Magisterarbeit

Literaturkritik im Vergleich – Marcel Reich-Ranickis Rezensionen zu ausgewählten Werken von Günter Grass

Eingereicht bei: PhDr. Jaroslav Kovář, Csc. Institut für Germanistik, Nederlandistik und Nordistik Philosophische Fakultät der Masaryk Universität in Brünn

Bearbeitet von: Bc. Alena Hrádková

Brünn 2010

0

Ich erkläre, dass ich meine Abschlussarbeit selbst ausgearbeitet habe und dass ich nur die Literatur benutzt habe, die ich aus der Liste der Bibliographie aufgenommen habe.

………………………………………….

Mein ausdrücklicher Dank gilt meinem Betreuer, Herrn Jaroslav Kovář.

Sommersemester, Brünn 2010

1

Inhaltverzeichnis EINLEITUNG...... …... 4 1 MARCEL REICH-RANICKI...... 5 1.1 Leben...... …...5 1.2 Auszeichnungen...... 9 1.3 Das Literarische Quartett...... 10. 2 LITERATURKRITIK...... 11.... 2.1 Zehn Gebote für Literaturkritik (Marcel Reich-Ranicki)...... 12 2.2 Über Literaturkritik...... 12 2.3 Entwicklung der Literaturkritik...... 14 3 GÜNTER GRASS...... 18 3.1 Leben...... 19 3.2 Werke...... 20 4 MARCEL REICH-RANICKIS KRITIKEN ZU AUSGEWÄHLTEN WERKEN VON GÜNTERGRASS...... 21 4.1 Die Blechtrommel...... 22 4.1.1 Auf gut getrommelt...... 22 4.1.2 Selbstkritik des „Blechtrommel“-Kritikers...... 24 4.1.3 Unser grimmiger Idylliker...... 24 4.2 Katz und Maus...... 26 4.3 Hundejahre...... 27 4.3.1 Bilderbogen mit Marionetten von Vogelscheuchen...... 27 4.4 Die Plebejer proben den Aufstand...... 30 4.4.1Ein deutsches Trauerspiel über ein deutsches Trauerspiel...... 31 4.5 örtlich betäubt...... 33 4.5.1 Eine Müheheldensoße...... 33 4.6 Der Butt...... 35 4.6.1 Von im und synen Fruen ...... 36 4.7 Ein weites Feld...... 38 4.7.1 …und es muss gesagt werden...... 38 5 REZENSIONEN VON ANDEREN LITERATURKRITIKERN...... 41 5.1 Danziger Trilogie...... 42

2

5.1.1 Die Blechtrommel...... 42 5.1.2 Katz und Maus...... 43 5.1.3 Hundejahre...... 44 5.2 Die Plebejer proben den Aufstand...... 45 5.2.1 Urs Leny: Grass probt den Aufstand...... 45 5.2.2 Dieter Hildebrandt: Brecht und der Rasen...... 46 5.2.3 Jost Nolte: „Die Plebejer proben den Aufstand“...... 47 5. 3 örtlich betäubt...... 47 5.3.1 Hans-Gernot Jung: Lästerungen bei Günter Grass...... 48 5.3.2 Heinz Ludwig Arnold: Zeitroman mit Auslegern: Günter Grass` „örtlich betäubt“...... 49 5.4 Der Butt...... 49 5.4.1 Christoph Pereis: Roman als das Ganze...... 49 5.4.2 Gunzelin Schmid Noerr: Günter Grass und die Frauen...... 50 5.5 Ein weites Feld...... 51 5.5.1 Gustav Seibt: Die Uhr schlägt, das Käuzchen ruft...... 51 5.5.2 Reinhard Tschapke: Rummel um Grass: Wenn der Lärm die Literatur übertrifft...... 53 5.5.3 Jürgen Busche: Vom Glanz und Schmutz des deutschen Bürgertums...... 54 5.5.4 Fritz Rudolf Fries: Hoftaller plus IM Fonty, ein sehr weites Feld...... 54 5.5.5 Andrea Köhler: Die Deutschstunde...... 55 5.5.6 Wolfgang Ignée: Fremde an einem Tisch...... 56 6 VERGLEICH DER KRITIKEN...... 57 ZUSAMMENFASSUNG...... 61 LITERATURVERZEICHNIS...... 63 Primärliteratur...... 63 Sekundärliteratur...... 63 Internetquellen...... 64 Abbildungsverzeichnis...... 64

3

EINLEITUNG In meiner Masterarbeit beschäftige ich mich mit Marcel Reich-Ranickis Literaturkritiken zu den Werken von Günter Grass. Dieses Thema interessierte mich, weil ich schon früher viele Rezensionen und Büchern von dem berühmtesten Kritiker las und sie immer sehr interessant fand. In dem ersten Kapitel stelle ich kurz das Leben, Auszeichnungen von Marcel Reich-Ranicki und seine literaturkritische Tätigkeit in den Medien vor. Der nächste Teil beschreibt allgemein die Literaturkritik und ihre Entwicklung. In der Vergangenheit haben sich viele andere Rezensenten in Deutschland literatukritisch geäußert. Weiter sage ich ein paar Worte zu der Person Günter Grass`. Die letzten drei Kapitel meiner Masterarbeit widme ich mich den Literaturkritiken von Marcel Reich-Ranicki und den anderen bedeutenden Literaturkritikern und Wissenschaftlern zu den ausgewählten Werken von Grass, welche ich am Ende zueinander vergleiche. Schließlich wird alles zusammengefasst. Die Verhältnisse zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki sind sehr kompliziert. Was fühlt Grass zu Reich-Ranicki? Man kann bestimmt nicht über Hass sprechen aber ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er ihn nicht mag – besonders nach der Kritik von dem Roman Ein weites Feld und dem Brief, der Reich-Ranicki direkt an Grass schrieb. Und das Verhältnis des Literaturkritikers zu Grass? Diese Frage stellt er sich sogar in einer seiner Kritiken. Kritiker dürfen und müssen oft übertreiben, um verstanden zu werden. Doch muss alles seine Grenzen haben. Nach Reich-Ranickis Meinung habe er seine Grenzen nicht überschritten. Er mache seinen Beruf gut. Warum ist er gerade so streng zu diesem Schriftsteller? Die anderen deutschen Schriftsteller wurden auch sehr oft von Reich-Ranicki kritisiert (z.B. Martin Walser, Heinrich Böll) aber das Verhältnis zwischen diesen beiden ist besonders zugespitzt. Sie waren zwar jahrelang in Kontakt und Grass hat Reich-Ranicki mehrmals zum Abendessen eingeladen. Auf der anderen Seite sagt keiner von ihnen über den anderen ein positives oder lobenswertes Wort. Marcel Reich-Ranicki hat natürlich auch Freunde. Seine Feinde trifft er jedoch auf jedem Schritt. Sind seine Literaturkritiken für ihn so wichtig, dass es sich lohnt, aus den Freunden Feinde zu machen?

4

1 Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki ist der bedeutendste Literaturkritiker Deutschlands. So viel Macht und Talent, wie er besitzt, hatte keiner seiner Kollegen jemals zuvor. Oft wird er Literaturpapst genannt und im Laufe der Zeit wurde er auch ein Medienstar. Wenn Reich-Ranicki Daumen nach oben zeigt, wird das Werk wahrscheinlich erfolgreich. Daumen nach unten bedeutet für die Schriftsteller nichts Gutes.

1.1 Leben

Abbildung 1: Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Włocławek an der Weichsel in Polen als drittes Kind des Fabrikbesitzers David Reich und dessen Ehefrau Helene Reich geboren. Seine älteren Geschwister hießen Alexander Herbert (1911 – 1943) und Gerda (1907 – 2006). Seine Mutter Helene, geborene Auerbach, war eine deutsche Jüdin und sein Vater ein polnischer Jude. Sie stammten aus verschiedenen Verhältnissen. Väterlicherseits waren alle Vorfahren Kaufleute. David Reich selbst besaß zwar eine kleine Fabrik für Baumaterialien, aber als Kaufmann war er erfolglos – 1928 musste er den Bankrott anmelden. Die Mutter stammte aus einer Familie, deren Väter traditionell Rabbiner waren. Anders als seine Geschwister, besuchte er die deutsche Schule in Włocławek.

5

Abbildung 2: Marcel Reich-Ranicki im Alter von drei Jahren

Im Jahre 1929 zog Reich-Ranicki nach Berlin um. Er besuchte hier zunächst die Volksschule. 1930 wurde er auf das Werner-Siemens- Realgymnasium aufgenommen. Weil er Jude war, konnte er nicht an Schulausflügen, Sportfesten und nationalsozialistischen Schulversammlungen teilnehmen. Stattdessen widmete er sich der deutschen Literatur, las die deutschen Klassiker, besuchte Theater, Konzerte und Opern. Nach der Auflösung im Jahre 1935 besuchte er das Fichte-Gymnasium, wo er drei Jahre später das Abitur abgelegte. Er wurde jedoch als polnischer Jude nicht zum Studium an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin zugelassen. Im Herbst wurde er verhaftet und nach Polen deportiert. Reich-Ranicki fuhr nach Warschau, wo er niemanden kannte; die polnische Sprache vergaß er fast, musste sie wieder erlernen und blieb ein Jahr arbeitslos. Seine spätere Ehefrau Teofila Langnas lernte er durch eine Tragödie kennen. Ihr Vater Paweł Langnas erhängte sich aus Scham und Verzweiflung am 2. Januar 1940, nachdem die ganze Familie durch die deutsche Besatzungsmacht aus Lodz vertrieben wurde. Die Mutter von Reich-Ranicki erfuhr von dem Unglück und schickte ihn dorthin, weil er sich um die Tochter kümmern sollte. Fortan waren die zwei immer zusammen.

6

Abbildung 3: Marcel Reich-Ranicki im Alter von 22 Jahren

Im November 1940 wurden alle Juden in das Warschauer Ghetto umgesiedelt. Er arbeitete in der Verwaltung des Ghettos, dem „Judenrat“, wo er als Übersetzer tätig war. Für die Ghettozeitung Gazeta Żydowska (deutsch: Jüdische Zeitung) schrieb Marcel Konzertrezensionen unter dem Pseudonym Wiktor Hart. 1941 wurde er Mitarbeiter des Ghetto-Untergrundarchivs des Emanuel Ringelblum. Im Jahre 1942 erfuhr er von einer großen Deportation und entschied sich, Teofila zu heiraten, um durch diese amtliche Beglaubigung die Überlebenschancen seiner Lebensgefährtin zu erhöhen. Am 22. Juli 1942 – zu Beginn der Deportation des Ghettos – heirateten sie. Wegen seiner Arbeit wurde Reich-Ranicki zuerst verschont. Im Februar des Jahres 1943, vor ihrer Deportation, gelang es ihnen, aus dem Warschauer Ghetto durch eine Bestechung der jüdischen Wachtposten zu flüchten. Sie fanden einen Unterschlupf bei der Familie des Schriftsetzters Bolek Gawin. Sie blieben hier bis September 1944 – bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Marcels Eltern wurden schon 1942 ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und vergast. Marcels Bruder, der Zahnarzt Alexander Herbert, wurde am 4. November 1943 im Zwangsarbeitslager Trawniki erschossen. Seine Schwester Gerda floh mit ihrem Mann Gerhard Böhm 1939 nach London, wo sie 2006 im Alter von 99 Jahren starb. Nach der Befreiung arbeitete Reich-Ranicki aus Dankbarkeit bei der polnischen kommunistischen Geheimpolizei UB (Urząd Bezpieczeństwa). 1948 wurde er Vize-Konsul und nahm den Namen „Marceli Ranicki“ an, weil sein Familienname „Reich“ an die Deutschen erinnerte. Er arbeitete an der polnischen

7

Botschaft in London, wo er zuständig für die Rückführung polnischer Emigranten war. Sein Sohn Andrzej Alexander wurde hier am 30. Dezember 1948 geboren. Ende 1949 bat er aus politischen Gründen um seine Abberufung aus London. Nach seiner Rückkehr nach Warschau wurde er wegen „ideologischer Entfremdung“ aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (kommunistische Partei) ausgeschlossen, inhaftiert und schließlich auch im Gefängnis gehalten. Aus dem Gefängnis entlassen, wandte er sich der Literatur zu und wurde Lektor für deutsche Literatur in einem großen Warschauer Verlag. Aber schon Ende 1951 entschied er sich für eine Tätigkeit als freier Schriftsteller. Reich- Ranicki befasste sich mit der Kritik der deutschen Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart. Er schrieb neben Rezensionen und Essays, die in verschiedenen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und gelegentlich auch in DDR-Zeitschriften gedruckt wurden, auch kritische Einleitungen zu Werken von Goethe, Fontane, Storm, Hesse und Heinrich Mann. Mit Andrzej Wirth übersetzte er Schloß von Franz Kafka und Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt. Doch Anfang 1953 verboten ihm die polnischen Behörden jegliche Publikation, was bis Ende 1954 aufrecht erhalten blieb. Am 21. Juli 1958 fuhr Reich-Ranicki auf eine Studienfahrt nach Frankfurt am Main in die Bundesrepublik Deutschland. Er kehrte von dieser Reise nicht mehr nach Polen zurück. Seine Frau fuhr mit dem Sohn Andrzej von seiner Abreise in den Urlaub nach London, um eine Ausreise der gesamten Familie in bürokratischer Hinsicht zu erleichtern. Er lebte zuerst in Frankfurt am Main, wo er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und Rundfunksender arbeitete. Der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Hans Schwab- Felisch, schlug ihm vor, seinen heutigen Doppelnamen zu verwenden, was dieser ohne zu zögern übernahm. Mitglieder der Gruppe 47, Siegfried Lenz und Wolfgang Koeppen halfen ihm unter anderem, indem sie ihn ihre Bücher rezensieren ließen. In den Jahren 1959 - 1973 wohnte Reich-Ranicki in , wo er als Literaturkritiker der Zeitung tätig war. Er hatte dort schon sehr früh das Recht auf Auswahl seiner Bücher, die er besprechen wollte, doch wurde andererseits niemals zur Teilnahme an den Redaktionskonferenzen eingeladen. Im Jahre 1973 zog er wieder nach Frankfurt. Dort leitete er bis 1988 die Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 1988 wurde die ZDF- Sendung „Das Literarische Quartett“ gegründet, die Marcel Reich-Ranicki leitete.

8

Mit ihr wurde der Literaturkritiker zum Medienstar. Die Sendung, die im Fernsehen 13 Jahre lief, zeichnete sich durch eine lebhafte und kontroverse Diskussionskultur aus. Reich-Ranicki lebt heute mit seiner Frau Teofila in Frankfurt am Main. Sein Sohn Andrzej (heute: Andrew Alexander Ranicki) ist Professor für Mathematik an der Universität Edinburgh.

1.2 Auszeichnungen

Reich-Ranicki wurde auch im Bereich der Lehre engagiert. Er unterrichtete in den Jahren 1968 und 1969 deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts an der Washington University in St. Louis und am Middlebury College. Von 1971 bis 1975 arbeitete Reich-Ranicki als ständiger Gastprofessor für Neue Deutsche Literatur an den Universitäten Stockholm und Uppsala. 1973 lehrte er Literaturkritik an der Universität Köln. Seit 1974 ist er Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. 1990 erhielt Marcel Reich-Ranicki die Heinrich-Heine-Gastprofessur an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität, 1991 die Heinrich-Hertz-Gastprofessur an der Universität Karlsruhe. Er unterrichtete an mehreren Universitäten, wofür ihm viele Auszeichnungen verliehen wurden. Unter anderem erhielt er auch viele Literaturpreise.

Die wichtigsten Auszeichnungen und Literaturpreise von Marcel Reich-Ranicki:

1972 - Silbernes Verdienstkreuz (Polen) 1972 - Ehrendoktorwürde der Universität Uppsala 1976 - Heine-Plakette 1981 - Ricarda-Huch-Preis 1983 - Wilhelm-Heinse-Medaille der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz 1984 - Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main 1987 - Thomas-Mann-Preis 1989 - Bambi-Kulturpreis 1991 - Hermann-Sinsheimer-Preis für Literatur und Publizistik

9

1992 - Ehrendoktorwürde der Universität in Augsburg 1992 - Ehrendoktorwürde der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg 1992 - Wilhelm-Leuschner-Medaille 1995 - Ludwig-Börne-Preis 1996 - Cicero Rednerpreis 1997 - Ehrendoktorwürde der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf 2000 - Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2000 - Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2001 - Ehrendoktorwürde der Universität Utrecht 2002 - Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität in München 2002 - Goethepreis der Stadt Frankfurt 2003 - Großes Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland 2006 - Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin 2006 - Ehrendoktorwürde der Universität Tel Aviv 2007 - Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität zu Berlin 2007 - Inauguration des Reich-Ranicki-Lehrstuhls für deutsche Literatur der Universität Tel Aviv 2008 - Henri Nannen Preis - Journalistisches Lebenswerk

1.3 Das Literarische Quartett

Das Literarische Quartett war eine Sendung des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), die zum ersten Mal im März 1988 ausgestrahlt wurde. Die letzte Literatursendung fand auf Einladung des Bundespräsidenten Johannes Rau vom Schloss Bellevue im Dezember 2001 statt. Immer waren Marcel Reich- Ranicki, Hellmuth Karasek dabei und – abgesehen von der letzten Sendungen – auch Sigrid Löffler. Ab 1990 wechselte der vierte Teilnehmer zu jeder Sendung. Zum Publikum gehörten nicht nur die Leser von Rezensionen, sondern auch viele Menschen, die sich für die Literatur nicht interessieren. Sie wollten Spass an den Gesprächen und an den Streitigkeiten haben.

Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett am 18. März 1993:

10

Wir werden über Bücher sprechen, und zwar, wie wir immer sprechen: liebevoll und etwas gemein, gütig und vielleicht ein bisschen bösartig, aber auf jeden Fall sehr klar und deutlich. Denn die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritik der Kritiker.1

Viele machten dem „Quartett“ Vorwürfe, dass die Sendung oberflächlich, banal, populistisch und vereinfacht ist. Innerhalb von 75 Minuten wurden fünf Bücher besprochen, so dass pro Titel im Durchschnitt fünfzehn Minuten zur Verfügung standen. In diesen fünfzehn Minuten kann kein Werk ordentlich literarisch analysiert werden. Natürlich wurde vereinfacht und das Ergebnis war meistens sehr oberflächlich. Die Literatur lässt sich nicht popularisieren, ohne es auch zu trivialisieren. Auf jeden Fall mussten alle Kritiker, die in der Sendung auftraten, auf ihre literaturkritische Ambitionen verzichten.

2 Literaturkritik

Die Aufgabe der Literaturkritik (oder Literaturbesprechung) ist, anhand von Rezensionen, Werke der Literatur zu bewerten und einzuordnen. Sie erörtert nicht nur Neuerscheinungen, sondern auch ältere Werke. Die Literaturkritiker behaupten oft, dass sie für die Leser arbeiten und im Dienst des Publikums sowie der Literatur stehen. Sie bewerten die Werke im Hinblick auf implizite oder explizite Kriterien, die gegebenenfalls wie in der Literaturwissenschaft auch mit Verweisen auf entsprechende Literaturtheorien argumentieren. Die Literaturkritik stellt in unserer heutigen Gesellschaft immer mehr ein wichtigeres Kriterium zur Aussortierung von „schlechten“ Büchern dar. Weil zurzeit fast jeder einen Verlag findet, wird es für den Leser immer schwieriger, sich auf dem Büchermarkt zu Recht zu finden. Jedes Jahr finden Buchmessen statt, die den Lesern bei ihren Entscheidungen helfen sollen. Die bedeutendsten Buchmessen sind jene in Leipzig und Frankfurt am Main. Ansonsten gibt es im Fernsehen Sendungen, in denen neue Bücher vorgestellt und deren Inhalt und Schreibstil beschrieben und diskutiert werden. Zu den wichtigsten anerkannten deutschen Literaturkritikern zählen wir: Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schlegel, Heinrich Heine, Karl Kraus, Kurt

1 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Literarische_Quartett [2010-05-25]

11

Tucholsky, Friedrich Sieburg, Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens, Joachim Kaiser.

2.1 Zehn Gebote für Literaturkritiker (Marcel Reich-Ranicki) 2

Du sollst nichts Wichtigeres haben neben dir als die Kritik. Du sollst keinem anderen dienen als der Literatur und ihren Lesern. Du sollst keinen Dichter anbeten und keinem gefällig sein. Du sollst nicht langweilen. Du sollst deiner Lust oder Unlust beim Lesen gehorchen und die Gründe für sie finden. Du sollst Mut haben, dich deiner eigenen Urteilskraft zu bedienen, entschieden zu loben oder zu tadeln und in deiner Entscheidung zu fehlen, sollst Übertreibungen nicht meiden, Provokationen nicht scheuen und Feinde nicht fürchten. Du sollst nicht unklares Zeugnis ablegen über ein Buch. Du sollst das Verständnis für Literatur und das Vergnügen an ihr befördern. Du sollst die Namen großer Dichter nicht mißbrauchen, indem du kleine mit ihnen vergleichst. Du sollst nicht begehren, selbst zu dichten.

2.2 Über Literaturkritik

Jede Kritik ist gleichzeitig auch eine Polemik. Die Rezension muss das Buch befürworten oder zurückweisen, spricht sich nicht nur für oder gegen einen Autor aus, sondern auch für oder gegen die Schreibweise, Richtung und Tendenz der Literatur. Der Literaturkritiker lobt die Werke und verweist auch auf das Fehlende und das Erwünschte. Das Negative muss er so deutlich wie möglich erklären:

Deutlichkeit heißt das große Ziel der Kritik. Schwierig sei es, ein Kritiker und zugleich ein Gentleman zu sein. Jeder Kritiker weiß aus Erfahrungen, dass es

2 Vgl. http://www.literaturkritik.de/reich-ranicki/index.php?content=http://www.literaturkritik.de/reich- ranicki/content_themen_literaturkritik.html [2010-05-25]

12

zahllose Situationen gibt, in denen Höflichkeit dem Autor gegenüber nur auf Kosten der Klarheit möglich ist. 3

Mit der nicht deutlichen und komplizierten Kritik findet sich der Schriftsteller leicht ab. Er denkt nämlich, dass sie die Leser nicht ernst nehmen. Die Höflichkeit des Kritikers, die gehalten wird, ist nichts Anderes als Bequemlichkeit oder Unentschiedenheit. Jener Kritiker, der sich nicht deutlich ausdrücken kann, keine klaren Antworten anbietet und sich hinter doppelsinnigen und dehnbaren Formulierungen versteckt, habe den falschen Beruf gewählt. Sogar schon Lessing sagte:

Die Höflichkeit ist keine Pflicht: und nicht höflich sein, ist noch lange nicht, grob sein. Hingegen, zum Besten der mehreren, freimütig sein, ist Pflicht, sogar es mit Gefahr sein, darüber für ungesittet und bösartig gehalten zu werden, ist Pflicht. 4

Der Kritiker muss sich entscheiden können. Er hat deutlich „ja“ oder „nein“ zu sagen und das Risiko, das mit der Entscheidung verbunden ist, auf sich zu nehmen. Die Zahl der Bücher, auf die man teilweise mit einem bedächtigen „Nein“ und teilweise mit einem zögernden „Ja“ reagiert, ist nicht so groß. Es gibt natürlich auch solche Literaturkritiker, sogenannte „Jein“-Sager, die sich nicht zu einem Buch äußeren, bevor sie nicht mindestens mehrere Rezension gelesen haben. Auch sehr schädlich sind Alleslober, die das Vertrauen der Leser in die Literaturkritik untergraben. Die Fehler von den „Jein“-Sagern und den Alleslobern bemerkt der Leser oft nicht. „Jein“-Sager machen nämlich nur halbe Irrtümer und Alleslober beschreiben das Schlechte als farblos-mittelmäßig, sodass das Ganze überhaupt nicht negativ klingt.

3 Vgl. Michel, Sascha: Texte zur Theorie der Literaturkritik. Stuttgart 2008, S.246.

4 Ebd. , S.247.

13

Urteile werden von Richtern gefällt. Das Urteilen ist ebenso Teil des Berufs eines Kritikers. Deswegen werden oft als Kunstkritiker bezeichnet. Diese Meinung lehnt Reich-Ranicki ab:

Sosehr ich hoffe ein engagierter Kritiker zu sein, so wenig möchte ich mit einem Richter verglichen werden. Zunächst bin ich verpflichtet, den Autor, dessen Buch ich rezensiere, zu verteidigen. […] Ich muss es mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu seinen Gunsten deuten und dem Leser so vorteilhaft wie möglich präsentieren. Ich habe, wenn es um seine schwachen Seiten geht, auf mildernde Umstände hinzuweisen. Und es ist meine Hauptaufgabe, alle diejenigen ästhetischen, intellektuellen und moralischen Aspekte und Motive seines Werkes zu betonen, die ihm, dem Autor, die Anerkennung, die Sympathie, vielleicht sogar die Liebe des Publikums sichern können. 5

Der Kritiker fungiert nicht nur als Verteidiger, sondern auch als Ankläger. Er präsentiert in den Texten nur seine eigene Einschätzung und schreibt nicht im Namen des Publikums, des Kollektivs oder der Zeitung. Die Redaktion der Zeitung darf ihn dabei nicht beeinflussen. Marcel Reich- Ranicki behauptet, dass der Literaturkritiker jede Seite eines neuen literarischen Werks misstrauisch lesen müsse und alles Schwache und Schlechte im Gegenstand der Betrachtung zu suchen habe. Sein Schützling – der Autor – ist auch sein Opfer. Wenn wir wieder zu der Terminologie der Justiz zurückkommen, kann man sagen, dass der Kritiker gleichzeitig als Rechtsanwalt und als Staatsanwalt auftritt. Das Ergebnis des Kampfes dieser zwei Seiten ist die Kritik, die dem Autor, der Literatur und unserer Zeit dient.

2.3 Entwicklung der Literaturkritik

Literaturkritik entwickelte sich im Laufe der Zeit. Der Blick auf sie wurde immer wieder von den Literaturkritikern verändert. Zunächst handelte es sich natürlich um berufstätige Schriftsteller und nicht um „richtige“ Literaturkritiker. Dieser Beruf differenzierte sich erst später im 20. Jahrhundert. Viele von ihnen

5 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel : Unser Grass. München 2003, S.22. 14 widmeten sich jedoch nicht nur der Literaturkritik, sondern auch der Philosophie oder der Publikationstätigkeit. Marcel Reich-Ranicki halten wir für Literaturkritiker und Schriftsteller (seine Biografie Mein Leben). In den nächsten Absätzen beschreibe ich die Entwicklung von Theodor Fontane, zu dessen Zeiten sich die Literaturkritik erst zu entwickeln begann, bis hin zu Marcel Reich- Ranicki, den man schon zu den modernen Literaturkritikern zählt. Der Zwiespalt zwischen Tageskritik und Theorie wird umso schlimmer, je mehr sich die Literaturkritik professionalisiert und damit eben auch von großen Programmen und Literaturbewegungen unterscheidet. Theodor Fontanes publizistische Tätigkeit stellt ein erstes Beispiel für eine solche Form der professionellen, alltäglichen Kritik dar. In der Sammelrezension aus dem Jahre 1853 über Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 zeigt Fontane, dass er inmitten der Tageskritik auch Raum für explizit programmatische und allgemein poetologische Überlegungen findet. Fontane denkt die geforderte „Widerspiegelung alles wirklichen Lebens“ mit „poetischer Verklärung“ und der Ablehnung einer nackten Wiedergabe von sozialer Realität zusammen. Seine Programmatik zeichnet sich jedoch auch durch ein Problembewusstsein aus. Das kann als eine Art Antwort auf die normativen Fallen des programmatischen Realismus verstanden werden. Er will darauf hinweisen, dass auch die normativen Begriffe des Realismus nur konstruiert und nicht vom Himmel der poetologischen Ideen gefallen sind. Dank Theodor Fontane beginnt die Subjektivierung und Professionalisierung der Kritik. In dieser Richtung setzt Alfred Kerr weiter fort. Kerr wurde seinerzeit vor allem als Schriftsteller betrachtet. Kerrs Auftritte als Kritiker sind fast wichtiger als seine Theaterinszenierungen selbst. Polemiken mit dem Theaterkritiker Herbert Ihering oder mit Karl Kraus bilden Kernbereiche seines kritischen Schaffens. Er stellt die Literaturkritik als vierte literarische Gattung neben Lyrik, Epik und Dramatik dar. Diese Gattung spielt seiner Meinung nach sogar eine größere Rolle in der Literatur. Obwohl Kerr seine Werke in den 20er Jahren politisierte, blieben sie in ihrem Kern apolitisch. Kurt Tucholsky behauptet, dass Publizistik und politisches Engagement untrennbar zusammen gehören. Er lehnt die Meinung von Kerr ab und nimmt die Personalisierung und Privatisierung der Literaturkritik wieder zurück. Die Literaturkritiker sollen in ihren Rezensionen „Wahrheit“ schreiben.

15

Mit „Wahrheit“ meint er nicht irgendeine objektive Eigenschaft des Gegenstandes, sondern Wahrhaftigkeit des Kritikers. Walter Benjamin setzt in der politisch engagierten Kritik fort. Seine Meinungen veröffentlichte er in seiner berühmten Rezension Linke Melancholie aus dem Jahre 1931, in der er die Publizistik im Umfeld der Berliner Weltbühne ablehnte. Kritik schließt für ihn auch Kritik des Literaturbetriebs ein. Das bedeutet, dass man nicht auf die Kollegen herabblickt, sondern auf die ökonomische Basis reflektiert, die man mit ihnen teilt. Besonders Begriffe wie „Wahrheit“ und „Autonomie“, die seit der Aufklärung bis jetzt im Mittelpunkt der Literatur standen, geraten bei Benjamin unter radikalen Ideologieverdacht. Er verlangt vom Kritiker eine Art Klassenbewusstsein, das mit Parteinahme und bewusster Polarisierung im Literaturbetrieb einhergeht und sich von „reiner“ Kunst der Vergangenheit verabschiedet.6 Walter Benjamin sowie Theodor W. Adorno gehören zum Kreis der sogenannten „Kritischen Theorie“. Das ist eine Denkrichtung entstanden am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Weil im Zentrum der Kritischen Theorie die Idee einer gesellschaftstheoretisch verankerten und zugleich interdisziplinär arbeitenden Sozialforschung steht, wurden Theoriebildung und empirische Arbeit (aus der Perspektive der Ökonomie, der Psychoanalyse oder Musiksoziologie) eng miteinander verknüpft. 7 Nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil hält Adorno mindestens programmatisch an dieser Idee fest. Damit machte er sich in der neu gegründeten Bundesrepublik nicht nur als Philosoph und Musiktheoretiker einen Namen, sondern auch als Interpret der modernen Literatur. Adorno polemisiert gegen die restaurative Literaturkritik, die nach dem Jahre 1945 entsteht. Kritik, die zu dieser Zeit dominierte, bezieht sich auf die Verdrängung des Zusammenhangs von Kultur und Barbarei, der zu Auschwitz führte. Literaturkritik und Kulturkritik sind deshalb allenfalls in Form radikaler, kritischer Selbstreflektion möglich und müssen sich in sprachlicher Form der „Erschütterung“ stellen, die darin besteht, dass die Kultur selber für ihren eigenen „Neutralismus“ sorgt. Kritik verliere ihre Souveränität, wenn sie nicht neutral ist.

6 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Die Anwälte der Literatur. Stuttgart 1994, S. 231.

7 ebd. , S. 193.

16

Es bieten sich zwei Erklärungen für diesen Souveränitätsverlust: Pierre Bourdieu behauptet, dass auch die Gesellschaftskritik nur eine Form des Spiels um Distinktionsgewinne sei. Damit will er sagen, dass die Kritik so mit den Machtmechanismen ihres eigenen Betriebs und der Gesellschaft verbunden ist, dass jede Geste kritischer Distanz fragwürdig erscheint. Die andere Theorie der Analyse zentraler Mechanismen der Systembildung stammt von Niklas Luhmann. Kritik diene Luhmann zufolge der Selbsterhaltung des Kulturbetriebs. Nach dieser Theorie sind die Inhalte der Kritik nicht so wichtig wie die Aufmerksamkeitsgewinne durch die Kritik und Negation. Der nächste wichtige Literaturkritiker - Vertreter der sogenannten nouvelle critique - stammt aus Frankreich. Roland Barthes ist jedoch nicht nur Kritiker, sondern auch Schriftsteller und Semiologe. Er war schon zu Lebzeiten eine sehr wichtige Persönlichkeit in der Literaturkritik und -wissenschaft. Sein berühmtestes Essay Kritik und Wahrheit, das im Jahre 1966 erschien, ist nichts Anderes als eine Verteidigungsschrift der Neuen Kritik und eine direkte Antwort auf das Pamphlet von Raymond Picard. 8 Die „alte“ Kritik und „Asymbolismus“, die wieder Picard beschreibt, lehnt Barthes ab. Literatur wird von ihm durchaus bereits poststrukturalistisch gedacht. Die Grundlagen des Strukturalismus bestehen aus Zeichensystemen und knüpfen an die Linguistik Ferdinand Saussures an. Barthes unterscheidet zwischen drei Sprechweisen, erstens die der Wissenschaft, die sich um die Bedeutungsvielfalt der Literatur bemüht, zweitens die der Kritik, die „offen und auf eigene Gefahr“ eine bestimmte Bedeutung konstruiert, und drittens die der unmittelbaren Lektüre, die im Unterschied zur Kritik auf das engagierte Schreiben über das Gelesene verzichtet. Die Voraussetzung der Kritik ist die „Logik der Symbole“, wodurch sich nouvelle critique von anderen Strömungen unterscheidet: Ohne Literatur und Literaturtheorie, ohne Psychoanalyse und Rhetorik steht die Kritik der pluralen Sprache der Literatur hoffnungslos naiv und ohnmächtig gegenüber. Marcel Reich-Ranicki ist „Großkritiker“ der Bundesrepublik Deutschland. Er gehört immer noch zu einem der wichtigsten Kritiker, zusammen mit Walter Jens, Joachim Kaiser und Hans Mayer. Nach Gustav Seibt, einem deutschen

8 Vgl. Michel, Sascha: Texte zur Theorie der Literaturkritik. Stuttgart 2008, S. 210.

17

wichtigen Historiker, Literaturkritiker und Journalist, gehört Reich-Ranicki zu dem Kritikertyp, der „entschlossen den Standpunkt des Publikums“ einnimmt. Deshalb sind seine Kritiken sowohl unterhaltsam als auch wirkungsvoll. Charakteristisch für diese Art von Kritik sind „Geschmacksurteile im engeren Sinne der prüfenden Wahrnehmung ästhetischer Reize“ und die entschiedene Abwehr alles Akademischen und Theoretischen.9 Er lehnt die Theoriefeindlichkeit ab und behauptet, dass diese nur bewusste Maskerade sei, hinter der sich eine ganze Generation von Literaturkritikern verbirge. In seiner Dankesrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität erwähnte Reich-Ranicki diese Problematik:

Ich habe mir als Kritiker immer die größte Mühe gegeben, die Theoriefremdheit vorzuspielen. Ich wollte, dass meine Arbeit nicht belastet wird von der Theorie […] Und Kurt Tucholsky hat vieles über Literatur geschrieben. Mit Theorie hat er sich befasst, aber er hat seine Schriften sehr selten mit theoretischen Erwägungen belastet. Ich habe das von denen gelernt, von Tucholsky, Alfred Kerr. 10

Der Text weist auf den Versuch hin, die Tradition der Kritik wiederzubeleben. Zu dieser Wiederbelebung gehören Distanz, Polemik, Klarheit und Deutlichkeit - auf jeden Fall keine Anpassung und Affirmation. Diese Merkmale übernahm Reich- Ranicki in seinen Kritiken schon früher – erfolgreich, schließlich bezeichnet man ihn heutzutage als „Literaturpapst“.

3 Günter Grass

Günter Grass ist ein deutscher Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker. Er war Mitglied der Gruppe 47 und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern – nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auf der ganzen Welt. Am 10. Dezember 1999 wurde ihm der Literatur-Nobelpreis für sein Lebenswerk verliehen. Heutzutage lebt er in der Nähe von Lübeck.

9 Vgl. Michel, Sascha: Texte zur Theorie der Literaturkritik. Stuttgart 2008, S. 240.

10 Zitiert nach: Michel, Sascha: Texte zur Theorie der Literaturkritik. Stuttgart 2008, S. 241.

18

3.1 Leben

Abbildung 4: Günter Grass

Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig als Sohn einer Kaufmanns-Familie geboren. Die Eltern betrieben ein Kolonialwarengeschäft im Stadtteil Langfuhr. Später unterstützte er die NS-Ideologie, obwohl er nach eigenen Angaben von der Hitlerjugend nicht begeistert war. Mit 15 Jahren meldete sich Grass freiwillig zur Wehrmacht. Im Jahre 1944 wurde er zur SS- Panzerdivision „Frundsberg“ einberufen. Nach Kriegsende geriet er jedoch in amerikanische Gefangenschaft. Erst kurz vor Erscheinen seines autobiografischen Werkes Beim Häuten der Zwiebel wurde allgemein bekannt, dass Grass Mitglied der Waffen-SS war.

In den Jahren 1947/1948 absolvierte er eine Steinmetzlehre in Düsseldorf. Danach folgte ein Studium der Grafik und Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Sein Studium setzte er bis zum Jahre 1956 an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin als Schüler des Bildhauers Karl Hartung fort. Was sein Familienleben betrifft, heiratete er die Tänzerin Anna Margareta Schwarz in 1954, mit der er vier Kinder hatte. Nach 24 Jahren ließen sie sich scheiden. Ein Jahr danach (1979) heiratete er die Organistin Ute Grunert.

Grass war auch politisch tätig und beteiligte sich an Wahlkämpfen für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Früher unterstützte er beispielweise

19

Willy Brandt und im Jahre 2005 die Ministerpräsidentin für Schleswig-Holstein Heide Simonis. Von 1982 bis 1992 war er sogar Mitglied der SPD. Er nahm an vielen Protestaktionen teil und setzte sich für die Ideen der Partei ein. Obwohl er 1992 seine SPD-Mitgliedschaft aus Protest gegen die Asylrechtänderung beendete, war er trotzdem politisch tätig und unterstützte immer die Kandidaten der SPD.

3.2 Werke

Günter Grass war (und ist) sein Leben lang nicht nur schriftstellerisch tätig. In den Jahren 1956 und 1957 begann er mit den ersten Ausstellungen von Plastiken und Graphiken. Sein Debüt als Lyriker fand 1956 und als Dramatiker 1957 statt. Zuerst entstanden Kurzprosa, Gedichte und Theaterstücke, die man dem poetischen oder absurden Theater zuordnen kann. Dann schrieb er sein Erstlingswerk Die Blechtrommel, mit dem er weltweit den Durchbruch schaffte. Später widmete sich Grass vor allem der Prosa:

1958 – Onkel, Onkel (Theaterstück) 1959 – Die Blechtrommel (Roman) 1961 – Katz und Maus (Novelle) 1963 – Hundejahre (Roman) 1966 – Die Plebejer proben den Aufstand (Trauerspiel) 1968 – Briefe über die Grenze (Dialog zwischen dem tschechischen Schriftsteller Pavel Kohout und Grass zum Thema „Prager Frühling“.) 1969 – Örtlich betäubt (Roman) 1972 – Aus dem Tagebuch einer Schnecke (Erzählung) 1977 – Der Butt (Roman) 1986 – Die Rättin (Roman) 1992 – Unkenrufe (Erzählung) 1995 – Ein weites Feld (Roman) 1999 – Mein Jahrhundert (Roman) 2002 – Im Krebsgang (Novelle) 2003 – Letzte Tänze (vorwiegend erotisch geprägte Gedichte uns Zeichnungen) 2006 – Beim Häuten der Zwiebel (Erinnerungen)

20

4 Marcel Reich-Ranickis Kritiken zu ausgewählten Werken von Günter Grass

Darüber, was Grass mir angetan hat, lohnt es sich nicht zu reden. Denn verglichen mit dem, was ich von mir angetan wurde, ist es verschwindend wenig. 11

Der erste Aufsatz über die Werke von Grass erschien am 1. Januar 1960 in der Wochenzeitung Die Zeit, der letzte vor 7 Jahren am 30. August 2003 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Gerechtigkeit ist nicht die Sache der Kritik. Gute Kritik reagiert spontan auf neue Bücher. Reich-Ranicki selber gibt gelegentlich zu, dass seine Kritiken zu streng und übertrieben scheinen. Er korrigierte überhaupt nichts in diesen Aufsätzen - kein einziges Wort. Der berühmteste Kritiker des 20. Jahrhunderts sieht nämlich keinen Sinn in der Korrektur dessen, was er vor Jahrzehnten geschrieben hat. Für den jetzigen Zeitpunkt gilt noch immer das, was schon damals erschien. Warum? Dazu sagt Reich-Ranicki folgendes:

Woher sollte ich denn die Sicherheit haben, dass ich, dem damals Irrtümer unterlaufen sind, mich jetzt nicht wieder irre? Und müsste ich nicht eine jetzt eventuell berechtigte Kritik nach Verlauf weiterer Jahre abermals überarbeiten? Die Weigerung, eine alte Kritik aus heutiger Sicht zu ändern, hat nichts mit Hochmut zu tun, vielmehr eher mit der Einsicht in die Grenzen meiner literarkritischen Möglichkeiten. Dass soll heißen: Mein heutiges Urteil würde natürlich anders ausfallen als das frühere, aber ich kann nicht wissen, ob es wirklich richtiger wäre. 12

Ganz anders verhält es sich, wenn der Kritiker das Buch noch einmal liest und einen anderen Eindruck gewinnt. Reich-Ranicki revidiert seine Rezensionen nicht – er schreibt neue. Dies hat er beispielweise bei der Blechtrommel getan.

11 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel : Unser Grass. München 2003, S.10. 12 ebd., S. 11f.

21

4.1 Die Blechtrommel

Grass schildert in diesem Werk die Lebensgeschichte von Oskar Matzerath, die er aus seiner Erinnerung als Insasse einer Pflegeanstalt während der Jahre 1952 bis 1954 schreibt. Die Geschichte beginnt schon bei seiner Geburt, als Oskar in Danzig lebte. Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Das erste Buch beschreibt die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, das zweite Buch die Zeit während des zweiten Weltkrieges und das dritte Buch die Zeit in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt jedoch zwei Ebenen in diesem Roman von Grass – Vergangenheit und gleichzeitig Gegenwart in der Irrenanstalt. Die Verfilmung der Blechtrommel wurde von dem Regisseur Volker Schlöndorff im Jahre 1979 gedreht. Es ist der erste deutsche Film, dem ein Oscar für den besten fremdsprachigen Film verliehen wurde. Neben anderen Filmpreisen erhielt er auch die Goldene Palme in Cannes. Er nahm nur den ersten und zweiten Teil des Romans in den Film auf. Unter anderem fehlen auch die Rahmenerzählungen von Oskar aus der Heilanstalt, womit er sich viele Rückblenden in der Handlungsebene ersparte. Jedoch verliert Oskar im Film seine Charaktervielfalt. Des Weiteren wurden viele Szenen weggelassen. Dem Regisseur kann man aber keine Vorwürfe machen. Wie kann man so einen vielseitigen Roman verfilmen? Volker Schlöndorff hat einen mit vielen Preisen ausgezeichneten und hervorragenden Film gedreht. Marcel Reich-Ranicki verfasste zwei Rezensionen zu dem Buch Die Blechtrommel und Erklärung zu der Bearbeitung seiner ersten Kritik: Auf gut Glück getrommelt (1960), Unser grimmiger Idylliker (1963) und im Jahre 1963 auch Selbstkritik des „Blechtrommel“-Kritikers.

4.1.1 Auf gut Glück getrommelt

Marcel Reich-Ranicki beschreibt Grass in der ersten Kritik der Blechtrommel zwar als einen guten, originellen und überdurchschnittlichen Erzähler. Seine große stilistische Begabung werde ihm jedoch zum Verhängnis. Nach Reich-Ranickis Meinung kann er die Worte nicht zurückhalten und schreibt zu viel. Wenn der Roman um zweihundert Seiten kürzer gewesen wäre, könnte er

22

sich viel besser über dieses Werk äußern (nicht gut – sondern besser). Schon im Klappentext steht: „Von der Fülle an Stoff, die er allein in der Blechtrommel mitteilt, lebt mancher Romancier ein Leben lang.“ 13 Darin stimmt Reich-Ranicki überein. „Fülle an Stoff“ bedeutet nicht immer etwas Gutes. Es kommt darauf an, was ein Schriftsteller aus dem Stoff macht. Grass ist auch ein Mann mit sehr originellem Humor und mit viel Witz. In einem siebenhundert Seiten langen Roman kann man nicht immer witzig sein. Das Werk leidet dann an chronischer Geschmacklosigkeit und viele gute Witze gehen verloren, sodass ihm sein Humor schließlich auch zum Verhängnis wird. Zu diesem Thema äußert er sich folgendermaßen:

Nur in einer einzigen Szene war ihm die Zwergfigur des Helden zu einem allerdings glänzenden Effekt nützlich. Während einer Nazi-Kundgebung versteckt sich der Kleine mit seiner Trommel unter der Tribüne, […] Da ein Mikrophon in der Nähe ist, gelingt es dem trommelnden Oskar, die offiziellen Trommler durcheinanderzubringen. […] Das ist großartig geschrieben. Welch ein Sketch! Aber ach, ein Sketch nur! 14

Grass widmet eine besondere Aufmerksamkeit dem Urinieren und Erbrechen. Er schildert sogar, wie der im Schrank versteckte Oskar onaniert. Die Leser seien nach Reich-Ranickis Meinung nicht schockiert. Der Schriftsteller solle jedoch in dem Werk überzeugen, dass er diese Vorgänge des Urinierens und Erbrechens beschreiben müsse. Das macht Grass nicht in der Blechtrommel. In diesem Roman ist vor allem Phantasie wichtig. Dies ist Grass jedoch nicht gelungen. Reich-Ranicki findet das verhängnisvoll und sie lenke Günter Grass von der wesentlichen Problematik des letzten Jahrhunderts ab. Oskar hat die Gabe, allein mit seiner Stimme Glas zu zerbrechen. Diese Gabe dient ihm zuerst als Waffe gegen die Welt der Erwachsenen. Grass lässt ihn später sogar Schaufenster von Juwelierläden zerbrechen, um Diebstähle zu ermöglichen. Reich-Ranicki behauptet, dass ihm dieses Verteidigungs-Singen mit der Zeit

13 Zitiert nach: Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 14.

14 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel : Unser Grass. München 2003, S.15f.

23

langweilig geworden sei und sich Grass deswegen solche Situationen ausdenke. Es stellt die Unehrlichkeit der Menschen dar. Auch das „Knallen“ und die Trommel aus Blech sind sinnlos.

4.1.2 Selbstkritik des „Blechtrommel“-Kritikers

Marcel Reich-Ranicki gesteht, dass ihm mehr oder weniger ernsthafte Irrtümer in seinen literarkritischen Arbeiten unterlaufen sind. Diese Irrtümer darf man nicht unterschätzen, jedoch kann man auf diesem Beispiel sehen, dass auch Kritiker nur Menschen sind. Am 1. Januar 1960 erschien die erste Kritik von der Blechtrommel in der Zeitung Die Zeit. Reich-Ranicki stimmt damit im Großen und Ganzen überein. Im Jahre 1963 würde jedoch andere Akzente setzen:

Mich hatte die leidenschaftliche, ja wilde Kraft dieses Erzählers beeindruckt. Aber er hatte mich zugleich enttäuscht. Ich konnte mich nicht damit abfinden, dass Grass seine Vitalität nicht gezügelt und sein Temperament nicht beherrscht hatte. 15

Das bedeutet, dass die literarkritische Methode, die dieser deutsche Kritiker verwendet, Irrtümer nicht ausschließt. Doch sieht er keine andere Möglichkeit, wie man Gegenwartsliteratur als kritische Diskussion mit den Autoren und ihren Werken beschreiben kann. In den Augen der Autoren wird er immer sowohl der Verteidiger als auch der Ankläger sein.

4.1.3 Unser grimmiger Idylliker

Im Jahre 1963 wurde die neue Kritik zur Blechtrommel herausgegeben. Reich-Ranicki veränderte seine Meinung nach dem Durchlesen der Novelle Katz und Maus ein bisschen – es handelt sich jedoch immer noch nicht um eine positive Rezension. Schon bei der Geburt ist Oskars geistige Entwicklung abgeschlossen. Drei Jahre später beschließt er sich, nicht mehr zu wachsen, so dass er nicht nur geistig auf dem Stand eines Kindes ist, sondern auch körperlich wie ein Dreijähriger

15 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S.25.

24

aussieht. In seiner Person ist quasi der totale Infantilismus. Er protestiert auf diese Art und Weise nicht gegen eine Gesellschaftsordnung oder bestimmte Erscheinungen, sondern gegen die Existenz im Allgemeinen. Oskar kennt keine Moral. Grass lässt für ihn keine ethischen Gesetze und Maßstäbe gelten. Der moralische Infantilismus erweist sich in vielen Teilen des Romans als literarisch sehr ergiebig. Oskar ist nicht nur der komische Held – er fungiert auch als Berichterstatter des Autors. Er schildert alle Situationen und Ereignisse auf die gleiche Art und Weise. Mit immer derselben Exaktheit beschreibt Oskar die Röcke seiner Großmutter, das Geschlechtsteil einer Christusfigur, die politische Situation oder auch eine Beerdigung. Es geht aber um keine ernste Darstellung der Lage oder der Ereignisse. Beschreibungen und ironische Reflexionen von Oskar gehen ineinander über, ohne dass er sich Sorgen darüber macht, was wichtig oder unwichtig ist. Oskar ist in den Augen der Leser primitiv und weise gleichzeitig – ein kleines Kind und doch Wesen ohne Alter. Man kann jedoch nicht sagen, dass dieser Infantilismus Schutzpanzer, Manifestation oder Maske von Oskar ist. Alle halten ihn für ein kleines Kind und ebendeswegen hat er eine spezielle Rolle und eine Sonderstellung. Er befindet sich außerhalb und gleichzeitig auch innerhalb der Welt. Er dient für Grass als Beobachter. Er beobachtet die Welt aus der Entfernung und bleibt ihr doch immer Teil von ihr. Oskar ist gewiss eine Figur, die oft das Böse will und das auch macht. Man kann dies aber nicht als Inhumanität des Helden bezeichnen:

Wenn Grass […] die Verteidigung der polnischen Post in Danzig in September 1939 schildert, kann kein Zweifel bestehen, wenn alle seine Sympathien gelten: den Opfern nämlich. Seine Darstellung der Ereignisse während der Kristallnacht im Jahre 1938 wird zum poetischen Protest gegen die Barbarei. 16

Andererseits beschreibt Grass die Geschichte nicht allzu ernst. Er wolle nicht die Juden sentimentalisieren, die Polen heroisieren und die Nazis dämonisieren. Grass weist lediglich auf die praktischen Auswirkungen des Nationalsozialismus in Danzig hin.

16 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 34.

25

Marcel Reich-Ranicki äußert sich wieder zu den thematisierten Sexszenen und menschlichen Bedürfnissen. Es geht diesmal nicht nur um Vorgänge des Erbrechens und Urinierens, sondern auch darum, dass er schildert, wie Kinder aus ihrem Urin eine Suppe kochen und den kleinen Oskar zwingen, sie zu verzehren. Weiter kann man Teile des Romans – von der Onanie Oskars bis zu seinem sexuellen Versagen in der Szene mit der Krankenschwester - nennen. Nach Reich- Ranickis Meinung geben diese Passagen dem Buch einen Stich ins Pubertäre. Der Infantilismus von Oskar hätte alles erklären und den Roman retten können. Oskar ist jedoch nicht die Person, die dieses Werk geschrieben hat. Günter Grass erweist sich als ein sarkastisch-aggressiver Heimatdichter, als „ein grimmiger Idylliker“17, der die Welt sachlich und gleichzeitig gefühlvoll darstellt. In jedem Kapitel findet man eine Serie von Genrebildern, Porträts, anekdotischen Szenen und Sittenschilderungen. Er versucht alles kleinbürgerlich zu schildern. Immer haftet seinen Gestalten etwas Kleinbürgerliches an. Es spielt keine Rolle, ob es sich um Deutschen, Polen oder die Juden handelt. Die Milieuschilderung ist auffälliger als die Figuren und die Stimmung sowie das Lokalkolorit sind wichtiger als die Aktion und Fragestellung.

4.2 Katz und Maus

Die Novelle Katz und Maus wurde 1961 publiziert und sechs Jahre später von Hans-Jürgen Pohland verfilmt. Die Handlung spielt wieder während des Zweiten Weltkrieges in Danzig. Der Erzähler Pilenz berichtet im Rückblick von seinem Schulkameraden Mahlke. Mahlke ist Einzelkind, Halbwaise und vor allem Außenseiter. Diese Mängel kompensiert er mit seinen sportlichen Leistungen. Er hat einen großen Adamsapfel, den er einerseits mit Schmuck betont, andererseits auch versteckt. Deswegen möchte er ein Ritterkreuz erhalten. Nach dem gestohlenen Ritterkreuz eines Kriegshelden in der Schule gelingt es ihm, indem er die Auszeichnung als Soldat erwirbt. Wenn alle seine Träume in Erfüllung gehen, entscheidet er sich zur Desertation. In den Wirren des Kriegsendes bleibt er nach einem Tauchgang verschollen.

17Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 32.

26

Nach dem Debüt Blechtrommel wartete Marcel Reich-Ranicki auf die nächsten Werke von Günter Grass; ob er in diesen endlich seine Vitalität und sein Temperament beherrschen könne. Die Novelle Katz und Maus gab ihm die Antwort. Der Vergleich eines umfangreichen Romans mit einer Erzählung bleibt immer fraglich – auch wenn beide Werke in demselben Milieu spielen. Obwohl die Erzählung ruhiger zu sein scheint und sein Stil bescheidener wirkt, wird es in Wirklichkeit straffer und präziser. Grass ist diesmal ein bisschen zurückhaltend. Die Satire und die Aggressivität sind milder, Grass schreibt nicht mehr so kabarettistisch und gibt sich nicht mehr so böse. In Katz und Maus bemüht er sich vielmehr um eine einfach wirkende Darstellung, um stillere Effekte zu erreichen. Die Novelle Katz und Maus beurteilt Reich-Ranicki positiver als Blechtrommel. Er hält das als kleines Nebenwerk, das für die Entwicklung des Schriftstellers viel bedeute. Die Geschichte vom Schüler Mahlke schildere er mit der künstlerischen Disziplin – mit kalter Phantasie und leidenschaftlicher Sachlichkeit. Solche Methoden findet Reich-Ranicki „richtig“ in der Literatur.

4.3 Hundejahre

Der Roman Hundejahre ist im Jahre 1963 erschienen und in drei Teile gegliedert. Es ist der dritte Band der Danziger Trilogie, die noch die Romane Blechtrommel und Katz und Maus umfasst. Grass schildert die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts und widmet sich der historischen Situation seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, über den Nationalsozialismus bis hin zur Nachkriegszeit. Er schildert jedoch die ganze Geschichte mit burlesken - grob komischen – Zügen. Das bedeutet, dass er sich zum Beispiel nicht auf Hitler konzentriert, sondern auf Hitlers Hunde.

4.3.1 Bilderbogen mit Marionetten von Vogelscheuchen

Günter Grass entschied sich in seinem Roman Hundejahre für einen ganz anderen Einstieg: „Erzähl Du. Nein, erzählen Sie! Oder Du erzählst. Soll etwa der Schauspieler anfangen?“ 18 Schon die ersten Worte weisen nicht auf ein

18 Grass, Günter: Hundejahre. Göttingen 1997, S 7.

27

bestimmtes Motiv hin, sondern auf ein Problem des schriftstellerischen Handwerks. Obwohl Blechtrommel und Katz und Maus zwei verschiedene Eröffnungen sind, haben beide aber das gleiche Ziel: die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Kern des jeweiligen Werks zu lenken. In den Hundejahren befindet sich der Erzähler außerhalb der Gesellschaft und wird überwacht. Erst der letzte Teil geht von einem Element der eigentlichen Handlung aus. Jedoch die Behauptung „Der Hund steht zentral“ sowie die ganze Handlung findet Reich- Ranicki nicht ausreichend. Damit wird vor allem die handwerkliche Frage gemeint – das Hundemotiv im Roman. Die Künstlichkeit sieht man vornehmlich im zweiten Teil des Werks, da die einzelnen Abschnitte einen Adressaten haben. Harry Liebenau schreibt die Briefe an seine Cousine Tulla Pokriefke. Er informiert sie über solche Situationen und Ereignisse, die sie schon längst weiß. In den nächsten Briefen erzählt er ihr nur das, was sie, ein ungebildetes Mädchen, überhaupt nicht interessiert bzw. nicht begreift. Die letzten Kapitel des zweiten Teils sind nicht besser. Sie fangen nur mit den stereotypen und langweiligen Wendungen an. Diese nicht gelungene Lösung möchte Grass mildern, aber macht das Ganze nicht besser: Liebenau wendet sich an Tulla nur aus dem simplen Grund, weil ihm dieser Stil empfohlen wurde und macht ihr Vorwürfe, dass sie ihn nicht versteht:

Ich erzähle dir. Du hörst nicht zu. Und die Anrede – als schriebe ich Dir einen und hundert Briefe – wird der formale Spazierstock bleiben, denn ich jetzt schon wegwerfen möchte. 19

Diese Rechtfertigung verbessert nicht diesen Roman – dieses Übel wird noch schlimmer. Solche Form verwendete Grass schon in der Blechtrommel und in den Hundejahren noch mehr. Sie liegt in der Eigenart seines Talents. Nach Grass` Meinung hat Hundejahre eine Konstruktionsachse, um die sich alles gruppiert und organisiert. Er erwähnt im Roman, dass „der Hund zentral steht“. Damit stimmt Reich-Ranicki nicht überein. Er behauptet, dass es kein Zentrum in diesem Buch gebe. Weder dem Hund Prinz noch Eduard Amsel oder

19 Zitiert nach: Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 50.

28

Walter Matern lasse sich eine zentrale Position nachsagen. Sonst wäre es ein statischer Roman. Blechtrommel und Hundejahre unterscheiden sich dadurch, wie die Gestalten Welt und Leben wahrnehmen. Oskar entschied über das Schicksal allein – er deformiert sich selber und lehnt auf seine Art und Weise die Welt ab. Die Schicksale von Amsel und Matern hängen mit den Ereignissen der Zeit zusammen – sie lehnen die Welt zwar nicht ab, aber werden strotzdem von ihr deformiert. Man kann mehrere Unterschiede zwischen Oskar und den Hauptgestalten sehen. Oskar sieht aus wie und ist eine Märchenfigur, die gegen die Epoche mit der Blechtrommel demonstriert. Amsel und Matern sind zumindest einigermaßen reale Figuren, die der Leser für Produkte der im Roman beschriebenen Epoche hält. Grass ließ beide nicht beliebig mit allerlei Charakterzügen, Erfahrungen und Abenteuern ausstatten. Beide erleben den Nationalsozialismus, der ihre Freundschaft zerbrechen lässt:

Eben war Matern zur SA aus Freundschaft zu Amsel und „nach innen mit allen Zähnen knirschend“ gegangen, und schon beteiligt er sich eifrig an der Verfolgung des Halbjuden: Amsel wird der braununiformierten Vogelscheuchen wegen von der SA misshandelt, und auch Matern schlägt kräftig auf ihn ein. 20

Wenn sie sich wieder in der Bundesrepublik Deutschland begegnen, hält Grass nicht mehr die Linie ihrer Eigenschaften und Charakterzügen. In zwei Drittel des Romans ist der Leser verwirrt. Die am Anfang gegebenen Charakteristiken von Amsel und Matern haben fast keinen Zusammenhang mit dem weiteren Verlauf des Werks. Die ihnen zugeschriebenen Erfahrungen und Erlebnisse sind oft auswechselbar. Jede Epoche, die Grass beschreibt, scheint ein Panoptikum zu sein. Manche Szenen, in denen er die Unmenschlichkeit vergegenwärtigt, erfüllen nur die Funktion von Schrecken. Die ständige Verwendung der Gags und kabarettistischen Effekte entschärft und verflacht den ganzen Roman, aber vor allem die Gesellschaftskritik des letzten Teils. Er beschwere sich nach Reich- Ranicki nicht direkt über die bundesrepublikanischen Verhältnisse, sondern „skurrilisiert“ sie lediglich. Genauso enttäuschend sei auch die Schlussszene, die

20 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 54.

29 als groteske Beschreibung der Gesellschaft verstanden werden solle, weil Grass` Symbolik das Ganze billig und aufdringlich mache.

4.4 Die Plebejer proben den Aufstand

Das Trauerspiel Die Plebejer proben den Aufstand wurde 1966 veröffentlicht und die Uraufführung fand am 15. Januar 1966 im Berliner Schillertheater statt. Das Drama besteht aus 4 Akten. Am 17. Juni 1953 protestieren Arbeiter auf der Berliner Stalinallee gegen die Erhöhung der Arbeitsnorm und gegen die Diktatur der DDR-Regierung. An demselben Tag finden im Deutschen Theater Proben von Shakespeares Drama „Coriolanus“ statt. Die Person des Regisseurs ist ähnlich. Im Zentrum der Besprechung steht die Frage, wie in der ersten Szene die Plebejer dargestellt werden sollen. Als Arbeiter in den Theaterraum eindringen und von dem großen Dichter einen offenen Brief verlangen, reagiert dieser sehr zögerlich. Arbeiter können ihm keine seiner Fragen beantworten, nicht einmal wofür sie eigentlich kämpfen. Der „Chef“ will sie zuerst nach Hause schicken. Schließlich lässt er sich den bisherigen Ablauf des Aufstandes von den Arbeitern vorspielen. Inzwischen tritt Kosanke, Vertreter der Partei, auf und erwartet vom „Chef“ Loyalität gegenüber dem Staat und dazu auch eine schriftliche Erklärung. Das lehnt er jedoch ab, wodurch Streit zwischen den Arbeitern und Kosanke anfängt. Seitdem leitet Kosanke keinen Widerstand. In dem 3. Akt wollen Wiebe und Damaschke, dass der „Chef“ für sie einen Streikaufruf verfasst. Ihre Forderungen sind viel radikaler als die der anderen Arbeiter, die nur eine Rücknahme der Normenerhöhung wollen. Die Ereignisse spitzen sich zu. Außerhalb des Theaters gibt es die ersten Verletzten und der „Chef“ soll aufgehängt werden. Kosanke und Wiebe rufen nach Freiheit. Dann kommen die Panzer und der Aufstand scheitert schließlich. In dem 4. Akt kommt Kosanke zum „Chef“ und zwingt ihn, ein Manifest zu unterschreiben, in dem er zusammen mit anderen Intellektuellen die Unterstützung der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) ausdrückt. Zuerst will er sich nicht wie ein „Chamäleon“ benehmen, aber schließlich behält er eine andere Fassung des Schreibens, mit der er seine differenzierte Haltung beweisen will.

30

Die Kritik zu Die Plebejer proben den Aufstand wurde im Jahre 1966 herausgegeben. Schon die Überschrift Ein deutsches Trauerspiel über ein deutsches Trauerspiel deutet darauf hin, dass Marcel Reich-Ranicki dieses Werk mehr zerrissen als gelobt hat.

4.4.1 Ein deutsches Trauerspiel über ein deutsches Trauerspiel

Die Arbeiter demonstrieren gegen Ungerechtigkeit. Weil sie aber aus dem Volk stammen und nicht begabt sind, gehen sie zu einem berühmten Dichter, damit er für sie ein Manifest formuliert. Sie führen stundenlang Gespräche mit ihm und vergeuden nur ihre Zeit. Anstatt zu handeln, sprechen sie nur darüber, was sie machen werden. Sie sind naiv und wissen überhaupt nicht, was sie wollen, so dass ihr Aufstand vom ersten Augenblick an zum Scheitern verteilt ist. Also eine Geschichte über die deutsche Revolution. Die Plebejer proben den Aufstand ist ein historisches und politisches Schauspiel, das die enorm wichtigen Gegebenheiten zu zeigen versucht: Es ist ein Stück über die Ereignisse vom 17. Juni 1953. Günter Grass beschreibt einerseits die Verhältnisse der Intelektuellen in der Diktatur zur Macht und andererseits die Alltagsmenschen, ihre Funktion und ihre Moral. Die Hauptgestalt in diesem Werk ist eine faszinierende Figur der deutschen Kunst und Geistesgeschichte – Bertolt Brecht. Marcel Reich-Ranicki findet die Grundsituation des Dramas meisterhaft entworfen. Viele Möglichkeiten, die dieses Drama außergewöhnlich machen, lasse sich Grass jedoch entgehen. Das Stück leidet schon an der zentralen Figur. Wird mit dem „Chef“ wirklich Bertolt Brecht gemeint? In Grass` Darstellung ist Brecht kein weiser Mann. Er hat seine Persönlichkeit auf einige Grundelemente reduziert. Reich-Ranicki schreibt in seiner Kritik:

Aber kann man Brecht als einen Mann darstellen, der, was immer auch geschieht, nach Pointen jagt? Musste auch sein Intellekt so entschieden reduziert werden? Und was immer Brecht gewesen sein mag – ein Narr oder ein Scharlatan war er nicht […] Auf die Bühnenfigur trifft das leider zu und macht ihre Verwendbarkeit als Protagonist des Stückes, das Grass offenbar schreiben wollte, zumindest fragwürdig. 21

21 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass München 2003, S. 61.

31

Es geht nicht darum, dass Grass diesen bedeutenden Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Kleinformat zeigt und auf diese Art und Weise auch erniedrigt. Er verurteile nicht nur Bertolt Brecht, sondern sich selber und sein Stück zu demselben Format. Man muss dann fragen, ob es sich wirklich um Brecht handelt. Meint er den berühmten Brecht, der in Berlin lebte? Der Zuschauer, der nie etwas von ihm hörte, kann denken, dass der „Chef“ eine papierene Figur ist. Besonders, wenn er sieht, dass die Hauptgestalt kaum handeln darf und keinen Gesprächspartner findet. Die anderen Zuschauer, die wissen, wer Bertolt Brecht ist, erkennen gleich die Anspielungen auf seine Situation in der DDR, auf seine Stücke, auf sein Theater und auf sein Leben. Die Arbeiter bitten den „Chef“ um Hilfe. Je nach dem, wie Grass sie darstellt, sprechen sie wie Kinder und können überhaupt nicht denken. Es ist kein Wunder, dass der „Chef“ den Aufstand nicht ernst nimmt. Die Hauptfigur soll ein Dialektiker sein, von der man erwartet, dass sie Diskutieren kann. Er hat jedoch in diesem Drama keine Gelegenheit zum Diskutieren, weil niemand auftritt und den „richtigen“ Aufstand macht. Niemand zwingt ihn zu argumentieren. Es wird sehr viel über Bewegung und Veränderungen gesprochen, jedoch kaum etwas dafür gemacht. Das Drama scheint deswegen statisch zu sein. In jedem der vier Akte gibt es viele Möglichkeiten zur Handlung. Grass braucht aber immer wieder eine dramaturgische Eselsbrücke: Regelmäßig kommt jemand auf die Bühne und meldet oder berichtet etwas. Nach Reich-Ranickis Meinung lasse sich das Schauspiel, das sich den Ereignissen vom 17. Juni widmet, nicht schreiben:

Grass scheint dies genau gespürt zu haben, doch die beiden Szenen im dritten Akt, die der Sache abhelfen sollten, machen sie noch schlimmer. Zuerst wollen die Arbeiter den „Chef“ und seinen Dramaturgen kurzerhand aufhängen, nehmen ihnen aber, von einer Parabel beeindruckt, die Schlingen wieder ab. Aufstand, Revolte, Volkszorn? Ich fand es eher komisch. 22

Reich-Ranicki nennt auch andere Szenen, die ihm nicht gefallen und die nicht für das Drama geeignet sind oder sogar peinlich sind.

22 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 64.

32

Grass` Ziel war es, ein Gleichnis der Ereignisse vom 17. Juni auf der Bühne zu formulieren. Es ist ihm leider nicht gelungen. Nach Marcel Reich- Ranicki hätte er sich einer Aufgabe angenommen, der er nicht gewachsen war – weder künstlerisch noch intellektuell. Dazu bemerkt er ironisch: „Aber welcher deutsche Bühnenautor dieser Jahre ist einer solchen Aufgabe gewachsen?“ 23

4.5 örtlich betäubt

Der Studienrat Ebert Starusch wird langfristig beim Zahnarzt behandelt und erzählt ihm seine Vergangenheit, Gedanken und Phantasien, die vor allem mit den Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg verbunden sind. Sein begabter Schüler Philipp Scherbaum - ein linkspolitischer Revolutionär – will auf dem Berliner Kurfürstendamm seinen Dackel verbrennen, um auf die Folgen von Napalm aufmerksam zu machen, das von den Amerikanern im Vietnamkrieg verwendet wird. Starusch will ihn überzeugen, dass es keine gute Idee ist und dass er nur sein Leben gefährde. Vero Lewand, Scherbaums Freundin, versucht das Gegenteil. Die nächste Person des Werkes Irmgard, ehemaliger BDM-Mitglieder, befürwortet Scherbaums Plan. Schließlich geht der Schüler zu dem Zahnarzt, bei dem auch Starusch war, und lässt sich von ihm zur Vernunft bringen. Er arbeitet für die Schülerzeitung und trennt sich von der Freundin, so dass sie keinen Einfluss mehr auf ihn hat. Die Kritik zu örtlich betäubt ist im Jahre 1969 erschienen.

4.5.1 Eine Müheheldensoße

Dieses Buch erinnert an einen schwer angeschlagenen Boxer, der sich jetzt unsicher im Ring bewegt, und an einen müden Akrobaten ohne Lust, der sein Selbstvertrauen verlor. Die Komposition ist diesmal ganz anders als in der Blechtrommel oder den Hundejahren. Es ist kein farbig-kurioser kleinbürgerlicher Roman. Er ähnelt auch nicht einer Sammlung von Märchen, Anekdoten, Parabeln und Skizzen. Marcel Reich-Ranicki behauptet auch, dass er keine Sammlung von Erzählungen wie Katz und Maus sei. Statt der früher gebotenen Komposition handelt es sich hier um kleine Prosaeinheiten. Der Leser findet eine Reihe von

23 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 65.

33

Augenblicksbildern und Impressionen, Gesprächsfetzen und Bruchstücke innerer Monologe, Bemerkungen und Beschreibungen, Stichworte und Zitate. Diese Lösung scheint bei Grass jedoch weder virtuos noch souverän zu sein. Reich- Ranicki nennt es „Kinostil“ und vergleicht es mit der Prosa von Arno Schmidts und den Theorien von Alfred Döblin:

[…] wirkt mittlerweise ein wenig betulich und kann – wie die Prosa Arno Schmidts, des konsequentesten Döblin-Nachfolgers, gezeigt hat – auch zur unfreiwilligen Komik führen. Grass wird sich dessen bewusst gewesen sein, und doch konnte er es nicht vermeiden, dass sich sein Roman streckenweise wie ein den Theorien Döblins mit arger Verspätung nachgelieferter Beleg liest, wie ein Buch im Sinne der aus den fünfziger Jahren stammenden (und ihrerseits epigonalen) „Berechnungen“ Arno Schmidts. 24

Obwohl Grass die neue Technik übernahm und anwendete, fehlt hier das Erzählerische, dem er sich in seinen frühen Romanen hingegeben hatte. Aber nur mit dieser Technik und diesem Muster lässt sich kein Roman schreiben. Günter Grass scheint mehr oder weniger verloren zu sein. Grass` Beschreibungen ähneln sich: Feststellungen und Mitteilungen als Darstellungen und Vergegenwärtigung. Wenn er sich um Großaufnahme bemüht, sich für die Totale entscheidet oder die Fassade eines Bahnhofs mit bloßen Stichworten beschreibt, kommt immer das Gleiche dabei raus. Statt Bilder, Szenen und Situationen erhalten die Leser Fakten, Thesen und Informationen. Statt Personen treten in diesem Roman Schemen auf. Er macht aus ihnen Marionetten mit eindeutigen Eigenschaften. Schüller Scherbaum wird von einem einzigen Gedanken beherrscht. Er will seinen Dackel auf dem Kurfürstendamm verbrennen und sieht das als politische Demonstration. Über seine Freundin Vero Lewand wird oft gesagt, dass sie „zinkgrüne Strumpfhosen“ trägt und auf diese Art und Weise ihren Lehrer beunruhigt. Der Feldmarschall versucht immer die in Wirklichkeit verlorenen Schlachten im Sandkasten zu gewinnen und Lehrerin Irmgard Seifert spricht die ganze Zeit über ihre BDM-Vergangenheit. Diese Figuren seien keine wahre Menschen, sondern nur primitive Demonstrationsobjekte, die Grass nur lächerlich macht und verspottet. Mit ihrer

24 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Lauter Verreise .München 1984, S116.

34

Hilfe kann Grass nichts Nennenswertes demonstrieren, obwohl er sich darum bemüht. Ebenfalls als Nachteil des Romans sieht Marcel Reich-Ranicki alle Versuche der Protestbewegung der Jugend (sowohl Neue Linke als auch Außerparlamentarische Opposition). Er infantilisiere und somit bagatellisiere sie lediglich. Nichts im Roman lässt darauf schließen, dass es sich um Berlin handelt. Die Atmosphäre kann man überhaupt nicht spüren. Die Straßen könnten auch einen anderen Namen haben. Der Leser merkt das nicht. Im Vergleich zu den früheren Werken veränderte sich die Sprache in diesem Roman. Reich-Ranicki meint, was einst drall und deftig gewesen wäre, sei jetzt dürr und dürftig. Die ganze Konstruktion findet er mühselig und farblos. Neue Wörter und Wörter doppelter Bedeutung, mit denen er den Text interessant machen will, beweisen nicht seine sprachliche Kraft, sondern Originalitätssucht. Dieses Thema lässt er jedoch offen und stellt nur beunruhigende Fragen. Der Leser soll sie für sich selbst beantworten:

Handelt es sich hier um einen individuellen, einen singulären Fall? Oder ist etwa dieser Fall – in des Wortes doppelter Bedeutung – als ein Symptom zu werten, als ein Alarmsignal, das uns den Zustand der zeitgenössischen deutschen Literatur bewusst macht? 25

4.6 Der Butt

Roman Der Butt wurde im Jahre 1977 herausgegeben. Er behandelt die Geschichte der Menschheit und vor allem die Beziehung zwischen Mann und Frau – von der Steinzeit bis zur Gegenwart in neun Kapiteln. Das Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“ ist Ausgangspunkt und strukturgebendes Merkmal. Als Berater der Männer dient ein sprechender Fisch, der Butt. Neun Kapitel gleichen den neun Monaten der Schwangerschaft von Ilsebill. Ilsebill ist die Frau des Ich-Erzählers und personifiziertes Sinnbild der Frau an sich. Die Erzählebenen werden im neunten Monat zusammengeführt. Die

25 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Lauter Verreise .München 1984, S120.

35

Vergangenheit ist vergessen und die neue Zukunft wartet schon. Das neugeborene Kind bedeutet hier eine Chance, unsere Fehler zu vergessen.

4.6.1 Von im und synen Fruen

Der Leser findet in diesem Werk auf jeden Fall Abschnitte, die sehr gut geschrieben wurden. Das ist aber kein Grund, das Buch ohne Bedenken zu befürworten. Grass schildert wieder die Ereignisse auf schockierende Art und Weise und beschreibt alles ziemlich kurios und farbig genau so wie in der Blechtrommel und den Hundejahren. Der Roman beginnt mit der Zeugung eines Kindes und endet mit seiner Geburt. Die nächsten neun Kapitel erzählt ein in der Bundesrepublik lebender Schriftsteller seiner Frau Geschichten. Es handelt sich aber um keinen autobiographischen Roman, obwohl die Hauptgestalt viel gemeinsam mit Günter Grass hat. Als Vorlage diente Grass das Märchen Von dem Fischer un syner Fru. Die Frau namens Ilsebill ist in beiden Werken sehr unzufrieden, der Mann ergibt sich ihr und kann sich nicht durchsetzen. Ilsebill soll alle Frauen dieser Erde repräsentieren und der Leser soll sie als das Ewig-Weibliche und Symbol sehen. Dazu sagt Reich-Ranicki, dass es sehr riskant sei, in einem Roman ein Symbol auf zwei Beinen umhergehen zu lassen. Sie benimmt sich mehr oder weniger wie eine Marionette und nicht wie ein lebendiger Mensch. Wie ich schon erwähnte, handelt es sich nicht um eine Autobiographie. Grass mythologisiert diesmal sein Verhältnis zu Frauen. Seine Hoffnungen, Sehnsüchte aber auch Befürchtungen verwandelt er in Bilder – ein Motiv, das Grass erfand. Er schreibt Legenden, Märchen und Sagen, in denen das Visuelle dominiert. Das Ganze wirkt mehr statisch als dynamisch. Die Welt nach der Version von Günter Grass ist wieder ein Panoptikum – komisch, bizarr und deftig gleichzeitig. Sein Ziel ist erneut, die Leser um jeden Preis zu schockieren und zu erschrecken. Die Frage ist jedoch, ob er noch in den siebziger Jahren gegen Tabus anrennen kann? War ein damals vernünftiger Zeitgenosse überhaupt noch schockiert? In den Zeiten von der Blechtrommel und den Hundejahren war das bestimmt einfacher als in den siebziger Jahren oder heutzutage. Er wäre jedoch nicht Günter Grass, wenn er es nicht zumindest versucht hätte. Er kommt immer wieder auf die Verdauung zu sprechen und

36

beschreibt sogar auch die Geräusche, die mit ihr zusammenhängen. Später nennt Marcel Reich-Ranicki ein anderes Beispiel, das ich wirklich überraschend fand:

Während eines Grunewald-Ausflugs besteigt eine junge Frau eine Kiefer. Doch über allen Gipfeln ist keine Ruhe: Die Dame muss dringend onanieren. Wir wissen es längst. Auch Damen onanieren gern und oft. Aber muss es gerade auf dem Gipfel einer Kiefer sein. 26

Die Köchinnen im Roman schildert er auch ziemlich interessant. Beispielweise Aua, die erste Köchin, hatte drei Brüste und in ihrer Tasche brachte sie den Menschen das vom himmlischen Wolf gestohlene Feuer. Damit ist auf jeden Fall kein Feuer im eigentlichen Sinne gemeint, sondern ein weibliches Körperteil. Man könne wieder pubertäre Züge und Züge des Infantilismus sehen – Grass versucht die Welt – wie in allen Werken – zu skurrilisieren. Warum ist so ein phantasievoller Roman wieder enttäuschend? Der Butt will zu viel, aber leistet zu wenig. Gags und Pointen, dank denen Grass so berühmt geworden ist, sind oft sehr interessant, aber er verwendet so viele, dass sie mehr oder weniger nur wie statische Elemente wirken. Reich-Ranicki nennt das in seiner Kritik „ständige Jagd nach Gags und Pointen“ und sagt dazu: Welch Kabarett, aber ach. Ein Kabarett nur! 27 Die gleichen Worte erwähnte er schon in der Rezension zu Blechtrommel. Und wie lautet der nächste Grund für die Enttäuschung? Reich-Ranicki nennt sogar zwei. Günter Grass kenne nicht seine Grenzen im Sinne von Ökonomie und Proportion – alle seine Werke seien zu lang. Der letzte und wichtigste Grund ist, dass die Handlung zu keiner bestimmten Zeit spiele. Grass beschreibt zwar alle Epochen von der Steinzeit bis heute, aber deshalb spielt es trotzdem in keiner genau. Es ist besser, wenn man eine bestimmte Epoche beschreibt und nicht von einer in die andere springt. Günter Grass ist mit diesem Roman gescheitert. Das Einzige, was Marcel Reich-Ranicki daran schätzt, sei seine sprachliche Virtuosität. (Nach Reich-

26 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 98.

27 ebd., S. 96.

37

Ranickis Meinung muss er mindestens etwas loben – seine sprachliche Kraft ist immer noch lobenswert):

Denn es zeigt sich, dass Grass jetzt zwar schlechthin alles ausdrücken kann, aber nur wenig zu sagen hat… Aber seiner vielen Schwächen zum Trotz beweist der Roman, wer der originellste deutsche Erzähler dieser Jahre, wer der neben Wolfgang Koeppen größte Meister der deutschen Sprache unserer Zeit ist: Günter Grass. 28

4.7 Ein weites Feld

Die Hauptfigur des Romans ist Aktenbote Theo Wuttke, der sich lieber Fonty nennen lässt, weil er sich mit Theodor Fontane identifiziert. Die zweite Figur ist der Spitzel Hoftaller. Er identifiziert sich mit den Figuren aus dem Roman Tallhover von Hans Joachim Schädlich. Beide setzen die Geschehnisse des 20. Jahrhundert in Beziehung mit den Ereignissen im 19. Jahrhundert. Das Buch selbst ist von einem Ich- Erzähler, eines namenlosen Potsdamer, geschrieben. Er kommentiert nicht die Geschehnisse und lässt die Beurteilung dem Leser.

4.7.1 ...und es muss gesagt werden

Die Kritik von Marcel Reich-Ranicki wurde im Jahre 1995 im Spiegel veröffentlicht. Es ist eigentlich der Brief an Günter Grass zu dessen Roman Ein weites Feld. Reich-Ranickis Bild auf der Titelseite sagt schon alles. Aufgeregt zerreißt er das Buch von Grass in zwei Teile. Obwohl er seine Kritik nie zurücknahm, lehnte er diese Abbildung gleich ab. Sie regte viele Menschen auf. Sie glaubten, dass Reich-Ranicki das Buch wirklich zerfetzt hätte. Dabei war es nur eine Fotomontage. Diese Wirkung der Kritik in der Gesellschaft störte ihn und er verlor damit viele von seinen Lesern.

28 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 99.

38

Abbildung 5: Spiegel-Titel vom August 1995

Marcel Reich-Ranicki hält Grass zwar für einen außerordentlichen Schriftsteller, aber der Roman Ein weites Feld sei ihm nicht gelungen. Einen guten Roman kann man über Fontane nicht schreiben. Es kommt dann zu einem Konkurrenzkampf mit keinem anderen als Fontane selber. Aus seinen Briefen, Tagebüchern, Romanen und Novellen ergibt sich ein Autoporträt, das zeigt, wie er war und wie er gesehen werden wollte. Die Schlussfolgerung ist, dass Grass über Fontane nicht schreibt. Das Werk widmet sich vor allem Deutschland und Berlin in den Jahren des Untergangs der DDR und der Wiedervereinigung. Seit den sechziger Jahren interessiert sich Grass für die Politik. Schriftsteller, die sich der Politik zuwenden, wirken meistens wie Amateure, die die politische Situation nicht richtig verstehen, so dass sie mit ihren Werken der Literatur schaden. Wenn sie Berufspolitiker werden, schaden sie der Literatur auch, ohne der Politik zu nützen. Günter Grass nahm immer an den wichtigen Geschehnissen als Redner und Publizist teil. Einladungen zu Interviews und Diskussionen lehnte er nie ab. Das spricht nicht gegen Grass – es beeinflusste ihn auf jeden Fall in vielen Werken. Grass war nicht nur unter dem Einfluss der Politik, sondern auch des Misserfolges seiner zwei Romane Rättin und Unkenrufe, die von der Kritik und dem Publikum ablehnt wurden. Jeder Schriftsteller mag Fontane und schätzt sein Handwerk. Grass und Fontane sind eigentlich Kollegen. Das bedeutet immer noch nicht, dass er Fontane

39

aus dem 19. in das 20. Jahrhundert „importieren“ kann und mit ihm auch seine typischen schriftstellerischen Merkmale:

Dass er beides auf einmal war: kritisch und naiv. Und beides in höchstem Maße. Die Synthese aus Kritizismus und Naivität ist das Geheimnis seiner Unmittelbarkeit und Gelassenheit, seiner Unbekümmertheit und Souveränität – und damit zugleich das Geheimnis seines Erzählens.29

Diese Merkmale kann man nur in einigen Kapiteln von Blechtrommel und Katz und Maus spüren – Ein weites Feld ist von Naivität und Kritizismus weit weg. Sowohl Naivität als auch Kritizismus lassen sich auch nicht in der Phantasie in unsere Zeit übertragen. Die Hauptfigur Fonty ist wie Fontane in Neuruppin geboren – und sogar am gleichen Tag aber 100 Jahre später. Er ist Bürobote in der Treuhandanstalt, dennoch kleidet er sich wie Theodor Fontane. Er identifiziert sich mit ihm und zitiert seine Romane, Balladen und Novellen, als es seine eigene Werke wären. Schließlich entwirft er neue Schlüsse zu den Werken von Theodor Fontane. Marcel Reich-Ranicki nennt das einfach nur „Plappern“ und fragt sich selber, warum Grass so einen Roman überhaupt geschrieben hat. In seiner Rezension äußert er direkt und ziemlich spöttisch die Meinung:

Was soll das? Wollten Sie uns etwa beweisen, dass Sie es nicht besser machen können als Fontane? Da hatten wir ohnehin keine Zweifel.... Mit seiner Besserwisserei in Sachen Fontane und mit der ewigen Zitiererei geht der Bürobote Fonty allen auf die Nerven – wie jetzt ich Ihnen, mein lieber Grass. Dagegen lässt sich nichts machen. Weil ich ja ein professioneller Besserwisser bin? Nicht nur. Sie können ja beinahe alles besser als ich. Doch gibt es etwas, was ich mit Sicherheit besser kann als Sie – nämlich Ihr Buch beurteilen.30

Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki sind auch nicht einig, was die politische Situation und Meinung betrifft. Grass fürchtete sich vor einem

29 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 155.

30 ebd., S. 156.

40

„geeigneten“ Deutschland, das wieder voll „handlungsfähig“ wird. Damit stimmt Reich-Ranicki nicht überein. Er finde die Verbindung von Ausschwitz-Gedanken, die man auch im Roman Ein weites Feld spüren kann, gegen die Wiedervereinigung für absoluten Unsinn. Das kommunistische Regime machte viele Menschen unglücklich, unter anderem auch viele Schriftsteller und Kollegen von Günter Grass, und die Literatur wurde unterdrückt. Doch findet man keine Wut und Bitterkeit in seinem Roman gegen die DDR – nur die Verurteilung der BRD, dass sie wieder „fähig“ ist. Die politischen Ansichten, die Grass hier äußert, wundern Reich-Ranicki. Er erwähnt nicht nur Schriftsteller, die unter dem SED- Regime gelitten haben, sondern auch Tausende von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den letzten Jahren in der BRD Asyl gefunden haben. Grass sieht die Zukunft der wiedervereinigten BRD in den dunklen Farben. Die historische Entwicklung wird von dem altem Fonty und dem Spitzer Hoftaller erzählt, die eigentlich nichts in den letzten zehn Jahren kapierten. Die beiden hält Reich-Ranicki für Wirrköpfe – besonders Fonty. Er kommentiert den Roman und äußert seine Meinung wieder ziemlich spöttisch:

Wer in den Mittelpunkt eines Romans einen dummen Menschen stellt, muss damit rechnen, dass dessen Dummheit sich ausbreitet und das Ganze infiziert [...] Ich habe keine Lust, mich hier über dieses Thema zu verbreiten, nur eines ist für mich sicher: Sie wissen nicht, wovon Sie reden [...] Aber dass ich es nicht vergesse. Da gibt es in Ihrem Buch eine Episode, die völlig aus dem Rahmen fällt. Sie schildern ein Treffen mit Uwe Johnson. Sie schildern es wunderbar. Das kann keiner besser als Sie. Aber es sind nur fünf Seiten von 781.31

5 Rezensionen von anderen Literaturkritikern

Zurzeit ist Marcel Reich-Ranicki zwar der bedeutendste Literaturkritiker Deutschlands. Seine nicht weniger wichtigen Kollegen in diesem Bereich schrieben und schreiben auch Kritiken zu den Büchern von Günter Grass. Seine Meinungen und Gedanken zu den oben genannten Werken möchte ich

31 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. München 2003, S. 163.

41 zusammenfassen und im nächsten Kapitel mit den Kritiken von Marcel Reich- Ranicki vergleichen.

5.1 Danziger Trilogie

In diesem Teil widme ich mich den Kritiken der Danziger Trilogie von vielen berühmten Literaturkritikern (unter anderem Joachim Kaiser, Hans Magnus Enzenberger, Hellmut Karasek oder Walter Jens), die die Meinungen der Leser natürlich auch beeinflussten.

5.1.1 Die Blechtrommel

Die Kritik von Joachim Kaiser erschien am 1. November 1959 in der Süddeutschen Zeitung. Er sieht Oskar auch als Kind, das mit den mitleidlosen Augen die Welt erfährt. Oskar spricht sogar über sich selbst in der dritten Person und nicht in der Ich-Form – genauso, wie es die Kinder tun. Deshalb erscheine die Welt im Lichte eines moralischen, bewusst gesetzten und künstlichen Infantilismus. Trotz aller Bemerkungen, die Kaiser zum Roman hat, ist Grass für ihn jahrelang ein Geheimtipp gewesen. Er bewundert ihn als Zeichner, Bildhauer und auch Lyriker. Süddeutscher Rundfunk in Stuttgart veröffentlichte am 18. November 1959 die Rezension von Hans Magnus Enzensberger. Mit dem Roman Blechtrommel hat sich Grass ein Ärgernis verschrien oder wurde als Prosaschriftsteller berühmt. Enzenberger findet das Buch als etwas Besonderes und vergleicht es mit Döblins Berlin Alexanderplatz und Brechts Baal. Diese Bücher und seine Schriftsteller werden zwar als Kanon für die Literaturwissenschaftler fungieren, sie brauchen jedoch noch mindestens ein Jahrzehnt, bis sie reich zur Kanonisation in der Literaturgeschichte seien. Immer wieder tritt er in verbotene Sphären ein – Ekel, Sexualität und Tod. Zu Unrecht wird er der Provokation verdächtigt. Für Enzenberger sei dies keine Pornographie und seine Meinung deutet auf dem Beispiel der amerikanischen Schule. Bei Henry Miller kann man von Anfang an spüren, dass er über Tabus schreiben will. Grass bemerkt es einfach nicht und

42

schreibt es nur so nebenbei.32 Die Gesellschaft der 50er Jahre machte ihm Vorwürfe, dass sein Roman pornographisch ist und er kein schlechtes Gewissen hat. Der Skandal ist an keinen Stoff gebunden. Für Hans Magnus Enzensberger ist Günter Grass der Skandal überhaupt. Die Kritik von Günter Blöcker wurde am 28.November 1959 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung herausgegeben. Er nennt Oskar Matzerath Kretin. Seine Existenz wird von Grass noch weiter gestuft und verfeinert: Oskar entscheidet sich freiwillig Zurückgebliebener zu sein. Blöcker beschreibt die Figur Oskars überhaupt nicht positiv. Oskar genießt sein Leben – nach Blöckers Meinung Nihilismus – und sei mit allem zufrieden:

Wir haben es hier […] mit einer totalen Existenzkarikatur zu tun […] mit einer wütenden Intelligenz, die sich unter scharrendem Gelächter in einen Froschleib zurückzieht, jede Verantwortung von sich weisend, nur bereit […] auf eine Kindertrommel zu schlagen und Schaufensterscheiben oder Einmachgläser zerscherben zu lassen.33

5.1.2 Katz und Maus

In der Stuttgarter Zeitung erschien die Rezension von einem sehr berühmten Literaturkritiker: von Hellmuth Karasek. Er sucht Kontext oder vernünftige Interpretation. Er kann und will nicht glauben, dass es sich nur um die Geschichte eines Adamsapfels handelt. Er gibt schließlich zu, dass es keineswegs um eine psychologische Erzählung von der Kompensation eines körperlichen Defekts geht. Günter Grass schockiert ihn auch in vielen kindlichen Tauchspielen, die diese Novelle zum Misserfolg verurteilen. Hans Magnus Enzensberger äußerte sich auch zur Novelle Katz und Maus. Viele Literaturkritiker und Leser könnten das Gefühl haben, dass Grass sich in seinen eigenen Labyrinthen verirrt. Nein, die Architektur des Werkes sei vielmehr genau bedacht. Der Text sei souverän und dicht verspannt. Nicht nur der Text und

32 Vgl. Volker Neuhaus, Daniela Hermes (Hgs.): Die „Danziger Trilogie“ von Günter Grass. Texte, Daten, Bilder. Frankfurt am Main 1991, S. 116f.

33ebd., S. 114.

43 sondern auch die Sprache, die Grass verwendet, bewundert Enzensberger. Die Handlung spielt wieder in Danzig – in der ehemaligen deutschen Stadt. Darin liegt mehr als eine historische Ironie. Enzensberger sieht darin Suche nach dem verlorenen Raum und setzt schon im Jahre 1961 voraus, dass es nicht Grass` letztes Stück über Danzig ist. Nach diesen zwei Literaturkritiken möchte ich auch eine Rezension zu der Verfilmung der Novelle erwähnen. Diese ist von Rüdiger Dilloo aus der Stuttgarter Zeitung. Der Regisseur Pohland lässt die Erzählfiguren aus der westlichen Gegenwart mit dem westlichen Sportwagen in das östliche, polnische Danzig fahren. Pilenz ist zwar auf der Suche nach der verlorenen Zeit, verändert sich aber nicht und bleibt so, wie er war: ein Fremder aus dem Heute zwischen den Gestalten einer Erinnerung. Seine gedanklichen Einfälle könne der Schauspieler nicht stark darstellen, so dass er die Zuschauer bald langweilt. Trotz aller Bemühungen Pohlands und der elegischen Kamera Wolf Wirths sei die Verfilmung nach Dilloos Meinung unbefriedigend.

5.1.3 Hundejahre

Der berühmte Literaturkritiker Walter Jens kommentierte nicht nur Hundejahre sondern auch Katz und Maus. Seine Rezension von Hundejahren finde ich interessanter, weil man danach Reich-Ranicki mehr begreifen kann. Man könnte sagen, dass Reich-Ranickis Meinung und seine Einwände nicht vernünftig sind und er nur das Buch zerrissen wollte. Jens stimmt aber mit ihm überein. Die Hundejahre ist das schlecht komponierte, aus sehr schwachen Episoden bestehende Buch. Trotz der sprachlichen Kraft, die Grass wieder zeigt, und einer Fülle der Bilder ist der Roman gescheitert. Schon der zweite Teil zerfällt in aneinander gereihte Episoden, die gekürzt werden könnten. Den dritten Teil analysiert Walter Jens nur kurz und nicht gerne. Er ist einfach schlecht. Er findet ihn noch schlimmer als den Schluss der Blechtrommel. Beide spielen sich nicht mehr in Polen sondern in Deutschland ab. Sobald Günter Grass seine Heimat verlässt und sich an Deutschland wendet, scheitert das Werk. Kurt Lothar Tank (Sonntagsblatt Hamburg, 1.9.1963) empfindet Günter Grass als Heimatschriftsteller. Jedes Buch ist Teilstück eines nur in der Vorstellung, in Traum und Phantasie ausgerundeten Kosmos. Die Symbole und

44

Antworten auf Fragen, die er in den Bildern gibt, sind für Tank eine hervorragende Lösung. Nicht nur das Hauptmotiv des Romans mit Menschen in der Gestalt von Vögeln und Menschen als Vogelscheuchen, sondern auch einzelne Momente findet er sehr stark:

Am großartigsten im Schlusskapitel des Romans […] Diese Unterwelt, die man nicht vorschnell eine Hölle, ein modernes Gegenstück zu Dantes Inferno nennen sollte, ist ein satirisches Abbild dessen, was wir in unserer soziologischen Umgangssprache die pluralistische Gesellschaft nennen.34

5.2 Die Plebejer proben den Aufstand

Für das Theaterstück wählte ich die Literatur- und Theaterkritiken von Urs Leny, Dieter Hildebrandt und Jost Nolte aus, die für solche bedeutenden Zeitungen Deutschlands geschrieben haben wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und Die Welt.

5.2.1 Urs Leny: Grass probt den Aufstand

Urs Leny in seiner Kritik, die am 17.1. 1966 in der Süddeutschen Zeitung erschien, ist nicht besonders begeistert von Grass` Drama Die Plebejer proben den Aufstand. Er finde dieses Schauspiel schwerfällig und ohne rechte Durchschlagkraft. Sogar auch das zwiespältiges Porträt Bertolt Brechts sei ihm misslungen. Günter Grass wollte ein Theaterstück schreiben ohne irgendeine Beschränkung. Er nahm sich die Freiheit und mit aller Kraft und allem Können verwirklichte er das. Ergebnis ist vielleicht alles Mögliche jedoch kein Drama. Der Leser spürt hier den psychologischen Ansatz, der das Stück zwar interessant macht aber nicht dramatisch. Man weiß, dass Brecht den Arbeitern am 17. Juni 1953 nicht half. Grass kann ihn nur als einen Mann zeigen, der immer zögert, Ausflüchte macht, dann mit den Arbeitern sympathisiert und schließlich

34 Vgl. Volker Neuhaus, Daniela Hermes (Hgs.): Die „Danziger Trilogie“ von Günter Grass. Texte, Daten, Bilder. Frankfurt am Main 1991, S. 130.

45

zurückweicht: „Das ist ungefähr so dramatisch wie ein Hamlet, der vier Akte lang zaudert, dann sein Schwert in die Scheide zurücksteckt und mit schlechtem Gewissen ins Bett geht.“35 Was will Grass mit diesem Schauspiel überhaupt sagen? Was hat er eigentlich gegen Brecht? Meint er vielleicht, dass der Aufstand mit der Hilfe von Brecht am 17. Juni 1953 ein besseres Ende hätte nehmen können? Auf diese Frage antwortet Grass nicht. Nur von Szene zu Szene ist es immer mehr deutlicher, dass der „Chef“ kein Ästhet ist. Einerseits probt er mit den Revolutionären ein Theaterstück, andererseits missbraucht und verspottet er sie wie „Versuchskaninchen“. Das nennt Leny Unfähigkeit zum Handeln. Die Probearbeit an diesem Schauspiel dauerte ziemlich lange und war ein großes Geheimnis. Obwohl es die Spannung förderte, sei die Inszenierung schließlich nicht überraschend gewesen. Der „Chef“ solle die Plebejer führen und den Aufstand fördern. Zum Schluss wirke das Ganze kaum theatralisch. Grass betone nur, dass die Arbeiter marschieren und zitiere die amtlichen Phrasen.

5.2.2 Dieter Hildebrandt: Brecht und der Rasen

Dieter Hildebrandt schrieb seine Literaturkritik für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Seiner Meinung nach treffe dieses Stück das Zentrum. Grass hätte den Punkt erreicht, wo sich dokumentarisches und klassisches Theater kreuzt. Den Punkt, wo Politik und Poesie sich schneiden und wo Historie in die Gegenwart übergehe. Ist das Drama so schlecht wie die anderen Literatur- und Theaterkritiker schreiben? Nein, dieses Stück sei ebenso simpel wie genial. Auf den ersten Blick kann der Leser viel übersehen und merkt da einfach nur die Realität, die gegen das Theater gesetzt wird. Man kann das Gefühl haben, als ob Leben und Kunst gegeneinander ausgespielt würden. Grass beschreibt deutsche Geschichte nicht auf besonders gute Art und Weise. Er schildert die deutsche Situation mit der Provokation und ziemlich unruhig. Der analytische Verstand, Überlegung und Geduld führten zu dem erfolgreichen Werk. Schade, seine Art der Beschreibung sei nach Hildebrandt die einzig offenbare Schwäche dieses Schauspiels.

35 Vgl. Loschütz, Gert: Von Buch zu Buch. Günter Grass in der Kritik. Eine Dokumentation. Neuwied, Berlin 1968, S.137.

46

Das Theater halte Hildebrandt für das Medium, das den Menschen die Realität übermittle. Es werde immer mächtiger in seiner Funktion, uns was wir überlebten, noch einmal kritisch erleben zu lassen. Günter Grass sei eine der bedeutendsten Personen dieses Theaters.

5.2.3 Jost Nolte: „Die Plebejer proben den Aufstand“

Jost Nolte in seiner Rezension für Die Welt analysiert die Figur des „Chefs“. Schreibt Grass über Bertolt Brecht? „Chef“ trägt einen grauen Anzug, schwarze Krawatte und schwarze Hornbrille. Grass diktiert ihm ein Verhalten, dessen Brecht nicht schuldig wurde. Ähnlichkeit mit dem berühmten Schriftsteller ist nicht nur angestrebt, sie wird sogar vermieden. Auf der anderen Seite wurden solche Zitate in den Text eingearbeitet, die Brecht eindeutig identifizieren. Nicht nur Zitate sondern auch Ort und Zeit verweisen auf Bertolt Brecht Nolte kritisiere das Verhalten des „Chefs“ und halte es für ein einzig retardierendes Moment von Anfang bis Ende. „Chef“ interessiert sich nicht für den Aufstand und die Arbeit auf der Bühne ist für ihn viel wichtiger. Er studiert nur die Revolution und will es auf dem Theater kopieren. Diese Schwäche muss man während der Inszenierung überspielen. Im Berliner Ensemble sei es bei der Uraufführung gelungen. Die Uraufführung von Richard Münch sei nach Noltes Meinung auch ziemlich erfolgreich gewesen. Er hat das Motto des Dramas: „Lehrstück machen. Publikum klüger machen“ bearbeitet und dem Publikum einen guten Abend bereitet.

5.3 örtlich betäubt

Für den späteren Vergleich der Kritiken entschied ich mich für die Texte von Hans-Gernot Jung und dem berühmten Herausgeber der Zeitschrift Text + Kritik Heinz Ludwig Arnold.

47

5.3.1 Hans-Gernot Jung: Lästerungen bei Günter Grass

Sie können heute Christus auf dem Kurfürstendamm...kreuzigen und gekreuzigt aufrichten, die Leute gucken zu, machen ihr Foto... aber wenn sie sehen, wie jemand einen Hund, hier in Berlin einen Hund verbrennt, da schlagen sie zu, immer wieder zu, bis nichts mehr zuckt, und auch dann noch hauen sie drauf.36

Günter Grass hat schon bessere Werke geschrieben. Was denkt der Leser? Brennender Hund ist geschmacklos und für viele auch amoralisch. Die Darstelung des gekreuzigten Christus gefällt bestimmt auch nicht vielen Lesern. Religiöse Empfindungen soll man schonen oder auf sich beruhen lassen. Das ist jedoch nicht Jungs Meinung. Jung interessiert sich nicht für das Literarische und Moralische bei Grass, weil seiner Meinung nach schon viel darüber geschrieben wurde. Das Theologische werde von vielen Literaturkritikern übersehen. Seine Romane beziehen sich oft auf theologische Themen und kirchlichen Stoff. Grass` Sprache sei aber keine Sprache der theologischen Begriffen und Definitionen. Er erzähle Geschichten, in denen sich Motive und Symbole widerspiegeln. Die Verbrennung des Dackels erzählt er bestimmt absichtlich im Zusammenhang mit dem Kreuz Christi. Grass lobt nicht das Theologische in seinen Werken sondern hält das für Lästerung. Er treibt negative Theologie, schwarze Theologie. Wo es am schwärzesten ist, trifft er meistens auch ins Schwarze!37 Die Frömmigkeit in seinen Werken wird als lasterhaft geschildert. Die Menschen sind nicht heilig und begehen Verbrechen, die sie dann fromm machen. Diese Art von Frömmigkeit beschreibt Grass. Sünde mache nach Grass` Werken und Meinungen fromm. Wenn Sünde anfange, Frömmigkeit zu produzieren, sei Frömmigkeit durch Sünde qualifiziert.

36 Vgl. Grass, Günter: örtlich betäubt. Göttingen 1997, S. 226.

37 Vgl. Jurgensen, Manfred (Hg.): Grass. Kritik-Thesen-Analysen. Bern 1973, S. 77.

48

5.3.2 Heinz Ludwig Arnold: Zeitroman mit Auslegern: Günter Grass` „örtlich betäubt“

Die Hauptfiguren – Starusch, Zahnarzt, Irmgard Seifert, Philipp Scherbaum und Veronika Lewand – äußeren sich im Roman zu einer gesellschaftlichen Problematik, zur Unruhe der Jugend und der Starrheit des Alters. Im Roman örtlich betäubt entwickelt sich Günter Grass in seiner Karriere des Schriftstellers. In seinen früheren Werken schreibt er aus Sicht der außergewöhnlichen Figuren wie Oskar Matzerath, Mahlke oder Eddi Amsel, die am Rande der Gesellschaft und ihrer Geschichte stehen. Die Ereignisse der Geschichte spiegeln sich eigenwillig und grotesk wider. Schon im Drama Die Plebejer proben den Aufstand verzichtete darauf veränderte seine Perspektive. Das betrifft auch örtlich betäubt. Die Objekte veränderten sich zwar nicht, aber sie erscheinen mindestens normal. Das hätte man von Grass nicht im Geringsten erwartet. Arnold gefalle jedoch nicht der Mittelteil, weil eine schlichte und anspruchsvolle Geschichte behandelt werde. Der erste und dritte Teil seien voll von Manierismen und überflüssigem Gerede. Beides breche den Roman auseinander. Den alten Grass finde man trotzdem im Text. Er verstecke sich. Sein Erzählertalent sei aber immer noch im Text. Möglicherweise hat er am Anfang seine sprachliche Kraft absichtlich zurückgehalten, um seiner neuen Perspektive keine allzu großen Hindernisse querzustellen.

5.4 Der Butt Für Butt suchte ich die Rezension von Christoph Pereis, der sich vor allem mit der Hauptperson des Buttes und seiner Eigenschaften beschäftigt, und Gunzelin Schmid Noerr. Sie fokussiert auf die Darstellung des Feminismus in Butt. 5.4.1 Christoph Pereis: Roman als das Ganze

49

Christoph Pereis behauptet am Anfang seiner Literaturkritik, das es Romane gebe, die die Vitalität von Regenwürmern haben: „nicht nur lebt das Ganze, sondern, wenn man das Ganze zerschneidet, lebt auch jedes einzelne Stück munter weiter.“38 Günter Grass` Butt lebe in den Einzelteilen. Und das Ganze? Nein, die letzten Bücher seien ihm nicht gelungen. Vor allem kritisiere Pereis die „Politisierung“ seiner Werke. In Butt widmet sich Grass der Emanzipation und reist durch ganz Deutschland: nach Hamburg, Westberlin und wieder in die ehemalige deutsche Stadt Danzig. Der Held ist eigentlich kein Mensch, sondern Fabelwesen in Schuppen: der Butt. Er ist Oskar Matzerath ähnlich. Grass entwickelte leider seine Persönlichkeit nicht so viel in die Tiefe wie bei Oskar. Niemand weiß, was in Butt wirklich vorgeht. Er spricht oft vor dem Tribunal, ist ein Meister der Rhetorik und Gestik, verteidigt sich ironisch und bissig. Es ist wieder eine Groteskfigur, die die Handlung des Romans selbst zu einer gewaltigen Groteske macht. Komisch endet auch die Gerichtsverhandlung: vor den Augen des Butts essen die anderen ein Fisch-Gericht. Die Ehe mit Ilsesil scheint nicht im Vergleich zum Tribunal grotesk zu sein. Im Allgemeinen handelt es sich nur um ein paar satirische Bemerkungen und kritische Reden über den Mann. Der Höhepunkt liegt jedoch in den historischen Episoden, die mit der Ehe und dem Gericht den Roman bilden. Hält der Roman als Ganze zusammen? In den Einzelteilen sei er sehr gut, aber als Ganze bestimmt nicht. Grass behandele zwar viele Themen in diesem Roman aber keine halte ihn zusammen: auf jeden Fall nicht die Emanzipation, auch nicht die Ehe und am ehesten der Prozess. Trotzdem sei Grass` bestes Buch seit der Blechtrommel nach Christoph Pereis gelungen.

5.4.2 Gunzelin Schmid Noerr: Günter Grass und die Frauen

Grass geht es nicht nur um die Geschichte der Männer und Frauen und ihre Beziehung wechselnder Herrschaft. Die komplizierte Konstruktion des Romans missrate jedoch nicht zum langweiligen Werk. Er hätte nämlich drei Erlebnisdimensionen eingearbeitet: die der historischen Szenen, des

38 Heinz Ludwig Arnold: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. München 1978, S. 88.

50

gegenwärtigen Lebenszusammenhangs und der Konfrontation mit den Feministinnen. Im Roman treten zwei Typen von Frauen: Feministinnen, von denen der Mann „Butt“ erzählt, und Ilsebil. Sie stelle Gegenteil zu den anderen Frauen dar. Sie werde immer angesprochen, antworte jedoch selten. Sie nehme auf diese Weise stellvertretend die Emotionen der Leser auf. Den Eindruck fasst Noerr zum Schluss zusammen:

Das ist das historisierende Delirium eines Mannes, der sich von den Frauen nicht mehr ernst genommen, in einem Schrift- und Wortschwall ergießt und sich so gegenüber der ewig potenten weiblichen Lust- und Gebärnatur behauptet. So versucht das verwesende Patriarchat, in Selbstkritik noch ein wenig zu überdauern.39

5.5 Ein weites Feld

Für den Roman Ein weites Feld musste Grass viele Materiealien sammeln und viele Werke von Fontane lesen – ein langer Weg. Wie ist das Ergebnis? Die Meinung von Marcel Reich-Ranicki wissen wir schon. Haben die anderen Literaturkritiker auch so negativ reagiert und den Roman zerrissen? Wie haben Gustav Seibt, Reinhard Tschapke, Jürgen Busche, Fritz Rudolf Fries, Andrea Köhler und Wolfgang Ignée das neue Werk von Grass beurteilt?

5.5.1 Gustav Seibt: Die Uhr schlägt, das Käuzchen ruft

Gustav Seibt schildere in seiner Kritik für Frankfurter Allgemeine Zeitung Ein weites Feld als Auftrag. Deutsche Literatur bestellte bei Grass einen kritischen Zeitroman zu der jüngst erlebten Vergangenheit. Er musste Hauptfigur, Schauplätze und hauptsächlich viel historischen Stoff suchen. Theodor Wuttke ist wiedergeborener Theodor Fontane, der den Lesern die zeitgenössische Geschichte erzählen soll. Wuttke – Fonty hat aber keine unklare Identität. Teils ist er Wuttke und teils lebt er als Fontane. Seine Familienverhältnisse sind dieselben, die Ehe ist der Fontanes sehr ähnlich der Fontanes und weiß viele Informationen über Fontane. Hoftaller begleitet ihn überall. Dieser soll schon im neunzehnten

39 Heinz Ludwig Arnold: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. München 1978, S. 93.

51

Jahrhundert gelebt und Fontane begleitet haben. Einigermaßen hat Grass allen Anspruch auf unser Mitgefühl. Er musste viel Material von den Werken und der Biographie Theodor Fontanes sammeln. Es wird nichts ausgelassen, die Briefe nicht, die Erinnerungsbände, die Kriegsbücher, die Wanderungen, die Romane. Es ist wirklich beeindruckend. Seibt stellt sich dieselbe Frage wie die anderen Literaturkritiker. Werde der Leser nicht durch allzu Zitieren und Informationen überfordert werden? Das ständige Erklären und Verdeutlichen erzeugt den Eindruck, dass man es mit einem intellektuell äußerst schlichten Buch zu tun hat. Gustav Seibt vergleiche auch ähnliche historische Begebenheiten. Im Jahre 1968 marschierte die DDR-Volksarmee in die Tschechoslowakei und im Jahre 1866 führte Preußen den Krieg in Böhmen (Fontane schrieb darüber). Sei das Zufall oder bestehe da ein Zusammenhang? Das schriebe bestimmt Grass absichtlich. Als ein anderes Beispiel biete sich Paternoster an. Zuerst führe in ihm Göring, später Ulbricht und schließlich der Treuhand-Chef Rohwedder. Da müsse schon ein Zusammenhang bestehen. Was die Person Fontys betrifft, finde es Seibt nicht als beste Lösung. Wenn Grass eine Geschichte eines Verrückten erzählt hätte, der denkt, dass er Fontane ist, wäre es besser, als eine halbgeisteskranke und halbgeistesgesunde Person zu wählen. Der verrückte Fonty könnte als Gegenstück von Oskar Matzerath aus der Blechtrommel dargestellt werden und mit seinem grotesken Blick die deutsche Geschichte der letzten Jahrzehnte beschreiben. Günter Grass wollte kein Erzählwerk sondern einen Roman über Geschichte schreiben. Aber je länger man dieses Buch liest, desto klarer nach Seibt wird, dass der Autor überhaupt nichts über das Leben in der DDR weiß. Es fehlen ihm eigene Erfahrungen. Wenn er sich schon so große Mühe gäbe, Materialien zu sammeln, hätte er lieber ein Buch über Fontane schreiben sollen.

Nein, haben wir lieber Nachsicht. Man hat Günter Grass auf einen falschen Weg gelockt. Irgendwann hat man ihn glauben lassen, er sei der repräsentative Nationalschriftsteller in der Nachfolge Thomas Manns, und er habe die Pflicht, das Leben der Nation insgesamt mitzuleben und nachzugestalten.40

40 Vgl. Negt, Oskar (Hrsg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996, S.75.

52

5.5.2 Reinhard Tschapke: Rummel um Grass: Wenn der Lärm die Literatur übertrifft

Die Kritik von Reinhard Tschapke erschien am 19. August 1995 in der Zeitung Die Welt. Nach Tschapkes Meinung könne Lärm offensichtlich die Literatur ersetzen. Ein weites Feld wurde im August 1995 herausgegeben. In demselben Monat waren 100 000 Exemplare vorbestellt und die zweite Auflage wurde bereits gedruckt. Grass trat vor der Erscheinung des Buches im Fernsehen auf. Als offizieller Erscheinungstag wurde der 28. August gewählt – Goethes Geburtstag. Das Fernsehen strahlte dazu viele Sendungen. Alle feierten: Der Meister ist wieder da! Höher ging es nicht mehr. Die Tatsache ist leider traurig: Der Rummel übertraf das Buch. Wuttke hat sich den Spitznamen „Fonty“ redlich verdient. Er zitiert und imitiert Fontane auf Schritt und Tritt aber die Bedeutung kommt nicht über das Zitat hinaus und wirkt oberflächlich. Man spürt das mehr oder weniger als Montage. Fontane wird hier nur Fußnotensklave. Eigentlich kommentiert Fonty auf seine Art und Weise die Ereignisse der Wiedervereinigung Deutschlands. Grass begründe allerdings nicht, warum er als Kommentator diesen spleenigen Büroboten auswähle. Und ob die Kommentare stimmen, stehe außer Frage, weil es sich um private Meinung des Autors handele. Ziemlich oft seien es sehr mutige Worte, die auch die damaligen Politiker betreffen:

Die Tatsache, dass Kohl im Buch zweimal als „Lügner“ bezeichnet wird, rief CDU- Generalsekretär Peter Hintze auf den Plan. „Die Ausfälle von Grass sind total geschmacklos, peinlich und von einem erschütternden Realitätsverlust gekennzeichnet.“[…]„Wie tief muss dieser Mann sinken, um seine Auflage zu steigern?41

41 Vgl. Negt, Oskar (Hrsg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996, S.70.

53

5.5.3 Jürgen Busche: Vom Glanz und Schmutz des deutschen Bürgertums

Jürgen Busche schrieb seine Kritik im Jahre 1995 für die Süddeutsche Zeitung. Genauso wie Marcel Reich-Ranicki oder Reinhard Tschapke war er von Grass´ Roman überhaupt nicht begeistert. Es werde nämlich nur eine Erzählung voll von Fußnoten ohne den dazugehörenden Text geboten. Wer von dem Leben und den Werken Fontanes nichts wisse, verliere sich in den Namen und Notizen. Er mische jedoch die Vergangenheit und Gegenwart. Wuttkes Söhne gehen in den Westen und wiederholen dort die Karrieren der Fontane-Söhne. Wenn Fonty Geburtstag feiert, wird die Gaststätte, wo dies geschieht, „schottisch“ dargestellt – Fontanes Lieblingsland war Schottland. Andererseits gehen Wuttke und Hoftaller zu McDonalds und kaufen sich Essen bei Fast Food. Mit diesem Thema lasse sich nichts anfangen. Der Leser verstehe hier nur die Gegenwart. Trotzdem finden wir in der Gegenwartserzählung keine Symbole, nichts Dahintergestecktes. Ein gutes Beispiel ist Treuhand-Chef Detlev Carsten Rohwedder, der hier geschildert wird, wie er nachts in den Gängen der Treuhandanstalt Rollschuh fährt und manchmal mit Wuttke über Fontane spricht. Wo ist die Bedeutung? Damit hätte Grass nur den Inhalt dieser ein paar Sätzen sagen wollen und nichts Anderes. Worauf wollte Grass mit seinem Roman deuten? Handele es sich um Entwurf einer Topographie der deutschen Seele zwischen Politik und Literatur? Habe sich alles in zweihundert Jahren fast nichts verändert? Nach Busches Meinung sei es schon möglich und vor allem in Berlin kann man keine großen Veränderungen sehen. Grass´ Roman ist eigentlich Berlin-Roman. Die Spaziergänge durch die Stadt überzeugen den Leser, dass Grass ziemlich nah dem historischen Roman hat. Ist das aber Absicht? Nichts Anderes kann man leider nennen. In sein Bild des „Unsterblichen“ Fontane hat er den ganzen Glanz und den ganzen Schmutz des deutschen Bürgertums aus zweihundert Jahren hineingelegt.

5.5.4 Fritz Rudolf Fries: Hoftaller plus IM Fonty, ein sehr weites Feld

Das Hauptmotiv überrasche Fries nicht, wie er in seiner Rezension für Neues Deutschland erwähnt. Die Leser kennen Grass ziemlich lange und wissen,

54

wofür er sich in den letzten Jahren in seinen Reden, Aufsätzen und Interviews interessiert. Er schrieb eine Parodie auf die Politik. Die Geschichte mit der Französin Madeleine Aubron ist sehr gutes Beispiel. Sie ist seine Enkeltochter, die plötzlich aus Frankreich auftaucht. Mit der Figuren Madeleine und Wuttke deutet Grass auf die deutsch-französische Beziehungen seit Adenauer und de Gaulle. Seine Meinungen fasst er an dem Beispiel des Schlusses des Romans zusammen. Wuttke hält einen Vortag über Fontane in den Räumen der Treuhand. Alle kommen in Kostüm Fontanes Figuren und unter falschem Namen. Fonty redet so heftig und mit viel Energie, dass am Ende die Feuerwehr anrückt, weil das Gerücht aufkommt, dass Treuhand brennt. Nein, es brenne nichts. Wuttke habe nur viel geredet:

Ich habe das Buch mit einem Seufzer der Genugtuung und einem Seufzer der Erleichterung aus der Hand gelegt. Wie hätte Fontane diese unsere Jahre beschrieben?42

5.5.5 Andrea Köhler: Die Deutschstunde

Die Kritik wählte ich aus, weil ich nicht nur deutsche Meinungen hören wollte, sondern auch Meinung aus den Nachbarländern – in diesem Falle aus der Schweiz. Andrea Köhlers Rezension wurde in der Neuen Zürcher Zeitung am 23.8.1995 ausgegeben. Von dem neuen Roman von Günter Grass hatten die Leser die großen hochgeschraubten Erwartungen dank der lobenden Vorabkritiken. Dann kam aber derbe Enttäuschung. Grass schildert die Geschichte von der Vorgeschichte des Zweiten Deutschen Reichs bis zu den Spätfolgen des Dritten auf Grund des Aufstiegs und Falls des deutschen Bürgertums und der Wiederkehr des germanischen Willens. Das kann man am besten auf dem Bespiel des ehemaligen Stasispitzels Hofftaler sehen. Er ist ein wendiger Bürokrat im wechselnden Dienst von Kaiser, Führer und sozialistischen Vaterland. Dieser Hofftaler begleitet

42Vgl. Negt, Oskar (Hrsg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996, S.90.

55

Fontane schon im Jahre 1870. Später überführt er den, von der Wehrmacht in Frankreich befreiten Theo, als Resistant und in der DDR spioniert er den Kulturbundreisenden Wuttke-Fonty aus. Er ist die zweite Seele Fontys. Grass äußerte jedoch seine Meinungen schon am Anfang der 90er Jahren, wenn er über den deutschen „Anschluss“ und den „Schnäppchennamens DDR“ schrieb. Auch Andrea Köhler erwähne wie die anderen Literaturkritiker und finde das Symbol des Paternosters wichtig. Grass situiere ihn an einem symbolischen Ort der deutschen Geschichte in Berlin-Mitte und viele berühmte Persönlichkeiten vereinen sich dort. Das werde dem Buch zum Verhängnis. „Denn wozu dieses Wiederkäuen von Aufstieg, Wende und Fall, wenn es nur dem mechanischen Beweis dienen soll, dass „im Prinzip sich nichts ändert“?43 Grass deute zwar auf die Tatsachen, aber die Tatsachen allein sind für die Literatur tödlich. Für die Literatur sei vielmehr Zweideutigkeit wichtiger.

5.5.6 Wolfgang Ignée: Fremde an einem Tisch

Die Kritik von Wolfgang Ignée in der Stuttgarter Zeitung ist nicht so streng und spöttisch sondern mit dem Respekt zu Günter Grass geschrieben, womit er sich von den anderen Literaturkritikern unterscheidet. Er halte Grass für einen hervorragenden Schriftsteller, der die deutsche Literatur in der Welt bekannt gemacht hätte. Ignée mache den anderen Literaturkritikern Vorwürfe, dass sie das Buch ablehnen, bevor es überhaupt in die Buchhandlungen komme. Nur auf Grund dessen, dass sie wissen, dass in dem Buch Kanzler Helmut Kohl auftrete. Grass nenne nicht seinen Namen. Der Leser weiß, dass er der Kanzler ist, der für die Wiedervereinigung zuständig ist und aus der Pfalz kommt. Schließlich nennt ihn Lügner. Jeder kritisiert sofort den Autor. Sie haben bestimmt vergessen, dass Grass die deutsche Literatur formal wie kein zweiter vorangebracht hätte. Aber der aufmerksame Leser entdecke im Roman immer wieder die große Epik und sehe die Qualität der Schilderungen der Blechtrommel und der Hundejahre. Es konkurriert sogar diesen Werken.

43 Vgl. Negt, Oskar (Hrsg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996, S.93.

56

Wuttke-Fonty will das wiedervereinigte Deutschland verlassen. Schließlich gelingt es ihm und mit seiner Enkeltochter zu flüchten und löst sich von der Familie, dem Volk und dem Staat. Utopie? Auf jeden Fall. Aber eine der schönsten Fiktionen und Utopien des Romas vielleicht. Dies deute darauf hin, dass auch die nächste Generation die Wiedervereinigung genießen könne. Zum Schluss lobt sie Grass, dass er einen hervorragenden Roman geschrieben hat:

Günter Grass hat den vielbesprochenen, langerwarteten Roman der deutschen Einheit geschrieben und überzeugend hingekriegt, der ein Roman der „Zwieheit“ geworden ist. Darin steht irgendwo geschrieben: „Ob ein Staat besser ist, als zwei waren, wird sich zeigen.“ Ein großes Buch.44

6 VERGLEICH DER KRITIKEN

Was werde aus Grass werden? Diese Frage stellt sich Reich-Ranicki schon in der ersten Kritik von Blechtrommel. Seine Energie und wilde Begabung, die man gleich im ersten Roman spüren kann, findet er sehr positiv, aber nur im Falle, wenn er Schauspieler oder Regisseur gewesen wäre. Die Schriftsteller müssen jedoch ganz allein mit sich fertig werden. Seine sprachliche Kraft sei auch sehr bemerkenswert. Sein Deutsch sei saftig und deftig. Wenn er auch noch wüsste, wie er diese Begabung verwenden könnte, wären seine Werken fast perfekt. Warum schreibe ich „fast perfekt“? Marcel Reich-Ranicki findet nur wenige Bücher einwandfrei. Oder sogar keine? Wenn er ein Buch nicht gut findet, zerreißt es auch in seiner Kritik. Das sprachliche Talent, das Grass nicht beherrschen kann, gefalle ihm nicht. Die Blechtrommel ist Oskars Abwehrwaffe, die als Instrument seiner Auseinandersetzung mit dem Leben dient. Er gewinnt mit der Blechtrommel Distanz von den Erwachsenen und gleichzeitig gibt er der Welt ein Zeichen, dass sich etwas Schlimmes geschieht. Obwohl Reich-Ranicki Blechtrommel nicht lobt, findet er Hundejahre viel schlimmer - besonders nach der gut konzipierten

44 Vgl. Negt, Oskar (Hrsg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996, S.100.

57

Novelle Katz und Maus, die sich zu den reiferen und strengeren Werken zählen. Ein Plus sieht er trotzdem in den Hundejahren. Grass ` Sprache sei zögernd und weniger kokett als beim ersten Mal. In seiner Kritik der Blechtrommel beschwert er sich darüber:

„Die Blechtrommel“ ist kein guter Roman, doch in dem Grass scheint – alles in allem – Talent zu stecken. Er muss mit den Feinden seines Talents kämpfen – sie sind in seiner eigenen Brust zu finden.45

Er kennt in dem nächsten Werk seine Mängel, lernt daraus und kann zwar nach Reich-Ranickis Meinung endlich mit den Lesern und Rezensenten umgehen. Das ändere aber nicht die Tatsache, dass der Roman Hundejahre gescheitert sei. Was die oben genannten Literaturkritiker betrifft, stimmen sie meistens mit Reich-Ranicki überein. Den pornographischen Skandal wegen ein paar Szenen in Blechtrommel finden sie lächerlich, weil es sich ihrer Meinung nach überhaupt um keine Pornographie handele. Oskar ist für sie eine groteske Figur des Infantilismus. Günter Blöcker nennt ihn sogar Kretin und sein Leben gleicht er dem Nihilismus an. Die Novelle Katz und Maus nach Hellmuth Karasek sei nicht gelungen. Er hält sie nur für eine Geschichte eines Adamsapfels. Im Unterschied zu ihm ist Hans Magnus Enzensberger mit der Novelle zufrieden und lobt die Struktur des Werkes. Der einzige Literaturkritiker, der vor Jahrzehnten von Hundejahren begeistert war, ist Kurt Lothar Tank. Er bewundert Symbole und Bildern im Roman. Nach Reich-Ranickis und Jens` Meinung könnten viele Episoden gekürzt oder sogar weggelassen werden. Obwohl keine einzige Szene im Drama Die Plebejer proben den Aufstand Grass gelungen sei, hat er doch eine Fülle von Details und von originellen Beobachtungen zu bieten. Das ist jedoch für Reich-Ranicki nicht ausreichend. Einerseits rutscht er in simple Verse ab, andererseits verwendet er häufig die Wendungen der Alltagssprache. Ein deutsches Trauerspiel über ein deutsches Trauerspiel hat sich fast wieder als ein deutsches Trauerspiel erwiesen.46 In dieser

45 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel : Unser Grass. München 2003, S.18.

46 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel : Unser Grass. München 2003, S.65.

58

Hinsicht stimmt Dieter Hildebrandt nicht mit Reich-Ranicki überein. Grass schreibe zwar simpel aber trotzdem genial, so dass viele interessante Stellen im Theaterstück entstehen. Die Darstellung des „Chefs“ gefällt keinem von den Literaturkritikern. Sein Verhalten sei von Anfang an schlecht. Er missbrauche die Arbeiter wie „Versuchskaninchen“ und sei selber unfähig zum Handeln. Zu örtlich betäubt kann ich nichts Positives schreiben. Nach Reich- Ranickis Meinung gebe es hier nichts zum Loben. Er schätzt ein paar Dialogen, z.B. die Dialogen mit dem erotischen Akzent. Diese konnte Grass jedoch schon viel früher. Heinz Ludwig Arnold sieht in diesem Werk Grass` Entwicklung nach vorne. Die Ereignisse seien immer grotesk und komisch, jedoch Objekte und Figuren erscheinen endlich normal. Man könnte denken, mit diesem Roman ist er auf einem Tiefpunkt angelangt und er bringt ihm keinen Ruhm. Im Laufe der Zeit wurde Grass leider noch mehr von der Politik beeinflusst und brachte nichts Neues oder „Gutes“ in seinen Werken. Er veränderte mit ihnen auf keinen Fall die Politik – die Literatur wurde unter diesem Einfluss ruiniert. Bis jetzt war er auf einem Tiefpunkt angelangt. Dann schrieb er Den Butt. Einige Kapitel sind hervorragend, aber als das Ganze ist es nicht gelungen. Gunzelin Schmid Noerr findet den Roman trotz der komplizierten Konstruktion zwar erfolgreich und gut geschrieben. Reich- Ranicki und Christoph Pereis sind jedoch dagegen und Grass` Politisierung gehöre nach ihrer Meinung zu den Schwächen des Buttes. Nach dem Erscheinen des Romans Ein weites Feld wurden viele Kritiken geschrieben. Günter Grass freute sich bestimmt nicht darüber. Viele Literaturkritiker haben sein Werk sehr negativ kommentiert. Sie machen ihm Vorwürfe, dass er zu viel zitiere, dass er keine Erfahrungen mit dem Regime in DDR habe oder dass die Hauptfigur Wuttke nur ein „Redner“ sei u.v.m. Alles, was sie erwähnen, stimmt. Die DDR wird ziemlich unrealistisch und unerfahren dargestellt. Wuttke ist ein halbgeisteskranker Mensch, der sich den Spitznamen „Fonty“ verdient. Die Qualität entspricht offensichtlich dem Lärm, den der Verlag, das Fernsehen und andere Medien vor und während der Veröffentlichung vorbereiteten. Andrea Köhler und Wolfgang Ignée sprechen trotzdem über Günter Grass mit Respekt. Die Meinungen von Grass hätten uns nicht überraschen sollen. Er äußerte sich zu der Wiedervereinigung schon am Anfang der 90er Jahre. Wolfgang Ignée versteht unter anderem auch nicht die anderen Kritiker, die mit

59 dem Buch schon vor der Veröffentlichung nicht zufrieden sind. Ein schwacher Moment sei zwar, wenn Grass den ehemaligen Helmut Kohl Lügner nennt. Ansonsten sieht er in Ein weites Feld Konkurrenz für Blechtrommel und Hundejahre.

60

ZUSAMMENFASSUNG Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki hatten jahrelang ein problematisches Verhältnis. Auf den ersten Blick wirkte Grass auf ihn uninteressant und langweilig ein. Von Blechtrommel und von ihm selber wollte er nichts hören und hielt den Roman (und sogar auch den Schriftsteller) für gescheitert. Blechtrommel machte Grass trotz der negativen Rezension schließlich berühmt. In den 90er Jahren wurde ihm der Literaturnobelpreis dafür verliehen. Beide waren aber ständig im Kontakt. Sie hatten trotzdem ein respektvolles Verhälnis, das durch die jahrelang dauernde Korrespondenz bestätigt wurde. Je mehr aber Reich-Ranicki Günter Grass kritisierte, desto mehr kompliziert war diese Bekannschaft. Nach der Rezension des Romans Ein weites Feld spricht Grass mit dem Literaturkritiker nicht mehr. Seitdem findet die Kommunikation zwischen beiden nur über die Medien statt. Obwohl Marcel Reich-Ranicki die letzten Werke sehr lobenswert beurteilte, zeigt sich Grass unversöhnlich. Er reagierte auf keine Kritik in den letzten zehn Jahren. Marcel Reich-Ranicki schrieb viele Kritiken über Grass` Werken und ihn selbst in den letzten fünfzig Jahren auf. Er lobte ihn, aber viel mehr deutete er auf die Mängel und Schwachstellen der Bücher. Immerhin ist und bleibt Grass für Reich-Ranicki Deutschlands erster und repräsentativer Schriftsteller. Als der Nobelpreis ihm verliehen wurde, freute sich darüber auch der strengste Literaturkritiker Deutschlands. Er hält Grass für den bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Für Reich-Ranicki sind aber immer die Nachteile wichtiger, die die Schriftsteller zu den besseren Werken führen können. Nach der Vollendung der Danziger Trilogie wurde Grass befragt, was für literarische Pläne er jetzt hat. Günter Grass kam schnell mit der Antwort, man solle sich keine Sorgen machen, er habe Material genug. Reicht ihm Danzig als literarischer Stoff für sein ganzes Leben aus? Offensichtlich schon. Reich-Ranicki schließt daraus wieder seine eigene Meinung: Grass habe kein Thema. Die jetzige Welt und Zeit bietet viele Themen zum Schreiben, was auch Grass behauptet. Darauf kommt es leider nicht in seinen Werken an. Er nennt aber mehrere Mängel seiner Werke. Fast in jeder Rezension bespricht Reich-Ranicki die sprachliche Kraft von Grass, die er nicht beherrschen kann und für das Ganze nur Verhängnis ist. Die erotischen Szenen findet er auch nicht gut gelungen – sie seien schon

61 geeignet für Grass` Bücher aber allzu zugespitzt. Die anderen Literaturkritiker haben Grass auch viele Vorwürfe gemacht. Keiner von ihnen war so strenger „Lehrer“ wie der Literaturpapst. Marcel Reich-Ranicki schätzt und bewundert Günter Grass. Er schätzt besonders den Zeichner, den Graphiker und den Bildhauer Grass. Was er seit fünfzig Jahren schreibt, gefällt ihm fast immer. Auch Grass-Lyriker ist nicht schlecht. Natürlich könnte Reich-Ranicki alle Werke loben. Er will jedoch nicht. Er ist kein Alleslober und sein Beruf ist nicht, mit den Schriftstellern befreundet zu werden. Er will nicht glänzen. Er lebt in Büchern – besser gesagt aus Büchern. Marcel Reich-Ranicki ist wie ein Zauberer, der die Literaturkritik in den Zeiten von Bücherkrise und Lesemüdigket interessanter gemacht hat. Dank ihm kam die Literatur ins Alltagsleben der Menschen. Das ist sein Lebenswerk, sein Verdienst.

62

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999.

Reich-Ranicki, Marcel: Unser Grass. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.

Sekundärliteratur

Grass, Günter: örtlich betäubt. Steidl Verlag, Göttingen 1997.

Grass, Günter: Hundejahre. Steidl Verlag, Göttingen 1997.

Michel, Sascha (Hrsg.) : Texte zur Theorie der Literaturkritik. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2008.

Reich-Ranicki, Marcel: Die Anwälte der Literatur. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1994.

Reich-Ranicki, Marcel: Lauter Verrisse. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1984.

Schirrmacher, Frank: Marcel Reich-Ranicki – sein Leben in Bildern. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000.

Jens, Walter: Literatur und Kritik. Aus Anlaß des 60. Geburtstages von Marcel Reich-Ranicki. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1980.

Jessen, Jens: Über Marcel Reich-Ranicki. Aufsätze und Kommentare. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1994.

Neuhaus, Volker; Hermes, Daniela (Hrsg.): Die „Danziger Trilogie“ von Günter Grass. Texte, Daten, Bilder. Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt am Main 1991.

Negt, Oskar (Hrsg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Steidl Verlag, Göttingen 1996.

Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Verlag edition text + kritik, München 1978.

Jurgensen, Manfred (Hrsg.): Grass. Kritik – Thesen – Analysen. A. Francke AG Verlag, Bern 1973.

63

Loschütz, Gert: Von Buch zu Buch - Günter Grass in der Kritik. Eine Dokumentation. Hermann Luchtehand Verlag, Neuwied, Berlin 1968.

Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.) : Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Verlag edition text + kritik, München 1988.

Demski, Eva; Korn, Salomon; Baumgart, Reinhard: Literatur im Foyer: Marcel Reich-Ranicki – Der Kritiker als Erzähler. Dokumentarfilm 1999.

Internetquellen http://www.hdg.de/lemo/html/biografien/GrassGuenter/index.html [2010-02-13] http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Grass [2010-02-13] http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Blechtrommel [2010-02-13] http://de.wikipedia.org/wiki/Katz_und_Maus [2010-02-13] http://de.wikipedia.org/wiki/Hundejahre [2010-02-13] http://www.lerntippsammlung.de/Die-Blechtrommel.html [2010-03-01] http://www.literaturkritik.de/ [2010-03-01] http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Literarische_Quartett [2010-03-15] http://de.wikipedia.org/wiki/Katz_und_Maus_%28Film%29 [2010-02-13] http://www.tierhorror.de/tierhorror/film458-Die-Raettin.csp [2010-02-13] http://www.cinema.de/kino/filmarchiv/film/die- raettin,1308441,ApplicationMovie.html [2010-02-13] http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Blechtrommel_%28Film%29 [2010-02-13]

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: http://www.tendenzen.de/interviews/img/reich-ranicki.jpg [2010-06-04]

Abbildung 2: Schirrmacher, Frank: Marcel Reich-Ranicki – sein Leben in Bildern. Deutsche Verlags-Anstalt 2000, S. 21.

Abbildung 2: http://www.monstersandcritics.de/downloads/downloads/articles3/129235/article_ images/image4_1236977332.jpg [2010-06-04]

Abbildung 3: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/ilo/b/b8/GunterGrass.JPG [2010-02-13]

Abbildung 4: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,grossbild-215180- 217611,00.html [2010-04-04]

64

65

66