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KLEINE GESELLSCHAFT

EIN PORTRAIT 1

BRANDENBURG / / AMT 2

U2

Luisenhof - ein alter Hohlweg Mit Menschen waren wir zusammen und wollten keine Schubladen aufmachen. Zugegeben, neugierig waren wir, was drin und dran ist.

1. Ein Portrait 7. Re g i o n a l e I d e n ti t ä t

2 . D ar s tellung in Z ahlen 8. Kurzdarstellungen

3. Erste Eindrücke Das Obdachlosenheim in Mittenwalde 4. Die Region in und um Gerswalde Das Gut Temmen

5. Amtsangelegenheiten Die Uckermark Tagespflege in Gerswalde Mobilität und Chancengleichheit Die Petersdorfer und die Frauen vom Heimatverein Öffentliche und versorgende Ringenwalde Einrichtungen Mascha Join-Lambert Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel 9. Alles in Allem 3

Gebietsfusionen 10. Ausblick

6. Dorfangelegenheiten

D i e B e r l i n e r ko m m e n

Konfliktlinien

Orte und Feste

Gemeinsam leben

Die Alten und die Jungen 1/10 EIN PORTRAIT

Mit dieser Überschrift ist unser Vorhaben am besten beschrieben. Wir möchten ein Portrait zeichnen der Bewohner von Gerswalde und den dazugehörenden Gemeinden, ein Portrait der Menschen mit ihren Wünschen und Perspektiven. Ein Portrait ist subjektiv. Es möchte eine Persönlichkeit zeigen und spiegelt zugleich den Blick des Portraitisten wider.

Wir möchten die Region und ihre Dörfer Wir, das sind Katja Zimmermann, in ihrer Individualität zeigen und haben Axel Lambrette und Katharina Wallisch.­ dafür nach Menschen gesucht, die Unser Interesse an Projekten im länd- davon erzählen wollen. Daher standen lichen Raum, an der Organisation von lange, intensive Interviews im Zentrum­ Workshops und internationalen Begeg- unserer Arbeit. Wir sprachen mit nungen hat uns in diese Region geführt. Landarbeitern und Amtsträgerinnen, Dabei sind schnell Kontakte zu einzel- 4 Pferdezüchtern und Künstlerinnen, nen Einheimischen entstanden. Handwerkern, Lehrerinnen, ehemali- gen Kutschern und Angestellten, um Das hat uns allerdings nicht gereicht. nur einige Beispiele zu nennen. Wir suchten nach einer Projektidee, die uns die Möglichkeit gibt, in einen Sie sind die eigentlichen Portraitisten, intensiveren Kontakt mit den Menschen hinter deren Blick wir gerne zurück­ vor Ort zu kommen. Denn was liegt treten. Mit Fragebögen haben wir näher, als zu fragen und das intensive diesen Ansatz erweitert, um auch die Gespräch zu suchen, wenn man vorhat, Stimmen derer einzufangen, die wir mit den Menschen zusammen Initia- über Interviews nicht erreichen konnten. tiven und Angebote zu realisieren, die ihnen etwas nützen? Schon zu Beginn unserer Arbeit ist uns aufgefallen, dass in dieser dünn besiedelten Region recht unterschied- liche Menschen leben, auch bezogen auf ihre Tätigkeitsfelder, ihr Alter und Die Region befindet sich in einem inten- insbesondere den Zeitpunkt ihres siven Umbruch, immer mehr Berliner Zuzugs. Deshalb haben wir ein beson- ziehen aufs Land, fangen an zu pen- deres Augenmerk­ auf das Verhältnis­ deln. Die Menschen hier sind vor die ­zwischen Alteingesessenen und Herausforderung gestellt, einerseits Neuzugezogenen gelegt. Wir hoffen, ihre Infrastruktur zu erhalten und 5 mit unserem Portrait auch zeigen zu ­andererseits neue Erwerbsstrategien können, dass ihre Interessen nicht zu entwickeln. In einer so dünn besie- unvereinbar sind, dass es für beide delten Gegend kann das nur gemein- Gruppen viel aneinander zu entdecken sam funktionieren. Wir möchten mit gibt. Wir möchten Auswärtige neugie- unserem Portrait einen Beitrag dazu rig machen und für die Kultur und die leisten, diese Gemeinschaft zu stärken. Menschen in der Region sensibilisieren. Wir möchten zeigen, dass Einheimische ihnen offen gegenüberstehen und sich nicht selten auf sie freuen. Aber auch die Einheimischen könnten mitunter überrascht sein von der Vielfalt, die mehr und mehr um sie herum wächst. 2/10 DARSTELLUNG IN ZAHLEN

Unsere Befragung “WUP - Wünsche und Perspektiven im - Ein Sozial- raumportrait” fand zwischen Eine komplett anonymisierte Vorge- Oktober und Dezember 2017 hensweise hätte die Menschen wahr- statt. Zunächst entwickelten wir eine scheinlich nicht ausreichend motiviert. Strategie, wie wir die Fragebögen­ verteilen und wieder einsammeln­ Es hat uns sehr gefreut, dass sich können. Zudem musste geklärt die von uns ausgewählten Paten der werden, wie wir zu den zahlreichen Gemeinden so verantwortungsvoll um Interviewterminen kommen. Im die Verteilung der Bögen gekümmert Vorfeld unserer Erhebung ordneten haben. Zudem waren wir begeistert, wir potenzielle­ Interview-partner, die dass einige Menschen die “Patenrolle” wir vorab recherchiert­ hatten von sich aus angenommen haben, weil bereits kannten,­ in diverse Kategorien sie unser Projekt wichtig und span- (u.a. Alter, Gemeinde, Zeitpunkt des nend fanden. Wir danken Ihnen allen Zuzugs) ein. Diese Einordnung diente ­vielmals für diese Unterstützung. uns als Orientierung, um eine für die dort lebende Bevölkerung möglichst Die Interviews waren ursprünglich repräsentative Stichprobe zu erhalten. auf etwa eine Stunde angelegt, der 6 Zu diesem Zweck führten wir viele Gesprächsleitfaden war offen und Telefonate und absolvierten etliche ließ Raum für spezifische Fragen – “Vorstellungsgespräche”. angepasst an die jeweilige Situation. Letztlich haben sich die Befragten im Die von uns erstellten zehnseitigen Durchschnitt anderthalb Stunden mit Fragebögen waren nach Themen- uns unterhalten. blöcken unterteilt und hatten viele ausführliche Antworten zum Ziel. Sie Für die Befragungen waren wir insge- wurden größtenteils über sogenann- samt 14 Tage vor Ort. Final haben wir te lokale Paten, denen unser Projekt insgesamt 85 Menschen aus den fünf bekannt war, verteilt. Dieses Vorgehen Gemeinden von Gerswalde mit unse- führte zu einem größeren Rücklauf, rem Vorhaben erreicht. Vor allem ihre obwohl sich die Beteiligten einige Zeit Meinungen sind in unsere Auswertung nehmen mussten, um den Fragebogen eingeflossen. durchzugehen. 85 Personen

47 weibliche Personen 38 männliche Personen

Notiz: 90 Fragebögen wurden verteilt 1 Person aus einem Einzelinterview 1 Fragebogen ausgefüllt

Verteilung: 31 Fragebögen 31 Einzelinterview 06 Gruppeninterview à 3-8 Teilnehmende

Gesamt: 85 Personen 47 weibliche Personen 38 männliche Personen 7

Durchschnittsalter: von 78 Personen (7 ohne Angabe) errechnet sich ein Durchschnittsalter von 56,4 Jahren

Jüngste Person: 12 J Älteste Person: 97 J

Schule / Ausbildung: 4 Personen Anstellung: 17 Personen Selbstständigkeit: 24 Personen Ohne bezahlte Arbeit: 4 Personen Rentner: 26 Personen Ohne Angabe: 10 Personen Gesamt Rückmeldungen (Interviews + Fragebögen) nach Gemeinde: Flieth-Stegelitz: 10 Personen Gerswalde: 29 Personen Temmen-Ringenwalde: 14 Personen : 12 Personen Mittenwalde: 10 Personen Nicht zuordbar: 10 Personen

GERSWALDE

Wir haben erstaunlich wenig Absagen auf unsere Anfragen erhalten. Zwei Personen lehnten die Teilnahme am Fragebogen ab. Sie hatten kein Interes- se daran. Drei weitere Menschen lehn- MITTENWALDE ten die Teilnahme an einem Interview ab. Zwei von ihnen gaben Zeitmangel als Grund an, die dritte Person hat uns ihre Gründe nicht verraten. Zwei Personen haben auf unsere schriftli- che Anfrage per Email nicht reagiert. Mit ungefähr vier Interessenten ist FLIETH-STEGELITZ aufgrund von zeitlichen Verschiebun- gen letztlich kein Interviewtermin zustandegekommen. Und einmal ist 8 ein Plakat vom schwarzen Brett ver- schwunden.

Viel eindrücklicher war allerdings, dass wir von unseren Gesprächspartner­ innen und Gesprächspartnern sehr MILMERSDORF herzlich und offen empfangen wurden. Wir hatten bei allen Interviews das ­Gefühl, dass wir ganz unverfälscht an den Gedanken und Meinungen der Beteiligten teilhaben durften. Sie haben uns ihre Wohnzimmer und Küchen geöffnet und sich angeregt und über- raschend ausführlich mit uns unter- halten. TEMMEN-RINGENWALDE Wohnhaft seit … in der Amtsregion: Seit der Geburt: 16 Personen Vielen herzlichen Dank dafür! Wir Seit dem Kleinkindalter und haben viel gelernt durch diese unter- länger als 40 Jahre: 9 Personen schiedlichen Begegnungen und kom- men sehr, sehr gerne wieder. Im Erwachsenenalter hergezogen und ... 9 weniger als 10 Jahre: 20 Personen Wir danken auch all jenen Menschen, mehr als 10 Jahre: 12 Personen die wir nicht kennengelernt haben und mehr als 20 Jahre: 10 Personen die mit ihren anonym ausgefüllten­ mehr als 30 Jahre: 10 Personen ­Fragebögen einen großen Beitrag mehr als 40 Jahre: 5 Personen geleistet haben, das Stimmungsbild Ohne Angabe: 3 Personen dieser Region zu konkretisieren, und die das Portrait von Gerswalde mit ­relevanten Themen angereichert ­haben. Wir wären neugierig und wür- den uns freuen, auch diese Menschen einmal persönlich kennenzulernen. 3/10 ERSTE EINDRÜCKE

Es ist immer wieder überraschend: Ein Ort, den man nicht kennt, aber zu kennen glaubt, verwandelt sich vollkommen, wenn man ihn bereist und erforscht. Als würde man einem Fremden begegnen, den man aus der Ferne sieht und von dem ungewollt schon ein Bild oder Urteil im Kopf entsteht.

Durch die Gespräche mit den Bewoh- Das spiegelte sich in den Fragebögen nern der Region hat sich unser Blick wider. Denn auch wenn viele über die deutlich geweitet. Wie oft hatten wir Neuzugezogenen sprachen, gemeint zuvor von Berlinern sowie von Ein- waren oft sehr unterschiedliche Grup- heimischen gehört, die Menschen der pen. Manchmal waren Neuzugezogene Uckermark seien eher verschlossen Berliner, die in den letzten Jahren und unzugänglich. So war die erste hergekommen sind. Manchmal han- Überraschung, dass dies kaum typisch delte es sich um Menschen, die sich sein kann, denn wir begegneten fast seit den Fluchtbewegungen Mitte der ausschließlich Menschen, die uns sehr 1940er Jahre hier angesiedelt haben. freundlich aufgenommen und oftmals Und manche Berliner, die von Altein- mehr als nur einen kurzen Blick in ihr gesessenen sprachen, meinten damit Leben gewährt haben. Berliner, die vor 15 Jahren hierher gekommen waren. Es gab kaum klare 10 Fast alle Interviews haben länger Abgrenzungen. gedauert, als wir zunächst angenom- men hatten, meist wurden wir mit Kaffee und Kuchen bedacht, manchmal auch mit Geschenken. Die Gespräche kreisten um das Leben der Gesprächs- partner selbst, aber auch um die ande- ren Anwohner. Dabei erwartete uns die nächste Überraschung: Es gab viele, auch starke Meinungen darüber, wer die Nachbarn, die Zugezogenen oder die Alteingesessenen seien, nur Über- einstimmungen gab es dabei kaum. Dennoch gibt es sie, die klassischen Konfliktlinien: auf der einen Seite die arroganten Berliner, die es besser wissen, auf der anderen Seite die hinterwäldlerischen Dörfler, die nicht vom Althergebrachten lassen können. Von Ihnen lässt sich gut erzählen und sie bilden bereits Stoff für Bücher. Aber diese Erzählungen verdecken, was wir viel reichhaltiger finden konnten: Initiativen und Gemeinschaften über Grenzen hinweg.

Es war zudem faszinierend zu hören, wie die Einheimischen ihre eigene Gemeinde und andere Dörfer beschrie- ben. Beinahe so, als wären ihre Dörfer selbst Menschen mit unterschiedlichen Rollen. Es gab zum Beispiel Dörfer als Außenseiter, als Kümmerer, als Mitläu- fer oder als Vorbilder. Aber sehen wir uns zunächst die Gegend genauer an.

11 4/10 DIE REGION IN UND UM GERSWALDE

Ausgangspunkt für unseren Blick auf die Region und die fünf amtsangehöri- gen Gemeinden sind die Beschreibun- gen der Interviewten Darüber hinaus bringt das Natur- schutzgebiet eine überwiegend ökolo- Die fünf Gemeinden sind gisch betriebene Landwirtschaft mit Gerswalde, Flieth-Stegelitz, sich. Die Menschen hier schätzen die Milmersdorf, Mittenwalde und Qualität regionaler Nahrungsmittel und bauen im eigenen Gemüsegarten an. Temmen-Ringenwalde. Prägend für diese Region ist zudem Die Natur und die äußerst dünne die dünne Besiedlung. Nur knapp 4500 Besiedlung prägen hier die soziale, Menschen sind hier gemeldet. Damit kulturelle und wirtschaftliche Struktur ist das Amt Gerswalde eine der am grundlegend, was im Folgenden näher dünnsten besiedelten Gegenden in beschrieben werden soll. Deutschland. Die Bevölkerung nimmt seit Jahren weiter ab, auch wenn sich Abgesehen von den nördlichsten dieser Prozess entschleunigt hat. Gebieten oberhalb von Gerswalde und Zugleich setzt eine Gegenbewegung 12 Mittenwalde liegt der Amtsbereich ein. Es ziehen immer mehr Menschen, im Biosphärenreservat Schorfheide- vor allem aus Berlin in die Region. Da Chorin. Mit dessen Seen, Wäldern und Berlin nur eine Autostunde entfernt ist, Weiden identifizieren sich hier dürfte das Gebiet mehr und mehr ein viele Anwohner. „Idylle“ oder „Paradies“ Ziel für Pendler werden. sind Wörter, die auch uns mitunter auf der Zunge liegen. Aber die Berliner sind nicht die Ers- Gerade junge Familien sowie Tou- ten, die hierher ziehen. Bereits in der risten fühlen sich von dieser Natur Nachkriegszeit siedelten sich etliche ­angezogen. Vertriebene an. Später kamen mit der Einrichtung von LPGs in der damaligen DDR Facharbeiter hinzu, angezogen auch von neu errichteten Wohnungen in Plattenbauten und bereitgestellten Eigenheimen. GERSWALDE

MITTENWALDE

MILMERSDORF

FLIETH-STEGELITZ

TEMMEN-RINGENWALDE

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4500 EINWOHNER Die Struktur der Bevölkerung befand sich in stetigem Wandel und „altein- gesessen“ ist dementsprechend ein Als Hauptgrund für die Abnahme der ­relativer Begriff. Nach der Wende Bevölkerung wurden immer wieder kamen die ersten Westberliner, die hier Überalterung und fehlende Pers- nun Gelegenheit hatten, ein Landle- pektiven genannt. Junge Menschen ben in der Nähe ihrer Großstadt zu verließen und verlassen die Gegend, beginnen. Auch geflüchtete Familien da es kaum Ausbildungsmöglichkeiten aus ferneren­ Ländern wurden in den für sie gibt und gleichwertige Jobs oft Dörfern aufgenommen. schlechter bezahlt sind als anderswo. In einer Gegend mit derart geringer Wenn so wenige Menschen auf so Bevölkerungsdichte ist es allerdings großem Raum zusammentreffen, schwierig Gewerbe anzusiedeln. Mit heißt das zugleich, dass sich diese den Menschen gingen über die Jahre Wenigen näher sind. Häufig haben wir auch viele kleinere Läden und Dorf- gehört, dass gerade die Gemeinschaft kneipen. Kindergärten und Schulen und Nähe zu den anderen Menschen wurden zusammengelegt oder ver- ein Grund ist, in die Region zu ziehen. schwanden ganz und mit ihnen auch Diese Nähe spiegelt sich nicht zuletzt die Arbeitsplätze. Übriggeblieben sind im Kulturleben der Region wider. Es lediglich eine Handvoll Geschäfte und gibt zwar abgesehen von Kirchen und Gaststätten, von denen wiederum nur Galerien kaum feste Orte, an de- ein paar regelmäßig geöffnet haben. nen sich Kultur abspielt. Doch dafür verwandeln kleine Initiativen Scheu- Arbeitsplätze bieten demnach überwie- nen, Gärten oder Gehöfte regelmäßig gend ein paar größere landwirtschaft- in Bühnen, Ausstellungsorte und liche Betriebe und jene Institutionen, 14 Treffpunkte. Davon fühlen sich auch die für die Infrastruktur unabdingbar Touristen angesprochen, die zudem sind. In Gerswalde gibt es einen Arzt, von Angeboten, die weniger durch ihre einen Friseur, eine Tagesstätte für Größe als durch ihre Besonderheit auf Senioren, und in Mittenwalde ist zudem sich aufmerksam machen angezogen ein Obdachlosenheim vorhanden. Vier werden. Heuhotels, Eselwandern und Kindergärten sind geblieben und zwei eine Straußenfarm, die Möglichkeit Grundschulen. Es gibt eine grundle- Permakultur zu erleben, versteckte gende Versorgung durch den öffentli- Parks und entlegene Dorfkirchen zu chen Nahverkehr, obgleich Buslinien entdecken sind nur einige Beispiele für und eine Bahnstrecke weggefallen ein wesentlich breiteres Spektrum. sind. Positiv hervorgehoben wird dage- gen immer wieder das Amt mit seiner bürgernahen Arbeit. AMT GERSWALDE

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Abgesehen von diesen Tendenzen Und auch jene kommen allmählich, zeichnet sich eine weitere Bewegung die von zu Hause aus arbeiten können ab: Nach und nach fassen Selbststän- und kaum mehr als ihren Computer dige und Gewerbetreibende unter- benötigen, wenngleich eine relativ schiedlichster Art in der Region Fuß eingeschränkte Internetanbindung in und probieren sich und ihre Ideen aus. einigen Dörfern diesem Trend noch im Es gibt eine Fischräucherei, eine Dru- Wege steht. ckerei, eine Ölmühle, ein Café, in dem Sushi serviert wird, und demnächst Insgesamt vermittelte sich uns der eine Schnapsbrennerei, um nur einige Eindruck einer sehr bewegten Region, zu nennen. die einer in jedem Fall spannenden Entwicklung entgegensieht. 5/10 AMTSANGELEGENHEITEN

„Das ist einem einfach nicht klar, wenn man das von ­außen betrachtet.”

Es gibt sie die zentralen ­Strukturthemen, die das Gefüge eines jeden Dorfes prägen, seinen Bestand in der Welt bestimmen und für die aktive Vereine, engagierte Menschen Bewältigung des Alltags maßgeblich und intakte öffentliche Einrichtungen sind. Sie sind auch wichtig für Städte, gibt, macht man sich Sorgen um den aber auf dem Land kann ein Weniger Nachwuchs und fragt sich, wie lange 16 oder Mehr für die Existenz eines Dorfes das Vorhandene noch da sein wird. Die bedeutsam sein. folgenden Aspekte spielen zwar für un- sere Befragten aus den fünf Gemein- den und den dazugehörigen Dörfern “Das ist schon, dass man in unterschiedlicher Form eine Rolle, politisch merkt, dass diese aber betreffen die Amtsregion in ihrer Region abgehängt wird” Gesamtheit. Das geht sie alle an. Ein Ergebnis der Alle Dörfer und Ortsteile, die wir Befragung ist, dass es diesbezüglich aufgesucht haben, sind betroffen auch in der Wahrnehmung der Dorfbe- von mangelnder bzw. schwindender­ wohner keine nennenswerten Unter- Infrastruktur. Selbst dort, wo es schiede gibt. Die Wunschkette; funktionsfähige ­Infrastruktur, gepflegte ­Gehwege und ­Anlagen und dezentrale ­Entscheidungswege Wenigstens die Rufbusse müssten frequentierter fahren, befindet die Mehrheit der Bewohner und Bewohne- thematisieren all die Menschen, deren rinnen, ansonsten, ohne eigenes Auto, Lebensmittelpunkt das Dorf ist. Und „bist Du verraten und verkauft”. Und gleichzeitig ist hervorzuheben, die dass man für die Strecke zum Bahnhof Menschen haben durchaus Ideen, wie (20km) eineinhalb Stunden mit dem es besser laufen könnte oder befinden Bus einplanen muss, verlangt von den- zumindest: jenigen, die sich darauf einlassen viel Gelassenheit, denn “in der Beziehung “Man braucht nicht alles sind wir alle Künstler, Überlebens- 17 schlecht machen, siehst ja, künstler”. man kommt überall hin im Gleichwohl greifen die meisten Men- juten.” schen auf das Auto zurück und es bleibt offen, ob sie den öffentlichen MOBILITÄT UND Nahverkehr nutzen würden, wenn ­CHANCENGLEICHHEIT dieser regelmäßiger fahren würde. Das Bedürfnis nach Mobilität und die Es gibt den Linienverkehr, es gibt Anfahrtsziele sind individuell, so bedarf Schulbusse und Rufbusse gibt es auch. es entweder alternativer Lösungen Der öffentliche Nahverkehr im Amt oder “das fordert ein Umdenken von Gerswalde funktioniert nur irgendwie oben” mit klarem politischen Willen, anders und vor allem eingeschränkt. die Dörfer zu erhalten. Einige Kinder müssen mit dem Fahrrad ein paar Kilometer ins nächste Dorf bis zur Bushaltestelle fahren, um dann dort morgens um 6 Uhr in den Schul- bus zu steigen. Es gibt Menschen aus der Stadt, die Familien mit Kindern, die aufs Land ziehen wollen bzw. dort leben, nicht verstehen können.

Das berichteten uns ehemalige Städ- ter. Sie erzählten uns, dass sie jene Eltern verantwortungslos finden, die Auch das Internet und die Stromver- die Zumutungen des Landlebens (lange sorgung sind auf der Diskussionsliste Wege, wenig Freunde in der Nähe) sehr weit oben. Der Konflikt liegt hier ihren Kindern auferlegen. Für die zwischen den Anbietern und den Dorf- Folgen dieser Entscheidung geben sie gemeinschaften. Die Menschen benö- diesen Familien persönlich die Schuld tigen ein stabiles Netz - insbesondere und haben kein Verständnis, dass es für Schulkinder und Selbstständige ist die Dorfbewohner ärgert und ängstigt, das unabdingbar - um ihren Aufgaben wenn “unterbelegte” Schulen ihrer zeitnah nachkommen zu können. In Kinder geschlossen würden. die Stromversorgung sollte dringend Diese Ignoranz macht die Menschen investiert werden. Die Stromleitungen von hier ärgerlich, da wird vehement laufen häufig überirdisch und müssten widersprochen. flächendeckend unter die Erde verlegt 18 werden, so dass sie weniger anfällig “Und dann habe ich gesagt, für Beschädigungen sind. Für freie ja, und ihr wollt alle regional Anbieter auf dem Markt lohnt sich die Investition in die Internet- und Strom- und bio produziertes Essen versorgung jedoch nicht, da es ver- essen und sollen die Leute, gleichsweise wenige Menschen betrifft. die das machen alles Rent- Und ja, im Vergleich zu den Städtern ner sein oder wenn es junge fühlt man sich dann ausgegrenzt. Das Gefühl abgehängt zu sein, kann sich Leute sind, sollen die keine zudem verstärken, wenn Dienstleister Kinder haben und wenn die unaufmerksam handeln. Kinder haben, wo sollen die dann zur Schule gehen?“. Wir hören u.a. die Geschichte von der Stromgesellschaft, die den privaten Haushalten keinen Infobrief schickt, wenn der Strom zeitweise für Repara- turzwecke abgestellt wird. Viele Men- schen haben u.a. große Gefriertruhen in Betrieb, gefüllt mit Nahrungsmitteln für mehrere Wochen oder Medikamen- te in Kühlschränken und sind auf diese Information angewiesen. Bei all diesen Dingen, stellt sich für manche 19 Einheimische die Überzeu- gung ein, dass das Strom- und Telefonnetz, die Was- serversorgung und der öffentliche Nahverkehr zur Daseinsvorsorge gehören sollten. wagen die Straße entlang kommt oder Der Staat müsse hier Geld in die Hand sich der Fusspflegedienst über Monate nehmen und dann könnten Anbieter nicht im Ort sehen lässt. Während des freien Marktes das Feld bespielen. dieser Umstand für die jüngeren und In der aktuellen Situation aber ringen mobilen Einheimischen diffuse Ängste die Dienstleister mit der Konkurrenz vor der Zukunft hervorruft. und da bringen die „Geschäfte“ auf dem Land lediglich viel Arbeit und Konzepte der Versorgung auf Rädern­ wenig Geld. wurden gleich nach der Wende umge- setzt und werden für passend be- 20 ÖFFENTLICHE UND VER​- funden, aber eben nicht ausreichend SORGENDE EINRICHTUNGEN angenommen. Die großen Märkte mit niedrigen Preisen sind zu stark, die kleinen Dorfläden können sich kaum “Sollen wir uns nun die mehr halten und die Menschen haben ­Fußnägel bis Januar inzwischen andere Einkaufsroutinen ­wachsen lassen?” entwickelt - nutzen Lieferdienste oder fahren nach der Arbeit schnell in den Für die weniger mobilen, alleinleben- anliegenden Supermarkt und besorgen den Menschen, vorrangig die Älteren für ihre Familien oder älteren Ange- sind das handfeste Nöte, wenn plötzlich hörigen den Wocheneinkauf aus der nicht einmal mehr der mobile Brot- Stadt. Aber was könnte dem entgegen steuern, fragen wir uns. “So watt zum Beispiel wie in Schweden, das denke ich dann öfter, wäre watt. In jedem kleenen Nest ist da In jedem Dorf oder Ortsteil, wo man ein Laden.” noch eine Kita und Schule hat oder wenigstens eines von beiden, ist man Hier ist der Vorschlag, wie in erleichtert. Denn diejenigen, die vom ­Schweden, politisch dafür zu sorgen, Schwund öffentlicher Einrichtungen dass die großen Ketten einen kleinen noch nicht betroffen sind, wissen Prozentsatz auf ihre Produkte auf- ­genau, dass ihre Einrichtungen auf schlagen und mit diesem Erlös die wackligem Fuß stehen, sobald nicht 21 Dorfläden bezuschusst würden. genügend Kinder nachkommen.

„Ick habe vier Kinder hier ­ In manchen Dörfern gibt es gar keine in diesem Dorf großgezogen Kinder im schulpflichtigem Alter mehr, andere Dörfer haben sich anders ent- und alle Kinder haben einen­ wickelt und es fahren wieder mehrere ordentlichen Beruf und Kinder vom Dorf in die Schule der Um- gehen ihrem Beruf nach, gebung. Dennoch reicht das nicht. also hatten sie wohl auch ne Insbesondere die ganz Kleinen richtige Schulausbildung.“ benötigen Überschaubarkeit und Stabilität. Wo es möglich ist, sollte die Schule im Dorf bleiben können. Diese so genannten Zwergenschulen favorisieren einige Einheimische. Ent- gegen dem Schulgesetz, nachdem eine Grundschule mindestens eine Klasse pro Klassenstufe vorweisen muss, könnten die Klassen kleiner sein und Die gesetzlich festgelegten Übungsein- unterschiedliche Jahrgänge gemein- heiten und regelmäßig ausgetragenen sam lernen. Wettbewerbe zwischen den ausgebil- deten Feuerwehrmännern tragen zum Das Prinzip gab es schon zu DDR Sozialgefüge bei. Zeiten und für die Befürworter spricht Aber es gibt Probleme, die das Dorf nichts gegen das Prinzip kurze Wege oder die Gemeinde allein nicht regeln­ für kurze Beine festzuhalten. kann. Längere Arbeitswege und Nach- wuchsmangel machen es den Kame- „Der Feuerwehrverein raden schwer, ihr Ehrenamt auszufüh- ist praktisch noch unser ren. Es gibt sie noch, die engagierten ­Feuerwehrmänner der Ortsfeuerweh- ­einziger kultureller ren, die sich um ihre Mitbürger küm- 22 Stützpunkt, wo wir uns noch mern und aktiv Nachwuchs anwerben. ab und an mal treffen und Aber ihr Trainingsplan ist gut gefüllt irgendwelche und der Aufwand wenig finanziell ent- schädigt. Zudem arbeiten die Männer Veranstaltungen gestalten.“ z.T. weit außerhalb und können im Not- fall nicht schnell genug vor Ort sein. Auch der Bestand der Ortsfeuerweh- ren ist zentrales Thema. Sie waren und sind im Notfall ein Sicherheitsfaktor für die Gemeinden. Zu denken ist nicht nur an Feuerlöscher und Brandschutz, sondern auch an Einsätze zur Besei- tigung von Schäden bei Unfällen oder durch Sturm und Katastrophenschutz. Gastronomiebereich zu finden. Aktuell müssen deshalb bei einem Es gibt verschiedene Gründe: Fahrwe- Notruf immer zwei Wagen der Umge- ge über 20 Kilometer sind zu lang und bung rausfahren, um zu garantieren, somit zu teuer, die Aufgabe an sich ist dass genügend Männer vor Ort sind, nicht interessant oder der Arbeitsort um die Einsätze sicher abwickeln zu negativ belegt. Erwähnt wird auch, können. dass man nicht für einen bestimmten Arbeitgeber, eine Arbeitgeberin arbei- ARBEITSLOSIGKEIT UND ten möchte. Saisonale Anstellungen FACHKRÄFTEMANGEL sind nicht attraktiv und sich umorien- tieren nicht so leicht. Bei allen Fragen zu möglichen Schwie- rigkeiten in der Region, kommt das Ge- GEBIETSFUSIONEN spräch zudem auf das Thema Arbeits- losigkeit. Im Landkreis Uckermark “Die Verwaltung, das Amt ist sind aktuell insgesamt 7.098 Menschen arbeitslos, bei einer Arbeitslosenquote doch gerade mal brandneu.” von 11,5 (Quelle: statistik.arbeitsagen- tur.de; Stand: November 2017). Das Amt Gerswalde, zur Erledigung Die Uckermark hat damit den höchsten der Verwaltungsgeschäfte der fünf 23 Arbeitslosenstand im Bundesland zu amtszugehörigen Gemeinden, wurde verzeichnen. Parallel wird die Arbeits- 1992 gegründet und hat seinen Sitz losigkeit oftmals im Zusammenhang in Gerswalde. Im Zuge der Verwal- mit der Problematik des Fachkräfte- tungsfusion wurden auch Ortsteile und mangels angesprochen. Dörfer zusammengelegt, die heute die fünf Gemeinden bilden. Da keine Der Fachkräftemangel wird von den Gemeinde weniger als 500 Einwohner Jungen und den Alten angerissen. zählen durfte, kam es zu Zusammen- Dass es an Ärzten oder Gemeinde- schlüssen von Dörfern und Ortsteilen, schwestern auf den Dörfern fehlt, ist die sich heute auch in der Namens- auch den Städtern bekannt. Für unsere gebung, wie z.B Flieth-Stegelitz oder gewerbetreibenden Interviewten ist Temmen-Ringenwalde widerspiegeln. es zudem sehr schwierig Personal im Die Zusammenlegungen sind häufig mit Interessenkonflikten verbunden. Und so haben sich die Gemeindever- tretungen durchaus überlegt, welcher Weg für sie der Bessere sein könnte in einer Zeit des Umbruchs.

Wer mit wem oder doch allein, diese Fragen wurden ausgefochten und führten nicht immer zum Zusammen- schluss. In Mittenwalde hieß es: “Wir Mittenwalder wollten eigenständig bleiben und wir haben gekämpft, muss ich mal sagen”. 1993 wurde dann im Rahmen der brandenburgischen Kreisreform der Landkreis Uckermark gebildet. Prenz- lau wurde Kreisstadt und Verwaltungs- sitz des Landkreises. „Na, für uns kommt da

nix Gutes rüber” „Zum Glück haben wir das 25 Jahre sind keine lange Zeit für die Amt noch, man kennt sich 24 Menschen, um sich an Strukturen und und hier kannst du noch Formalien zu gewöhnen und das ent- schnell deine standene sozialräumliche Gefüge als

ihre Umgebung anzunehmen. Angelegenheiten regeln“. Doch eine weitere Kreisgebietsfusion Und wenn dann erneut eine Gebiets- war für 2019 geplant. Das Land Bran- oder Verwaltungsfusion droht, reagie- denburg wollte im Zuge dessen die ren die Einheimischen mit großem Landkreise und Uckermark Unverständnis und meinen ärgerlich: zusammen legen und die Verwaltung „So was führt dazu, dass vorhande- neu organisieren. Die Bürgerinnen und ne Strukturen komplett zerschossen Bürger standen mehrheitlich dage- werden“ oder gen, die Volksinitiative “Bürgernähe erhalten - Kreisreform stoppen” wurde gegründet. Manche sehen in den Fusionen eine Chance, damit die kleinen Ortschaften überhaupt darauf hoffen können zu überleben. Der Großteil der Befrag- ten macht uns jedoch deutlich, dass solche Zusammenlegungen eigentlich nur Sparzwecken dienen, die Wege der Menschen verlängern und Unruhe in den Gemeinden schaffen. Und je zentraler Entscheidungen getroffen würden, um so mehr fühlen sich die Menschen nur noch als “Stimmvieh”, das einmal im Jahr dazu aufgerufen wird sein Kreuzchen an einer Stelle zu machen.

Grundsätzlich wird deutlich, dass die zunehmende Handlungsohnmacht der Gemeinden und die Tatsache, dass Entscheidungen mehr und mehr von Ortsfremden getroffen werden, Unmut hervorrufen. Die Landespolitik, so be- schreiben es uns einige Einheimische, die früher Mitglieder ihrer Gemeinde- vertretungen waren und sich weiterhin Noch während wir unsere Befragungs- für das politische Geschehen interes- tour unternehmen, wird diese geplante sieren, führe den Menschen letztend- 25 Reform politisch abgeschmettert. Wir lich vor, dass der Kommunalebene kein bekommen mit, dass die Bürgerinnen Vertrauen geschenkt wird. Man spricht und Bürger deutlich erleichtert sind. ihr ab, passende Entscheidungen tref- Nun bleibt Kreisstadt der fen zu können und: Uckermark “und hoffentlich bleibt auch unser Amt in Gerswalde”. „Im Grunde müsste man die “Was sollen wir da ganze demokratische eigentlich noch Struktur, die ja wichtig ist, entscheiden?” wirklich wieder demokratisch machen, das man auf der unteren Ebene Entscheidungsgewalt hat.” 6/10 DORFANGELEGENHEITEN

Auf dem Dorf zu leben heißt automatisch, Teil einer Gruppe­ zu sein. Dies ist in der Stadt anders. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe wird auf dem Dorf immer bemerkt und kommentiert. Manche suchen diese Nähe, andere versuchen ihr auszuweichen. Es ist eine Gratwanderung zwischen Solidarität und sozialer Kontrolle. Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, erzählten davon was diese Dorfgemeinschaften auszeichnet und was sie bedroht. In dieser Hinsicht waren zunächst „die Berliner“ immer wieder ein Thema.

Die einschlägige Antwort auf die Frage DIE BERLINER KOMMEN scheint jedoch zu sein: „Nein“, denn das Meiste ist bereits verkauft. Die Im- Sie stehen auf einmal im Vorgarten mobilienpreise sind extrem gestiegen. oder am Tresen, klopfen an die Atelier- Von Verdoppelung in den letzten Jahren oder Pfarrhaustür oder schlendern ist die Rede. neugierig durch das Dorf: Die Berliner. 26 Und sie haben alle die eine Frage auf Aber was bedeutet das? Werden die den Lippen: Einheimischen verdrängt? Oder werden sie, wie es ein Teilnehmer drastisch „Gibt es hier noch ein Haus ausdrückte, von der „Berliner Kolonia- lismus-Denke“ einfach übergangen? zu kaufen?“ Wenn es Verdrängung gibt, dann ist Von solchen Begegnungen wussten sie selten so eindeutig, wie in dem viele zu berichten. Gerade in der Som- Fall von dem wir hörten, in dem eine merzeit ist dieser Satz fast täglich zu Familie ihr Haus für die Eigentümer hören. Ganz offensichtlich gibt es hier aus Berlin räumen musste. In der eine Bewegung und wenn es ein Haus Regel werden leerstehende Häuser zu kaufen gibt, dann kaufen es „die gekauft. Die Bevölkerung in der Region Berliner“. nimmt dennoch ab. Es gibt eher subtile Auch nehmen diese Berliner nicht am Wirtschaftsleben in der Region teil. Sie kommen mit vollem Kofferraum, ziehen sich zurück, um die Ruhe zu genießen und verschwinden wieder. Das Resultat: Obschon viele Häuser bewohnt sind, trägt dieser Trend nicht zur Belebung der Region bei.

Aber es geht auch anders. Denn auch dies konnten wir feststellen: Es gibt Menschen, die hier zunächst nur zu Verdrängungseffekte. So wird es mit Erholung herkamen und dann ihren den steigenden Preisen schwieriger Urlaubsort zum Wohnort machten. für Menschen, die zurückkehren oder Das Wochenendhaus ist auch Mittel für zu ihrer Familie ziehen möchten, ein eine Annäherung. Und der Blick den Haus zu finden. Es ist vielerorts kaum die Neuen mitbringen kann erfrischend noch möglich neu zu bauen, da Bebau- sein: ungspläne dies nicht zulassen. Meist ist dies auf das Naturschutzgebiet „Wir sehen ja nicht was zurückzuführen. Aber möchte man sich darüber beschweren? Schließlich ist verschwunden ist, wir sehen das Naturschutzgebiet ein Magnet für vor allem was entsteht.“ Zuzügler. So lernen sie allmählich die Vorzüge Die Gründe, warum „Die Berliner“ des Landlebens kennen und fangen an 27 kommen sind vielfältig. Es überwiegt dort zu leben und ihre Ideen einzubrin- wohl die Sehnsucht nach dem Land gen. Wiederum in einigen Orten, wie und dem damit verbundenen Leben. in Gerswalde oder Ringenwalde haben Sie suchen Ruhe und die Möglichkeit Familien in Kürze ihren festen Wohn- „die Finger in die Erde zu stecken“. Den sitz aufgebaut und bringen sich aktiv in Rasen mähen zu können scheint auch das Gemeindeleben ein, wirken in der sehr attraktiv zu sein. Dazu reicht das Gemeindevertretung mit oder engagie- Wochenende. ren sich in Vereinen.

Und so kommen diese Berliner zu- nächst nur an ihren arbeitsfreien Tagen, was dazu beiträgt, dass manche Dörfer unter der Woche nahezu ausge- storben sind. Darüber hinaus sind die Konflikte Die Frage, ob die Berliner nun Fluch zwischen Neuzugezogenen und Ein- oder Segen für die Region sind, lässt heimischen eher harmlos und werden sich also nicht eindeutig beantworten. auch so beschrieben. In der Regel geht Dass sie kommen ist unbestreitbar, es um die Gestaltung von Vorgärten und eigentlich nicht neu, wie bereits und gemeinschaftliche Arbeiten im festgestellt wurde. Was die neuen Ort. Hier zeigt sich wieder, was es Berliner der Region bringen werden, heißt, wenn viele Häuser nur über das ist noch nicht abzusehen, aber es gibt Wochenende bewohnt sind. Bürger- bereits Beispiele für eine gelungene steige können im Winter nur von denen Integration. geräumt werden, die auch tatsächlich zu Hause sind, wie uns in Flieth erklärt KONFLIKTLINIEN wurde. Ein Fortkommen für Ältere oder Familien mit Kinderwagen ist dann Obschon viele über die Berliner spre- sehr beschwerlich. chen, gibt es doch nur selten direkte Konfliktsituationen. Nur in einem Ort Vermutlich ist es für Städter schwierig konnten wir erfahren, was es heißt, zu verstehen, dass die gemeinschaft- wenn Vorstellungen von Neuzugezo- liche Identität auf dem Dorf, anders genen und Einheimischen aufeinander als in der Stadt, eine viel größere Rolle prallen. Für die Einheimischen war ihre zu spielen scheint. Ein einheitliches 28 Dorfstraße eine Zumutung. Es handelt Erscheinungsbild des gesamten Dorfes sich um eine alte Pflasterstraße, die gehört für viele dazu. Eine ältere Frau kaum von allen Verkehrsteilnehmern erzählte uns zum Beispiel empört, genutzt werden kann. Da immer größe- dass bei den neuen Nachbarn keine re Maschinen über diese Straße fahren Gardinen vor den Fenstern hängen. ist sie recht ramponiert, zudem über- Öfter haben wir Geschichten davon ge- tragen sich die Vibrationen auf anlie- hört, wie diejenigen, die etwas länger gende Häuser und beschädigen diese. neu zugezogen sind, diese Identität Menschen, die auf Gehhilfen angewie- entdecken und sich anpassten oder sie sen sind, können die Straße überhaupt mitgestalteten. Wir konnten festhal- nicht benutzen. Andererseits ist diese ten, dass zwar viel über „die Berliner“ Art von Straßen sehr selten und die geredet wird, aber im direkten Kontakt Neuzugezogenen wollten sie unbedingt mit „den Neuen“ kommt man meist gut erhalten. Ein Kompromiss konnte nicht miteinander aus. gefunden werden. „Dass ich nochmal 18 wär, das kann ich mir nicht wünschen, nich?“ (Mann im Dorf, 97J)

Der Wunschzettel Nach den Wünschen der Einheimi- schen haben wir uns in Form von variierenden Fragen in den Interviews und Fragebögen erkundigt. Beispiel- fragen waren: Wofür sollte mehr Geld ausgegeben werden, wofür weniger? Was sollte Ihr Dorf, Ihre Gemeinde Ihnen mehr bieten? Was sollte sich für die Menschen im Amt Gerswalde ändern? Wenn Sie Tausend Euro für Ihr Dorf einsetzen könnten, wie würden Sie das tun?

“Die Zeit zurückdrehen können wir nicht, ist alles gut so, wie es ist“, beschreibt in etwa unseren Gesamtein- druck, den wir von den Beteiligten mit 29 auf dem Weg bekommen. Jedoch auch im Amt Gerswalde ist der Mensch nicht nur wunschlos glücklich... MEHR KINDER 1 NEUE KIRCHENGLOCKE 1 UNTERSTÜTZUNG FÜR DIE KITA 1 KFZ-WERKSTATT 1 MOBILER ARZT 1 SCHWESTERNSTATION 1 E-BIKE-STATION 1 BÄNKE AN BUSHALTESTELLE 1 TAUBENSCHLAG VORM WIRTSHAUS 1 STEGELITZER KIRCHE ERHALTEN 1 BÄUME PFLANZEN 1 WILDBLUMEN PFLANZEN 1 EIGENES DORFSCHILD 1 GOTTESDIENSTE 1 ANGEBOTE FÜR JUGENDLICHE / KINDER 8 TREFFPUNKT LADEN / KNEIPE / CAFÉ 15 30 SUPERMARKT / EINKAUFSMÖGLICHKEIT 8 BESSERE INFRASTRUKTUR / BUSLINIEN 7 FREIZEITANGEBOTE YOGA / TANZ / SPORT / FESTE / KINO 5 VERKAUFSAUTO BÜCHER / LEBENSMITTEL 4 HOF- / DORFLADEN BZW. BIOMARKT 3 ANGEBOTE FÜR SENIOREN 2 UNTERIRDISCHE STROMLEITUNGEN 2 NATURSCHUTZ 2 BADESTELLE ERNEUERN 2 KONZERTE 3 SCHNELLES INTERNET 6 STRASSENERNEUERUNG 7 SPORT- / SPIELPLÄTZE 8 ANGEBOTE FÜR JUGENDLICHE / KINDER 8 TREFFPUNKT LADEN / KNEIPE / CAFÉ 15 SUPERMARKT / EINKAUFSMÖGLICHKEIT 8 31 BESSERE INFRASTRUKTUR / BUSLINIEN 7 FREIZEITANGEBOTE YOGA / TANZ / SPORT / FESTE / KINO 5 VERKAUFSAUTO BÜCHER / LEBENSMITTEL 4 HOF- / DORFLADEN BZW. BIOMARKT 3 ANGEBOTE FÜR SENIOREN 2 32

Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin Es gibt durchaus auch andere Kon- fliktlinien. Sie spinnen sich um Fragen des Naturschutzes und um die Berei- che Tourismus und neue Gewerbe. Touristisch entwickelt sich die Region allmählich und wie bereits erwähnt, gehören neue Ideen dazu. Diese tou- ristischen Angebote greifen auch in den öffentlichen Raum ein. Es gibt zum Beispiel Pferdeplanwagen und das Wandern mit Eseln oder zunehmend Touristen, die die Gegend sportlich nutzen, mit dem Rad oder auf dem Wasser.

Was die Tiere betrifft, so beklagen manche, dass sie (oder ihre Hinterlas- senschaften) den Verkehr gefährden. Dass Fahrradwege gebaut werden, wird durchaus kontrovers betrachtet. Für manchen bringen sie mehr Leben in den Ort. So freute sich in Stege- litz jemand über die Gespräche mit Menschen „aus aller Herren Länder“. Obschon die Radfahrer der Wirtschaft zugute kommen, gibt es andere (wenn- gleich wenige) Stimmen, die sagen, 33 dass sie lieber ihre Ruhe hätten.

Die Radwege waren und sind auch ein Problem für Naturschützer. Die Radler könnten seltene Tierarten im Wald stören. Ähnliches gilt auch für Pferde. Dazu muss gesagt werden, dass das Naturschutzgebiet Schorf- heide-Chorin auch Kernzonen (Zone 1) umfasst, die praktisch überhaupt nicht von Menschen­ betreten werden dürfen, so in der Nähe von Groß Kölpin und Temmen. Für jene, die gern reiten, ist das oft nur schwer nachvollziehbar. Aus ihrer Sicht stören Pferde andere Tiere nicht. Aber auch hier kommt es nur selten zu Kon- frontationen oder sogar Abmahnungen, wie wir auf einem Reiterhof erfahren konnten. Insgesamt ist bei uns der Eindruck Dass der Naturschutz auch die Bebau- ­entstanden, dass Konflikte vor ungspläne bestimmt, wurde bereits ­allem dort gut gelöst werden, wo die erwähnt. Das bedeutet auch, dass sich ­Menschen sich die Möglichkeit schaf- in der Nähe der meisten Dörfer (wie fen aufeinander zuzugehen. Wieder zum Beispiel in Ringenwalde) keine wird deutlich, wie wichtig Orte sind, an Industrie ansiedeln kann. Tourismus ist denen Austausch stattfinden kann. daher (abgesehen von den Branchen der Infrastruktur) oft die einzige regio- ORTE UND FESTE nale Einnahmequelle in den Dörfern. Bis in die 90er Jahre hinein gab es In jenem kleineren Teil des Amtes in vielen Dörfern der Gegend noch Gerswalde, der nicht Naturschutzge- Kneipen oder Gaststätten. Diese waren biet ist, kommt ein weiteres Problem Orte der Begegnung und des Aus- hinzu, was gerade in Mittenwalde tauschs für alle. Nun können sie diese 34 vielen unter den Nägeln brennt: Rolle nicht mehr übernehmen und es ­Windräder. Uns wird erzählt, dass man hängt am Engagement der Einwohner zunächst einverstanden war mit den andere Lösungen zu finden. Wir haben Windrädern. Man einigte sich auf eine viele besondere Menschen getrof- bestimmte Höhe und ein bestimmtes fen, die sich auf ihre Weise mit teils Gebiet. Doch nun soll es mehr und überraschenden Ideen für ihre Region höhere Anlagen geben. Die betroffenen einsetzen. Dieses Engagement ist nicht Mittenwalder fühlen sich ohnmächtig überall gleich und mancherorts wird angesichts undurchsichtiger Genehmi- ein Mangel daran beklagt. gungsverfahren und fürchten um ihre Aus ganz unterschiedlichen Grün- Lebensqualität. Hinzu kommt, dass den eignet sich die noch verbliebene Einzelne von dem Bau der Anlagen Gastronomie anscheinend weniger für profitieren, was neue Gräben aufreißt. den ungezwungenen Austausch der Dorfgemeinschaft. Die Preise werden oft als zu hoch empfunden oder das Angebot erscheint fanden wir ein kleines Häuschen, dass nicht passend. Orte wie das Café im von der Dorfgemeinschaft genutzt und Gutshaus in Friedenfelde oder das Café erhalten wird. Dieses Engagement zum Löwen in Gerswalde, der Land- wirkt sich identitätsstiftend auf die gasthof in Ringenwalde oder das Café Dorfgemeinschaft aus. Es war deutlich, im Gut Blankensee sind entweder eher dass dort, wo solche Orte geschaffen interessante Ausflugsziele für Touris- wurden auch das Gefühl zur Dorfge- ten oder werden nur von bestimmten meinschaft positiver war. Bevölkerungsgruppen genutzt. Andere Einrichtungen unterstützen den Stattdessen wurden und werden mit Dorfzusammenhalt wiederum indirekt, 35 viel Hingabe neue Orte geschaffen, an so wie die Bibliothek in Gerswalde oder denen die Dorfgemeinschaft gelebt ein kleiner Tauschladen im Stallmu- werden kann. In Ringenwalde hat sich seum in Groß Fredenwalde. Dieser der Heimatverein einen kleinen Ver- stiftet Gemeinschaft, da mehrere, ganz sammlungsraum eingerichtet, der für unterschiedliche Menschen im Ort sich Treffen und Gespräche genutzt wird. darum mit Leidenschaft kümmern. Auch ein Museum, das die Dorfbewoh- Überhaupt gilt, da wo gemeinsam ner gemeinsam ausstatteten findet Aufgaben bewältigt werden, wächst der sich hier. In Groß Fredenwalde gestal- Zusammenhalt. Zum Beispiel dort, wo ten junge Menschen die ehemalige sich privatwirtschaftlich oder öffentlich Dorfschule und bieten in der Feld- gefördert für den Erhalt einer verfalle- Wald-und-Wiesen-Schule lokale Ange- nen Kulturlandschaft eingesetzt wird. bote für Jung und Alt an. In Petersdorf Gemeinsam werden Gutshöfe wieder Eine besondere Rolle spielt die frei- aufgebaut, wie vor Jahren in Suckow willige Feuerwehr, die zu Feiertagen oder Kirchen sollen gerettet werden immer wieder Dorffeste organisiert. wie jetzt in Stegelitz oder Neu-Tem- Davon wurde uns in fast allen Or- men. ten berichtet. Ihr gelingt es noch am ehesten das ganze Dorf zusammen zu An bestimmten Orten oder bei Festen bringen, nicht zuletzt ein ganz natür- kommen Menschen zusammen. licher Effekt, wenn unterschiedliche Viele Vereine der Gegend richten Menschen für einen notwendigen diese aus. Praktisch jedes Dorf hat Zweck, wie der Feuerwehr aufeinander ein eigenes Dorffest. Hinzu kommen treffen. 36 Veranstaltungen von Initiativen oder Vereinen, die Feste veranstalten, um GEMEINSAM LEBEN sich ihren Nachbarn vorzustellen. So hält es der Verein Libken e.V. für Was ein Dorf dann aber vor allem Künstlerinnen und Künstler in Bö- zusammenhält, sind die vielen kleinen ckenberg oder auch der Förderverein und direkten Verknüpfungspunkte. Die der Wasserburg in Gerswalde. Die Möglichkeit gemeinsam im Chor zu Menschen sprechen gerne von ihren singen, wie in Flieth oder Ringenwalde Festen. Die Älteren berichteten, dass oder gemeinsam zu tanzen, wie in der man früher oft von Dorffest zu Dorffest Linedance-Gruppe in Stegelitz, hilft gezogen sei und sich so untereinander Grenzen zu überwinden. Es gibt meh- kennenlernte. Heute wird beklagt, dass rere solcher kleinen Vereine und auch zu wenig Gäste zu den Festen kommen, informelle Gruppen, unmöglich sie hier gerade aus den Nachbardörfern. alle aufzuzählen. Schwierigkeiten hat allerdings der Fußball. In manchen Orten sind Fußballverei- ne und sportliche Angebote gänzlich verschwunden, weil nicht mehr genug 37 Menschen mitmachen können. Das ist vorwiegend ein Altersproblem. Die Jungen ziehen weg und die Alten kön- nen nicht mehr so sportlich sein.

Für einige Neuzugezogene waren diese Gruppen und Vereine der Weg, Kontakt zum Dorf auf- und Vorurteile abzubau- en. Viele Geschichten drehten sich um die Überraschungen, die sie erlebten, wenn der erste intensivere direkte Kontakt zustande kam. Viele glaubten Dinge voneinander zu wissen, die sie dann korrigieren mussten. „Nein, mein Mann und ich wollen uns nicht trennen und wegziehen wollten wir auch nicht.“

Noch enger rücken die Menschen in der Nachbarschaftshilfe zusammen. Für einige ist sie der Grund auf das 38 Land zu ziehen. Wie es scheint, ist dies eine Form von Solidarität, die sie in der Stadt nicht mehr finden.

In Friedenfelde kommt auch mal ein Nachbar ungefragt nach dem großen Sturm vorbei und zersägt den umge- fallenen Baum im Garten. In Gerswal- de berichtet eine Frau wie Nachbarn sich um sie kümmerten nach einem schweren Schicksalschlag, während eine andere Bewohnerin mal eben eine Rampe bekommt, gebaut von ihrem frisch zugezogenen Nachbarn. Ein älteres Ehepaar berichtet, sie fühl- ten sich wie ein Großeltern-Ersatz für die Kinder einer geflüchteten Familie. Ein Gesprächspartner fasste es so zusammen:

„So muss Integration Und in Groß Kölpin teilten sich die ­aussehen.“­ ­Anwohner in der ersten Phase des Hausbaus ihren Wasseranschluß mit Der Zusammenhalt stößt aber auch an der neuen Nachbarin. Derartige Ge- Grenzen. Generell wurde uns erzählt, schichten gab es viele. Überhaupt bau- dass das Gemeinschaftsleben besser ten und bauen viele hier ihre Häuser funktioniert habe vor der Wende. Dies selbst, oft unter tatkräftiger Mithilfe lag wohl vor allem daran, dass noch der Nachbarn. mehr Menschen in der Region gelebt haben und somit eine bessere Infra- Hilfsbereitschaft dehnt sich aus. Von struktur (mit mehr Begegnungsstätten) Ausgrenzung oder Ausgrenzungser- geboten werden konnte. Auch waren 39 fahrungen haben wir nur selten gehört. die Menschen eher auf die Hilfe der An- Im Gegenteil: In zwei Orten wurde uns deren angewiesen. Die DDR wünschen von zugezogenen Flüchtlingsfamilien sich dennoch die wenigsten zurück. aus dem Nahen Osten und Tschet- schenien berichtet. Die Dorfbewohner versorgen die Geflüchteten mit Gegen- ständen des täglichen Bedarfs, geben ihnen Sprachunterricht oder helfen ihnen, trotz widriger Umstände, Arbeit zu finden. Die größte Herausforderung für das Gemeinschaftsleben ist die Integration von Alten und Jungen. Die einen verlassen die Region, weil sie keine Arbeit oder Ausbildungsmöglichkei- ten finden, die anderen weil sie nicht mehr mobil genug sind.

DIE ALTEN UND DIE JUNGEN ist vor allem deshalb sehr schade, weil beide Gruppen sich oft stark mit der In fast allen Fragebögen wurde eine Region identifizieren und gerne bleiben der beiden folgenden Aussagen (oder würden. Alte Menschen von außerhalb, beide) angekreuzt: die noch mobil sind, zieht es sogar in die Region, weil sie dort ihren Le- „Unsere Kinder im Dorf und bensabend verbringen möchten. Dieser der Gemeinde brauchen Wunsch stößt aber an seine Gren- mehr Aufmerksamkeit.“ zen, wenn ein Rollstuhl oder Rollator erforderlich wird. Ab dann werden die „Die älteren Menschen im schlechten Wege und Bürgersteige in vielen Orten zum Hindernis. Dorf und der Gemeinde 40 brauchen mehr Aufmerk- Menschen, die in der Region auf- samkeit.“ wachsen, entwickeln häufig eine enge Bindung zu dieser und ihren Bewoh- Beide Gruppen haben im Prinzip nern. Eine junge Frau berichtete, dass dasselbe Problem: ab einem gewissen ­obwohl alle ihre Freunde inzwischen Punkt kann die Region ihren Bedürf- über ganz Deutschland verteilt sei- nissen nicht mehr gerecht werden. en, sie immer noch in engem Kon- Die Jungen ziehen fort auf der Suche takt stünden und dass sie sich keine nach Arbeit oder Ausbildungsplätzen bessere Kindheit wünschen könnte. und die Alten müssen teilweise gehen, Sie selbst möchte sehr gerne wieder weil sie nicht mehr mobil sind und in in die Region zurückkehren, aber es Folge nicht vereinsamen wollen. Das mangelt an Arbeitsplätzen, und auch Wohnraum zu finden, könnte sich als Eine Situation, wie zu Beginn des Problem erweisen. Ähnliches hörten Jahrtausends, als in Milmersdorf noch wir auch von zwei anderen jungen eine polizeiliche Eingreiftruppe nur für Erwachsenen. rechtsgerichtete Jugendliche abge- stellt war (wie uns ein heute 30jähriger Für Jugendliche im Schulalter fehlen berichtete), gibt es heute auch nicht ferner die passenden Angebote. Es gibt mehr. praktisch keine (aus Sicht der Jugend- lichen). Und selbst ein Jugendclub in Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass Milmersdorf kann nicht alle Jugend- es vielmehr an jungen Menschen fehlt lichen der Region versorgen, zumal als dass es nur die “falschen” gäbe. auch hier Mobilität ein Problem ist. Die Wenig kann darüber hinwegtäuschen, Jugendlichen leben zu weit verstreut, dass es für Kinder im Übergang zum als dass ein zentrales Angebot ihnen Erwachsenenalter und für alte Men- gerecht werden könnte. Überrascht schen, die Hilfe benötigen, noch an waren wir von dem doch recht har- schlüssigen Konzepten mangelt. schen Urteil zweier sehr unterschiedli- cher Herren über die Jugendlichen, die in der Region bleiben. Der eine meinte „die kann man in die Tonne treten“, während der andere etwas gewählter von einer „Negativauslese“ sprach.

Wir nehmen an, dieser Blick auf die jungen Menschen speist sich aus der 41 Vergangenheit und der Tatsache, dass tendenziell die Jugendlichen mit bes- seren Bildungsabschlüssen die Region für Studium und Ausbildung verlassen. So wurde uns in zwei anderen Inter- views erklärt, dass in der Gegend zu DDR-Zeiten so genannte “Spezialhei- me” gewesen seien, die mit ihrem Um- erziehungsanspruch ein schwieriges Bild von Jugend vermittelt hatten. Dabei hat sich viel verändert. Diese Einrichtungen wurden aufgelöst und die sozialpädagogischen Konzepte haben sich drastisch gewandelt. 7/10 REGIONALE IDENTITÄT

“Alles, was man sieht, ist erklärbar.”

Die Bevölkerungsstruktur, das lässt sich nicht zuletzt anhand der Interviews und der Auswertung der Fragebögen erkennen, war in dieser Region zu keiner Zeit stabil. Die Ursachen dafür beschreiben wir in Abschnitt 4. Aber was bedeutet das und welche Aus- wirkungen hat das auf ein Gefühl der regionalen Identität? Diesen Fragen gehen wir aus verschiedenen Blick- winkeln nach, die uns unser Material aus den Gesprächen und Fragebögen eröffnet hat.

Viele der Befragten, die bereits seit mehr als vier Jahrzehnten hier leben Zwei ältere Herren, die sich mit und zwischen 67 und 87 Jahre alt sind, der Historie der Region in und um machen deutlich, dass sie als Klein­ Gerswalde beschäftigt haben, beton- kinder in die Region gekommen sind. ten, dass es nie “die Amtsbevölkerung” an sich gegeben hätte – zumal die ver- 42 Sie bestätigten, dass es “Alteingeses- waltungstechnische Zusammenlegung sene” eigentlich nicht gibt, indem sie und damit das Amt Gerswalde selbst uns berichteten, dass sie selbst erst erst 1992 entstanden sind. kurz nach dem 2. Weltkrieg (Geburts- jahrgänge 1930-1950) mit ihrer Familie Vielmehr seien von jeher Menschen hierher gekommen sind. Die Eltern als Vertriebene oder durch staatliche waren Geflüchtete aus Polen und der Subventionen hierher gekommen. Sie ehemaligen Tschechoslowakei. Zudem siedelten sich parallel zu jenen an, die lebten nicht wenige Befragte in jungen es aus eher persönlicher Motivation Jahren zwischenzeitlich in anderen in die Region zog. So kam es auch, Gemeinden oder Kleinstädten und ka- dass eigentlich kaum jemand auf die men erst im Erwachsenenalter wieder Frage, ob man sich als alteingesessen hierher, in die Dörfer der Amtsregion oder zugezogen betrachten würde, mit Gerswalde. alteingesessen antwortete. Auf diese Frage folgte stattdessen fast immer die Der Stiernsee

Geschichte eines Zuzugs, mag er auch den 1990er Jahren in die Region um- noch so weit zurückliegen. Es fand siedelten – angelockt von der Aussicht, lediglich eine Abgrenzung zu den Neu- hier relativ günstig ein Grundstück zugezogenen statt, vorrangig zu den erwerben zu können. Das bedeutet „Berlinern“ oder den „Wochenendlern“. allerdings nicht, dass diese Bewegung einer fortlaufenden Abwanderung bis Aus dem Erzählten und Beschriebenen spät in die 1990er Jahre hinein Einhalt 43 können wir bei jüngeren Jahrgängen gebot. ebenso die Zuzügler wiederfinden, die aufgrund bestimmter Kampagnen oder Für uns stellte sich somit die Frage, gewisser Umstände hierher fanden. wonach sich die Beurteilung richtet, Unter anderem gibt es Menschen, ob jemand lange hier lebt und wann die in den 1980er Jahren ihr Studium man sich zugehörig fühlt. Schließlich im Bereich der Agrarwissenschaften gewannen wir den Eindruck, die Ein- absolvierten und mit dem Slogan “biete schätzung sei sehr individuell, wobei Eigenheim, suche Arbeitskräfte“ aufs einige Themen eine wichtige Rolle Land gezogen wurden – mit der Ver- spielen, die im Folgenden erläutert pflichtung, 15 Jahre vor Ort zu bleiben. werden sollen. Daneben gibt es diejenigen, vorrangig aus dem Westteil Deutschlands, die in Wir haben die Menschen gefragt, ob sie sich im Sinne ihrer regionalen Veror- tung eher mit ihrem Dorf, der Gemein- de, der Uckermark oder Deutschland identifizieren. Die Antworten dazu fielen sehr differenziert aus. Menschen angesprochen. In manchen Dörfern wiederum beklagen unsere Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Gesprächspartner, dass es kein einzi- alle Menschen, die die Frage “Sind Sie ges Event mehr gäbe. mit dem Zusammenhalt im Dorf zufrie- den?” bejahten, sich in erster Linie mit ihrem Dorf identifizieren und weniger „Hier ist doch überall ­ mit der Gemeinde, der Uckermark tote Hose“ oder gar Deutschland. Allgemein ging aus den Interviews und Fragebögen, war ein häufiger Satz, der vor allem in denen Mehrfachnennungen möglich von Männern und Frauen kam, die vor waren, jedoch hervor, dass sich die der Wende hier in Lohn und Brot stan- Menschen vorrangig als Uckermärker den und sich an die damals üblichen fühlen, während der Zusammenhalt in- Brigade-, Ernte- und Dorffeste erin- nerhalb des Dorfes sehr unterschied- nern. Es handelt sich um Menschen, lich erlebt wird. Eine Tendenz lässt sich die inzwischen meist allein leben, auf nicht feststellen. Menschen, die unsere fremde Hilfe angewiesen sind und kei- Frage nach dem Zusammenhalt positiv ne ehrenamtliche Tätigkeit ausüben. beantworteten, standen vielfach die Formulierungen „na ja“ oder „es geht Darüber hinaus lassen die Aussagen 44 so“ bis hin zu einem „nein“ entgegen. vermuten, dass das negative Empfin- den nicht unbedingt auf Schwierig- Wir nehmen an, die Gründe dafür sind keiten innerhalb der Dorfgesellschaft vielfältig. Es gibt in den Dörfern sehr zurückzuführen ist, sondern der selten eine homogene Bevölkerungs- generellen Strukturschwachheit der gruppe, in der die Interessen ähnlich Region und der damit verbundenen oder einheitlich wären. Das heißt, inaktiven Dorfstimmung geschuldet ist. selbst wenn es einen oder mehre- Die älteren Kinder - sofern es sie gibt re aktive Vereine gibt, werden damit - gehen in angrenzenden Kleinstädten nicht unbedingt die Bedürfnisse vieler wie , Prenzlau und Angermün- de zur Schule und kommen am späten Nachmittag nach Hause. 45

Gerswalde - Ortsmitte Dorfkneipen und Gemeindehäuser als Orte der Begegnung sind kaum noch vorhanden. Wer Arbeit hat, muss meist weit fahren – die Dörfer sind daher un- ter der Woche still und es gibt wenige Aktivitäten, die den Zusammenhalt im Dorf stärken. “Ich möchte gerne wieder nach Hause.”

Gleichzeitig gibt es einen starken Be- zug zum Wohnort, der mit einem Ge- fühl von Vertrautheit und Zugehörigkeit 46 verbunden ist. Das gilt für die Alten und die Jungen. Wir sprachen unter ande- rem mit drei jungen Menschen, die hier aufgewachsen sind und entweder vor Ort eine Ausbildung machen oder aus beruflichen Gründen nach Eberswalde mussten und nun hier fest leben oder für den beruflichen Werdegang weiter zogen. Das Interesse, hierher an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren und sich zu beteiligen, ist groß, “weil man hier anders Kind sein kann als ein Stadtkind”. Stegelitz - ein Imbiss 47 Böckenberg - Garagen

Diese Menschen suchen nach geeigne- “Uckermärkische ten Wegen und Möglichkeiten. Auffällig war in diesem Zusammenhang, dass Uraufführung, für mich ist die jungen Menschen Eberswalde als das der Inbegriff des 48 weit weg und nicht als ihre Heimat Provinzialismus.” bezeichneten. Dies unterstützt die An- nahme, dass bei positiver Verknüpfung Auf der anderen Seite gibt es viele Be- mit Kindheitserfahrungen der konkrete teiligte, die mit der regionalen Identi- Ort, also das eigene Dorf als Heimat tätsfrage wenig bis gar nichts anfangen empfunden wird, auf der eine regionale können und dies zuweilen auch vehe- Identifikation beruht. “Wir Dorfkinder ment ablehnen. In diesen Fällen wird halten auch alle zusammen”, lautete zum Beispiel die Uckermark als schön der Tenor. Und eine brandenburgi- empfunden, ebenso wie eine bestimm- sche Stadt wie Eberswalde, die nur 30 te Badestelle oder das blühende Korn- Kilometer entfernt ist, wird als ähnlich feld, aber darin wird nichts spezifisch fremd empfunden wie beispielsweise uckermärkisches erkannt. eine Stadt in Mecklenburg-Vorpom- Die Kulturlandschaft, geprägt von den mern. Dorfkirchen der Uckermark, dem mär- kisch uradeligen Familiengeschlecht der Uckermark oder eines einzelnen Dorfes. Ungeachtet dessen, welche der von Arnims sowie den barocken Bedeutung der Kulturlandschaft bei- Gütern und kulturellen Angeboten, gemessen wurde, teilten die Menschen spielt in diesem Zusammenhang eben- bei unserer Tour oftmals die Meinung: falls eine bedeutende Rolle. 49 “Es wird so viel von Biber Es gibt zahlreiche Menschen, für die und Wolf gesprochen, aber dieser Bereich identitätsstiftend wirkt, watt wir hier an Kultur zu während andere den Konsum kultu- reller Möglichkeiten sehr genießen, bieten haben und an tol- aber diese Kulturlandschaft als nichts len, krassen Menschen, die Typisches für die Region ansehen. In hier wirbeln, darauf müsste diesem Eindruck bestärkte uns unter man viel stärker den Fokus anderem ein Maler, der zu seinen Arbeiten anmerkte: “Über das klein- ­richten.” karierte Muster auch im Titel meiner Bilder möchte ich hinaus.” Es gibt eben für einige Menschen nicht den exemplarischen See oder die Kirche Mittenwalde - ein leerstehendes Geschäft

“Wunderbarer Boden, janz Gleichzeitig sehen auch viele Befrag- herrlich fruchtbar, schön te genau diese „einzigartige“ Natur fett” gefährdet. Windkraftanlage ist hier das Schlagwort. Die Problematik Ja, die naturbelassene Landschaft ergibt sich nicht unbedingt aus einer und deren Weite sind gleichwohl ablehnenden Haltung gegenüber der wiederkehrende Aspekte, mit denen Windkraftenergie. Es geht eher um die Bewohnerinnen und Bewohner die Kritik an zu vielen Windrädern auf ihren Lebensraum positiv hervor- den Feldern und die Befürchtung, dass 50 heben (es gab nur eine Ausnahme) entgegen vorheriger Vereinbarungen und als spezifisch ausmachen. weitere Windräder zu hoch gebaut wer- Letzteres gilt jedoch nur für diejeni- den, und darum, dass sie bei Vögeln zu gen, die mit der regionalen Identität Desorientierung führen. ­etwas verbinden. Einen besonderen Wert hat das Biosphärenreservat­ Als ein stark verbindendes Element, ­Schorfheide-Chorin, das sich zu einem auf dem nicht zuletzt die Identifikation Großteil über die Amtsregion erstreckt. mit der Region beruht, gilt die Wen- Das Reservat gilt als Erholungsgarant de-Erfahrung – entweder aufgrund der und ist für die Einheimischen von gro- eigenen Biografie oder durch die noch ßem Wert, da es ihre Lebensqualität immer sichtbaren Spuren in dieser enorm bereichert. durch die DDR geprägten Gegend.

Viele Menschen erinnern sich noch daran, dass “die soziale Zufriedenheit und der Zusammenhalt da waren zu DDR-Zeiten”. Das vermissen diese Befragten heute. Gleichzeitig berich- teten alle, die die DDR-Vergangenheit erwähnten, von den vielen Nachteilen des Regimes. Die negativen Äußerun- gen bezogen sich jedoch in erster Linie auf alltagspraktische Angelegenheiten, beispielsweise, dass man zahlreichen Dingen hinterherlaufen musste, kein Holz oder überhaupt Material bekam, auf ein Auto viele Jahre zu warten hatte und ohne Vitamin B nur wenig möglich 51 war.

Die Politik des SED-Staates als sol- che wurden sehr selten thematisiert, während die ökonomische und soziale Sorglosigkeit oft Erwähnung fanden. Hinzu kommt der bittere Beige- schmack negativer Wende-Erfahrun- gen, der viele Menschen in tiefe Krisen stürzte – was bis heute unvergessen ist und bei vielen nachhaltig ein bestimm- tes Gefühl erzeugt:

Wir sind hier die Abgehängten. Jauchelager bei Neudorf

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Denn die Liquidierung von Betrieben hat ganze Landstriche des Ostens zu die Abwanderung der Jugend Verlierern des Einigungsvertrages von und die hohe Arbeitslosigkeit. 1990 gemacht. Die Reorganisation des volkseigenen Vermögens und der Ver- Auch die Abwicklungen der Treuhand- wertung der Grundstücke in der Land- gesellschaft sind hier noch Gesprächs- und Forstwirtschaft zogen gerade hier thema. in der Uckermark massive Folgen nach Die Treuhandgesellschaft wurde zwar sich. 1995 geschlossen, aber zuvor durch In der hauptsächlich von der Land- Gründung von Tochtergesellschaften, wirtschaft gekennzeichneten Region die als Treuhandliegenschaftsgesell- grassierten zwei Phänomene beson- schaften (TLG) bekannt sind, quasi ders verheerend: arbeitsfähig gehalten (etwa die (BVVG) Bodenverwertungs- und verwaltungs GmbH und die (BVS) Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufga- ben). Viele Industriegebäude wurden verkauft oder werden noch verkauft. spektivlosigkeit und Armut nach der Dadurch wurden etliche Tragödien Wende, haben einige der Befragten den verursacht. Denn die Landesregierung Verhältnissen getrotzt und sich den suchte interne Käufer von Grundstü- Traum vom Eigenheim verwirklicht. cken der Großgrundbesitzer, die Kon- Darin liegt sehr viel Stolz, weil etliche kurs anmelden mussten, und vergaben Familien mit ”viel Arbeit und wenig die Grundstücke häufig an fachfremde Geld und knausern” mit ihren eigenen Personen. Ehe die einheimischen klei- Händen ihre Häuser aufgebaut haben. nen Leute eine Chance hatten, Flächen zu kaufen, war das Land schon weg. Auf den Altbauten liegen zum Teil noch “Ich würde mal sagen, hier Schulden. Der Vorschlag, die Gebäude lebt’s sichs gut.” auf die Gemeinden zu übertragen und diese über den Verbleib entscheiden Alles in allem nehmen die Menschen zu lassen, schlug fehl. Zum Unmut der konkrete Mängel mit Gelassenheit hin Einheimischen wurde Vieles privati- und hatten zum Teil Schwierigkeiten siert und ging “meist an die Westler, damit, auf unsere Frage hin Dinge, die die sich die Filetstückchen herausge- ihnen fehlen, zu benennen – außer bei nommen haben”. sehr offensichtlichen Mängeln wie der unzureichenden Infrastruktur. Solche Erfahrungen verbinden und 53 schaffen auch ein Stück gemeinsame Auch gaben uns die meisten Beteilig- regionale Identität, zumal sich daraus ten zu verstehen, dass sie hier nicht ein besonderes Gefühl entwickelt hat: weg wollen, weil sie sich grundsätzlich Aber wir haben es trotzdem geschafft. wohlfühlen. Von den Älteren gibt es einige, die sich vorstellen könnten, in “Zwee Arbeitslose haben die anliegende Kleinstadt zu ziehen, een Haus gebaut.” wenn sie gesundheitlich nicht mehr in der Lage wären, längere Wege zum Arzt oder anderen Dienstleistern zu Mit dieser Erinnerungskultur spielt machen. Doch das ist selten eine klare heutzutage das eigene Heim in dieser Vision, vielmehr wird in der Folge eine schönen Landschaft eine besonders komplette Isolation befürchtet: große Rolle. Trotz zunehmender Per- Parallel haben wir festgestellt, Identität und ein Gefühl regionaler Verbunden- heit speisen sich nicht minder aus zen- tralen Orten und Einrichtungen sowie den darin handelnden Personen, die “Ja, wenn ich nicht mehr aufgrund ihrer individuellen Persön- kann, dann könnt ich da hin lichkeit das Gefüge zentral prägen und ziehen [in die Stadt] und sitz auf spezifische Art und Weise formen. ich doch in die Ecke. Und Und dies kann es kein zweites Mal geben und macht - so scheint es uns watt seh ich n denn? Ooch in diesem Punkt - das Besondere einer bloß die Mauer. Und wenn Region aus. Eine Auswahl von diesen ich hier mich hinsetze, dann Orten beschreiben wir im folgendem sehe ich immer noch, was Abschnitt. rumfliegt und alles.”

Die Bezüge der Menschen zu “ihrer” regionalen Identität, so lässt sich herausstellen, sind sehr vielseitig und greifen nicht für alle und noch nicht einmal für Mehrheiten. Auch gibt es keinen deutlichen Hinweis darauf, dass die Intensität eines Identitätsgefühls in Abhängigkeit zur Wohndauer in der Region stünde. Gleichwohl spielen die genannten Aspekte für alle eine Rolle. 54 Die Menschen hier, so ist uns aufge- fallen, vermischen die aufgeführten identitätsstiftenden Elemente aber in diversen Formen zu einer eigenen regionalen Verbundenheit. Im Ergebnis zeigt sich auch hier ein sehr individuel- les Portrait. 55

Das Biosphärenreservat in der Nähe von Groß Kölpin 8/10 KURZDARSTELLUNGEN

Wie im 7. Abschnitt Regionale Identität versprochen, möchten wir an dieser Stelle noch einige Orte und Menschen erwähnen, die mit dazu beitragen das soziale Gefüge der hier beschriebenen Gemeinschaft abzurunden.

Am Ende unserer Tour tauschten wir uns aus und diskutieren viel. Dabei be- DAS OBDACHLOSENHEIM IN merkten wir, dass bestimmte Einrich- MITTENWALDE tungen und Menschen immer wieder unseren Weg kreuzten, mit denen wir Eine willensstarke und engagierte mitunter nicht persönlich sprachen, die Sozialarbeiterin leitet mit Herz seit uns aber doch in den diversen Gesprä- vielen Jahren diese Einrichtung. Hier chen und Fragebögen immer wieder werden Menschen in Not begleitet. begegneten. Meistens, so erfahren wir, bringen private Umstände, wie Scheidungen Es handelt sich dabei um Orte und und Mietschulden Frauen ebenso wie Menschen, die den Einheimischen hier Männer in prekäre Lebenslagen. Dann wichtig sind oder bei uns einen bleiben- kommen sie für eine Weile hier unter. den Eindruck hinterlassen haben. Es Platz gibt es für ca. 12 Bewohnerinnen scheint, als seien jene Orte integraler und Bewohner. Auf dem Weg zurück zu 56 Bestandteil der Region, weil engagierte einem eigenständigem Leben, so hören Menschen dafür Sorge tragen, sie mit wir heraus, wird versucht den Men- Leben zu erfüllen. schen eine möglichst angenehme At- mosphäre zu gestalten. Man kann sich “Die Arbeit, die man aufgetragen darauf verlassen, dass der Ehemann kriegt, sollte man auch ordnungsge- der Leiterin mit ihnen wöchentlich zum mäß und vernünftig machen. Entweder Einkaufen fährt, alles ehrenamtlich. ich mache das mit vollstem Herzen Und da die Bewohner oftmals sehr al- oder ich lasse es sein. Anders funktio- lein sind, manchmal niemanden mehr niert das nicht” haben, gibt es neben dem Plan zum Schuldenabbau auch ganz sicher einen Kuchen zum Geburtstag. DAS GUT TEMMEN

Zwei, drei Tage in der Amtsregion und man hat mit Sicherheit vom ehemali- gen Rittergut Temmen gehört. Das Gut bewirtschaftet ca. 3300 Hektar Land und produziert ökologische Lebens- mittel. Hier arbeiten ca. 30 Mitarbei- terinnen und Mitarbeiter, drei Azubis werden ausgebildet. Als nennenswer- ter Arbeitgeber der Region ist das Gut Temmen oft im Gespräch, aber auch die ökologisch verantwortungsvolle Arbeitsweise wird in der Bevölkerung sehr geschätzt und immer wieder lobend erwähnt.

DIE UCKERMARK TAGESPFLEGE IN GERSWALDE

Insbesondere im ländlichen Raum kann eine Tagespflege die einzige Hilfeleistung für alleinlebende Men- 57 schen sein, die nicht mehr rüstig und mobil genug sind, um ihre Fahrten zum Arzt allein zu bewerkstelligen oder Sozialkontakte zu pflegen. Und die- jenigen, die das Thema Pflege bisher nicht betrifft, scheint das Vorhanden- sein der Tagespflege zu beruhigen. Denn im Falle des Falles könnte man dort eventuell einen Platz bekommen. Wir können nicht einschätzen, ob und wie viele Menschen tatsächlich die- sen Schritt machen möchten, aber es fällt auf, dass in den Gesprächen die Tagespflege immer wieder als mögli- cher Anker thematisiert wird, falls man jemals mit schweren gesundheitlichen Einschränkungen zu kämpfen hat. Man ist froh diesen Ort zu haben und einige Tagesbesucher können uns persönlich den Eindruck vermitteln, dass es ihnen hier recht gut geht, denn: “Wichtig ist, dass wir gesund bleiben, das es so bleibt, wie es ist, dass alle nett und freundlich sind. Und, ja, ab und zu trin- ken wir auch mal einen Eierlikör.“

DIE PETERSDORFER UND DIE FRAUEN VOM HEIMATVEREIN RINGENWALDE

Wir haben natürlich mehrere engagier- te Menschen getroffen und auch von Vereinen oder Einrichtungen gehört, die interessante und wichtige Arbeit leisten. Dennoch: die Petersdorfer und die Frauen vom Heimatverein Ringenwalde haben uns mit ihrem Engagement, Zusammenhalt und ihrer 58 positiven Gesinnung sehr beeindruckt. Sie verfolgen jeweils ganz verschiede- ne Interessen und verfügen über unter- schiedliche Mittel, diese zu realisieren, aber die Nähe und das Vertrauen untereinander, ist in beiden Gruppen bemerkenswert stark. Während die Petersdorfer die gegen- seitige Nachbarschaftshilfe verfolgen und unter anderem für ihre Frauen im Dorf jährlich die Frauentagsfeier ausrichten, betreiben die Ringenwalder Frauen das Heimatmuseum und orga- nisieren verschiedene Ausstellungen. An beiden Orten kann man, umgeben von berührender Herzlichkeit, sehr gut nachvollziehen, was es bedeutet mit wenig Mitteln und viel Eigeninitiative etwas für die kleine Gemeinschaft auf die Beine zu stellen. Auf Nachwuchs, der das bestehende Engagement weiterführt, hofft man in beiden Dörfern. Es sieht nicht gerade vielversprechend aus, aber noch sind sie alle wohlauf und munter. Und wir drücken die Daumen, dass sowohl die Petersdorfer als auch die Frauen vom Heimatverein noch viele gemeinsame Projekte in ihren Gemeinden realisie- ren werden.

MASCHA JOIN-LAMBERT

Wir hatten schon viel von ihr gehört, weil wir seit knapp zwei Jahren Pro- jekte in der Begegnungsstätte Haus Neudorf realisieren und dieses Haus vor knapp 20 Jahren federführend von Mascha Join-Lambert für arme Men- schen aufgebaut wurde. Sie war viele Jahre in der Uckermark aktiv, ist aber seit mehreren Jahren 59 etwas kürzer getreten und lebt inzwi- schen wieder in Frankreich. Wir ken- nen sie nicht, aber halb kennt sie. Denn im nahezu jedem Ge- spräch fiel ihr Name und ihr Engage- ment fand immer positive Erwähnung. Das war wirklich eine Überraschung. Und wir möchten mit dieser kleinen Notiz ihr offenbar starkes gesellschaft- liches Engagement würdigen. 9/10 ALLES IN ALLEM Gewohnten heraus denken, so dass insbesondere ältere Menschen sich häufiger beklagen und resigniert nur noch das sterbende Dorf vor sich sehen.

Lebendigkeit kann nur dort entstehen, “Datt alle ihr Ding machen wo die Menschen im Ort sich aktiv können, zeichnet ein funkti- einbringen. Zentral war für uns die onierendes Dorf aus.” Beobachtung, dass all jene, die sich in ihrem Dorf einsetzen und nach Aus- Uns fällt auf, dass alle Beteiligten der tausch und Möglichkeiten für Engage- Interviews und Fragebögen sich keine ment suchen, auch diejenigen sind, die Illusionen darüber machen, welche die Dorfgemeinschaft positiv beurtei- strukturellen Hürden in ihrer Region len. Sie sind es auch, die Hoffnung für bestehen. Dennoch nimmt die Mehrheit ihre Dörfer verbreiten, auch wenn sie das Ganze pragmatisch und blickt eher die Probleme nicht leugnen. So müs- optimistisch in die Zukunft. Das steckt sen offensichtlich neue Arbeitsplätze an. in der Region geschaffen werden, aber nur über Landwirtschaft, die immer Viele wünschen sich mehr Lebendigkeit weniger Arbeitskräfte braucht, wird in ihrem Dorf oder der Gemeinde. Man dies nicht funktionieren und für die hofft noch „irgendwie“ auf die Jugend, Ansiedlung neuer Großbetriebe fehlen die es vielleicht doch vermehrt hierher die Voraussetzungen. verschlagen wird. Es soll zumindest 60 verlässliche mobile Einkaufsmöglich- Die Zunahme alternativer Lebens- keiten geben oder einen kleinen Laden, und Gesellschaftsformen könnte ein eine Kneipe im Dorf, die vor allem Türöffner für ein intaktes Dorfleben durchgängig geöffnet und bezahlbar sein. Sie bringen neue Arbeitswelten sind. Gleichzeitig ist den Einheimischen und neue Ideen, die helfen können die durchaus bewusst, dass die Voraus- Region neu zu beleben. Viele die- setzungen dafür geschaffen werden ser Arbeitswelten sind auf eine gute müssen, denn: “Wer soll da für die paar Internetanbindung angewiesen. Ist Euro stehen.” und „Da brauchts je- diese vorhanden, sind mehr Menschen manden mit Leidenschaft, der nur das bereit, die Attraktivität des Landlebens machen will.“ Die Menschen wissen, mit ihrer Arbeit zu verbinden. dass ihre Wünsche nach einem aktiven Dorfleben sich nicht durch Altbekann- Einig sind sich die Aktiven darin, dass tes verwirklichen lassen. sie ihre Ideen nicht ohne Unterstüt- Aber nur schwer lässt sich aus dem zung umsetzen können. Sie sprachen oft davon, dass der Staat seinen politischen Willen zeigen muss, den ländlichen Raum zu schützen. Das bedeutet, ausreichende finanzielle Unterstützung bereit zu stellen und Ausnahmeregelungen für ländliche Gebiete zu schaffen, auf den nicht die gleichen Kriterien angewandt werden können wie auf Städte. Es bedeutet auch, dass Bürgerbeteiligung einfacher und direkter werden muss. Dezentral möchten die Bürgerinnen und Bürger bei Entscheidungen über essentielle Lebensbereiche eingebunden werden. Diese Bereiche umfassen das gesamte Versorgungsnetz aus Bildung (Schule und Kindergarten), Medizin (Ärzte und Gemeindeschwestern), Infrastruktur (Strom und Wasserversorgung, Stra- ßenerneuerung, Erhalt der Dorfläden) und Kultur.

ES GIBT KEINE PATENT­ LÖSUNGEN FÜR DIE ­ANSTEHENDEN PROBLEME, ABER DIE MENSCHEN VOR ORT SIND EXPERTEN FÜR DIE GEGEBEN­HEITEN IN IHRER 61 ­REGION UND IHRE ANSÄTZE, WIE WIR ­SEHEN KONNTEN, OFT ­VIELVERSPRECHEND.

Und da erscheint sehr passend, was einer unserer jüngsten Interviewpart- ner auf die Frage nach seiner Vision für die Zukunft im ländlichen Raum antwortete:

“Ich denke lieber darüber nach, was kann ich denn in Windräder bei Mittenwalde meinem Dorf machen?” 10/10

AUSBLICK

Die Gespräche, die wir führen konnten, sind für uns ein Anfang. Wir sind Vielem begegnet, einem Reichtum­ an Geschichten,­ an Ideen und einer bewegten und ­bewegenden Natur- und Kulturlandschaft.

Fast alle, die wir treffen konnten, ­haben sich für dieses Landleben bewusst Diese möchten wir festhalten und entschieden, trotz teilweiser schwie- schließen mit einer Website an unse- riger Umstände. Vielleicht ist das der re Arbeit an. Auf dieser werden wir Grund, warum wir so vielen interes- einzelne Menschen aus der Region santen Charakteren begegnet sind, die vorstellen mit kleinen Reportagen. Von nicht vor einer eigenen Meinung und dem großen Portrait der Region gehen einer klaren Haltung zurückschrecken wir über zu vielen kleinen, die dieses und gleichzeitig konstruktive Verän- ergänzen werden. derungsvorschläge für ihre Region einbrachten. Auch möchten wir damit andere Men- schen in die Region ziehen und sie zum Dennoch muss auch erwähnt werden: Austausch anregen. Die Website wird Menschen, die sich abgehängt fühlen unsere weitere Arbeit in der Region oder gar nicht mehr bereit sind zu begleiten, so dass sie über die Jahre ­diskutieren, gibt es überall. Dass es weiter wachsen kann. Sie findet sich 62 auch großen Unmut im Amt Gerswalde­ hier: gibt, mag unter anderem das hohe Wahlergebnis für die AfD (16,2 %) bei www.um-portraits.de der Bundestagswahl im September 2017 zeigen. Mit Menschen, die sehr Und die Schubladen? Das ist das Be- enttäuscht und resigniert sind, ins glückende an unseren Gesprächen und Gespräch zu kommen, war für uns Eindrücken: Wenn man die Schubladen schwer möglich. öffnet, verschwinden sie. Wir hoffen, Jene Stimmen konnten­ wir daher nicht dass wir von dieser Erfahrung etwas berücksichtigen. weitergeben konnten.

Diejenigen, die wir interviewen durften, Unser Kontakt: berichteten uns oft von ihren span- MIKUB e.V. nenden Biographien, die sie hierher [email protected] geführt haben. 63

Heimatmuseum Ringenwalde „DIE NATUR GIBT MIR ­GEBORGENHEIT.“

„EINE KNEIPE ­ MUSS HER!“ „DAS DORF STIRBT LANGSAM AUS.“ „GRAVIERENDE PROBLEME SEHE ICH NICHT.“ „AUTO IST ABSOLUTES MUSS, SONST IST MAN ABGESCHNITTEN VON DER AUSSENWELT.“ „DIE REGION IST GUT UND WIRD BESSER!“ „DIE DISTANZ ZU NEUEN IDEEN GEFÄLLT MIR GAR NICHT.“ „FREUNDE, BEKANNTE, NA DIE TREFF ICH BEIM ARZT.“ „DIE “NEUE” GENERATION HAT BESSERE CHANCEN.“ „JEDER LEBT FÜR SICH ­ALLEIN.“ „DER UCKERMÄRKER IST „ICH BIN OPTIMIST: DIE REGION AN SICH ETWAS VERSCHLOSSEN ENTWICKELT SICH ZUM GUTEN.“ UND MAULFAUL“

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Scheunenensemble in Neudorf „DIE MEISTEN ZUGEZOGENEN SIND NETT, ES GIBT ABER AUCH EIN PAAR EINGEBILDETE LEUTE DIE DENKEN MAN MUSS HIER WIEDER DAS MITTELALTER AUFLEBEN LASSEN.“

„ALLES EINE FRAGE DES GELDES, NICHT ­ALLES IST EHRENAMTLICH MÖGLICH.“

„BESSER GEHT‘S NICHT, ZUSAMMENHALT IST SUPER“

„WÜNSCHE ERFÜLLE ICH MIR SELBST“

„RUHE, FRISCHE EIER UND GESUNDE LANDLUFT“

„MANCHE VERHALTEN SICH UNSOZIAL GEGENÜBER MENSCHEN DIE AUS ANDEREN LÄNDERN VOR GEWALT HIERHER GEFLOHEN SIND.“

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Mit freundlicher Unterstützung durch das Amt Gerswalde 67 GERSWALDE, FLIETH-STEGELITZ, MILMERSDORF, MITTENWALDE UND TEMMEN-RINGENWALDE

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