Zum Lebenswerk des Sozialwissenschaftlers, Politikers und Pädagogen Professor Dr. Dr. h.c. Gerhard Weisser (1898-1989)*

Werner Wilhelm Engelhardt

I. Lehr- und Prüfungstätigkeit an der Universität zu Köln

Gerhard Weisser war nach Annahme seines Rufs an die Universität zu Köln im Jahre 1950 für gut anderthalb Jahrzehnte fast eine Institution dieser Hoch- schule. Als Lehrstuhlinhaber und zeitweiliger Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät repräsentierte er wie Theodor Wessels, Günter Schmölders, Erich Gutenberg, René König – um nur diese Namen von Kollegen zu nennen – wichtige Impulse des Aufbruchs nach der NS-Periode und den schwierigen ersten Nachkriegsjahren. Übrigens ähnlich einem seiner sozial- und kommunalpolitischen Vorgänger aus der Weimarer Republik, dem Honorarprofessor und nicht zuletzt wegen des im „Dritten Reich“ erlit- tenen Unrechts mit der Ehrendoktorwürde der Wiso-Fakultät der Universität

* Ergänzte, in Einzelheiten korrigierte und mit Fußnoten versehene Fassung eines Fest- vortrags, der aus Anlaß der 100. Wiederkehr des Geburtstages von Gerhard Weisser an der Universität zu Köln gehalten wurde. Der Wortlaut des Referats und der vorausge- gangenen Würdigungen Weissers durch den Rektor der Universität, den Staatssekretär des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung NRW und den Dekan der Wiso- Fakultät wurden durch die Fakultät in einer Broschüre unter dem Titel "Akademische Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Professor Dr. Dr. h.c. Gerhard Weisser in der U- niversität zu Köln am 9.2.1998", Kölner Universitätsreden, Heft 78, 1998, veröffentlicht. Eine andere Fassung des Vortrags ohne Fußnoten erschien in der Zeitschrift "Soziale Si- cherheit", 47. Jg. (1998), Heft 4, S. 142 ff.

Engelha1.doc, 02.07.1998 7:55 16 Werner Wilhelm Engelhardt zu Köln ausgezeichneten Carl Hugo Lindemann1, auch in durchaus ähnlicher Gesinnung wie dieser arbeitend. Die von Weisser wahrzunehmenden und auch voll erfüllten Lehr- und Prüfungsaufgaben erstreckten sich in erster Linie – der Berufungsurkunde entsprechend – auf das verzweigte Gebiet der Sozial- bzw. Gesellschaftspoli- tik. Die Vorlesungsverzeichnisse der fünfziger und sechziger Jahre weisen dies ebenso aus wie seine bald nach Kriegsende beginnenden Arbeiten zum sozialen Wohnungsbau, zur Bodenreform, zum Lastenausgleich und auch zur Währungsreform. Freilich interessierten ihn, dem vormaligen Finanzstaats- sekretär und Ministerstellvertreter zunächst der Braunschweigischen Landes- regierung von 1945 und später von Nordrhein-Westfalen2, von Anfang an die interdisziplinären Grundlagen des Fachs und deren Verbindungen zur Fi- nanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mehr noch als Fragen der sozial- politischen und sozialrechtlichen Details, etwa der Sozialversicherungen. Diese wußte er bei den Kollegen Heyde und Schreiber oder später auch bei der eigenen Nachwuchskraft, dem bereits verstorbenen Kollegen Otto Blume, in guter Obhut. Ich erinnere mich – was Weissers Interessen an Grundlagenfragen be- trifft – an unser erstes Gespräch im Dezember 1950 nach meinem Weggang von der Universität Halle-Wittenberg über die damals noch unbefestigte in- nerdeutsche Grenze. Ich sprach Professor Weisser im Anschluß an seine Vor- lesung im WS 1950/1951 zum Thema „Erkenntniskritik der Sozialwissen- schaften, insbesondere der Politischen Wissenschaften“ an. So hieß das mich nach spezifischen Hallenser Erfahrungen faszinierende Thema. Es stand am Anfang meiner jahrzehntelangen Zuarbeit, unserer freilich nicht immer unge- trübten engen Zusammenarbeit. Mit der Kölner Sozialpolitikprofessur war ein Lehrauftrag für Genossen- schaftswesen und damit nach den Diplomordnungen der Fakultät auch ein entsprechender Prüfungsauftrag verbunden, wie es ja noch heute bei den Kol- legen Zerche, Rösner und Schulz-Nieswandt der Fall ist. Professor Weisser hat dazu das in der NS Zeit stillgelegte Seminar für Genossenschaftswesen ab Frühjahr 1951 reaktiviert. Er widmete sich daher im Vorlesungs- und Semi- narbetrieb an zweiter Stelle, aber keineswegs minder interessiert Fragen des

1 Vgl. Werner Wilhelm Engelhardt, Professor Dr. Dr. h.c. Hugo Lindemann, ein Kom- munal- und Sozialpolitikwissenschaftler der ersten Stunde, in: Z. f. Sozialreform, 34. Jg. (1988), S. 253 ff. 2 Zur Biographie Weissers siehe außer Kürschners deutschen Gelehrten-Kalender, 1o. Aufl. 1966, S. 2653 f., den Überblick bei Guntram Philipp, Weisser, Gerhard, Politiker, Wissenschaftler, Pädagoge, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Ost- deutsche Gedenktage 1998, 1997, S. 73 ff.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 17 gesamten Genossenschaftswesens. Die vielfältigen Organisationen der von Kartellen unterschiedenen Selbsthilfewirtschaft wurden dabei voll einbezo- gen. Zweifellos kam ihm dabei zugute, daß er auch auf diesem Gebiet aus rei- chen praktischen Erfahrungen schöpfen konnte. Er war ja während seiner Tä- tigkeit als Leiter des Wohnungsamts der Stadt nach 1923, als Verbandsdirektor des Verbandes mitteldeutscher Wohnungsunternehmen von 1924-1930 und als Zweiter Bürgermeister von in den Jahren 1930- 1933 zum Mitbegründer sowohl von Wohnungs- als auch von Konsumgenos- senschaften sowie von Kommunalbetrieben geworden. Von 1946-1956 fun- gierte Weisser als Präsident des Verwaltungsbeirats des Gesamtverbandes gemeinnütziger Wohnungsunternehmen in Köln3. Als früherer Angehöriger der Jugendbewegung standen ihm auch Erfahrungen mit produktivgenossen- schaftsähnlichen Gemeinschaftssiedlungen vor Augen. Auch war ihm als ausgewiesenem Finanz-und Verwaltungsfachmann natürlich stets die enge Verbindung assoziativ-korporativistischer Verhaltensweisen mit den staats- entlastenden Funktionen von Parafisci bewußt, die beide in einem mehr oder weniger frei-gemeinnützigen Geiste arbeiten. Das dritte Lehrgebiet, auf dem Professor Weisser in Köln – diesmal frei- lich ohne Prüfungsverpflichtungen – von Anfang an recht intensiv gearbeitet hat, betraf die Wohnungswirtschaft. Seine Aktivitäten ergaben sich in diesem Falle – gestützt auf seine Erfahrungen gerade auf diesem Gebiet – daraus, daß er an unserer Hochschule eben nicht nur Direktor der Seminare für Sozialpo- litik und Genossenschaftswesen sowie Mitdirektor des Forschungsinstituts für Sozial- und Verwaltungswissenschaften neben Leopold von Wiese, Hans Carl Nipperdey und Hans Peters geworden war, sondern ab WS 1951/52 gleichzeitig auch Mitdirektor des Instituts für Wohnungsrecht und Woh- nungswirtschaft an der Universität zu Köln, dies neben Hans Carl Nipperdey und dem damaligen Landgerichtsrat und späteren Kölner Oberstadtdirektor Heinz Mohnen. In diesem Bereich wurde er nicht nur durch seinen engen ersten Mitarbei- ter Ulrich Pagenstecher sowie später durch Heiner Flohr und Bertel Faßnacht, sondern zeitweise auch durch Lehrbeauftragte aus dem Gemeinnützigen Wohnungswesen unterstützt. Ich nenne in diesem Zusammenhang für die An- fangszeit die Justitiarin des Gesamtverbands gemeinnütziger Wohnungsun-

3 Zu einigen Details der genossenschaftlichen und wohnungswirtschaftlichen Aktivitäten Weissers vgl. Alice Riebandt-Korfmacher, Die genossenschaftlichen Ideen prägten sein politisches Denken, in: Die Wohnungswirtschaft, 51. Jg. (1998), S. 6 f.

18 Werner Wilhelm Engelhardt ternehmen, Rechtsanwalt Alice Riebandt-Korfmacher, und später die Ver- bandsdirektoren Julius Brecht und August Flender.

II. Überblick über Forschungsaktivitäten seit den zwanziger Jahren

Unter den Forschungsaktivitäten Professor Weissers, denen ich mich nun zu- wenden möchte, sind die auf die Wohnungswirtschaft bezogenen die ältesten, jedenfalls wenn primär auf die veröffentlichten Arbeiten abgestellt wird. Die Publikationen gehen nämlich bis auf das Jahr 1927 zurück. Sie kulminieren von 1938 bis in die sechziger Jahre in zahlreichen Monographien und vielen Handwörterbuch-Artikeln über Unternehmensformen, Wirtschaftsssysteme, Ordnungs- und Verfassungsprobleme sowie Stilfragen der Wohnungswirt- schaft4. Zu den bemerkenswertesten Publikationen auf diesem Gebiet dürften die kleinen Schriften „Stilwandlungen der Wohnungsgenossenschaften“ von 1953 und „Gemeinnützigkeit heute“ von 1964 gehören. In der zuerstgenann- ten Broschüre geht es zunächst um Größenwachstum und Konzentrations- probleme dieser Kooperativen. Weisser behandelt aber auch die Frage, was geschehen sollte, wenn ein Zusammenschluß im Sinne einer Genossenschaft ihr „kulturelles Größenoptimum“ überschreitet und die Fähigkeit verliert, in den Gemeinden zur Bildung von Gemeinschaft beizutragen5. Noch vor den ersten wohnungswirtschaftlichen Artikeln entstand freilich die bei Robert Wilbrandt in Tübingen vorgelegte Dissertation über das The- ma „Wirtschaftspolitik als Wissenschaft“. Dazu muß man zum wissenschaft- lichen Werdegang des Autors beachten, daß der junge Gerhard Weisser be-

4 Vgl. zuerst Gerhard Weisser zusammen mit Conrad Rühl, Das Wohnungswesen der Stadt Magdeburg, Magdeburg 1927; Ders., Unternehmungsformen, Wirtschaftssysteme, Wirtschaftsformen in der Wohnungswirtschaft, in: Alfred Enskat et al. (Hrsg.), Wörter- buch der Wohnungs- und Siedlungswirtschaft, Berlin 1938, S. 1093 ff., 1197 u. 1201 f.; Ders., Wirtschaftsverfassungspolitik am Beispiel der Wohnungswirtschaft erörtert, in: Finanzarchiv NF, Bd. 7 (1939), S. 100 ff. Nach dem Kriege erschien zunächst die Bro- schüre von Ders., Gemeinnützige Wohnungswirtschaft, Berlin/Buxtehude 1948. 5 Siehe dazu zuletzt Werner Wilhelm Engelhardt, Gerhard Weisser als Genossen- schaftswissenschaftler. Anmerkungen zu seinem Werk, in: ZfgG, Bd. 48 (1998), H. 1, S. 56 ff. Grundsätzliche Würdigungen des kooperationswissenschaftlichen Wirkens er- schienenen in: Ders., Sind Genossenschaften gemeinwirtschaftliche Unternehmen? Köln/Frankfurt 1978; Ders., Allgemeine Ideengeschichte des Genossenschaftswesens, Darmstadt 1985.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 19 reits 1919 und in den folgenden Jahren ein Studium der Philosophie an der Universität Göttingen, insbesondere aber bei , begonnen und durchgeführt hatte. Er war dann später an die Universität Tübingen zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften übergewechselt. Die dort bereits 1923 eingereichte Dissertation wurde von Robert Wilbrandt „mit Auszeichnung“ bewertet. Die Arbeit wurde unter dem genannten Titel in umgearbeiteter und zugleich gekürzter Form 1934 in Stuttgart bei Kohlhammer veröffentlicht. Das Buch zeigt erstmals – vom detaillierten wirtschaftspolitischen Gehalt der Aussagen einmal abgesehen – das starke Interesse des Autors an erkennt- niskritischen und wissenschaftstheoretischen Fragen explikativer sowie be- sonders normativer Art. Weisser nahm ganz offensichtlich das von nicht we- nigen Forschern der Zeit bei Eliminierung von normativen Wertaussagen aus der Wissenschaft als grundsätzlich gelöst betrachtete Werturteilsproblem wieder auf. Die Frage nach der Zulässigkeit solcher Urteile innerhalb des Wissenschaftsbereichs beantwortete er im Anschluß an den Kantianer von einem konstruktivistisch-bekenntnishaften, aber undog- matisch gemeinten Ansatz der Gewinnung sog. „unmittelbarer Erkenntnis“ her grundsätzlich anders als der von ihm an sich hoch geschätzte Max Weber. Indem er „wissenschaftliche normative Wirtschaftspolitik“ in nichtevidenten synthetischen Urteilen a priori für möglich hielt6, urteilte er aber auch verän- dert gegenüber den trotz oft anderen Wollens sehr häufig zu impliziten Wert- urteilen neigenden Gelehrten der beiden Historischen Schulen und deren Nachfolgern. Nach seiner Berufung nach Köln vertiefte und erweiterte Weisser diesen - wie Hans Albert ihn genannt hat – „antiplatonischen“ neo-normativen An- satz7. Siegfried Katterles und meiner Ansicht nach beinhaltete der approach zugleich aber immer auch einen antiaristotelischen Normativismus. Dies des- halb, da Weisser bis in seine letzten Lebensjahre8 hinein stets auch begriffs- realistische sowie realtypologische Wesensaussagen zu vermeiden suchte und zwar in Richtung einer politologisch nunmehr konsequent ausgebauten kanti-

6 Vgl. besonders das 8. Kapitel von "Wirtschaftspolitik als Wissenschaft" zum Thema "Die Grundnorm nur als Inhalt nichtevidenter, jedoch erschließbarer Werterkenntnis a priori möglich", a.a.O., S. 142 ff. 7 Siehe dazu Hans Albert, Wissenschaft und Politik. Zum Problem der Anwendbarkeit einer wertfreien Sozialwissenschaft, in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Probleme der Wissen- schaftstheorie. Festschr. f. Victor Kraft, Wien 1960, S. 211 ff.; Ders., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied/Berlin 1967, S. 188 ff. 8 Vgl. dazu etwa die späte Abhandlung Gerhard Weissers, Logische Vorfragen von The- orie und Politik der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, in: Annalen d. Gemein- wirtsch., Sonderdruck 1976, besond. S. 75 ff.

20 Werner Wilhelm Engelhardt anischen „Politik als System aus normativen Urteilen“. In seiner Kölner An- trittsvorlesung von 1951, die diesen Titel trägt und deren Grundgedanken Weisser vermutlich bereits in den Jahren 1946-1948 als Generalsekretär des Zonenbeirats der Britischen Zone geleitet haben9, heißt es dazu, daß die Er- richtung eines solchen Systems auf der Grundlage zwar apodiktischer, aber nur „bekenntnismäßig“ eingeführter oberster Prämissen logisch zulässig und bei dem heutigen Stand der Forschung auf dem Gebiete der „praktischen Phi- losophie“ auch angebracht sei. Antiplatonisch war dieser neo-normative Ansatz Gerhard Weissers zwei- fellos teilweise auch seinem Lehrer gegenüber, da Nelson die Idee Platons von der Herrschaft der Weisen übernommen und in seiner elitären Führer- schaftskonzeption nachdrücklich ausgebaut hatte. Diese Kritik Weissers an Nelson wurde allerdings in der Literatur später nur teilweise zur Kenntnis ge- nommen. Wohl wurden bekanntlich früh die berechtigten erkenntniskriti- schen Einwände von Alf Ross gegenüber den naturrechtlichen Elementen der Interessen- und Güterposition Nelsons und dessen Schule beachtet10. Hinge- gen wurde die zumindest im Anschluß an die Kölner Antrittsvorlesung wie- derholte Distanzierung Weissers von den Führerschaftsaspekten seines Leh- rers kaum hinreichend beachtet. Auch sah sich Weisser in der beiläufigen Kennzeichnung seines Ansatzes als „idealistisch-subjektivistisch“ – statt kri- tizistisch – bei Werner Link (im Anschluß an Werner Abendroth)11 – miß- verstanden. Ungeachtet hauptsächlicher Anknüpfung Weissers (1.) an den undogma- tisch argumentierenden Philosophen Jakob Friedrich Fries sowie (2.) und letztlich an die an Menschenrechten und -pflichten gleichermaßen orientierte kritizistische Gemeinwohlkonzeption Immanuel Kants – hingegen eben zu- mindest weniger an Leonard Nelsons eher autokratisch-elitären Philosophe- men – führte dieser Ansatz zu Widersprüchen und Kritik auch bei den eige-

9 Gerhard Weisser, Politik als System aus normativen Urteilen, Göttingen 1951, S. 23 ff. Zu Weissers frühen praktisch-politischen Positionen nach dem zweiten Weltkriege vgl. z.B. Ders., Reich und Länder. Vom Neubau des deutschen Staates, Göttingen 1946, 2. Aufl. 1947; Ders., Der Zonenbeirat zur Verfassungspolitik, Dokumentation 1948; Ders., Leitsätze zur Ordnung der Wirtschaft nach der Währungssanierung, in: Finanzarchiv NF, Bd. 11 (1949), S. 429 ff. 10 Siehe Alf Ross, Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis. Zugleich Prolegome- na zu einer Kritik der Rechtswissenschaft, Kopenhagen/Leipzig 1933, S. 347 ff. 11 Vgl. Werner Link, Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Marburger Inaugu- ral-Diss. 1961, S. 335.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 21 nen Mitarbeitern des Lehrstuhls. Hier war es insbesondere Hans Albert, der gegenüber einer axiomatisch ausformulierten Grundwertelehre eine entschie- dene Gegenposition entwickelte. Albert interpretierte Weissers Position of- fenbar zumindest zeitweise als eine fast schon „quasitheologische methodo- logische Konzeption“ oder auch als eine die „Immunisierung wesentlicher Bestandteile“ seiner normativen Systeme bewirkende oder doch fördernde er- neuerte Metaphysik. Trotz prinzipieller Anerkennung von Weissers Bemühung um eine ratio- nale Praxis und anwendbare politische und ökonomische Erkenntnis wurde diese kritische Position von Albert auch auf einer denkwürdigen internationa- len Tagung des Vereins für Socialpolitik im Jahre 1962 in Bad Homburg vor- getragen und diskutiert. Die Veranstaltung stand unter dem Thema „Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung“ und kon- frontierte in ihrem ersten Teil die beiderseitigen Standpunkte in Grundsatzre- feraten12. Den Weisserschen Argumentationslinien in diesen Fragen viel nä- here, wenn auch nicht in jeder Teilfrage zustimmende Standpunkte – auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehen kann – vertraten in den Grundsatz- Diskussionen und Publikationen damals und auch späterhin die Mitarbeiter Theo Thiemeyer, Heiner Flohr, Klaus Lompe, Lothar F. Neumann, Siegfried Katterle und Horst Büscher.

III. Betriebswirtschaftliche Forschungsbeiträge, ausgehend von der „Morphologie der Einzelwirtschaften“

Kehren wir nun für einen Augenblick zu den wohnungswirtschaftlichen An- fangsarbeiten Weissers zurück. Aus ihnen erwuchsen im Laufe der 30er Jahre und im Zuge einer außer durch Martin Lohmann nicht zuletzt von ihm selbst begründeten Lehre, genannt „Morphologie der Einzelwirtschaften“, wesentli- che neue Erkenntnisse der betriebswirtschaftlichen Stil- und Kulturforschung. Dies hat 1955 auf einer Tagung mit internationaler Besetzung trotz seines abweichenden Ansatzes auch Erich Gutenberg anerkannt13. Andere Autoren,

12 Vgl. Gerhard Weisser, Das Problem der systematischen Verknüpfung von Normen und Aussagen der positiven Ökonomik in grundsätzlicher Betrachtung, in: Erwin von Beckerath et al. (Hrsg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspoliti- schen Beratung, Berlin 1963, S. 16 ff.; Hans Albert, Wertfreiheit als methodisches Prin- zip, ebd., S. 32 ff. u. hier besond. S. 58 ff. 13 Siehe Erich Gutenberg, Die Stellung der Unternehmensmorphologie in der Betriebs- wirtschaftslehre, in: Gerhard Weisser (Hrsg.), Die Morphologie der einzelwirtschaftli-

22 Werner Wilhelm Engelhardt wie Bruno Tietz, Karl Oettle, Helmut Cox sowie frühzeitig in der Volkswirt- schaftslehre der Methodenforscher und Finanzwissenschaftler Heinz Haller14, haben die Weissersche Leistung in der Morphologie ebenfalls positiv gewür- digt. Auch mit dem Finanzwissenschaftler Hans Ritschl gab es auf diesem Gebiet Übereinstimmungen. Diese Erkenntnisse Weissers haben übrigens auch die moderne typologi- sche, teilweise von der Relationslogik gespeiste Grundlagenforschung und Methodologie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften befruchtet15. Ich habe mich auf diesem Gebiet in meiner Kölner Dissertation „Grundprobleme der Einzelwirtschaftstypologie“ von 1957 und auch danach um einige Wei- terentwicklungen bemüht16. Die spezifischen Aussagen Weissers waren zu- nächst enthalten in der von dem Nationalökonomen Wilhelm Kromphardt, dem Juristen Heinrich Mitteis und dem Betriebswirt Hans Münstermann be- gutachteten Rostocker Habilitationsschrift des Autors von 1943, betitelt „Die organisatorischen Formen der einzelwirtschaftlichen Gebilde“. Die Arbeit wurde unter dem Titel „Form und Wesen der Einzelwirtschaften. Theorie und Politik ihrer Stile“, 1. Bd., 1. Kap., „Die organisatorischen Formen der Ein- zelwirtschaften“, zuerst 1947 veröffentlicht (2. Aufl., Göttingen 1949). Auch finden sie sich im 2. und 3. Bd. dieses Werkes, die etwa zur gleichen Zeit fer- tiggestellt wurden, aber im Unterschied zum 1. Bd. unveröffentlicht geblie- ben sind. Eine wesentliche Erweiterung der sehr zahlreichen morphologischen Un- tersuchungen Weissers einerseits in Richtung der einzelwirtschaftlich be- fruchteten Wirtschaftspolitik und andererseits der institutionell orientierten Volkswirtschaftslehre findet sich in seinem grundlegenden und umfassenden,

chen Gebilde und ihre Bedeutung für die Einzelwirtschaftspolitik. Bericht über die Köl- ner Tagung 1955, Göttingen 1957, S. 21 ff. u. besond. S. 25 f. 14 Vgl. Heinz Haller, Typus und Gesetz in der Nationalökonomie, Stuttgart/Köln 1950, S. 82 ff. 15 Von den zahlreichen Abhandlungen siehe vor allem Gerhard Weisser, Morphologie der Betriebe, in: HdB, 3. Aufl., Bd.III, 1960, Sp. 4036 ff.; Ders., Wirtschaftstypen, in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 269 ff.; Ders., Die Unternehmensmorphologie – nur Randge- biet? In: Archf.ö.u.fr.U., Bd. 8, 1966/67, S. 1 ff. 16 In allgemeiner oder speziell genossenschaftswissenschaftlicher Perspektive vgl. vor allem Werner Wilhelm Engelhardt, Über die Bedeutung morphologisch-typologischer Theorieansätze für die Betriebswirtschaftslehre, in: Horst-Thilo Beyer et al. (Hrsg.), Neuere Entwicklungen in Betriebswirtschaftslehre und Praxis, Frankfurt 1988, S. 27 ff.; Ders., Zur Relevanz morphologisch-typologischer Theorieaspekte für die Genossen- schaftslehre, in: Jürgen Zerche et al. (Hrsg.), Genossenschaften und genossenschaftswis- senschaftliche Forschung, Regensburg 1989, S. 35 ff.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 23 auch methodologisch weiterführenden Artikel „Wirtschaft“ von 1955 im Handbuch der Soziologie, das von Werner Ziegenfuß herausgegeben wurde. Der Beitrag wurde 1989 als gesonderte Schrift mit einer Einführung von Theo Thiemeyer vom Verlag Otto Schwartz & Co. in Göttingen neu aufge- legt. Professor Weisser ging es in diesen Arbeiten in weitgehender Überein- stimmung besonders mit den Wirtschaftstheoretikern Erich Preiser und Hans Peter –seinen Freunden seit frühen Jahren –, aber auch schon in Anknüpfung an die klassische Theorie der Gemeinwirtschaft von Albert Schäffle und A- dolph Wagner, um eine Erweiterung der wissenschaftlich orientierten Wirt- schaftspolitik durch eine speziell einzelwirtschaftliche Variante17. Neben den üblichen Formen des Wettbewerbs und der Wettbewerbsverstärkung – wie Preis-, Qualitäts- und Konditionen-Wettbewerb – sollten seiner begründeten Ansicht nach auch Formen des „Wettbewerbs unterschiedlicher Typen von Unternehmen“ gefördert werden. Gemeint war damit Konkurrenz zwischen privaten, kooperativen und öffentlichen Unternehmensstrukturen. Dies alles aber immer im Rahmen und bei grundsätzlicher Anerkennung der Marktwirt- schaft. Für den Autor betraf nämlich das „Für oder gegen Marktwirtschaft“ eine – wie er sich im Titel einer kleinen Schrift ausgedrückt hat – grundsätz- lich „falsch gestellte Frage“18. In einer wichtigen Abhandlung über die Stellung der Sparkassen im Wett- bewerb aus dem Jahre 1964 heißt es dazu: „Die Typen der Marktwirtschaft unterscheiden sich vor allem auch durch den Grad der Freiheitlichkeit der Wirtschaftsgesellschaft. Es gibt Typen der Marktwirtschaft, in denen durch bestimmte Marktteilnehmer in so großem Maße unkontrollierte Macht ausge- übt wird, daß die Gesellschaft im ganzen nicht als freiheitlich anerkannt wer- den kann. Die relativ größten Chancen der Freiheitlichkeit unter den denkba- ren Typen der Ordnung, die den angegebenen Beziehungen auferlegt wird, hätte eine Marktwirtschaft, die folgende drei Bedingungen erfüllte: (1.) Es

17 Außer der erwähnten Einführung in die Neuauflage des Artikels Wirtschaft siehe dazu von Theo Thiemeyer, Wirtschaftspolitik als Wissenschaft. Gerhard Weissers System der Politik aus normativen Grundentscheidungen, in: Sozialer Fortschritt, 37. Jg., 1988, S. 73 ff. Vgl. auch Werner Wilhelm Engelhardt, Die Genossenschaften im Wettbewerb der Unternehmenstypen, in: Jürgen Zerche (Hrsg.), Aspekte genossenschaftlicher Forschung und Praxis, Düsseldorf 1981, S. 45 ff. 18 Siehe Gerhard Weisser, Für oder gegen Marktwirtschaft – eine falsche Frage, Köln 1953, 2. Aufl. 1954. Vgl. auch Ders., Privatisierung und Genossenschaftsreform, zu- gleich ein Beitrag zur Axiomatisierung der Einzelwirtschaftspolitik, in: Arch.f.ö.u.fr.U., Bd. 1, 1954/1955, S. 289 ff. u. Bd. 2, 1955/56, S. 54 ff. (und weitere Abhandlungen des Autors).

24 Werner Wilhelm Engelhardt bestünde vollständige Konkurrenz; (2.) das personengebundene Vermögen wäre so verteilt, daß nicht wie in der heutigen Wirtschaft große soziale Grup- pen unter Startnachteilen bei der Verwertung ihrer Arbeitskraft litten, und (3.) die Wirtschaft setzte sich aus Unternehmen einer Vielzahl verschiedener Ty- pen zusammen“19. Es leuchtet sicherlich ohne weiteres ein, daß die morphologisch- typologischen Forschungsaspekte – die der Autor jeweils auch in zahlreichen Einzelbeiträgen ausgemünzt hat20 – für die Ausbildung einer besonderen Ge- nossenschaftswissenschaft nach dem Kriege Bedeutung erlangt haben. Eine solche Spezialdisziplin ist bekanntlich gegenwärtig an zahlreichen deutschen und auch ausländischen Universitäten vertreten. Sozusagen das Kölner Mar- kenzeichen war dabei stets und ist z.T. noch immer die Weissersche These, daß die industriezeitlichen Genossenschaften vor Entartungsvorgängen – die natürlich niemals gänzlich auszuschließen sind – grundsätzlich zunächst ein- mal als „freidienende“, d.h. (frei-) gemeinnützige bzw. (frei-)gemeinwirt- schaftliche Unternehmen aufzufassen seien21. Damit sollte aber primär nicht eine verwaltungs- oder gar zentralverwal- tungswirtschaftliche Bindung dieser Unternehmen zum Ausdruck gebracht werden, wie nicht selten vermutet wurde. Vielmehr ging es in erster Linie um dies: Die Unternehmen bzw. einzelwirtschaftlichen Organisationen nehmen dem Staat zum Wohle der Allgemeinheit und natürlich zugleich zum Wohle der einzelnen Mitglieder wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Aufgaben ab, zu deren Erfüllung sonst er, d.h. der Staat, verpflichtet sein

19 Gerhard Weisser, Gemeinnützigkeit und Paritätspostulat. Ein Beitrag in Thesenform zur gegenwärtigen Diskussion über die Stellung der Sparkassen im Wettbewerb, in: Sparkasse, 81. Jg. (1964), S. 343 ff. u. hier S. 345. 20 Eine Anzahl solcher genossenschaftswissenschaftlichen Einzelbeiträge – so über Sin- nelemente der Kooperativen, ihre Größe, Konzentration, Steuerfragen, Entwicklungs- länderprobleme usw. – wurden später in einem Sammelband vereinigt; vgl. Gerhard Weisser, Genossenschaften, Hannover 1968. Andere morphologisch-typologische Ein- zelbeiträge – z.B. über Quantifizierbares und Nichtquantifizierbares, politische und wirt- schaftliche Macht – finden sich in dem von Siegfried Katterle et al. herausgegebenen Sammelband von Gerhard Weisser, Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Göttingen 1978 (auf den ich mich nachfolgend wiederholt als Hauptquelle beziehe). 21 Entwickelt wurde die These zuerst in Gerhard Weisser, Form und Wesen der Einzel- wirtschaften, 1.Bd., a.a.O., S. 77 ff. Von den späteren Arbeiten vgl. besond. Ders., Die Lehre von den gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, in: Arch.f.ö.u.fr.U., Bd. 1, 1954/55, S. 1ff. u. hier S. 14 ff.; Ders., Einzelwirtschaftspolitik. Die gemeinwirtschaftli- chen Unternehmen als Subjekte und Objekte der Politik, in: IFIG (Hrsg.), Ökonomische und sozialpolitische Themen zur Gemeinwirtschaft. Festschrift für Edgar Milhaud, Lüt- tich 1960.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 25 würde22. Verwaltungswirtschaftliche Bindungen, wie bei den gemeinnützigen Wohnungsunternehmen im Sinne des Wohnungsgemeinnützigkeits-Gesetzes von 1940 (und den verschiedenen späteren Durchführungs-Verordnungen), konnten freilich hinzukommen, und sie traten im Sinne von Bestandteilen ei- ner ausgebauten dritten bzw. mittleren Ordnung nicht selten hinzu. Die morphologischen Forschungsansätze Weissers führten auch für die Öffentliche Betriebswirtschaftslehre, einschließlich der Lehren von den kommunalen und den öffentlich gebundenen privaten Unternehmen, zu we- sentlichen neuen Erkenntnissen. Diese Spezialdisziplin genoß bekanntlich außerhalb Kölns, so an der Freien Universität Westberlins bei Gert von Ey- nern, oder in Mannheim bzw. München bei Karl Oettle23 und später bei Peter Eichhorn, beträchtliches Ansehen. Das Prestige der Öffentlichen Wirtschaft wurde sicherlich durch die Arbeiten Weissers verstärkt. Dies auch durch sei- ne Mitarbeit im Rahmen der Ausschüsse des wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft zur Förderung der öffentlichen Wirtschaft e.V., ebenfalls in Ber- lin, sowie des Internationalen Forschungs- und Informationszentrums für Gemeinwirtschaft (IFIG), d.h. dem Centre International de recherches et d`information sur l` économie publique sociale et coopérative (CIRIEC), mit Sitz in Liège. Beiden Nachkriegsorganisationen gehörte Gerhard Weisser von 24 Anfang an als aktives Mitglied an . Weisser begründete auch eine zunächst von ihm selbst, später nacheinan- der von Horst Heidermann, Theo Thiemeyer, Lothar F. Neumann und Heiner Henkel geleitete und geförderte besondere „Forschungsstätte für öffentliche

22 Zur Interpretation siehe zuletzt ausführlich Werner Wilhelm Engelhardt, Zur künftig möglichen Bedeutung des von Gerhard Weisser befürworteten frei-gemeinwirt- schaftlichen Gedankenguts bei genossenschaftsartigen Zusammenschlüssen (in dieser Schrift). 23 Als Beispiele auch für direkte enge Zusammenarbeit seien hier genannt Abhandlun- gen von Gert von Eynern (Westberlin), Das öffentlich gebundene Unternehmen, zuerst veröffentlicht im Arch.f.ö.u.fr.U., Bd. 4, 1958, S. 1 ff. und von Karl Oettle (Mannheim, später München), Die ökonomische Bedeutung der Rechtsform öffentlicher Betriebe, in: Arch.f.ö.u.fr.U., Bd. 8, 1966/67, S. 193 ff. 24 Zu den Aktivitäten der beiden Organisationen und der Mitwirkung Weissers siehe in der Anfangszeit z.B. Arch.f.ö.u.fr.U., Bd. 1, 1954/55, S. 82 f. u. 276 ff. Vgl. auch Gis- bert Rittig, Die Definitionen des Terminologie-Ausschusses der Gesellschaft zur Förde- rung der öffentlichen Wirtschaft, ebd., S. 214 ff. sowie die Erwiderung von Gerhard Weisser, Zu den Bemerkungen Gisbert Rittigs über die Definitionen des Terminologie- Ausschusses, ebd., S. 225 ff.. Siehe später ferner Ders., Der Staat, die gemeinwirtschaft- lichen Unternehmen und die Investitionen, in: Annalen d. Gemeinwirtsch., 27. Jg. (1958), S. 251 ff.; Ders., Gemeinwirtschaftlichkeit bei Einzelwirtschaften, Frank- furt/Köln 1974.

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Unternehmen“. Seine vielfältigen Forschungsimpulse auf diesem Gebiet hat der Autor zuletzt in seiner großen, hier bereits zitierten Abhandlung von 1976 „Logische Vorfragen von Theorie und Politik der gemeinwirtschaftlichen Un- ternehmen“ zusammengefaßt. Unser leider ebenfalls bereits verstorbener Kol- lege Thiemeyer hat gleichfalls vielfältig über Fragen der öffentlichen bzw. gemeinwirtschaftlichen Unternehmen gearbeitet. Er hat darüber hinaus auch in der Sozialpolitiklehre Erhebliches zu einer Weiterentwicklung der Weis- serschen Forschungsansätze beigetragen25.

IV. Sozialpolitische Untersuchungen, zentriert um den „Lebenslageansatz“

Die Sozialpolitikforschungen Weissers sind – wie bekannt sein dürfte – vor allem vom Lebenslageansatz ausgegangen. Dieser approach hat an sich viele Väter in der idealistischen, kritizistischen und materialistischen Philosophie, späterhin in der Soziologie und nicht zuletzt in der Nationalökonomie bzw. Politischen Ökonomie. In diesem Zusammenhang sind daneben auch die sta- tistische Praxis und die Sozialberichterstattung zu nennen26. In Köln gab es noch vor den mikroökonomischen, mikrosoziologischen und finanzwissen- schaftlichen Bemühungen der Frankfurter und Kölner Kollegen um Hans- Peter Krupp, Wolfgang Zapf, Jens Alber und Klaus Mackscheidt um Mes- sung der Lebensqualität mittels Sozialindikatoren erhebliche Anstrengungen Weissers und seiner Mitarbeiter Ulrich Pagenstecher und Rudolf Möller so- wie von Mitarbeitern Otto Blumes – wie Gerhard Naegele, Wilhelm Breuer u.a. – den Ansatz weiterzuentwickeln. Er wurde zwar einer tiefreichenden Kritik unterworfen, aber in Auseinandersetzung mit den üblichen Kategorien

25 Vgl. dazu vor allem Theo Thiemeyer, Grenzkostenpreise bei öffentlichen Unterneh- men, Köln/Opladen 1964; Ders., Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, Berlin 1970; Ders., Gemeinwirtschaft, in: HdWW, 3.Bd., 1981, S. 525 ff. (und viele weitere Abhandlungen). 26 Zur Analyse siehe etwa Gerhard Kleinhenz, Probleme wissenschaftlicher Beschäfti- gung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970, besond. S. 72 ff.; Thorhild Stelzig, Gerhard Weissers Konzept einer normativen Sozialwissenschaft, in: Christian von Ferber und Franz-Xaver Kaufmann (Hrsg.), Soziologie und Sozialpolitik, in: Kölner ZfSuS., Son- derh. 19/1977, S. 260 ff.; Horst Büscher, Axiomatische Grundlagen einer gesellschafts- politischen Konzeption nach Weisser, in: Sozialer Fortschr., 30. Jg. (1981), S. 109 ff. u. 132 ff.; Werner Wilhelm Engelhardt, Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozi- alpolitik, in: Theo Thiemeyer (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik II, Ber- lin 1991, S. 38 ff.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 27 des Nutzens und der Nutzenvergleichung zugleich verstärkt anwendbar zu machen versucht27. Die Bemühungen fanden einen nachweisbaren Nieder- schlag u.a. im „Bundessozialhilfegesetz“. Weisser selbst hat stets betont, daß er seine Lehre von der Sozialpolitik – später bevorzugte er den umfassenderen Begriff „Gesellschaftspolitik“ bzw. den Ausdruck „System der ´praktischen` Gesellschaftspolitik“ (vgl. z. B. Der Ministerpräsident des Landes NRW. Landesamt für Forschung (Hrsg.), Jahr- buch 1969) – vor allem in Anknüpfung an Aussagen des kritizistischen Wis- senschaftstheoretikers Kurt Grelling und des Soziologen Otto Neurath ge- schaffen habe28. Hingegen führte er selbst nicht die marxistischen Ansätze von Friedrich Engels Frühwerk und des späteren Karl Marx fort. Sie haben freilich bei Neurath eine erhebliche Rolle gespielt. Auch war er bestrebt, sich nicht direkt oder auch nur indirekt an die mehr oder weniger phänomenolo- gienahen Lehrsätze der Lebensphilosophie anzulehnen, d.h. an die seit Wil- helm Dilthey, Henry Bergson, Edmund Husserl und Alfred Schütz in den So- zialwissenschaften stark interessierenden „Strukturen der Lebenswelt“. Die leider ebenfalls bereits verstorbene Kollegin Ingeborg Nahnsen hat am Anfang der Kölner Zeit Weissers gleichfalls zu dessen engen Mitarbeitern gehört. Sie hat in ihren Arbeiten zu Recht die Orientierung der ja nicht nur quantitative, sondern stets auch qualitative Merkmale zentral einbeziehenden Lebenslage-Lehre an strukturellen Tatsachen der Ungleichheit hervorgeho- ben. Es ging demnach Weisser nicht bloß um die Lebenslagedaten von Ein- zelpersonen, sondern primär um solche von gesellschaftlichen Kollektiven von der Art von sozial schwachen oder gefährdeten Gruppen, Schichten oder auch noch Klassen29. Diese Auffassung traf sich dabei zweifellos mit derjeni- gen des Jesuitenpaters Oswald von Nell-Breuning, der seit gemeinsamer Tä-

27 Vgl. dazu vor allem Rudolf Möller, Interpersonelle Nutzenvergleiche, Göttingen 1983. Siehe auch: Ders., "Lebenslage" als Ziel der Politik, in: WSI-Mitteilungen, 31. Jg. (1978), S. 553 ff.; Wilhelm Breuer, Empirische Lebenslageforschung und "Neue soziale Frage", in: Lothar F. Neumann (Hrsg.), Sozialforschung und soziale Demokratie. Fest- schrift für Otto Blume, Bonn 1979, S. 149 ff. 28 Siehe dazu Gerhard Weisser, Sozialpolitik (zuerst 1972), in: Ders., Beiträge zur Ge- sellschaftspolitik, a.a.O., S. 275 f. Leider unveröffentlicht geblieben ist die Abhandlung: Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erfor- derlichen Lebenslage-Analysen (als Manuskr. f. d. Hörer vervielf., zuletzt 1966). 29 Siehe zuletzt Ingeborg Nahnsen, Lebenslagenvergleich. Ein Beitrag zur Vereini- gungsproblematik, in: Heinrich A. Henkel und Uwe Merle (Hrsg.), "Magdeburger Er- klärung", Regensburg 1992, S. 101 ff.; Dies., Sozialpolitik und soziale Ungleichheit, in: Lothar F. Neumann und Frank Schulz-Nieswandt (Hrsg.), Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft. In memoriam Theo Thiemeyer, Berlin 1995, S. 25 ff.

28 Werner Wilhelm Engelhardt tigkeit im Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft in Bonn mit Weisser befreundet war30. In diesem Zusammenhange ein grundsätzliches Wort zum „Theoretiker Weisser“. Trotz seiner großen sozial- und gesellschaftspolitischen Leistungen – nicht zuletzt auch im Gewerkschafts- und Krankenhauswesen sowie in der Vorbereitung einer speziellen Entwicklungsländerpolitik – kann Gerhard Weisser m. E. nicht als Vertreter einer allgemeinen Sozialtheorie oder der spezielleren „welfare oeconomics“, aber auch nicht als Lohntheoretiker im Sinne der üblichen funktionalistischen, personalistischen und kollektivver- traglichen Theoreme der Verteilungstheorien angesprochen werden. Auch lag ihm die ausführliche Beschäftigung mit sozialen und politischen Utopien fern. Die Verbindungen zur Wohlfahrtstheorie wurden erst durch Thiemeyer analysiert. Auf diesen Kollegen geht dabei die griffige Formulierung zurück, daß Weisser den bekannten „wohlfahrtsökonomischen Formalismus“ durch bekenntnismäßige Einführung wirtschaftspolitischer Ziele überwunden habe. Weissers Verteilungslehre war – so kann man es im Anschluß an diesen Kol- legen formulieren – am ehesten eine in nuce institutionelle „Theorie der Ver- teilung von Lebenslagen“31. Hans Albert trat am Anfang seiner Karrière nicht unähnlich für die Entwicklung einer „institutionellen Verteilungstheorie“ ein. Er sprach damals von einer folgenschweren Verwechselung bei Vertretern der reinen Theorie, die in der funktionalen Verteilungstheorie unter dem Schlag- wort „Macht oder ökonomisches Gesetz“ Zurechnungsregeln mit ökonomi- schen Gesetzen verwechselt hätten32.

30 Neuerdings hat sich auch Gabriele Andretta in dieser Richtung geäussert. Vgl. Gabrie- le Andretta, Zur konzeptionellen Standortbestimmung von Sozialpolitik als Lebenslage- politik, Regensburg 1991; Dies., Der kurze Weg zur sozialen Ungleichheit. Zur Trans- formation der Sozialstruktur in den neuen Bundesländern, in: Heinrich A. Henkel et al. (Hrsg.), Gestaltungsprinzipien im Transformationsprozeß, Regensburg 1995, S. 21 ff. 31 Theo Thiemeyer, Die Überwindung des wohlfahrtsökonomischen Formalismus bei Gerhard Weisser, in: Friedrich Karrenberg und Hans Albert (Hrsg.), Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung. Festschrift für Gerhard Weisser, Berlin 1963, S. 131 ff. Siehe auch Kurt Rothschild, Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik, in: Lothar F. Neu- mann und Frank Schulz-Nieswandt (Hrsg.), Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft, a.a.O., S. 11 ff. 32 Vgl. Hans Albert, Marktsoziologie und Entscheidungslogik, a.a.O., S. 429 ff. u. hier S. 434. Zur späteren Entwicklung der Lehrmeinungen Alberts siehe vor allem Ders., Der Gesetzesbegriff im ökonomischen Denken, in: Hans Karl Schneider und Christian Wa- trin (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz, 1. Halbbd., Berlin 1973, S. 129 ff.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 29

Ich selbst habe in meinen Forschungsbeiträgen das bei Weisser im Unter- schied zu seinen Kölner Anfangsjahren zumindest später vernachlässigte Ge- biet der Leitbilder und anderen Utopien zu einem Hauptgegenstand meiner wissenschaftlichen Bemühungen gemacht. Meiner Ansicht nach lag dieses Gebiet bei dem anthropologischem Interesse meines Lehrers und auch gemäß den älteren Kölner Lehrtraditionen gleichsam „vor der Tür“33. Ich knüpfte dabei aber auch an die religions- und wirtschaftssoziologischen Untersuchun- gen Friedrich Fürstenbergs und Franz-Xaver Kaufmanns über inzwischen bei großen Bevölkerungsgruppen veränderte Leitvorstellungen und die heutigen Möglichkeiten „personaler Selbstgestaltung“ an, ohne aber irgendwelche na- turrechtlichen Rudimente aufzunehmen und zu vertreten. Auch arbeitete ich in Richtungen, wie sie später z.B. Werner Kirsch unter unternehmensstrategi- schem Aspekt näher ausgearbeitet hat. Mir ist dabei zunehmend klargeworden, daß im Sinne eines betonten phi- losophischen Konstruktivismus, der die kantischen Überlegungen zu den sog. „regulativen Ideen“ aufnimmt und weiterführt, nicht nur praktisches Handeln, sondern bereits Erkennen mehr als ein Abbilden im Sinne bloßen Entdeckens ist. Schon in dem Moment, in dem man anstelle von Falsifizierung einer Er- kenntnis von endgültiger Verifizierung derselben oder gar von „Wahrheit“ spricht, entsteht – wie es Heinz von Foerster ausgedrückt hat – „ein Politi- kum“34.

V. Zu den bleibenden Verdiensten des Autors, von der Gegenwart aus beurteilt

Wo liegen nun, von heute aus gesehen, besonders weiterführende und mögli- cherweise auch hochaktuelle Leistungen Gerhard Weissers vor? Ich sehe sie vor allem in den folgenden zehn Hinsichten: 1. Weisser nahm nach meiner Auffassung die gegenwärtig oft empfohlene Sozialpolitik gewissermaßen „von unten her“ nach dem Zweiten Weltkrieg als einer der ersten vorweg. Er selbst, mehrere Mitarbeiter und eine Anzahl Doktoranden interessierten sich früh für die von gemeinsam operierenden Be-

33 Siehe dazu z.B. Werner Wilhelm Engelhardt, Über Leitbilder in der Sozialpolitik und zur Utopienproblematik in der Sozialpolitiklehre, in: Philipp Herder-Dorneich et al. (Hrsg.), Sozialpolitiklehre als Prozeß, Baden-Baden 1992, S. 55 ff. 34 Hier nach einem Interview mit Heinz von Foerster, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, in: Die Zeit, Nr.4, v. 15.1.1998, S. 41 f. Zur grundsätzlichen Auseinanderset- zung mit diesem neuen Paradigma vgl. z.B. Hans Rudi Fischer (Hrsg.), Die Wirklich- keit des Konstruktivismus, Heidelberg 1995.

30 Werner Wilhelm Engelhardt trieben oder aber von genossenschaftsartigen Selbsthilfegruppen kranker bzw. sonstwie sozial schwacher Personen initiierten Aktionen und oftmals auf Dauer begründeten Einrichtungen. Solche mittelständischen oder aber arbei- terschaftsorientierten Initiativen und Gebilde werden heutzutage meist als Einrichtungen des sozialökonomischen NPO-Bereichs – des sog. „Dritten Sektors“ der „Nonprofit-Organisationen“ – bezeichnet. Die Analysen solcher Organisationen, die dabei regelmäßig jenseits staatlicher, aber auch jenseits rein privatwirtschaftlicher Unternehmen eingeordnet werden, gehen nicht zu- letzt auf Gerhard Weisser zurück. Er benutzte dabei allerdings vorwiegend andere Bezeichnungen, als sie heute üblich sind35. Professor Weisser gehörte mit Eugen Gerstenmaier vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen, Lotte Lemke von der Arbeiterwohlfahrt, dem Cari- tasdirektor Anton Wopperer und vielen weiteren Persönlichkeiten zu den Or- ganisatoren des Ersten Deutschen Selbsthilfetags von 1950 in der Frankfurter Paulskirche. Seine Beteiligung an diesem damals primär zwecks baldiger Wiedereingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge durchgeführten Kon- greß führte danach zusammen mit Otto Blume zur Gründung eines besonde- ren Kölner „Instituts für Selbsthilfe e.V.“36. Das Institut besteht auch heute und trägt den Namen „Otto Blume-Institut für Sozialforschung und Gesell- schaftspolitik e.V.“. Die Aktivitäten liefen damals und laufen auch heute viel- fach unter den Bezeichnungen „frei-gemeinnützig“, „frei-gemeinwirtschaft- lich“ oder – wie jetzt teilweise bei den Kommunitariern und den Vertretern einer „Économie sociale“ – unter Benutzung der Termini „gemeinschaftliche Selbsthilfe“, „Sozialgenossenschaft“, „Économie sociale et cooperative“. 2. Aber Gerhard Weisser wandte sich auch gegen eine Abrüstung der staatlichen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Ganz im Gegensatz zu heutigen Bestrebungen war er im Zusammenhang mit den damaligen sozialpolitischen Forderungen der beiden großen deutschen Parteien und seinen Mitarbeitern Otto Blume sowie später auch Helmut Cox für einen durch staatliche Maß- nahmen im Einklang mit beispielhaftem tariflichem Vorgehen der Sozialpart- ner für einen weiter auszubauenden Rechts- und Sozialstaat. Allerdings ge-

35 Vgl. dazu Werner Wilhelm Engelhardt, Die Vorreiterrolle Gerhard Weissers bei der Analyse von Nonprofit Organisationen, in: ZögU, Bd. 21, 1998, H. 1, S. 41 ff.. Siehe auch Ders., Bemerkungen zum "Dritten" bzw. "Nonprofit"-Sektor, zu dessen Binnendy- namik und zur Kommunitarismus-Debatte, in: Werner Schönig und Ingrid Schmale (Hrsg.), Gestaltungsoptionen in modernen Gesellschaften. Festschrift für Jürgen Zerche, Regensburg 1998, S. 275 ff. 36 Zu den Anfängen siehe die Bände des Ständigen Aussschusses für Selbsthilfe (Hrsg.), Gemeinschaftliche Selbsthilfe, Göttingen 1950; Ders., Der erste deutsche Selbsthilfetag, Göttingen 1951.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 31 hörten Initiativen auf diesem Gebiet – vielleicht mit Ausnahme seiner ent- schiedenen vermögenspolitischen Forderung von „mehr Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand“37, wie sie zuerst im „Leberplan“ verwirklicht wurde – kaum zu seinen vorrangigen Initiativen. Diese waren vor allem grundsätzli- cher Art. Dabei plädierte er jedoch nicht für den totalen Versorgungs- oder Wohlfahrtsstaat damaliger britischer oder auch nur skandinavischer Prägung. Vor allem ging es ihm und Otto Blume um verbesserte Rechtsansprüche und neuartige Mitbestimmungslösungen der sozial benachteiligten Schichten, wie sie damals debattiert und schließlich eingeführt wurden. Die Schwachen und Gefährdeten der Gesellschaft – einschließlich der äußersten Randgrup- pen – sollten nicht allein von milden Gaben oder bloßer staatlicher Fürsorge bzw. Sozialhilfe abhängig sein, die nach häufig hochnotpeinlicher Prüfung der Bedürftigkeit gewährt oder auch wieder entzogen werden konnte. Was die Sozialversicherungen betraf, sollten diese – wie es später u.a. auch der Kölner Kollege Wilfrid Schreiber und Joseph Kardinal Höffner forderten – korpora- tiv von den jeweiligen Finanzministern der verschiedenen Couleurs möglichst weit unabhängig ihre Aufgaben erfüllen können. In allen diesen und weiteren Zusammenhängen ist vor allem auf Weissers große Handwörterbuchartikel „Soziale Sicherheit“, „Distribution (II) Politik“ sowie „Vermögen und Ver- mögenspolitik“ im HdSW der Jahre 1956-1961 zu verweisen38. Bloße, d.h. ausschließliche „Selbsthilfe-Kulturen“ oder „Sub-Kulturen“ freilich, wie sie heutzutage zuletzt Amartya Sen in einem Berliner Vortrag mit Blick auf das us-amerikanische Beispiel auch für Europa und speziell Deutschland empfohlen hat – und wie es sie auch früher bereits gab –, wären nach Weissers damaliger Ansicht, dessen bin ich mir sicher, von ihm und auch von Blume abgelehnt worden. Denn sie tragen ja in der Regel schließ- lich dazu bei, die Lasten einseitig auf die Schultern der schwächsten Gruppen und Schichten einer Gesellschaft zu verlagern. Eine solche Verschiebung hät- ten beide zweifellos als ungerecht empfunden. Übrigens empfahl Sen in sei- nem Vortrag „die Situation verschiedener Personen aufgrund der realen Frei-

37 Vgl. dazu den vom Ständigen Ausschuß für Selbsthilfe und seinem wissenschaftlichen Institut, dem Institut für Selbsthilfe, anläßlich des dritten deutschen Selbsthilfetags 1958 herausgegebenen Band "Eigentum in der industrialisierten Gesellschaft", Göttingen 1958, mit grundlegenden Referaten von Gerhard Weisser, Theo Thiemeyer und Otto Blume. 38 Im bereits zitierten Sammelband "Beiträge zur Gesellschaftspolitik" sind besonders in den Kapiteln 3 u. 4 weitere wichtige Abhandlungen Gerhard Weissers zur Sozialpolitik wiederabgedruckt – so zur Sozialversicherung, Verteilungspolitik, Mitbestimmungs- problematik und zur Bildungspolitik unter dem Aspekt der Mitbestimmung.

32 Werner Wilhelm Engelhardt heiten“ derselben zu ermitteln39. Dies ist zweifellos ein Anliegen, dem die Lebenslageforschung, wie sie Weisser vorschwebte und Blume mit seinen Mitarbeitern in die Tat umsetzte, bereits seit Jahrzehnten Rechnung trägt. 3. Das hervorgehobene starke Interesse Weissers für Selbsthilfeaktivitä- ten, – seien sie genossenschaftlicher oder nur genossenschaftsähnlicher Art – war bei ihm gepaart mit einer aktiven Einstellung gegenüber sozialen Bewe- gungen und seiner eigenen nicht nur kontemplativen Teilnahme daran. Von hier her läßt sich mit einigem Recht sagen, daß Professor Weisser für die Ausbildung sowohl von sozialpolitischen als auch betriebswirtschaftlichen Aktionsforschungen und Organisationsentwicklungsanalysen in Anspruch genommen werden kann40. Diese Beurteilung scheint mir möglich, auch wenn die methodischen Anfänge und näheren Ausarbeitungen dieser neueren Forschungszweige zweifellos entweder schon bei früheren Autoren – wie et- wa bei Kurt Lewin – oder bei späteren Kollegen liegen. Auf alle Fälle aber ging es Weisser in den ersten Nachkriegsjahrzehnten darum, die Wissenschaften des gesellschaftlichen Bereichs, die nach dem Di- lemma der NS-Zeit im Zeichen des „Ohne-mich-Denkens“ zeitweise für Wertfreiheit um jeden Preis plädierten, aus dem Elfenbeinturm reiner Wis- senschaft herauszuführen. Er wollte die Disziplinen für inventions und inno- vations sowohl in der Sozialpolitik und Sozialarbeit als auch im Genossen- schafts- und Wohnungsbereich öffnen. Und er beabsichtigte dabei, möglichst solche Pioniertaten auch selbst produzieren zu helfen. Um ein Beispiel zu nennen: So trat Weisser in der Wohnungswirtschaft der Nachkriegszeit z.B. für „bauliche Selbsthilfe“ in genossenschaftlichen oder genossenschaftsähnli- chen Formen ein. Nicht zuletzt als „manuelle“ Selbsthilfe im Baubereich wurde sie in diesen Jahren unter seiner Leitung eingehend analysiert41.

39 Hier zitiert nach einer gekürzten Fassung seines Vortrags, die unter dem Titel "Ar- beitsplätze sind das wichtigste Bindeglied in der sozialen Kette" in der Frankfurter Rundschau, Nr. 271, v. 21.11.1997 erschienen ist. 40 Siehe zu dieser Perspektive die Abhandlung von Gerhard Weisser, Normative Sozial- wissenschaft im Dienste der Gestaltung des sozialen Lebens (1956), wiederabgedruckt in: Beiträge zur Gesellschaftspolitik, a.a.O., S. 19 ff. Weissers Engagement steht in Zu- sammenhang mit der von ihm erkannten "zunehmenden Organisationsbedürftigkeit der Gesellschaft und ihre(n) Problemen". Vgl. dazu seinen gleichnamigen Beitrag zur Fest- gabe für Oswald von Nell-Breuning SJ zu dessen 75. Geburtstag, hrsg. von Hans A- chinger et al., Mannheim 1965, S. 173 ff. 41 Vgl. dazu die kleine Schrift: Bauliche Selbsthilfe in der Wohnungswirtschaft. Ergeb- nisse einer vom Institut für Wohnungsrecht und Wohnungswirtschaft im Juni 1951 durchgeführten Arbeitstagung. Diskussionsleiter: Prof. Dr. Gerhard Weisser, Vertrieb

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 33

Rolf Prim hat in der Blume-Festschrift von 1979 die auf Weisser zurück- gehende und von Blume fortgesetzte Aktionsforschung „als Leitbild praxis- verpflichteter Sozialwissenschaft“ zu Recht ausführlich gewürdigt. In einer späteren Abhandlung hat der Autor darüber hinaus geschrieben, daß Weisser die Grundlagen des „Konstruktivismus“ längst freigelegt hatte, bevor dieser seine heutige Konjunktur fand42. Gemeint wird von ihm dabei etwa die Ein- sicht, daß – wie es neuerdings Ernst von Glasersfeld ausgedrückt hat – ein Subjekt oder eine Gruppe von Individuen nur dann über anwendbares Wissen verfügt, wenn es dieses über eigene Operationen im kognitiven Apparat selbst mit hergestellt hat. Weisser trat in dieser Weise – wie es im Titel seines Bei- trages in einer von Carl Schmid, Karl Schiller und Erich Potthoff herausge- gebenen Schrift über „Grundfragen moderner Wirtschaftspolitik“, erschienen Frankfurt 1957, heißt – betont für „vielgestaltiges soziales Leben“ ein. Dies durchaus schon im Sinne des konstruktivistischen Grundprinzips, das da lau- tet: „Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst“, die verant- wortet werden können43. 4. Es kommt aber noch etwas hinzu. Die Aktions- und Organisationsent- wicklungs-Forschung ist bei Weisser immer zugleich auch Erforschung von Organisationskulturen. Sie betrifft damit eine heute im Aufwind befindliche spezielle betriebswirtschaftliche Lehre. Der Autor interessierte sich nämlich, wie dies der Hamburger Betriebswirt Edgar Castan in einer frühen Würdi- gung von Weissers einzelwirtschaftsmorphologischen Aktivitäten treffend er- faßt hat, besonders für „Stiltypologien“44, nicht hingegen für bloße „Leis- tungstypologien“, so wichtig er diese auch nahm. Besonders deutlich wird dies alles schon in Weissers betriebswirtschaftlichem Werk „Form und We- sen der Einzelwirtschaften“, das ich als sein Hauptwerk in dieser Disziplin bezeichnen möchte. Im 3. Kapitel des I. Teils dieses Werks „Die Einzelwirt-

Göttingen 1951. Siehe auch diverse Artikel Weissers über "Selbsthilfe" (beginnend 1954 im Evangelischen Soziallexikon). 42 Rolf Prim, Aktionsforschung als Leitbild praxisverpflichteter Sozialwissenschaft, in: Lothar F. Neumann (Hrsg.), Sozialforschung und soziale Demokratie, a.a.O., S. 12 ff.; Ders., Praktische Sozialwissenschaft, Lebenslagenforschung und Pädagogik bei Gerhard Weisser, Weingarten 1996, S. 8. Die zuerst genannte Abhandlung nimmt speziell Bezug auf Gerhard Weisser, Die politische Bedeutung der Wissenschaftslehre, Göttingen 197o, sowie auf Klaus Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik, Göttingen 1966. 43 Zum Konstruktivismus vgl. Ernst von Glasersfeld, Die Wurzeln des "Radikalen" am Konstruktivismus, in: Hans Rudi Fischer (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Konstruktivis- mus, a.a.O., S. 35 ff.; Heinz von Foerster, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, a.a.O., S. 42. 44 Siehe Edgar Castan, Typologie der Betriebe, Stuttgart 1963, S. 13 f. u. 30 ff.

34 Werner Wilhelm Engelhardt schaften im ganzen betrachtet“, das – wie bereits angedeutet wurde – neben dem 2. Kapitel über „Die inneren sinngebenden Kräfte der Einzelwirtschaf- ten“ und dem II. Teil „Politik“ unveröffentlicht geblieben ist, werden darin Gruppenstile des Lebensmittel-Einzelhandels, aber auch solche der deutschen Kleineisenindustrie, der privaten Hypothekenbanken und der Universitäts- Buchhandlungen in ihren sinn- und formgebenden Einzelmerkmalen und Merkmalszusammenhängen einleitend dargestellt45. Wieder aufgenommen wurde das große Thema später in der bereits genannten Schrift „Stil- wandlungen der Wohnungsgenosenschaften“ und ganz besonders in dem um- fangreichen Handbuchartikel „Wirtschaft“, der die kulturmorphologischen Forschungen Weissers zu einem gewissen Abschluß gebracht hat. Allerdings verband sie Weisser hier auch mit den neueren Themen der Denaturierung bisheriger Stile und der Erörterung Abhilfen schaffender Maßnahmen46. Auch eine Broschüre aus dem Jahre 1948 mit dem Titel „Freiheitlich- sozialistische Stilelemente im Leben der Arbeiterschaft. Eine soziologische Untersuchung“, Göttingen 1948, ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Dies nicht zuletzt in methodischer Hinsicht, weil in ihr betont sowohl an Fries zentrale philosophische Methode zur Gewinnung sogenannter „unmittelbarer Erkenntnis“ als auch an Max Webers „ideale“ bzw. „reine Typen“ angeknüpft wird. Weil es heute möglicherweise weithin parallele Bemühungen in der be- triebswirtschaftlichen Organisationskulturforschung gibt – beispielsweise bei Margit Osterloh – wird noch darauf zurückzukommen sein. Allerdings auch mit einigen Bemerkungen zur Kritik dieser seit Fries als „Deduktion“ bzw. deduktive Methode der „Regression“ bekannten Verfahrensweise47. 5. Gerhard Weisser stand m. E. für einen höchst modernen, lediglich auf persönlichen subjektiven Bekenntnissen aufbauenden Neo-Normativismus. Dieser stand – wie bereits angedeutet wurde – sowohl abseits idealistisch- naturrechtlicher Gemeinwohl-Vorstellungen, als auch erst recht fern eines rein rationalistischen Verständnisses vom Allgemeinen Wohl, etwa im Sinne

45 Gerhard Weisser, Form und Wesen der Einzelwirtschaften, 3. Kapitel: Die Einzelwirt- schaften im ganzen betrachtet, S. 47 ff. 46 Zur Würdigung der Ansätze vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Wirtschaftssoziologie I: Allgemeine, in: HdWW, 9. Bd., 1982, S. 250 ff. 47 Vgl. dazu Jakob Friedrich Fries, Sämtliche Schriften, Abt. 1, Bd. 4, Selbstrezensionen (und) Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Bd. 1, Aalen 1967 (Reprint der 2. Aufl. v. 1828), passim, besond. S. 336 ff. u. 344 ff.; Gerhard Weisser, Nelson, Leo- nard, in: HdSW, 7. Bd., 1961, S. 557 ff.; Ders., Jakob Friedrich Fries als Sozialpolitiker, in: Franz Greiß et al. (Hrsg.), Der Mensch im sozio-ökonomischen Prozeß. Festschrift für Wilfrid Schreiber, Berlin 1969, S. 49 ff.; Ders., Gemeinwirtschaftlichkeit bei Ein- zelwirtschaften, Frankfurt/Köln 1974, S. 19 ff.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 35 des zweiten Hauptwerks von Adam Smith, des „Wealth of Nations“. Unter den Volkswirten ist Reimut Jochimsen Gerhard Weisser auf dem Wege ein Stück gefolgt, daß eine normative Wissenschaft auf antiplatonischer Basis geschaffen werden kann48. Unter den Betriebswirten äusserte Richard Köhler in seiner Mannheimer Dissertation ein gewisses Verständnis für die Durch- führbarkeit einer solchen Position49. Die älteren betriebswirtschaftlich- gemeinwirtschaftlichen Positionen von Eugen Schmalenbach und weiteren Autoren sind hingegen anders zu verorten50. Thiemeyer hat in diesem Zusammenhang m. E. wiederholt völlig zu Recht von Weissers Abgrenzung vom „idealistischen Werte-Apriorismus“ einerseits und vom „rationalistischen wohlfahrtsökonomischen Formalismus“ anderer- seits gesprochen51. Auch die Kollegen Siegfried Katterle und in neuerer Zeit Frank Schulz-Nieswandt haben die Weissersche Position grundsätzlich ähn- lich gewürdigt. Beispielsweise haben sie die damit verbundene kritische Be- wertung der Konsumenten-Souveränität und die auch in Marktwirtschaften jeder Art kaum zu überschätzende politische Rolle der Meritorik näher ge- kennzeichnet und mit anderen Positionen in der Wirtschafts- und Sozialpoli- tiklehre – etwa solchen der britischen Titmuss-Schule – verglichen52. Man

48 Siehe vor allem Reimut Jochimsen, Ansatzpunkte der Wohlstandsökonomie, Ba- sel/Tübingen 1961, S. 11 f.; Ders., Grundlagen, Grenzen und Entwicklungsmöglichkei- ten der Welfare Economics, in: Erwin von Beckerath et al. (Hrsg.), Probleme der norma- tiven Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, a.a.O., S. 129 ff. u. 152 f. 49 Siehe Richard Köhler, Theoretische Systeme der Betriebswirtschaftslehre im Lichte der neueren Wissenschaftslogik, Stuttgart 1966, S. 76 f. 50 Nach Thiemeyer kann bei Schmalenbach von einer "rationalistischen" Gemeinwohl- konzeption gesprochen werden. Vgl. Theo Thiemeyer, Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, a.a.O., S. 1o3 ff.; Erich Potthoff und Günter Sieben, Das wissen- schaftliche Werk Schmalenbachs, in: Walter Cordes (Hrsg.), Eugen Schmalenbach. Der Mann – Sein Werk – Die Wirkung, Stuttgart 1984, S. 283 ff. 51 Außer den bereits genannten Abhandlungen siehe auch Theo Thiemeyer, Das öffentli- che Interesse in der ökonomischen Theorie, in: Arch.f.ö.u.fr.U., Bd. 12, 1980, S. 263 ff.; Ders., Theorie der öffentlichen Güter als ökonom(ist)ische Staatstheorie, in: Karl Oettle (Hrsg.), Öffentliche Güter und öffentliche Unternehmen. Gisbert Rittig zum 80. Ge- burtstag gewidmet, Baden-Baden 1984, S. 73 ff. 52 Siehe vor allem Siegfried Katterle, Normative und explikative Betriebswirtschaftsleh- re, Göttingen 1964, S. 75 ff.; Ders., Wohlfahrtsökonomik und Theorie der Staatswirt- schaft, in: Finanzarchiv, NF, Bd. 30, 1971, S. 20 ff.; Ders., Sozialwissenschaft und Sozi- alethik, Göttingen 1972, S. 38 ff. u. 47 ff.; Frank Schulz-Nieswandt, Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik. Grundfragen einer kritizistischen Lehre meritorischer Wohlfahrtspo- litik, Regensburg 1992, passim; Ders., Die Weisser`sche Schultradition der deutschen Sozialpolitikwissenschaft im Vergleich zur modernen britischen Sozialpolitiklehre in der

36 Werner Wilhelm Engelhardt denke in diesem Zusammenhang – um nur ein aktuelles Beispiel aus der Ver- braucherpolitik zu nennen – etwa an die Bemühungen eines großen Lebens- mittelkonzerns, gentechnisch behandelte Lebensmittel entgegen der überwie- genden Verbrauchermeinung am Markt durchzusetzen. Ich selbst habe in den letzten Jahren z.B. im Zusammenhang einer be- grenzten Teilnahme am Konsultationsprozess der Kirchen zur sozialen Lage in Deutschland vorgeschlagen, (wieder) von einem besonderen kritizistischen Gemeinwohlverständnis zu sprechen, das letztlich entscheidend von regulati- ven Ideen im Sinne Kants abhängig ist53. „Ich kann genugsamen Grund ha- ben, etwas relativ anzunehmen (suppositio relativa)“ – schrieb der große Kö- nigsberger Philosoph in der Kritik der reinen Vernunft – „ohne doch befugt zu sein, es schlechthin anzunehmen (suppositio absoluta)“54. 6. Neben dem „Freiheits“- und „Gemeinschafts“-Grundwert maß Profes- sor Weisser dem „Gerechtigkeits“-Grundwert in der Gesellschafts-, Wirt- schafts- und Sozialpolitik hohe persönliche Bedeutung zu. Hingegen erkannte er der „Solidarität“ und „Subsidiarität“ lediglich als Bedingungen von Ent- scheidungen Relevanz zu. Wie viele Vorgänger meinte auch Weisser, daß der berühmte „kategorische Imperativ“ Kants sich in der Nähe einer inhaltsleeren Formel befinde. Hingegen vermeide der Versuch Leonard Nelsons, die Ma- xime der Gerechtigkeit zu formulieren, eine solche Nähe. Wenn Nelson näm- lich formuliere, „Handle nie so, daß Du nicht auch in Deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch Deine

Tradition von Titmuss, in: Sozialer Fortschritt, 39. Jg. (1990), S. 273 ff. Zur Meritorik vgl. auch Werner Wilhelm Engelhardt, Einige Grundfragen einer "Sozialpolitik für mündige Bürger", in: Jahrb. f. Nationalök. u. Stat., Bd. (Vol.) 209/3-4, 1992, S. 343 ff. 53 Vgl. Werner Wilhelm Engelhardt, Zur Bedeutung und Interpretation des Gemein- wohlbegriffs in der Gegenwart, in. ZögU, Bd. 19, 1996, S. 212 ff., im Anschluß an Ders., Grundprobleme einer personalen Anthropologie und kritizistischen Gemeinwohl- konzeption, in: Lothar F. Neumann und Frank Schulz-Nieswandt (Hrsg.), Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft, a.a.O., S. 75 ff. 54 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Taschenbuch-Werkausgabe, Bd. IV, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 12. Aufl., Frankfurt/M. 1992, S. 587. Zum Verhältnis von Fries zu Kant und zu des ersteren Bemühungen zur Weiterentwicklung der Kantischen Lehre von den regulativen Prinzipien vgl. Jakob Friedrich Fries, Sämtliche Schriften, Abt. 1, Bd. 5 u.6, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Aalen 1967 (Reprint v. Bd. 2 u. 3 der 2. Aufl. v. 1831), besond. Bd. 5, S. 294 ff. u. Bd. 6, S. 161 ff. Nach Cassirer besteht der Fortschritt, den Fries über Kant hinaus erreicht hat, "nur für das ein- zelne Subjekt und für die Art, wie es sich (das) objektiv in seiner Gesamtheit Gegebene nach und nach zum Bewußtsein bringt"; vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem, a.a.O., S. 479.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 37 eigenen wären“55, so sei diese Maxime zwar formal, aber als sogenanntes „Abwägungsgesetz“ eigener und fremder Interessen nicht zugleich inhalts- leer. Allerdings kommt der Maxime und der von ihr ausgedrückten Grund- entscheidung über Grundanliegen von Personen nach Ansicht Weissers nur in einem abgestimmten Kombinat von Grundentscheidungen widerspruchsfreie normative Bedeutung zu. Es gehe nämlich darum, neben der Gerechtigkeit dem Freiheitswert und dem Wert der Gemeinschaft zugleich einen hohen Rang einzuräumen. Für Weisser stand aber fest, daß derjenige, der der „Frei- heitlichkeit der Lebensgestaltung durch den Einzelnen“ für seine Person ab- solute Gültigkeit zuspricht, „als Gesellschaftsangehöriger in seinem Verhal- ten mit Sicherheit Grundanliegen – auch Grundpostulate – anderer verletzen wird“56. Was die „Solidarität“ angehe, so werde heute das Wort zwar immer häu- figer zur Bezeichnung eines mit der Vorstellung einer Aufgabe verbundenen Grundanliegens verwendet. Das Gleiche gelte für den Terminus und Begriff „Subsidiarität“. Zugleich aber bestehe nach wie vor ein durchaus verbreiteter Sprachgebrauch, bei dem diese Worte lediglich ein „mittelbares Interesse“ im Dienste einer Vielzahl von ungenannten, dem Gefühl überlassenen Grundan- liegen bezeichnet würden. Die Solidarität oder Subsidiarität würden dann also lediglich als Mittel geschätzt. Diesen Fällen maß Weisser für die Gegenwart besondere Bedeutung zu57. 7. Weisser wandte sich erkenntniskritisch entschieden gegen eine Anzahl moderner Ideologien, vom „Utopismus“, „Subjektivismus“, „Relativismus“, „Nihilismus“ angefangen, bis hin zum bloßen „Sachzwangdenken“, „Kon- formismus“ und „Ökonomismus“. Auch der „Pragmatismus“ verfiel seinem

55 Siehe Leonard Nelson, Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays et al., 1970 ff., Bd. 5, System der philosophischen Ethik und Pädagogik (1932), 3. Aufl. 1970, S. 143 ff. Vgl. auch Gerhard Weisser, Logische Vorfragen von Theorie und Politik der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, a.a.O., S. 73. 56 Vgl. z.B. Gerhard Weisser, ebd., S. 80. Zum Wert der "Gemeinschaft" finden sich grundlegende Ausführungen bereits in Form und Wesen der Einzelwirtschaften, Bd. 1, a.a.O., S. 28 ff. u. 76 ff.. Siehe ferner Ders., Wirtschaft, a.a.O., z.B. S. 1075 ff.; Ders., Genossenschaften, a.a.O., S. 67 ff. 57 Siehe dazu vor allem Gerhard Weisser, Solidarität. Grundwert oder Bedingung? In: Soziale Welt, 21. Jg. (1972), S. 193 ff. Vgl. auch Ders., Genossenschaften, a.a.O., S. 73 ff.; Ders., Logische Vorfragen von Theorie und Politik der gemeinwirtschaftlichen Un- ternehmen, a.a.O., S. 38 ff.

38 Werner Wilhelm Engelhardt

Verdikt58. Dabei hat er freilich wohl nur eine nicht mehr sinnorientierte, al- lerdings sehr verbreitete „Muddling-Through“-Variante zu recht gebrand- markt. Die Kollegen Lompe und Flohr haben hier in ihren Schriften Einiges – wie ich denke – richtig gestellt. Sie haben nämlich den sog. „Vulgär- pragmatismus“ von klar formulierten Aktionsprogrammen im Sinne des ur- sprünglichen amerikanischen Pragmatismus etwa John Dewey`s unterschie- den59. Auch in der Kritik anderer Ideologien ging Weisser m. E. zum Teil zu weit. Dies gilt beispielsweise für den Relativismusvorwurf – auch in seiner moralisch/ethischen Spielart – , und es betrifft insbesondere den Utopismus60. Nicht hingegen scheint mir die Kritik mehrerer Erscheinungsweisen des Ö- konomismus als Ideologie und auch als moderner Quasi-Ontologie übertrie- ben zu sein. Hier traf Weisser sich übrigens argumentativ durchaus mit der Ansicht von naturrechtlich gebundenen Ordoliberalen – wie etwa Wilhelm Röpke – oder mit Anhängern der verstehenden Soziologie und Psychologie61. Allerdings darf nach von mir vertretener Lehrauffassung weder die Öko- nomismus-Kritik noch die von Weisser zugleich eindeutig bejahte mora- lisch/ethische Fundierung gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen primär als ein logisches Problem aufgefaßt werden. Es geht bei dieser Frage – wie ich finde – weder primär um eine „Ableitungs“-frage

58 Vgl. zu diesen Kritikpunkten vor allem Gerhard Weisser, Die politische Bedeutung der Wissenschaftslehre, a.a.O., passim. 59 Vgl. Klaus Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik, a.a.O., S. 119 ff.; Heiner Flohr, Parteiprogramme in der Demokratie, Göttingen 1968, S. 80 ff. Siehe auch Sieg- fried Katterle, Sozialwissenschaft und Sozialethik, a.a.O., S. 76 ff. 60 Siehe bereits Gerhard Weisser, Wirtschaftspolitik als Wissenschaft, a.a.O., S. 34 f.; Ders., Politik als System aus normativen Urteilen, a.a.O., S. 39 ff. Der Autor schließt sich in diesem Punkt offensichtlich dem Standpunkt Nelsons an; vgl. Leonard Nelson, Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. 6, System der philosophischen Rechtslehre und Poli- tik (1932), Hamburg 1970, passim. Zu einer abweichenden Position siehe zuletzt Wer- ner Wilhelm Engelhardt, Von der Utopie zur Genossenschaft und Sozialpolitik und zu ideologischen Verallgemeinerungstendenzen (erscheint demnächst). 61 Siehe dazu bereits Gerhard Weisser, Wirtschaftspolitik als Wissenschaft, a.a.O., S. 49 ff. u. besonders Ders., Über die Unbestimmtheit des Postulats der Maximierung des So- zialproduktes (1953) und Ders., Die Überwindung des Ökonomismus in der Wirt- schaftswissenschaft (1954); beide Abhandlungen sind wiederabgedruckt in: Ders., Bei- träge zur Gesellschaftspolitik, a.a.O., S. 542 ff. u. 573 ff. Zu real- und geistesgeschicht- lichen Zusammenhängen der Ökonomismuskritik vgl. Werner Wilhelm Engelhardt, Konzeptionen und Institutionen jenseits von Angebot und Nachfrage, in: Carsten P. Claussen et al. (Hrsg.), Umbruch und Wandel. Herausforderungen zur Jahrhundertwen- de. Festschrift für Carl Zimmerer, München/Wien 1997, S. 623 ff.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 39 von mittelbaren aus unmittelbaren Interessen bzw. Grundanliegen noch um einen bloß zergliedernden „Aufweis“ solcher geistigen oder psychischen An- liegen, nenne man diese Bemühungen „Praktische Philosophie“ oder „Phä- nomenologie“. Fries, Nelson und Weisser dürfte hier, soweit sie dies anneh- men, gleichermaßen zu widersprechen sein62. Weisser scheint mir in seiner prinzipiellen moralisch/ethischen Position von heutigen vertragstheoretischen Aspekten – sei es im Sinne eines „Politi- cal Liberalism“ des John Rawls oder aber des „kantischen Republikanismus“ eines Jürgen Habermas – nicht allzuweit entfernt zu sein. Rawls und Haber- mas gehen ja wie Weisser ohne jede Überschätzung des Begründungs- und Gültigkeitsproblems für normative Überlegungen primär von der Teilneh- merperspektive, nicht der Umfeldperspektive aus. Sie halten die darin enthal- tenen Wertvorstellungen, die letztlich auf der intrinsisch erzeugten Überzeu- gungskraft von Ideen beruhen – „the viewpoint of you and me“ – für wichti- ger als die natürlich stets mit zu beachtenden äusseren Bedingungen der je- weiligen Milieus. Beide Autoren sind für „faire soziale Kooperation“ der je- weils beteiligten Personen im Sinne eines „homo publicus“63. Weisser hat in solchen Zusammenhängen wohl stets an einen dem Dienst- gedanken verpflichteten Freien Gemeinwirtschafter gedacht, dessen Grund- entscheidungen letztlich nicht ökonomisch, sondern eben moralisch bzw. sitt- lich bestimmt sind. In einem von ihm entworfenen wirtschaftswissenschaftli- chen Rundbrief aus dem Jahre 1920 heißt es über seine grundsätzliche Positi- on bereits: „Für den Anhänger der kritizistischen Philosophie ist die Stel- lungnahme klar vorgezeichnet. Die Prinzipien der Wirtschaftspolitik wie der Politik überhaupt kann allein die Ethik und in ihrem Bereich die philosophi- sche Staatslehre bieten“. Und aus Nelsons Vorlesungen hatte er im WS des gleichen Jahres über die Entstehung moralisch/ethischer Prinzipien die anth-

62 Vgl. dazu auch die Ausführungen im letzten Abschnitt dieses Vortrags. Zur Frage der logischen Unmöglichkeit vgl. bereits Werner Wilhelm Engelhardt, Möglichkeiten einer Wissenschaft von der Sozialpolitik, in: ZfdgSt., 130. Bd., 1974, S. 545 ff. u. besond. S. 559 ff. Zur Interpretation als angeblich rein explikative Aufgabe siehe Thorhild Stelzig, Gerhard Weissers Konzept einer normativen Sozialwissenschaft, a.a.O., S. 270 ff. 63 Vgl. dazu Birger P. Priddat, Stabilität, Konsens und Kontingenz: John Rawls` neuere Arbeiten, in: Ingo Pies und Martin Leschke (Hrsg.), John Rawls` politischer Liberalis- mus, Tübingen 1995, S. 195 ff. u. hier S. 201 ff. Siehe auch die vielschichtigen Überle- gungen von Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1960, be- sond 2. Kap. u. hier S. 64 ff.; Lutz Wingert, Gemeinsinn und Moral Frankfurt/M. 1993; Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des anderen, Frankfurt/M. 1996, S. 65 ff. u. 95 ff.

40 Werner Wilhelm Engelhardt ropologische Einsicht notiert, daß „nur die Vorstellung eines Wertes, nicht der Wert selbst“ einen Erfolg herbeiführen kann64. 8. Wie schon angedeutet wurde, war Weisser ein entschiedener Verfechter der Politikberatung mittels Empfehlungen und Warnungen. Dies lange bevor eine solche Aktivität insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften zur gro- ßen Mode wurde. Dabei dachte er, der schon vor Antritt seiner Professur mehr als zehn Jahre im öffentlichen Dienst zugebracht hatte, aber keineswegs nur an die Beratung von Praktikern des Sozialbereichs oder der öffentlichen und frei-gemeinnützigen Wirtschaft, sondern an die möglichst unablässige und verständige Beratung von Politikern und Praktikern schlechthin65. Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen kurzen Vergleich zwischen dem Preußischen Finanzminister Johannes von Miquel und dem vormaligen Fi- nanzstaatssekretär in Braunschweig und Düsseldorf Gerhard Weisser. v. Mi- quel hatte als sozial denkender Linksliberaler der 1848 er Revolution und Briefpartner von Karl Marx begonnen. 1895 rief er als nunmehriger national- liberal-sozialkonservativer Politiker und Minister mit großer kommunaler und kooperativer Erfahrung die “Preußische Central-Genossenschaftskasse“ ins Leben66. Meines Erachtens weist er mit Gerhard Weisser, der zeitlebens für „unternehmende Geschäftsführung“ – nicht zuletzt auch durch Beamte – eingetreten ist67, durchaus einige Gemeinsamkeiten auf. Für von Miquel war es nämlich in seiner Spätzeit – wie sein Biograph Hans Herzfeld geschrieben hat – „mehr und mehr zur beherrschenden politi- schen und sozialen Leitidee geworden, ... durch bewußt regulierendes Ein- greifen des Staates für die wirtschaftliche Entwicklung, für einen organischen Ausgleich zwischen Stadt und Land, Handel, Industrie und Landwirtschaft ...

64 Vom Verfasser aus dem Weisser-Nachlaß im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg, eruiert. 65 So wie es z.B. auch der Bayrische Senat bis zum 8. 2. 1998 versucht hat. Durch Volksentscheid wurde diese zweite Kammer des Freistaats an diesem Tage abgeschafft.- Zu den Vorzügen des Weisserschen Beratungskonzepts in Auseinandersetzung mit der Position Alberts siehe Thorhild Stelzig, Gerhard Weissers Konzept einer normativen Sozialwissenschaft, a.a.O., S. 265 ff. u. 276 ff. 66 Vgl. dazu Werner Wilhelm Engelhardt, Die Gründung der "Preußischen Central- Genossenschaftskasse" und deren Tätigkeit – ein Beispiel für erfolgreiche, uneigennüt- zige Staatshilfe im Genossenschaftsbereich, in: Hundert Jahre Genossenschaftliches Spitzeninstitut, Sonderheft der ZfgG, 1995, S. 11 ff., hier S. 16 ff. 67 Siehe z. B. Gerhard Weisser, Dienstgedanke und Beamtenrecht, in: Die demokrat. Gemeinde, 2. Jg. (1950), S. 2 ff.; Ders., Unternehmende Geschäftsführung, in: Gemein- nütz. Wohnungsw, 6.Jg. (1953), S.1 ff.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 41 zu sorgen“68. Vor der Gründung der Berliner „Preußenkasse“ – wie sie oft abkürzend genannt wurde –, ließ er sich deshalb durch ein Gremium von Praktikern des Genossenschaftswesens – darunter auch solchen der in Fragen der Staatshilfe abweichenden Richtung des Hermann Schulze-Delitzsch – und Beamten verschiedener Ministerien ausführlich beraten. Wie verbürgt ist, äu- sserte er vor ihnen allen die Ansicht, daß in einem Unternehmen oder einer Verwaltung nicht das „bloße Abstimmen“ die Mitwirkung ausmache. „In ei- ner verständigen Verwaltung habe derjenige, der nur begutachte, denselben Einfluß wie der, welcher abstimme und mitbeschließe“69. In ähnlichem Geiste dachte und handelte – so denke ich – auch Gerhard Weisser. 9. Weisser war auch aus Überzeugung Pädagoge, wie früh der in Köln ha- bilitierte Regensburger Pädagoge Helmut Heid anerkannt hat. Deshalb wählt auch die kürzlich erschienene Kurzbiographie durch den Kölner Historiker Guntram Philipp zutreffend die Überschrift „Gerhard Weisser – Politiker, Wissenschaftler, Pädagoge“70. Zu den Abhandlungen, welche die diesbezüg- lichen Ambitionen Weissers – und zwar in der Regel solche im Sinne einer Fortsetzung der Aufklärung sowie volkserzieherischer Bemühungen – deut- lich zum Ausdruck bringen, gehören z.B. „’Konformismus’ und Demokratie“ von 1959, „Erziehung zur Freiheit in der Epoche der Anpassungszwänge“ von 1960 und „Politische Bildung – nur Information oder auch Haltungspfle- ge?“ von 1967. Dazu gehört aber auch der Aufsatz in der Festgabe für Lud- wig Erhard von 1957 „Appell und Aufklärung als Mittel der Wirtschaftslen- kung und der Politik überhaupt“71. Der Terminus „Wirtschaftslenkung“ wird dabei vom Autor – wie noch einmal betont sei – ausschließlich verstanden im Sinne einer durch wirt-

68 Hans Herzfeld, Johannes von Miquel. Sein Anteil am Ausbau des Deutschen Reiches bis zur Jahrhundertwende, Bd. 2, Konservative Wendung und staatsmännisches Wirken 1884 bis 1901, Detmold 1938, S. 437. 69 Zur Vorgeschichte der Preußischen Central-Genossenschaftskasse. Protokoll einer Sachverständigen-Anhörung am 18. Mai 1895 im preußischen Finanzministerium... Mit einer Einleitung von Professor Dr. Walter Hamm, Frankfurt/M. 1995, S. 53. 70 Nach Heid wandte sich Weisser entschieden gegen eine Dogmatisierung von Bil- dungsinhalten; siehe dazu Helmut Heid, Pädagogische Konsequenzen sozialkultureller Strukturwandlungen, in: Jb. f. Wirtschafts- und Sozialpädagogik 1967, S. 19 ff. u. be- sond. S. 201, 223 u. 233. Dem von Philipp erwähntem Umstand, daß Weisser in Lissa geboren wurde, "dem ehemaligen Hauptsitz der Böhmischen Brüder in Polen (Comeni- us)", vgl. a.a.O., S. 73, dürfte hingegen kaum Bedeutung für seine pädagogischen Nei- gungen und Entwicklungen zugekommen sein. 71 Die Abhandlungen sind wiederabgedruckt in Gerhard Weisser, Beiträge zur Gesell- schaftspolitik, a.a.O., 2. Kap.

42 Werner Wilhelm Engelhardt schaftspolitische Maßnahmen zu gewährleistenden, einzelwirtschaftlichen Strukturvielfalt privater, frei-gemeinnützig-genossenschaftlicher und öffentli- cher Unternehmen bzw. Organisationen. Eine völlig lenkungsfreie Marktwirt- schaft sei allerdings zumindest heute nicht mehr möglich. Verzichte der Staat auf jegliche Lenkung, so wirken auf jeden Fall private Mächte nach ihren Plänen auf den Verlauf der Wirtschaft ein72. Mittels dem durch Lenkungs- maßnahmen initiierten Wettbewerb der unterschiedlichen Unternehmens- bzw. Einzelwirtschaftstypen kann hingegen für Freiheitlichkeit, Gerechtig- keit, Gemeinschaft und zugleich natürlich immer auch ökonomische Effi- zienz in einer Gesellschaftswirtschaft gesorgt werden73. In jüngerer Zeit war es besonders Rolf Prim, der die zahlreichen pädago- gischen Aspekte des Weisserschen Gesamtwerks ausführlich gewürdigt hat. Der Autor wies dabei unter anderem darauf hin, daß Weisser es als sehr wich- tig empfunden hat, insbesondere junge Menschen zum Bekenntnis ihres je- weiligen Wollens zu ermutigen. Dabei habe er sich stets von der erkenntnis- kritischen Einsicht leiten lassen, daß nicht nur in den Wissenschaften, son- dern auch in der Ethik letzte Wahrheitsbeweise schwerlich möglich sind. Die Gewährleistung einer zugleich freiheitlichen und gerechten Gesellschaft hat Weisser nach Prim nur für möglich gehalten, wenn „sozialorganisatorische und sozialpädagogische Mittel zusammenwirken“. Wobei zwei pädagogisch folgenreiche Mittel die Richtung angeben würden: (1.) „müsse man Politi- kern, die ihre Ordnungsbilder gerne vor Kritik schützen, den unbequemen Staatsbürger als pädagogisches Ideal der Demokratie entgegenstellen“. (2.) „müsse man erkennen, daß das oft beklagte politische Desinteresse auch eine Folge von freiheitsbeschränkenden Lebenslagen sein kann, die dem Postulat der Vielgestaltigkeit des sozialen Lebens zuwiderlaufen“74.

72 Vgl. auch Gerhard Weisser, Grenzen und Probleme der Planung, Athen 1965. 73 In Fragen der Gemeinschaft nahm Weisser bereits Vieles von dem vorweg, was der aus Köln stammende israelisch-amerikanische Soziologe Etzioni gegenwärtig betont. Siehe z. B. Amitai Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1995. 74 Rolf Prim, Praktische Sozialwissenschaft, Lebenslageforschung und Pädagogik bei Gerhard Weisser, a.a.O., S. 23 ff., und zuvor Ders., Politik, Moral und Pädagogik. Sozi- alstrukturelle Bedingungen moralischer Haltungspflege, in: Soziale Sicherheit, 38. Jg. (1989), S. 357 ff. Heid, der sich in einigen Veröffentlichungen für eine empirische Sozi- alpädagogik ausgesprochen hat, gestand Weisser zu, daß dieser die wohl stichhaltigsten expliziten Empfehlungen für eine Wertbindung der Beratungstätigkeit gab. Vgl. Helmut Heid, Zur logischen Struktur einer empirischen Sozialpädagogik, in: Erziehung in einer ökonomisch-technischen Welt. Festschrift für Friedrich Schlieper zum 70. Geburtstag, Freiburg 1967, S. 74 ff. u. hier S. 87.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 43

10. Weisser hielt zweifellos einen demokratischen „Freiheitlichen Sozia- lismus“ im Rahmen einzelwirtschaftlich ausgebauter marktwirtschaftlicher Systeme für real möglich. Dies übrigens nicht unähnlich Eduard Heimann, mit dem Weisser bereits in den 20er Jahren und besonders 1931 auf der Ho- hensyburg-Tagung für Gemeinwirtschaft eng zusammengearbeitet hat75. Heimann wollte in jenen Jahren bekanntlich einen „religiösen Sozialismus“ verwirklicht sehen. Weisser ist vergleichbar auch mit dem bedeutenden Sys- temtheoretiker und Vertreter der institutionellen Verteilungstheorie Oester- reichs, Karl Polanyi, der im Anschluß an skandinavische Entwicklungen in den USA den Satz geprägt hat: „Sozialismus ist im wesentlichen die einer In- dustriegesellschaft innewohnende Tendenz, den sich selbst regulierenden Markt dadurch zu überwinden, daß er bewußt einer demokratischen Gesell- schaft untergeordnet wird“76. Gerhard Weisser machte sicherlich der deutschen Sozialdemokratie durch sein stetes Bemühen um verfassungsgemäße Reformen zu einer Zeit Mut, als sie für eine lange Periode in Bonn mit der Oppositionsrolle Vorlieb nehmen mußte. Gegenüber dem zweifelnden Titel eines bekannten Buches von 1948 - veröffentlicht durch den Sankt Gallener Nationalökonomen Walter Adolf Jöhr – „Ist ein freiheitlicher Sozialismus möglich?“ oder gegenüber der be- kannten späteren bundesdeutschen Wahl-Parole „Freiheit oder Sozialismus“ entwickelte er in einem Buch und in Vorträgen eine Anzahl Gegenargumen- te77. Sie greifen zurück auf ein buchstarkes Manuskript von 1932 über den „freiheitsliebenden“ Sozialismus als Kontrastprogramm zum kollektivisti- schen Sozialismus. Die Drucklegung dieses Manuskripts war freilich zu Be- ginn des Nationalsozialismus nicht mehr möglich. In einer daran anknüpfen- den Arbeit von 1947 heißt es: „Der freiheitliche Sozialismus will, daß wir nicht in eine bürokratische, von oben zentralistisch geregelte Wirtschaft gera- ten, bei der der einzelne Mensch voll und ganz seine eigene Initiative verliert, bei der alles von oben her befohlen wird, daß wir vielmehr den Gedanken der Gemeinschaft mit der Pflege der persönlichen Initiative auch des kleinen Mannes verbinden“78.

75 Vgl. Die Hohensyburgtagung für Gemeinwirtschaft 1931, als Manuskript gedruckt, hrsg. vom SPD Bezirk Westliches Westfalen, Dortmund 1932, Neuausgabe Göttingen 1969. 76 Siehe Karl Polanyi, The Great Transformation, New York 1957, S. 324. 77 Vgl. besonders Gerhard Weisser, Freiheit durch Sozialismus, Göttingen 1973. 78 Gerhard Weisser, Sozialisierung bei freisozialistischer Wirtschaftsverfassung, Göttin- gen 1947, S. 9. Die hier argumentativ zum Ausdruck kommende Einstellung bezeichnet eine frühe Gegenposition auch zu v. Hayeks verallgemeinernder Ablehnung jeder Art des Sozialismus. Vgl. von diesem Autor vor allem: Friedrich August von Hayek, Der

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Hans Albert hat Weisser noch 1986 ausdrücklich darin zugestimmt, daß die „Hilfe zur Selbsthilfe“ – die von Albert als liberale Lösung charakterisiert wird –, auch in der Programmatik des deutschen freiheitlichen Sozialismus und hier vor allem in den Schriften Gerhard Weissers zu finden sei. Im übri- gen weist Albert darauf hin, daß bei der Behandlung ordnungspolitischer Probleme „auf die tatsächlichen Verhältnisse Rücksicht zu nehmen“ sei. Und dazu gehöre die z.B. von Bertrand de Jouvenel betonte Tatsache, daß für die meisten Menschen die „Freiheit ... nur ein sekundäres Bedürfnis“ ist, „im Vergleich zum Primärbedürfnis der Sicherheit“79. Als früher Gesprächspartner Kurt Schumachers, späterer Vorsitzender des Vorstands und dann Ehrenpräsident der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie als Mitglied sämtlicher Programmkommissionen der SPD vor dem Godesberger Parteitag gehörte Weisser zweifellos auch zu den Vätern des „Godesberger Programms“. Selbst wenn diese Tatsache heute in Veröffentlichungen nicht immer ersichtlich ist oder in Vorträgen gelegentlich zu kurz kommt. Nicht zuletzt der in der Stiftung vorbildlich deponierte umfangreiche Nachlaß Wei- ssers – insgesamt 75 laufende Meter mit 1933 Signaturen – zeigt klar seine Bedeutung und dies auch auf diesem parteipolitischen Gebiet.

VI. Zur geschichtlichen Einordnung der Forscher- persönlichkeit Gerhard Weissers

Ich fasse meine Ausführungen in zwei Punkten zusammen und ergänze sie durch einen dritten und letzten Aspekt: Gerhard Weisser war als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, der von früh an starke staats-, gesellschafts- und moralphilosophische Neigungen bzw. ethische Orientierungen erkennen ließ, (1.) ein „Überbringer“ wichtiger Erkenntnisse der idealistischen und kriti- zistischen deutschen Philosophie und Anthropologie des 18. und 19. Jahr- hunderts. Aber ebenso war er ein Übermittler der klassischen Gemeinwirt- schaftstheorie von Finanzwissenschaftlern, Verwaltungsfachleuten, Wirt- schaftspolitikern und Wirtschaftspraktikern seit der zweiten Hälfte des vori- gen Jahrhunderts bis hin zu solchen des frühen 20. Jahrhunderts. Es ging da- bei vielfach um Aussagen, die längere Zeit – zumal in den Umbruchs- und Kriegszeiten seit 1933 – nicht mehr allgemein gegenwärtig waren und end- gültig verloren zugehen drohten.

Weg zur Knechtschaft (1944), Erlenbach/Zürich 1950; Ders., The Fatal Conceit. The Errors of Socialism, London/New York 1988. 79 Hans Albert, Freiheit und Ordnung, Tübingen 1986, S. 97 ff. u. hier S. 101.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 45

Zu diesen Erkenntnissen gehören natürlich wichtige Aussagen des Philo- sophen Immanuel Kant, aber – in direkter oder indirekter Anknüpfung – mehr noch solche von Jakob Friedrich Fries, der Nationalökonomen und prakti- schen Verwaltungsexperten Albert Schäffle, Adolph Wagner, Lorenz von Stein, Victor Aimé Huber, Johannes von Miquel u.v.a. Aus dem Schrifttum des 20. Jahrhundert ist außer an die wissenschaftstheoretisch-methodo- logischen und sozialpolitischen Grundlagenarbeiten Max Webers z.B. an Ab- handlungen von Ferdinand Tönnies zu denken, aber etwa auch an solche Mar- tin Wagners. Letzterer war – um diesen heute eher ungeläufigen Namen noch etwas zu erläutern – als Stadtbaurat Berlins ein bedeutender Pionier produk- tivgenossenschaftlicher Bauunternehmen in nichtgenossenschaftlicher Rechtsform, der gewerkschaftlichen „Bauhütten“. Weisser hat dessen Gedan- ken im Anschluß an ein von ihm erstattetes Gutachten zur Vertriebenen- und Flüchtlingsfrage in einer Schrift aus dem Jahre 1956 unter dem Titel „Pro- duktivere Eingliederung“ aufgegriffen80. Von dem Kantianer Fries hat Weisser die bereits erwähnte Methode der deduktiv-regressiven Gewinnung bzw. des zergliedernden Aufweises soge- nannter „unmittelbarer Erkenntnis“ übernommen, von der schon kurz die Re- de war. An einer Stelle seiner Abhandlung über „Freiheitlich-sozialistische Stilelemente im Leben der Arbeiterschaft“ bzw. der Arbeiterbewegung cha- rakterisiert er die Methode im Anschluß an Fries, aber auch Max Webers Sicht des Idealtypus einbeziehend, wie folgt:

„Wir gehen von den durch Beobachtung feststellbaren einzelnen Handlun- gen von Angehörigen dieser Bewegung aus und schließen regressiv auf die diesen Handlungen als Motive zugrundeliegenden letzten Voraussetzun- gen, um dann – nunmehr progressiv – von diesen obersten Maximen der Bewegung aus durch ihre Anwendung auf die gegebene historische Situati- on zur Einsicht darein zu gelangen, was diese Bewegung aus ihrem Eigen- wesen heraus konsequenterweise wollen muß. Beobachtungsobjekte sind dabei ... nicht die ´durchschnittlichen` Verhaltensweisen, sondern das Ver-

80 Die Schrift ist die völlig umgearbeitete zweite Auflage des ursprünglich 1952 dem damaligen Hauptamt für Soforthilfe erstatteten Gutachtens zur Förderung der "Einglie- derung der Vertriebenen und anderer Eingliederungsbedürftiger". Es enthält auch eine Auseinandersetzung mit Franz Oppenheimers Konzept zu Fragen der Produktiv- bzw. Siedlungsgenossenschaften, mit der sich Weisser seit seinem Göttinger Studium intensiv beschäftigt hat; vgl. dazu a.a.O., S. 91 ff. u. 132 ff. Siehe zu diesem Problemkreis auch Gerhard Weisser, Einwände gegen Franz Oppenheimers wirtschaftspolitisches Pro- gramm, Rundbriefe Reihe A des Internationalen Jugend-Bundes, 12. Brief, Juni 1922; Werner Kruck, Die gewerbliche Produktivgenossenschaft in Deutschland. Ein theorie- geschichtlicher Beitrag, in: ZfgG, Bd. 43, 1993, S. 197 ff., hier S. 209 ff.

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halten derjenigen Einzelnen oder Gruppen, die den Typ am reinsten vertre- ten“81.

Der Philosoph Ernst Cassirer meinte allerdings zu dieser Methodik 1920, daß das Fries`sche Vorgehen bezüglich des Aufweises unmittelbarer Er- kenntnis wieder ganz nahe an jenes Verfahren heranrücke, das Kant als „me- taphysische Deduktion“ beschrieben habe und überwunden glaubte. „Denn hier handelt es sich nicht darum, aus einer Mehrheit beobachteter Einzelfälle versuchsweise ein allgemeines Gesetz abzuleiten: sondern hier wird von ei- nem typischen Fall ausgegangen, um in ihm ein Allgemeines als seine Vor- aussetzung aufzuweisen“. Cassirer fuhr dann fort: „Aber wie kann etwas auf dem Wege der psychologischen Beobachtung aufgewiesen werden, was nie- mals einen tatsächlichen Inhalt des Bewußtseins bilden kann, was in ihm un- mittelbar gar nicht vorkommt?“ Um einen modernen Ausdruck für dieses Verfahren einzusetzen, handele es sich bereits um eine frühe Annäherung an die „eidetische Wesensschau“ im Sinne des späteren Edmund Husserl, wobei die Möglichkeiten der Logik überstrapaziert würden. „Die angeblich rein fak- tische Deduktion wird hier zu einem logischen Rückschluß; die reine Aus- sprache der Tatsachen wandelt sich in eine hypothetische Annahme über die Bedingungen, die jenseits des psychologisch Erfahrbaren im dunklen ´Fond` unseres Bewußtseins vorauszusetzen sind“82. Auch die Nelson-Schülerin und spätere Bremer Professorin Grete Henry- Hermann gab 1953 zu, daß es „keine reinen, d.h. von den sinnlichen Anre- gungen des Interesses unabhängigen Antriebe“ gebe, wie Fries und Nelson offenbar annahmen83. Lothar Neumann hat solchen Beurteilungen freilich da- durch widersprochen, daß er Fries Metaphysik als ein durchaus offenes Sys- tem regulativer Prinzipien interpretierte, das alle Relikte eines apodiktischen Apriorismus – wie Nelson ihn in der Folgezeit vertrat – eliminierte84. Und

81 Gerhard Weisser, Freiheitlich-sozialistische Stilelemente im Leben der Arbeiterschaft, a.a.O. S. 8. 82 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neue- ren Zeit, 3. Bd., Die nachkantischen Systeme, Berlin 1920, S. 447 ff., hier S. 467 f. u. 470 f. 83 Grete Henry-Hermann, Die Überwindung des Zufalls. Kritische Betrachtungen zu Le- onard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft, in: Minna Specht und Willy Eichler (Hrsg.), Leonard Nelson zum Gedächtnis, Frankfurt/Göttingen 1953, S. 25 ff., hier S. 62. Siehe neuerdings auch Dieter Birnbacher, Die Aktualität des Nelsonschen Denkens, in: Akademie der politischen Bildung (Hrsg.), Kulturelle Unterschiede, Men- schenrechte und Demokratie, Bonn 1998, S. 13 ff. , hier S. 24. 84 Vgl. Lothar F. Neumann, Rezension von Leonard Nelson: Gesammelte Schriften in neun Bänden, in: Ratio, 18. Bd., 1977, S. 152 ff., hier S. 154. Siehe auch Ders., Kriti-

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 47

Siegfried Katterle hat betont, daß Weisser seine ursprüngliche Fries`sche Po- sition der Stützung auf unmittelbare Erkenntnisse des Gewißheithabens später revidiert hat. Grunderkenntnisse und Grundentscheidungen werden von ihm danach nicht mehr als endgültig und jedem kritischen Einwand entzogen hin- gestellt85. (2.) Gerhard Weisser war aber nicht nur Überbringer älterer Erkenntnisse und Wertungen. Vielmehr nahm er zugleich wichtige Überlegungen und Ver- fahren der Gegenwart „vorweg“. Auch wenn seine infolge NS-Regime und Kriegszeit erst mit 45 Jahren erfolgte Habilitation und sein mit 52 Jahren er- folgter Ruf auf eine ordentliche Professur die Vollendung seiner vielen Pro- jekte, die ihn bis zu seinem Tode unablässig beschäftigten, nicht mehr zuließ. Seine Forschungsansätze und -ergebnisse sind deshalb nach seinem Abtreten im Jahre 1989 heutzutage kaum mehr aus den Disziplinen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wegzudenken. Die vielleicht wichtigsten Beispiele dazu habe ich bereits genannt. Die Liste könnte aber sicherlich noch erweitert werden86. Übrigens verband Weisser nicht nur mit den bereits erwähnten zahlrei- chen Kollegen sowie Genossenschaftswissenschaftlern vom Range Georg Draheims, Reinhold Henzlers87 und Georg Weipperts, sondern auch mit eini- gen Häuptern der „Freiburger Schule“ der Nationalökonomie sowie nicht zu- letzt mit Alfred Müller-Armack beachtlich Vieles. Frühe Kontakte gab es in

scher Rationalismus und antiplatonischer ´Neo-Normativismus` im Lichte der ´kritischen Philosophie`", in: Arch. f. Rechts- u. Sozialphilosophie, Vol. LV/1, 1969, S. 73 ff. und nochmals Jakob Friedrich Fries, Sämtliche Schriften, 1. Abt., Bd.5, a.a.O., S. 294 ff. 85 Siehe Siegfried Katterle, Sozialwissenschaft und Sozialethik, a.a.O., S. 54, im An- schluß an Gerhard Weisser, Die "praktischen Aussagen von Politologie und Wirt- schaftswissenschaft, in: Carl Böhret und Dieter Grosser (Hrsg.), Interdependenzen von Politik und Wirtschaft. Festschrift für Gert von Eynern, Berlin 1967, S. 112. 86 So gab Weisser auch beachtenswerte Anregungen zum Gesundheits- und Kranken- hauswesen, zur Gewerkschafts- und Verbraucherpolitik, zur Entwicklungsländerpolitik, zur Versicherungswissenschaft, zu den soziographischen und statistischen Begriffsbil- dungen und Interpretationsmethoden, schließlich zur Geschichtsinterpretation und Schu- lenbildung sowie zum Verhältnis der verschiedenen Wissenschaften – insbesondere na- türlich Sozialwissenschaften – zueinander und zu den Einzeldisziplinen der Philosophie. 87 Vgl. dazu u.a. Gerhard Weisser, Erkenntnis- und Bewertungsgegenstände der Genos- senschaftslehre sind alle Genossenschaften im wirtschaftlichen Sinne, in: Ders. (Hrsg.), Genossenschaften und Genossenschaftsforschung. Festschrift für Georg Draheim, Göt- tingen 1968, 2. Aufl. 1971, S. 3 ff.; Ders., Logische Bemerkungen über den Begriff "Genossenschaft", in: Karl Alewell (Hrsg.), Betriebswirtschaftliche Strukturfragen. Fest- schrift für Reinhold Henzler, Wiesbaden 1967, S. 13 ff.

48 Werner Wilhelm Engelhardt

Fragen der Lebenslageforschung mit Alexander Rüstow, der seit den 20er Jahren sein Konzept der „Vitalpolitik“ entwickelt hat, das der Lebenslagefor- schung im Rahmen der Sozial- bzw. Gesellschaftspolitik vergleichbar ist. Mindestens seit 1937/38 stand Weisser mit Walter Eucken, Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth in zeitweise recht engem Gedankenaustausch, der natürlich gegenseitige Kritik nicht ausschloß88. Zu den engeren Berührungspunkten gehörten dabei die Methodologie, d.h. vor allem die Morphologie und Typologie. Sie hat Weisser allerdings in teil- weisem Unterschied etwa zu Eucken in einem semantisch nichtessentialisti- schen Sinne weiterzuentwickeln versucht. Übereinstimmung gab es mit den Ordoliberalen zweifellos auch in der Abneigung gegenüber einem freiheits- feindlichen Dritten Reich sowie in der Befürwortung eines aktiven Christen- tums. Weissers eigene Betätigung in der Evangelischen Kirche gibt davon Zeugnis89. Was Müller-Armack angeht, waren dieser Autor und Weisser besonders in Fragen der Stilforschung seit der Vorkriegszeit zweifellos einander nahe. Aber auch in Fragen der sozialen Marktwirtschaft waren sie von Anfang an keine Antipoden, wie der Kieler Politologe Werner Kaltefleiter im letzten Jahr in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Eindruck

88 In seinem Beitrag zur Festschrift für Franz Böhm zu dessen 80. Geburtstag, der den Titel trägt: Das Erfassen und Werten realisierter und erstrebter Gesellschaftsgestalten als historischen Individuen, heißt es dazu gleich zu Anfang in einer Fußnote: "Franz Böhm ließ zusammen mit Großmann-Doerth u. Walter Eucken mich, den in der Zeit des natio- nalsozialistischen Regimes politisch Verfehmten, in ihrem gemeinsamen Seminar vor etwa hundert Studierenden der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft über Franz Oppen- heimer referieren; dies ausgerechnet unter der Herrschaft jenes antisemitischen Re- gimes". Vgl. Heinz Sauermann und Ernst-Joachim Mestmäcker (Hrsg.), Wirtschaftsord- nung und Staatsverfassung, Tübingen 1975, S. 667. 89 Siehe dazu auch die Beiträge von Gerhard Weisser zu Festschriften für Friedrich Kar- renberg, Oswald von Nell-Breuning SJ und Artur Rich. Die Abhandlung für Karrenberg hat den Titel: "Das Postulat ´verantwortliche Gesellschaft`, erkenntniskritisch und sozi- alwissenschaftlich erörtert" und ist enthalten in Joachim Beckmann und Gerhard Weis- ser (Hrsg.), Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, Stuttgart/Berlin 1964, S. 70 ff. Der früher bereits erwähnte Beitrag zur Festschrift für Oswald von Nell-Breuning trägt die Überschrift "Die zunehmende Organisierungsbedürftigkeit der Gesellschaft und ihre Probleme", in: Hans Achinger et al. (Hrsg.), Normen der Gesellschaft, Mannheim 1965, S. 173 ff. Die Festgabe für Rich ist überschrieben "Glaubensgewißheit und heuti- ge Wertens- und Erkennenskritik", enthalten in dem vom Institut für Sozialethik an der Universität Zürich herausgegebenen Buch: Christliche Wirtschaftsethik vor neuen Auf- gaben, Zürich 1980, S. 111 ff.

Zum Lebenswerk Gerhard Weissers 49 erweckt hat90. Man vergleiche in diesem Zusammenhang etwa nur den Bei- trag Weissers über „Probleme beratender Sozialwissenschaft“ in der Festgabe für Müller-Armack in der Festgabe von 1961. Oder auch die anregende Ge- gengabe von Müller-Armack zur ersten Weisser-Festschrift von 1963 zum Thema „Gedanken zu einer sozialwissenschaftlichen Anthropologie“. Egon Tuchtfeldt hat diese Abhandlung m. E. völlig zu Recht dem Vergessenwerden entrissen und in der Kölner Zeitschrift für Wirtschaftspolitik in weiterführen- de eigene ordnungspolitische Überlegungen einbezogen91. (3.) Gerhard Weisser begründete keine Schule. Es gibt mit anderen Wor- ten heute wohl ein „Forschungsinstitut für Gesellschaftspolitik und beratende Sozialwissenschaft e.V.“, derzeit mit Sitz in Bad Überkingen92. Einige der hier Anwesenden gehören dem Institut als Mitglieder an. Aber es gibt keine „Weisserschule“. Die Gründung einer solchen Schule, wie sie beispielsweise Leonard Nelson umgab, hätte den trotz aller gelegentlichen Entschiedenheit des Auftretens undogmatisch-unorthodox verfahrenden Bemühungen des freiheitlich gesonnenen Kantianers Gerhard Weisser sicherlich widerspro- chen. Die bisherigen Lebensläufe sowie die wissenschaftlichen Schwerpunkte und Veröffentlichungen der auf Vorschlag von Gerhard Weisser allein von der Wiso-Fakultät der Kölner Universität nicht weniger als acht habilitierten ehemaligen Mitarbeiter und externen Nachwuchskräfte93 zeigen, daß es sich bei ihnen allen um soziale und liberale Individualisten im besten Sinne des Wortes handelt. Es sind Wissenschaftler mit sehr unterschiedlichen Forscher-

90 Vgl. dazu die Abhandlung von Heribert Klein, Freispruch für Alfred Müller-Armack, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.4.1997, S. 15 und den Leserbrief von Wer- ner Kaltefleiter, Zwei gegensätzliche Kölner Universitätslehrer (an einem der folgenden Tage veröffentlicht ). 91 Vgl. Egon Tuchtfeldt, Die philosophischen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft. Gedanken zur Weiterentwicklung der sozialen Irenik Alfred Müller-Armacks, in: Z. f. Wirtschaftspolitik, 31. Jg. (1982), S. 7 ff.. Siehe dazu auch Werner Wilhelm Engelhardt, Zur Frage des Bezugsrahmens von Selbsthilfegruppen des Gesundheitsbereichs, in: Alb- recht Iwersen und Egon Tuchtfeldt (Hrsg.), Sozialpolitik vor neuen Aufgaben. Horst Sanmann zum 65. Geburtstag, Bern/Stuttgart/Wien 1993, S. 399 ff., hier S. 404 ff.; Ders., Grundprobleme einer personalen Anthropologie und kritizistischen Gemeinwohl- konzeption, a.a.O., S. 87 ff.; Ders., Bemerkungen zum "Dritten" bzw. "Nonprofit- Sektor", zu dessen Binnendynamik und zur Kommunitarismus-Debatte, a.a.O., S. 277 ff. 92 Der Direktor dieses Instituts ist Heinrich A. Henkel, Professor für Sozialwissenschaft an der Fachhochschule Nürtingen mit Wohnsitz in Bad Überkingen. 93 Es handelt sich dabei – in chronologischer Reihenfolge – um Ulrich Pagenstecher, Hans Albert, Otto Blume, Heiner Flohr, Werner Wilhelm Engelhardt, Theo Thiemeyer, Lothar F. Neumann und Siegfried Katterle.

50 Werner Wilhelm Engelhardt interessen, divergierenden Einstellungen und vielfach voneinander abwei- chenden letzten Bekenntnissen. Sie hat Gerhard Weisser gleichermaßen tole- riert und gefördert. Wieviele der heute aktiven Hochschullehrer können schon Gleichartiges von sich sagen? Michael Vester hat im Zusammenhang neuerlichen Nachdenkens darüber, was unsere Gesellschaft trotz zahlreicher Konfliktfelder heutzutage weiterhin zusammenhält, kürzlich m. E. treffend von einer „emanzipatorischen Indivi- dualisierung“ gesprochen“, die dabei eine große Rolle spiele. Dieses Charak- teristikum nicht nur der Selbstverwirklichung, sondern vor allem der Kompe- tenzerweiterung und stark gewachsenen Bereitschaft zur Partizipation in ih- ren vielfältigen Formen94 trifft m. E. auch im vorliegenden Falle zu. Es gilt sowohl für das Selbstverständnis der von Gerhard Weisser Habilitierten ehe- maligen Mitarbeiter und von außen kommenden jungen Wissenschaftler als auch und vor allem für die Art und Weise, wie Gerhard Weisser ihnen allen, aber auch den zu prüfenden oder Rat begehrenden Studenten stets begegnet ist.

94 Vgl. Michael Vester, Kapitalistische Modernisierung und gesellschaftliche (Des-)In- tegration. Kulturelle und soziale Ungleichheit als Problem von "Milieus" und "Eliten", in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Bd. 2, Was hält die Gesellschaft zusammen? Frank- furt/M. 1997, S. 149 ff., hier S. 175 ff.