitiert 2016-06-19]. Erreichbar von: . RIEDEL, Katja. „Wilhelm Gustloff“: Eisiges Grab für über 9000 Menschen. FOCUS Online [online]. 2008 [zitiert 2016-06-23]. Erreichbar von: . RUTSATZ, Christian und Frank SCHOLLENBERGER. Der Untergang als Anfang. In: 0381-magazin [online]. Rostock, 2016 [zitiert 2016-08-26]. Erreichbar von: . Schiff ohne Klassen - Die Wilhelm Gustloff. 1938. Erreichbar von: . SOLBACK, Karin. Günter Grass - Im Krebsgang: Das deutsche Volk als Opfer und Täter. Falun, 2013 [online]. [zitiert 2016-06-11]. Erreichbar von: . The Nobel Prize in Literature 1999. The Official Website of the Nobel Prize [online]. [zitiert 2016-07-27]. Erreichbar von: .

72

Unkenrufe: Eine Erzählung von Günter Grass. Deutscher Taschenbuch Verlag [online]. München [zitiert 2016-06-18]. Erreichbar von: . WICHERS, Hermann. David Frankfurter. In: Historisches Lexikon der Schweiz [online]. Bern, 2016 [zitiert 2016-06-21]. Erreichbar von: . WIENß, Juliane. Der schönste erste Satz ist von Günter Grass. WeltN24 [online]. Berlin, 2007 [zitiert 2016-06-18]. Erreichbar von: . WILD, Thomas. Opas Mitgliedsnummer: „Himmelskörper”: Tanja Dückers betreibt Familiengeschichte. Süddeutsche Zeitung [online]. 2004, S. 14. [zitiert 2016-08-26]. Erreichbar von: . WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: 1927 – 2015 / Biografie. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016 [zitiert 2016-06-22]. Erreichbar von: . WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: Die Rättin. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016 [zitiert 2016-06-21]. Erreichbar von: < http://www.dieterwunderlich.de/Grass_rattin.htm/>. WUNDERLICH, Dieter. Günter Grass: Mein Jahrhundert. Dieter Wunderlich: Buchtipps & Filmtipps [online]. Kelkheim, 2016 [zitiert 2016-06-19]. Erreichbar von: . ZIMMER, Dieter Eduard. Kriechspur des Günter Grass: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Zeit Online [online]. 1972 [zitiert 2016-06-18]. Erreichbar von: .

73