Von Der Herzoglichen Irrenanstalt Zum Modernen Gesundheitskonzern Die Geschichte Der Nassauischen Psychiatrie
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Christina Vanja Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern Die Geschichte der nassauischen Psychiatrie 1. Vorbemerkung Im Jahre 1930 erschien beim Düsseldorfer Verlag August Kosmala ein reich bebil- derter Band mit dem Titel ‚Heil- und Pfl egeanstalten aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden‘.1 Insgesamt 22 Gesundheitseinrichtungen stellten sich darin vor. Es handelte sich um öffentliche und private Einrichtungen für Menschen mit zumeist langwierigen sowohl körperlichen als auch psychischen Leiden bzw. dauerhaften Behinderungen. Entsprechend dienten die Institute, anders als Krankenhäuser und Kliniken, nicht einer kurzfristigen Therapie, sondern waren auf längere Aufenthalte mit dem Ziel der Förderung und Pfl ege eingestellt.2 Die größte Untergruppe der vor- gestellten Heil- und Pfl egeanstalten, nämlich neun Einrichtungen, bildeten psychia- trische und heilpädagogische Institutionen. Dieses Übergewicht entsprach zugleich der tatsächlichen Situation im Regierungsbezirk wie allgemein im Deutschen Reich.3 In den Jahren der Weimarer Republik erschienen für viele Regionen, und dies nicht nur in Deutschland, ähnliche Bildbände. Sie brachten die Ansprüche des modernen sozialen Wohlfahrtsstaats zum Ausdruck. Demnach wurden Heil- und Pfl egeanstalten nun ein Teil der säkularen Arbeitsgesellschaft. Vor allem eine umfassende Beschäftigungstherapie sollte nicht nur die Symptome von Krank- heit und Behinderung mildern, sondern letztlich auch die soziale (Wieder-) Einbindung von Pfl eglingen gewährleisten. Illustrierte Publikationen der 1920er Jahre warben für diese neu geordneten Anstalten und fi xierten vor allem die Emsigkeit in Werkstätten, auf dem Gutshof und im Haushalt in Wort und Bild sowie – bei Häusern für ein gehobenes Publikum – sportliche Angebote.4 Obwohl 1 Heil- und Pfl egeanstalten aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden, Düsseldorf 1930. 2 Vgl. Christina VANJA: Heilanstalten, in: Gerhard AUMÜLLER, Kornelia GRUNDMANN, Christina VANJA (Hrsg.): Dienst am Kranken. Krankenversorgung zwischen Caritas, Medizin und Ökonomie vom Mit- telalter bis zur Neuzeit. Geschichte und Entwicklung der Krankenversorgung im sozioökonomischen Wandel, Marburg 2007 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 68), S. 243–270. 3 Vgl. Christina VANJA: Plädoyer für eine Geschichte der Heilanstalten, in: Gunnar STOLLBERG, Chri- stina VANJA, Ernst KRAAS (Hrsg.): Krankenhausgeschichte heute. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Hospital- und Krankenhausgeschichte?, Berlin 2011, S. 95–104. 4 Vgl. Urs GERMANN: Arbeit, Ruhe und Ordnung: Die Inszenierung der psychiatrischen Moderne. Bildmediale Legitimationsstrategien der schweizerischen Anstaltspsychiatrie im Kontext der Arbeits- und Beschäftigungstherapie in der Zwischenkriegszeit, in: Heiner FANGERAU, Karen NOLTE (Hrsg.): ‚Moderne‘ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert. Legitimation und Kritik, Stuttgart 2006 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 26), S. 283–310. 604 Christina Vanja sich in dem Bildband von 1930 keineswegs alle Heil- und Pfl egeanstalten des Regierungsbezirks fi nden (die Großstadt Frankfurt am Main fehlt völlig), wird dennoch deutlich, welch relativ dichtes institutionelles Netz in der Psychiatrie entstanden war. Neben den drei großen öffentlichen Landesheilanstalten Eich- berg, Hadamar und Herborn mit rund 2200 Plätzen boten sechs konfessionelle und private Einrichtungen weitere rund 2000 Plätze für geistig Behinderte, Epi- leptiker und zahlende Psychiatriepatienten bzw. Nervenkranke an.5 2. Die Anfänge in Eberbach Rund hundert Jahre zuvor stellte sich die Situation im Herzogtum Nassau noch völlig anders dar. Traditionell wurden psychisch kranke bzw. geistig behinderte Menschen, wie andernorts, in ihren Familien versorgt.6 Nur wenige Arme fan- den Aufnahme in Hospitälern. Die medizinische Praxis bewegte sich im Rahmen der traditionellen Humoraltherapie, die Gemütskrankheiten vor allem durch ein Übermaß der ‚schwarzen Galle‘ (melaina cholé) verursacht sah. Der ganzheitli- che Ansatz der auf die Antike zurückgehenden Gesundheitslehre oder ‚Diätetik‘ sah neben Brech- und Abführmitteln auch psychische Behandlungen wie Orts- veränderung, Spaziergänge, Lektüre und Musik vor.7 Der Diskurs der Aufklä- rung, der sich auch für Nassau nachvollziehen lässt, kritisierte schließlich vor allem zwei Momente: zum einen die Verwahrung von Tobsüchtigen in Zucht- häusern – ursprünglich handelte es sich um Erziehungseinrichtungen, die aber am Ende der Frühen Neuzeit Gefängnischarakter angenommen hatten – und zum andern die unzureichenden Anstrengungen zur Heilung Wahns inn iger durch akademische Ärzte. Aus dieser Kritik heraus entwickelte sich – neben anderen medizinischen Spezialgebieten – das neue Fach ‚Psychiatrie‘ (Seelenheilkunde).8 Deren therapeutisches Konzept kann in dem Begriff ‚Heilanstalt‘ zusammen- gefasst werden. Anregungen kamen für die Psychiatrie ebenso aus England, wo Geistliche und Ärzte ‚Rückzugsorte‘ (retreat) für psychisch Kranke auf dem Lande schufen, wie aus dem revolutionären Paris, das einem neuen Hippokrates, nämlich dem Irrenarzt Dr. Philippe Pinel (1764–1826), freie Hand ließ, klinische 5 Im Einzelnen sind angegeben für den Eichberg 700 Betten plus 150 Plätze in Familienpfl ege, für Hadamar 320 Betten plus 220 Plätze in Familienpfl ege und für Herborn 700 Betten plus 150 Plätze in Familienpfl ege; das St.-Valentinushaus in Kiedrich hatte 350, das St.-Vinzenz-Stift, Aulhausen, 440, die Heilerziehungs- und Pfl egeanstalt Scheuern 609, die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof zu Idstein 600 und die Dr. Dr. Wolffs Heilanstalt in Katzenelnbogen 120 Plätze. Für das Taunus-Sanatorium Dr. Goldschmidt in Bad Homburg liegt keine Angabe vor, vgl. Heil- und Pfl egeanstalten (wie Anm. 1). 6 Vgl. Christina VANJA: Vom Hospital zum Betreuten Wohnen. Die institutionelle Versorgung behin- derter Menschen seit dem Mittelalter, in: Günther CLOERKES, Jörg Michael KASTL (Hrsg.): Leben und Arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Menschen mit Behinderungen im Netz der Institutionen, Heidelberg 2007, S. 79–100. 7 Vgl. Christina VANJA: Medizin, Religion und Magie. Krankheit und Heilung in der Frühen Neuzeit, in: Martin MOMBURG, Dietmar SCHULTE (Hrsg.): Das Verhältnis von Arzt und Patient. Wie mensch- lich ist die Medizin?, Paderborn 2010 (Heinz Nixdorf MuseumsForum), S. 9–35; Roy PORTER: Wahn- sinn. Eine kleine Kulturgeschichte, Zürich 2005. 8 Vgl. Hans-Heinz EULNER: Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes, Stuttgart 1970. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 605 Ansätze wie Beobachtung, ärztliche Aufzeichnung, Heilungsversuche und Unterricht am Krankenbett zu entwickeln.9 Der europäische Psychiatriediskurs wurde in den deutschen Territorien zeitnah rezipiert, nicht überall folgte jedoch eine so rasche Umsetzung wie in Nassau. Als das Herzogtum im Jahre 1815 eine Heilanstalt im aufgehobenen Zisterzienserkloster Eberbach im Rheingau eröff- nete, bestanden erst wenige Heilanstalten, u. a. im preußischen Bayreuth (1805), im sächsischen Pirna, im lippischen Brake (1811) und im hessen-darmstädtischen Marsberg (1814).10 Die nassauische Heilanstalt in Eberbach, die bis 1849 bestand, war eine explizit psychiatrische Einrichtung. Dies machen insbesondere die dor- tigen Therapievorrichtungen deutlich. Zum bereits für Hospitäler charakteris- tischen Programm der Diätetik mit Schlaf, Bewegung, frischer Luft, gesunder Ernährung, Abführmitteln und Seelsorge11 kamen Reiz- und Beruhigungsthera- pien der neuen Nervenlehre nach Dr. John Brown zum Einsatz. Dazu gehörten z. B. Zwangsstühle, Drehräder und Kaltwasserduschen.12 Sogar einen Schwimm- see gab es in Eberbach.13 Negativ vermerkten Zeitgenossen allerdings die Nach- barschaft zum ebenfalls in Eberbach untergebrachten, 1811 eröffneten Arbeits- haus. Als Mangel erschien ebenso die Leitung der Gesamtanstalt durch einen Nichtmediziner. Dieser Vorsteher beider Eberbacher Einrichtungen, der Jurist Philipp Lindpaintner, war allerdings ein ausgesprochener Verfechter der Psy- chiatrie und gewann die Landesregierung für einen Neubau auf dem nahe gele- genen Eichberg (Abb. 1)14 Dort wurde Dr. Ludwig Snell (1817–1892) zugleich Leiter der nun ausschließlich medizinischen Einrichtung. Das schön gelegene Krankenhaus mit Blick auf den Rhein war eine der frühen „relativ verbundenen 9 Vgl. Christina VANJA: Madhouses, Children´s Wards, and Clinics. The Development of Insane Asy- lums in Germany, in: Norbert FINZSCH, Robert JÜTTE (Hrsg.): Institutions of Confi nement. Hospitals, Asylums, and Prisons in Western Europe and North America, 1500–1900, Cambridge 1996, S. 117– 132; Fritz HARTMANN: Philippe Pinel (1745–1826), in: Dietrich VON ENGELHARDT, Fritz HARTMANN (Hrsg.): Klassiker der Medizin, Zweiter Band von Philippe Pinel bis Viktor von Weizsäcker, München 1991, S. 7–23. 10 Vgl. Dieter JETTER: Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts, in: DERS.: Geschichte des Hospitals 1. West- deutschland von den Anfängen bis 1850, Wiesbaden 1966, S. 202–228. 11 Vgl. Christina VANJA: Das Nachwirken der antiken Diätetik in frühneuzeitlichen Hospitälern, in: Historia Hospitalium 24 (2004–2005), S. 11–23. 12 Vgl. Dirk B. HÖTGER: Sozialstruktur des Herzoglich-Nassauischen Irrenhauses Kloster Eber- bach (1815–1849), Diss. Mainz 1977, hier: S. 215–282; Hermann NIEDERGASSEL: Die Behandlung der Geisteskranken in der Irrenanstalt Eberbach im Rheingau in der Zeit von 1815–1849 anhand alter Krankengeschichten, Diss. Mainz 1977; Ann GOLDBERG: Sex, Religion and the Making of Modern Madness. The