Theresa SPECHT
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Japanische Gesellschaft fur Germanistik Theresa SPECHT KURDISCHE EXILLITERATUR IM DEUTSCHSPRACHIGEN KONTEXT EINLEITUNG Am 21. März feiern die Kurden das Neujahrsfest Newroz. Es ist der wichtigste Feiertag im Jahr, und das Newrozfest 2013 war ein historisch bedeutungsvol les: Im Zuge der wiederaufgenommenen Verhandlungen mit der türkischen Regierung rief der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan an diesem Tag erneut zu Waffenruhe und Friedensverhandlungen auf. Obwohl Öcalan seit 1999 im Einpersonengefängnis auf der Insel Imrah im Marmara-Meer inhaftiert und durch zeitweise Besuchsverbote regelrecht von der Außenwelt abgeschnitten ist, ist die Unterstützung in der kurdischen Be völkerung der Türkei ungebrochen. Im Jahr 2013 versammelten sich rund zwei Millionen, und damit weit mehr Menschen denn je zu Newroz in Diyarbakir, der ,Hauptstadt der Kurden' im Südosten der Türkei, und hörten die Verlesung der Neujahrs-Botschaft Öcalans: „Die Zeit des Streits, der Kon flikte und der gegenseitigen Verachtung ist vorbei, die Zeit ist reif für Einheit, Gemeinsamkeit, Umarmung und Vergebung."1 Was ist das für ein kriegerischer Konflikt, der seit Jahrzehnten in der Region besteht und zehntausende Menschen das Leben gekostet hat? Im Folgenden möchte ich das aus der Perspektive literarischer Zeugnisse skiz zieren, nämlich der kurdischen Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext. In germanistischen Forschungen wurde die deutschsprachige kurdische Exilliteratur bislang weitgehend vernachlässigt. Die einzige Forschungsar beit zu diesem Gegenstand erschien 1996 von Mahmood Hama Tschawisch, in der dieser einen facettenreichen Einblick in das Thema bietet und auch einige kurdische Exilautoren in Deutschland vorstellt sowie per Interview selbst zu Wort kommen lässt.2 Zwei Begriffe, die Tschawisch dabei zentral stellt, sind ,Heimat' und ,Identität'. Diese sind jedoch nicht nur streitbare Konzepte - wie die Diskussionen im Zuge des so genannten cultural turn 1 Abdullah Öcalan: Historische Erklärung zu Newroz 2013, in: DieKurden.de, 22. März 2013, o. S. URL: http://www.diekurden.de/news/nordkurdistan/oecalans-historische-erklaerung zu-newroz-2013-0021965/ [29.03.2013]. 2 Die interviewten Autoren sind: Faryad [Feryad] Fazil Omar, Fadil Karim-Ahmad, Hemre§ Re~o, Jemal Nebez und Nazif Telek. 201 NII-Electronic Library Service Japanische Gesellschaft fur Germanistik Theresa SPECHT aufgezeigt haben -, sondern setzen meines Erachtens auch einen fragwür• digen Fokus: Bei der Interpretation von Exilliteratur sollte es nicht in erster Linie um das Selbstverständnis des Autors / der Autorin gehen, sondern um die Hintergründe und Ursachen der Exilsituation. Warum lohnt sich eine Betrachtung kurdischer Exilliteratur im deutsch sprachigen Kontext? In Deutschland leben mehr als eine halbe Million und damit die meisten Menschen kurdischer Herkunft im europäischen Exil. Über Ereignisse, die im Zusammenhang mit der ,kurdischen Frage' stehen, wird in deutschsprachigen Medien nur wenig und meist sehr einseitig berichtet; die deutsche Politik richtet sich im Wesentlichen an der politischen Linie der Tür• kei aus. In der kurdischen Exilliteratur kommen dagegen Stimmen zu Wort, die aus dem offiziellen Diskurs der Herkunftsländer durch Zensur und Straf verfolgung herausgehalten werden.3 Hier wird von Figuren berichtet, die massiven Diskriminierungen und Unrechtbehandlungen bis hin zu Folter und Mord ausgesetzt sind. Diese Texte können deutschsprachigen Lesern so mit den Blick weiten und die aktuellen Entwicklungen im Zweistromland Me sopotamiens besser verstehen helfen. Im Folgenden werde ich zunächst einen thematischen Einstieg in das Thema vornehmen und anhand zweier Gedichte die Situation der Herkunfts region der Autorinnen skizzieren: 1. Kurdistan im Fokus der Literatur. Ein zweites Kapitel stellt den Untersuchungsgegenstand vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Gegebenheiten vor: 2. Was bedeutet ,kurdische' Exil literatur?, und begründet den in diesem Projekt auf den Gegenstand angeleg ten Fokus einer de-essentialisierenden Sichtweise. Abschließend werden kon krete Textbeispiele vorgestellt und daraus zwei Thesen abgeleitet: 3. Aspekte der Literatur mit Bezugspunkt Kurdistan. 1. KURDISTAN IM FOKUS DER LITERATUR Als Einstieg in das Thema mag das Gedicht Kurdistan von Nazif Telek dienen, das dieser 1983 im deutschen Exil schrieb und in dem das grundlegende geo graphische Dilemma der kurdischen Region dargestellt ist. 3 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die eingeschränkte Pressefreiheit, zahlreiche Straf verfahren gegen Schriftsteller und Journalisten sowie politische Gefangene in der Tür• kei. Im Jahr 2014 wurde im Internet das virtuelle ,Museum für Gedankenverbrechen' eingerichtet („Dü~ünce Sw;lan Müzesi / Museum of Crimes of Thoughts", zugänglich auf Türkisch und Englisch), ein Projekt, das „für die Unterdrückung der Meinungsfrei heit und die Verfolgung von Intellektuellen in der Türkei sensibilisieren [möchte]". Ceyda Nurtsch: „Das ,Museum für Gedankenverbrechen?!' Virtueller Spiegel der türki• schen Geschichte", in: Qantara 19.09.2014. URL: http://de.qantara.de/inhalt/das-museum-fuer-gedankenverbrechen-virtueller- spiegel-der-tuerkischen-geschichte [19 .09 .2014 ],o. S. 202 NII-Electronic Library Service Japanische Gesellschaft fur Germanistik Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext Kurdistan Meine vier Teile sind von Feinden umgeben, von Feinden der Freiheit, die in blumenübersäte Bergwiesen Wege für Panzer schlugen. Meine vier Teile werden von Rosengärten umgeben sein, keine Schüsse werden künftig fallen und kein Vogel wird mehr erschreckt auffliegen. In allen vier Teilen werden glückliche Menschen derer gedenken, die für die Freiheit gefallen sind. 4 Zunächst ist der Titel bemerkenswert, denn die Bezeichnung „Kurdistan"5 be zieht sich auf ein geographisches Gebiet in der Region des Zweistromlandes Mesopotamien, jedoch nicht auf ein politisches Gebiet. Die Kurden sind mit rund 30 Millionen Menschen das größte Volk ohne Staat. Ihr Siedlungsgebiet teilt sich auf vier Länder auf: den Iran, Irak, Syrien und - mit der zahlenmäßig größten Gruppe - die Türkei. Im Gedicht wird diese Situation aus der Perspek tive des Landstrichs selbst problematisiert. „Kurdistan", im Titel benannt, bildet hier die Sprechinstanz, und ihr Ausspruch: „Meine vier Teile" wiederholt sich leitrnotivisch zu Beginn jedes Abschnitts (im dritten Abschnitt leicht variiert). 4 NazifTelek: Sehnsucht nach Freiheit. Gedichte. Kurdisch und Deutsch. Frankfurt/M. (Zambon) 1996, S. 30. - Die folgenden zitierten Textstellen aus diesem Gedicht werden lediglich mit der Zeilenangabe versehen. 5 In der Vergangenheit war es zeitweise regelrecht lebensgefährlich, den Namen ,Kurdistan' öffentlich zu gebrauchen, Kurdisch zu sprechen oder zu verkünden, dass man Kurde sei. Die Existenz einer ,kurdischen Identität' wurde geleugnet, Kurden als ,Bergtürken' be zeichnet, deren Sprache lediglich einen Dialekt des Türkischen darstelle. Dabei ist das Kurdische nicht mit dem Türkischen verwandt; es gehört zur indo-europäischen Sprach familie und steht in naher Verwandtschaft zum Persischen, in entfernterer zum Deut schen. Die offizielle Benennung der Autonomen Region Kurdistan im Nord-Irak, deren Entstehung ein leidvoller und langjähriger Krieg vorausgeht, verleiht dem Namen erst mals einen politischen Status. - Im Gedicht ist mit der Bezeichnung jedoch ein geogra phisch größeres Gebiet gemeint. 203 NII-Electronic Library Service Japanische Gesellschaft fur Germanistik Theresa SPECHT Nicht nur ist die Region Kurdistan geteilt, auch sind die Bewohner in die sen Landstrichen massiv in ihren kulturellen und politischen Freiheiten be schnitten. ,Freiheit' ist daher ein Schlüsselbegriff in der kurdischen Literatur. So auch im vorgetragenen Gedicht: Während der erste Abschnitt einen trauri gen Ist-Zustand des Krieges beschreibt - die Wörter „Feinde" (Z. 2), „Panzer" (Z. 5) und „Schüsse" (Z. 9) geben darüber Auskunft-, beziehen sich die bei den folgenden auf eine erhoffte positive Zukunft, in der Kurdistan statt von Feinden „von Rosengärten umgeben sein" (Z. 7f.) wird. Der Krieg, bei dem viele Menschen bereits ihr Leben gelassen haben, soll dann beendet und die Kinder und Enkel der einstigen Widerstandskämpfer von der Unterdrückung befreit sein. Der abschließende dritte Abschnitt drückt diese Hoffnung ein dringlich aus: „In allen vier Teilen werden glückliche Menschen derer geden ken, die für die Freiheit gefallen sind." (Z. 14-18) Der Wunsch nach Freiheit und Frieden für die nachfolgenden Generatio nen wird auch im Gedicht Sie fragten von Faryad Fazil Omar geäußert, mit dem der zweisprachige Gedichtband (Kurdisch / Deutsch) Leuchten aus der Stimme aus dem Jahr 1988 beginnt. Sie fragten Sie fragten mich: Deine Augen oder Deine Heimat, Was von beiden liebst du mehr? Ich sagte: Meine Augen, meine Heimat - Ich liebe das eine wie das andere. Aber nimm sie, meine Augen. Und laß mein Kind Frei In meiner Heimat sein6 Auch diese Zeilen sprechen die zwei Aspekte an, die für den Themenkomplex Kurdistan zentral sind: Neben der Freiheit - die besonders deutlich durch das alleinstehende Wort „frei" in der neunten Zeile hervorgehoben wird - ist es die Gewalt, die hier durch die Instanz der dritten Person Plural bereits im Titel auftritt: „Sie fragten" (Hervorhebung von mir; T. S.). Die Frage, die an die Ich Instanz im Gedicht gerichtet wird, „Deine Augen oder deine Heimat? Was von beiden liebst du mehr?" (Z. 2-4), deutet implizit auf eine Gewalthandlung hin. Eines