Kultur

MUSIK Draculas sanfte Tochter , die Poetin des Punkrock, hat ihre Memoiren geschrieben: einen großen Gesang auf die New Yorker Kunstboheme der wilden sechziger und siebziger Jahre und auf ihren toten Freund Robert Mapplethorpe.

ie steht unter Beobachtung. Es gibt Richtig böse Menschen kommen nur da, glaubt Patti Smith, diese verbor - am Anfang vor. Da erzählt Smith von ih - Sgene Kamera, deren Auge auf ihr rer Kindheit im ländlichen New Jersey ruht. „Schon als Kind war ich mir sicher, und der Geburt ihres ersten Kindes, das dass immer jemand bei mir ist“, sagt sie, sie, damals „komplett unreif“, als 20-Jäh - „und mich filmt bei allem, was ich tue.“ rige in einem Hospital in der Nähe von Es sind keine Paparazzi oder Spione, Philadelphia zur Welt brachte und nach die Patti Smith mit der Kamera verfolgen. der Geburt zur Adoption weggab. Die „Es ist Gott“, behauptet sie. Sie sagt es Krankenschwestern weigerten sich trotz ruhig, mit kratziger Stimme, und blickt Smiths fortgeschrittener Wehen, einen herausfordernd durch ihre Nickelbrille, Arzt zu rufen. Stattdessen verhöhnten sie die aussieht wie aus der Urzeit der Opti - das Mädchen wegen seines Hippielooks kerkunst. als „Draculas Tochter“. Sie sei weder Katholikin noch Protes - Smiths Erinnerungsbuch heißt „Just tantin und auch keine Buddhistin, und Kids“ und ist in den USA Mitte Januar sie wisse nicht mehr genau, ob sie fünf erschienen, die deutsche Version kommt oder sieben Jahre alt war oder neun, nächste Woche heraus*. Dessen Haupt - „aber eines Tages fing ich an, mir Gott person, sagt Smith, sei in Wahrheit gar als den großen Filmemacher vorzustellen, A nicht sie. „Ich habe dieses Buch für und N T E R und durch seine Linse hat er mich immer über Robert Mapplethorpe geschrieben.“ /

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im Blick“. L Den Fotografen Robert Mapplethorpe, S S

Es ist ein klirrender Januartag in New E ihren „geliebten Zwilling“, traf sie im K

A York, Patti Smith, 63, stapft durch eine U Sommer 1967 in einer Buchhandlung, in H S O Kunstgalerie im Stadtteil Chelsea. Sie J der Smith jobbte, sie waren beide 20 und trägt Winterstiefel, eine schwarze Pluder - Popstar Smith abgebrannt und neu in der Stadt. Smith hose und einen schwarzen Pullover, die Erweckungserlebnis bei den Doors hatte nicht mal einen festen Schlafplatz. Splisshaare sind durchzogen mit grauen „Er hat mich gerettet, er war mein Ritter Strähnen. Sie steuert auf eine Skulptur Patti Smith gelang mit „Horses“ eine in schimmernder Rüstung“, sagt Patti zu, die aus weißem Tuch, einem Koffer, Pop-Sensation, wie sie selbst eine Stadt Smith. In der Kunstgalerie in Chelsea hat ein paar vollgeschriebenen Blättern und wie New York höchstens alle zehn Jahre sie eine Art Totengedenkschrein für einer alten Schreibmaschine besteht. mal ausspuckt. Wie ein Racheengel trat Mapplethorpe aufgestellt. Ein paar sehr Dann packt sie die Schreibmaschine, tippt da eine klapperdürre Frau in Männer- feminine Herrenschuhe aus schwarzem ein paar Wörter und ruft: „Sehen Sie, die kleidern ins Rampenlicht, die zu Gitar - Samt liegen darin und ein handgeschrie - funktioniert noch perfekt!“ renlärm zornig ihre Songs und Gedichte bener Brief. „Das sind die Slipper, in de - Es ist ihre eigene Schreibmaschine, auf vortrug, besoffen von der Lyrik toter nen er gestorben ist“, sagt sie. Der Brief der sie viele Jahre lang Gedichte und französischer Poeten und entschlossen zu ist in einer schönen, fast kalligrafischen Songtexte geschrieben hat, und es ist ihre blasphemischer Ekstase. „Jesus died for Handschrift verfasst, von ihr. Es ist ein eigene Ausstellung mit dem Titel „Ob - some body’s sins, but not mine“, war ihr Brief an Robert Mapplethorpe, einer von jects of Life“. Die Schreibmaschine sei Nachtgebet – für sie hatte man Christus Hunderten, die sie ihm schrieb. ein mit Erinnerungen aufgeladenes Werk - nicht ans Kreuz genagelt. Der Fotograf starb 1989 an Aids. Als zeug für sie, sagt sie, „lange Zeit war sie Die New Yorker Szene tobte vor Be - Patti Smith und er ein Liebespaar wurden, so ziemlich das Wertvollste, was ich be - geisterung. In London, wo man gerade ahnte sie nicht, dass ihr schüchterner saß“. dabei war, jenen Punkrock zu erfinden, Freund bald sehr viel enthemmter mit Smith hat die Objekte und die Men - den Smith schon in die Welt röhrte, keifte Männern ins Bett gehen konnte als mit schen ihres Lebens nicht bloß zu einer die Autorin Julie Burchill 1978 neidisch Frauen. Ausstellung geordnet, sondern auch zu gegen die angeblich überschätzte „dum - Patti Smith scheint selbst zu finden, einem Buch. Zehn Jahre lang hat sie da - me, alte Vettel“. dass ihre damalige Ahnungslosigkeit nicht ran geschrieben. Sie hat aus Tagebuch - Und jetzt, im Jahr 2010, bringt die einst ohne Komik ist. Mapplethorpe, auf des - notizen, Briefen und Fotos einen Er - mit so viel Donner etablierte Heldin ein sen Bildern die Pimmel, Hinterteile und innerungsreigen geformt, der ihr ganzes wunderbar lyrisch geschriebenes Buch her - Muskeln schöner junger Männer mit Leben umfasst. Im Wesentlichen aber aus, das von Armut und Hunger handelt, erzählt er von den acht Jahren zwischen „von einer Zeit, in der jeder spürte, dass * Patti Smith: „. Die Geschichte einer Freund - ihrer Ankunft in New York im Jahr 1967 etwas Neues in der Luft lag“, wie sie sagt, schaft“. Aus dem amerikanischen Englisch von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Verlag Kiepenheuer bis zur Veröffentlichung ihres Debüt - vom Glück des Jungseins und von künst - & Witsch, Köln; 304 Seiten; 19,95 Euro. Erscheint am albums „Horses“ 1975. lerischer und erotischer Leidenschaft. 18. März.

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Smith-Konzertauftritt, um 1975 E N I H S N U S

& '%  ! 10/2010 111 Kultur titanischer Kühle inszeniert sind, gilt wege mich gern auf den Pfaden der Erin - Buch. An Morrison habe sie „die Mi - heute nicht bloß als geschätzter Erneue - nerung“, sagt sie. „Und ich bin froh, dass schung aus Schönheit und Selbsthass rer, sondern als Klassiker der schwulen nicht alle Orte verschwunden sind, an de - und mystischem Schmerz“ interessiert, Ikonografie. „Ich war wirklich vollkom - nen wir uns damals herumtrieben.“ schreibt sie. Aber sie verschweigt, was men überrascht, als er mir sagte, er sei Im Frühjahr 1968 brach Patti Smith für eine Sensation ihre eigenen wüsten schwul“, sagt Smith mit einem schmalen eines Abends zu einem Konzert auf, Gesten waren, ihr Schmerz, ihr Kojoten - Lächeln. „Ich habe einfach nicht begrif - das ein Erweckungserlebnis wurde. Die geheul, ihre vermeintliche Hässlichkeit, fen, was mit ihm vorging. Klar, ich spürte, Doors spielten im , Jim Mor - die auch damit zu tun hat, dass ihren El - dass ihn irgendetwas im Innersten beun - rison posierte als Rock-Märtyrer auf der tern das Geld gefehlt hatte, ihr Schielen ruhigte und vielleicht sogar unglücklich Bühne, und während alle anderen ausras - korrigieren zu lassen. machte. Aber er liebte mich, ich liebte teten vor fiebriger Begeisterung, habe sie Es ist nicht nur Bescheidenheit, derent - ihn. Und wir hatten das, was man heute ihn betrachtet „in einem Zustand kalter wegen Patti Smith kein Aufhebens dar- eine gesunde sexuelle Beziehung nennt. Überwachheit“, so schreibt sie. Plötzlich um macht, wie sie von 1975 an die O ja!“ sei ihr durch den Kopf geschossen: „Ich Rock’n’Roll-Welt zum Beben brachte und Die zentrale Story des Buchs schildert könnte das auch.“ wie sie zur Göttin des Punkrock wurde, nicht, wie Smith und Mapplethorpe für Es ist das einzige Mal im Buch, dass bevor es mit dem richtig losging. Wie ihr viele Monate weiter zusammenklebten, Smith bekennt, sie habe Scham empfun - Freund William S. Burroughs eine „Scha - während er männliche Liebha - manin“ in ihr erkannte und ihr zeitweili - ber hatte und sich aus Geldnot ger Liebhaber Sam Shepard sie wegen als Stricher verdingte. Beschwo - ihrer „leidenschaftlichen Arroganz“ an - ren wird der Aufbruch eines himmelte. merkwürdigen Königskinder - Patti Smith hat die Rollen gewechselt. paares in eine aufregende und Früher mag sie eine unberechenbare, manchmal gefährliche Wunder - manchmal auch rumpelstilzhafte Hohe - welt: in die „brotherhood of La priesterin des Aufruhrs gewesen sein, heu - Bo hème“, wie Smith sie nennt, te ist sie eine Vestalin der Sanftmut. die Künstlerwelt im New York Smith lebt in Frieden mit der Welt. Sie der späten sechziger Jahre. hat 1979 nach ihrem größten Konzert in Der Ort, der Smith und Florenz vor 70 000 Menschen einfach ih - Mapplethorpe als Basislager ren Job als Rockstar hingeschmissen und diente, war das Hotel Chelsea sich am Rande von Detroit viele Jahre in der 23. Straße. Hier, wo viele lang fast ausschließlich um ihren Mann berühmte und nicht so be - Fred „Sonic“ Smith, der 1994 starb, und rühmte Künstler gewohnt ha - um ihre beiden gemeinsamen Kinder ge - ben, kamen sie im Sommer 1969 kümmert. In „Just Kids“ widmet sie ih - unter, weil der Chef des Hauses rem toten Gatten nur eine einzige Zeile: sich die Kunstwerke der beiden dass er „ein König unter den Männern“ armen Schlucker ansah und be - gewesen sei, die ihn als solchen auch ach - schloss, sie notfalls als Zahlungs - teten. mittel anzunehmen. Seit 1996 lebt sie wieder in New York, Im Chelsea saß Smith halbe hin und wieder tritt sie mit ihrer Band Tage im Foyer, schloss Bekannt - auf. Auf ihren Reisen spaziert sie gern schaft mit Janis Joplin, Bob über Friedhöfe und besucht die Gräber A G

Dylans Kumpan Bob Neuwirth N großer Dichter. A L und allen möglichen New Yor - A In ein paar Jahren will Patti Smith aus M

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ker Dichtern. Im Chelsea begeg - A New York wegziehen, irgendwohin ans R E nete sie Salvador Dalí, der sie G Meer. Verglichen mit den Siebzigern sei eine „Krähe“ nannte und das Freunde Smith, Mapplethorpe 1971: „Sexuell – o ja!“ die Stadt heute lahm und teuer. „Alles wohlwollend meinte. Im Chel - läuft auf Gier hinaus in dieser Stadt. Ich sea schnitt sie sich wie wild die Haare, den. Warum? „Weil er der große Jim Mor - habe mein Atelier verloren, als jemand als sie von jemandem aus Andy Warhols rison war, ein Rock’n’Roll-Gott und ein dem Besitzer doppelt so viel bot und den Entourage als Joan-Baez-Doppelgängerin großer Dichter“, antwortet sie. „Und da Zuschlag bekam. Begabte junge Leute verspottet worden war. Von da an wollte stehe ich, ein dürres, bleiches Mädchen ohne Geld wohnen heute nicht mehr in sie eine Keith-Richards-Doppelgängerin aus New Jersey, das im Buchladen jobbt. Manhattan.“ sein. Ich sehe ihn an und sage: Ich könnte das Plötzlich stoppt Patti Smith ihr Lamen - Vier Jahrzehnte später ist sie gerade auch.“ to. „Das ist die Geschichte der Kunst seit wieder im Chelsea gewesen, vor zwei „Just Kids“ erzählt auch vom legen - eh und je“, sagt sie. „Junge Künstler ge - Tagen. Von dem schönen Haus am Rand dären ersten Auftritt der Dichterin Patti hen in eine abgerissene Gegend, um die von SoHo, in dem sie wohnt, kann sie Smith 1971 in der St. Mark’s Church im sich keiner kümmert, nur die Penner und zu Fuß zum Hotel laufen. „Sie haben es East Village. Lenny Kaye, einer ihrer die Künstler, die Säufer und die Punk - herausgeputzt und ein paar Zimmer Freunde, spielte Gitarre, während sie ihre rocker, und wenn sie das Viertel lebendig neu aufgeteilt, aber im Grunde ist es Gedichte vorlas. Die Absprache der bei - gemacht haben, dann werden alle hin - immer noch derselbe alte Kasten“, sagt den habe vor allem in einer Frage bestan - ausgeworfen, und es ziehen die reichen Smith. den: „Kannst du mit deiner elektrischen Leute hinterher und die, die auf ihr Geld Sie hat einen leicht schlurfenden Gang, Gitarre den Lärm eines Autounfalls nach - scharf sind.“ den Körper nach vorn gekrümmt, wo - machen?“ Die kommen dann in Patti Smiths durch sie stets etwas zerstreut und mit Erstaunlicherweise kommen die Ge - nächstem Buch vor, an dem sie bereits sich beschäftigt wirkt, aber jeder ihrer walt und der Zorn, die Smith berühmt schreibt. Es soll ein Kriminal roman wer - Sätze ist klar und entschieden. „Ich be - machten, so gut wie nie vor in ihrem den. W#! " H$!

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