Christina Vanja Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern Die Geschichte der nassauischen Psychiatrie

1. Vorbemerkung Im Jahre 1930 erschien beim Düsseldorfer Verlag August Kosmala ein reich bebil- derter Band mit dem Titel ‚Heil- und Pfl egeanstalten aus dem ‘.1 Insgesamt 22 Gesundheitseinrichtungen stellten sich darin vor. Es handelte sich um öffentliche und private Einrichtungen für Menschen mit zumeist langwierigen sowohl körperlichen als auch psychischen Leiden bzw. dauerhaften Behinderungen. Entsprechend dienten die Institute, anders als Krankenhäuser und Kliniken, nicht einer kurzfristigen Therapie, sondern waren auf längere Aufenthalte mit dem Ziel der Förderung und Pfl ege eingestellt.2 Die größte Untergruppe der vor- gestellten Heil- und Pfl egeanstalten, nämlich neun Einrichtungen, bildeten psychia- trische und heilpädagogische Institutionen. Dieses Übergewicht entsprach zugleich der tatsächlichen Situation im Regierungsbezirk wie allgemein im Deutschen Reich.3 In den Jahren der Weimarer Republik erschienen für viele Regionen, und dies nicht nur in Deutschland, ähnliche Bildbände. Sie brachten die Ansprüche des modernen sozialen Wohlfahrtsstaats zum Ausdruck. Demnach wurden Heil- und Pfl egeanstalten nun ein Teil der säkularen Arbeitsgesellschaft. Vor allem eine umfassende Beschäftigungstherapie sollte nicht nur die Symptome von Krank- heit und Behinderung mildern, sondern letztlich auch die soziale (Wieder-) Einbindung von Pfl eglingen gewährleisten. Illustrierte Publikationen der 1920er Jahre warben für diese neu geordneten Anstalten und fi xierten vor allem die Emsigkeit in Werkstätten, auf dem Gutshof und im Haushalt in Wort und Bild sowie – bei Häusern für ein gehobenes Publikum – sportliche Angebote.4 Obwohl

1 Heil- und Pfl egeanstalten aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden, Düsseldorf 1930. 2 Vgl. Christina VANJA: Heilanstalten, in: Gerhard AUMÜLLER, Kornelia GRUNDMANN, Christina VANJA (Hrsg.): Dienst am Kranken. Krankenversorgung zwischen Caritas, Medizin und Ökonomie vom Mit- telalter bis zur Neuzeit. Geschichte und Entwicklung der Krankenversorgung im sozioökonomischen Wandel, Marburg 2007 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 68), S. 243–270. 3 Vgl. Christina VANJA: Plädoyer für eine Geschichte der Heilanstalten, in: Gunnar STOLLBERG, Chri- stina VANJA, Ernst KRAAS (Hrsg.): Krankenhausgeschichte heute. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Hospital- und Krankenhausgeschichte?, Berlin 2011, S. 95–104. 4 Vgl. Urs GERMANN: Arbeit, Ruhe und Ordnung: Die Inszenierung der psychiatrischen Moderne. Bildmediale Legitimationsstrategien der schweizerischen Anstaltspsychiatrie im Kontext der Arbeits- und Beschäftigungstherapie in der Zwischenkriegszeit, in: Heiner FANGERAU, Karen NOLTE (Hrsg.): ‚Moderne‘ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert. Legitimation und Kritik, Stuttgart 2006 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 26), S. 283–310. 604 Christina Vanja sich in dem Bildband von 1930 keineswegs alle Heil- und Pfl egeanstalten des fi nden (die Großstadt am Main fehlt völlig), wird dennoch deutlich, welch relativ dichtes institutionelles Netz in der Psychiatrie entstanden war. Neben den drei großen öffentlichen Landesheilanstalten Eich- berg, Hadamar und Herborn mit rund 2200 Plätzen boten sechs konfessionelle und private Einrichtungen weitere rund 2000 Plätze für geistig Behinderte, Epi- leptiker und zahlende Psychiatriepatienten bzw. Nervenkranke an.5

2. Die Anfänge in Eberbach Rund hundert Jahre zuvor stellte sich die Situation im Herzogtum noch völlig anders dar. Traditionell wurden psychisch kranke bzw. geistig behinderte Menschen, wie andernorts, in ihren Familien versorgt.6 Nur wenige Arme fan- den Aufnahme in Hospitälern. Die medizinische Praxis bewegte sich im Rahmen der traditionellen Humoraltherapie, die Gemütskrankheiten vor allem durch ein Übermaß der ‚schwarzen Galle‘ (melaina cholé) verursacht sah. Der ganzheitli- che Ansatz der auf die Antike zurückgehenden Gesundheitslehre oder ‚Diätetik‘ sah neben Brech- und Abführmitteln auch psychische Behandlungen wie Orts- veränderung, Spaziergänge, Lektüre und Musik vor.7 Der Diskurs der Aufklä- rung, der sich auch für Nassau nachvollziehen lässt, kritisierte schließlich vor allem zwei Momente: zum einen die Verwahrung von Tobsüchtigen in Zucht- häusern – ursprünglich handelte es sich um Erziehungseinrichtungen, die aber am Ende der Frühen Neuzeit Gefängnischarakter angenommen hatten – und zum andern die unzureichenden Anstrengungen zur Heilung Wahns inn iger durch akademische Ärzte. Aus dieser Kritik heraus entwickelte sich – neben anderen medizinischen Spezialgebieten – das neue Fach ‚Psychiatrie‘ (Seelenheilkunde).8 Deren therapeutisches Konzept kann in dem Begriff ‚Heilanstalt‘ zusammen- gefasst werden. Anregungen kamen für die Psychiatrie ebenso aus England, wo Geistliche und Ärzte ‚Rückzugsorte‘ (retreat) für psychisch Kranke auf dem Lande schufen, wie aus dem revolutionären Paris, das einem neuen Hippokrates, nämlich dem Irrenarzt Dr. Philippe Pinel (1764–1826), freie Hand ließ, klinische

5 Im Einzelnen sind angegeben für den Eichberg 700 Betten plus 150 Plätze in Familienpfl ege, für Hadamar 320 Betten plus 220 Plätze in Familienpfl ege und für Herborn 700 Betten plus 150 Plätze in Familienpfl ege; das St.-Valentinushaus in Kiedrich hatte 350, das St.-Vinzenz-Stift, Aulhausen, 440, die Heilerziehungs- und Pfl egeanstalt Scheuern 609, die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof zu Idstein 600 und die Dr. Dr. Wolffs Heilanstalt in Katzenelnbogen 120 Plätze. Für das Taunus-Sanatorium Dr. Goldschmidt in Bad Homburg liegt keine Angabe vor, vgl. Heil- und Pfl egeanstalten (wie Anm. 1). 6 Vgl. Christina VANJA: Vom Hospital zum Betreuten Wohnen. Die institutionelle Versorgung behin- derter Menschen seit dem Mittelalter, in: Günther CLOERKES, Jörg Michael KASTL (Hrsg.): Leben und Arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Menschen mit Behinderungen im Netz der Institutionen, Heidelberg 2007, S. 79–100. 7 Vgl. Christina VANJA: Medizin, Religion und Magie. Krankheit und Heilung in der Frühen Neuzeit, in: Martin MOMBURG, Dietmar SCHULTE (Hrsg.): Das Verhältnis von Arzt und Patient. Wie mensch- lich ist die Medizin?, Paderborn 2010 (Heinz Nixdorf MuseumsForum), S. 9–35; Roy PORTER: Wahn- sinn. Eine kleine Kulturgeschichte, Zürich 2005. 8 Vgl. Hans-Heinz EULNER: Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes, Stuttgart 1970. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 605

Ansätze wie Beobachtung, ärztliche Aufzeichnung, Heilungsversuche und Unterricht am Krankenbett zu entwickeln.9 Der europäische Psychiatriediskurs wurde in den deutschen Territorien zeitnah rezipiert, nicht überall folgte jedoch eine so rasche Umsetzung wie in Nassau. Als das Herzogtum im Jahre 1815 eine Heilanstalt im aufgehobenen Zisterzienserkloster Eberbach im Rheingau eröff- nete, bestanden erst wenige Heilanstalten, u. a. im preußischen Bayreuth (1805), im sächsischen Pirna, im lippischen Brake (1811) und im hessen-darmstädtischen Marsberg (1814).10 Die nassauische Heilanstalt in Eberbach, die bis 1849 bestand, war eine explizit psychiatrische Einrichtung. Dies machen insbesondere die dor- tigen Therapievorrichtungen deutlich. Zum bereits für Hospitäler charakteris- tischen Programm der Diätetik mit Schlaf, Bewegung, frischer Luft, gesunder Ernährung, Abführmitteln und Seelsorge11 kamen Reiz- und Beruhigungsthera- pien der neuen Nervenlehre nach Dr. John Brown zum Einsatz. Dazu gehörten z. B. Zwangsstühle, Drehräder und Kaltwasserduschen.12 Sogar einen Schwimm- see gab es in Eberbach.13 Negativ vermerkten Zeitgenossen allerdings die Nach- barschaft zum ebenfalls in Eberbach untergebrachten, 1811 eröffneten Arbeits- haus. Als Mangel erschien ebenso die Leitung der Gesamtanstalt durch einen Nichtmediziner. Dieser Vorsteher beider Eberbacher Einrichtungen, der Jurist Philipp Lindpaintner, war allerdings ein ausgesprochener Verfechter der Psy- chiatrie und gewann die Landesregierung für einen Neubau auf dem nahe gele- genen Eichberg (Abb. 1)14 Dort wurde Dr. Ludwig Snell (1817–1892) zugleich Leiter der nun ausschließlich medizinischen Einrichtung. Das schön gelegene Krankenhaus mit Blick auf den Rhein war eine der frühen „relativ verbundenen

9 Vgl. Christina VANJA: Madhouses, Children´s Wards, and Clinics. The Development of Insane Asy- lums in , in: Norbert FINZSCH, Robert JÜTTE (Hrsg.): Institutions of Confi nement. Hospitals, Asylums, and Prisons in Western Europe and North America, 1500–1900, Cambridge 1996, S. 117– 132; Fritz HARTMANN: Philippe Pinel (1745–1826), in: Dietrich VON ENGELHARDT, Fritz HARTMANN (Hrsg.): Klassiker der Medizin, Zweiter Band von Philippe Pinel bis Viktor von Weizsäcker, München 1991, S. 7–23. 10 Vgl. Dieter JETTER: Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts, in: DERS.: Geschichte des Hospitals 1. West- deutschland von den Anfängen bis 1850, Wiesbaden 1966, S. 202–228. 11 Vgl. Christina VANJA: Das Nachwirken der antiken Diätetik in frühneuzeitlichen Hospitälern, in: Historia Hospitalium 24 (2004–2005), S. 11–23. 12 Vgl. Dirk B. HÖTGER: Sozialstruktur des Herzoglich-Nassauischen Irrenhauses Kloster Eber- bach (1815–1849), Diss. Mainz 1977, hier: S. 215–282; Hermann NIEDERGASSEL: Die Behandlung der Geisteskranken in der Irrenanstalt Eberbach im Rheingau in der Zeit von 1815–1849 anhand alter Krankengeschichten, Diss. Mainz 1977; Ann GOLDBERG: Sex, Religion and the Making of Modern Madness. The Eberbach Asylum and German Society 1815–1849, Oxford 1999; Michael KUTZER: Die therapeutischen Intentionen in der Irrenanstalt des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel ‚Kloster Eberbach‘ (1815–1849). in: Christina VANJA u. a. (Hrsg.): ‚Wissen und irren‘. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahr- hunderten: Eberbach und Eichberg, Kassel 1999 (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrts- verbandes Hessen, Quellen und Studien 6), S. 46–59; Heinz SCHOTT: Heilkonzepte um 1800 und ihre Anwendung in der Irrenbehandlung, in: Johann GLATZEL, Steffen HAAS, Heinz SCHOTT (Hrsg.): Vom Umgang mit Irren. Beiträge zur Geschichte psychiatrischer Therapeutik, Regensburg 1990, S. 17–36. 13 Vgl. Erich KRAUSBECK: Das Schwimmbad im Irrenhaus zu Eberbach, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 60–63. 14 Vgl. [Philipp Heinrich] LINDPAINTNER: Nachrichten über die Irrenanstalt zu Eberbach im Rhein- gau, von ihrer Begründung an bis zum Schlusse des Jahres 1842, in: Medicinische Jahrbücher für das Herzogthum Nassau 3 (1945), S. 1–60. 606 Christina Vanja

Abb. 1: Heil- und Pfl egeanstalt Eichberg, Postkarte um 1900 (Sammlung Vitos Rheingau)

Heil- und Pfl egeanstalten“ in Deutschland. Es handelte sich um ein neues psych- iatrisches Konzept, das den fl ießenden Übergängen zwischen akuten und chro- nischen Erkrankungen Rechnung trug. Vorbild war die nur sieben Jahre zuvor eingeweihte Heil- und Pfl egeanstalt Illenau nahe dem badischen Achern.15 Die Heil- und Pfl egeanstalt Eichberg mit 200 bis 220 Plätzen wurde wegen ihrer anmuthigen Anlage inmitten von Weinbergen mit Rheinblick, der hellen Gebäude im Stil einer Villa rustica – Architekt war der Wiesbadener Baumeister Eduard Zais –, dem anspruchsvoll gestalteten Park und der freiheitlichen Behandlung, die Snell anstrebte, schnell über die Grenzen des Herzogtums hinaus bekannt.16 Bereits in den 1860er Jahren jedoch begann unter Snells Nachfolgern das all- gemein für die weitere Entwicklung der Psychiatrie charakteristische Problem andauernder Überbelegung.17 Die erwarteten Heilerfolge blieben bei vielen Pati- enten aus; zugleich stieg die Zahl chronisch Kranker überdimensional an. Es handelte sich bei den Pfl eglingen fast ausschließlich um familienlose Angehörige der unteren Gesellschaftsschichten (Dienstboten, Tagelöhner), für welche die psychiatrische Einrichtung zum Sozialasyl wurde. Diese Entwicklungstendenz

15 Vgl. Christina VANJA: Architektur für Heilbare und Unheilbare. Die Damerowsche Anstalt im Spie- gel der Psychiatriegeschichte, in: Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte 2011, S. 75–94. 16 Vgl. Christina VANJA: „Die Irrenanstalt muss in einer anmuthigen Gegen liegen“. Über die Grün- dung der Herzoglich Nassauischen Heil- und Pfl egeanstalt Eichberg, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 11–35; Reinhard BENTMANN: Architektur für den Irrsinn. Bemerkungen zur Baugeschichte der Psychiatrie auf dem Eichberg, ebd., S. 299–329. 17 Vgl. Salina BRAUN: Heilung mit Defekt. Psychiatrische Praxis in den Anstalten Hofheim und Sieg- burg 1820–1878, Göttingen 2008. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 607 verstärkte sich, nachdem das Herzogtum Nassau in der preußischen Provinz Hessen-Nassau aufgegangen war.18

3. Preußische Anstalten 1867 wurde für den neuen preußischen Regierungsbezirk Wiesbaden zunächst unter Ausklammerung Frankfurts ein kommunaler Selbstverwaltungsverband (kommunalständischer Verband, Bezirksverband Wiesbaden, Bezirksverband Nassau, schließlich Kommunalverband des Regierungsbezirks Wiesbaden) gegründet, der 1872 auch die Heil- und Pfl egeanstalt Eichberg als Träger des Fürsorgewesens übernahm.19 Für einige Jahre ab 1874 dienten erneut Räume in Eberbach der Einrichtung einer Filiale; in den 1880er Jahren konnten weitere Neubauten auf dem Eichberg selbst errichtet werden. Seit 1889 lebten ruhigere Patienten und Patientinnen in offenerer Familienpfl ege.20 Alle diese Maßnahmen genügten jedoch nicht, um dauerhaft Raum zu schaffen. Den Versorgungseng- pass verschärfte schließlich die neue Rechtslage in Preußen. Das ‚Gesetz über die besondere Armenlast‘ von 1891 verpfl ichtete den Bezirksverband Wiesbaden zur Versorgung aller mittellosen Kranken und Behinderten mit Anstaltsbetten. Deren Zahl lag nach statistischer Erhebung von 1856 bereits bei 1141.21 Erneu- ter Handlungsbedarf war am Ende des Jahrhunderts gegeben. Daher eröffnete der Bezirksverband Wiesbaden im Jahre 1897 eine zweite große öffentliche Heil- und Pfl egeanstalt, und zwar am nördlichen Ausläufer des Taunus nahe dem Marktfl ecken Weilmünster. Die Pavillonanlage mit acht großen Krankengebäu- den – Baumeister war Max Arendt aus Berlin – bot bis zu 1000 Menschen Unter- kunft.22 An den Planungen für diese psychiatrische Großeinrichtung beteiligte sich die Mainmetropole Frankfurt. Die ehemals freie Reichsstadt besaß mit dem Kastenhospital bereits seit dem 16. Jahrhundert ein Tollhaus.23 Der Gebäudekomplex im Stadtzentrum wurde 1864 durch einen Neubau vor der Stadt ersetzt. Leiter und Planer war zusam- men mit dem Frankfurter Architekten Oskar Pichler der auch als Autor des ‚Struwwelpeter‘ bekannte Irrenarzt Dr. Heinrich Hoffmann (1809–1894). Der

18 Vgl. Peter ELLER: Die Ärzte der Heil- und Pfl egeanstalt Eichberg von der Gründung bis zum Ersten Weltkrieg, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 108–128. 19 Vgl. Landeshauptmann (Hrsg.): 80 Jahre Kommunalverband des Regierungsbezirks Wiesbaden, Wiesbaden 1948. 20 Vgl. Richard SNELL: Landes-Heil- und Pfl ege-Anstalten. Eichberg, in: Karl JACOBI (Hrsg.): Nassau- isches Heimatbuch, Wiesbaden 1913, S. 502. 21 Vgl. Johannes BRESLER (Red.): Deutsche Heil- und Pfl egeanstalten für Psychischkranke, Halle an der Saale 1912, S. 107. 22 Vgl. Peter ROSSBACH: Zur Baugeschichte des Krankenhauses Weilmünster, in: Christina VANJA (Hrsg.): 100 Jahre Krankenhaus Weilmünster. Heilanstalt, Sanatorium, Kliniken, Kassel 1997 (Histo- rische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien 4), S. 61–72; Christina VANJA: „eitel Lust und Freude herrscht wirklich nicht darin“, Die Landes-Heil- und Pfl ege- anstalt Weilmünster 1897–1921, in: ebd., S. 15–60. 23 Vgl. Dagmar BRAUM: Vom Tollhaus zum Kastenhospital. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie in Frankfurt am Main, Hildesheim 1986 (Frankfurter Beiträge zur Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin 5). 608 Christina Vanja

Abb. 2: Direktorengebäude der Heil- und Pfl egeanstalt Weilmünster, Fotografi e 1914 (Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen)

Gebäudekomplex im Korridorstil mit 200 Betten war jedoch angesichts einer rasch anwachsenden Bevölkerung schon 20 Jahre später zu klein. Überdies legte Hoffmanns Nachfolger, Prof. Dr. Emil Sioli (1852–1922), Wert auf eine akade- mische Ausrichtung, so dass chronisch Kranke schon bald in auswärtige pri- vate bzw. konfessionelle Pfl egeeinrichtungen verlegt wurden.24 Diese Rolle eines Asyls sollte trotz der relativ weiten Entfernung von Frankfurt fortan Weilmüns- ter übernehmen (Abb. 2). Die Einrichtung hielt für die Mainmetropole ein Kon- tingent von 220 Plätzen zur Verfügung.25 Für eine spezielle Patientengruppe, nämlich für alkoholabhängige Männer, gründete die Stadt Frankfurt 1901 eine Agrarkolonie bei Köppern am Taunus (heute Ortsteil von Friedrichsdorf), die später zum Sanatorium für Nervenkranke ausgebaut wurde.26

24 Vgl. Christina VANJA: „Architektur für den Wahnsinn“. Hoffmanns neue ‚Anstalt für Irre und Epi- leptische‘ im Spiegel der Psychiatriegeschichte, in: Wolfgang P. CILLESSEN, Jan Willem HUNTEBRINKER (Hrsg.): Heinrich Hoffmann – Peter Struwwel. Ein Frankfurter Leben 1809–1894, Petersberg 2009 (Schriften des Historischen 28; Begleitbuch zur Ausstellung im Historischen Frankfurt), S. 243–257. 25 Vgl. Heilanstalt, Sanatorium, Kliniken (wie Anm. 22). 26 Vgl. Brigitte LEUCHTWEIS-GERLACH: Das Waldkrankenhaus Köppern (1901–1945). Die Geschichte einer psychiatrischen Klinik, Frankfurt am Main 2001 (Mabuse-Verlag Wissenschaft 40); David W. A LFORD: Die Trinkerfürsorgeanstalt Köppern (1901) und die Alkoholikerfrage um 1900, in: Christina VANJA, Helmut SIEFERT (Hrsg.): „In waldig-ländlicher Umgebung …“ Das Waldkranken- haus Köppern: Von der agrikolen Kolonie der Stadt Frankfurt zum Zentrum für Soziale Psychiatrie Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 609

Mit der Gründung der Einrichtung in Weilmünster waren die Unterbrin- gungsprobleme allerdings nur kurzfristig behoben. Schon 1903 setzten Diskus- sionen um die Gründung einer dritten Heil- und Pfl egeanstalt ein. Als zunächst nur vorübergehende Lösung wurde die psychiatrische Nutzung der Bezirksein- richtung in Hadamar gesehen. Das 1816 aufgehobene Franziskanerkloster auf dem Mönchberg nutzte der Staat zunächst von 1828 bis 1872 als nassauische Hebammenlehranstalt.27 1883 wurde in einem Neubau neben dem alten Kon- ventsgebäude – Architekt war erneut Eduard Zais – eine Korrigendenanstalt zur Arbeitserziehung eröffnet. Da die Zahl der Sträfl inge relativ klein war, brachte man diese 1906 im Arbeitshaus Breitenau bei Kassel unter und nutzte fortan und schließlich dauerhaft die Hadamarer Räume mit rund 160 Betten für psychiatri- sche Zwecke.28 Im Jahre 1911 eröffnete der Bezirksverband Wiesbaden schließlich seine vierte Heil- und Pfl egeanstalt südlich der Stadt Herborn an den Ausläufern des Wes- terwaldes (Abb. 3). Die unter Leitung des Berliner Architekten Heino Schmie- den (1835–1913) anspruchsvoll gestaltete Villenkolonie inmitten eines großen Parks bot weitere 800 Plätze für psychisch kranke und behinderte Menschen aus dem Regierungsbezirk.29 Schließlich konnte kurz vor Ausbruch des Ersten Welt- krieges die Frankfurter ‚Anstalt für Irre und Epileptische‘ noch den Status einer psychiatrischen Universitätsklinik erlangen; die Stadt Frankfurt und die neue Bürgeruniversität teilten sich fortan die Trägerschaft.30 Damit waren im Gebiet des ehemaligen Herzogtums Nassau am Ende des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts, wie im übrigen Deutschen Reich auch, die Grundstrukturen der öffentlichen Psychiatrie festgelegt. Abgesehen von Zahl und Größe der Heil- und Pfl egean- stalten hatte sich zur Jahrhundertwende dabei auch das therapeutische Ange- bot deutlich verändert. Die Psychiatrie folgte seit Mitte des 19. Jahrhunderts

Hochtaunus. Kassel 2001 (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quel- len und Studien 7), S. 88–100; Karen NOLTE: „Ich glaubte, die Nerven seien nicht ganz richtig“. Ner- vosität und Nervenkrankheiten. Die Köpperner Nervenheilanstalt in der Zeit des Ersten Weltkrie- ges, in: ebd., 125–149. 27 Vgl. Irmtraut SAHMLAND: Ein Institut für das Leben. Die Hebammenlehranstalt für das Herzog- tum Nassau (1828–1872), in: Uta GEORGE u. a. (Hrsg.): Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – The- rapiezentrum, Marburg 2006 (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien 12), S. 37–55. 28 Vgl. Christina VANJA: Die ‚Corrigendenanstalt‘ zu Hadamar (1883–1906). Besserung durch das Arbeitshaus?, in: Nassauische Annalen 117 (2006), S. 361–379; Volker ROELCKE: Psychiatrie um 1900 und die Gründung der Anstalt Hadamar, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 78–89. 29 Vgl. Bastian ADAM: „Dabei soll jedoch alles Gefängnisartige vermieden werden“. Die Landes-Heil- und Pfl egeanstalt Herborn 1911–1918. Ein Beitrag zur Psychiatriegeschichte im deutschen Kaiser- reich, in: Christina VANJA (Hrsg.): 100 Jahre Psychiatrie in Herborn. Rückblick, Einblick, Ausblick, Marburg 2011 (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Stu- dien 16), S. 38–61; Joachim HAUSBERG: Die Gartenanlage in Herborn, in: ebd. S. 287–300; Oleg PETERS: Der Architekt Heino Schmieden und seine Verdienste um den Bau Berliner Krankenhäuser, in: Historia Hospitalium 27 (2011), S. 297–319. 30 Vgl. SIEFERT (wie Anm. 26), S. 20–35; Albrecht PAETZ: Die Kolonisirung [!] der Geisteskranken in Verbindung mit dem Offen-Thür-System, ihre historische Entwickelung und die Art ihrer Ausfüh- rung auf Rittergut Alt-Scherbitz, Berlin 1898. 610 Christina Vanja

Abb. 3: Modell der Heil- und Pfl egeanstalt Herborn aus dem Jahr 1908, Fotografi e dem naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel der Allgemeinmedizin.31 Der Leiter der Berliner Klinik für Psychiatrie (Teil der ‚Charité‘), Prof. Wilhelm Griesinger, verstand, sehr knapp zusammengefasst, psychische Leiden als „Gehirnkrankheiten“.32 Das erkranke Gehirn benötigte nach Griesingers Kon- zept vor allem Entspannung. Bettruhe wurde daher zur Therapie erster Wahl. Entsprechend wurden große Wachsäle eingerichtet, in denen die Kranken wie in Allgemeinkrankenhäusern längere Zeit liegend zubrachten. Hinzu kamen beru- higende Dauerbäder, leichte Beschäftigung, Spaziergänge und sedativ wirkende Arzneien. Epileptiker wurden mit Brom behandelt. Erst nach der Jahrhundert- wende konnte die Syphilis erfolgreich durch Salvarsan behandelt werden. Damit verringerte sich langfristig die große Zahl von Neurosyphilitikern, die noch im 19. Jahrhundert das Bild der Heil- und Pfl egeanstalten bestimmten.33Aufgrund langjähriger Symptombeobachtungen und Verlaufsanalysen entwickelte seit den späten 1880er Jahren Prof. Emil Kraepelin eine bis heute einfl ussreiche Klas- sifi kation psychischer Leiden, die auch Prognosen begründen konnte.34 Dabei

31 Vgl. Wolfgang EIRUND: Auswirkungen biologischer Krankheitsmodelle auf die psychiatrische Behandlung. Eine medizinhistorische Studie am Beispiel von Krankenakten aus zwei Jahrhunderten, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 94–107 32 Vgl. Kai SAMMET: Über Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland. Wilhelm Griesinger im Streit mit der konservativen Anstaltspsychiatrie 1865–1868, Hamburg 2000. 33 Vgl. Friedgard ROHNERT-KOCH: Zwischen Therapie und Strafe: Die Dauerbäder und das Philipps- hospital, in: Irmtraut SAHMLAND u. a. (Hrsg.): „Haltestation Philippshospital“. Ein psychiatrisches Zentrum. Kontinuität und Wandel 1535–1904–2004. Eine Festschrift zum 500. Geburtstag Philipps von Hessen, Marburg 2004 (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien 10), S. 161–173; Matthias M. WEBER: Die Entwicklung der Psychopharmakolo- gie im Zeitalter der naturwissenschaftlichen Medizin. Ideengeschichte eines psychiatrischen Thera- piesystems, München 1999. 34 Vgl. Eric J. ENGSTROM, Volker ROELCKE (Hrsg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel 2003 (Medizinische Forschung 13). Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 611 erfuhr vor allem die Frage nach Erbanlagen in der Familie schon vor 1900 eine erhöhte Aufmerksamkeit und führte zu ersten Ansätzen der ‚Rassenhygiene‘.35 Als eine erste praktische Konsequenz erfolgte in der Psychiatrie um 1900 die Separierung psychisch kranker Straftäter, die als Patienten und als Kriminelle doppelt erblich belastet schienen. Da ein Gesetz zum ‚Maßregelvollzug‘ erst 1933 verabschiedet werden sollte, handhabten die einzelnen Länder und Provin- zen des Deutschen Reiches die ‚forensische Psychiatrie‘ allerdings recht unter- schiedlich. Traditionell wurden für unzurechnungsfähig befundene Straftäter zusammen mit anderen Pfl eglingen versorgt. Im Regierungsbezirk Wiesbaden ging zumindest die Heil- und Pfl egeanstalt in Weilmünster neue Wege, indem das zuhinterst an der Außenmauer gelegene Haus mit Gefängniszellen Straf- tätern und besonders unruhigen männlichen Patienten vorbehalten blieb. Für die Herborner Einrichtung war ein ähnliches ‚Bewahrungshaus‘ vorgesehen, es wurde aber nicht realisiert.36

4. Konfessionelle und Privatanstalten Seit Mitte des 19. Jahrhunderts engagierten sich neben dem Staat, den Kommu- nen und dem Kommunalverband zunehmend konfessionelle und private Träger im Bereich der Psychiatrie. Im Unterschied zu den großen öffentlichen Anstal- ten mit ihrer gemischten Belegung kümmerten sie sich zumeist um spezielle Hilfsbedürftige.37 Angeregt durch den Eichberger Direktor Dr. Matthias Heuser († 1883) kam es 1886 im nahe gelegenen Wallfahrtsort Kiedrich zur Eröffnung des katholischen St.-Valentinus-Hauses als Hospital für weibliche Fallsüchtige. Die medizinische Betreuung übernahm ein Allgemeinmediziner aus Eltville, die Pfl ege war den ‚Schwestern der armen Dienstmägde Jesu Christi‘ aus dem Mutterhaus Dernbach übertragen. Die neuen Gebäude mit Liegehallen sowie einer großen Gartenanlage mit Spazierwegen gewährleisteten die gebotene Ruhe und Erholung.38 Eine katholische Privatanstalt war ebenfalls das 1893 eröffnete St.-Vincenz-Stift in Aulhausen bei Rüdesheim. Es handelte sich um eine Behin- derteneinrichtung für ‚schwachsinnige‘ Mädchen und Jungen. Leiter war ein

35 Vgl. Hans-Werner SCHMUHL: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhü- tung zur Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘ 1890–1945, Göttingen 1987 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75). 36 Vgl. Christina VANJA: Vom Hospital zum ‚Festen Haus‘. Die institutionelle Unterbringung unzu- rechnungsfähiger Straftäter vom späten Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, in: Andrea T. I. SIX (Hrsg.): Forensische Psychiatrie in Brandenburg. Entwicklungen und Brennpunkte, Berlin-Branden- burg 2008 (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte des Landes Brandenburg 17), S. 11–32. 37 Vgl. Edward SHORTER: Heilanstalten und Sanatorien in privater Trägerschaft 1877–1933, in: Alfons LABISCH, Reinhard SPREE (Hrsg.): ‚Einem jeden Kranken in einem Hospitale sein eigenes Bett‘. Zur Sozialgeschichte des Krankenhauses in Deutschland im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main, New York 1996, S. 320–333. 38 Vgl. St.-Valentinus-Haus in Kiedrich im Rheingau, Hospital für weibliche Fallsüchtige, in: Heil- und Pfl egeanstalten (wie Anm. 1), S. 42–46; St. Valentinus-Krankenhaus, Kiedrich im Rheingau (Hrsg.): 100 Jahre St. Valentinus-Krankenhaus Kiedrich im Rheingau 1886 bis 1986, Eltville am Rhein [1986]. 612 Christina Vanja

Abb. 4: Evangelische Erziehungs- und Pfl egeanstalt Scheuern bei Nassau, Postkarte 1956 (Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen). Die Anlage ist links im Bild zu sehen.

Geistlicher; für Pfl ege und Erziehung waren Schwestern angestellt. Die Kin- der konnten verschiedene Schulklassen besuchen und wurden in Handwerk und Hauswirtschaft ausgebildet.39 Ein privates Erziehungsheim in Hofheim im Taunus (eröffnet 1896) nahm schwachbegabte und nervöse Kinder auf.40 Die größte protestantische Einrichtung befand sich in Scheuern bei Nas- sau an der Lahn (Abb. 4). Ursprünglich (Eröffnung in einem Burgsitz 1850) ein Rettungshaus im Sinne des 1833 eröffneten ‚Rauhen Hauses‘ bei Hamburg von Johann Hinrich Wichern (1808–1881), erfolgte 1870 die Umwandlung zur ‚Evangelischen Erziehungs- und Pfl egeanstalt für Geistesschwache und Idio- ten‘. Die Einrichtung mit zunächst 400 Plätzen befand sich in der Trägerschaft der Inneren Mission. Später kamen Neubauten dazu, welche die Aufnahme von über 800 Jungen und Mädchen ermöglichte. Diese erhielten Schulunterricht, u. a. in zwei ‚Fröbelabteilungen‘, und wurden in der Landwirtschaft sowie in einfa- chen Handwerkszweigen, z. B. im Körbefl echten, angelernt. Eine reguläre Aus- bildung war offensichtlich erst in den 1920er Jahren möglich.41

39 St.-Vinzenz-Stift, Aulhausen, Rheingau, in: Heil- und Pfl egeanstalten (wie Anm. 1), S. 68–70; St. Vincenzstift: 75 Jahre St. Vincenzstift Aulhausen/Rheingau 1893, 3. Juni 1968 [Aulhausen 1968]. 40 Vgl. Christian SCHRAPPER, Dieter SENGLING (Hrsg.): Die Idee der Bildbarkeit. 100 Jahre sozialpäd- agogische Praxis in der der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof, Weinheim, München 1988 (Beiträge zur Geschichte der Sozialpädagogik), S. 63. 41 Vgl. Heilerziehungs- und Pfl egeanstalt Scheuern bei Nassau an der Lahn, in: Heil- und Pfl egean- stalten (wie Anm. 1), S. 58–64; Heilerziehungs- und Pfl egeheime Scheuern (Hrsg.): Skizzen aus der Geschichte der Heilerziehungs- und Pfl egeheime Scheuern 1850–1990, Montabaur [1990]. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 613

Als überkonfessionelle pädagogische Einrichtung konnte 1888 eine Heilerzie- hungsanstalt im Süden der Stadt Idstein im Taunus eröffnet werden. Initiato- ren waren Frankfurter Bürger, die das alte Gut Kalmenhof erwarben.42 Die Ein- richtung in der Trägerschaft des ‚Vereins für die Idiotenanstalt zu Idstein‘ stellte zunächst 250 Plätze für geistig zurückgebliebene Kinder und Jugendliche bereit (Abb. 5). Sie wurden für die damalige Zeit vorbildlich schulisch gefördert und berufl ich ausgebildet. Zum heilpädagogischen Bemühen gehörte bis Ende der 1920er Jahre u. a. eine eigene Spielkultur (Beschäftigung mit ‚Fröbelstäbchen‘, Fußball und Turnen). Neben einem erfahrenen Heilpädagogen wurden ein Fach- arzt und später eine Psychologin, Dr. Else Schwab, angestellt. Für Vorunter- suchungen und spezielle ärztliche Behandlungen stand seit 1927 ein modernes Krankenhaus auf dem Gelände zur Verfügung. Einer der Finanziers war 1888 der jüdische Kaufmann Charles Hallgarten gewesen; entsprechend wurden im Kalmenhof auch jüdische ‚Zöglinge‘ untergebracht, die hier, anders als in den öffentlichen Anstalten, nach ihren religiösen Vorschriften leben konnten.43

Abb. 5: Fußballklub Kickers 1911 vor einem Heimgebäude des Kalmenhofes, Aufnahme 1911

42 Vgl. Martina SCHRAPPER: „… 100 Anfragen zum Theil dringlichster Art …“ Die Gründer der ‚Idioten-Anstalt‘ Kalmenhof in Idstein, in: Die Idee der Bildbarkeit (wie Anm. 40), S. 61–78. 43 Vgl. [N.N.]: Die Heilerziehungsanstalt Calmenhof zu Idstein i. Ts., in: Heil- und Pfl egeanstalten (wie Anm. 1), S. 21–28; Gudrun FLÜGGE u. a.: Ein Amerikaner in Frankfurt am Main. Der Mäzen und Sozialreformer Charles Hallgarten (1836–1908), Frankfurt am Main 2008 (Frankfurter Bibliotheks- schriften 14); Martin WISSKIRCHEN: Idiotenanstalt – Heilerziehungsanstalt – Lazarett. Die Entwick- lung des Kalmenhofes 1888–1945, in: Die Idee der Bildbarkeit (wie Anm. 40), S. 79–126. 614 Christina Vanja

Unter den privaten Heilanstalten für ‚Nervenkranke‘ bot auch das ‚Taunus- Sanatorium Dr. Goldschmidt‘ in Bad Homburg vor der Höhe koschere Mahl- zeiten für Kranke jüdischen Glaubens an. Die Einrichtung war 1911 inmitten eines großen Parks erbaut worden. Anders als in den öffentlichen Heilanstal- ten wurde in diesem Haus zugleich großer Wert auf ‚Psycho-Therapie‘ gelegt, eine Behandlung, welche vermutlich auch die ‚Psychoanalyse‘ nach Siegmund Freund einschloss.44 Electricität und Psychoanalyse sind um 1900 für die Private Heilanstalt Bad Nassau an der Lahn als Therapien explizit genannt. Das Kur- haus am Westrand des Badeortes bot eine luxuriöse, hotelähnliche Atmosphäre für Kurgäste, die nicht nur aus ganz Deutschland, sondern auch aus verschiede- nen westeuropäischen Staaten kamen. Es handelte sich ursprünglich (Gründung 1856) um eine Kaltwasseranstalt für diverse Leiden. Seit 1882 standen ‚Ner- venleiden‘ (Hysterie, Hypochondrie, Neurasthenie, Erschöpfung) im Zentrum der Behandlungen.45 Eine ‚Heilanstalt für Gemüts- und Nervenkranke‘ befand sich seit 1872 etwas abseits des Lahntals im kleinen Ort Katzenelnbogen, dem Stammsitz der gleichnamigen Grafen. Das Sanatorium bot zahlenden Gästen – folgt man der Selbstdarstellung von 1912 – vor allem Erholung, sportliche Betä- tigung, bei großer Unruhe aber auch – wie in den öffentlichen Einrichtungen – Dauerbäder.46 Warme Bäder wurden ebenso in der Privatklinik ‚Hohe Mark‘ bei Oberursel am Osthang des Taunus verabreicht. Die repräsentativen Gebäude hatte in den Jahren 1902 bis 1903 der Frankfurter Architekt Mehs entworfen. ‚Hohe Mark‘ verstand sich als Anstalt sowohl für Nervenkranke als auch für Kranksinnige, denn

Abb. 6: Privatklinik ‚Hohe Mark‘, Hauptgebäude mit Tennisplatz, Aufnahme um 1910

44 Vgl. [N. N.]: Taunus-Sanatorium Dr. Goldschmidt, in: Heil- und Pfl egeanstalten (wie Anm. 1), S. 53–54. 45 Vgl. Thomas MÜLLER: Von Basel nach Bad Nassau. Das Schicksal des Psychoanalytikers Arthur Muthmann (1875–1957), in: Gesnerus 60 (2003), S. 220–234, hier: S. 227. 46 Vgl. [N.N.]: Dr. Dr. Wolffs Heilanstalt für Gemüts- und Nervenkranke Katzenelnbogen, in: Heil- und Pfl egeanstalten (wie Anm. 1), S. 50–52; O. WOLFF: Heilanstalt für Gemüts- und Nervenkranke zu Katzenelnbogen, in: BRESLER (wie Anm. 21), S. 362–365. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 615

Abb. 7: Privatklinik ‚Hohe Mark‘, Sonnenbad, Aufnahme um 1910 ihr Leiter, Dr. Friedländer, ging nicht nur von einem engen Zusammenhang bei- der Leiden aus, sondern erkannte auch, dass Patienten, die sich als Nervenkranke ausgaben, tatsächlich vielfach unter Gemütskrankheiten litten (Abb. 6–7). Neben guter Verpfl egung und Ruhe bot das anspruchsvoll eingerichtete Haus mit großem Garten auch zahlreiche Therapien aus dem Bereich der Naturheil- kunde an. Dazu zählten Luft-, Sand- und Sonnenbäder, zur Hydrotherapie ein Wasserbassin und Duschen im Freien sowie so genannte Lufthütten zur Frei- luftbehandlung.47 Der sportlichen Betätigung dienten Tennis- und Kricketplätze sowie Eislauf-, Ski- und Rodelbahnen. Abends wurde attraktive Unterhaltung auf gehobenem Niveau geboten. 52 offensichtlich betuchte Pfl eglinge wurden 1910 von immerhin 69 Bediensteten versorgt, während die Patienten-Pfl eger- Relation in öffentlichen Heil- und Pfl egeanstalten in der Regel bei 1 zu 30 lag.48 Weitere Sanatorien für Nervenkranke lassen sich den entsprechenden Reisekata- logen der damaligen Zeit entnehmen. Das ‚Reichs-Bäder-Adressbuch‘ von 1926 verwies für Königstein im Taunus auf drei und für Wiesbaden auf sechs weitere Heilanstalten.49

47 Vgl. Robert JÜTTE: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonven- tionellen Therapien von heute, München 1996; Christina VANJA: Natur als Therapeuticum. Psychia- trische Gärten in Hildesheim, in: Hildesheimer Jahrbuch 79 (2007), S. 1–24. 48 Vgl. A. A. FRIEDLÄNDER: Hohe Mark im Taunus (bei Oberursel). Privatklinik für Gemüts- und Nervenkranke, in: Johannes BRESLER (Red.): Deutsche Heil- und Pfl egeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild 1, Halle an der Saale 1910, S. 578–594; zur Pfl egeproblematik in der Psychiatrie vgl. Dorothe FALKENSTEIN: „Ein guter Wärter ist das vorzüglichste Heilmittel …“ Zur Entwicklung der Irrenpfl ege vom Durchgangs- zum Ausbildungsberuf, Frankfurt am Main 2000. 49 Vgl. Reichs-Bäder-Adressbuch. Nach amtlichen Quellen bearbeitet, Berlin 21926. 616 Christina Vanja 5. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Nationalsozialismus Im Bereich der Psychiatrie bildeten die Jahre des Ersten Weltkrieges einen nicht zu überschätzenden Einschnitt. Durch einen relativ großzügig agierenden Für- sorgestaat, allerdings auch im Rahmen eines relativ strikten gesellschaftlichen Ordnungskonzeptes, war im ganzen Deutschen Reich, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern und in Nordamerika, zur Jahrhundertwende ein vielfäl- tiges psychiatrisches Angebot entstanden, das durch konfessionelle Einrichtun- gen und zahlreiche Privatsanatorien ergänzt wurde.50 Auch im Regierungsbezirk Wiesbaden hatte man durch die Gründung von Heil- und Pfl egeanstalten mit fes- ten Einzugsbereichen eine fl ächendeckende Versorgung erreicht; beide christli- chen Kirchen eröffneten große Behinderteneinrichtungen; und schließlich waren vor allem im Taunus und nahe der Mainmetropole etliche Sanatorien für begü- terte Gemüts- und Nervenkranke entstanden. Die Geschichte der privaten Häu- ser, denen die Kriegsjahre zweifellos erhebliche fi nanzielle Verluste brachten, und ebenso der konfessionellen Einrichtungen ist leider bislang kaum erforscht wor- den; es lässt sich nur vermuten, dass ihren Therapie- und Versorgungsangeboten Beschränkungen auferlegt waren. Für die öffentlichen Heil- und Pfl egeanstalten stellten die Kriegsjahre in jedem Fall eine Katastrophe dar. Es ist dem Psychia- ter Dr. Heinz Faulstich zu verdanken, dass wir inzwischen über das erste große Hungersterben in der Psychiatrie, nämlich im Ersten Weltkrieg, relativ gut infor- miert sind. Seine Statistik für die insgesamt 334 preußischen Anstalten, darin ein- geschlossen der Regierungsbezirk Wiesbaden, zeigt einen Anstieg der Patienten- sterblichkeit von 6,6 % im Jahre 1914 auf 19,3 % im Jahre 1917. Danach ging die Zahl der Todesfälle selbst nach Kriegsende nur langsam zurück.51 Die zuneh- mend schlechte Ernährung in den Heil- und Pfl egeanstalten sowie mangelnde Pfl ege nach einschneidendem Personalrückgang durch den Kriegsdienst hatten nicht nur die allgemeine Schwächung der Patienten zur Folge, sie wurden zugleich für Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Spanische Grippe) besonders anfäl- lig. Die Belegung der Heil- und Pfl egeanstalten des Bezirksverbands Wiesbaden halbierte sich bis Kriegsende. Zwar folgte die Unterversorgung der allgemeinen Hungersnot, in den geschlossenen Einrichtungen war die Lage jedoch angesichts fehlender Möglichkeiten zusätzlicher Nahrungsmittelbeschaffung verschärft.52 Auswirkungen hatte das letztlich tolerierte Hungersterben in der Psychiatrie allerdings auch auf das allgemeine Denken. Anknüpfend an sozialdarwinistisches

50 Vgl. Dirk BLASIUS: „Einfache Seelenstörung“. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800–1945, Frankfurt am Main 1994; Edward SHORTER: Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1999; Bernd WALTER: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwi- schen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996 (Landschaftsverband Westfalen-Lippe, For- schungen zur Regionalgeschichte 16); Susanne REGENER: Sorgfältige Überwachung: Patienten-Foto- grafi en aus Weilmünster im Kontext der Ordnungspsychiatrie, in: Heilanstalt, Sanatorium, Kliniken (wie Anm. 22), S. 73–98. 51 Vgl. Heinz FAULSTICH: Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg 1998, S. 66. 52 Vgl. Heinz FAULSTICH: Der Eichberg im Ersten Weltkrieg, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 129–141; ADAM (wie Anm. 29), S. 38–61. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 617

Abb. 8: Nervenheilanstalten Köppern, Postkarte 1930 (Kreisarchiv des Hochtaunuskreises)

Gedankengut des späten 19. Jahr hunderts, demnach ein Volk sich durch die Für- sorge für Kranke und Behinderte selbst schwäche, erschien soziales Engagement nun angesichts der vielen im Krieg gefallenen ‚gesunden‘ jungen Männer gera- dezu als Frevel. Der Psychiater Alfred Hoche (1865–1943) und der Jurist Karl Binding (1841–1920) riefen 1920 zur Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens auf – eine Meinung, die allerdings nicht mehrheitsfähig war.53 Die Republik von Weimar verstand sich als Wohlfahrtsstaat, der Präventiv- medizin und Rehabilitation in das Zentrum seiner Bemühungen stellte. Eine Konsequenz im Regierungsbezirk Wiesbaden war die Umwidmung der Heil- und Pfl egeanstalt Weilmünster zum Volkssanatorium. Nachdem die Psychiatriepati- enten von Weilmünster nach Herborn verlegt worden waren, das nun den Ver- sorgungsauftrag für die Großstadt Frankfurt übernahm, verbrachten seit 1919 erholungsbedürftige Kinder aus den urbanen Zentren ganz Deutschlands ihre Ferien in der großen Anlage.54 Eine weitere moderne Einrichtung bildete das 1920 eröffnete Psychopathinnenheim in Hadamar, das die Erziehung junger, sitt- lich gefährdeter Mädchen übernahm.55 Ein ähnliches Heim bestand kurzfristig für

53 Vgl. Hans Ludwig SIEMEN: Menschen blieben auf der Strecke. Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus, Gütersloh 1987. 54 Vgl. Karen NOLTE: Licht, Luft und Sonne für die Kinder ‚breiter Volkskreise‘ … Das Nassau- ische Kindersanatorium Weilmünster in den 1920er Jahren, in: Heilanstalt, Sanatorium, Kliniken (wie Anm. 22), S. 99–120. 55 Vgl. Gabriele KREMER: „Sittlich sie wieder zu heben…“. Das Psychopathinnenheim Hadamar zwi- schen Psychiatrie und Heilpädagogik, Marburg 2002 (Historische Schriftenreihe des Landeswohl- fahrtsverbandes Hessen, Hochschulschriften 1). 618 Christina Vanja

Jungen in Weilmünster. Diese Einrichtungen überstanden die Jahre der Repub- lik ebenso wenig wie das Frankfurter Nervensanatorium bei Köppern (Abb. 8). Veränderungen in den drei verbliebenen Heil- und Pfl egeanstalten des Bezirks- verbandes (Eichberg, Hadamar und Herborn, Abb. 9) bewirkte Mitte der 1920er Jahre vor allem die bereits erwähnte Einführung der ‚aktiveren Krankenbe- handlung‘ nach Hermann Simon. Alle Einrichtungen legten Wert auf die the- rapeutische Nutzung von Hofgütern, die zum Teil neu angekauft wurden.56 Die Psychiater gaben sich optimistisch und hofften auf diesem Wege eine erhöhte Heilungsquote zu erreichen.57 Das neue Selbstverständnis schlug sich 1928 in der Umbenennung der Bezirkseinrichtungen in Landesheilanstalten nieder. Einen Fortschritt bedeutete gleichzeitig der Ausbau des ambulanten Angebots durch Einrichtung von öffentlichen Beratungsstellen in Wiesbaden und in allen grö- ßeren Amtsstädten des Regierungsbezirks durch den Bezirksverband. In Frank- furt bot das Gesundheitsamt der Stadt entsprechende Dienste an.58 Der Erfolg

Abb. 9: Arbeit in der Küche der Heil- und Pfl egeanstalt Herborn, Fotografi e 1925 (Sammlung Rohrbeck)

56 Vgl. Michael PUTZKE: Zwischen Reform und Vernichtung. Das Hofgut Schnepfenhausen und das Übergangsheim Waldmannshausen, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 108–123; Matthias HAMANN, Herwig GROSS: Der Eichberg in der Zeit der Weimarer Republik, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 141–163. 57 Vgl. Hermann SIMON: Die aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, Berlin und Leipzig 1929. 58 Vgl. Christina VANJA: Arbeitstherapie und Außenberatung im volkswirtschaftlichen Wohlfahrts- staat. Die Landesheilanstalt Herborn in der Zeit der Weimarer Republik, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 72–99; allgemein: Michael KUTZER: Arbeit und psychische Störung in der Geschichte der Medizin, in: Detlev JUNG und Klaus-Dieter THOMANN (Hrsg.): Berufskrankheiten- recht. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart der Berufskrankheiten und des Berufskrankheiten- rechts, Stuttgart 2002, S. 31–44. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 619 aller dieser Bemühungen blieb jedoch relativ. Die Belegung der psychiatrischen Einrichtungen stieg im Gegenteil weiterhin stetig an, da die Patienten entwe- der nicht entlassen werden konnten oder nach ihrer Wiedererkrankung erneut aufgenommen werden mussten. Mit Ausbruch der Wirtschaftskrise nahm nicht nur die Zahl der Hilfsbedürftigen zu, die Träger verloren überdies Haushalts- mittel, um entsprechend investieren zu können. So war bis zur ‚Machtergrei- fung‘ durch die Nationalsozialisten die anfängliche Zuversicht vieler Psychiater bereits verfl ogen.59 Es blieb die Hoffnung auf ‚rassenhygienische‘ Programme, die insbesondere Prof. Dr. Ernst Rüdin (1874–1952) aus Basel, seit 1931 Leiter der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, vertrat. Direktor Dr. Richard Snell (1867–1934) in Herborn lobte schon 1928 dessen Erblichkeits- forschung.60 Über ein Sterilisationsprogramm wurde am Ende der Weimarer Republik diskutiert und auf politischer Ebene verhandelt, ohne dass es jedoch zu einem eindeutigen Votum kam. Neben Teilen der Ärzteschaft entschiedenen sich vor allem evangelische Fürsorgeträger für eugenische Maßnahmen. Bereits im Jahre 1931 plädierte eine von der Inneren Mission veranstaltete ‚Evangeli- schen Fachkonferenz für Eugenik‘ in ‚Hephata‘ bei Treysa für die Unfruchtbar- machung von Menschen mit vererbbaren Geisteskrankheiten aus Nächstenliebe und Verantwortung für die künftige Generation.61 Das ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ gehörte im Juli 1933 zu den ersten NS-Gesetzen überhaupt. Es trat im Januar 1934 in Kraft und hatte zur Folge, dass bis Kriegsausbruch rund 400.000 Menschen, insbesondere Pfl eg- linge in Heil-, Pfl ege- und Erziehungsanstalten, Opfer des Zwangseingriffes wurden.62 Die Landesheilanstalten im Regierungsbezirk Wiesbaden beteiligten sich aktiv an der Umsetzung. Psychiater und Erzieher meldeten ihre Heimbewohner und die Klienten der Beratungsstellen zur Zwangssterilisation an; die Direktoren wurden als Beisitzer am neu geschaffenen Erbgesundheitsobergericht Frankfurt tätig. Die Zentralverwaltung im Wiesbadener Landeshaus trat von Anfang an engagiert für die negative Eugenik ein. Nachdem der Kommunallandtag aufge- löst und der demokratisch gewählte Landeshauptmann, Dr. h. c. Wilhelm Lutsch (1879–nach 1933) abgesetzt worden war, trat mit Wilhelm Traupel (1891–1946) ein NSDAP-Mitglied und SS-Angehöriger an seine Stelle. U. a. wurde auch der Dezernent im Bereich Fürsorgeerziehung, der bekennende Katholik Dr. Fried- rich Stöffl er (1894–1982), ab- und in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.63 Die

59 Vgl. Bernd WALTER: Fürsorgepfl icht und Heilungsanspruch: Die Überforderung der Anstalt? (1870–1930), in: Franz-Werner KERSTING, Karl TEPPE, Bernd WALTER (Hrsg.): Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993, S. 66–97. 60 Vgl. Peter SANDNER: Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalso- zialismus, Gießen 2003 (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Hoch- schulschriften 2), S. 238–262. 61 Vgl. ebd., S. 240. 62 Vgl. Gisela BOCK: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986. 63 Vgl. Otto R ENKHOFF: Nassauische Biographie, Wiesbaden 1992, S. 789; Christina VANJA: Dr. Friedrich STÖFFLER, in: Wiesbaden Lexikon, hrsg. vom Stadtarchiv Wiesbaden (im Druck). 620 Christina Vanja

Leitung des Anstaltsdezernates übernahm 1937 der bisherige Büroleiter Traupels, der fanatische Nationalsozialist und SS-Mann Fritz Bernotat (1890–1951), der bald wegen seiner brutalen Einstellung gegenüber Hilfsbedürftigen und Kran- ken bekannt wurde. Die meisten Verwaltungsfachleute, die bereits in der Zeit der Weimarer Repu- blik angestellt worden waren, ordneten sich dem neuen Regiment unter.64 Wie Peter Sandner in seiner umfassenden Studie zur „Verwaltung des Krankenmor- des“ herausgearbeitet hat, schwächte die faktische Verstaatlichung den Bezirks- verband keineswegs. Dieser punktete vielmehr bald durch Beteiligung am Reichsautobahnbau, an der Schaffung des ‚Flug- und Luftschiffhafens Rhein- Main‘ (Frankfurter Flughafen) sowie durch landeskundliche und denkmalpfl ege- rische Projekte, trat durch lautstarke rassenideologische Verlautbarungen hervor und verstand es schließlich, aus seinen Fürsorgeaufgaben durch radikales Spa- ren Profi t zu ziehen.65 Ein erstes Projekt stellte die Einrichtung eigener Sterilisa- tionsabteilungen in den Landesheilanstalten Eichberg und Herborn dar. Ihnen stand der Chirurg Dr. Wilhelm Stemmler vor, der auch eine Kartei der ‚Erb- kranken‘ für den Regierungsbezirk in Angriff nahm. Die bezirkseigenen Opera- tionsräume hatten den Vorteil, dass keine Sonderausgaben anfi elen und zusätz- lich Einnahmen durch die Nutzung Dritter erzielt werden konnten. Auf dem Eichberg wurden 178 Menschen zwangssterilisiert. Die größere Sterilisationsab- teilung befand sich im verkehrstechnisch günstig gelegenen Herborn, wo über 1000 Menschen zum Teil mit erheblichen Folgen für ihre körperliche und seeli- sche Gesundheit operiert wurden.66 Ein nächstes Projekt des Bezirksverbandes setzte Mitte der 1930er Jahre ein und richtete sich gegen die konfessionellen Träger von Fürsorgeeinrichtun- gen. Sandner hat die perfi den Wege beschrieben, auf denen es den Nationalso- zialisten gelang, diese Einrichtungen entweder in die völlige Abhängigkeit der öffentlichen Hand zu bringen oder sogar (wie in Montabaur) deren Aufl ösung zu erreichen. Im Ergebnis wurden rund 600 Fürsorgeempfänger aus konfessio- nellen Einrichtungen in öffentliche Heilanstalten verlegt. Dort senkte man die Betriebskosten derart durch Überbelegung und schlechtere Standards, dass der Wechsel von den günstigeren Pfl egeplätzen in kirchlichen Institutionen nicht negativ zu Buche schlug.67 In mehreren Fällen brachte der Bezirksverband über- dies andere Einrichtungen unter seine ‚Führung‘: Das katholische St.-Anna- Hospital in Hadamar, das Hypotheken nicht zurückzahlen konnte, wurde prak- tisch von Wiesbaden aus dirigiert.68 Die evangelische Fürsorgeerziehungsanstalt

64 Vgl. SANDNER (wie Anm. 60), S. 127–152. 65 Vgl. ebd., S. 158–168. 66 Vgl. Horst DICKEL: „Die sind doch alle unheilbar“. Zwangssterilisation und Tötung der ‚Minder- wertigen‘ im Rheingau 1934–1945, Wiesbaden 1988 (Materialien zum Unterricht, Sek. I, Heft 77, Projekt ‚Hessen im Nationalsozialismus‘); Jana WEIGEND: Zwangssterilisationen in Herborn, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 126–135. 67 Vgl. SANDNER (wie Anm. 60), S. 185–237. 68 Vgl. Hubert HECKER: Vom St. Anna-Haus zum St, Anna-Krankenhaus (1816–1949), in: Marie- Luise CRONE (Hrsg.): Das St. Anna-Krankenhaus in Hadamar, Hadamar 1998, S. 22–44. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 621

Scheuern, die ebenfalls ein Darlehen erhalten hatte, ergab sich, vertreten durch ihren Direktor Karl Todt (1886–1962), nach längeren Auseinandersetzungen mit Bernotat dem Druck und wurde eng in das nationalsozialistische Krankenmord- programm eingebunden.69 Mit der überkonfessionellen Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein machte der Bezirksverband schon 1933 kurzen Prozess, ließ den Leiter, Emil Spornhauer (1883–1965), unter falschen Vorgaben gefan- gen nehmen und setzte einen Parteigenossen, Ernst Müller (1891–nach 1952), ein. Auch der Kalmenhof wurde Teil des NS-‚Euthanasie‘-Programms.70 Schon vor Beginn des eigentlichen Mordens sorgte der Wiesbadener Anstalts- dezernent dafür, dass sich die Lebensbedingungen auf dem Eichberg, in Hada- mar und Herborn sowie besonders in der seit 1933 wieder für die Psychiatrie genutzten Landesheilanstalt Weilmünster dermaßen verschlechterten, dass die Sterberaten extrem anstiegen.71 Im September 1940 organisierte der Bezirksver- band die Überführung der meisten jüdischen Patienten in die dafür extra ein- gerichteten Sammelanstalten Heppenheim und Gießen (beide Volksstaat Hes- sen). Die Kranken wurden nach einem weiteren Transport Anfang Oktober 1940 im Zuchthaus Brandenburg ermordet.72 Das Ausfüllen der von der Berli- ner ,T4‘-Zentrale73 versandten Meldebögen zur Erfassung der späteren Mordop- fer verlief im Regierungsbezirk Wiesbaden reibungslos. Dr. Friedrich Mennecke (1904–1947), seit 1939 Direktor der Landesheilanstalt Eichberg, gehörte sogar zu den Hauptgutachtern.74 Das Landeshaus unterstützte die Einrichtungen, sofern Personalmangel gemeldet wurde, durch Abordnungen. Alle Direktoren waren zuvor von Bernotat mit Verweis auf einen ‚Erlass des Führers‘, der tatsächlich jedoch keine Rechtsgültigkeit besaß, über die Aktion informiert worden. Sie und

69 Vgl. SANDNER (wie Anm. 60), S. 194–198. 70 Vgl. Dorothea SICK: ‚Euthanasie‘ im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofes in Idstein im Taunus, Frankfurt am Main 1983 (Materialien zur Sozialarbeit und Sozialpolitik); Christian SCHRAPPER, Dieter SENGLING: Sozialpädagogik im Nationalsozialismus. Die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof /Idstein 1888–1988: Ein Beispiel, in: Christina VANJA, Martin VOGT (Red.): Euthana- sie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten, Kassel 1991 (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Kataloge 1), S. 115–122. 71 Vgl. Peter SANDNER: Der Eichberg im Nationalsozialismus. Die Rolle einer Landesheilanstalt zwi- schen Psychiatrie, Gesundheitsverwaltung und Rassenpolitik, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 164–220; DERS.: Die Landesheilanstalt Weilmünster im Nationalsozialismus, in: Heilanstalt, Sana- torium, Kliniken (wie Anm. 22), S. 121–164; Peter SANDNER: Der Bezirksverband Nassau und seine Anstalt Herborn in der Zeit des Nationalsozialismus, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 100–118. 72 Vgl. Monica K INGREEN: Jüdische Kranke als Patienten der Landesheilanstalt Hadamar (1909–1940) und als Opfer der Mordanstalt Hadamar (1941–1945), in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 189–215; DIES.: Jüdische Patienten in der Gießener Anstalt und deren Funktion als ‚Sammelanstalt‘, in: Psychiatrie in Gießen (wie Anm. 72), S. 251–289. 73 ‚T4‘ steht für die Adresse des Planungsbüros in der Berliner Tiergartenstraße 4: Götz ALY (Hrsg.): 1939–1945. Die ‚Euthanasie‘-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987. 74 Vgl. Peter CHROUST: Ärzteschaft und ‚Euthanasie‘. Unter besonderer Berücksichtigung Friedrich Menneckes, in: Euthanasie S. 123–134; DERS.: Friedrich Mennecke: Innenansichten eines Täters, in: Götz ALY, Peter CHROUST u. a. (Hrsg.): Biedermann und Schreibtischtäter. Materialien zur deutschen Täter-Biographie, Berlin 1987 (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 4), S. 67–122. 622 Christina Vanja die ihnen unterstellten Ärzte betreuten die im Januar 1941 beginnenden Verle- gungen nach Hadamar.75 Die Landesheilanstalt Hadamar war 1940 zur Verwendung als Letzte von ins- gesamt sechs Gasmordanstalten im Deutschen Reich durch den Bezirksverband der ‚T4‘-Zentrale übergeben und entsprechend umgebaut worden. Ihr Betrieb wurde auch durch Versetzung von Personal aus den Wiesbadener Landesheil- anstalten ermöglicht. Weiterhin fungierten die Einrichtungen auf dem Eichberg, in Herborn, Weilmünster, Scheuern und Idstein (Kalmenhof) neben einem badi- schen, einem württembergischen und zwei rheinischen Krankenhäusern als so genannte Zwischenanstalten.76 Pfl eglinge aus den angrenzenden Provinzen und Ländern kamen mit Zügen der Deutschen Reichsbahn in diese Sammeleinrich- tungen, um dann ebenso wie die dortigen Stammpatienten in ‚grauen Bussen‘, deren Fenster übertüncht waren, nach Hadamar abtransportiert zu werden. Es waren Frauen, Männer und Kinder, die als arbeitsunfähig und damit als Bal- lastexistenzen galten. Von der Möglichkeit der Ärzte, bereits zur Tötung ausge- wählte Patienten in den ‚Zwischenanstalten‘ mit Hinweis auf ihre Nützlichkeit als Arbeitskräfte zurückzustellen, wurde gerade im Regierungsbezirk Wiesbaden relativ selten Gebrauch gemacht. Über 10.000 Menschen wurden schließlich in der Hadamarer Gaskammer ermordet.77 Davon hatten 2800 Patienten und Pati- entinnen zuvor vielfach viele Jahre lang in Landesheilanstalten des Bezirksver- bandes gelebt. Unter den Opfern befanden sich auch jüdische Kranke sowie Pfl eglinge konfessioneller Einrichtungen und Patienten aus verschiedenen Sana- torien im Taunus, die ab 1937 in öffentliche Anstalten verlegt worden waren. Zu den nicht-öffentlichen Herkunftseinrichtungen der Opfer gehörten entspre- chend dem derzeitigen Forschungsstand das St. Vinzenzstift in Aulhausen, die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof, das Sanatorium Dr. Dr. Wolff in Katzeneln- bogen, die Anstalt der Barmherzigen Brüder in Montabaur und die Heilerzie- hungs- und Pfl egeanstalt Scheuern. Die dominante Diagnose der Getöteten lautete Schizophrenie. Betroffen waren jedoch auch Menschen, die an Epilepsie, schweren Depressionen oder Suchterkrankungen litten. Zu Opfern wurden wei- terhin geistig Behinderte. Unangepasstes Verhalten und fehlende Nachfragen durch die Familien verschlechterten nachweislich die Überlebenschancen der Anstaltsp fl eglinge.78

75 Vgl. Peter SANDNER: Die Landesheilanstalt Hadamar 1933–1945 als Einrichtung des Bezirksver- bandes Nassau (Wiesbaden), in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 136–155. 76 Vgl. Wolfgang Franz WERNER: Die Rheinischen Zwischenanstalten und die Mordanstalt Hadamar, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 216–233. 77 Vgl. Bettina WINTER: Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-‚Euthanasie‘-Anstalt, Kas- sel 1991 (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Kataloge 2); Georg LILIENTHAL: Gaskammer und Überdosis. Die Landesheilanstalt Hadamar als Mordzentrum (1941– 1945), in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 156–175. 78 Vgl. Gerrit HOHENDORF, Maike ROTZOLL, Petra FUCHS, Annette HINZ-WESSELS, Paul RICHTER: Die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Aktion T4 in der Tötungsanstalt Hadamar, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 176–188. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 623

Im August 1941 führte wachsende Unruhe in der Bevölkerung und insbeson- dere bei den Angehörigen zum Abbruch der Gasmorde.79 Dr. Antonius Hilfrich, seit 1930 Bischof in Limburg, wandte sich im August 1941 mit einem Protest- brief wegen der Verletzung des 5. Gebots durch den Krankenmord in Hada- mar an den Reichsminister der Justiz in Berlin. Er folgte dabei den Argumenten der berühmten Predigt des Bischofs von Münster, Graf von Galen (1878–1946), die in Abschrift sogar bei den Frontsoldaten bekannt wurde.80 Auch in Hada- mar selbst wurde trotz Schweigegebot über die ‚Mordkisten‘ (gemeint waren die Busse) gesprochen; eine Einwohnerin wurde festgenommen (Abb. 10).81 Dem Stopp der Gasmorde, die reichsweit über 70.000 Opfer forderten, folgte jedoch kein Ende der Tötungen. Gerade die Provinz Nassau, dies der neue Name seit 1944, blieb eine Hochburg des Krankenmordes. Im Jahre 1941 wur- den auf dem Eichberg und im Kalmenhof so genannte Kinderfachabteilun- gen zur Tötung behinderter Kleinkindern unter ärztlicher Leitung eingerichtet. Die Opfer hatten zumeist Krankenhäuser überwiesen; die Mediziner ließen die Eltern glauben, ihre Kinder erhielten besonders qualifi zierte Hilfe. Gehirne von ermordeten Eichberg-Kinder wurden zu Forschungszwecken der Heidelberger

Abb. 10: Tötungsanstalt Hadamar mit ‚grauem‘ Bus, Fotografi e 1941 (Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen)

79 Vgl. Petra LUTZ: Eine „reichlich einsichtslose Tochter“. Die Angehörigen einer in Hadamar ermor- deten Patientin, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 293–304. 80 Vgl. SANDNER (wie Anm. 60), S. 503; Kurt NOWAK: Kirchlicher Widerstand gegen die ‚Euthanasie‘, in: Euthanasie in Hadamar (wie Anm. 70), S. 157–164. 81 Vgl. WINTER (wie Anm. 77), S. 159–161. 624 Christina Vanja

Universität (Prof. Dr. Carl Schneider) übergeben. Im Kalmenhof wurden auch Heimkinder im ersten Stock des dortigen Krankenhauses umgebracht. Es ist von bis zu 1000 Opfer der nassauischen Kinderfachabteilungen auszugehen.82 In Hadamar baute man die Installationen der Gaskammer noch 1941 ab. Tech- nische Vorrichtungen und ein Teil des Personals transferierte die Berliner Zent- rale in die neu eingerichteten Vernichtungslager des Holocaust im Osten.83 1942 erfolgte die Wiedereröffnung als Landesheilanstalt Hadamar. Hier ebenso wie in den anderen Landesheilanstalten – Herborn wurde allerdings zum Kriegslaza- rett umfunktioniert – übernahmen fortan auf Betreiben des Anstaltsdezernen- ten Bernotat Verwaltungsbeamte die Regie.84 Bis zur Befreiung durch die ame- rikanische Armee im März 1945 ermordete Pfl egepersonal auf Anweisung des Chefarztes Dr. Adolf Wahlmann (1876–1956) weitere ca. 4700 Menschen bei ste- ter Unterversorgung durch Spritzen. Unter den Opfern befanden sich erneut Kranke aus dem ganzen Reichsgebiet, für die in Absprache mit der Berliner ‚T4‘-Zentrale Platz geschaffen wurde. Nochmals rund 1000 Opfer stammten aus den bezirkseigenen Anstalten. Die Kranken waren jeweils nach wenigen Wochen tot. Bernotat selbst engagierte sich schließlich auch für die Einrichtung einer Station für so genannte halbjüdische Fürsorgezöglinge. Nur wenige die- ser mindestens 40 Mädchen und Jungen entkamen dem Mordprogramm.85 Mitte 1944 bot der Bezirksverband dem Frankfurter Gauarbeitsamt Rhein-Main Bet- ten in Hadamar für überwiegend somatisch kranke Zwangsarbeiter an – eine reichsweit wohl singuläre Aktion. Die vermutlich 126 zumeist an Tuberkulose erkrankten Männer, Frauen und Kinder aus Ost- und – in kleinerer Zahl – aus Westeuropa wurden nach kurzer Zeit ebenfalls durch Medikamentenüberdosen ermordet.86

82 Vgl. Hans M AUSBACH, Barbara BROMBERGER: Kinder als Opfer der NS-Medizin, unter besonde- rer Berücksichtigung der Kinderfachabteilung in der Psychiatrie, in: Euthanasie in Hadamar (wie Anm. 70), S. 145–156; Gerrit HOHENDORF, Stephan WEIBEL-SHAH, Volker ROELCKE, Maike ROTZOLL: Die ‚Kinderfachabteilung‘ der Landesheilanstalt Eichberg und ihre Beziehungen zur Forschungs- abteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg unter Carl Schneider, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 221–243; Nicholas STARGARDT: Elterliches Vertrauen in die Anstalten und die Ermordung von Kindern, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 259–266; Andrea BERGER, Thomas OEL- SCHLÄGER: „Ich habe sie eines natürlichen Todes sterben lassen“. Das Krankenhaus im Kalmenhof und die Praxis der nationalsozialistischen Vernichtungsprogramme, in: Die Idee der Bildbarkeit (wie Anm. 40), S. 269–336. 83 Vgl. Lutz R APHAEL: Euthanasie und Judenvernichtung, in: Euthanasie in Hadamar (wie Anm. 70), S. 79–90. 84 Vgl. Georg LILIENTHAL: Personal einer Tötungsanstalt. Acht biographische Skizzen, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 267–292; Peter SANDNER: Von der Illusion der Mediziner zu den Maßnahmen der Manager. Der Bezirk Wiesbaden als Beispiel für die rassenhygienische Kehrtwende 1933–1939, in: Maike ROTZOLL, Gerrit HOHENDORF u. a. (Hrsg.): Die nationalsozialistische ‚Euthanasie‘-Aktion ‚T4‘ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2009, S. 56–65. 85 Vgl. K INGREEN (wie Anm. 72), S. 210–211; SANDNER (wie Anm. 60), S. 703. 86 Vgl. Uta GEORGE: „Erholte sich nicht mehr. Heute exitus an Marasmus senilis“. Die Opfer der Jahre 1942–1945 in Hadamar, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 234–258; WINTER (wie Anm. 77), S. 144–148. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 625

Tötungseinrichtungen waren auch die Landesheilanstalten Eichberg und Weil- münster mit über 4000 Opfern. Hier starben die meisten Menschen durch Ver- hungern in überbelegten geschlossenen Bettensälen. Tödliche Spritzen sind für die Anstalt auf dem Eichberg nachgewiesen und können für Weilmünster vermutet werden. In allen Einrichtungen wurden die Toten in Massengräbern verscharrt. Die Angehörigen erhielten, wie bereits in der Gasmordphase, Mel- dungen mit erfundenen Angaben über die Todesursache.87 Als der katholische Pfarrer in Weilmünster, Walter Adlhoch, im Jahre 1943 die Tötungen in seiner Predigt ansprach, wurde die dortige Kapelle von Bernotat für den Gottesdienst geschlossen; Adlhoch durfte nur noch Einzelseelsorge betreiben.88 Schließlich prellte man bei Abrechnung der Pfl egekosten in allen Landesheilanstalten des Regierungsbezirks die Pfl egekassen, indem zumeist spätere Todesdaten einge- tragen wurden. Die Fürsorgeämter gingen allerdings den Todesmeldungen nicht nach, da sie insgesamt von der sinkenden Zahl der Pfl eglinge profi tierten.89 Die Nervenheilstätte in Köppern befand sich zu Beginn des nationalsozialis- tischen Regimes nicht mehr in städtischer Trägerschaft. Nach dem Bau eines neuen Klinikums in Frankfurt-Niederrad überließ die Stadt 1934 die Anlage als ‚Alten- und Siechenheim‘ dem Frankfurter Hospital zum Heiligen Geist. Als nach Kriegsbeginn die Gebäude als Lazaretträume angefordert wurden, verlegte man die alten, gebrechlichen Menschen. Viele erlagen den Strapazen oder wur- den in den Bezirkseinrichtungen ermordet. In den letzten Kriegsjahren ließ die Reichsregierung im Rahmen der ‚Aktion Brandt‘, benannt nach Hitlers Begleit- arzt Dr. Karl Brandt, Köppern als Ausweichstation für Frankfurt zum Voll- krankenhaus ausbauen. Dieses erhielt den Namen ‚Krankenhaus-Sonderanlage Aktion Brandt in Köppern im Taunus‘. Dass weitere im Krankenhaus verblie- bene ‚Sieche‘ durch Spritzen ermordet wurde, kann aus indirekten Hinweisen gefolgert werden.90 Insgesamt wurden im Regierungsbezirk Wiesbaden zwischen 1939 und 1945, so die vorläufi ge Berechnung von Sandner, mindestens 20.000 Menschen ermor- det. Die Forschungen sind zur Zeit noch nicht abgeschlossen. Die geschickte Verschleierung der Morde durch die Verantwortlichen und die Vernichtung ein- schlägiger Akten vor und nach Kriegsende werden letzte Gewissheit über die Ausmaße der Verbrechen allerdings kaum zulassen. Sicher ist nur, dass der Wies- badener Bezirksverband sich in einem Maße am nationalsozialistischen Kran- kenmord beteiligte, das ganz offensichtlich die Verbrechen anderer Fürsorgeträ- ger im Deutschen Reich deutlich übertraf.

87 Vgl. SANDNER, Eichberg (wie Anm. 71), S. 164–220; SANDNER, Weilmünster (wie Anm. 71), S. 121–164. 88 Vgl. SANDNER, Weilmünster (wie Anm. 71), S. 151f. 89 Zum Frankfurter Fürsorgeamt vgl. SANDNER (wie Anm. 60), S. 701. 90 Vgl. Susanne HAHN: Köppern als Alten- und Siechenheim in der Trägerschaft des Hospitals zum Heiligen Geist in Frankfurt am Main seit 1934 und die ‚Aktion Brandt‘, in: In waldig-ländlicher Umgebung (wie Anm. 30), S. 196–219. 626 Christina Vanja 6. Von den Nachkriegsjahren zur modernen Psychiatrie Bereits im Herbst des Jahres 1945 fand in Frankfurt ein erster ‚Euthanasie‘- Prozess statt. Es handelte sich um ein mit den Nürnberger Prozessen verbun- denes Verfahren vor einem amerikanische Gericht. Gegenstand der Verhand- lungen war zunächst die Ermordung von Ausländern in Hadamar. Am Ende wurden der Hadamarer Verwaltungsleiter Alfons Klein (1909–1946) und ein Pfl eger zum Tode verurteilt und hingerichtet. Weitere Hadamarer Bedienstete, darunter der ärztliche Leiter, wurden in diesem Verfahren und erneut vor einem deutschen Gericht in den Jahren 1946/47 angeklagt und nur zu Zuchthausstrafen verurteilt.91 Ähnlich glimpfl ich kamen im Eichberg- bzw. im Kalmenhof-Prozess die Verantwortlichen der ‚Kinderfachabteilungen‘ davon. Alle Gefangenen wur- den im Laufe der 1950er Jahre durch gerichtliche Entscheidung oder Amnestie der hessischen Landesregierung vorzeitig entlassen. Für einzelne ‚beliebte‘ Ärzte hatte die Bevölkerung in öffentlichen Protestschreiben sogar völlige Strafver- schonung und Rehabilitierung gefordert.92 Weitere Angeklagte, darunter der ‚T4‘-Gutachter und SS-Arzt Mennecke, entgingen der Strafe durch Suizid. Dem Hauptverantwortlichen, Fritz Bernotat, gelang es, unter falschem Namen mit seiner Frau in Neuhof bei Fulda bis zu seinem Tod 1951 unterzutauchen.93 Für Weilmünster blieb es bei Voruntersuchungen; die dortigen Verbrechen wurden erst 1997 im Rahmen des 100jährigen Jubiläums der Klinik erkannt.94 Auch Her- born wurde wegen der Umwidmung zum Lazarett im Jahre 1941 nicht als aktiv beteiligt eingestuft; der Herborner Chefarzt Dr. Paul Schiese konnte sogar bis 1947 im Amt bleiben.95 Das Gros der Mitarbeiter im Landeshaus und in den Ein- richtungen kam ohne Strafe davon. Die Zwangssterilisationen wurden insbeson- dere nicht als Verbrechen angesehen; über den Krankenmord durch – geschickt verschleierte – Hungerkuren und sonstige Mangelversorgung waren die Besat- zungsmächte nicht informiert.96 Die meisten Entlassungen wurden in Wiesba- den vorgenommen, wo der Bezirksverband zugleich das Landeshaus (heute: Hessisches Wirtschaftsministerium) verlassen musste. Vertreter demokratischer Parteien übernahmen unter amerikanischer Oberhoheit, dann unter Aufsicht des Regierungspräsidenten, ihre Stellen. Dr. Stöffl er kehrte 1947 zu seinem früheren

91 Vgl. Matthias M EUSCH: Die strafrechtliche Verfolgung der Hadamarer ‚Euthanasie‘-Morde, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 305–326. 92 Vgl. Euthanasie in Hadamar (wie Anm. 70), S. 242; auch Ernst KLEE: Was sie taten – was sie wur- den, Frankfurt am Main 1986, S. 203–206 und S. 297. 93 Vgl. Heinz BOBERACH: Die strafrechtliche Verfolgung der Ermordung von Patienten in nassau- ischen Heil- und Pfl egeanstalten nach 1945, in: Euthanasie in Hadamar (wie Anm. 70), S. 165–174. 94 Seit 2003 erinnert ein Gedenkfriedhof an die verhungerten Opfer: Landeswohlfahrtsverband Hessen: Erinnern und Gedenken. Einrichtungen des LWV Hessen und der Vitos GmbH, Kassel 2010, S. 12f. 95 Vgl. Kornelia GRUNDMANN: „von den Vorgängen in Hadamar hatten wir keine offi zielle Kenntnis“. Der Neuanfang in der Nachkriegszeit und die Entnazifi zierung des Herborner Anstaltspersonals, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 169–188. 96 Vgl. Klaus DÖRNER: Die Entschädigung für die Opfer von Zwangssterilisationen und Euthana- sie, in: Euthanasie in Hadamar (wie Anm. 70), S. 175–182; M. HAMM (Hrsg.): Lebensunwert – zer- störte Leben. Zwangssterilisation und ‚Euthanasie‘, Frankfurt am Main 2005 (Verlag für Akademi- sche Schriften). Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 627

Arbeitgeber zurück und übernahm die schwere Aufgabe der Anstaltsverwal- tung.97 Die Psychiatrie war in jeder Hinsicht moralisch diskreditiert; die Kran- kengebäude hatte der Bezirksverband bereits seit Jahren nicht mehr gepfl egt, und es fehlte eine angemessene medizinische Infrastruktur. Die Kranken litten noch über das Ende der NS-Zeit hinaus an Unterernährung und starben an Infekti- onskrankheiten. Der neue (und alte) Eichberger Direktor Dr. Wilhelm Hinsen – er hatte sich wegen der nationalsozialistischen Ausrichtung der Anstalt ver- setzen lassen – veranlasste angesichts eines Untergewichts von durchschnittlich 30 % den hessischen Minister für Ernährung und Landwirtschaft zu einem ‚Antrag auf Rationserhöhung für die Patienten der Landesheilanstalten von Grosshessen‘ bei der amerikanischen Militärregierung, hatte aber nur kurzfris- tig Erfolg.98 Dr. Stöffl er versuchte von Wiesbaden aus nicht nur möglichst rasch den weiteren Verfall der Anstalten zu verhindern, er ging auch offensiv mit der Vergangenheit um.99 Der promovierter Altphilologe publizierte selbst über die NS-‚Euthanasie‘-Verbrechen in Hessen und gab ein erstes Denkmal für die Opfer in Auftrag. Das Relief im Eingangsbereich der Landesheilanstalt Hada- mar wurde im Frühjahr 1953 eingeweiht (Abb. 11).100 Die konfessionellen Einrichtungen konnten in diesen Jahren ihre Eigenstän- digkeit wieder erlangen, auch wenn sie durch ihre Mittäterschaft gebrandmarkt blieben. Der überkonfessionelle Kalmenhof als Heilerziehungseinrichtung sollte jedoch nicht reprivatisiert werden, sondern ging 1948 endgültig in die Träger- schaft des nun demokratischen Bezirksverbandes über.101 In den Jahren des so genannten Wirtschaftswunders trat die Erinnerung an die Verbrechen in den Krankenanstalten immer mehr zurück. Weder wurde das Geschehen weiter erforscht, noch pfl egte man die übernommenen Registraturen mit Verwaltungsvorgängen, Sterbebüchern und Krankenakten der Ermordeten. Bis in die frühen 1980er Jahren konnten entsprechende Dokumente auf bürokra- tischem Wege vernichtet werden.102

97 Vgl. Friedrich STÖFFLER: Die Psychiatrischen Krankenhäuser des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Kassel 1957. 98 Vgl. Heinz FAULSTICH: Der Eichberg in der Nachkriegszeit 1945–1949, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 244–258; Franz-Werner KERSTING: Die Landesheilanstalt Hadamar in den ersten Nach- kriegsjahren, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 327–343. 99 Vgl. Franz-Werner K ERSTING (Hrsg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003 (Forschungen zur Regionalgeschichte 46). 100 Vgl. Friedrich STÖFFLER: Die ‚Euthanasie‘ und die Haltung der Bischöfe im hessischen Raum 1940–1945, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 13 (1961), S. 301–325. 101 Vgl. Daniela BAKOS: Vom Auffanglager zum ‚Jugendheim besonderer Art‘. Der Kalmenhof 1945– 1968, in: Die Idee der Bildbarkeit (wie Anm. 40), S. 127–179. 102 So sind die Krankenakten der Tötungsanstalten Weilmünster und Kalmenhof mit wenigen Aus- nahmen vernichtet worden; die Akten des Psychiatrischen Krankenhauses Eichberg aus der NS- Zeit wurden dagegen 1972 dem Hessischen Hauptstaatsarchiv als Depositum überlassen, wo sie auch heute der Forschung zur Verfügung stehen, vgl. Klaus EILER: Der Aktenbestand der Klinik Eichberg im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 294–298. 628 Christina Vanja

Abb. 11: Relief zum Gedächtnis für die ermordeten Patientinnen und Patienten in Hadamar, Fotografi e 1991 (Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen)

Im Jahre 1953 nahm der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) seine Arbeit auf. Nach längeren parlamentarischen Diskussionen zur Frage, ob die Tradition der preußischen Bezirksverbände im neuen Bundesland Hessen fortgeführt wer- den sollte, entschied sich der Landtag für einen Kompromiss: Während Wirt- schaftsförderung und Kultur auf das Land, die Kommunen und Körperschaf- ten eigenen Rechts übergingen, bündelte man alle überörtlichen Sozialaufgaben bei einem neuen hessenweiten Kommunalverband. Dieser erhielt seinen Sitz in Kassel, unterhält aber bis heute Zweigverwaltungen (bzw. Regionalverwaltun- gen) in Darmstadt und Wiesbaden.103 Rund 40 soziale Einrichtungen gingen in

103 Vgl. Christina VANJA: Gründung und Aufbaujahre des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, in: Jens FLEMMING, Christina VANJA (Hrsg.): „Dieses Haus ist gebaute Demokratie“. Das Ständehaus in Kassel und seine parlamentarische Tradition, Kassel 2007 (Historische Schriftenreihe des Landes- wohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien 13), S. 103–112; die Aufgabe der Zweig- bzw. Regionalverwaltungen war und ist es, vor Ort in der Einzelfallbearbeitung klientennaher Ansprech- partner zu sein. Die Verwaltung in Wiesbaden ist dabei für den Regierungsbezirk Wiesbaden und für Stadt und Landkreis Gießen zuständig, Christina VANJA: Landeswohlfahrtsverband Hessen – Regio- nalverwaltung Wiesbaden, in: Wiesbaden Lexikon (wie Anm. 63). Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 629 die Trägerschaft des LWV über, darunter aus dem Wiesbadener Bezirk die Lan- desheilanstalten Eichberg, Hadamar und Herborn sowie die Heilerziehungsan- stalt Kalmenhof. Weilmünster war angesichts des erneuten Patientenrückgangs durch Krankenmord und Hungersterben noch einmal in ein Kindersanatorium umgewidmet worden.104 Im Hinblick auf den enormen Anstieg der Krankenzahl in den 1950er und 1960er Jahren wurde die Einrichtung allerdings bereits 1963 wieder psychiatrischen Zwecken zugeführt. In den öffentlichen psychiatrischen Einrichtungen des Regierungsbezirks Wiesbaden wurden 1954 in vier Landes- heilanstalten 2598 Betten belegt, 1969 waren es bereits 3593; danach sank die Zahl allmählich auf im Jahre 1977 2999 belegte Betten. Inzwischen handelte es sich um fünf Psychiatrische Krankenhäuser im Bereich Wiesbadens, denn der LWV hatte 1973 das Allgemeinkrankenhaus in Köppern mit 400 Betten von der Stadt Frankfurt übernommen.105 Bereits 1957 waren alle Landesheilanstalten in Psychiatrische Krankenhäuser umgewandelt worden; aus den Heilanstalten sollten Fachkliniken werden. Den Hintergrund bildete die zunehmende Medikalisierung der Versorgung nach Ein- führung von Psychopharmaka (Megaphen, Trofanil) seit 1952/53. Diese Wende ermöglichte es zugleich, die Behandlungen mit Elektroschock zu beenden. Das Thema der Schockbehandlungen sowie der für die Nachkriegsjahre ebenfalls bezeichnenden Lobotomie (operative Eingriffe im Gehirn) wäre allerdings noch zu erforschen.106 Dennoch ging die Belegung der Krankenbetten im Wiesba- dener Bereich, wie allgemein in Deutschland, nur allmählich zurück. Baulich wurde bereits in den Jahren 1953 bis 1962 die zu dieser Zeit bedeutende Summe von insgesamt 38 Millionen DM in die Krankenhäuser der Region Wiesbaden investiert; weitere 300 Millionen kosteten moderne Neubauten für Therapie und Diagnostik zwischen 1969 und 1978. Dabei wurde insbesondere die bis dahin vergleichsweise kleine Einrichtung in Hadamar durch ein großes Krankenhaus- areal, u. a. mit einer Klinik zur Suchtkrankenbehandlung, ergänzt.107 Parallel erfolgte die Modernisierung der Krankenpfl ege unter Einbeziehung von Psy- chologen, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern, Krankengymnasten und Ergo-

104 Vgl. Karen NOLTE, Christina VANJA: Schwarzer Falke und Wilder Büffel kennen kein Heimweh? Das Kindersanatorium Weilmünster 1946–1962, in: Heilanstalt, Sanatorium, Kliniken (wie Anm. 22), S. 173–179. 105 Vorläufi g genutzt wurden die Räumlichkeiten bereits seit den 1960er Jahren: 25 Jahre Sozialarbeit in Hessen. Landeswohlfahrtsverband Hessen 1953–1978, Kassel 1978, S. 48. 106 Vgl. Hubert R IEGER: Gedanken zu Vergangenheit und Zukunft. 100 Jahre Krankenhaus Weil- münster, in: Heilanstalt, Sanatorium, Kliniken (wie Anm. 22), S. 217–231; Wolfgang EIRUND, Steffen HAAS: Vom Irrenhaus zur Klinik für Psychiatrie … und zurück?!, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 265–293; Rolf KRÄMER: Geschichte der Psychiatrie in Herborn seit 1945. Ein Rückblick aus ärztli- cher Sicht, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 240–250; für andere Regionen gut erforscht durch Gerda ENGELBRACHT: Von der Nervenklinik zum Zentralkrankenhaus Bremen-Ost. Bremer Psychiatriegeschichte 1945–1977, Bremen 2004; Sabine HANRATH: Zwischen ‚Euthanasie‘ und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg: Ein deutsch-deutscher Vergleich (1945–1964), Münster 2002; Manfred KRETSCHMER: Die Weissenau. Psychiatrisches Kran- kenhaus von 1945 bis 1990, Zwiefalten 2002; Marietta MEIER u. a.: Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870–1970, Zürich 2007. 107 Vgl. 25 Jahre Sozialarbeit in Hessen (wie Anm. 105), S. 46 und S. 48. 630 Christina Vanja therapeuten. Verbandseigene Krankenpfl egeschulen, ein LWV-Fortbildungszen- trum ‚Mammolshöhe‘ bei Mammolshain im Taunus (heute mit Sitz in Gießen) und neuerdings eine ‚Schule für Gesundheitsberufe Mittelhessen‘ in Herborn ermöglichten eine wachsende Professionalisierung.108 Die Öffnung der bis dahin weitgehend geschlossenen Anstalten gelang jedoch letztlich erst im Zusammen- hang mit der Psychiatrieênquete des Deutschen Bundestages 1975.109 Diese ging einher mit einer sorgfältige Differenzierung der Abteilungen und der Gründung von Spezialeinrichtungen. So entstanden seit Ende der 1960er Jahre eigene Krankenhäuser für die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Standort war zunächst (1969) ein Gebäude des Kalmenhofes in Idstein; diese Einrichtung wurde 1974 durch die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Rheinhöhe bei Eltville abgelöst. Eine weitere Fachklinik für junge Menschen, die Klinik Reh- bergpark in Herborn, konnte im Folgejahr eingeweiht werden.110 Zu erwähnen ist weiterhin für Weilmünster der Zusammenschluss der Psychiatrie mit eige- nen Einrichtungen für Neurologie (u. a. zur Behandlung von Epileptikern und Demenzkranken) und Stimm- und Spracherkrankungen als Klinikum.111 Der nichtstationären Versorgung dienen bis heute Institutsambulanzen, Tages- und Nachtkliniken und neuerdings Begleitende Psychiatrische Dienste. Zur Modell- einrichtung wurde der 1976 als sozialpsychiatrischer Funktionsbereich des Wald- krankenhauses in Köppern eröffnete ‚Bamberger Hof‘ in Frankfurt am Main.112 Im Unterschied zum Engagement für psychisch Kranke dauerte es noch bis zum Ende der 1980er Jahre, um auch für behinderte Anstaltspfl eglinge neue Lebens- möglichkeiten abseits des Krankenhauses zu schaffen. Heilpädagogische Heime und betreute Wohngruppen stellen seitdem zur Gesellschaft hin offene Versor- gungsangebote dar.113 Einen grundsätzlichen Wandel hat nach 1973 die mit (im

108 Vgl. Jutta SCHMELTING, Astrid BRIEHLE: Von der Heil- und Pfl egeanstalt Hadamar zum Zentrum für Soziale Psychiatrie. Entwicklung des Zentrums für Soziale Psychiatrie Hadamar in Trägerschaft des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen seit 1953, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 355–362; Christiane BEINROTH: Pfl ege in der Psychiatrie. Vom Irrenpfl eger zur Pfl egewissenschaft, in: 100 Jahre Psychia- trie in Herborn (wie Anm. 29), S. 259–269. 109 Vgl. Michael KNOLL: Die Geschichte der Psychiatriereform und die Zukunft psychiatrischer Fach- krankenhäuser, in: Wissen und irren (wie Anm. 12), S. 259–264; Manfred BAUER, Renate ENGFER: Psychiatriereform und Enthospitalisierung in der Bundesrepublik. Ein Überblick, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 344–354. 110 Vgl. 25 Jahre Sozialarbeit in Hessen (wie Anm. 105), S. 58; in Herborn gab es bereits seit 1963 eine Vorgängereinrichtung, vgl. Herbert SEITZ-STROH, Matthias WILDERMUTH: Anmerkungen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vitos Klinik Rehberg für Kinder und Jugendliche, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 251–258. 111 Vgl. Claus HORNIG: Die Neurologische Klinik, in: Heilanstalt, Sanatorium, Kliniken (wie Anm. 22), S. 203–208; Christel SHAFIE: Klinik für Stimm- und Spracherkrankungen, in: ebd., S. 209–212. 112 Vgl. Artur DIETHELM: 25 Jahre Bamberger Hof. Von der Außenstelle zur Klinik ohne (stationäre) Betten, in: In waldig-ländlicher Umgebung (wie Anm. 30), S. 283–291; vgl. auch Heinz LEISING: Ent- wicklung in der Psychiatrie der letzten 20 Jahre am Beispiel der Tagesklinik des Zentrums für Sozi- ale Psychiatrie Am Mönchberg in Hadamar, in: Hadamar (wie Anm. 27), S. 383–390; Karin BELLOF, Hubert HOF: Geschichte der Begleitenden Psychiatrischen Dienste (BPD) der Vitos Herborn gemein- nützige GmbH, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 276–278. 113 Vgl. Hans-Jürgen WALTER: Das ‚Walter-Adlhoch-Heim‘. Heilpädagogische Einrichtung Weilmün- ster, in: Heilanstalt, Sanatorium, Kliniken (wie Anm. 22), S. 191–198; Michael FROWEIN, Helmut Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 631

Jahre 1962) 800 Plätzen ausgestattete Heilerziehungseinrichtung Kalmenhof in Idstein erfahren. Aus der Großanstalt wurden einzelne überschaubare Heime mit modernen heilpädagogischen Standards geschaffen, nachdem die Einrich- tung mit nachvollziehbaren Argumenten zum Angriffsziel der so genannten Heimkampagne geworden war. Die zugeordnete Max-Kirmsse-Schule mit ent- sprechend qualifi zierten Sonderschullehrern bemüht sich überdies um eine opti- male Förderung der Kinder.114 Die Kehrseite zunehmender Öffnung psychia- trischer und heilpädagogischer Angebote ist bereits seit dem 19. Jahrhundert die Separierung der forensischen Psychiatrie. Auch diese hat sich insbesondere seit den 1970er Jahren weiterentwickelt. Im Regierungsbezirk Wiesbaden unter- stützt die Spezialklinik in Hadamar drogenabhängige Straftäter; auf dem Eich- berg konnte 2010 eine Klinik zur Behandlung erwachsener chronisch psychisch kranker und geistig behinderter Rechtsbrecher eröffnet werden.115 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehen sich die großen öffentlichen Kranken- und Behinderteneinrichtungen in Hessen neuen Anforderungen gegenüberge- stellt. Bereits seit den 1980er Jahren wächst ihre Selbstständigkeit gegenüber dem Träger. Drei ‚Zentren für soziale Psychiatrie‘ im Regierungsbezirk Wies- baden, nämlich Herborn, Köppern und Weilmünster, gehörten zu den ersten Krankenhäusern des LWV, die mit gemeinnütziger Zielsetzung die Betriebs- form einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) erprobten. Heute bilden elf Einrichtungen, darunter der Eichberg im Rheingau, Hadamar, Her- born, Köppern, Weilmünster und der Kalmenhof Tochtergesellschaften des Vitos (Namensbildung aus Vita und Bios = Leben) Konzerns. Alleingesellschaf- ter ist der LWV.116 Er erhofft sich von der neuen Unternehmensform der Holding die größtmögliche Flexibilität für seine psychiatrischen und sonstigen sozialen Angebote in Hessen.117

7. Resümee Im Jahre 2015 wird Nassau, das heute u. a. im Bundesland Hessen aufgegan- gen ist, aber dennoch seine besonderen Traditionen pfl egt, bereits auf eine fast 200jährige Psychiatriegeschichte zurückblicken können. Eine der ersten psy- chiatrischen Heilanstalten Deutschlands überhaupt wurde im Jahre 1815 auf Betreiben aufgeklärter Bürger durch die Herzöge von Nassau im aufgehobe- nen Zisterzienserkloster Eberbach eingerichtet. Daraus ging 1849 die besonders

C ORDES: Geschichte der Vitos Heilpädagogischen Einrichtung Herborn, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 270–275; Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hrsg.): Betreutes Wohnen für behinderte Menschen in Hessen, Kassel 1996. 114 Vgl. Christian SCHRAPPER: Vom Heilerziehungsheim zum Sozialpädagogischen Zentrum. Der Kalmenhof seit 1998, in: Die Idee der Bildbarkeit (wie Anm. 40), S. 193–229. 115 Vgl. Ralf WOLF: Zur Entwicklung des Maßregelvollzugs in Hadamar, in: Hadamar (wie Anm. 29), S. 375–382. 116 Vgl. Martina GARG: Von der Anstalt zum Gesundheitsunternehmen, in: 100 Jahre Psychiatrie in Herborn (wie Anm. 29), S. 301–306. 117 Vgl. auch die Homepage www.vitos-konzern.de. 632 Christina Vanja

Abb. 12: Blick in die heute offene Anlage von Vitos Herborn, 2011 schön gelegene und für ihre Zeit fortschrittliche Heil- und Pfl egeanstalt Eich- berg hervor. In der zweiten Jahrhunderthälfte kam es zu einem grundlegen- den Wandel. Es bildete sich ein enges Netz psychiatrischer Institutionen mit Anstaltsplätzen für alle armen Hilfsbedürftigen. Dieses wurde vom preußi- schen Bezirksverband Wiesbaden dominiert und durch konfessionelle sowie pri- vate Angebote ergänzt. Der Erste Weltkrieg beendete das traditionelle Fürsor- gekonzept. Nach einer ersten Katastrophe des Hungersterbens zielte die neue Wohlfahrtspolitik der Weimarer Republik auf die Förderung der Arbeitsfähig- keit. Unter nationalsozialistischen Vorzeichen entwickelten sich im Umkehr- schluss Behinderung und Arbeitsunfähigkeit zu Kriterien der Negativauslese. Über 20.000 hilfl ose Menschen wurden allein im Regierungsbezirk Wiesbaden ermordet. Nach 1945 trug die Psychiatrie schwer an diesem Erbe. Erst in den 1970er Jahren kam es in ganz Deutschland zu einer umfassenden Psychiatriere- form, zur Öffnung der ‚Anstalten‘ und zur Entwicklung eines differenzierten, auch ambulanten fachmedizinischen sowie heilpädagogischen Angebotes. Heute sind die ehemals nassauischen Einrichtungen Teil einer modernen Holding; als solche können die ehemaligen Staats- und Provinzialanstalten nun erstmals auch mit denjenigen privaten Krankenhäusern und konfessionellen Heimen frei kon- kurrieren, die ehemals nur ergänzende Aufgaben übernehmen sollten. Letztlich werden die Patienten entscheiden können, welches Angebot sie jeweils am bes- ten fördern kann. Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern 633

Abbildungsnachweise Abb. 1–2, 4, 9–12 Landeswohlfahrtsverband Hessen; Abb. 3, 6, 7 Johannes Bresler (Hrsg.): Deutsche Heil- und Pfl egeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild, Halle an der Saale 1910; Abb. 5 Anstalt Idstein 1888–1913, Idstein 1913; Abb. 8 Kreisarchiv des Hochtaunuskreises