Japanische Gesellschaft fur Germanistik

Theresa SPECHT

KURDISCHE EXILLITERATUR IM DEUTSCHSPRACHIGEN KONTEXT

EINLEITUNG

Am 21. März feiern die Kurden das Neujahrsfest Newroz. Es ist der wichtigste Feiertag im Jahr, und das Newrozfest 2013 war ein historisch bedeutungsvol­ les: Im Zuge der wiederaufgenommenen Verhandlungen mit der türkischen Regierung rief der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan an diesem Tag erneut zu Waffenruhe und Friedensverhandlungen auf. Obwohl Öcalan seit 1999 im Einpersonengefängnis auf der Insel Imrah im Marmara-Meer inhaftiert und durch zeitweise Besuchsverbote regelrecht von der Außenwelt abgeschnitten ist, ist die Unterstützung in der kurdischen Be­ völkerung der Türkei ungebrochen. Im Jahr 2013 versammelten sich rund zwei Millionen, und damit weit mehr Menschen denn je zu Newroz in Diyarbakir, der ,Hauptstadt der Kurden' im Südosten der Türkei, und hörten die Verlesung der Neujahrs-Botschaft Öcalans: „Die Zeit des Streits, der Kon­ flikte und der gegenseitigen Verachtung ist vorbei, die Zeit ist reif für Einheit, Gemeinsamkeit, Umarmung und Vergebung."1 Was ist das für ein kriegerischer Konflikt, der seit Jahrzehnten in der Region besteht und zehntausende Menschen das Leben gekostet hat? Im Folgenden möchte ich das aus der Perspektive literarischer Zeugnisse skiz­ zieren, nämlich der kurdischen Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext. In germanistischen Forschungen wurde die deutschsprachige kurdische Exilliteratur bislang weitgehend vernachlässigt. Die einzige Forschungsar­ beit zu diesem Gegenstand erschien 1996 von Mahmood Hama Tschawisch, in der dieser einen facettenreichen Einblick in das Thema bietet und auch einige kurdische Exilautoren in Deutschland vorstellt sowie per Interview selbst zu Wort kommen lässt.2 Zwei Begriffe, die Tschawisch dabei zentral stellt, sind ,Heimat' und ,Identität'. Diese sind jedoch nicht nur streitbare Konzepte - wie die Diskussionen im Zuge des so genannten cultural turn

1 Abdullah Öcalan: Historische Erklärung zu Newroz 2013, in: DieKurden.de, 22. März 2013, o. S. URL: http://www.diekurden.de/news/nordkurdistan/oecalans-historische-erklaerung­ zu-newroz-2013-0021965/ [29.03.2013]. 2 Die interviewten Autoren sind: Faryad [Feryad] Fazil Omar, Fadil Karim-Ahmad, Hemre§ Re~o, Jemal Nebez und Nazif Telek.

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aufgezeigt haben -, sondern setzen meines Erachtens auch einen fragwür• digen Fokus: Bei der Interpretation von Exilliteratur sollte es nicht in erster Linie um das Selbstverständnis des Autors / der Autorin gehen, sondern um die Hintergründe und Ursachen der Exilsituation. Warum lohnt sich eine Betrachtung kurdischer Exilliteratur im deutsch­ sprachigen Kontext? In Deutschland leben mehr als eine halbe Million und damit die meisten Menschen kurdischer Herkunft im europäischen Exil. Über Ereignisse, die im Zusammenhang mit der ,kurdischen Frage' stehen, wird in deutschsprachigen Medien nur wenig und meist sehr einseitig berichtet; die deutsche Politik richtet sich im Wesentlichen an der politischen Linie der Tür• kei aus. In der kurdischen Exilliteratur kommen dagegen Stimmen zu Wort, die aus dem offiziellen Diskurs der Herkunftsländer durch Zensur und Straf­ verfolgung herausgehalten werden.3 Hier wird von Figuren berichtet, die massiven Diskriminierungen und Unrechtbehandlungen bis hin zu Folter und Mord ausgesetzt sind. Diese Texte können deutschsprachigen Lesern so­ mit den Blick weiten und die aktuellen Entwicklungen im Zweistromland Me­ sopotamiens besser verstehen helfen. Im Folgenden werde ich zunächst einen thematischen Einstieg in das Thema vornehmen und anhand zweier Gedichte die Situation der Herkunfts­ region der Autorinnen skizzieren: 1. im Fokus der Literatur. Ein zweites Kapitel stellt den Untersuchungsgegenstand vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Gegebenheiten vor: 2. Was bedeutet ,kurdische' Exil­ literatur?, und begründet den in diesem Projekt auf den Gegenstand angeleg­ ten Fokus einer de-essentialisierenden Sichtweise. Abschließend werden kon­ krete Textbeispiele vorgestellt und daraus zwei Thesen abgeleitet: 3. Aspekte der Literatur mit Bezugspunkt Kurdistan.

1. KURDISTAN IM FOKUS DER LITERATUR

Als Einstieg in das Thema mag das Gedicht Kurdistan von Nazif Telek dienen, das dieser 1983 im deutschen Exil schrieb und in dem das grundlegende geo­ graphische Dilemma der kurdischen Region dargestellt ist.

3 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die eingeschränkte Pressefreiheit, zahlreiche Straf­ verfahren gegen Schriftsteller und Journalisten sowie politische Gefangene in der Tür• kei. Im Jahr 2014 wurde im Internet das virtuelle ,Museum für Gedankenverbrechen' eingerichtet („Dü~ünce Sw;lan Müzesi / Museum of Crimes of Thoughts", zugänglich auf Türkisch und Englisch), ein Projekt, das „für die Unterdrückung der Meinungsfrei­ heit und die Verfolgung von Intellektuellen in der Türkei sensibilisieren [möchte]". Ceyda Nurtsch: „Das ,Museum für Gedankenverbrechen?!' Virtueller Spiegel der türki• schen Geschichte", in: Qantara 19.09.2014. URL: http://de.qantara.de/inhalt/das-museum-fuer-gedankenverbrechen-virtueller- spiegel-der-tuerkischen-geschichte [19 .09 .2014 ],o. S.

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

Kurdistan

Meine vier Teile sind von Feinden umgeben, von Feinden der Freiheit, die in blumenübersäte Bergwiesen Wege für Panzer schlugen.

Meine vier Teile werden von Rosengärten umgeben sein, keine Schüsse werden künftig fallen und kein Vogel wird mehr erschreckt auffliegen.

In allen vier Teilen werden glückliche Menschen derer gedenken, die für die Freiheit gefallen sind. 4

Zunächst ist der Titel bemerkenswert, denn die Bezeichnung „Kurdistan"5 be­ zieht sich auf ein geographisches Gebiet in der Region des Zweistromlandes Mesopotamien, jedoch nicht auf ein politisches Gebiet. Die Kurden sind mit rund 30 Millionen Menschen das größte Volk ohne Staat. Ihr Siedlungsgebiet teilt sich auf vier Länder auf: den Iran, Irak, Syrien und - mit der zahlenmäßig größten Gruppe - die Türkei. Im Gedicht wird diese Situation aus der Perspek­ tive des Landstrichs selbst problematisiert. „Kurdistan", im Titel benannt, bildet hier die Sprechinstanz, und ihr Ausspruch: „Meine vier Teile" wiederholt sich leitrnotivisch zu Beginn jedes Abschnitts (im dritten Abschnitt leicht variiert).

4 NazifTelek: Sehnsucht nach Freiheit. Gedichte. Kurdisch und Deutsch. Frankfurt/M. (Zambon) 1996, S. 30. - Die folgenden zitierten Textstellen aus diesem Gedicht werden lediglich mit der Zeilenangabe versehen. 5 In der Vergangenheit war es zeitweise regelrecht lebensgefährlich, den Namen ,Kurdistan' öffentlich zu gebrauchen, Kurdisch zu sprechen oder zu verkünden, dass man Kurde sei. Die Existenz einer ,kurdischen Identität' wurde geleugnet, Kurden als ,Bergtürken' be­ zeichnet, deren Sprache lediglich einen Dialekt des Türkischen darstelle. Dabei ist das Kurdische nicht mit dem Türkischen verwandt; es gehört zur indo-europäischen Sprach­ familie und steht in naher Verwandtschaft zum Persischen, in entfernterer zum Deut­ schen. Die offizielle Benennung der Autonomen Region Kurdistan im Nord-Irak, deren Entstehung ein leidvoller und langjähriger Krieg vorausgeht, verleiht dem Namen erst­ mals einen politischen Status. - Im Gedicht ist mit der Bezeichnung jedoch ein geogra­ phisch größeres Gebiet gemeint.

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Nicht nur ist die Region Kurdistan geteilt, auch sind die Bewohner in die­ sen Landstrichen massiv in ihren kulturellen und politischen Freiheiten be­ schnitten. ,Freiheit' ist daher ein Schlüsselbegriff in der kurdischen Literatur. So auch im vorgetragenen Gedicht: Während der erste Abschnitt einen trauri­ gen Ist-Zustand des Krieges beschreibt - die Wörter „Feinde" (Z. 2), „Panzer" (Z. 5) und „Schüsse" (Z. 9) geben darüber Auskunft-, beziehen sich die bei­ den folgenden auf eine erhoffte positive Zukunft, in der Kurdistan statt von Feinden „von Rosengärten umgeben sein" (Z. 7f.) wird. Der Krieg, bei dem viele Menschen bereits ihr Leben gelassen haben, soll dann beendet und die Kinder und Enkel der einstigen Widerstandskämpfer von der Unterdrückung befreit sein. Der abschließende dritte Abschnitt drückt diese Hoffnung ein­ dringlich aus: „In allen vier Teilen werden glückliche Menschen derer geden­ ken, die für die Freiheit gefallen sind." (Z. 14-18) Der Wunsch nach Freiheit und Frieden für die nachfolgenden Generatio­ nen wird auch im Gedicht Sie fragten von Faryad Fazil Omar geäußert, mit dem der zweisprachige Gedichtband (Kurdisch / Deutsch) Leuchten aus der Stimme aus dem Jahr 1988 beginnt. Sie fragten

Sie fragten mich: Deine Augen oder Deine Heimat, Was von beiden liebst du mehr? Ich sagte: Meine Augen, meine Heimat - Ich liebe das eine wie das andere. Aber nimm sie, meine Augen. Und laß mein Kind Frei In meiner Heimat sein6 Auch diese Zeilen sprechen die zwei Aspekte an, die für den Themenkomplex Kurdistan zentral sind: Neben der Freiheit - die besonders deutlich durch das alleinstehende Wort „frei" in der neunten Zeile hervorgehoben wird - ist es die Gewalt, die hier durch die Instanz der dritten Person Plural bereits im Titel auftritt: „Sie fragten" (Hervorhebung von mir; T. S.). Die Frage, die an die Ich­ Instanz im Gedicht gerichtet wird, „Deine Augen oder deine Heimat? Was von beiden liebst du mehr?" (Z. 2-4), deutet implizit auf eine Gewalthandlung hin. Eines von beiden werden „Sie" ihm nehmen. Die Antwort des Ichs expli-

6 Faryad Fazil Omar: Leuchten aus der Stimme. Modeme kurdische Lyrik. Kurdisch und Deutsch. Berlin (VWB) 1988, S. 7. - Die im Folgenden zitierten Stellen aus diesem Gedicht werden lediglich mit der Angabe der Zeile wiedergegeben.

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

ziert diese Vermutung: „nimm sie meine Augen" (Z. 7). Wichtiger als die Au­ gen ist demnach die „Heimat", auf die jedoch nicht mehr für sich selbst An­ spruch erhoben wird, sondern es wird der sehnliche Wunsch geäußert, dass die nachfolgende Generation frei und selbstbestimmt, ohne Kampf und Un­ terdrückung in der Herkunftsregion leben kann: „Lass mein Kind frei in mei­ ner Heimat sein" (Z. 8-10). Ein Wunsch, der deutlich macht, dass ein solches Leben zum Zeitpunkt des Sprechens nicht möglich ist. Exilliteratur kann nicht ohne den politischen Hintergrund der Herkunfts­ länder betrachtet werden, zumal nicht, wenn der thematische Fokus auf Ereig­ nissen in den Herkunftsländern liegt, welche die Texte kommentieren. Das obige Gedicht (Sie fragten) veröffentlichte der aus dem Irak stammende und seit 1978 in Deutschland lebende Autor 1983 in kurdischer und 1988 in deut­ scher Sprache. Die Türkei stand seit dem Militärputsch von 1980 bis zum Jahr 1983 unter militärischer Gewaltherrschaft, die viele Menschen in die Flucht und ins Exil trieb; 1984 begann die PKK mit ihrem bewaffneten Widerstand. Ende der 1980er Jahre erreichten die kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak unter Saddam Hussein ihren Höhepunkt: „Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, Massenverhaftungen, Folter und Exekutionen wa­ ren an der Tagesordnung. "7 Auch die 1990er und 2000er Jahre sind durch zahllose Gewalthandlungen geprägt, auf die in Texten kurdischer Exilautoren Bezug genommen wird. Zwischen 1993 und 1998 hat die kurdische Seite in der Türkei insgesamt vier einseitige Waffenstillstände ausgerufen und Friedensangebote unterbreitet, auf welche die türkische Regierung jedoch nicht einging, sondern im Gegen­ 8 teil „ihre Repressionen und Militäroperationen immer wieder [verstärkte]" . Im Frühjahr 2005 führte das Militär Großeinsätze gegen die Guerilla und auch gegen die Zivilbevölkerung durch, bei denen auch Napalm- und Brandbom­ ben eingesetzt und weite Landstriche im Südosten der Türkei nachhaltig zer­ stört wurden. In Europa wurden diese Ereignisse kaum wahrgenommen.9 Den aktuellen Friedensverhandlungen zwischen Öcalan und der türkischen Regie­ rung ging im Herbst 2012 ein monatelanger Hungerstreik von tausenden po­ litischen Gefangenen voraus, weitere Militäroperationen und Verbrechen10 er­ schweren die Gespräche. Wenn mit dem Newrozfest 2013 nun tatsächlich ein

7 Martin Strohmeier und Lale Yal<;in-Heckmann: Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur. 3., überarb. und aktual. Auflage. München (Beck) 2010, S. 134. 8 Martin Dolzer: Der türkisch-kurdische Konflikt. Menschenrechte - Frieden - Demokratie in ei­ nem europäischen Land? Bonn (Pahl-Rugenstein), S. 29. 9 Vgl. Dolzer, ebd., S. 32: „Die Militäroperationen finden weitgehend unbeachtet von der europäischen Öffentlichkeit statt." 10 Vgl. die bisher ungenügend aufgeklärten Morde an Sakine Cansrz, Fidan Dogan und Leyla $aylemez im Kurdischen Informationszentrum in Paris am 9. Januar 2013.

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solider Weg zu Frieden und Gerechtigkeit in der Türkei beschritten werden sollte, wäre dies in der Tat ein bedeutender Wendepunkt in der Geschichte des Kurdenkonflikts. Öcalan - aus seiner Zelle heraus - beschreibt diesen Weg in seiner Friedensbotschaft mit hoffnungsvollen Worten:

Unser Kampf war niemals gegen ein Volk, eine Religion, eine Konfession oder Gruppe gerichtet, das könnte niemals der Fall sein. Unser Kampf richtete sich gegen Unterdrückung, Unwissen, Ungerechtigkeit und er­ zwungene Rückständigkeit, gegen alle Formen von Repression und Knechtschaft. Heute wachen wir in einer neuen Türkei, einem neuen Mitt­ leren Osten auf und sehen in eine neue Zukunft. [ ... ] Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokrati­ schen Politik. [ ... ]Dieses Newroz ist für uns alle eine frohe Botschaft.11

Allerdings hat die positive Stimmung, mit der die zahlreichen Besucher zu den Newroz-Festen in den südöstlichen Provinzen der Türkei strömten, in den dar­ auf folgenden Wochen und Monaten schnell wieder Dämpfer erfahren, denn obwohl die türkische Regierung ihre Beteiligung am Lösungsprozess zugesagt hat, zeigten ihre Handlungen bislang nicht nur wenig Entgegenkommen, son­ dern sie torpedierten obendrein den begonnenen Friedensprozess.12

2. WAS BEDEUTET ,KURDISCHE' EXILLITERATUR?

Nach dem Metzler Lexikon Literatur ist ,Exilliteratur'

im allg. Sinne die lit. Produktion von Autoren, die wegen politischer, reli­ giöser oder rassistischer Verfolgung gezwungen sind, sich an einem ande­ ren als dem von ihnen gewünschten Lebens- und Arbeitsort aufzuhalten. Meist geht damit der Verlust der gewohnten Sprachgemeinschaft und des bisherigen Publikums einher.13

Per definitionem ist der Begriff also an die Situation der Autorinnen gebun­ den, die sich aus genannten Gründen zum Verlassen ihres bisherigen Aufent-

11 .. Ocalan (wie Anm. 1), o. S. 12 Im März/April 2013 führte die türkische Regierung militärische Aktionen im Osten der Türkei durch, behinderte durch den Einsatz von Drohnen den Rückzug der PKK in süd• kurdische Gebiete und baute - statt einer Verringerung der Militärpräsenz -weitere Stütz• punkte; vgl. Cähida Dersim: Was vom Friedensprozess übrig geblieben ist ... , in: DieKur­ den.de 2013 (o. S.) URL: http://www.diekurden.de/news/kommentare/was-vom-friedensprozess-ubrig-ge­ blieben-ist-4523294/ [24.11.2013]. 13 Erhard Schütz: „Exilliteratur", in: Metzler Lexikon Literatur. 3. Auflage. Hrsg. v. Dieter Burdorf u. a. Stuttgart, Weimar (Metzler) 2007, S. 217-219, hier S. 217.

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

haltsorts gezwungen sehen, da sie um ihre körperliche und seelische Unver­ sehrtheit fürchten müssen. Prominent in germanistischen Forschungen ist das Exil aus Nazideutschland 1933-1945. Betrachtet man kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext, ist die Perspektive eine andere: Im Kontext der deutschsprachigen Aufnahmeländer (Deutschland, Schweiz und Österreich) wird eine Literatur fokussiert, deren Autorinnen sich im europäischen Exil befinden und die anderer sprachlicher - und nicht nur kurdischsprachiger - Herkunft sind. Das Attribut ,kurdisch' erfordert eine nähere Betrachtung: Aufgrund der Tatsache, dass sich kurdische (Exil-)Literatur auf keinen Staat mit einer Amtssprache Kurdisch bezieht, ist sie eine sehr heterogene Literatur, die sich nicht nur in verschiedene Dialekte und Länder aufteilt, sondern auch mit verschiedenen Alphabeten geschrieben wird: in lateinischer, arabischer und teilweise auch kyrillischer Schrift.14 Einige Autoren, deren Erstsprache Kurdisch ist, beherrschen diese nicht so gut, als dass sie diese als literarische Sprache wählen; prominentes Beispiel ist Ya§ar Kemal, der international wohl bekannteste Schriftsteller der Türkei, dessen kurdische Herkunft jedoch weni­ ger bekannt ist.15 Heute veröffentlichen kurdische Schriftsteller ihre Texte so-

14 Die Standardisierung der kurdischen Schriftsprache hat sich bislang weitgehend im Exil entwickelt, da der Gebrauch der Sprache in den Herkunftsstaaten verboten war - in der Türkei beispielsweise bis 1991, in Syrien gilt ein solches Verbot bis heute. Nach den Ka­ tegorisierungen der UNESCO kann das Kurdische, trotz der hohen Sprecherzahl, als , po­ tentiell bedrohte Sprache' eingestuft werden, da sie aufgrund repressiver Sprachpolitik in den privaten Bereich verdrängt ist und nach wie vor keinen Status als Bildungs- und Ver­ waltungssprache besitzt. Die kurdische Sprache steht auch im gegenwärtigen sozialen Konflikt zentral, vgl. dazu Ahmet Insel: „Well, what do Turks want?!", in: Perspectives 3 (Publikation der Heinrich Böll Stiftung Türkei) 2013, S. 8-11. URL: http://www. tr.boell.org/web/51-1384.html [09.10.2013], hier S. 8: „In today's Turkey, the Kurdish prob­ lem stems from the issue of ethnic identity based essentially on not religious but linguistic difference. Although the Kurdish problem naturally cannot be reduced to the Kurdish language, it is centered around the Kurdish language. make up about 15-20 % of the overall population of Turkey, and they see Kurdishness as the central component of their identity, and live in geographically homogenous settlements." 15 Ein weiteres Beispiel ist der Schriftsteller und Theaterschauspieler Yilmaz Erdogan, der auf Türkisch schreibt. Im Vorwort zur kurdisch-deutschen Veröffentlichung zweier seiner Theaterstücke unter dem Titel Die schmerzhafte Liebe I Evina keserkur (1994) berichtet Mehmet Uzun von einer Begegnung mit dem Autor in der Türkei 1966, bei der ihm dieser ein Buch von sich überreicht, in das er die Widmung „Durstig nach meiner Muttersprache, lächelnd ... "schreibt. Seine Erklärung dazu gibt Uzun 1994 in einem Vorwort zu zwei Theaterstücken Erdogans wieder: „,Was kann ich tun? Das Kurdische, meine Mutter­ sprache, kann ich mehr oder weniger sprechen, aber ich kann mich darin weder intellek­ tuell ausdrücken noch kann ich es schreiben. [ ... ] Die kurdische Sprache ist von mir ent­ fernt oder im Gegenteil: Ich bin von dieser Sprache entfernt. Nur schon dies zu sagen ist sehr traurig. Ich drücke mich auf Türkisch aus. Ich fühle Kurdisch, denke und schreibe aber auf Türkisch ... "'; Uzun kommentiert dazu: „Diese Situation, in der sich Yilmaz befindet, ist typisch für fast alle Intellektuellen kurdischer Abstammung in der Türkei." Mehmet Uzun: „Vorwort'' zu: Yilmaz Erdogan: Die schmerzhafte Liebe / Evina keserkur (Theaterstücke). St. Gallen (Ararat) 1994, S. 4.

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wohl auf Kurdisch als auch in den Sprachen der jeweiligen Herkunfts- und Exilländer. Bezieht man das Attribut ,kurdisch' also nicht auf die Sprache, sondern auf eine ethnisch-kulturelle Herkunft der Autorinnen, erweist sich dies ebenfalls als problematisch: Zu klären wäre dann das Selbstverständnis derselben, wozu es im deutschsprachigen Kontext jedoch wenig Informatio­ nen und Aussagen gibt. Außerdem lenkt dies den Fokus auf die Person des Autors / der Autorin und damit ab von den Hintergründen des Exils, die im Rahmen dieses Forschungsprojekts im Zentrum stehen. Die Kriterien für die Auswahl des Textkorpus wurden hier demnach wie folgt festgesetzt: Betrach­ tet werden Texte, welche Erfahrungen reflektieren, die gesellschaftspolitisch im Zusammenhang mit dem so genannten ,Kurdenkonflikt' stehen. Anders als das Exil aus Nazideutschland, dessen Auswirkungen mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 zwar nicht abgeschlossen sind, jedoch die Exilbewegungen selbst ein Ende gefunden haben, dauern die Fluchtbewegun­ gen aus den kurdischen Gebieten nach wie vor an. Zudem sind nicht alle Vertrie­ benen in ein anderes Land geflohen, sondern wurden innerhalb der Grenzen des Herkunftslandes bzw. innerhalb der Region Kurdistans vertrieben oder zwangsumgesiedelt mit dem Zweck der Assimilation.16 Bücher, die solche Er­ eignisse oder die Lebensumstände in der Region Kurdistan reflektieren, können in den Herkunftsländern häufig nicht erscheinen oder werden kurz nach Er­ scheinen verboten.17 Sie stehen im engen Zusammenhang mit der Exilliteratur und werden - sofern sie auf Deutsch vorliegen - im Rahmen dieses Projekts ebenfalls zu den Texten gezählt, die den deutschsprachigen Kontext kurdischer Exilliteratur konstituieren. „Kurdische Schriftsteller haben es schwer, egal, ob sie in Kurdistan oder im Exil arbeiten"18, erläutert Zaradachet Hajo, der Leiter des kurdischen PEN-Zentrums in Bonn, 2004 in seinem Vortrag zur Kurdischen Literatur in Deutschland. Das PEN-Zentrum versteht sich daher „ausdrücklich als

16 Die historischen Beispiele von „Deportationen" sind zahlreich: So wurden nach der bluti­ gen Niederschlagung des Scheich-Said-Aufstandes 1925 in der Türkei ca. 1 Mio. Men­ schen in die Westtürkei deportiert, vgl. Dolzer (wie Anm. 8), S. 25. Infolge der militäri• schen AnfaZ-Operationen Ende der 1980er Jahre im Nord-Irak wurden ca. 1,5 Mio. Men­ schen gewaltsam ,umgesiedelt', weitere Hunderttausend flüchteten in die angrenzende Türkei und den Iran, vgl. Strohmeier und Yalc;in-Heckmann (wie Anm. 7), S. 134. 17 So zum Beispiel das Theaterstück Die schwarze Wunde, das der Autor Musa Anter 1959 während seiner Zeit im Militärgefängnis in Istanbul schrieb und in Druck gab. In seinen Memoiren äußert er dazu: „[ ... ] mein Theaterstück wurde auch in der Tschechoslowakei, in Belgien, Holland, Dänemark und Schweden - übersetzt in die Sprachen dieser Länder - aufgeführt und fand großen Anklang. In der Türkei, wie nicht anders zu erwarten, war es verboten." Musa Anter: Meine Memoiren. Aus dem Türkischen und Kurdischen über• tragen sowie mit Erklärungen in Fußnoten und einem Anhang versehen v. Ernst Tremel. Münster (Selbstverlag) 2005. URL: http://www.skytower.org/-emstjtremel/download­ ableKurdishFiles/MAnterFIX.pdf [15.06.2014], S. 178. 18 Zaradachet Hajo: Kurdische Literatur in Deutschland. Vortrag vom 11.9.2004. URL: http:// www.pen-kurd.org [7.4.2013], o. S.

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

Brücke zwischen den Schriftstellern aus den verschiedenen Teilen Kurdistans und denen, die jetzt im Exil arbeiten müssen"19. Auch im Rahmen dieses For­ schungsprojekts bietet es sich an, den Fokus auf den Gegenstand dementspre­ chend zu erweitern und nicht an Sprach- oder Landesgrenzen Halt zu machen. Recherchiert wurden also deutschsprachige20 Texte, die aus der Perspektive Be­ troffener den Fokus auf Kurdistan richten, ungeachtet des Aufenthaltsortes der Autorlnnen sowie der Sprache der Erstveröffentlichung. Da die Informations­ lage zu dieser recht kleinen Literatur schwierig ist, sind die folgenden Angaben zum Korpus des Forschungsprojekts lediglich als derzeitiger Stand und Richt­ wert zu sehen (sie können keinesfalls einen vollständigen Überblick geben): Ermittelt wurden bislang 69 Titel von 31 Autorinnen im Zeitraum von 1983-2013, die mit kleiner Auflagenzahl in kleinen Verlagen21, teils im Selbst­ verlag22 erschienen und aktuell oft nur antiquarisch zu erwerben sind. Den überwiegenden Anteil bilden Prosatexte (meist Romane und Erzählungen), Lyrik ist nur wenig vertreten, jedoch insbesondere durch die verhältnismäßig bekannteren Autoren Faryad Fazil Omar und Nazif Telek leichter sichtbar und zugänglich; Theaterstücke wurden bisher nur in Übersetzungen aus dem Kurdischen aufgefunden.23 Die Werkauswahl orientiert sich - wie oben begründet - am thematischen Fokus: Interessant für dieses Forschungsprojekt sind Werke, die den Blick auf die gesellschaftspolitischen Hintergründe des Exils und damit auf die Her-

19 Hajo (wie Anm. 18). 20 Die Einschränkung auf die deutsche Sprache liegt zum einen in meinen eigenen ungenü• genden Fähigkeiten begründet: So bin ich sprachlich nicht in der Lage, kurdische, türki• sche, arabische usw. Publikationen in die Forschung mit einzubeziehen. Zum anderen be­ gründet dies jedoch die explizite Betrachtung in einem deutschsprachigen Kontext: Alle Pu­ blikationen, die auf Deutsch vorliegen, werden in die Untersuchung miteinbezogen, bei­ spielsweise auch Übersetzungen aus anderen Sprachen ins Deutsche. Sofern die Analyse der Übersetzungen den Fokus auf die Thematik richtet und nicht auf sprachliche Beson­ derheiten, ist dies meines Erachtens unproblematisch. (Im vorliegenden Aufsatz sind Übersetzungen jeweils kenntlich gemacht.) 21 In größeren Verlagen haben meist nur Übersetzungen aus anderen Sprachen Aufnahme gefunden, zum Beispiel aus dem Arabischen: bei dtv der Roman Die Spiele der jungen Hähne (2. Aufl. 2004) von Barakat sowie bei Kiepenheuer von Zuhdi Al-Dahoodi die Erzählungen Tollwut (1991) und der Roman Das längste Jahr (1993); aus dem Kurdischen im Unionsverlag: der Roman Im Schatten der verlorenen Liebe [1998] von Mehmet Uzun so­ wie die Gedichte Geheimnisse der Nacht pflücken (1993) von Sherko Bekas; bei Pi per erschien eine Übersetzung der Erzählung Das Gewehr meines Vaters (2. Aufl. 2005) von Hiner Saleem aus dem Französischen. 22 Hervorzuheben ist hier insbesondere der Selbstverlag Ararat mit Sitz in Winterthur/ Schweiz des Schriftstellers Yusuf Ye~ilöz; URL: http://www.yesiloez.ch/cms/index.php [15.06.2014]. 23 Theaterstücke, die aus dem Kurdischen ins Deutsche übersetzt wurden: Musa Anter: Die schwarze Wunde. St. Gallen (Ararat) 1994; Yilmaz Erdogan: Die schmerzhafte Liebe. Zwei The­ aterstücke. St. Gallen (Ararat) 1994.

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kunftsländer richten - nicht betrachtet werden also Texte, die allein die Situa­ tion in den Exilländern fokussieren. Der thematische Aspekt steht auch in der Analyse im Vordergrund: Zunächst wird nach inhaltlichen Parallelen gesucht, um einen grundlegenden Überblick über Themen und Tendenzen der ­ schen Exilliteratur zu bekommen. Dazu muss notwendigerweise auch ein ein­ gehender Blick auf den außerliterarischen Kontext geworfen werden. Zudem richte ich die Analyse gemäß den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Dis­ kussion um den Begriff der ,Kultur' der letzten zwei Jahrzehnte explizit nicht kultur- oder ethnozentristisch aus: Anliegen ist es, sich von der essentialisie­ renden Sichtweise einer angenommenen spezifischen, kulturell geprägten Identität zu lösen (wie es beispielsweise Wolfgang Welsch mit dem Begriff der ,Transkulturalität'24 versucht), und demgegenüber gerade die Konstruiertheit solcher Kategorien aufzuzeigen, die die Diskussion des gegenwärtigen ,Kur­ denkonflikts' bestimmen. ,Identität' auf der personalen Ebene ist eine Variable, die durch perma­ nente Entscheidungen des Individuums definiert wird, sich zu imaginierten kollektiven Identitäten zugehörig zu fühlen oder nicht. Dabei können die Ent­ scheidungen je nach Situation unterschiedlich ausfallen. Strohmeier und Yal<;in-Heckmann bemerken zur Situation von Kurden im Exil: Ein Kurde aus dem Iran wird im Ausland zunächst einmal als Iraner wahr­ genommen. Seine kurdische Herkunft wird er - je nach Situation - mittei­ len oder auch nicht, je nachdem, ob er dieser Identität Bedeutung beimißt. Die Behauptung einer kurdischen Identität ist nicht, wie bei anderen Na­ tionalitäten „objektiv" durch einen Paß greifbar, sondern subjektiv und darüber hinaus fließend und oszillierend.25 Abgesehen davon, dass auch eine ,türkische', ,deutsche' oder ,japanische' Iden­ tität - im Gegensatz zur Staatsbürgerschaft - nicht durch ein Staatengebilde oder einen Pass objektiv greifbar wird, sondern die fließende und oszillierende Eigenschaft für jegliche Konstruktion von Identität gilt, hebt dieses Zitat doch zwei wichtige Aspekte hervor, die auch Amartya Sen in seinem Buch Die Identi­ tätsfalle in Bezug auf die Konstitution personaler Identität beschreibt: Erstens die Einsicht, daß Identitäten entschieden plural sind und daß die Wichtigkeit einer Identität nicht die Wichtigkeit anderer zunichte machen

24 Vgl. Wolfgang Welsch: „Es kommt künftig darauf an, die Kulturen jenseits des Gegensat­ zes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken." Wolfgang Welsch: „Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen", in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hrsg.): Migration und Kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kultur­ austausch 45, Heft 1 (1995). URL: http://www.forum-interkultur.net/uploads/tx_textdb/ 28.pdf [15.06.2014], o. s. 25 Strohmeier und Yalc;in-Heckmann (wie Anm. 7), S. 28.

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

muß. Zweitens muß man explizit oder implizit entscheiden welche rela­ tive Bedeutung man in einem bestimmten Kontext den unterschiedlichen Loyalitäten und Prioritäten beimißt, die möglicherweise miteinander um Vorrang konkurrieren.26 Die Freiheit der Entscheidung über die relative Bedeutung von Identitäts• aspekten kann allerdings durch praktische Zwänge beschränkt sein. Fragen nach der Identität erhalten dort politische Brisanz, wo Personen in ihrer frei­ heitlichen Entscheidung eingeschränkt sind oder ihnen eine bestimmte Iden­ tität zugeschrieben bzw. abgesprochen wird. Diese festlegende und reduzie­ rende Identitätszuschreibung kommt einem diskriminierenden Akt gleich, besonders dann, wenn Fremd- und Selbstzuschreibung des Individuums dif­ ferieren und die In- und Exklusion in eine Gruppe konkrete gesellschaftliche und politische Auswirkungen hat. In einem sozialen Konflikt, der sich entlang von Ethnizitätsgrenzen ent­ zündet, bekommen diese Identitätsaspekte der Individuen zwangsläufig eine höhere Relevanz. Claus Leggewie legt in seinem Aufsatz How Turks became Kurds, not Germans aus dem Jahr 1996 dar, wie ein kurdisches Nationalbe­ wusstsein bei Einwanderern aus der Türkei in Deutschland gerade erst durch die Verweigerung kultureller Anerkennung seitens des türkischen und der politischen Anerkennung seitens des deutschen Staats erwacht: „Turks have become Kurds because the Turkish state denies them cultural recognition and the German state denies them political recognition."27 Die zwei Grundforderungen der kurdischen Seite im gegenwärtigen Kon­ flikt, die sich auch in der kurdischen Exilliteratur ablesen lassen, sind die nach Gleichheit und nach der Freiheit, die eigene ethnische oder sprachliche Iden­ tität frei zu leben. Es sind Forderungen einer Minderheit, die sich in ihren Rechten gegenüber der dominanten Identität der Mehrheitsgesellschaft einge­ schränkt fühlt.28 Solch eine Konfliktkonstellation scheint symptomatisch für politische Gebilde, die auf der Idee des ,Nationalstaats' fußen.29 Zur Staats-

26 Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. 2. Auflage. Mün• chen (Beck) 2012, S. 34. 27 Claus Leggewie: „How Turks became Kurds, not Germans.", in: Dissent. Summer 1996, S. 79-83, hier S. 79; genauer heißt es dort: „[ ... ] there have always been Kurds among the ,guest workers' and refugees, but most of them did not discover their ,Kurdishness' until they came to Europe. The Turkish state has stubbornly refused to recognize the special ethnic, linguistic, and cultural characteristics of the minority from the southeastern part of the country, the so-called Mountain Turks. The German state has refused with equal stub­ bornness to grant the immigrants citizenship. In the face of these barriers, Kurdish nation­ alism has sprung up in Germany." 28 Vgl. Insel (wie Anm. 14), S. 8. 29 So konstatiert auch Öcalan (wie Anm. 1) in seiner Newroz-Ansprache: „Ethnisch reine und mono-nationale Gebiete zu schaffen, ist eine unmenschliche Praxis der Modeme."

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gründung im Jahr 1923 lebten auf dem Gebiet, das seitdem die Türkei um­ fasst, außer Türken auch viele andere ethnische Gruppen wie Lasen, Tscher­ kessen, Kurden etc., deren Existenz von Beginn an geleugnet und gewaltsam bekämpft wurde. Das Konzept des ,Nationalstaats' wurde - gemäß seiner konsequenten Reduktion auf die Idee einer ,Nation' mit einer gemeinsamen Sprache und ,Kultur' - gewaltvoll durchgesetzt. In Bezug auf das Kurdische erläutert Hajo:

Einige Monate später [nach der Gründung der Republik Türkei; T. S.] ver­ bot die türkische Regierung unter Mustafa Kemal den Unterricht in kurdi­ scher Sprache, ihren Gebrauch in der Öffentlichkeit, auch alle anderen kurdischen Traditionen wie Musik, Tanz und Gesänge. Kurdische Intellek­ tuelle, die sich dieser Zwangsassimilierung widersetzten, wurden ermor­ det oder gingen ins Exil. 30

Das so genannte ,Kurdenproblem' ist nicht eigentlich ein Problem der Kur­ den, sondern ein Problem einer dominierenden Mehrheitsgesellschaft mit ih­ rer/n Minderheit/en.31 Daher, so plädiert Ahmet Insel in seinem Artikel Well, what da Turks want, muss man die häufig gestellte Frage ,Was wollen die Kur­ den?' gerade zurückverweisen an die türkische Seite. Denn so werde sie zum Prüfstein nicht nur für Türken sondern für alle Angehörigen einer dominan­ ten Mehrheitsgesellschaft:

What do whites want when confronted with black demands for equality? What do Christians think about Muslim demands for equality? What do 32 Arabs say about Berber demands for equal civic identity? What do Turks , Sunnites or Muslims want when confronted respectively with Kurdish, Alawi or non-Muslim demands for equality in Turkey?[ ... ] Today, „What do the Turks want?", is the primary question tobe posed with respect to the Kurdish problem.33

30 Hajo (wie Anm. 18), o. S. 31 Der Konflikt der türkischen Mehrheitsgesellschaft mit der kurdischen Minderheit ist zwar der schwerwiegendste, jedoch nicht der einzige. Öcalan fordert dementsprechend eine Be­ freiung der Minderheiten von der türkischen Gewaltherrschaft insgesamt: „ Um ein Land zu schaffen, das der Geschichte Kurdistans und Anatoliens würdig ist und das allen Völkern einschließlich der Kurden Gleichheit, Freiheit und Demokratie bietet, kommt allen eine große Verantwortung zu. Ich rufe anlässlich dieses Newrozfestes genauso wie die Kurden auch die Armenier, Türkmenen, Aramäer, Araber und alle anderen Völker dazu auf, das Licht der Freiheit und Gleichheit, das aus den heute angezündeten Feuern leuchtet, auch als ihr eigenes Licht der Freiheit und Gleichheit zu betrachten." Öcalan (wie Anm. 1), o. S. 32 Zur Verdeutlichung, dass es hier nicht um einen spezifischen ethnischen Konflikt, sondern um das Problem einer Mehrheitsgesellschaft geht, erläutert Insel (wie Anm. 14), S. 9: „The ward ,Turk' should here be taken as not just an ethnicity but the social majority, which embraces the prevailing identity within the Turkish state. The members of this majority can be Turkish, but also Bosnian, Circassian, Albanian, Laz, Arab or Kurdish."

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

Was will also die türkische Mehrheitsgesellschaft bzw. die türkische Politik? Schaut man sich beispielsweise an Schulen um, wird eines deutlich: Die Tür• kei will ein Nationalstaat von Türken sein, und das mit aller Gewalt. Im Ein­ gangsbereich jeder Schule steht eine Büste des Staatsgründers Atatürk, dem ,Vater der Türken'. Sein Porträt schmückt jedes Klassenzimmer und Büro. Beim morgendlichen Fahnenappell müssen die Schüler den Nationaleid ru­ fen, der auch vorne in den Schulbüchern abgedruckt ist und in dem es heißt: „Oh, Du großer Atatürk! Auf dem Weg, den Du uns bereitest, und dem Ziel entgegen, das Du uns gezeigt hast, werde ich ununterbrochen gehen. Das schwöre ich! Mein Dasein soll dem türkischen Dasein gewidmet sein. "34 Der Weg, den Atatürk vorgibt, ist nationalistisch. Die Türkei gehört den Türken und das oberste Ziel ist die Erhaltung der Republik. In Atatürks Rede an die Jugend aus dem Jahr 1927, ebenfalls Bestandteil eines jeden Schulbuchs, heißt es: Türkische Jugend! Deine erste Pflicht ist, die türkische Unabhängigkeit und die Türkische Republik für alle Zeiten zu schützen und zu verteidi­ gen. Das ist die einzige Grundlage Deiner Existenz [ ... ] Auch in Zu­ kunft kann es innere und äußere Feinde geben, die Dir diese Quelle rauben wollen. Wenn Du eines Tages gezwungen sein wirst, Deine Un­ abhängigkeit und Deine Republik zu verteidigen, wirst Du diese Auf­ gabe ausfüllen [ ... ].35 Die nationale Idee ist seit der Gründung des Staates bis heute allgegenwärtig, und die Verteidigungsmechanismen sind nach wie vor wirksam. Berühmt-be• rüchtigt ist der Gesetzes-Paragraph 301, der die ,Beleidigung des Türkentums' unter Strafe stellt und wegen dem auch heute viele Menschen vor Gericht ste­ hen und nicht selten zu mehreren Jahren Haft verurteilt werden.36 Ein Sepa­ ratismus-Vorwurf besteht beispielsweise bereits, wenn Politiker in öffentli• chen Reden Kurdisch sprechen. Dass die Newroz-Botschaft im März 2013 in Diyarbakir vor zwei Millionen Menschen auf Türkisch und Kurdisch verlesen werden konnte, ist auch deshalb historisch so bedeutsam.

33 Insel (wie Anm. 14), S. 10. 34 Zitiert nach Dolzer (wie Anm. 8), S. 101. 35 Zitiert nach Dolzer, ebd. - Diese Rede aus dem Jahr 1927, vier Jahre nach Gründung der Republik, ist im Übrigen auch in den Lehrbüchern für die kurdischen Dialekte Kurmand­ schi und Zazaki abgedruckt, die seit September 2012 im neu eingeführten Wahlfach Kur­ disch an Schulen für die fünfte Klasse eingesetzt werden, denn das ist gesetzlich vorge­ schrieben. 36 Im Jahr 2012 gibt es in der Türkei mehr als 5000 politische Gefangene, vgl. Dolzer (wie Anm. 8), S. 10, darunter Schriftsteller, Politiker, Journalisten und Intellektuelle.

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3. ASPEKTE DER LITERATUR MIT BEZUGSPUNKT KURDISTAN

Literatur mit dem Fokus auf Kurdistan aus der Perspektive Betroffener berichtet von kollektiven Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung. Viele Texte tragen autobiographische Züge oder sind im Stil von Erlebnis­ berichten geschrieben. Dazu zählen beispielsweise Texte über eine von Ent­ behrungen und Gewalt geprägte Kindheit37 sowie über die Erfahrungen von Gefängnis und Folter.38 So wie bei Flüchtlingen im Exil ein ,kurdisches Bewusstsein' erwacht, entwickelt sich auch in den Herkunftsländern durch geteilte Unrechtserfahrungen ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft, der Solidarität und des Widerstands. Ali Bi<;ers er­ 39 schütternde Erzählung Ein Strick aus Anteilnahme , die dieser im Gefängnis von Mamak 1987 schrieb, berichtet aus der Ich-Perspektive eines Häftlings, der vor dem Militärgericht von Mamak zum Tode verurteilt wird. Die Er­ zählung beginnt mit dem Tag des Gerichtsurteils, berichtet von den Gedan­ ken des Protagonisten während der kurzen Zeit in den Isolationszellen der zum Tode Verurteilten, die durch Reflexionen gegenwärtiger Begebenhei­ ten (das Verhalten des Richters, der Soldaten sowie der Mithäftlinge) und Erinnerungen geprägt sind, und endet mit dem Gang aus der Todeszelle zur Vollstreckung des Urteils, während dem ihm die Mithäftlinge trotz strikten Verbots applaudieren, um ihm Mut zu machen und ihn ihrer Soli­ darität zu versichern:

Ich gehe aus der Zelle, durch den Gang. Hinter mir wird die Tür zum Gang verriegelt. Undeutlich höre ich ein Klatschen. Schlagen sie etwa die Kameraden, überlege ich. Das Klatschen verstärkt sich und wird immer deutlicher. Nein, nein, das sind keine Stockschläge. Klatschen von Hän• den, Applaus ist das! Schnell schwillt es an, schwillt immer mehr an. Wie ein Orkan rauscht es durch die Stille des Gefängnisses. Von den Mauem schallt es zurück, verteilt sich weiter.[ ... ] An diesem Ort, an dem alles ver­ boten ist: Singen, Pfeifen, Sprechen, die Hände in die Hosentaschen zu ste­ cken, die Haare so lang wachsen zu lassen, daß man sie kämmen könnte,

37 Vgl. Salim Barakat: Der eiserne Grashüpfer. 1995 und Die Spiele der jungen Hähne. 2000 (bei­ des Übersetzungen aus dem Arabischen); Nihat Behram: Schwalben des verrückten Lebens. 1992 (aus dem Türkischen); Hiner Saleem: Das Gewehr meines Vaters. Eine Kindheit in Kur­ distan. 2004 (aus dem Französischen). 38 Vgl. die autobiographischen Berichte von Mehdi Zana: Hölle Nr. 5. Tagebuch aus einem tür• kischen Gefängnis. Übersetzung aus dem Türkischen, 1997 und die Memoiren Musa Anters (wie Anm. 17) sowie Erzählungen von Ali Bic;er (1997) (s. Anm. 39), Zuhdi Al-Dahoodi (Tollwut, 1991) u. a. 39 Aus dem Erzählband Die Falle; Ali Bic;er: Ein Strick aus Anteilnahme, in: ders.: Die Falle. Erzählungen. Übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Winterthur (Ararat) 1997, s. 94-118.

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

nebeneinander auf und ab zu gehen, Lachen und Lächeln, hier an diesem Ort rufen die Kameraden und ihre Klatschkaskade mich auf die Bühne, zum Widerstand.40 In dieser Erzählung, die nur wenige Tage des Lebens des Protagonisten um­ fasst, erfährt der Leser nichts über die Hintergründe der Gefangennahme und des Todesurteils. Anhand der Beschreibung der Foltermethoden41 wird je­ doch deutlich, dass es sich um einen politischen Gefangenen handelt. Das Ge­ fühl der Zugehörigkeit zur Gruppe der politischen Häftlinge erwächst zum einen aus der geteilten Erfahrung der Unterdrückung und Folter, zum ande­ ren aus dem Widerstand dagegen. Eine These, die sich aus diesen Beobachtungen ableiten lässt und die es an weiteren Textbeispielen zu überprüfen gilt, ist: Durch die Reflexion geteilter Er­ fahrungen tragen die Texte der ,kurdischen Exilliteratur' zur Konstitution einer kol­ lektiven Identität bei. Das ,Kurdisch-Sein' verweist damit nicht auf eine ethnisch oder kulturell geprägte, sondern auf eine durch die gesellschaftspolitischen Umstände geprägte Identität. Sie definiert sich durch die Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft und verweist gleichzeitig auf die Position im so­ zialen Konflikt auf der Seite der Unterdrückten. Kurdische Exilliteratur ist eine engagierte Literatur, stets musste sie sich ge­ gen Repressionen behaupten. Zuhdi Al-Dahoodi bemerkt: „[A]ls kurdischer Schriftsteller kann man sich heute dem politischen Aspekt kaum entzie­ hen.",42 und im Vorwort seines Buchs zu Geschichte, Kultur und Überlebens• kampf der Kurden erläutert er auch sein eigenes Engagement: Seit Jahrhunderten leiden die Kurden unter Mord, Deportation, Kerker, Folter, Hunger und Unterdrückung. Dies alles sind - im Sprachgebrauch der sogenannten hochzivilisierten Staaten-völkerrechtswidrige Maßnah• men. Doch obwohl diese „Maßnahmen" auch in der Gegenwart traurige Realität sind, nimmt die Weltöffentlichkeit kaum Notiz davon,[ ... ] Kurdi­ stan scheint nicht von öffentlichem Interesse zu sein. Aber hieße das nicht

40 Ebd., S. 118. 41 Zum Beispiel die Beschreibung des „Abendappells", die eine bekannte Methode im Um­ gang mit politischen Gefangenen, so genannten ,Staatsgegnern', darstellt: „Sobald sich die Tür zum Gang öffnet, drehen wir uns mit dem Gesicht zu den Pritschen und warten in der Grundhaltung ab. Beim Betreten der Zelle brüllt der Unteroffizier des Trupps aus Leibes­ kräften: ,Zelle sechs!' ,Zu Befehl, Kommandant!' ,Wer ist Atatürk?' ,Atatürk hat die Hei­ mat befreit, hat den Feind besiegt, er ist der größte Held!' ,Atatürks Rede an die Jugend - fangt an!' ,Ey, Türkische Jugend! Deine vordringlichste Aufgabe sind Bewahrung und Ver­ teidigung der türkischen Unabhängigkeit und der Türkischen Republik ... Die Kraft, derer du bedarfst, liegt in dem edlen Blut deiner Adern ... "'. Ebd., S. 107f. 42 Zuhdi Al-Dahoodi: Die Kurden. Geschichte, Kultur und Überlebenskampf Frankfurt/M. (Um­ schau) 1987, S. 146.

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letztendlich, daß all die genannten Völkerrechtswidrigkeiten schon selbst­ verständlich zu unserem Alltag gehören?! Mit der vorliegenden Publika­ tion will und muß ich gegen diese Haltung ankämpfen, mit der Waffe der Vernunft und des Wortes. Ebensosehr hoffe ich, daß sie der Vernunft dient. Und der Solidarität mit meinem Volk. 43 „Bei genauem Lesen meiner Werke wird an einigen Stellen deutlich, welch Schmerz mich dazu veranlaßt hat, zu schreiben.", antwortet Faryad Fazil Omar auf die Frage nach seiner Motivation zum Schreiben im Interview mit Mahmood Hama Tschawisch.44 Das Aufmerksam-Machen auf und Anklagen von Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsverletzungen ist als Motivation in vielen Texten kurdischer Exilautorinnen herauszulesen. Dazu gehören so­ wohl persönliche als auch kollektive Erfahrungen, sowohl aktuelle Miss­ stände als auch die Reflexion historischer Ereignisse. Zwei solcher histori­ schen Ereignisse, die in kurdischer Exilliteratur prominent vertreten sind, möchte ich abschließend vorstellen. Der historische Roman Dersims Stimme. Die Kinder von 1938 von Celal Yildiz (2010) thematisiert die kurdische Widerstandsbewegung unter Seyid Riza und den anschließenden militärischen Vemichtungsschlag der türkischen Regie­ rung, bei dem in unvorstellbaren Massakern tausende Menschen umgebracht wurden.45 Der Titel des Buches verweist auf seine Intention: Den Opfern des Massakers, sowohl den überlebenden als auch den toten, eine Stimme zu geben. Im August Neunzehnhundertachtunddreißig wurden Tausende [sie] Kin­ der und Babys in die Köpfe geschossen oder sie wurden mit dem Bajonett aufgespießt, weil man sich die Kugeln sparen wollte. Man übergoss sie mit Benzin und verbrannte sie. Die Welt nahm keine Notiz davon. Sie war taub und blind.46 Seit Neunzehnhundertachtunddreißig ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Keiner erinnert sich der Ungerechtigkeit, niemand bat um Ver­ zeihung. Weder hat unser Volk seinen Frieden gefunden, noch seine Frei­ heit erlangt [ ... ].47

43 Ebd., S. 9. 44 Fazil Omar im Interview mit Mahmood Hama Tschawisch, in: ders.: Die kurdische Exillite­ ratur in Deutschland von den 70er Jahren bis heute. Marburg (Tectum) 1996, S. 131. 45 Celal Yildiz: Dersims Stimme. Die Kinder von 1938. Roman. Übersetzt aus dem Türkischen von John Tabisch-Haupt. Bonn (Free-Pen-Verlag) 2010. Expliziten Bezug auf Dersim neh­ men auch die Romane Haydar I~iks: Der Agha aus Dersim. Übersetzung aus dem Türki• schen, 1992 und Die Vernichtung von Dersim. Ubersetzung aus dem Türkischen, 2012, sowie mehrere Gedichte Hussein Habaschs aus dem Band Schreiben auf dem Gesicht der Zeit, 2013. 46 Yildiz (wie Anm. 45), S. 29. 47 Ebd., S. 273f.

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

Der Name ,Dersim' ist im kollektiven Gedächtnis der Bewohner Kurdistans unweigerlich mit den Massentötungen 1937/38 in der ursprünglich gleichna­ migen Provinz verknüpft, die 1935 in Tunceli umbenannt wurde.48 Seitens der türkischen Regierung gibt es bis heute keine ,angemessene' Erinnerung an die Massaker, ja diese werden größtenteils sogar bestritten oder als „gerechtfer• tigte Reaktionen unvermeidlicher Geschehnisse im Rahmen des Krieges be­ wertet" .49 Die Äußerung von Premierminister Erdogan im November 2011: „ Wenn man sich im Namen des Staates entschuldigen muss, dann entschul­ 50 dige ich mich hiermit." , ist nicht nur kein Schuldeingeständnis, sondern sie bestärkt noch die Zweifel daran, dass überhaupt eine Schuld vorliegt. Die von regionalen Initiativen geplante Aufstellung der insgesamt 60 Mahnmale in der Region wird durch bürokratische Schikanen erschwert und verzögert.51 Eine umfassendere Aufarbeitung der Ereignisse hat im öffentlichen Diskurs noch nicht stattgefunden, und so ist die Forderung Yildiz', die dieser mit sei­ nem Roman 2010 - nicht nur an die Öffentlichkeit in der Türkei, sondern auch an die Öffentlichkeit in Deutschland bzw. Europa-stellt, nach wie vor aktuell. Eine historische Tragödie jüngeren Datums, die in der Öffentlichkeit we­ nig bekannt wurde und in literarischen Texten erinnert wird, ist der Angriff mit Giftgasbomben von Saddam Hussein auf die irakische Stadt Halabdscha52 im März 1988, bei dem etwa 5000 Menschen, überwiegend Zivilisten, qualvoll starben.53 In Nazif Teleks Gedicht Brief an die Lebenden (geschrieben 1988) erlebt die Ich-Instanz als Kind diesen Angriff. Sie berichtet von der brutalen Gewalt der Vergiftung durch die Gasbombe und erhebt auch Anklage gegen Deutsch­ land, das als Waffenlieferant an dem Krieg beteiligt ist:54

48 Im Rahmen des „Demokratisierungspakets" der Regierungspartei AKP (2013) wurde die Rückgängigmachung dieser Namensänderung in Aussicht gestellt, jedoch bislang nicht umgesetzt. 49 Bülent Ate~ und Kamal Sido: „Dersim. Die Geschichte einer unterdrückten Region in Tür• kisch-Kurdistan", in: Gesellschaft für bedrohte Völker. 2007. URL: http://www.gfbv.de/in­ haltsDok.php?id=1017 [04.03.2012], o. S. 50 Ebd. (Hervorhebung von mir; T.S.) 51 Vgl. Ekrem Eddy Güzeldere: „Fanal gegen das Vergessen", in: Qantara 26.03.2013. URL: http://de.qantara.de/Fanal-gegen-das-Vergessen/20853c23126i0p8/index.html [29.03.2013], o. s. 52 Unterschiedliche Schreibweisen, auch: Halab<;:a, Halabja, Halabje, Heleb<;:e u. ä. 53 Vgl. Strohmeier und Yal<;:in-Heckmann (wie Anm. 7), S. 134. 54 Deutschland ist der weltweit drittgrößte Waffenexporteur und die Türkei einer seiner größten Abnehmer, vgl. SIPRI Yearbook 2011. Armaments, Disarmament and International Security. SIPRI ( International Peace Research Institute). Kurzfassung auf Deutsch. Hrsg. v. der Friedrich Ebert Stiftung. URL: http://www.sipri.org/yearbook/2011/ files/SIPRIYBllsummaryDE.pdf [09.10.2013], S. 12. Noch im Januar 2013 lieferte die Bundesregierung Patriot-Abwehrraketen in die Türkei, die nahe der syrischen Grenze sta­ tioniert wurden.

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In den Armen meines Vaters kauere ich, noch ein Kind, auf dem Erdboden. Giftwolken, eine deutsche Spezialität, würgen unsere Kehlen, eisernen Fingern gleich. Vögel, Schmetterlinge fallen vom Himmel55 Das Ende des Gedichts deutet auf den Tod: „Dunkel wird es um mich herum, 56 /die Augen sehen nicht mehr,/ mein Herz steht sti11" • In diesem Gedicht ist der Aspekt des Erzählens der Ereignisse von Halabdscha Hauptmotivation des Schreibens, wohingegen die Literarizität der Sprache demgegenüber et­ was zurücksteht: Die Ausdrucksweise ist alltagsnah und die Vergleichsbilder bleiben auf einem eher gewöhnlichen Level. Ein Text, der die Balance zwischen Textaussage und literarischer Qualität besser hält, indem er vom historischen Kontext stärker abstrahiert und mit­ hilfe literarischer Stilmittel (wie im folgenden Beispiel durch Wiederholungen und Verstärkungen sowie stärkere Fiktionalisierung) die Atmosphäre der To­ deserfahrung im Giftgasangriff transportiert, ist die surreale Erzählung Der Kopf, der alles vergaß von Kurdo Husen (aus dem Kurdischen übersetzt von Husen Düzen und Tanja Duncker): Als ich davonrannte, als ich die Flucht ergriff, ahnte ich nicht, daß ich mich so weit von zu Hause entfernen würde. Ich schwitzte am ganzen Körper, und der Schweiß, der von meiner Stirne tropfte, brannte in meinen Augen. Mein Herz klopfte und wollte mir fast aus der Brust springen. Vor wem floh ich? Was war der Grund meiner Furcht? Ich floh vor allem und jedem, meine ganze Umgebung versetzte mich in Todesangst. Vor Halab<;a Feuer, nach Halab<;a Feuer und in der ganzen Geschichte Halab<;as Feuer ... Halab<;a, das war Feuer, Brand, Lohe, Flamme. Halab<;a war immer mitten in Wind und Sturm. Halabc;a war dauernd im Regen des Todes und der Z ers torung.. ... 57 Der Protagonist erlebt mehrere Tode. Bei der Ankunft in einer großen Stadt wird er erschossen und mit einem Messer enthauptet. Ein Wissenschaftler

55 Telek (wie Anm. 4), S. 16f., hier S. 17. 56 Ebd. 57 Kurdo Husen: Der Kopf, der alles vergaß. Übersetzt aus dem Kurdischen von Husen Düzen und Tanja Duncker, in: Düzen Husen (Hrsg.): Zehn kurdische Erzähler. Winterthur (Ara­ rat) 1996, S. 76-83, hier S. 76.

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Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext

nimmt den Kopf mit in sein Haus, wo er ihn in einer chemischen Lösung aus­ kocht, so dass nur noch der weiße Schädel übrigbleit. Erst jetzt wird ersicht­ lich, dass die Erzählstimme jenem Schädel gehört, der ein ums andere Mal die Geschichte seiner Flucht aus Halabdscha wiederholt und doch keine Spur im Gedächtnis hinterlässt: Liebe Leser! Zuhörer dieses Abenteuers! Ich verwirre Euch und zudem erfülle ich mein Versprechen nicht. Ich sagte, ich würde mich Euch vorstel­ len, aber ich vergaß es. Doch wie Ihr wohl wißt, bin ich ohne Gedächtnis und vergesse alles schnell. Mein Kopf ist ohne Gehirn, wie ein Sieb mit großen Löchern, nichts bleibt darin hängen. Geduldet Euch ein wenig! Ich werde Euch sagen, wer ich bin, sobald mein Gedächtnis in meinen Kopf zurückkehrt [ ... ] .58

Deutlich lesen wir hier nicht nur Schilderungen der grausamen Erlebnisse, sondern auch die Anklage, dass die Schuld an diesen Untaten bis heute nicht eingestanden und in keiner Weise eine ,angemessene' Reflexion der Ge­ schichte geleistet wurde. Eine weitere These, die sich aus den oben vorgestell­ ten Textbeispielen ableiten lässt, ist: In kurdischer Exilliteratur werden historische Ereignisse erinnert, die in der Öffentlichkeit bislang kaum oder nur ungenügend re­ flektiert werden.

SCHLUSSBEMERKUNG UND AUSBLICK

Kurdische Exilliteratur ist eine Literatur, die anklagt, Stellung bezieht und Re­ chenschaft fordert, insbesondere dann, wenn ihr Fokus sich auf das Her­ kunftsland und damit auf die Gründe für die Exilsituation bezieht. Literatur fungiert hier als Spiegel der gesellschaftspolitischen Verhältnisse: Die Erfah­ rungen, von denen in der Literatur berichtet wird, geben Anlass auch für den deutschsprachigen Kontext, gegenwärtige Positionen im ,Kurdenkonflikt' zu überdenken (beispielsweise das Verhältnis von ,Terror' und ,Widerstand' und in dem Zuge die Hinterfragung der Einstufung der PKK als ,Terrororganisa­ tion'). Denn das so genannte ,Kurdenproblem' ist nicht auf die Herkunftslän• der beschränkt, sondern auch ein europäisches Problem. Vom gegebenen Kontext weiter abstrahiert kann der hier vorgeschlagene Ansatz einer de­ essentialisierenden Analyse zudem zu einer Sensibilisierung für vorschnelle Reduzierung von sozialen Konflikten auf vermeintliche ethnische Unter­ schiede beitragen.

58 Ebd., S. 83.

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Im weiteren Verlauf des Forschungsprojektes gilt es, weitere Themen und Aspekte dieser Literatur herauszuarbeiten, von denen in diesem Beitrag ledig­ lich zwei kurz vorgestellt wurden. Da der Gegenstand noch sehr unerforscht ist, bieten sich viele Anschlussmöglichkeiten. Zunächst sollen ausgewählte Werke genauer in den Blick genommen und unter der Fragestellung, wie sich soziale Konflikte im Text manifestieren, analysiert werden. Interessant zu un­ tersuchen ist dabei auch, inwieweit es Gemeinsamkeiten und/ oder Unter­ schiede zwischen Texten von Autorinnen unterschiedlicher Herkunftsländer gibt. Schließlich soll der Fokus auch auf Texte ausgeweitet werden, die den Blick nicht primär auf das Herkunftsland, sondern auch auf das Exil richten, und somit die Frage nach der Verhandlung sozialer Konflikte auch im Kontext der Exilländer aufgeworfen werden.

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