08.11.2019

Gericht BVwG

Entscheidungsdatum 08.11.2019

Geschäftszahl I415 2224340-1

Spruch I415 2224340-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes LÄSSER über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, Staatsangehörigkeit Irak, gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX, geb. XXXX, diese vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe und den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.09.2019, Zl. XXXX, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Eltern des minderjährigen Beschwerdeführers und zwei minderjährige Brüder und die minderjährige Schwester des Beschwerdeführers stellten am 31.12.2015 nach ihrer schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Genannten sind Staatsangehörige des Irak und gehören der kurdischen Volksgruppe an.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion XXXX am Tag der Antragstellung legte der Vater des Beschwerdeführers dar, den Namen XXXX zu führen. Er sei am XXXX1985 in XXXX geboren, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und bekenne sich zum Islam. Zuletzt habe er in Erbil gelebt und als Hilfsarbeiter gearbeitet.

Im Hinblick auf den Reiseweg brachte der Vater des Beschwerdeführers zusammengefasst vor, den Irak am 10.12.2015 mit der Mutter des Beschwerdeführers und den gemeinsamen Kindern legal von Erbil ausgehend auf dem Landweg in die Türkei verlassen zu haben. In der Folge sei er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt und von dort aus auf dem Landweg zunächst nach Deutschland und dann nach Österreich gelangt.

Zu den Gründen der Ausreise befragt, führte der Vater aus, er habe im Irak unter Armut gelitten und keine Arbeit gefunden. Im Fall der Rückkehr fürchte er sich vor der Armut. Einer seiner Söhne würde außerdem eine medizinische Operation benötigen, die er sich im Irak nicht habe leisten können.

Die Mutter des Beschwerdeführers brachte im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion XXXX vor, den Namen XXXX zu führen. Sie sei am www.ris.bka.gv.at Seite 1 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

XXXX1992 in XXXX geboren, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und bekenne sich zum Islam. Zuletzt habe sie in Erbil gelebt und den Haushalt geführt.

Zu den Gründen der Ausreise befragt, führte sie aus, den Irak aufgrund von Armut und Arbeitslosigkeit verlassen zu haben. Ihr jüngster Sohn benötige außerdem eine medizinische Operation, für die das Geld fehle.

Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.08.2016 und vom 07.08.2016, Zlen. XXXX, XXXX, XXXX, XXXX und XXXX, wurden die Anträge der Genannten auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass gemäß Art. 13 Abs. 1 iVm Art. 22 Abs. 7 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates Kroatien für die Prüfung der Anträge zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung der Genannten gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG 2005 angeordnet und festgestellt, dass deren Abschiebung nach Kroatien gemäß § 61 Abs. 2 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Den dagegen fristgerecht eingebrachten Beschwerden wurde mit Erkenntnis vom 07.11.2016 gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG wegen Ablaufs der Überstellungsfrist Folge gegeben und die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.08.2016 und vom 07.08.2016 behoben und wurden die Anträge internationalen Schutz zugelassen.

Nach Zulassung der Verfahren wurde der Vater des Beschwerdeführers am 10.08.2017 vor dem BFA im Beisein eines gerichtlich beeideten Dolmetschers in der Sprache Sorani niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Eingangs bestätigte der Vater einvernahmefähig zu sein und die Sprache Sorani zu verstehen. Zu seiner Person legte er konkretisierend dar, den Namen XXXX zu führen und sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung zu bekennen. Seine Mutter sei verstorben, sein Vater lebe ebenso wie seine drei Schwestern und ein Bruder in Erbil. Zwei Brüder hielten sich in Österreich auf. Im Irak habe er zuletzt als Peschmerga gedient und nebenbei als Tischler auf Baustellen gearbeitet. Mit der Mutter des Beschwerdeführers sei er seit dem 12.06.2009 verheiratet.

Befragt nach dem Grund für das Verlassen des Heimatstaates gab der Vater an, er habe in Erbil kein normales Leben führen und regelmäßig die Unterkunft wechseln müssen, da er die Miete nicht bezahlen habe können. Er sei mit seiner Familie oft "auf die Straße gesetzt" worden und habe dann die Nach auf der Straße verbringen müssen. Sein Gehalt als Peschmerga habe er nur unregelmäßig erhalten und sich deshalb nebenbei als Arbeiter verdingen müssen.

Auf Nachfrage legte der Vater dar, nach seiner Ankunft in Österreich seinen Kommandanten telefonisch darüber informiert zu haben, dass er nicht mehr als Peschmerga arbeiten wolle. Der Kommandant habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass er ihn in nicht mehr sehen wolle. Auf neuerliche Nachfrage legte der Vater außerdem dar, die Peschmerga hätten seinen Vater festgenommen und diesen verhört. Der Kommandant habe ihm telefonisch ferner mitgeteilt, dass er im Fall einer Rückkehr festgenommen würde. Seinen Ausweis als Peschmerga könne er nicht vorweisen, da er ihn im Irak zurückgelassen habe.

Nach nochmaliger Nachfrage legte der Vater konkretisierend dar, ein Leibwächter seines Kommandanten ihn nach der Einreise angerufen. Dieser habe dann sein Mobiltelefon dem Kommandanten übergeben, der ihn nach dem Grund seiner Ausreise befragt habe. Daraufhin sei ihm eine lebenslange Inhaftierung angedroht worden. Wenn er nun in den Irak zurückkehren würde, müsse er entweder weiterhin seinen Dienst als Peschmerga versehen oder er werde inhaftiert. Die Mutter des Beschwerdeführers und die gemeinsamen Kinder wären im Rückkehrfall keinen Schwierigkeiten ausgesetzt, jedoch sei die Versorgung mit Nahrung und Unterkunft schwierig.

Die Mutter des Beschwerdeführers wurde ebenfalls am 10.08.2017 vor dem BFA im Beisein eines gerichtlich beeideten Dolmetschers in der Sprache Sorani niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Auch die diese bestätigte eingangs einvernahmefähig zu sein und die Sprache Sorani zu verstehen. Zu ihrer Person legte sie konkretisierend dar, den Namen XXXX zu führen und sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung zu bekennen. Ihr Vater sei verstorben, ihre Mutter lebe ebenso wie ihre drei Schwestern und ihres zwei Brüder in Erbil bzw. in der Umgebung von Erbil in der autonomen Region Kurdistan. Im Irak habe sie einige Monate als Friseurin gearbeitet und nach der Eheschließung bis zur Ausreise den Haushalt geführt.

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Befragt nach dem Grund für das Verlassen des Heimatstaates legte sie dar, dass im Irak kriegerische Auseinandersetzungen vorherrschen würden. Ihr Ehegatte habe als Peschmerga an Kampfhandlungen teilnehmen müssen. Die gesamte Familie habe in einem kleinen gemieteten Haus gelebt und schwierige Lebensumstände gewärtigen müssen. Für eine Operation ihres Sohnes an dessen Augen habe sie leihen müssen. Dieser Sohn habe in Österreich eine weitere Operation benötigt, da er an einer Hasenscharte leiden würde. Ein anderer Sohn habe aufgrund eines Unfalls am Auge operiert werden müssen.

Auf Nachfrage bekräftigte sie außerdem, keine eigenen Fluchtgründe vorbringen zu wollen. Im Fall einer Rückkehr in den Irak würde sie jedoch keine Existenzgrundlage vorfinden, was auch für die gemeinsamen Kinder gelten würde. Sie werde auch im Fall einer negativen Entscheidung in Österreich bleiben.

Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.08.2017, Zlen. XXXX, XXXX, XXXX, XXXX und XXXX, wurden die Anträge des Vaters, der Mutter, der zwei Brüder und der Schwester des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak jeweils gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider die Genannten jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Genannten in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, die vorgebrachte Desertion des Vaters des Beschwerdeführers von den kurdischen Peschmerga und die damit zusammenhängende und von seinem ehemaligen Kommandanten ausgehende Gefährdung werde als nicht glaubhaft erachtet. Die Mutter des Beschwerdeführers habe keine eigenen Ausreisegründe vorgebracht.

Eine Rückkehr in den Irak sei den Genannten möglich und zumutbar, da der Vater gesund und arbeitsfähig sei und er im Fall einer Rückkehr in die autonome Region Kurdistan den Lebensunterhalt seiner Familie sicherstellen könne. Darüber hinaus bestünden familiäre Anknüpfungspunkte aufgrund der in der autonome Region Kurdistan lebenden Verwandten der Eltern des Beschwerdeführers. Die Geschwister der Beschwerdeführer würden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen leiden, ihre weitere medizinische Versorgung sei im Irak gewährleistet.

In der im Wege der beigegebenen Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachten gemeinsamen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wurde inhaltliche Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, die angefochtenen Bescheide abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und den Genannten den Status eines Asylberechtigten oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 vorliegen und den Genannten einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen und schließlich festzustellen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig sei und festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG 2005 vorliegen und den Genannten eine Aufenthaltsberechtigung (plus) gemäß § 55 AsylG 2005 zu erteilen. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

In der Sache wird im Wesentlichen vorgebracht, das belangte Bundesamt habe die angefochtenen Bescheide auf unzureichende Länderinformationen gestützt und insbesondere die Einholung von Berichten zur Lage von Kämpfern der Peschmerga, die den Dienst beenden und denen deshalb Verfolgung drohen würde unterlassen. Darüber hinaus habe das belangte Bundesamt nur oberflächliche Berichte über die allgemeine Lage und die Sicherheitslage in der Herkunftsregion der Genannten herangezogen und es gänzlich unterlassen, die Lage der Genannten als fünfköpfige Familie im Irak zu berücksichtigen.

In der Folge werden in der Beschwerde über mehrere Seiten länderkundliche Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat, die Schutzunwilligkeit der irakischen Behörden, die Empfehlung des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zu innerstaatlichen Fluchtalternativen sowie zur Rückkehr in den Irak und schließlich zur Desertion auszugsweise zitiert. Den Berichten zufolge drohe den Genannten im Fall einer Rückkehr in den Irak asylrelevante Verfolgung.

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Am XXXX2018 wurde ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers in Feldbach im Bundesgebiet geboren. Er stellte durch seine Mutter als seine gesetzliche Vertreterin am 23.05.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Antrag des am XXXX2018 geborenen Bruders auf internationalen Schutz mit Bescheid des BFA vom 30.05.2018, Zl. XXXX, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider den Genannten eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 wurde außerdem festgestellt, dass die Abschiebung des Genannten in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.) Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Obiger Bescheid des BFA vom 30.05.2018, Zl. XXXX, wurde der Mutter als gesetzliche Vertreterin des Sechstbeschwerdeführers am 01.06.2018 durch Hinterlegung zugestellte. Eine Beschwerde wurde dagegen nicht erhoben.

Mit Erledigung vom 09.07.2018 wurde der Verwaltungsakt seitens des BFA unter Hinweis auf die anhängigen Beschwerdeverfahren der Familienmitglieder des Sechstbeschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

Am 06.02.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Vaters und der Mutter, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Sorani durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Vater und der Mutter - auch in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreter ihrer minderjährigen Kinder - einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation sowie ihre Rückkehrbefürchtungen umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der im Vorfeld übermittelten Länderdokumentationsunterlagen und Anfragebeantwortungen erörtert.

Am XXXX wurde der Beschwerdeführers in Feldbach im Bundesgebiet geboren.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.06.2019, Zlen. L521 2170253, L521 2170255, L521 2170258, L521 2170260, L521 2170261, L521 2201029 wurden die Beschwerden des Vaters, der Mutter und der vier Geschwister des Beschwerdeführers mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 3 FPG 2005 mit 6 Monaten ab Rechtskraft der angefochtenen Bescheide neu festgesetzt wird.

Der Beschwerdeführer stellte durch seine Mutter als seine gesetzliche Vertreterin am 27.06.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Nach Zulassung des Verfahrens wurde seine Mutter als gesetzliche Vertreterin vor dem BFA RD Burgenland einvernommen. Dabei führte sie aus, dass der Beschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe und auf Nachfrage bei einer Rückkehr in den Irak auch nichts zu befürchten habe.

Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 27.06.2019 wurde mit Bescheid des BFA vom 09.09.2019, Zl. XXXX, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider den Genannten eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 wurde außerdem festgestellt, dass die Abschiebung des Genannten in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.) Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der im Wege der beigegebenen Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachten Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wurde inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert. Zudem habe sich die belangte Behörde überhaupt nicht mit dem Kindeswohl des Beschwerdeführers beschäftigt. Es werde lediglich angeführt, dass für den Beschwerdeführer im Heimatland keine Gefährdung vorläge weil auch die Familie des Beschwerdeführers von der aufenthaltsbeenden www.ris.bka.gv.at Seite 4 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Maßnahme betroffen sei und damit auch keine Gefährdung des Kindeswohls bestehe. Weiters wurde moniert, dass es zu einer gravierenden Änderung der Sicherheitslage im Irak gekommen sei und es tagesaktuell nicht danach aussehe, dass sich die Situation im Heimatland des Beschwerdeführers verbessern werde. Auch stelle die Konfliktsituation der Türkei mit den Kurden in Syrien ein Bedrohungspotential für den Irak und sogar für den Kindesvater des Beschwerdeführers dar, da dieser ein Peschmerga sei. Das Kurdengebiet erstrecke sich auch auf den Irak, ein Konflikt der Türkei mit den Kurden in Syrien werde sich unweigerlich auf das gesamte kurdische Gebiet beziehen und die schon jetzt angespannte Situation weiter destabilisieren. Es wurde beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 vorliegen und dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen und schließlich festzustellen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig sei und festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG 2005 vorliegen und dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung (plus) gemäß § 55 AsylG 2005 zu erteilen. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die unter Punkt I getroffenen Ausführungen werden als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der knapp sechs Monate alte irakische Beschwerdeführer ist in Österreich geborener Sohn zweier volljähriger abgelehnter Asylwerber seiner Staatsangehörigkeit sowie der kurdischen Volksgruppe zugehörig. Der Asylantrag seiner drei Brüder (acht, sieben und ein Jahr alt) und seiner fünfjährigen Schwester gleicher Staatsangehörigkeit wurde ebenso abgelehnt. Sämtliche Ablehnungen seiner Familienmitglieder hat dieses Gericht am 05.06.2019 bestätigt.

Der Beschwerdeführer weist in Österreich schon altersbedingt keine sprachlichen, sozialen oder integrativen Verfestigungen auf und kann aus demselben Grund seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten.

1.1.1. Der Vater des Beschwerdeführers wurde am XXXX1985 in Erbil geboren und lebte dort gemeinsam mit seiner Familie bis zur Ausreise in einem gemieteten Haus im Stadtteil XXXX. Er ist Muslim und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, er ist mit der Mutter des Beschwerdeführers seit dem 12.06.2009 verheiratet und der leibliche Vater des Beschwerdeführers, seiner drei minderjährigen Brüder und seiner minderjährigen Schwester.

Der Vater ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung. Aufgrund einer im Irak eingetretenen Schädigung der Trommelfelle nimmt er fallweise Ohrentropfen ein.

Er besuchte im Irak die Grundschule im Ausmaß von sechs Jahren. Im Alter von 17 Jahren trat er als Arbeiter in das Erwerbsleben ein. Ab dem Jahr 2003 diente er außerdem als Berufssoldat bei den kurdischen Peschmerga, zuletzt als Korporal. Während der dienstfreien Zeit war der er weiterhin als Arbeiter und Tischler auf Baustellen sowie als Taxifahrer tätig. Er verfügt über einen Führerschein für Personen- und Lastkraftfahrzeuge und schwere Anhänger.

Die Großmutter väterlicherseits des Beschwerdeführers verstarb im Jahr 2009 eines natürlichen Todes. Der Großvater väterlicherseits lebt in der autonomen Region Kurdistan in der Stadt Erbil gemeinsam mit zwei der drei Tanten des Beschwerdeführers, er betreibt dort einen Handel mit Altwaren. Eine weitere Tante des Beschwerdeführers ist verheiratet, sie lebt mit ihrem Ehemann und den drei Kindern ebenfalls in Erbil. In Erbil lebt schließlich einer der drei Onkel des Beschwerdeführers, er ist verheiratet, hat sechs Kinder und ist beruflich als Bauarbeiter erwerbstätig.

Zwei weitere Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers leben im Bundesgebiet: XXXX, geb. XXXX, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.04.2015 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. XXXX, geb. XXXX, hält sich aufgrund eines am 03.09.2015 gestellten Asylantrages als Asylwerber www.ris.bka.gv.at Seite 5 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 im Bundesgebiet auf, wobei der Asylantrag seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vollumfänglich abgewiesen wurde und dagegen eine - noch nicht erledigte - Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben wurde.

Am 12.12.2015 verließ der Vater des Beschwerdeführers den Irak von Erbil ausgehend gemeinsam mit seiner Familie mit dem Reisebus in die Türkei und gelangte in der Folge schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und weiter nach Österreich, wo er am 31.12.2015 in XXXX festgenommen wurde und in weiterer Folge einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Für die Ausreise und die anschließende Schleppung wendete der Vater des Beschwerdeführers ca. USD 10.000,00 auf.

1.1.2. Die Mutter des Beschwerdeführers führt den Namen XXXX, sie ist Staatsangehörige des Irak und Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Sie wurde am XXXX1992 in Erbil geboren lebte dort gemeinsam mit ihrer Familie bis zur Ausreise in einem gemieteten Haus im Stadtteil XXXX. Sie ist Moslemin und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, sie ist mit dem Vater des Beschwerdeführers seit dem 12.06.2009 verheiratet und die leibliche Mutter des Beschwerdeführers und seiner vier Geschwister.

Sie ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

Sie besuchte im Irak die Grundschule in nicht feststellbarem Ausmaß. Sie ist des Lesens und des Schreibens mächtig. Sie erlernte den Beruf der Friseurin, trat jedoch nicht in das Erwerbsleben ein und widmete sich nach ihrer Eheschließung der Führung des Haushaltes und der Erziehung der Kinder.

Der Großvater des Beschwerdeführers mütterlicherseits verstarb im Jahr 2008 eines natürlichen Todes. Die Großmutter mütterlicherseits lebt in der autonomen Region Kurdistan in der Ortschaft XXXX nördlich von Erbil, sie bezieht eine Witwenpension und ist dadurch finanziell abgesichert. Beschwerdeführer hat drei Tanten mütterlicherseits, die allesamt verheiratet sind, den Haushalt ihrer Familie führen und in der autonomen Region Kurdistan leben: Eine lebt mit ihrer Familie in der Ortschaft XXXX nördlich von Erbil, sie hat drei Kindern. Eine weitere lebt in der Ortschaft XXXX nordöstlich von Erbil, sie hat sechs Kinder. Die dritte Tante lebt in der Stadt Erbil, sie hat fünf Kinder. Zudem hat der Beschwerdeführer zwei Onkel mütterlicherseits, die in der in der Ortschaft XXXX nördlich von Erbil leben. Einer der Onkel ist alleinstehend, der andere verheiratet und Vater zweier Kinder. Ein Onkel dient als Soldat bei den Peschmerga, der zweite Bruder ist derzeit erwerbslos.

Am 12.12.2015 verließ die Mutter des Beschwerdeführers den Irak von Erbil ausgehend gemeinsam mit ihrer Familie mit dem Reisebus in die Türkei und gelangte in der Folge schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und weiter nach Österreich, wo sie am 31.12.2015 in XXXX festgenommen wurde und in weiterer Folge einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.1.3. Ein Bruder des Beschwerdeführers heißt XXXX, er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er wurde am XXXX in Erbil geboren und lebte dort gemeinsam mit seiner Familie bis zur Ausreise in einem gemieteten Haus im Stadtteil XXXX. Er verließ den Irak noch vor Erreichen des schulpflichtigen Alters. Er beherrscht Sorani und Deutsch.

Er zog sich am 28.08.2016 beim Spielen eine Verletzung des linken Auges mit einem Holzstück zu und wurde an diesem Tag von der Universitätsaugenklinik des Landeskrankenhauses XXXX eine penetrierende Wunde des Augapfels ohne Fremdkörper linksseitig S05.6 diagnostiziert. Er wurde am 28.08.2016 operativ behandelt und am 03.09.2016 entlassen. Nach Sehverschlechterung und Schmerzen wurde er vom 29.08.206 bis zum 03.09.2016 neuerlich stationär behandelt, jedoch ohne weiteren Eingriff. Am 22.12.2016 wurde die Hornhautnaht linksseitig operativ entfernt. Die Operation gestaltete sich einschließlich des postoperativen Verlaufes komplikationslos. Am 24.09.2018 wurde er zuletzt einer scleralen Fixation an der intraokularen Linse linksseitig an der Universitätsaugenklinik des Landeskrankenhauses XXXX unterzogen. Die Operation gestaltete sich einschließlich des postoperativen Verlaufes komplikationslos.

Er leidet gegenwärtig an Strabismus concomitans divergens H50.1 (Schielen linksseitig), einer Obliquus- Dysfunktion (Dyfunktion der Augenmuskeln), Pseudophakie (Ersatz der natürlichen Linse des Auges durch eine Kunstlinse linksseitig) und Amblyopie (Schwachsichtigkeit des Auges linksseitig) und ist deshalb in der Schielambulanz des Landeskrankenhauses XXXX in Behandlung. Eine vom Vater gewünschte Schieloperation wurde nicht durchgeführt.

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Feststellungen hinsichtlich einer erforderlichen regelmäßigen Medikation oder erforderlicher Heilbehelfe oder Therapien können nicht getroffen werden. Eine Okklusionstherapie wurde im Oktober 2017 beendet. Er verfügt derzeit über eine Brille, trägt diese aber nicht mehr.

Ansonsten ist er gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung. Anlässlich einer kinderärztlichen Untersuchung am 20.12.2016 wurde ihm ein guter Allgemeinzustand attestiert.

Am 12.12.2015 verließ er den Irak von Erbil ausgehend gemeinsam mit seiner Familie mit dem Reisebus in die Türkei und gelangte in der Folge schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und weiter nach Österreich, wo er am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.1.4. Ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers führt den Namen XXXX, er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er wurde am XXXX in Erbil geboren und lebte dort gemeinsam mit seiner Familie bis zur Ausreise in einem gemieteten Haus im Stadtteil XXXX. Er verließ den Irak noch vor Erreichen des schulpflichtigen Alters. Er beherrscht Sorani und Deutsch.

Er leidet an einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte Q35.7. Er unterzog sich am 19.01.2017 einer kieferchirurgischen Korrekturoperation samt Restlochverschluss. Die Operation gestaltete sich einschließlich des postoperativen Verlaufes komplikationslos. Seit der Operation am 19.01.2017 waren keine weiteren medizinischen Behandlungen erforderlich.

Feststellungen hinsichtlich einer erforderlichen regelmäßigen Medikation oder erforderlicher Heilbehelfe oder Therapien können nicht getroffen werden.

Ansonsten ist er gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung. Im Entlassungsbrief vom 22.01.2017 wird ihm ein guter Allgemeinzustand attestiert.

Am 12.12.2015 verließ er den Irak von Erbil ausgehend gemeinsam mit seiner Familie mit dem Reisebus in die Türkei und gelangte in der Folge schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und weiter nach Österreich, wo er am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.1.5. Die Schwester des Beschwerdeführers führt den Namen XXXX, sie ist Staatsangehörige des Irak und Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Sie wurde am XXXX in Erbil geboren und lebte dort gemeinsam mit seiner Familie bis zur Ausreise in einem gemieteten Haus im Stadtteil XXXX. Sie verließ den Irak noch vor Erreichen des schulpflichtigen Alters. Sie ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

Am 12.12.2015 verließ sie den Irak von Erbil ausgehend gemeinsam mit ihrer Familie mit dem Reisebus in die Türkei und gelangte in der Folge schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und weiter nach Österreich, wo sie am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.1.6. Ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers führt den Namen XXXX, er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er wurde am XXXX2018 in Feldbach im Bundesgebiet geboren.

Er ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung. Er stellte am 23.05.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.1.7. Der Vater und die Mutter des Beschwerdeführers verfügen über irakische Ausweisdokumente im Original, nämlich Staatsbürgerschaftsnachweise und Personalausweise. Die im Irak geborenen Geschwister des Beschwerdeführers verfügen ebenfalls über irakische Personalausweise im Original.

1.2. Zu den Ausreisegründen der Beschwerdeführer und zur Rückkehrgefährdung:

Die Mutter des Beschwerdeführers als gesetzliche Vertretung brachte für den am XXXX in Österreich geborenen Beschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe vor. Er hat demnach dieselben Flucht- und Asylgründe wie seine Familienmitglieder.

Aus dem rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren der Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers ergibt sich wie folgt:

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1.2.1. Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in ihrem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit oder aufgrund ihres sunnitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.

1.2.2. Die Mutter und Geschwister des Beschwerdeführers brachten ebenfalls keine eigenen asylrelevanten Ausreisegründe vor.

1.2.3. Es konnte nicht festgestellt werden, dass sich der Vater des Beschwerdeführers vor der Ausreise unbefugt vom Dienst bei den kurdischen Peschmerga entfernte und er nunmehr deshalb oder aus anderweitigen Gründen einer von seinem ehemaligen Kommandanten ausgehenden individuellen Gefährdung ausgesetzt wäre oder ihm aus diesem Grund im Fall einer Rückkehr in den Irak und dort in der autonomen Region Kurdistan Strafverfolgung drohen würde.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der Großvater des Beschwerdeführers väterlicherseits nach der Ausreise des Vaters des Beschwerdeführers aufgrund der Umstände seines Ausscheidens aus dem Dienst bei den kurdischen Peschmerga festgenommen und inhaftiert sowie aus der autonomen Region Kurdistan vertrieben wurde.

1.2.4. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die minderjährigen Geschwister im Fall einer Rückkehr in den Irak und dort in der autonomen Region Kurdistan maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit oder Zwangsehe betroffen wären.

1.2.5. Es konnte schließlich nicht festgestellt werden, dass die Familie des Beschwerdeführers vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären. Ihnen droht außerdem im Rückkehrfall keine strafrechtliche Verfolgung.

1.2.6. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Familie des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso konnte keine anderweitige individuelle Gefährdung der Familie festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine im Irak und dort in der autonomen Region Kurdistan drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie im Hinblick auf kriegerische Ereignisse, extremistische Anschläge, stammesbezogene Gewalt oder organisierte kriminelle Handlungen.

1.2.7. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Familie des Beschwerdeführers vor ihrer Ausreise in ihrem Herkunftsstaat von einer existentiellen Notlage und/oder Obdachlosigkeit betroffen waren.

Sie verfügen über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in ihrer Herkunftsregion Erbil sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in ihrer Herkunftsregion Erbil in Gestalt der dort lebenden zahlreichen Familienangehörigen.

Der Vater des Beschwerdeführers ist ein junger, gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit grundlegender Ausbildung in der Schule sowie mit im Herkunftsstaat erworbener Berufserfahrung als Arbeiter und Tischler in der Bauwirtschaft sowie als Berufssoldat. Ihm ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung des Familienauskommens im Rückkehrfall möglich und zumutbar.

Die Mutter des Beschwerdeführers ist ebenfalls ein junger, gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit einer im Herkunftsstaat erworbenen Ausbildung als Friseurin. Auch ihr ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung des Familienauskommens im Rückkehrfall - soweit es die Betreuungspflicht in Ansehung der minderjährigen Beschwerdeführer zulässt - grundsätzlich möglich und zumutbar.

1.2.8. Die minderjährigen Geschwister verfügen in ihrer Herkunftsregion Erbil über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage, ferner ist eine hinreichende Betreuung durch ihre Eltern und den Familienverband und eine hinreichende Absicherung in ihren altersentsprechenden Grundbedürfnissen gegeben. Den minderjährigen Geschwistern steht ferner kostenfreier und nichtdiskriminierender Zugang zum öffentlichen Schulwesen sowie leistbarer und nichtdiskriminierender Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung in der autonomen Region Kurdistan zur Verfügung.

Selbiges gilt auch für den Beschwerdeführer.

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1.2.9. Die autonome Region Kurdistan ist im Luftweg direkt mit Linienflügen (Schwechat-Erbil) gefahrlos erreichbar.

1.3. Zur Lage der Familie des Beschwerdeführers im Bundesgebiet:

1.3.1. Die Eltern und die ältesten drei Geschwister des Beschwerdeführers halten sich seit dem 31.12.2015 im Bundesgebiet auf. Sie reisten rechtswidrig in das Bundesgebiet ein.

Ein Bruder wurde am XXXX2018 im Bundesgebiet geboren.

Die Asylanträge seiner Eltern und vier Geschwister wurden vom BFA abgelehnt und wurden von diesem Gericht am 05.06.2019 bestätigt.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX ebenfalls im Bundesgebiet geboren. Er stellte am 27.06.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz und ist seither Asylwerber und verfügt ebenfalls über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Die Familie des Beschwerdeführers lebt nach einer anfänglichen Unterbringung in Übergangsquartieren des Bundes seit dem 18.03.2016 in einer Unterkunft für Asylwerber in der Stadtgemeinde XXXX. Sie beziehen seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und sind nicht erwerbstätig. Weder der Vater noch die Mutter des Beschwerdeführers haben eine Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in Aussicht.

Der Vater besuchte Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und absolvierte am 18.12.2018 die Prüfung auf dem Niveau A1. Er verfügt über grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache. Die Mutter besuchte keine Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache, sie beherrscht die deutsche Sprache nur in rudimentärem Ausmaß.

Die beiden älteren Geschwister des Beschwerdeführers besuchen die Volksschule XXXX. Die schulpflichtigen Geschwister verfügen über altersadäquate Kenntnisse der deutschen Sprache und pflegen einen altersentsprechenden Umgang mit Freunden und Mitschülern. Die Schwester besucht den Kindergarten in XXXX, der jüngste Bruder wird von der Mutter betreut.

Ein Betreuer des Vaters attestiert ihm Hilfsbereitschaft und Pünktlichkeit, Interesse am Erwerb der deutschen Sprache und soziale Kompetenz sowie das Interesse, seinen im Irak ausgeübten Beruf eines Taxilenkers auch in Österreich ausüben zu können. Eine weitere Betreuerin attestiert ihm Pünktlichkeit und interessierte Mitarbeit beim Deutschunterricht sowie eine gewissenhafte Erledigung der Hausaufgaben. Ein Verein in XXXX bescheinigt ihm und seiner Gattin eine regelmäßige Kontaktaufnahme sowie den regelmäßigen Besuch des "LernCafe" und der Veranstaltungen des "ElternKindZentrums".

1.3.2. Die Mutter hat - von den verfahrensbeteiligten Familienangehörigen abgesehen - im Bundesgebiet keine Verwandten. In Ansehung des Vaters halten sich zwei seiner Brüder mit ihren Familien im Bundesgebiet auf. Die Brüder des Vaters leben in Oberösterreich. Sie besuchen die Familie des Beschwerdeführers etwa einmal, allenfalls zweimal monatlich und unterstützen den Vater in Form der Überlassung von Bekleidung für die minderjährigen Kinder und fallweise durch finanzielle Zuwendungen. Darüberhinausgehende Merkmale einer ein- oder wechselseitigen Abhängigkeit sind nicht feststellbar.

1.3.3. Die Familie des Beschwerdeführers ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war und ist nicht nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:

1.4.1. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Aktuelle Ereignisse

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Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (The Portal 9.10.2019).

Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 7.8.2019). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019). Der IS setzt nach wie vor auf Gewaltakte gegen Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter sowie beispielsweise auf Brandstiftung, um Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften zu entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung zu untergraben und soziale Spannungen zu verschärfen (ACLED 7.8.2019).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED) Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungseinheiten (PMF/PMU/Hashd al Shabi) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019; vgl. Reuters). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Am 7.7.2019 begann die "Operation Will of Victory", an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilization Forces (PMF), Tribal Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der US- geführten Koalition teilnahmen (ACLED 7.8.2019; vgl. Military Times 7.7.2019). Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel (Diyaruna 7.10.2019; vgl. The Portal) Die am 7. Juli begonnene erste Phase umfasste Anbar, Salah ad- Din und Ninewa (Military Times 7.7.2019). Phase zwei begann am 20. Juli und betraf die nördlichen Gebiete von Bagdad sowie die benachbarten Gebiete der Gouvernements Diyala, Salah ad-Din und Anbar (Rudaw 20.7.2019). Phase drei begann am 5. August und konzentrierte sich auf Gebiete in Diyala und Ninewa (Rudaw 11.8.2019). Phase vier begann am 24. August und betraf die Wüstenregionen von Anbar (Rudaw 24.8.2019). Phase fünf begann am 21.9.2019 und konzentrierte sich auf abgelegene Wüstenregionen zwischen den Gouvernements Kerbala, Najaf und Anbar, bis hin zur Grenze zu Saudi-Arabien (PressTV 21.9.2019). Eine sechste Phase wurde am 6. Oktober ausgerufen und umfasste Gebiete zwischen dem südwestlichen Salah ad-Din bis zum nördlichen Anbar und Ninewa (Diyaruna 7.10.2019).

Die folgende Grafik von Iraq Body Count (IBC) stellt die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar (IBC 9.2019).

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Quelle: Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www. iraqbodycount. org/database/, Zugriff 15.10.2019

Die folgende Tabelle des IBC gibt die Zahlen der Todesopfer an. Für Juli 2019 sind 145 zivile Todesopfer im Irak ausgewiesen. Im August 2019 wurden von IBC 93 getötete Zivilisten im Irak dokumentiert und für September 151 (IBC 9.2019).

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Quelle: Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www. iraqbodycount. org/database/, Zugriff 15.10.2019

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden für den Gesamtirak im Lauf des Monats Juli 2019 82 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 83 Tote und 119 Verletzten verzeichnet. 18 Tote gingen auf Leichenfunde von Opfern des IS im www.ris.bka.gv.at Seite 10 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der tatsächlichen gewaltsamen Todesfälle im Juli auf 65 reduziert werden kann. Es war der zweite Monat in Folge, in dem die Vorfallzahlen wieder zurückgingen. Dieser Rückgang wird einerseits auf eine großangelegte Militäraktion der Regierung in vier Gouvernements zurückgeführt [Anm.: "Operation Will of Victory"; Anbar, Salah ad Din, Ninewa und Diyala, siehe oben], wobei die Vorfallzahlen auch in Gouvernements zurückgingen, die nicht von der Offensive betroffen waren. Der Rückgang an sicherheitsrelevanten Vorfällen wird auch mit einem neuerlichen verstärkten Fokus des IS auf Syrien erklärt (Joel Wing 5.8.2019).

Im August 2019 verzeichnete Joel Wing 104 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 103 Toten und 141 Verletzten. Zehn Tote gingen auf Leichenfunde von Jesiden im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der Todesfälle im August auf 93 angepasst werden kann. Bei einem der Vorfälle handelte es sich um einen Angriff einer pro-iranischen PMF auf eine Sicherheitseinheit von British Petroleum (BP) im Rumaila Ölfeld bei Basra (Joel Wing 9.9.2019).

Im September 2019 wurden von Joel Wing für den Gesamtirak 123 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 122 Toten und 131 Verletzten registriert (Joel Wing 16.10.2019). .

Seit 1. Oktober kam es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen

Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019; Standard 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Im Zuge dieser Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig, vom 2. bis zum 5. Oktober, wurde eine Ausgangssperre ausgerufen (Al Jazeera 5.10.2019; vgl. ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und eine Internetblockade vom 4. bis 7. Oktober implementiert (Net Blocks 3.10.2019; FAZ 3.10.2019; vgl. Rudaw 13.10.2019).

Nach einer kurzen Ruhephase gingen die gewaltsamen Proteste am 25. Oktober weiter und forderten bis zum 30. Oktober weitere 74 Menschenleben und 3.500 Verletzte (BBC News). Insbesondere betroffen waren bzw. sind die Städte Bagdad, Nasiriyah, Hillah, Basra und Kerbala (BBC News 30.10.2019; vgl. Guardian 27.10.2019; Guardian 29.10.2019). Am 28. Oktober wurde eine neue Ausgangssperre über Bagdad verhängt, der sich jedoch tausende Demonstranten widersetzen (BBC 30.10.2019; vgl. Guardian 29.10.2019). Über 250 Personen wurden seit Ausbruch der Proteste am 1. Oktober bis zum 29. Oktober getötet (Guardian und mehr als 8.000 Personen verletzt (France24 28.10.2019).

AUTONOME REGION KURDISTAN / KURDISCHE REGION IM IRAK

Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaimaniya attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Autonomen Region Kurdistan] bemannt war. Der Angriff erfolgte in drei Phasen: Auf einen Schussangriff folgte ein IED-Angriff gegen eintreffende Verstärkung, gefolgt von Mörserbeschuss. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert (Joel Wing 5.8.2019). Im August wurde in Sulaimaniya ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab (Joel Wing 9.9.2019).

Die am 27. Mai initiierte türkische "Operation Claw" gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak hält an. Die erste Phase richtete sich gegen Stellungen in der Hakurk/Khakurk-Region im Gouvernement Erbil (Anadolu Agency 13.7.2019; vgl. Rudaw) Die zweite Phase begann am 12. Juli und zielt auf die Zerstörung von Höhlen und Zufluchtsorten der PKK (Anadolu Agency 13.7.2019). Die türkischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Region Amadiya im Gouvernement Dohuk, von wo aus die PKK häufig operiert (ACLED 17.7.2019). Aktuell befindet sich die Operation in der dritten Phase (ACLED 4.9.2019)

Im Kreuzfeuer wurden in den vergangenen Wochen mehrere kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden (ACLED 4.9.2019; vgl. ACLED 7.8.2019).

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Am 10. und 11. Juli bombardierte iranische Artillerie mutmaßliche PKK-Ziele im Subdistrikt Sidakan/Bradost im Gouvernement Sulaimaniya, wobei ein Kind getötet wurde (Al Monitor

12.7.2019) . In dem Gebiet gibt es häufige Zusammenstöße zwischen iranischen Sicherheitskräften und iranisch- kurdischen Aufständischen, die ihren Sitz im Irak haben, wie die "Partei für ein Freies Leben in Kurdistan" (PJAK), die von Teheran beschuldigt wird, mit der PKK in Verbindungen zu stehen (Reuters 12.7.2019).

NORD- UND ZENTRALIRAK

In den sogenannten "umstrittenen Gebieten", die sowohl von Bagdad als auch von der kurdischen Autonomieregion beansprucht werden, und wo es zu erhebliche Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen, durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Trotz der Zunahme der Sicherheitsvorfälle im gesamten Irak waren die Zahlen im Laufe des Monats August 2019 für den Zentral-Irak jedoch rückläufig (Joel Wing 09.09.2019).

Im Gouvernement Ninewa wurden im Juli 2019 sechs Vorfälle mit 24 Toten verzeichnet, wobei hier der Fund von 18 Leichen älteren Datums eingerechnet ist (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden neun Vorfälle mit 24 Toten und drei Verwundeten registriert (Joel Wing 9.9.2019). Im September wurden 22 Vorfälle mit 35 Toten und 27 Verletzten registriert, wobei bei fast allen diesen Vorfällen IEDs involviert waren. Außerdem wurde ein Mukhtar ermordet und Mossul mit Mörsergranaten beschossen (Joel Wing 16.10.2019). Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019). Der IS ist stark in der Region vertreten und konnte seine operativen Fähigkeiten erhalten (Joel Wing 5.8.2019). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den rauen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.8.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019). Einerseits vertreibt der IS Zivilisten aus ländlichen Gebieten, um dort Basen zu errichten, anderseits greift er wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte an (Joel Wing 9.9.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 05.08.2019). Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala, konzentriert sich aber besonders auf die Bezirke Khanaqin und Jalawla im Nordosten, welche die Zentralregierung nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum von 2017 übernommen hat (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betreffen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gibt es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Für Juli 2019 verzeichnete Joel Wing im Gouvernement Diyala 28 sicherheitsrelevante Vorfälle mit elf Toten und 30 Verletzten (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden 41 Vorfälle - die höchste Anzahl seit August 2018, mit 21 Toten und 46 Verwundeten registriert (Joel Wing 9.9.2019) und im September 37 Vorfälle mit 21 Toten und 30 Verletzten (Joel Wing 16.10.2019). Im September schlug der IS in fast allen Distrikten des Gouvernements zu (Joel Wing 16.10.2019).

Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, kontinuierlich zurück. Im Juli gab es eine Reihe von Raketen- und Mörserangriffen auf Städte und Sicherheitskräfte, ansonsten handelte es ich bei den Vorfällen meist um Schießereien und den Einsatz von IEDs (Joel Wing 5.8.2019). Wie im benachbarten Diyala handelte es sich bei

Vorfällen in Kirkuk meist um Schießereien, Angriffe auf Kontrollpunkte, Überfälle auf Städte und Vertreibungen aus ländlichen Gebieten, wobei sich der IS auf den Süden des Gouvernements konzentrierte. Unter anderem wurden eine Polizeistation und ein Armeestützpunkt angegriffen, sowie ein Polizeihauptquartier mit Mörsern beschossen (Joel Wing 16.10.2019).

Im Gouvernement Kirkuk wurden im Juli 2019 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit sechs Toten und 13 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019), im August 2019 19 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 34 Toten und 19 Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September 22 Vorfälle mit elf Toten und 19 Verletzten (Joel Wing 16.10.2019).

Im Gouvernement Salah ad-Din wurden im Juli 2019 acht Vorfälle mit zehn Toten und acht Verletzten registriert. Zu den Vorfällen zählten zwei Feuergefechte und ein Angriff auf einen Checkpoint (Joel Wing

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5.8.2019). Im August 2019 wurden sieben Vorfälle mit vier Toten und fünf Verwundeten verzeichnet (Joel Wing 9.9.2019) und im September zehn Vorfälle mit 13 Toten und zehn Verletzten (Joel Wing 16.10.2019).

Das Gouvernement Anbar, früher ein IS-Zentrum, wird nun hauptsächlich für den Transit von IS- Kämpfern zwischen dem Irak und Syrien genutzt (Joel Wing 16.10.2019). Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Anbar hat in den vergangenen Monaten stark fluktuiert (Joel Wing 05.08.2019).

Im Gouvernement Anbar wurden im Juli 2019 fünf sicherheitsrelevante Vorfälle mit neun Toten und 14 Verletzten registriert (Joel Wing 5.8.2019), im August 2019 waren es vier Vorfälle mit sechs Toten und neun Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September vier Vorfälle mit 19 Toten (Joel Wing 16.10.2019).

Quellen:

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- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (4.9.2019): Regional Overview - Middle East 4 September 2019, https://www.acleddata.com/2019/09/04/regional-overviewmiddle-east-4- september-2019/. Zugriff 2.10.2019

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (17.7.2019): Regional Overview - Middle East 17 July 2019, https://www.acleddata.com/2019/07/17/regional-overview-middleeast-17-july-2019/, Zugriff 2.10.2019

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KI vom 27.7.2019, Sicherheitsupdate 2. Quartal 2019 (relevant für Abschnitt 3. Sicherheitslage)

AUTONOME REGION KURDISTAN / KURDISCHE REGION IM IRAK

Der Islamische Staat (IS) erweitert seine Netzwerke im irakischen Kurdistan. Es wird vermutet, dass er versucht diese mit seinen wieder auflebenden Unterstützungszonen in den Gouvernements Kirkuk und Diyala zu verbinden. Einheiten der Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Autonomen Region Kurdistan] konnten laut eigenen Angaben seit Jänner 2019 unter anderem drei arabische IS-Zellen sprengen - in City, in Chamchamal, zwischen Sulaymaniyah und der Stadt Kirkuk, sowie in Kalar, im Nordosten des Diyala Flußtales. Am 11. April verhafteten die Asayish einen IS-Kämpfer, der für das Schleusen von Kämpfern zwischen Kirkuk Stadt, Hawija und Dibis im Gouvernement Kirkuk verantwortlich war (ISW.

Die türkische Luftwaffe führte in den Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniya Luftangriffe durch und verursachte materielle Schäden, ohne dass jedoch Verluste an Menschenleben gemeldet wurden. Zwischen 14. Februar und 9. April meldeten die türkischen Streitkräfte mindestens zwölf Einsätze sowie zwei Zusammenstöße mit Einheiten der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) (UNSC 2.5.2019). Am 27.5.2019 startete das türkische Militär die "Operation Klaue" mit dem Ziel PKK-Hochburgen im Nordirak, in der Region Qandil zu beseitigen (ACLED 2.7.2019; vgl. Al Jazeera 28.5.2019). Nach einer anfänglich defensiven Haltung der PKK kam es zu einer Zunahme der Angriffe auf die türkischen Streitkräfte, insbesondere im Südosten der Türkei, wie den Bezirk Cukurca in der Provinz Hakkari. Kurdische Einheiten zogen sich dabei grenzüberschreitend auch in den Iran www.ris.bka.gv.at Seite 16 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 zurück (ACLED 2.7.2019). Über 60 PKK-Kämpfer wurden seit Beginn der "Operation Klaue" als "neutralisiert" (d.h. getötet, gefangen genommen oder verletzt) gemeldet (ACLED 11.6.2019; vgl. ACLED 2.7.2019). Ebenso wurde die Zerstörung von Sprengmittel (Landminen, IEDs) und Verstecken der PKK gemeldet (ACLED 11.6.2019; vgl. Reuters 8.6.2019).

Türkisches Bombardement, das die Ortsränder dreier Dörfer im Bezirk Amadiya im Gouvernement Dohuk traf, zwang deren Einwohner zur Flucht ( 9.4.2019).

NORD- UND ZENTRALIRAK

In den 2017 von der Zentralregierung übernommenen, umstrittenen Gebieten nutzt der Islamische Staat (IS) die geringe Zahl an Sicherheitskräften und deren Konkurrenzverhältnis zueinander aus, woraus sich die hohe Zahl an Übergriffen ableiten lässt (Joel Wing 1.7.2019). Kleinere Gruppen von IS-Kämpfern infiltrieren von Syrien kommend immer wieder die zerklüfteten Gebiete und Wüstenlandschaft im Westirak (Xinhua 6.5.2019).

Das irakische Militär und die von den USA geführte internationale Koalition führten eine Reihe von Angriffen gegen den IS durch, insbesondere im Gouvernement Anbar (ACLED 11.6.2019). Am 05.05.2019 startete ein gemischter Verband der irakischen Armee und paramilitärischen Stammeseinheiten, mit Luftunterstützung der Koalition, und in Abstimmung zwischen den Militärkommandos der Gouvernements Anbar, Salahaddin und Ninewa, eine großangelegte Militäroperation im Westirak (Xinhua 6.5.2019).

Der Islamische Staat (IS) hat seine Präsenz in Ninewa durch Kräfte aus Syrien verstärkt und führte seine Operationen hauptsächlich im Süden und Westen des Gouvernements aus (Joel Wing 03.05.2019). Er verfügt aber auch in Mossul über Zellen (Joel Wing 5.6.2019). Es wird außerdem vermutet, dass der IS vorhat in den Badush Bergen, westlich von Mossul, Stützpunkte einzurichten (ISW 19.4.2019).

Im April 2019 wurden in Ninewa 19 Vorfälle (Joel Wing 3.5.2019) mit 46 Toten und zehn Verletzten (Joel Wing 1.5.2019) verzeichnet, wobei hier auch der Fund eines Massengrabs älteren Datums, mit 36 Leichen, eingerechnet ist (Joel Wing 3.5.2019). Im Mai 2019 wurden 25 Vorfälle mit 64 Toten und 26 Verwundeten registriert, wobei der Fund eines jesidischen Massengrabes älteren Datums im Bezirk Sinjar, mit 35 Leichen, miteingerechnet ist (Joel Wing 5.6.2019). Im Juni wurden zehn Vorfälle mit 24 Toten und 22 Verletzten registriert, wobei hier vier Brandstiftungen von landwirtschaftlichen Flächen und zwei Explosionen von Kriegsrelikten aus der Schlacht um Mossul (Anm.: 17.10.2016 bis 9.7.2017) inkludiert sind (Joel Wing 1.7.2019).

Der Islamische Staat (IS) hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten des Gouvernements Diyala, konzentriert sich aber besonders auf den Bezirk Khanaqin im Nordosten, der eines der zwischen der Zentralregierung und der Autonomen Kurdischen Region umstrittenen Gebiete ist (Joel Wing 3.5.2019; vgl. Joel Wing 5.6.2019).

In Diyala kam es im April 2019 zu 30 sicherheitsrelevanten Vorfällen (Joel Wing 3.5.2019) mit 22 Toten und 23 Verletzten (Joel Wing 1.5.2019). Im Mai 2019 wurden 35 Vorfälle mit 22 Toten und 42 Verwundeten registriert (Joel Wing 5.6.2019) und im Juni 27 Vorfälle mit zwölf Toten und 20 Verletzten (Joel Wing 1.7.2019).

Im Gouvernement Kirkuk ist der Islamische Staat (IS) in allen Bezirken aktiv und hat auch regelmäßigen Zugang zu Kirkuk City (Joel Wing 3.5.2019; vgl. Joel Wing 5.6.2019). Insbesondere die Hamrin Berge, sowie die Haine im Westen des Gouvernements dienen dem IS als Rückzugsorte (Joel Wing 3.5.2019). Üblicherweise ereignen sich sicherheitsrelevante Vorfälle in Kirkuk im Süden des Gouvernements (Joel Wing 1.7.2019). Am 30. Mai fand jedoch in Kirkuk City mit der Detonation von sechs "Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen" (IEDs) der schwerwiegendste Angriff des Monats statt, der fünf Tote und 35 Verletzte forderte (Joel Wing 5.6.2019; vgl. Reuters 30.5.2019). Im Juni wurden acht Angriffe in Kirkuk City verzeichnet (Joel

Wing 1.7.2019). Eine Veränderung in der Taktik des IS in Kirkuk stellt das Legen von Hinterhalten für die Sicherheitskräfte dar (Joel Wing 3.5.2019).

Die 1. und 2. Brigade der Irakischen Spezialeinheiten (ISOF) begannen am 11. April, unterstützt durch die US- geführte Koalition, mit der bisher größten Säuberungsaktion gegen die "Unterstützungszone" des IS in den Hamrin Bergen (ISW 19.4.2019; vgl. Kurdistan 24 11.4.2019). Die US-amerikanische Luftwaffe (USAF) bombardierte ein Tunnelnetz des IS in den Hamrin Bergen (Jane's 1.5.2019). Ähnliche Operationen wurden bereits in den vergangenen Monaten durchgeführt (Kurdistan 24 11.4.2019). Laut lokalen Quellen wurden im

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Zuge der Operation sechs bedeutende Anführer des IS getötet und damit die Kommandokette in dem Gebiet stark beeinträchtigt (D&S 24.4.2019).

In Kirkuk wurden im April 2019 13 Vorfällen registriert (Joel Wing 3.5.2019) mit 18 Toten und 53 Verletzten (Anm.: Summe aus Joel Wing 1.5.2019 und Joel Wing 5.6.2019). Im Mai 2019 wurden in Kirkuk 35 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 29 Toten und 78 Verwundeten, die höchsten Opferzahlen dieses Monats im Irak, verzeichnet (Joel Wing 5.6.2019). Im Juni sanken die registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle auf 18, mit 18 Toten und 40 Verletzten (Joel Wing 01.07.2019).

Obwohl sich das Gouvernement Salahaddin die Hamrin-Gebirge, das dem Islamischen Staat (IS) als Basis dient, mit dem Gouvernement Diyala teilt, konzentrieren sich die Aufständischen in ihren Aktivitäten stärker auf Diyala (Joel Wing 3.5.2019).

In Salahaddin wurden im April 2019 acht Vorfälle (Joel Wing 3.5.2019) mit zehn Toten und neun Verletzten (Joel Wing 1.5.2019) registriert. Einer davon war ein Angriff auf einen ISF-Konvoi, gefolgt von einem Hinterhalt für die Einsatzkräfte, die am Tatort eintrafen (Joel Wing 3.5.2019; vgl. UNAMI 3.1.2019). Im Mai 2019 wurden 20 Vorfälle mit 22 Toten und 28 Verwundeten verzeichnet (Joel Wing 5.6.2019) und im Juni neun Vorfälle mit vier Toten und neun Verletzten (Joel Wing 01.07.2019). Zwei Angriffe auf das Alas Ölfeld im Mai weiteten sich zu großen Feuergefechten aus (Joel Wing 5.6.2019).

Der Islamische Staat (IS) hat vermehrt Kämpfer und Material durch die Jazeera Wüste zwischen Ostsyrien und dem Westirak in den Westen des Gouvernements Anbar verlegt (ISW 19.4.2019; vgl. Joel Wing 3.5.2019). In dieser Region passierten auch die meisten der in Anbar verzeichneten Gewaltakte (Joel Wing 3.5.2019).

Seit Ende Jänner 2019 werden Trüffelsammler, meist in den Wüsten Anbars, vom IS entführt und manchmal, im Fall von Schiiten, getötet. Die irakischen Sicherheitskräfte bestätigten die

Entführung von 44 Trüffelsammlern in diesem Jahr, wobei davon auszugehen ist, dass weitere Vorfälle nicht gemeldet wurden (NYT 19.5.2019). Im April wurde eine Autobombe gezündet, die gegen Trüffelsammler in der Rutba Wüste gerichtet war (Joel Wing 3.5.2019).

Die Rutba Wüste an der Grenze zu Saudi Arabien war das Ziel einer von einem gemischten irakischen Verband mit Luftunterstützung der Koalition durchgeführten Militäroperation (Rudaw 09.05.2019). Der Manöverbereich des IS in der Wüste konnte durch die irakischen Sicherheitskräfte um einige Kilometer verkleinert werden (D&S 10.6.2019).

2. Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch- republikanischer Staat (AA 12.02.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005). Am 002.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 02.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).

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Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018) Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018). Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018). Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch- religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.02.2018).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 09.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS- Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Im Irak leben ca. 36 Millionen Einwohner, wobei die diesbezüglichen Schätzungen unterschiedlich sind. Die letzte Volkszählung wurde 1997 durchgeführt. Im Gouvernement Bagdad leben ca. 7,6 Millionen Einwohner. Geschätzte 99% der Einwohner sind Moslems, wovon ca. 60%-65% der schiitischen und ca. 32%-37% der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (CIA World Factbook 2014-2015, AA 12.02.2018). Die ethnische und religiöse Zusammensetzung der einzelnen Regionen des Irak ist aus der Grafik im Punkt Minderheiten ersichtlich.

2.1. Parteienlandschaft

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da'wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran ("Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).

2.2. Protestbewegung

Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormem Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

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Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da'wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

2.3. Autonome Region Kurdistan

Ein Teil des föderalen Staates Irak ist die Autonome Region Kurdistan, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Die Autonome Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung. Gemäß Art. 121 der irakischen Verfassung üben kurdische Sicherheitskräfte (insbesondere die militärisch organisierten Peschmerga und die Sicherheitspolizei Asayish) die Sicherheitsverantwortung in den Provinzen Erbil, Sulaimaniyya, Dohuk und Halabdscha aus; diese Kräfte kontrollieren darüber hinaus de facto Teile der Provinzen Diyala, Kirkuk und Ninawa. Die Autonome Region Kurdistan betreibt außerdem eine eigenständige Wirtschafts- und Außenpolitik und regelt Fragen der Grenzkontrolle selbst - hierzu gehört auch die von zentralirakischen Behörden unabhängige Vergabe von Visa.

Bis heute ist die Region faktisch zwischen KDP (Kurdistan Democratic Party) und PUK (Patriotic Union of Kurdistan) aufgeteilt - wobei die PUK in den letzten Jahren Einfluss an Goran abgeben musste. Innerhalb der autonomen Kurdenregion gibt es immer wieder Konflikte zwischen den drei großen irakisch-kurdischen Parteien KDP, Goran und PUK. Grund dafür ist unter anderem die Wirtschaftskrise und die weit verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft, die im Kurdengebiet vorherrschen. Darüber hinaus sorgte der Streit um die Präsidentschaft Mas?ud Barzanis für Spannungen, dessen (bereits außertourlich verlängerte) Amtszeit schon im August 2015 abgelaufen war. Die Waffenlieferungen des Westens und anderer Verbündeter an die Kurden haben zudem den Effekt, dass die kurdische Politik insgesamt zwar an Bedeutung gewinnt, sich jedoch dadurch die Spannungen zwischen den kurdischen Fraktionen weiter erhöhen. KDP und PUK sind durch ihre jeweiligen Bündnisse mit mächtigen - teilweise gegensätzlichen - Partnern gespalten: Die KDP mit Mas'ud Barzani, dem Präsidenten der KRG (Kurdish Regional Government - die Regionalregierung in der KRI) wird vorrangig vom Westen unterstützt und steht der Türkei nahe, während die PUK vorrangig vom Iran unterstützt wird und der türkischen PKK sowie der irakischen Regierung in Bagdad nahesteht. Beide Parteien haben ihre jeweils eigenen Militäreinheiten (Peschmerga), die im Kampf gegen den IS oftmals in einem starken Konkurrenzverhältnis zueinander stehen.

Das Verhältnis der Zentralregierung zur kurdischen Autonomieregion, die einen semi-autonomen Status innehat, hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der Autonomieregion und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil umstrittener Gebiete am 25.09.2017 deutlich verschlechtert (AA 12.02.2018). Die Kurden konnten das von ihnen kontrollierte Territorium im Irak in Folge der Siege gegen den IS zunächst ausdehnen. Mit dem Referendum am 25.09.2017 versuchte die kurdische Regional-Regierung unter Präsident Masud Barzani, ihren Anspruch auch auf die von ihr kontrollierten Gebiete außerhalb der drei kurdischen Provinzen zu bekräftigen und ihre Verhandlungsposition gegenüber der Zentralregierung in Bagdad zu stärken (BPB 24.1.2018).

Bagdad reagierte mit der militärischen Einnahme eines Großteils der umstrittenen Gebiete, die während des Kampfes gegen den IS von kurdischen übernommen worden waren, angefangen mit der ölreichen Region um Kirkuk (AA 12.02.2018). Die schnelle militärische Rückeroberung der umstrittenen Gebiete durch die irakische Armee, einschließlich der Erdöl- und Erdgasfördergebiete um Kirkuk, mit massiver iranischer Unterstützung, bedeutete für die kurdischen Ambitionen einen Dämpfer. Präsident Barzani erklärte als Reaktion darauf am 29.10.2017 seinen Rücktritt. Der kampflose Rückzug der kurdischen Peshmerga scheint auch auf zunehmende Differenzen zwischen den kurdischen Parteien hinzudeuten (BPB 24.1.2018).

Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der kurdischen Autonomieregion (AA 12.02.2018). Im Dezember 2017 forderte die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen gegen die Regionalregierung in Sulaymaniya mehrere Todesopfer. Daraufhin hat sich die Oppositionspartei Gorran aus dem kurdischen Parlament zurückgezogen www.ris.bka.gv.at Seite 20 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

(BPB 24.1.2018). In der Autonomieregion gehen die Proteste schon auf die Zeit gleich nach 2003 zurück und haben seitdem mehrere Phasen durchlaufen. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind jedoch gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018).

Das Parlament der Autonomen Region Kurdistan hat 110 Abgeordnete; elf davon sind quotierte Vertreter ethnischer und religiöser Minderheiten. Zudem regelt eine Quote, dass dreißig Prozent der Mandate von Frauen wahrgenommen werden müssen. Am 30.9.2018 fanden in der kurdischen Autonomieregion Wahlen zum Regionalparlament statt (Tagesschau 30.9.2018). Mit einer Verzögerung von drei Wochen konnte die regionale Wahlkommission am 20.10.2018 die Endergebnisse veröffentlichen. Zahlreiche Parteien hatten gegen die vorläufigen Ergebnisse Widerspruch eingelegt. Gemäß den offiziellen Endergebnissen gewann die KDP mit 686.070 Stimmen (45 Sitze), vor der PUK mit 319.912 Stimmen (21 Sitze) und Gorran mit 186.903 Stimmen (12 Sitze) (ANF 21.10.2018; vgl. Al Jazeera 21.10.2018, RFE/RL 21.10.2018). Die Oppositionsparteien lehnen die Abstimmungsergebnisse ab und sagen, dass Beschwerden über den Wahlbetrug nicht gelöst wurden (Al Jazeera 21.10.2018).

3. Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich verbessert, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv und ist die Sicherheitslage regional unterschiedlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates in allen Fällen sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen. aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten und zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (AA 12.02.2018).

Die im Folgenden dargestellte Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle und ziviler Opfer ist im Kontext der Bevölkerungsanzahl eines Gouvernements zu sehen. Im Folgenden findet sich eine Tabelle mit Schätzungen der Bevölkerungszahlen der irakischen Provinzen (herausgegeben von der Republik Irak, mit Stand 2009):

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(Quelle: Republik Irak, zitiert bei UK HO 3.2017)

3.1. Islamischer Staat (IS)

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 03.07.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 06.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 04.10.2018; vgl. ISW 02.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 04.10.2018). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt www.ris.bka.gv.at Seite 21 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Rückzugsgebiete des IS, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und wo sich IS-Kämpfer tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 06.10.2018). Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018).

Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 06.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.08.2018).

3.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 06.02.2018).

Laut Angaben von UNAMI, der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak, wurden im September 2018 im Irak insgesamt 75 irakische Zivilisten durch Terroranschläge. Gewalt und bewaffnete Konflikte getötet und weitere 179 verletzt (UNAMI 1.10.2018). Insgesamt verzeichnete UNAMI im Jahr 2017 3.298 getötete und 4.781 verwundete Zivilisten. Nicht mit einbezogen in diesen Zahlen waren zivile Opfer aus der Provinz Anbar im November und Dezember 2017. für die keine Angaben verfügbar sind. Laut UNAMI handelt es sich bei den Zahlen um absolute Mindestangaben. da die Unterstützungsmission bei der Überprüfung von Opferzahlen in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist (UNAMI 2.1.2018). Im Jahr 2016 betrug die Zahl getöteter Zivilisten laut UNAMI noch 6.878 bzw. die verwundeter Zivilisten 12.388. Auch diese Zahlen beinhalten keine zivilen Opfer aus Anbar für die Monate Mai. Juli. August und Dezember (UNAMI 3.1.2017).

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle. dokumentierte IBC im September 2018 241 zivile Todesopfer im Irak. Im September 2017 betrug die Zahl von IBC dokumentierter ziviler Todesopfer im Irak 490; im September 2016 935. Insgesamt dokumentierte IBC von Januar bis September 2018 2.699 getötete Zivilisten im Irak. Im Jahr 2017 dokumentierte IBC 13.178 zivile Todesopfer im Irak; im Jahr 2016 betrug diese Zahl 16.393 (IBC 9.2018).

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(IBC - Iraq Body Count (9.2018): Database - Documented civilian deaths from violence. https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 31.10.2018)

Der sich im Jahr 2018 bereits in der ersten Jahreshälfte abzeichnende Trend einer sich stetig verbessernden Sicherheitslage setzte sich bis zuletzt fort, was aus den untenstehenden Grafiken ersichtlich ist.

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(MOI - Musings on Iraq (12.2018): http://musingsoniraq.blogspot.com/2018/12/large-drop-in-violence-in-iraq-november.html, Zugriff 04.12.2018)

Im November 2018 wurde die geringste Anzahl ziviler Opfer im Irak seit sechs Jahren verzeichnet (UNAMI 3.12.2018).

4. Rechtsschutz / Justizwesen

Die Bundesjustiz besteht aus dem Obersten Justizrat (Higher Judicial Council, HJC), dem Bundesgerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission und anderen Bundesgerichten, die www.ris.bka.gv.at Seite 22 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 durch das Gesetz geregelt werden. Das reguläre Strafjustizsystem besteht aus Ermittlungsgerichten, Gerichten der ersten Instanz, Berufungsgerichten, dem Kassationsgerichtshof und der Staatsanwaltschaft (LIFOS 8.5.2014). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.02.2018).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.02.2018). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein. Darüber hinaus schwächen die Sicherheitslage und die politische Geschichte des Landes die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 20.04.2018). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.02.2018).

Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 16.1.2018).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.02.2018). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft (FH 16.1.2018). Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern; eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über "schiitische Siegerjustiz" und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.02.2018).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Die Integritätskommission untersucht routinemäßig Richter wegen Korruptionsvorwürfen, aber einige Untersuchungen sind Berichten zufolge politisch motiviert. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente sowie der Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 20.04.2018). Nicht nur Polizei Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung gibt allen Bürgern das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess. Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen. Obwohl Ermittlungs-, Prozess- und Berufungsrichter im Allgemeinen versuchen, das Recht auf ein faires Verfahren durchzusetzen, ist der unzureichende Zugang der Angeklagten zu Verteidigern ein schwerwiegender Mangel im Verfahren. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 20.04.2018).

Auch die Lage in der Autonomen Region Kurdistan ist von Defiziten der rechtsstaatlichen Praxis gekennzeichnet (AA 12.02.2018). Der Kurdische Justizrat ist rechtlich, finanziell und administrativ unabhängig vom Justizministerium der Regierung der Autonomen Region Kurdistan, die Exekutive beeinflusst jedoch politisch sensible Fälle. Beamte der Region Kurdistan-Irak berichten, dass Staatsanwälte und Verteidiger bei der Durchführung ihrer Arbeit häufig auf Hindernisse stoßen und dass Prozesse aus administrativen Gründen unnötig verzögert werden. Nach Angaben der Unabhängigen Menschenrechtskommission der Region Kurdistan- Irak bleiben Häftlinge auch nach gerichtlicher Anordnungen ihrer Freilassung für längere Zeit in den Einrichtungen des internen Sicherheitsdienstes der kurdischen Regierung (USDOS 20.04.2018).

5. Sicherheitskräfte und Milizen

Im ganzen Land sind zahlreiche innerstaatliche Sicherheitskräfte tätig. Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle ausgeübt (USDOS 20.04.2018). www.ris.bka.gv.at Seite 23 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

5.1. Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, Sicherheitskräften, die vom Verteidigungsministerien verwaltet werden, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF, Popular Mobilization Forces) und dem Counter-Terrorism Service (CTS). Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig; es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur in diesem Bereich verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der Counter-Terrorism Service (CTS) ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 20.04.2018).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Sie sind noch nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es keine gesetzliche Regelung der Befugnisse der Polizei, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung. Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.02.2018).

5.2. Kurdische Sicherheitskräfte (Peshmerga)

Die kurdischen Sicherheitskräfte (Peshmerga) unterstehen formal der kurdischen Regionalregierung und sind bislang nicht in den Sicherheitsapparat der Zentralregierung eingegliedert. Sie bilden allerdings keine homogene Einheit, sondern unterstehen faktisch voneinander getrennt den beiden großen Parteien, der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), in ihren jeweiligen Einflussgebieten (AA 12.02.2018). Die Peshmerga sind eine komplexe und vielschichtige Kraft, ihre Loyalität geteilt zwischen dem irakischen Staat, der autonomen Region Kurdistan, verschiedenen politischen Parteien und mächtigen Persönlichkeiten. Zu verschiedenen Zeitpunkten, manchmal auch gleichzeitig, können die Peshmerga als nationale Sicherheitskräfte, regionale Sicherheitskräfte, Partei-Kräfte und persönliche Sicherheitskräfte bezeichnet werden (Clingendael 3.2018).

Im Kampf gegen den IS hatten die Peshmerga Gebiete über die ursprünglichen Grenzen von 2003 der Region Kurdistan-Irak hinaus befreit. Aus diesen zwischen Bagdad und Erbil seit jeher umstrittenen Gebieten hat die irakische Armee die Peshmerga nach Abhaltung des Unabhängigkeitsreferendums im September 2017 größtenteils zurückgedrängt. In weiten Teilen haben die Peshmerga sich kampflos zurückgezogen, es gab jedoch auch teils schwere bewaffnete Auseinandersetzungen mit Opfern auf beiden Seiten (AA 12.02.2018).

Nach der irakischen Verfassung hat die kurdische Autonomieregion das Recht, ihre eigenen Sicherheitskräfte zu unterhalten, finanziell unterstützt von der irakischen Bundesregierung, aber unter der operativen Kontrolle der kurdischen Autonomieregierung. Dementsprechend beaufsichtigt das Ministerium für Peshmerga- Angelegenheiten der kurdischen Autonomieregion 14 Infanteriebrigaden und zwei Unterstützungsbrigaden. Die PUK und die KDP kontrollieren zehntausende Mann zusätzliches Militärpersonal, einschließlich Milizen, die allgemein als die 70er und 80er Peshmerga-Brigaden bezeichnet werden (USDOS 20.04.2018).

KDP und PUK unterhalten getrennte Sicherheits- und Nachrichtendienste, einerseits Asayish und Parastin (KDP), und andererseits Asayish und Zanyari (PUK) (USDOS 20.04.2018; vgl. Chapman 2009). Die Unabhängige Menschenrechtskommission der kurdischen Autonomieregion informiert das kurdische Innenministerium regelmäßig, wenn ihr glaubwürdige Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Polizeikräfte zukommen (USDOS 20.04.2018).

Die Sicherheitsdienste der kurdischen Autonomieregion halten in den von ihnen kontrollierten Gebieten bisweilen Verdächtige fest. Die schlecht definierten administrativen Grenzen zwischen Gebieten und dem Rest des Landes führen zu anhaltender Verwirrung über die Zuständigkeit der Sicherheitskräfte und der Gerichte (USDOS 20.04.2018).

www.ris.bka.gv.at Seite 24 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

6. Folter und unmenschliche Behandlung

Folter und unmenschliche Behandlung sind der irakischen Verfassung zufolge ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren angewandt, etwa bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte. Laut Informationen von UNAMI sollen u. a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören. Das im August 2015 abgeschaffte Menschenrechtsministerium hat nach eigenen Angaben 500 Fälle unerlaubter Gewaltanwendung an die Justiz übergeben, allerdings wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen (AA 12.02.2018).

Es gibt Berichte, dass die Polizei in nicht quantifizierbaren Fällen mit Gewalt Geständnisse erzwingt und Gerichte diese als Beweismittel akzeptieren. Weiterhin bestehen Vorwürfe dahingehend, dass Sicherheitskräfte der Regierung, einschließlich der mit den PMF verbundenen Milizen, Personen während Verhaftungen, Untersuchungshaft und nach Verurteilungen misshandeln und foltern. Internationale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten verschiedene Fälle von Folter und Misshandlung in Einrichtungen des Innenministeriums und in geringerem Umfang in Haftanstalten des Verteidigungsministeriums sowie in Einrichtungen unter KRG-Kontrolle. Ehemalige Gefangene, Häftlinge und Menschenrechtsgruppen berichteten von einer Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen (USDOS 20.04.2018).

6.1. Autonome Region Kurdistan (KRG)

Missbräuchliche Verhöre sollen unter bestimmten Bedingungen in einigen Haftanstalten der internen Sicherheitseinheit der KRG, der Asayish, und der Geheimdienste der großen politischen Parteien, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) Parastin und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) Zanyari stattfinden (USDOS 20.04.2018). Berichten zufolge kommt es in Gefängnissen der Asayish in der Region Kurdistan-Irak zur Anwendung von Folterpraktiken gegen Terrorverdächtige (AA 12.02.2018).

Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge haben KRG-Behörden Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren gefoltert, die wegen angeblicher Verbindungen zum IS verhaftet worden waren, und haben sie daran gehindert, sich an einen Anwalt zu wenden. Nach Angaben der Unabhängigen Menschenrechtskommission der KRG befanden sich in einer Jugendstrafanstalt in Erbil 215 Jugendliche wegen Vorwürfen in Zusammenhang mit dem IS. Die Kommission hat 165 Jugendliche befragt. Die meisten Jugendlichen behaupteten, dass die Sicherheitskräfte von PMF und KRG sie verschiedenen Formen des Missbrauchs, einschließlich Schlägen, ausgesetzt hätten (USDOS 20.04.2018).

7. Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung

Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Nach dem Sturz Saddam Husseins wurde die zuvor bestehende allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und ein Freiwilligen-Berufsheer eingeführt. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden (AA 12.02.2018; vgl. CIA 12.7.2018). Finanzielle Anreize machen die Arbeit beim Militär zu einer attraktiven Karriere (Niqash 24.3.2016; vgl. Rudaw 15.12.2015).

Die Armee hat allerdings Schwierigkeiten, Soldaten dauerhaft an sich zu binden (Reuters 4.6.2016, vgl. Strachan 2016). Einer der Hauptgründe dafür ist auch, dass die meisten jungen schiitischen irakischen Männer es mittlerweile vorziehen, sich den paramilitärischen Einheiten (Popular Mobilisation Forces) anzuschließen, denen es gelingt, die konfessionell aufgeheizte Stimmung für ihre Rekrutierungspolitik zu nutzen. Es gibt von Seiten der Öffentlichkeit massiven Druck, sich den PMF anzuschließen. Auch kann das Gehalt bei diesen Milizen mitunter höher sein als jenes bei der irakischen Armee (Strachan, A.L. 2016, vgl. Lattimer 23.6.2017). Ebenso wie dieser gesellschaftliche Druck, sich den PMF anzuschließen, sehr groß sein kann, kann auch das Verlassen der Miliz (sowie auch der Armee) als Schande gesehen werden und schwerwiegende Konsequenzen haben (Lattimer 23.6.2017). Auf Zwangsrekrutierungen scheinen die Milizen der PMF grundsätzlich nicht angewiesen zu sein, da sie ausreichend Zulauf von Freiwilligen haben und diesbezüglich keine Engpässe zu haben scheinen (AIO 12.6.2017, vgl. CEIP 1.2.2016).

Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu 7 Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar (MoD 10.2007). Die Frage, inwieweit die irakischen Behörden in der Praxis im Falle von Desertion Strafverfolgung betreiben, kann nicht eindeutig beantwortet werden (MIGRI 6.2.2018).

www.ris.bka.gv.at Seite 25 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Auch in der Autonomen Region Kurdistan herrscht keine Wehrpflicht. Kurdische Männer und Frauen können sich freiwillig zu den Peshmerga melden (DIS 12.4.2016; vgl. NL 1.4.2018, Clingendael 3.2018).

8. Allgemeine Menschenrechtslage

Die Verfassung garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren. Internationale Beobachter kritisieren, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. Ähnliches gilt für den Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft (AA 12.02.2018).

Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen und Erpressung durch PMF-Elemente; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; stark reduzierte Strafen für so genannte "Ehrenmorde"; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Menschenhandel. Militante Gruppen töteten bisweilen LGBTI-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 20.04.2018).

Im Zuge des internen bewaffneten Konflikts begingen Regierungstruppen, kurdische Streitkräfte, paramilitärische Milizen, die US-geführte Militärallianz und der IS auch noch im Jahr 2017 Kriegsverbrechen, Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und schwere Menschenrechtsverstöße. Der IS vertrieb Tausende Zivilpersonen, zwang sie in Kampfgebiete und missbrauchte sie massenhaft als menschliche Schutzschilde. Er tötete vorsätzlich Zivilpersonen, die vor den Kämpfen fliehen wollten, und setzte Kindersoldaten ein. Regierungstruppen und kurdische Streitkräfte sowie paramilitärische Milizen waren für außergerichtliche Hinrichtungen von gefangen genommenen Kämpfern und Zivilpersonen, die dem Konflikt entkommen wollten, verantwortlich. Außerdem zerstörten sie Wohnhäuser und anderes Privateigentum. Sowohl irakische und kurdische Streitkräfte als auch Regierungsbehörden hielten Zivilpersonen, denen Verbindungen zum IS nachgesagt wurden, willkürlich fest, folterten sie und ließen sie verschwinden. Prozesse gegen mutmaßliche IS- Mitglieder und andere Personen, denen terroristische Straftaten vorgeworfen wurden, waren unfair und endeten häufig mit Todesurteilen, die auf "Geständnissen" basierten, welche unter Folter erpresst worden waren. Die Zahl der Hinrichtungen war weiterhin besorgniserregend hoch (AI 22.2.2018).

Es gibt zwar eine unabhängige kurdische Menschenrechtskommission, sie beschränkt sich aber eher auf die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und kann selten eine volle Aufklärung oder gar Ahndung gewährleisten (AA 12.02.2018). Der Hohe Ausschuss für die Bewertung und Reaktion auf internationale Berichte überprüfte in der Autonomen Region Kurdistan Anschuldigungen von Misshandlungen durch die Peshmerga, insbesondere gegen IDPs, und entschuldigte sie in öffentlichen Berichten und Kommentaren. Es besteht quasi Straffreiheit für Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte, einschließlich der Peshmerga (USDOS 20.04.2018).

9. Meinungs- und Pressefreiheit

Die Verfassung garantiert die Freiheit der Meinungsäußerung (AA 12.02.2018), solange diese nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzt, Unterstützung für die verbotene Ba'ath-Partei ausdrückt oder die gewaltsame Änderung der Grenzen des Landes befürwortet. Einzelpersonen und Medien betreiben jedoch Selbstzensur, aufgrund der glaubwürdigen Angst vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionellen Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden. Kontrolle und Zensur der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung behindern manchmal den Medienbetrieb, was mitunter die Schließung von Medien, Einschränkungen der Berichterstattung und Behinderung von Internetdiensten zur Folge hat. Einzelpersonen können die Regierung öffentlich oder privat kritisieren, jedoch nicht ohne Angst vor Vergeltung (USDOS 20.04.2018).

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Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen (AA 12.02.2018). Die meisten der mehrere hundert Printmedien, die im Irak täglich oder wöchentlich erscheinen, sowie dutzende Radio- und Fernsehsender, werden von politischen Parteien stark beeinflusst oder vollständig kontrolliert (USDOS 20.04.2018). Es gibt nur wenige politisch unabhängige Nachrichtenquellen. Journalisten, die sich nicht selbst zensieren, können mit rechtlichen Konsequenzen oder gewaltsamen Vergeltungsmaßnahmen rechnen (FH 1.2018).

Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen ist der Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder der Welt. Auf ihrem Index für Pressefreiheit kommt der Irak im Jahr 2017 auf Platz 158 von 180. Das Land nimmt im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007-2016) des Committee to Protect Journalists zudem den weltweit vorletzten Platz in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Demnach wurden in den letzten zehn Jahren 32 Morde an Journalisten nicht aufgeklärt (AA 12.02.2018).

Auch Lehrer sind im Irak seit langem mit der Gefahr von Gewalt oder anderen Auswirkungen konfrontiert, wenn sie Themen unterrichten oder besprechen, die mächtige staatliche oder nicht staatliche Akteure für verwerflich halten. Politischer Aktivismus von Universitätsstudenten kann zu Schikane oder Einschüchterung führen (FH 1.2018). Sozialer, religiöser und politischer Druck schränken die Entscheidungsfreiheit in akademischen und kulturellen Angelegenheiten ein. In allen Regionen des Landes versuchen verschiedene Gruppen die Ausübung der formalen Bildung und die Vergabe von akademischen Positionen zu kontrollieren (USDOS 20.04.2018).

Politische Meinungsäußerung kann in der kurdischen Autonomieregion willkürliche Verhaftung oder andere Repressalien von staatlicher Seite auslösen. Journalisten und Medien, die kritisch über die politische Führung der kurdischen Autonomieregion oder die infolge des Unabhängigkeitsreferendums eingetretene politische Krise berichteten, sahen sich mit Verhaftungen, Drohungen und Schließungsanordnungen durch Sicherheitskräfte und Aufsichtsbehörden sowie mit Angriffen von parteizugehörigen Schlägern konfrontiert. Es gab Berichte über Einschüchterungen im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum, insbesondere in den umstrittenen Gebieten, wie Kirkuk (FH 1.2018). Es gab nicht quantifizierbare Fälle von Gewalt, Inhaftierung und Todesdrohungen gegen Medienschaffende. In manchen Fällen trugen die Angreifer Militär- oder Polizeiuniformen (USDOS 20.04.2018).

10. Todesstrafe

Im irakischen Strafrecht ist die Todesstrafe vorgesehen, sie wird auch verhängt und vollstreckt. Irak ist eines der Länder mit der höchsten Zahl von verhängten Todesstrafen (AA 12.02.2018; vgl. HRW 18.01.2018, AI 12.4.2018).

Aktuelle Daten liegen nicht vor, da die irakische Regierung die Zahlen nicht mehr regelmäßig an die Vereinten Nationen berichtet und auch auf Nachfrage keine verlässlichen Angaben veröffentlicht werden. Laut Berichten von NGOs sind 1.816 Personen aktuell zum Tode verurteilt (AA 12.02.2018), gemäß einer anderen Quelle sind es sogar über 3.000 (AI 21.3.2018). Human Rights Watch berichtet von mindestens 78 Hinrichtungen von verurteilten IS-Mitgliedern im Jahr 2017. Es gibt seit kurzem Berichte über wöchentlich 3-4 Vollstreckungen der Todesstrafe, was die jährliche Zahl verdoppeln würde (AA 12.02.2018). Hintergrund könnte sein, dass aktuell insbesondere ehemalige IS-Kämpfer - oder Personen die dessen beschuldigt werden - massenhaft in unzulänglichen Prozessen zu Tode verurteilt werden (AA 12.02.2018; vgl. AI 21.3.2018).

Problematisch sind bereits seit Jahren die Bandbreite und die mitunter fehlende rechtliche Klarheit der Straftatbestände, für die die Todesstrafe verhängt werden kann: neben Mord und Totschlag unter anderem auch wegen des Verdachts auf staatsfeindliche Aktivitäten, Vergewaltigung, Einsatz von chemischen Waffen und insbesondere wegen terroristischer Aktivitäten unterschiedlicher Art. Die Todesstrafe stößt in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz (AA 12.02.2018).

In der Autonomen Region Kurdistan wurde nach dem Fall des Regimes Saddam Husseins die Todesstrafe abgeschafft, später aber zur Bekämpfung des Terrorismus wieder eingeführt. Am 12.08.2015 wurden erstmals seit 2008 wieder drei Menschen hingerichtet. Auch im Jahr 2017 wurde ein Todesurteil durch den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan zur Vollstreckung freigegeben, die Vollstreckung ist bisher aber noch nicht erfolgt (AA 12.02.2018).

11. Religionsfreiheit

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Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an. Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 12.02.2018). Es darf kein Gesetz erlassen werden das den "erwiesenen Bestimmungen des Islams" widerspricht (USDOS 29.5.2018; vgl. RoI 15.10.2005). In Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Explizit erwähnt werden in diesem Zusammenhang Christen, Jesiden und Mandäer-Sabäer, jedoch nicht Anhänger anderer Religionen (RoI 15.10.2005; vgl. USDOS 29.5.2018).

Art. 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes (AA 12.02.2018; vgl. UNHCR 15.1.2018). Art. 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten. Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. den Abfall vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z.B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht (AA 12.02.2018). Das Zivilgesetz sieht einen einfachen Prozess für die Konversion eines Nicht-Muslims zum Islam vor. Die Konversion eines Muslims zu einer anderen Religion ist jedoch gesetzlich verboten (USDOS 29.5.2018).

Die folgenden religiösen Gruppen werden durch das Personenstandsgesetz anerkannt: Muslime, chaldäische Christen, assyrische Christen, assyrisch-katholische Christen, syrisch-orthodoxe Christen, syrisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, armenisch-katholische Christen, römisch-orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen, lateinisch-dominikanische Christen, nationale Protestanten, Anglikaner, evangelisch-protestantische Assyrer, Adventisten, koptisch-orthodoxe Christen, Jesiden, Sabäer-Mandäer und Juden. Die staatliche Anerkennung ermöglicht es den Gruppen, Rechtsvertreter zu bestellen und Rechtsgeschäfte wie den Kauf und Verkauf von Immobilien durchzuführen. Alle anerkannten religiösen Gruppen haben ihre eigenen Personenstandsgerichte, die für die Behandlung von Ehe-, Scheidungs- und Erbschaftsfragen zuständig sind. Laut der jesidischen NGO Yazda gibt es jedoch kein Personenstandsgericht für Jesiden (USDOS 29.5.2018).

Die alten irakischen Personalausweise enthielten Informationen zur Religionszugehörigkeit einer Person, was von Menschenrechtsorganisationen als Sicherheitsrisiko im aktuell herrschenden Klima religiös-konfessioneller Gewalt kritisiert wurde. Mit Einführung des neuen Personalausweises wurde dieser Eintrag zeitweise abgeschafft. Mit Verabschiedung eines Gesetzes zum neuen Personalausweis im November 2015 wurde allerdings auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen: Art. 26 besagt, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden (AA 12.02.2018). Es wird berichtet, dass das Gesetz faktisch zu Zwangskonvertierungen führt, indem Kinder mit nur einem muslimischen Elternteil (selbst Kinder, die infolge von Vergewaltigung geboren wurden) als Muslime angeführt werden müssen. Christliche Konvertiten berichten auch, dass sie gezwungen sind, ihr Kind als Muslim zu registrieren oder das Kind undokumentiert zu lassen, was die Berechtigung auf staatliche Leistungen beeinträchtigt (USDOS 29.5.2018).

Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und assyrische Christen sowie einen für Armenier vor (AA 12.02.2018).

Es gibt weiterhin Berichte, dass die irakischen Sicherheitskräfte (ISF), einschließlich der Peshmerga und schiitischer Milizen, sunnitische Gefangene töten. Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten. Internationale Menschenrechtsorganisationen erklären, dass die Regierung es immer noch verabsäumt ethnisch-konfessionelle Verbrechen zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen, einschließlich Verbrechen, die von bewaffneten Gruppen in den vom IS befreiten Gebieten ausgeübt wurden. Sunnitische Araber berichten weiterhin, dass manche Regierungsbeamte bei Festnahmen und Inhaftierungen konfessionelles Profiling vornehmen, sowie Religion als bestimmenden Faktor bei der Vergabe von Arbeitsplätzen benützen (USDOS 29.5.2018).

Minderheiten sind auch weiterhin mit Belästigungen, einschließlich sexueller Übergriffe, und Einschränkungen durch lokale Behörden in einigen Regionen konfrontiert. Da Religion, Politik und Ethnizität oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, viele Vorfälle als ausschließlich auf religiöser Identität beruhend zu kategorisieren. Einige Jesiden und christliche Führer berichten von Belästigungen und Misshandlungen durch kurdische Sicherheitskräfte, einschließlich Anforderungen für Sicherheitsgenehmigungen, die von den Asayish auferlegt werden und die die Bewegungsfreiheit von Jesiden zwischen der Provinz Dohuk und dem Sinjar- Gebiet einschränken. Christen berichten von Belästigungen und Misshandlungen an zahlreichen Checkpoints, die von Einheiten der Volksmobilisierungseinheiten (PMF) betriebenen werden. Dadurch wird die Bewegungsfreiheit im Gebiet der Ninewa-Ebene behindert (USDOS 29.5.2018).

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Vertreter religiöser Minderheiten berichten, dass die Zentralregierung im Allgemeinen nicht in religiöse Handlungen eingreift und sogar für die Sicherheit von Gotteshäusern und anderen religiösen Stätten, einschließlich Kirchen, Moscheen, Schreinen, religiösen Pilgerstätten und Pilgerrouten, sorgt (USDOS 29.5.2018).

12. Minderheiten

In der irakischen Verfassung vom 15.10.2005 ist der Schutz von Minderheiten verankert (AA 12.02.2018). Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten unter weitreichender faktischer Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.02.2018).

Offiziell anerkannte Minderheiten. wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden. genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte. sind jedoch im täglichen Leben. insbesondere außerhalb der Autonomen Region Kurdistan. oft benachteiligt (AA 12.02.2018).

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17 bis 22 Prozent) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20 Prozent) (AA 12.02.2018). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Allerdings ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen - eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.02.2018).

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäern, Kakai, Schabak und Christen. Es liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 12.02.2018).

In der Autonomen Region Kurdistan sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 12.02.2018; vgl. KAS 8.2017). Mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutze der Minderheiten in der Autonomen Region Kurdistan durch das kurdische Regionalparlament im Jahr 2015 wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zumindest rechtlich mit der kurdisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt. Dennoch ist nicht immer gewährleistet, dass die bestehenden Minderheitsrechte auch tatsächlich umgesetzt werden (KAS 8.2017).

Es gab auch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Shabak und Christen) durch Behörden der Kurdischen Autonomieregierung in den sogenannten umstrittenen Gebieten (USDOS 20.04.2018). Darüber hinaus empfinden Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit in den sog. umstrittenen Gebieten aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und v.a. der schiitischen Milizen (AA 12.02.2018).

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Religiöse/konfessionelle Verteilung im Irak (Anmerkungen zur Karte siehe unten)

(Quelle: BMI 2016)

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Ethnische und linguistische Verteilung im Irak (Quelle BMI 2016)

Anmerkungen zu den beiden Karten: Die irakische Bevölkerung ist sehr heterogen bezüglich der religiösen und konfessionellen Zugehörigkeit. Deshalb, sowie auf Grund von teilweise inkonsistenten Quellen zeigt diese Karte nur die ungefähre Verteilung, wo sich die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen/konfessionellen Gruppen befinden, bzw. bis zum Frühling 2014 befanden. Insbesondere in Städten kann die Verteilung der konfessionellen/religiösen Gruppen deutlich von der Verteilung in der ländlichen Umgebung abweichen. Durch den Vorstoß des IS seit dem Sommer 2014 kam es darüber hinaus zu drastischen Veränderungen in der ethnischen und konfessionellen Zusammensetzung/Verteilung der irakischen Bevölkerung (BMI 2016).

Dazu muss hervorgehoben werden, dass ein und dieselbe Gruppe in einer Gegend eine Minderheit sein, in einer anderen jedoch die Mehrheitsbevölkerung stellen kann und umgekehrt (Lattimer EASO 26.04.2017; vgl. Prochazka 11.8.2014).

Durch den Vorstoß des IS und seiner aktiven Kampagne zur Umwälzung der religiösen Demografie des Landes kam es zu drastischen Veränderungen in der konfessionellen und ethnischen Verteilung der Bevölkerung im Irak (FH 2018; vgl. Ferris und Taylor 8.9.2014). Viele Schiiten und religiöse Minderheiten, die vom IS vertrieben wurden, sind bis heute nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Die Rückkehr irakischer Streitkräfte in Gebiete, die seit 2014 von kurdischen Streitkräfte gehalten wurden, führte Ende 2017 zu einer weiteren Runde demografischer Veränderungen, wobei manche kurdischen Bewohner auszogen und Araber zurückkehrten. In Gebieten, die von schiitischen Milizen befreit wurden, gab es wiederum Berichte von der Vertreibung sunnitischer Araber. Dasselbe gilt für Gebiete, die von den kurdischen Peshmerga befreit wurden (FH 2018; vgl. GNI 20.11.2016).

13. Relevante Bevölkerungsgruppen

13.1. Frauen

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 Prozent im Parlament (Region Kurdistan: 30 Prozent) verankert (AA 12.02.2018). Frauen sind jedoch auf Gemeinde- und Bundesebene. in Verwaltung und Regierung. weiterhin unterrepräsentiert. Dabei stellt die Quote zwar sicher. dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht (K4D 24.11.2017).

Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re- Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht (AA 12.02.2018).

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt (FH 16.1.2018). Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert (AA 12.02.2018; vgl. UNIraq 13.3.2013, MIGRI 22.5.2018). Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen (AA 12.02.2018). In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen auch stärker eingeschränkt als für Männer (FH 16.1.2018).

Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14 Prozent, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17 Prozent (AA 12.02.2018; vgl. ILO 1.2016). Die genauen Zahlen unterscheiden sich je nach Statistik und Erhebungsmethode (MIGRI 22.5.2018).

Schätzungen zufolge liegt die Analphabetenrate bei Frauen im Irak bei 26,4 Prozent (UNESCO 18.3.2014). Mehr als ein Viertel von Frauen im Alter von über 15 Jahren können nicht lesen und schreiben (CIA 20.8.2018). In ländlichen Gebieten ist die Rate noch höher (UNESCO 18.3.2014).

13.1.1. Häusliche Gewalt, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt

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Häusliche Gewalt ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem (USDOS 20.04.2018), vor dem Frauen nur wenig rechtlichen Schutz haben (HRW 18.01.2018). Das irakische Strafgesetz enthält zwar Bestimmungen zur Kriminalisierung von Körperverletzung. es fehlt jedoch eine ausdrückliche Erwähnung von häuslicher Gewalt (HRW 18.01.2018; vgl. MIGRI 22.5.2018).

Nach Artikel 41. Absatz 1 des Strafgesetzbuches hat der Ehemann das Recht. seine Frau "innerhalb gewisser Grenzen" zu bestrafen. Diese Grenzen sind recht vage definiert, sodass verschiedene Arten von Gewalt als "rechtmäßig" interpretiert werden können (MIGRI 22.5.2018; vgl. MRG 11.2015). Nach Artikel 128 Absatz 1 des Strafgesetzbuches können Straftaten. die aufgrund der "Ehre" oder "vom Opfer provoziert" begangen wurden. ungestraft bleiben bzw. kann in solchen Fällen die Strafe gemildert werden (MIGRI 22.5.2018).

Laut Studien handelt es sich bei denjenigen, die häusliche Gewalt gegen Frauen ausüben, am häufigsten um den Ehemann bzw. den Vater der Frau, gefolgt von Schwiegereltern, Brüdern und anderen Familienmitgliedern (UNFPA 2016; vgl. CSO 6.2012. MIGRI 22.5.2018). Täter, die Gemeinschaft, aber auch Opfer selbst sehen häusliche Gewalt oft als "normal" und rechtfertigen sie aus kulturellen und religiösen Gründen (UNFPA 2016; vgl. MRG 11.2015. MIGRI 22.5.2018). Frauen tendieren dazu häusliche Gewalt aus Scham oder Angst vor Konsequenzen nicht zu melden, manchmal auch um den Täter zu schützen (UNFPA 2016; vgl. MIGRI 22.5.2018). Der Großteil befragter Frauen hatte kein Vertrauen in die Polizei und hielt den von ihr gebotenen Schutz für nicht angemessen (MIGRI 22.5.2018).

13.1.2. Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen

Frauen werden noch immer in Ehen gezwungen. Rund 20 Prozent der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10 - 14 Jahren (AA 12.02.2018). Ein Gesetzesentwurf der u.a. die Möglichkeit der Verheiratung von Mädchen im Alter von ab acht Jahren beinhaltet hätte, wurde im Dezember 2017 vom Parlament abgelehnt (HRW 17.12.2017).

Das gesetzliche Mindestalter für eine Eheschließung beträgt mit elterlicher Erlaubnis 15 Jahre, ohne Erlaubnis 18 Jahre. Berichten zufolge unternimmt die Regierung jedoch wenig Anstrengungen, um dieses Gesetz durchzusetzen. Traditionelle Zwangsverheiratungen von Mädchen, Kinderehen und sogenannte "Ehen auf Zeit" (zawaj al-mut'a) finden im ganzen Land statt. Laut UNICEF waren 2016 rund 975.000 Frauen und Mädchen vor dem 15. Lebensjahr verheiratet, doppelt so viele wie 1990 (USDOS 20.04.2018). Nach Angaben des Hohen Rates für Frauenangelegenheiten der kurdischen Regionalregierung tragen Flüchtlinge und IDPs in der Autonomen Region Kurdistan zu einer zunehmenden Zahl an Kinderehen und Polygamie bei (USDOS 20.04.2018). Viele Frauen und Mädchen sind durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt vermehrt Berichte, dass minderjährige Frauen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Frauen (AA 12.02.2018).

13.2. Kinder

Die Hälfte der irakischen Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Kinder waren Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. Sie sind nach Angaben der Vereinten Nationen in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage betroffen. Sehr viele Kinder und Jugendliche sind durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen (AA 12.02.2018). Laut UNICEF machten Kinder im August 2017 fast die Hälfte der damals drei Millionen durch den Konflikt vertriebenen Iraker aus (USDOS 20.04.2018).

Art. 29 und 30 der irakischen Verfassung enthalten Kinderschutzrechte. Irak ist dem Zusatzprotokoll zur VN- Kinderrechtskonvention zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten beigetreten (AA 12.02.2018). Das Gesetz verbietet die kommerzielle Ausbeutung von Kindern, sowie Pornografie jeglicher Art, einschließlich Kinderpornografie (USDOS 20.04.2018).

Im Falle einer Nichtregistrierung der Geburt eines Kindes werden diesem staatliche Leistungen wie Bildung, Lebensmittelbeihilfe und Gesundheitsversorgung vorenthalten. Alleinstehende Frauen und Witwen hatten oft Probleme bei der Registrierung ihrer Kinder. Kinder, die nicht die irakische Staatsbürgerschaft besitzen, haben ebenfalls keinen Anspruch auf staatliche Leistungen. Humanitäre Organisationen berichten von einem weit verbreiteten Problem bezüglich Kindern, die im IS-Gebiet geboren worden sind und keine von der Regierung ausgestellte Geburtsurkunden erhalten (USDOS 20.04.2018).

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Die Grundschulbildung ist für Kinder, die die irakische Staatsbürgerschaft besitzen, in den ersten sechs Schuljahren verpflichtend und wird für diese kostenfrei angeboten. In der kurdischen Autonomieregion besteht die Schulpflicht bis zum Alter von 15 Jahren; auch dort kostenfrei. Der Zugang zu Bildung von Kindern, die aufgrund des Konfliktes intern vertrieben wurden, ist stark einschränkt (USDOS 20.04.2018). Die Sicherheitslage und die große Zahl zerstörter Schulen verhindern mancherorts den Schulbesuch, sodass die Alphabetisierungsrate in den letzten 15 Jahren drastisch gefallen ist (aktuell bei 79,7 Prozent), besonders in ländlichen Gebieten. Im Unterschied dazu sind in der Autonomen Region Kurdistan fast alle Menschen des Lesens und Schreibens mächtig (AA 12.02.2018).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten Kinderarbeit. In den Gebieten, die unter die Zuständigkeit der Zentralregierung fallen, beträgt das Mindestbeschäftigungsalter 15 Jahre. Das Gesetz begrenzt die Arbeitszeit für Personen unter 18 Jahren auf sieben Stunden pro Tag und verbietet Beschäftigungen, die der Gesundheit, Sicherheit oder Moral von Personen unter 18 Jahren schaden. Trotzdem gibt es im ganzen Land Fälle von Kinderarbeit. Es gibt dokumentierte Fälle von durch den Konflikt intern vertriebenen Kindern, die gezwungen wurden Kinderarbeit zu leisten. Versuche der Regierung Kinderarbeit z.B. durch Inspektionen zu überwachen, blieben erfolglos (USDOS 20.04.2018).

Anmerkung: zur Lage von Kindern in der autonomen Region Kurdistan siehe unten 1.4.3.

14. Bewegungsfreiheit

Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit. Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an (USDOS 20.04.2018). Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas. nachdem die vom IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 1.2018).

Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von Vertriebenen und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern. ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften. die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken. Ausgangssperren zu verhängen. Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen. Es gab zahlreiche Berichte. dass Sicherheitskräfte (ISF. Peshmerga. PMF) Bestimmungen. die Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben. um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken. selektiv umgesetzt haben (USDOS 20.04.2018).

Die kurdische Autonomieregierung schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten ein (USDOS 20.04.2018). Innerirakische Migration aus dem Zentralirak in die Autonome Region Kurdistan ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug jedoch kontrolliert. Wer dauerhaft bleiben möchte. muss sich bei der Asayish-Behörde des jeweiligen Bezirks anmelden. Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht (AA 12.02.2018). Die Behörden verlangen von Nicht-Ortsansässigen. Genehmigungen einzuholen. die einen befristeten Aufenthalt in der Autonomieregion erlauben. Diese Genehmigungen waren in der Regel erneuerbar. Bürger. die eine Aufenthaltserlaubnis für die Autonome Region Kurdistan bzw. die von ihr kontrollierten Gebiete einholen wollen. benötigen einen in der Region ansässigen Bürgen. Bürger. die aus dem Zentral- oder Südirak in die Autonome Region Kurdistan einreisen (egal welcher ethno-religiösen Gruppe sie angehörten. auch Kurden) müssen Checkpoints passieren und Personen- und Fahrzeugkontrollen über sich ergehenlassen (USDOS 20.04.2018).

Die Behörden der Autonomen Region Kurdistan wenden Beschränkungen unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt. Beamte hindern Personen. die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten. an der Einreise in die Region. Die Einreise ist für Männer oft schwieriger. insbesondere für arabische Männer. die ohne Familie reisen (USDOS 20.04.2018).

Aufgrund militärischer Operationen gegen den IS erhöhten die irakischen Streitkräfte, PMF und Peshmerga die Zahl der Checkpoints und errichteten in vielen Teilen des Landes provisorische Straßensperren (USDOS 20.04.2018). Diese Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der IS richtet falsche Checkpoints ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (albawaba 12.3.2018; vgl. GardaWorld 29.3.2018, Kurdistan24 29.3.2018, Iraqi News 28.6.2018).

Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht routinemäßig durchgesetzt (USDOS 20.04.2018). An den Grenzen zu den Nachbarstaaten haben sich in den letzten Monaten immer wieder Änderungen der Ein- und Ausreisemöglichkeiten, Kontrollen, www.ris.bka.gv.at Seite 32 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Anerkennung von Dokumenten etc. ergeben. Nach wie vor muss mit solchen Änderungen - auch kurzfristig - gerechnet werden (AA 12.02.2018).

15. IDPs und Flüchtlinge

Seit Jänner 2014 hat der Krieg gegen den IS im Irak die Vertreibung von ca. sechs Millionen Irakern verursacht, rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes (IOM 4.9.2018). Ende September 2018 betrug die Zahl der weiterhin intern Vertriebenen noch 1,89 Millionen (IOM 30.9.2018). Dabei handelt es sich um die niedrigste Zahl an IDPs seit Ende 2014 (IOM 4.9.2018). Die Zahl der Vertriebenen sinkt seit der zweiten Hälfte des Jahres 2017 sukzessive (UNHCR 31.8.2018; vgl. UNHCR 31.7.2018, IOM 30.9.2018); die Zahl der Rückkehrer ist mittlerweile auf 4 Millionen gestiegen (IOM 30.9.2018). Bis zu einer Million Menschen bleiben weiterhin aus dem konfessionellen Konflikt von 2006-08 vertrieben (USDOS 20.04.2018).

Die Regierung und internationale Organisationen, einschließlich UN-Einrichtungen und NGOs, versuchen, IDPs Schutz und andere Hilfe zu gewähren. Eine hohe Anzahl von IDPs außerhalb der Lager belastet die Ressourcen der Gastgebergemeinden (USDOS 20.04.2018).

Wie den folgenden Grafiken zu entnehmen ist, sind die Provinzen mit den höchsten Zahlen an IDPs Ninewa, gefolgt von Dohuk, Erbil, Salah al-Din, Sulaymaniya, Kirkuk, Bagdad, Anbar und Diyala (IOM 30.9.2018; vgl. UNOCHA 31.8.2018, IOM 4.9.2018).

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(IOM - International Organization for Migration - Iraq Mission (30.9.2018): DTM (Displacement Tracking Matrix): Displacement OverView, Zugriff 11.10.2018)

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UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (31.8.2018): Iraq: Internally displaced people by governorate, Zugriff 5.10.2018

Anfang 2018 lag die Rückkehrrate noch bei ca. 200.000 Menschen pro Monat. Diese Zahl hat sich seither drastisch verringert. So kehrten im März 2018 beispielsweise 112.446 Menschen in ihre Heimat zurück, von April bis Mai 2018 durchschnittlich 79.000 pro Monat, von Juni bis Juli 45.871. Im August 2018 lag die Zahl der Rückkehrer bei 33.528 Menschen (Joel Wing 19.9.2018).

Verschiedene Hilfsorganisationen berichten über eine Änderung der Einstellung von IDPs. Ursprünglich erklärte eine Mehrheit, sie würden zurückkehren, sobald der Krieg gegen den IS vorbei sei. Jetzt sind sie besorgt aufgrund der Sicherheit, dem Mangel an Dienstleistungen, zerstörten Häusern, wenig Arbeitsplätzen und wenig Geld. Es gibt auch eine beträchtliche Anzahl an IDPs, denen die Rückkehr verweigert wird, weil ihnen vorgeworfen wird, mit dem IS in Verbindung zu stehen. Darüber hinaus gibt es Menschen, die in ihre ursprünglichen Gebiete zurückgereist sind, die Situation dort jedoch als mangelhaft wahrgenommen haben und wieder in die Binnenvertreibung zurückgekehrt sind (Joel Wing 19.9.2018). Der Großteil der verbliebenen IDPs hat keine unmittelbaren Pläne zur Rückkehr (IOM 26.6.2018; vgl. REACH 29.8.2018, Joel Wing 11.10.2018).

Schwierige Rückkehrbedingungen finden sich unter anderem in Sinjar Zentrum, Telafar Zentrum, West Mosul, al-Ba'aj, im Wüsten-Streifen von al-Tal, Hatra (Hadr) und Muhallabiyya (Provinz Ninewa); in Baiji, Tuz Khurmatu/Sulayman Beg und Balad/Duloeiya (Provinz Salah al-Din); in Taza Khurmatu, Hawija Zentrum und al-'Abassi (Provinz Kirkuk); in al-Adheim und Sa'adiya/Jalawla (Provinz Diyala); und im Falludscha-Ramadi Streifen sowie in Ana Zentrum (Provinz Anbar) (IOM 9.2018).

In einigen Gebieten behindern Gewalt und Unsicherheit sowie langjährige politische, stammes¬und konfessionelle Spannungen die Fortschritte bei der nationalen Aussöhnung und erschweren den Schutz von IDPs. Tausende von Familien haben mehr als eine Vertreibung erlebt, und viele waren gezwungen, auf der Suche nach Schutz über die Grenzen der jeweiligen Provinz hinaus zu ziehen. Zwangsvertreibungen, kombiniert mit dem langwierigen und weitgehend ungelösten Problem von Millionen von Menschen, die in den letzten Jahrzehnten entwurzelt wurden, haben eine destabilisierende Wirkung auf die ohnehin schon komplexe soziale und politische Dynamik des Landes. Dies belastet die Kapazitäten der lokalen Behörden und offenbart die Grenzen der rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen (USDOS 20.04.2018).

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Sowohl Vertriebene als auch Rückkehrer sind vulnerabel und auf humanitäre Hilfe angewiesen, um ihren Lebensunterhalt wiederzuerlangen und ihre Familien ernähren zu können (IOM 4.9.2018).

Die Regierung stellt vielen - aber nicht allen - IDPs, auch in der kurdischen Autonomieregion, Nahrungsmittel, Wasser und finanzielle Hilfe zur Verfügung. Viele IDPs leben in informellen Siedlungen, wo sie keine ausreichende Versorgung mit Wasser, sanitären Einrichtungen oder anderen wichtigen Dienstleistungen erhalten (USDOS 20.04.2018). Alle Bürger sind berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des Public Distribution System (PDS) zu erhalten. Die Behörden verteilen aber nicht jeden Monat alle Waren, und nicht alle IDPs können in jeder Provinz auf Lebensmittel aus dem Public Distribution System (PDS) zugreifen. Die Bürger können die PDS-Rationen nur an ihrem Wohnort und in ihrer eingetragenen Provinz einlösen, was zu einem Verlust des Zugangs und der Ansprüche aufgrund von Vertreibungen führt (USDOS 20.04.2018).

Personen, die sich nicht als IDPs an ihrem Wohnort registriert haben, verfügen manchmal nur über einen begrenzten Zugang zu staatlichen Leistungen. Die lokalen Behörden entscheiden oft darüber, ob IDPs Zugang zu örtlichen Leistungen erhalten. Humanitäre Organisationen berichten, dass einige IDPs mangels erforderlicher Unterlagen Schwierigkeiten bei der Registrierung haben. Viele Bürger, die zuvor in den vom IS kontrollierten Gebieten gelebt haben, besitzen keine Personenstandsdokumente, was die Schwierigkeit, einen Ausweis und andere persönliche Dokumente zu erhalten, noch vergrößerte. Durch die Bereitstellung von Rechtshilfe unterstützen die Vereinten Nationen und humanitäre Organisationen IDPs bei der Beschaffung von Dokumenten und der Registrierung bei Behörden, um den Zugang zu staatlichen Leistungen zu verbessern (USDOS 20.04.2018).

16. Grundversorgung und Wirtschaft

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.02.2018). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung. Bildung. Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsrate, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert im gesamten Land erheblich (K4D 18.05.2018).

Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt. Nach Angaben des UN- Programms "Habitat" leben 70 Prozent der Iraker in Städten. Die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.02.2018).

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des sogenannten Islamischen Staates und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mosul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg und Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig- positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im Oktober 2018 für das Jahr 2019. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt (GIZ 11.2018). Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 11.2018). Rund 90 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor (AA 12.02.2018).

Noch im Jahr 2016 wuchs die irakische Wirtschaft laut Economist Intelligence Unit (EIU) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um 11 Prozent. Im Folgejahr schrumpfte sie allerdings um 0,8 Prozent. Auch 2018 wird das Wachstum um die 1 Prozent betragen, während für 2019 wieder ein Aufschwung von 5 Prozent zu erwarten ist (WKO 02.10.2018). Laut Weltbank wird erwartet, dass das gesamte BIP-Wachstum bis 2018 wieder auf positive 2,5 Prozent ansteigt. Die Wachstumsaussichten des Irak dürften sich dank der günstigeren Sicherheitslage und der allmählichen Belebung der Investitionen für den Wiederaufbau verbessern (WB 16.04.2018). Die positive Entwicklung des Ölpreises ist dafür auch ausschlaggebend. Somit scheint sich das Land nach langen Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen wieder in Richtung einer gewissen Normalität zu bewegen. Dieser positiven Entwicklung stehen gleichwohl weiterhin Herausforderungen gegenüber (WKO 02.10.2018).

Der Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.02.2018). Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Jobangebote sind mit dem Schließen mehrerer Unternehmen www.ris.bka.gv.at Seite 34 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 zurückgegangen. Im öffentlichen Sektor sind ebenfalls viele Stellen gestrichen worden. Gute Berufschancen bietet jedoch derzeit das Militär (IOM 13.06.2018).

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.02.2018). Sie deckt nur etwa 60 Prozent der Nachfrage ab, wobei etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 22.12.2017). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Autonomen Region Kurdistan erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.02.2018).

Wasserversorgung

Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen (AA 12.02.2018). Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.07.2018). Die Wasserknappheit dürfte sich kurz- bis mittelfristig noch verschärfen. Besonders betroffen sind die südlichen Provinzen, insbesondere Basra. Der Klimawandel ist dabei ein Faktor, aber auch große Staudammprojekte in der Türkei und im Iran, die sich auf den Wasserstand von Euphrat und Tigris auswirken und zur Verknappung des Wassers beitragen. Niedrige Wasserstände führen zu einem Anstieg des Salzgehalts, wodurch das bereits begrenzte Wasser für die landwirtschaftliche Nutzung ungeeignet wird (UNOCHA 31.08.2018).

Nahrungsversorgung

Laut Welternährungsorganisation sind im Irak zwei Millionen Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen (FAO 8.2.2018). Schätzungen des Welternährungsprogramms zufolge benötigen mindestens 700.000 Iraker Nahrungsmittelhilfe (USAID 23.2.2018).

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Schätzungen zufolge hat der Irak in den letzten vier Jahren jedoch 40 Prozent seiner landwirtschaftlichen Produktion verloren. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurde unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Das Land ist stark von Nahrungsmittelimporten abhängig (AW 11.2.2018; vgl. USAID 1.8.2017).

Das Sozialsystem wird vom sogenannten "Public Distribution System" (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen. Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schweren Ineffizienzen gekennzeichnet ist (K4D 18.05.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 20.04.2018).

17. Medizinische Versorgung

Die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt (AA 12.02.2018). Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen. Öffentliche Gesundheitsdienstleister bieten Behandlungen kostengünstiger sind als private. Die Preise von Medikamenten variieren je nach Diagnose des Patienten. In staatlichen Krankenhäusern oder Kliniken sind zumeist nur wenige www.ris.bka.gv.at Seite 35 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Medikamente erhältlich, diese jedoch zu einem günstigen Preis, in privaten Krankenhäusern und Kliniken sind alle Medikamente zumeist erhältlich, jedoch zumeist mit höheren Kosten verbunden (IOM 13.6.2018).

Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung. Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore (GIZ 11.2018). Der Patient sollte zunächst seine lokale Klinik aufsuchen, wo die Diagnose erstellt wird. Danach wird er/sie weiter zu einem Spezialisten überwiesen (IOM 13.06.2018).

Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD. Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind dann noch zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 11.2018).

In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführungen oder Repressionen das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.02.2018). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 12.02.2018).

18. Rückkehr

Eine freiwillige Rückkehr in den Irak aus dem österreichischen Bundesgebiet ist über Vermittlung entsprechender Rückkehrberatungseinrichtungen und nach erteilter Zustimmung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl mit Unterstützung von IOM möglich. IOM stellt im Gefolge der administrativen Abwicklung Flugtickets zur Verfügung und gewährt in Einzelfällen besonderer Hilfsbedürftigkeit auch finanzielle Überbrückungshilfe. Aktuell erfolgt eine solche Rückkehr in den Irak über die Flughäfen in Bagdad, Erbil, Basra und Najaf. Im Rahmen des Rückkehrprogramms AVRR (Assisted Voluntary Return and Reintegration) von IOM kehrten im Jahr 2015 insgesamt über 3.000 ehemalige Asylwerber aus 14 verschiedenen europäischen Ländern freiwillig in den Irak, nach Bagdad, Erbil, Suleimanyia und Basra, zurück. Dies stellt eine Zunahme von ca. 200% gegenüber dem Jahr 2014 dar. IOM unterstützt die Rückkehrer neben der Organisation der Reise selbst mit Reintegrationsmaßnahmen wie Mikrokrediten, provisorischen Unterkünften, Arbeitssuche und wichtigen Gütern des täglichen Lebens und arbeitet dabei mit dem irakischen Migrationsministerium und dem Migrationsbüro der kurdischen Autonomieregierung zusammen.

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Autonome Region Kurdistan finden regelmäßig statt (AA 12.02.2018).

ERRIN (ERIN) ist ein Rückkehr- und Reintegrationsprogramm auf europäischer Ebene mit dem Hauptziel, Reintegrationsunterstützung im Herkunftsland anzubieten. ERRIN ist eine Spezifische Maßnahme (Specific Action) im Rahmen des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU, wird von den Niederlanden (Repatriation and Departure Service (R&DS) - Ministry of Security and Justice of the Netherland) geleitet und zu 90% aus Europäischen Mitteln finanziert. Im Rahmen eines zentralen Ausschreibungsverfahrens werden Leistungsanbieter (Service Provider) zur Umsetzung von Reintegrationsprojekten in Drittstaaten ausgewählt. Im Anschluss werden mit ihnen, im Namen der partizipierenden Partnerorganisationen (Mitgliedsstaaten und assoziierende Saaten), Verträge geschlossen. Die Höhe und der Umfang der Reintegrationsleistung, also jene www.ris.bka.gv.at Seite 36 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Leistung, die ein Rückkehrer oder eine Rückkehrerin erhält, wird von jeder Partnerorganisation selbst bestimmt (BMI 12.2018).

Studien zufolge ist die größte primäre Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017). In der Autonomen Region Kurdistan gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Ob sich diese Tendenzen verstetigen, wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der Autonomen Region Kurdistan kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.02.2018).

Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser im Land. Jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote (GIZ 11.2018). Wohnen ist zu einem der größten Probleme im Irak geworden, insbesondere nach den Geschehnissen von 2003 (IOM 13.6.2018). Die Immobilienpreise in irakischen Städten sind in den letzten zehn Jahren stark angestiegen (IEC 24.1.2018). Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem IS stellt der Wohnungsbau eine besonders dringende Priorität dar (Reuters 12.02.2018). Im November 2017 bestätigte der irakische Ministerrat ein neues Programm zur Wohnbaupolitik, das mit der Unterstützung von UN-Habitat ausgearbeitet wurde, um angemessenen Wohnraum für irakische Staatsbürger zu gewährleisten (UNHSP 6.11.2017). Öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche besteht für Rückkehrer nicht (IOM 13.6.2018).

19. Dokumente und Staatsbürgerschaft

Die neuen irakischen Pässe enthalten einen maschinenlesbaren Abschnitt sowie einen 3D-Barcode und gelten als fälschungssicherer im Vergleich zu den Vorgängermodellen. Sie können nur noch persönlich und nicht mehr durch Dritte beantragt werden. Die irakischen Botschaften haben erst vereinzelt begonnen, diese Pässe auszustellen (AA 12.02.2018).

Der irakische Personalausweis (Civil Status ID bzw. CSID oder National Identity Card) heißt auf Arabisch Bitaqa shakhsiya bzw. Bitaqa hawwiya (UKHO 9.2018; vgl. IRBC 25.11.2013). Die CSID- Karte ist gesetzlich vorgeschrieben und wird jedem irakischen Staatsbürger, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Irak, gegen Vorlage einer Geburtsurkunde ausgestellt. Sie gilt als das wichtigste persönliche Dokument und wird für alle Kontakte mit Behörden, dem Gesundheits- und Sozialwesen, Schulen sowie für den Kauf und Verkauf von Wohnungen und Autos verwendet. Die CSID-Karte wird auch für die Beantragung anderer amtlicher Dokumente wie z.B. Reisepässe benötigt (UKHO 9.2018).

Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist im Irak gegen Bezahlung zu beschaffen. Zur Jahresmitte 2014 tauchten vermehrt gefälschte Visaetiketten auf. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf; zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 12.02.2018).

Laut Verfassung kann jede Person, die über zumindest einen irakischen Elternteil verfügt, irakischer Staatsbürger werden (USDOS 20.04.2018). Das irakische Staatsbürgerschaftsrecht ist jedoch widersprüchlich bezüglich der Möglichkeit der Weitergabe der Staatsbürgerschaft durch die Mutter. Einerseits bestehen Widersprüche zwischen der Verfassung und Teilen des Staatsbürgerschaftsgesetzes; außerdem ist das Staatsbürgerschaftsgesetz in sich selbst widersprüchlich. Wie auch die irakische Verfassung, besagt Artikel 3 des Nationalitätsgesetzes, dass sowohl Väter als auch Mütter die irakische Staatsbürgerschaft an ihre Kinder weitergeben können. Laut Artikel 4 des Nationalitätsgesetzes ist dies jedoch im Falle der Mutter, wenn das Kind im Ausland geboren ist, nur unter bestimmten Umständen (Vater unbekannt oder staatenlos) möglich. In der Praxis ist den Quellen zufolge die Weitergabe der irakischen Staatsbürgerschaft durch die Mutter an ihre im Ausland geboren Kinder, deren Väter nicht Iraker und auch nicht staatenlos oder unbekannt sind, nicht gewährleistet (BFA 8.8.2017).

1.4.2. Zur gegenwärtigen Lage in der autonomen Region Kurdistan werden folgende Feststellungen getroffen:

Sicherheits- und Menschenrechtslage:

Informationen zu Menschenrechtsverletzungen, die allgemein Kurden sunnitischen Glaubens betreffen sowie Informationen zur Frage, ob Rückkehrer aus dem Ausland behördlichen Schikanen oder anderen Diskriminierungen ausgesetzt sind, liegen nicht vor. Fälle schlechter Behandlung oder Festnahmen von Rückkehrern sind nicht bekannt.

www.ris.bka.gv.at Seite 37 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Im März 2018 wurden bei Protesten von Staatsangestellten wegen ausstehenden Löhnen dutzende Demonstranten und zumindest zwei Journalisten von kurdischen Sicherheitskräften festgenommen. Das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten bei diesen Protesten im März 2018 wurde in mehreren Medienberichten kritisiert.

Das Höchstkomitee der kurdischen Regionalregierung zur Evaluierung internationaler Berichte überprüfte im Jahr 2017 Vorwürfe von Misshandlungen durch die kurdischen Peschmerga und entlastete diese schließlich in öffentlichen Berichten und Stellungnahmen. Staatliche Organe und Sicherheitskräfte, darunter auch die Peschmerga, konnte damit weitgehend straflos agieren. Im Juli 2017 veröffentlichte die kurdische Journalistengewerkschaft einen Bericht, der 56 Fälle der Verletzung von Pressefreiheit in der ersten Hälfte des Jahres 2017 dokumentierte. Einem Journalisten des der Oppositionspartei Gorran nahestehenden Mediums Kurdish News Network zufolge hätten Sicherheitskräfte ihn an seiner Arbeit gehindert und hätten ihn mehrfach körperlich angegriffen. Ein Mitglied der Sicherheitskräfte der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) habe ihn davon abgehalten, 2016 aus dem Distrikt Makhmur zu berichten und ein Mitarbeiter des kurdischen Innenministeriums habe ihn im April 2017 gewarnt, dass er getötet werden könne, wenn er sich nicht zurückhalten würde.

Amnesty International erwähnt im Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Irak vom Februar 2017 (Berichtszeitraum 2016), dass Journalisten, Aktivisten und Politiker, die der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans kritisch gegenüberstanden, schikaniert und bedroht wurden, und einige von ihnen wurden aus der Provinz Erbil vertrieben. Fälle von getöteten Journalisten und Kritikern oder Gegnern der kurdischen Behörden aus den vergangenen Jahren waren immer noch nicht untersucht worden.

Im Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Irak vom Februar 2017 (Berichtszeitraum 2016) berichtet Amnesty International davon, dass Journalisten und Blogger Opfer von Schlägen, Überwachung, willkürlichen Festnahmen, Todesdrohungen und Verleumdungskampagnen, die sie oder ihre Familienangehörigen diskreditierten. Vor dem Unabhängigkeitsreferendum in der Region Kurdistan wurde die Tendenz, immer stärker in das Recht auf Meinungsfreiheit von Journalisten und Bloggern einzugreifen, besonders deutlich. Von Juni bis September 2017 dokumentierte Amnesty International zwölf Fälle von willkürlichen Festnahmen, Schlägen und Einschüchterungen von Journalisten und Bloggern.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) meldet im Februar 2018, dass Sicherheitskräfte der kurdischen Regionalregierung Teilnehmer an Protesten in Sulaimaniya im Dezember 2017 festgenommen und sie gezwungen hätten, Erklärungen zu unterzeichnen, in denen sie versprochen hätten, nicht die Regierung zu kritisieren. Die Protestteilnehmer seien bis zu acht Tage lang festgehalten worden, bevor sie einem Richter vorgeführt worden seien. Die Sicherheitskräfte hätten zudem drei Journalisten festgenommen, die über die Proteste berichtet hätten.

Die schwedische Einwanderungsbehörde Migrationsverket bemerkt in einer rechtlichen Stellungnahme zur Lage im Irak vom Jänner 2018, dass die Sicherheitslage in den kurdischen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya nicht einem bewaffneten Konflikt oder anderen schweren Auseinandersetzungen gleiche. Die Lage werde jedoch nach dem Referendum und den anschließenden Militäroperationen in den [zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung] umstrittenen Gebieten als fragil eingestuft. Die politischen Spannungen zwischen kurdischen Gruppierungen einerseits und zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung andererseits könnten Auswirkungen auf die Region und ihre Einwohner mit sich bringen. Derzeit werde die Sicherheitslage jedoch als stabil betrachtet. Was die Existenz von staatlichem Schutz angehe, so meint Migrationsverket, dass es ein angemessenes Maß an staatlichem Schutz gebe, obwohl es auch Einschränkungen und Defizite gebe, wie beispielsweise beim Schutz vor Ehrverbrechen.

Die Türkei hat im Jahr 2018 ihre Operationen im Nordirak gegen bewaffnete Mitglieder der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) ausgeweitet. Die PKK ist seit langem im Nordirak an der Grenze zur Türkei, zu Syrien und zum Iran präsent. Beginnend mit März 2018 haben türkische Armeekräfte ihre Präsenz im Nordirak um mindestens 30 Kilometer ausgeweitet und Außenposten unter anderem in den Provinzen Dohuk und Erbil errichtet. BBC berichtete im Jänner 2019, dass mindestens eine Person getötet und zehn weitere verletzt worden wären, als eine wütende Menge ein türkisches Militärlager gestürmt habe. Lokale Bewohner hätten Fahrzeuge und Gebäude in Brand gesetzt, um gegen türkische Luftangriffe in der Region zu protestieren, bei denen Berichten zufolge mehrere Personen getötet worden seien. Laut einem örtlichen Beamten hätten türkische Soldaten auf Demonstranten geschossen und seien dann verschwunden. Es sei noch nicht genau klar, wie es zu dem Todesfall nahe der Stadt Dohuk gekommen sei:

Im März und im Juni 2018 wurden bei türkischen Militäroperationen, die ohne erkennbare militärische Ziele durchgeführt worden seien, fünf Zivilisten getötet. Die Türkei führt weiterhin Luftangriffe auf Stellungen der PKK, etwa in den Qandil-Bergen, aus. Am 14.12.2018 verurteilte das irakische Außenministerium in einer www.ris.bka.gv.at Seite 38 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Stellungnahme die türkischen Luftangriffe auf Stellungen der PKK in den Sindschar-Bergen und in der Provinz Makhmur. Laut der Stellungnahme forderten die Luftangriffe vier zivile Opfer.

Im September 2018 führten iranische Einheiten Angriffe auf die Zentralen der im Irak ansässigen iranischen Oppositionsparteien Kurdistan Democratic Party of Iran und Democratic Party of Iranian Kurdistan ausgeführt. Dabei wurden mindestens 13 Personen getötet und 39 verletzt.

Today, eine Zeitung aus Singapur, berichtet am 01.03.2018 unter Bezugnahme auf Informationen der Nachrichtenagentur Reuters, dass zwei Personen bei der Explosion einer Autobombe in Erbil verletzt worden seien. Es handle sich hierbei um einen relativ seltenen Angriff in der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan. Die Bombe habe vermutlich auf einen Vertreter der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran abgezielt.

Im Juli 2018 erschossen kurdische Sicherheitskräfte in Erbil bewaffnete Männer, die ein Regierungsgebäude gestürmt und Geiseln genommen hatten. Die Bewaffneten drangen Berichten zufolge mit Maschinengewehren und Handgranaten über zwei Eingänge in das Gebäude ein. Bei den vier Stunden dauernden Auseinandersetzungen wurde ein Regierungsmitarbeiter getötet und zwei Polizisten verletzt worden. Einem Sicherheitsbeamten zufolge habe es sich bei den Angreifern um Kämpfer des Islamischen Staates gehandelt. Laut einem IS-Experten seien es jedoch wahrscheinlicher Mitglieder der Ansar al-Islam gewesen, einer vornehmlich kurdischen, salafistischen Organisation mit Verbindungen zu Al-Qaida. Einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge sind solche Angriffe größeren Ausmaßes in Erbil, dem Sitz der kurdischen Regionalregierung, selten.

Gerichte in der teilautonomen Region Kurdistan verhängten weiterhin Todesurteile für terroristische Straftaten. 2016 gab es keine Hinrichtungen. Im Jahr 2017 wurde ein Todesurteil zur Vollstreckung freigegeben, die Vollstreckung ist bisher aber noch nicht erfolgt.

Die folgende Grafik veranschaulicht die Entwicklung der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Gouvernement Dohuk und Anzahl der Opfer, wobei die Darstellung jedwede Art von Gewaltanwendung (insbesondere Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Attacken mit Schusswaffen und außergerichtliche Tötungen) umfasst.

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Die folgende Grafik veranschaulicht die Entwicklung der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Gouvernement Erbil und Anzahl der Opfer, wobei die Darstellung jedwede Art von Gewaltanwendung (insbesondere Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Attacken mit Schusswaffen und außergerichtliche Tötungen) umfasst.

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Quellen:

- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Menschenrechtslage in der Autonomen Region Kurdistan: Lage von Kurden sunnitischen Glaubens; behördliche Schikanen oder andere Diskriminierungen für Rückkehrer aus dem Ausland vom 10.05.2017, vom 29.03.2018 und vom 21.02.2019

- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan-Irak: Kampfhandlungen, Anschläge und Zielgruppen vom 10.05.2017, vom 29.03.2018 und vom 21.02.2019

Wirtschaftliche und soziale Lage:

Dem Mediennetzwerk Rudaw zufolge stiegen die Wohnungspreise in der Autonomen Region Kurdistan im Jahr 2018 um 20 Prozent und die Mietpreise um 15 Prozent an. In Zukunft werden weiterhin steigende Immobilienpreis erwartet. Die Nachfrage nach Mietwohnungen stiegt im zweiten Halbjahr 2018 im Vergleich zum ersten Halbjahr um 45 Prozent an. Der Leiter eines Immobilienunternehmens teilte Rudaw mit, dass im Mai 2018 die Miete für ein Haus im Italian Village (ein neues Wohngebiet in Erbil) 500 US-Dollar betragen habe, nun liege sie bei 650 US-Dollar. Aufgrund der hohen Nachfrage seien derzeit keine Häuser im Italian Village verfügbar. Eine große Anzahl von Personen aus dem Zentral- und Südirak komme derzeit nach Kurdistan, darunter insbesondere Personen aus Mossul und Basra. Ein weiterer Grund für die hohe Nachfrage sei die Rückkehr ausländischer Firmen, von denen viele die ARK zu Beginn des Konflikts mit dem Islamischen Staat im Jahr 2014 verlassen hätten. www.ris.bka.gv.at Seite 39 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Die Internationale Organisation für Migration veröffentlicht im Juli 2018 den Ergebnisbericht einer Haushaltsstudie. Für die Studie wurden von April 2017 bis Mai 2018 13.200 Haushalte in den drei Provinzen Erbil, Sulaimaniyya und Dohuk zur Wohnsituation und Lebensgrundlagen befragt. Nahezu alle befragten Familien hätten in festen Behausungen gewohnt, bei 89 Prozent der Befragten habe eine Familie in einem Haus gewohnt, 9 Prozent in einem Haus mit mehreren Familien und ein Prozent in Wohnungen. Lediglich 0,1 Prozent der Haushalte habe in zeitlich begrenzten Unterkünften wie Bungalows oder Zelten, sowie anderen kritischen Unterkünften wie unfertigen Bauten, religiösen Einrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften gewohnt. 75 Prozent der Familien, die in der autonomen Region Kurdistan leben würden, würden das Haus besitzen, in dem sie leben. Die Quote steige in ländlichen Gegenden auf bis zu 90 Prozent. In Städten hätten 18,5 Prozent der Befragten in Mietverhältnissen gelebt. Nur ein sehr geringer Teil der Befragten (8 Prozent) habe in Unterkünften gewohnt, die von Freunden oder Verwandten zur Verfügung gestellt worden seien und lediglich ein Prozent der Befragten habe in Gemeinschaftsunterkünften gewohnt. Verwandte und Freunde seien tendenziell in urbanen Gebieten (9 Prozent) eher unterstützend tätig als in ländlichen Gebieten (3 Prozent), und generell habe es diese Art der Unterstützung eher in der Provinz Sulaimaniyya gegeben.

Die Höhe der Miete hängt IOM zufolge vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger. Im Jahr 2018 wurde eine durchschnittliche Miete in der autonomen Region Kurdistan in Städten von 200 - 600 USD für eine Zweizimmerwohnung ermittelt. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage zum Mieten stieg, nahm die Nachfrage zum Kaufen ab. Die durchschnittlichen Betriebskosten pro Monat betragen für Gas 15,000 Irakische Dinar (IQD), sohin ca. 11 Euro, für Wasser 10 - 25,000 IQD, sohin etwa 7,4 - 18,5 Euro, für öffentliche Elektrizität 30 - 40,000 IQD, sohin etwa 22,2 - 29,6 Euro sowie für private oder nachbarschaftliche Generatoren 40,000 - 60,000 IQD, sohin etwa 29,6 - 44,3 Euro. Nach der Befreiung der vom Islamischen Staat kontrollierten Gebiete würden die ersten Binnenflüchtlinge wieder zu ihren Heimatsorten zurückkehren. Dies führe zu einer leichten Senkung der Mietpreise. Generell sei es vor allem für alleinstehende Männer schwierig, Häuser zu mieten. Im Hinblick auf (Einzel-)Wohnungen sind die Abläufe unkomplizierter.

Die von einem in Serbien ansässigen Softwareentwickler betriebene Website Numbeo gibt mithilfe von nutzergenerierten Daten die Durchschnittspreise für Konsumgüter, Wohnkosten und weitere Lebenskosten in ausgewählten Städten an. Nutzer, die über Informationen zum Preisniveau verschiedener Güter in einer bestimmten Stadt verfügen, können diese auf Numbeo eintragen. Aus den verschiedenen Preisangaben der Nutzer werden dann Durchschnittspreise für die einzelnen Güter angegeben. Solche Preisprofile existieren auch für die in der autonomen Region Kurdistan gelegenen Städte Erbil und Sulaimaniyya.

Die Angaben zu Erbil mit dem Stand Mai 2019 berufen auf 683 Eintragungen von 54 Nutzern der letzten 18 Monate. Die Monatsmiete einer Einzimmerwohnung im Zentrum von Erbil wird mit dem Durchschnittspreis von 366 Euro angegeben (Preisspektrum: 268-447 Euro), für die Miete einer Einzimmerwohnung außerhalb des Zentrums wurde ein Durchschnittspreis von 256 Euro (Preisspektrum: 178-313 Euro) errechnet. Die Monatsmiete einer Dreizimmerwohnung im Zentrum von Erbil wird mit dem Durchschnittspreis von 569 Euro angegeben (Preisspektrum: 447-804 Euro), für die Miete einer Dreizimmerwohnung außerhalb des Zentrums wurde ein Durchschnittspreis von 416 Euro (Preisspektrum: 357- 529 Euro) errechnet.

Zum Preisprofil für die Stadt Sulaimaniya mit dem Stand Mai 2019 haben nach Angaben von Numbeo 44 Nutzer in den vorigen 18 Monaten Daten beigetragen. Für die Monatsmiete einer Einzimmerwohnung im Zentrum von Sulaimaniya wird ein Durchschnittspreis von 287 Euro angegeben (Preisspektrum: 168-400 Euro), für die Miete einer Einzimmerwohnung außerhalb des Zentrums wurde ein Durchschnittspreis von 199 Euro (Preisspektrum: 130-300 Euro) errechnet. Für die Monatsmiete einer Dreizimmerwohnung im Zentrum von Sulaimaniya wird ein Durchschnittspreis von 527 Euro angegeben (Preisspektrum: 300-840 Euro), für die Miete einer Dreizimmerwohnung außerhalb des Zentrums wurde ein Durchschnittspreis von 368 Euro (Preisspektrum: 250- 600 Euro) errechnet.

Das in der Autonomen Region Kurdistan ansässige kurdische Mediennetzwerk Rudaw berichtet im September 2016, dass mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region Kurdistan unter der Armutsgrenze leben würde. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Bewohner der Region würden von weniger als 87 US-Dollar [etwa 80 Euro] pro Monat leben, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden seien. Die Arbeitslosigkeit habe sich seit 2010 beinah verdreifacht und sei von 4,8 auf 13,3 Prozent angestiegen. Laut Angaben des Ministeriums für Arbeit und soziale Angelegenheiten sei die reale Arbeitslosigkeit jedoch wahrscheinlich wesentlich größer. Laut Angaben des Statistikamtes in Erbil sei der dramatische Anstieg der Armut und der Arbeitslosigkeit zum Teil durch den Zustrom von 1,8 Millionen

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Flüchtlingen in die Region Kurdistan sowie durch die Finanzkrise bedingt, von der die Wirtschaft der Region seit dem Fall der Ölpreise und dem Krieg gegen die Gruppe Islamischer Staat (IS) bestimmt sei.

IOM zufolge beträgt das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak Einkommen im Irak derzeit je nach Position und Ausbildung zwischen 200 und 2500 USD. Die (nationale) Arbeitslosenquote beträgt derzeit 14.8%. Derzeit wird auf nationaler Ebene vom Staat keine Arbeitslosenhilfe ausgezahlt.

Daten einer Studie von IOM vom Juli 2018 zufolge beträgt die Arbeitslosenrate in der Provinz Dohuk 13,8 Prozent, in der Provinz Sulaimaniyya bei 9,4 und in der Provinz Erbil bei 9,2 Prozent. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit unter Personen mit höherem Bildungsabschluss größer gewesen als bei Personen ohne Abschluss (Personen ohne Abschluss: 6,1 Prozent, Personen mit Volksschul- oder Mittelschulabschluss: 8,6 Prozent und Personen mit Sekundarabschluss oder Hochschulabschluss: 15 Prozent). 20 Prozent der jüngeren Bevölkerung zwischen 18 und 34 Jahren in der autonomen Region Kurdistan sind derzeit arbeitslos, Daten für einzelne Gouvernements liegen dazu nicht vor. 87 Prozent der Haushalte in Kurdistan verdienen weniger als 850 USD.

Arbeitsagenturen werden durch das Ministerium für Arbeit und Soziales in den meisten Städten zu Verfügung gestellt. Diese können beim Generalsekretariat der Arbeits- und Sozialversicherung eingesehen werden. Rückkehrer können sich an die nächstgelegene Anlaufstelle des Ministeriums für Arbeit und Soziales wenden um sich zu registrieren und über mögliche Hilfe zu erkundigen. Dies gilt sowohl für Arbeitsmöglichkeiten als auch für Weiterbildungsmaßnahmen Stellenangebote können unter anderem auf darauf spezialisierten Websites im Internet gefunden werden (etwa http://erbilmanpower.com). IOM zufolge sind alle irakischen Staatsbürger automatisch im Sozialsystem registriert. Die autonome Region Kurdistan behandelt keinen Staatsbürger unterschiedlich aufgrund von Religion oder Ethnie. Sämtlichen Staatsangehörigen wird, ebenso wie Zurückkehrenden, Zugang zu allen Sozialleistungen gewährt.

Ein im März 2016 veröffentlichter Bericht von Oxfam International, einem internationalen Verbund verschiedener Hilfs- und Entwicklungsorganisationen enthält Informationen zum im ganzen Irak geltenden Lebensmittelverteilungssystem PDS (Public Distribution System). Das PDS sei ein Subventionssystem der Regierung, über das seit 1991 lokal produzierte Nahrungsmittel sowie Importe verteilt würden. Es werde vom Handelsministerium verwaltet und stelle dem Großteil der irakischen Bevölkerung über Lebensmittelkarten subventionierte Nahrungsmittel zur Verfügung. Dabei schließe das PDS nicht nur die ärmsten Haushalte ein, sondern jeder, der im Irak ansässig sei, habe ein Anrecht auf monatliche Rationen. Theoretisch sehe die Lebensmittelkarte monatliche Nahrungsmittelrationen pro Person von 9kg Weizen, 3kg Reis, 2kg Zucker, einem Liter pflanzlichem Öl und drei Packungen (450g) Milchpulver vor. Das PDS, so Oxfam, sei seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet sei. In den letzten Jahren habe die Regierung versucht das PDS zu verbessern, indem sie Staatsbedienstete mit einem monatlichen Einkommen von mehr als 1.286 US-Dollar vom Programm ausgeschlossen habe. Versuche, das PDS ab 2012-2013 mit einem Geldtransfer-System zu ersetzen, hätten bis jetzt aufgrund von mangelndem politischen Willen und großflächigen öffentlichen Protesten keinen Erfolg gezeigt. Die Weltbank arbeite mit der irakischen Regierung daran, das PDS in ein auf Vulnerabilität basierendes Sozialsystem umzuwandeln. Derzeit gebe es große Verzögerungen bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Im Jänner 2016 seien Reis mit einer Verzögerung von drei Monaten und Öl mit einer Verzögerung von sieben Monaten ausgegeben worden. Zucker und Milchpulver seien seit mindestens sechs Monaten nicht mehr verteilt worden. Theoretisch habe ein Haushalt, der seine PDS-Rationen seit mindestens drei Monaten nicht mehr erhalten habe, ein Anrecht darauf, mit Bargeld kompensiert zu werden. Allein in der Provinz Dohuk gebe es 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme (WFP) unterstütze das PDS in der Region Kurdistan seit 1996. Derzeit würden Hilfsorganisationen daran arbeiten, die Versorgungslücken des PDS zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Dabei wolle man auch versuchen, die gegenwärtige humanitäre Hilfe und das regierungsgesteuerte System zu vernetzen. Derzeit würden PDS- Lebensmittelkörbe nicht in regelmäßigen Abständen verteilt, noch seien diese immer komplett. Trotz der Verzögerungen bei der Ausgabe einiger Lebensmittelkörbe funktioniere das PDS-System jedoch relativ gut in Dohuk und Zakho.

Das australische Außen- und Handelsministerium (DFAT) veröffentlicht mit dem Zweck der Verwendung in Verfahren zum internationalen Schutz im Juni 2017 einen Länderbericht zum Irak. Hierin wird berichtet, dass DFAT deutliche Beweise dafür habe, dass Iraker aus Australien zurückkehren und im Irak unter anderem Geschäfte eröffnen, Arbeit aufnehmen oder eine frühere Arbeit wieder aufnehmen würden. Die Praxis, um Asyl im Ausland anzusuchen und dann, wenn es die Umstände erlauben würden, in den Irak zurückzukehren, sei unter Irakern akzeptiert. Eine große Anzahl von Kurden, darunter insbesondere alleinstehende Männer, kehre freiwillig vor allem aus Europa in die Region Kurdistan zurück. Wie auch in anderen Regionen des Irak seien hier familiäre Verbindungen wichtig und eine erneute Integration falle denjenigen leichter (insbesondere im

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Hinblick auf Unterkunft und Arbeit), die weiterhin über Verbindungen in die Region Kurdistan verfügen würden.

REACH, eine Initiative der humanitären NGOs IMPACT und ACTED sowie von UNOSAT, veröffentlicht im Juni 2017 einen Bericht zur Migration von Irakern nach Europa sowie deren Rückkehr in den Irak. Bei Gesprächen mit Gemeinschaftsführern (unter anderem in Sulaimaniya) sei erwähnt worden, dass Rückkehrer wieder in ihre Gemeinschaften aufgenommen würden und dass die Gemeinschaften keine Schwierigkeiten hätten, Rückkehrer zu akzeptieren. Manchen Gemeinschaftsführern zufolge sei es für die Rückkehrer selbst schwierig, da sie bei ihrer Migration nicht erfolgreich gewesen seien und es nicht vermocht hätten, ein besseres Leben im Ausland aufzubauen. Die meisten der befragten Gemeinschaftsführer hätten auch angemerkt, dass es für Rückkehrer keine Möglichkeiten bei der Rückkehr gebe. Sie hätten in Europa keine neuen Fertigkeiten erlernt und dadurch, dass sie Zeit in Europa verschwendet hätten und es nur wenig Beschäftigungsmöglichkeiten gebe, gehe es ihnen oft schlechter als vor ihrer Migration. Nach der Rückkehr würden diese Personen oft in notdürftigen Unterkünften leben und seien Berichten zufolge stark abhängig von Unterstützungsleistungen der Familie oder der Gemeinschaft.

Für den Bericht der REACH-Initiative vom Juni 2017 zur Rückkehr in den Irak wurden zwischen April und Juni 2017 qualitative Daten an besonders von Rückkehr betroffenen Orten in Kurdistan sowie in Bagdad erhoben. Insgesamt wurden 65 Rückkehrer zu den Motiven ihrer Rückkehr sowie zur Lage nach ihrer Rückkehr befragt. In der Region Kurdistan hätten neun von 34 befragten Personen angegeben, dass der Mangel einer passenden Unterkunft zu ihren Hauptproblemen zähle. Rückkehrer, die Probleme hinsichtlich einer Unterkunft angegeben hätten, würden normalerweise Wohnraum mieten und seien oft Binnenvertriebene und hätten daher Probleme, die Miete zu bezahlen. In der Provinz Sulaimaniya würden die meisten Binnenvertriebenen in Mietunterkünften leben und seien mit hohen Mieten konfrontiert.

25 der 34 in der Region Kurdistan befragten Rückkehrer hätten angegeben, dass sie keine Arbeit hätten oder es für sie schwer sei, eine passende Arbeit zu finden. Insbesondere Binnenflüchtlinge, die in die Autonome Region Kurdistan anstatt an ihren ursprünglichen Wohnort zurückgekehrt seien, hätten Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche gehabt. Die 23 Rückkehrer, die angegeben hätten, eine Arbeit gefunden zu haben, hätten ebenfalls berichtet, dass sie mit ihrem derzeitigen Job nicht zufrieden seien und darauf hoffen würden, eine Arbeit zu finden, die besser bezahlt und besser auf ihre Ausbildung abgestimmt sei. Fünf Rückkehrer hätten angegeben, in Branchen zu arbeiten, die nichts mit ihrer bisherigen Ausbildung zu tun hätten. Sie würden demnach als Taxifahrer und in Geschäften arbeiten, wohingegen sie früher im Businessbereich gearbeitet oder studiert hätten. Auch wenn Rückkehrer durch die Familie oder externe Hilfsprogramme Unterstützung erhalten würden, dann sei diese den Befragten zufolge nicht ausreichend gewesen, um ihr Leben wieder aufzubauen. Die Mehrheit der befragten Rückkehrer habe berichtet, dass sie sich hinsichtlich Unterstützung eher auf ihre Familien als auf die lokale Gemeinschaft oder Organisationen verlassen könnten. Die Gemeinschaften hätten mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen und Rückkehrer würden bisweilen nicht als Gruppe wahrgenommen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf habe. Iraker, die über offizielle Rückkehrerprogramme zurückgekehrt seien, hätten Unterstützungsleistungen durch Reintegrationsprogramme von IOM oder ERIN (European Reintegration Network) erhalten.

Vier Rückkehrer, die eine solche Unterstützung erhalten hätten, hätten angegeben, dass diese finanzielle Hilfe nicht nachhaltig gewesen sei, da sie zwar anfallende Kosten decke, aber keine Investitionen für neue Projekte ermögliche. Ein Rückkehrer habe mit offizieller Unterstützung ein Geschäft eröffnen können, ein anderer habe sein Geschäft aufgrund zu niedriger Einnahmen nicht aufrechterhalten können. Einige Rückkehrer hätten berichtet, dass sie das Gefühl hätten, Binnenvertriebene würden mehr Unterstützung erhalten als Rückkehrer aus Europa. Das Bundesministerium für Inneres nimmt seit Juni 2016 als offizielle Partnerorganisation am ‚European Reintegration Network', kurz ERIN-Programm teil und bietet Reintegrationsunterstützung in unterschiedlichen Herkunftsländern, darunter der Autonomen Region Kurdistan. Im Rahmen des ERIN Programms erhält jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin eine Reintegrationsleistung in der Höhe von 3.500 Euro, wobei 500 Euro als Bargeld und 3.000 Euro als Sachleistung vom Service Provider im Herkunftsland ausgegeben werden. Bei den Service Providern handelt es sich entweder um eine im Herkunftsland angesiedelte Internationale Organisation oder eine lokale NGO, die den Rückkehrer und die Rückkehrerin bei ihrer Wiedereingliederung in der Heimat unterstützt. Leistungsumfang (pro Haushalt erhält eine Person Reintegrationsunterstützung):

* Abholung/Empfang und Assistenz am Ankunftsort (z.B. Flughafen)

* Kurzfristige Unterkunft am Ankunftsort

* Beratung und Unterstützung bei der Existenzgründung im Herkunftsland

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* Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheiten

* Unterstützung bei Wohnungssuche / Wohnraumbeschaffung (ggf. Mietzuschuss)

* Unterstützung bei der Gründung eines Kleinunternehmens (Erstellung eines Businessplans, etc.)

* Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen

* Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen

* Sonstige individuelle Hilfsangebote

Während die Geldleistung grundsätzlich dazu gedacht ist die unmittelbaren Bedürfnisse nach der Rückkehr zu decken, dient die Sachleistung insbesondere als Investition zur Schaffung einer Existenzgrundlage und trägt somit zu einer nachhaltigen Rückkehr bei.

In einer Grundsatzerklärung des Außenamtes der Kurdischen Regionalregierung zu internationalen Beziehungen vom Mai 2017 wird erwähnt, dass die Regierung der Region Kurdistan die Kurden, die im Ausland leben und zu einer Rückkehr bereit seien, zu dieser Rückkehr ermuntern würde, um sich am Wiederaufbau der Region zu beteiligen. Es sei bekannt, dass viele der Kurden, die nach Europa gegangen seien, alles verloren hätten, um ein neues Leben zu beginnen. Es handle sich nach Auffassung der Kurdischen Regionalregierung um eine humanitäre Angelegenheit, weshalb sie die Aufnahmeländer darum bitte, das Leiden der Kurden in Betracht zu ziehen, bevor man zu politische Richtlinien übergehe, die sich auf das Leben von Asylsuchenden auswirken könnten. Die Bewohner der Region Kurdistan seien jedoch unabhängig der Interessen der Länder, die Kurden aufgenommen hätten und deren Entscheidungen im Hinblick auf Einwanderungsgesetze, dazu bereit, alles zu geben, um Personen, deren Rückkehr in die Region Kurdistan erzwungen worden sei, zu helfen.

Der Bericht von DIS und Landinfo vom November 2018 zur im April 2018 unternommenen Fact-Finding- Mission nach Erbil und Suleimaniya gibt die Aussage kurdischer Behörden wieder, laut denen abgewiesene Asylwerber bei der Rückkehr in den Irak Schwierigkeiten haben würden, wenn sie kein unterstützendes Netzwerk hätten. Laut IOM ist bei Zurückkehrenden die Unterstützung der Gemeinschaft auf drei Ebenen wichtig. Zum einen sei es einfacher, sich wieder zu integrieren, wenn man gute Verbindungen zu seiner Familie habe. Für Zurückkehrende ohne Familienanschluss sei die Reintegration schwierig, da die Lebenshaltungskosten hoch seien. Zweitens sei die Kapazität der Gemeinschaft zur Aufnahme des Zurückkehrenden ein wichtiges Element bei der Reintegration. Drittens sei Infrastruktur ein wichtiger Faktor, da es oft in ländlichen Gebieten kaum Arbeitsmöglichkeiten gebe. Laut IOM würden die meisten Zurückkehrenden in die ländlichen Gebiete von Sulaimaniyya, Halabdscha und Rania zurückkehren.

Für die autonome Region Kurdistan wird berichtet, dass seit 2016 Sparmaßnahmen umgesetzt würden, um die Finanzkrise in der Region zu überwinden. Gehälter von Staatsbediensteten seien um die Hälfte gekürzt und bereits seit Monaten nicht ausgezahlt worden. Im März 2018 protestierten Lehrende und Bedienstete des Gesundheitsministeriums in Erbil, Sulaimaniyya und Dohuk und forderten ein Ende der Sparmaßnahmen.

Quellen:

- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen vom 10.05.2017, vom 29.03.2018 und vom 21.02.2019

1.4.3. Zur Lage von Kindern in der autonomen Region Kurdistan werden folgende Feststellungen getroffen:

Zugang zu Bildung:

Die Bevölkerungszahl des Irak lag Mitte Juli 2016 bei geschätzt 38 Millionen. Die Bevölkerung ist sehr jung, mit bis zu 14 Millionen Menschen (41 Prozent der Bevölkerung) im Alter bis zu 14 Jahren. Ca. 80 Prozent aller Iraker über 15 Jahre sind des Lesens und Schreibens mächtig. Jedoch ist bei Männern (86 Prozent) die Alphabetisierungsrate höher als bei Frauen (74 Prozent). Die Einschulungsrate im Jahr 2007 lag einem Bericht von UNSECO zufolge im gesamten Irak in der Volksschule für Mädchen bei circa 87 Prozent und für Buben bei 98 Prozent.

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Das Bildungssystem im Irak ist zentralisiert und wird vom Bildungsministerium gesteuert. Das Ministerium für Höhere Bildung und wissenschaftliche Forschung ist für die Hochschulbildung verantwortlich. Trotz der zentralstaatlichen Organisation gibt es Unterschiede im Lehrplan zwischen der autonomen Region Kurdistan und dem Rest des Landes. Darüber hinaus bestehen auch innerhalb der drei kurdischen Provinzen Erbil, Dohuk und Sulaimaniyya Unterschiede im Curriculum.

Alle Ausbildungsstufen, von der Volksschule bis zur Hochschule, sind kostenlos. Die sechsjährige Volksschule ist verpflichtend. Nach Abschluss der Volksschule wird ein Volksschulzertifikat (schahada al-ibtida'iya) ausgestellt. 12 bis 15-jährige Schülerinnen und Schüler besuchen anschließend eine dreijährige Mittelschule (al- madrasa al-mutawassita), die mit einer zentralen und landesweit einheitlichen Prüfung abgeschlossen wird. Nach Abschluss der Mittelschule können die Schülerinnen und Schüler ihren Bildungsweg fortsetzen, indem sie sich entweder für eine allgemeine Sekundarschule (al-i'dadiya) oder eine berufliche Ausbildung in verschiedenen Bereichen entscheiden. In der autonomen Region Kurdistan umfasst die Grundschule neun Jahre und wird mit einer nationalen Prüfung abgeschlossen, mit der auch der mittlere Schulabschluss erreicht wird.

Die allgemeine Sekundarschule, auf die die erfolgreichsten Schülerinnen und Schüler wechseln, dauert ebenfalls drei Jahre und wird mit einem Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife abgeschlossen. Die Region Kurdistan vergibt ein eigenes Hochschulreifezeugnis. Nach dem ersten Jahr der allgemeinen Sekundarschule besteht die Wahl zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem literarischen Zweig. Die Schülerinnen und Schüler, die den literarischen Zweig wählen, müssen Abschlussprüfungen in den Fächern Arabisch, Englisch, Mathematik, Geschichte, Geographie und Wirtschaft absolvieren, während die Schülerinnen des naturwissenschaftlichen Zweigs in den Fächern Arabisch, Englisch, Mathematik, Physik, Chemie und Biologie geprüft werden.

Falls die Ergebnisse der Mittelschulabschlussprüfung nicht für eine Aufnahme auf eine allgemeine Sekundarschule reichen, besteht die Möglichkeit, ein dreijähriges berufsbildendes Programm in den Bereichen Technologie, Handelswirtschaft oder Landwirtschaft an einer berufsbildenden Schule (i'dadiya mihniya) zu durchlaufen. Diese Ausbildung wird ebenfalls mit einer zentralen Prüfung abgeschlossen (Fachmatura), deren Abschluss einen Einstieg in den Arbeitsmarkt ermöglicht. Daher sind in dieser Schule die besuchten Kurse ungefähr zur Hälfte theoretischer und zur Hälfte praktischer Natur. Weitere spezialisierte berufsbildende Schulen bilden beispielsweise zukünftige Krankenpfleger, Sozialarbeiter oder Polizisten aus. Den besten zehn Prozent der Schülerinnen berufsbildender Schulen bietet sich nach erfolgreichem Abschluss die Möglichkeit, sich für einen Studienplatz zu bewerben. Zahlen aus dem Schuljahr 2007/2008 zeigen, dass circa 68.000 Schülerinnen und Schüler an 330 berufsbildenden Schulen und 2 Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Sekundarschulen angemeldet waren.

Laut Angaben eines Lehrers aus dem Jahr 2013 ist das allgemeine Unterrichtsniveau schlecht, und es kommt verbreitet vor, dass Bestechung sowie Nepotismus an den Schulen eingesetzt werden, damit die Schülerinnen und Schüler ihre Prüfungen bestehen. Darüber hinaus ist der Unterricht noch immer auf traditionellen, rigiden Lehrmethoden aufgebaut, bei denen der Unterrichtsinhalt in einer monotonen und nicht sehr ansprechenden Weise vermittelt wird.

96 Prozent der Kinder in der autonomen Region Kurdistan besuchen eine Grundschule, 67 Prozent der Kinder besuchen in der Folge die erste Sekundarstufe. Einem Vertreter von UNICEF zufolge sind wirtschaftliche Notlagen, unzureichende Schulen in ländlichen Gebieten und fehlende Verkehrsanbindungen Faktoren, die den Zugang zu Bildung einschränken.

Derzeit gibt es in der Region Kurdistan 6.799 Schulen und 1.000.706 Schüler. 25 Prozent der Schulgebäude sind ungeeignet, 50 Prozent sind renovierungsbedürftig. Sparmaßnahmen bedrohen nach Angaben des Kurdischen Lehrerverbandes die Existenzgrundlage von 126 Lehrern. Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst führten dazu, dass sich Lehrer freistellen ließen, um einer anderen Arbeit nachzugehen. Der Mangel an Gebäuden und Lehrkräften führt dazu, dass eine große Anzahl der Schulen in zwei Schichten betrieben wird, einige sogar in drei Schichten. Die hohe Anzahl an Binnenvertriebenen stellt eine weitere Herausforderung für das Schulsystem dar.

2018 führte die irakische zentrale Statistikorganisation gemeinsam mit dem kurdischen regionalen Statistikbüro und dem irakischen Gesundheitsministerium eine Umfrage zur Situation von Kindern im Irak durch. Die Studie wurde finanziell von UNICEF unterstützt. In einer Grafik wird dargestellt, wie viele Kinder in den jeweiligen Provinzen inadäquat beaufsichtigt werden (Kinder unter 5 Jahren, die entweder alleine gelassen wurden oder von einem anderen Kind unter 10 Jahren betreut wurden, mindestens eine Stunde lang und mindestens einmal in der letzten Woche). In der zweiten unten angeführten Grafik werden die Schulbesuchs- und Schulabschlussraten in den kurdischen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaimaniyya dargestellt.

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In einem Artikel vom 15.10.2018 heißt es, dass im Jahr 2017 in der irakischen Region Kurdistan allein in der Stadt Sulaimaniya mehr als zehntausend Schüler die Schule abbrachen, vor allem wegen wirtschaftlicher Probleme. Von dieser Zahl sind siebentausend männlich und dreitausend weiblich. Unter ihnen machen die Gymnasiasten den Löwenanteil aus

Zugang zu Grundnahrungsmittel und Trinkwasser:

Das als KDP-nahe geltende Medienunternehmen Kurdistan 24 berichtet am 18.12.2018, dass die Region Kurdistan erhebliche Fortschritte bei der Verbesserung des Zugangs zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen gemacht habe. Der Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen ist mit einem Wert von 98 Prozent sehr hoch. Es bleibt aber die Herausforderung, weiterhin sicherzustellen, dass alle Familien Zugang zu sauberem Trinkwasser vor Ort haben.

2018 führte die irakische zentrale Statistikorganisation gemeinsam mit dem kurdischen regionalen Statistikbüro und dem irakischen Gesundheitsministerium eine Umfrage zur Situation von Kindern im Irak, unter anderem in Kurdistan, durch. Die Studie wurde finanziell von UNICEF unterstützt. Die Umfrageergebnisse zeigen, dass 2,9% der Kinder unter 5 Jahren im Irak leicht untergewichtig sind. 2,5 Prozent der Kinder leiden unter mittlerem oder starken Untergewicht. 9,9 Prozent der Kinder sind in ihrem Wachstum zurückgebliebenen. Nach den allgemeinen Merkmalen sind die Indikatoren für Unterernährung in der Regel in der Region Kurdistan im Vergleich zu Mittel- und Südirak geringer, aber die Unterschiede sind nicht groß.

Hinweise auf Versorgungsengpässe bzw. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen (Windeln, Babynahrung, Obst, Milch, medizinische Produkte) liegen nicht vor.

Soziale Lage:

Die Kinderarmut im Irak ist in ländlichen Gebieten ist doppelt so hoch wie in städtischen Gebieten. 34% der Kinder am Land sind arm, gegenüber 17% der Kinder, die in der Stadt leben. Es gibt auch große geografische Unterschiede zwischen den Gouvernements. Der Anteil der in Armut lebenden Kinder in der Region Kurdistan beträgt weniger als 6%. In den südlichen Gouvernements des Irak Muthanna, Qadissiya, Missan und Thi-Qar sind es demgegenüber nahezu 50%.

UNICEF und die irakische Regierung halten in einem gemeinsamen Bericht zu Kinderarmut im Irak vom Januar 2017 fest, dass für Einwohner der autonomen Region Kurdistan im Vergleich zu anderen Teilen des Landes generell die Wahrscheinlichkeit am geringsten ist, in den Armutsstatus zu fallen. Einzige Ausnahme ist der Mangel an Wasser, Wohnen und Information, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, in die "armutsnahe" Kategorie zu fallen, die immer noch die am wenigsten ernste Kategorie unter den Armutsgruppen ist.

Zugang zu medizinischer Versorgung:

Die Kindersterblichkeit in der autonomen Region Kurdistan deutlich niedriger ist als in anderen Gebieten im Irak. Die Kindersterblichkeitsrate (IMR) beträgt 23 Todesfälle pro 1 000 Geburten. Die Gesundheitsfürsorge für Mütter und Kinder wird von PHC-Zentren (Primary Health Care) bereitgestellt. Im Jahr 2015 hatten 90% aller werdenden Mütter Zugang zu einer pränatalen Gesundheitsfürsorge. In Erbil war dies für 100% der Frauen zugänglich. In ärmeren Bezirken wie Chamchamal, Kalar und im Bezirk Khanaqin in Diyala war der Zugang zur Schwangerschaftsvorsorge im Allgemeinen geringer. Im Vergleich zur pränatalen Versorgung war der Zugang zur postnatalen Versorgung geringer (73% der stillenden Frauen). Obwohl Leistungen zur Verfügung standen, hatten Frauen in der Regel aus persönlichen Gründen, mangelndem Bewusstsein für die Existenz dieser Leistungen oder der Bedeutung des Zugangs zu diesen Leistungen keinen Zugang zur postnatalen Versorgung.

Die Impfraten für Kinderlähmung und Masern bei Kindern im Alter von 0-59 Monaten variieren je nach Wohnort erheblich, mit der höchsten Rate in Dohuk und Ninawa (fast 92 %) und der niedrigsten Rate im Gouvernement Erbil (74 %).

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In Dohuk wird das pädiatrische Krankenhaus "Heevi" betrieben. Heevi ist das einzige spezialisierte Kinderkrankenhaus im Nordirak. Die Unterstützung der WHO war entscheidend für ihre Mission, den am stärksten gefährdeten Familien im Irak eine qualitativ hochwertige tertiäre Versorgung zu bieten. In Zusammenarbeit mit der NGO Italian Association for Solidarity among People (AISPO) und des Gesundheitsdirektorats Dohuk wurde das Krankenhaus renoviert und mit modernsten Maschinen ausgestattet. Es wurde eine pädiatrische Intensivstation geschaffen und eine semi-intensive neonatale Einheit (NICU) erweitert und ausgestattet. Das Personal wurde nach internationalen Standards geschult.

In Erbil ist das staatlich geführte Helena Health Center für Kinder mit Behinderungen und Beeinträchtigungen eingerichtet. Laut dem Leiter des Helena Health Centers konnte bereits vor den Krisen der Bedarf nicht gedeckt werden und zum Berichtszeitpunkt fehlt es an Versorgungsmaterialien und die Kapazitäten sind durch Binnenvertriebene und Flüchtlinge überlastet.

Lage von Kindern in Bezug auf häusliche Gewalt, Menschenhandel, Bettelei, Drogenkriminalität und sexuelle Ausbeutung:

In einem Bericht der OECD zu sozialen Institutionen und Gender-Index von 2019 wird berichtet, dass die autonome Region Kurdistan 2011 ein Gesetz gegen häusliche Gewalt verabschiedet hat, welches unter anderem Gewalt gegen Frauen innerhalb der Familie, Zwangsheirat, weibliche Beschneidung und das Schlagen von Kindern kriminalisiert. Häusliche Gewalt, darunter physischer und psychologischer Missbrauch und Androhung von Gewalt, ist in der autonomen Region Kurdistan grundsätzlich gesetzlich verboten. Die kurdische Regionalregierung setzte die Bestimmungen des Gesetzes um, aber lokale NGOs berichteten, dass die Programme bei der Bekämpfung von Kindesmissbrauch nicht effektiv waren. Die Ministerien für Arbeit und Soziales, Bildung sowie Kultur und Jugend Kurdistans betrieben eine kostenlose Hotline, um Verstöße gegen die Kinderrechte zu melden oder Beratung einzuholen.

In der Region Kurdistan beträgt das gesetzliche Mindestalter für die Ehe 18 Jahre, das Gesetz erlaubt es jedoch einem Richter, Kindern ab 16 Jahren die Heirat unter den gleichen Bedingungen wie im Rest des Landes zu erlauben. Das kurdische Gesetz kriminalisiert Zwangsverheiratung, annulliert aber Zwangsverheiratungen, die vollzogen wurden, nicht automatisch. Nach Angaben des Hohen Rates der kurdischen Regionalregierung für Frauenangelegenheiten gibt es bei Flüchtlingen und Binnenvertriebenen höhere Raten von Kinderheirat und Polygamie als bei Bewohnern der Kurdenregion. 2018 führte die irakische zentrale Statistikorganisation gemeinsam mit dem kurdischen regionalen Statistikbüro und dem irakischen Gesundheitsministerium eine Umfrage zur Situation von Kindern im Irak, unter anderem in Kurdistan, durch. Die Studie wurde finanziell von UNICEF unterstützt. Die untenstehende Grafik zeigt Daten zu Kinderehen in den jeweiligen Gouvernements des Irak. Es handelt sich um den Prozentsatz an Frauen zwischen 20 und 49 Jahren, die vor ihrem 18. Geburtstag verlobt oder verheiratet waren.

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Das Gesetz verbietet die kommerzielle sexuelle Ausbeutung, den Verkauf, das Angebot oder die Beschaffung von Prostitution sowie Praktiken im Zusammenhang mit Kinderpornographie. Kinderprostitution stellt dennoch ein Problem dar, ebenso wie Zeitehen, insbesondere aber unter Binnenvertriebenen. Da das Alter der strafrechtlichen Verantwortung in der autonomen Region Kurdistan elf Jahre beträgt, behandelten die Behörden sexuell ausgebeutete Kinder oft wie Kriminelle, anstatt wie Opfer. Die Strafen für die kommerzielle Ausbeutung von Kindern reichen von Bußgeldern und Freiheitsstrafen bis hin zur Todesstrafe. Es liegen allerdings keine Informationen über die Wirksamkeit der staatlichen Durchsetzung von Strafen vor. Statistische Informationen über sexuelle Ausbeutung von Kindern liegen nicht vor.

Im September 2018 zählte eine kurdische Menschenrechtsgruppe fast 500 Kinder, die im Gouvernement Sulaimaniyya bettelten, und etwa 2.000 Kinder, die im Gouvernement Erbil bettelten, wobei die Mehrheit davon Binnenvertriebene und Flüchtlinge waren. Daten zum Gouvernement Dohuk wurde nicht erhoben. Das Ministerium für Arbeit und Soziales der Region Kurdistan schätzt, dass 1.700 Kinder in der Region Kurdistan arbeiten, oft als Straßenverkäufer oder Bettler, was sie besonders anfällig für Missbrauch macht. Das Ministerium für Arbeit und Soziales betrieb eine 24-Stunden-Hotline zur Meldung von Arbeitsmissbrauch, einschließlich Kinderarbeit; die Hotline erhielt rund 200 Anrufe pro Monat. Beamte der kurdischen Regionalregierung erklärten, dass Gerichte Fälle der schlimmsten Formen von Kinderarbeit an das Ministerium für Arbeit und Soziales verweisen könnten.

EASO berichtet, dass Daten aus dem 2016 zufolge im Gouvernement Erbil knapp unter 2% der Kinder zwischen 6 und 14 Jahren arbeiten (müssen). Einem Zeitungsartikel vom August 2016 zufolge ist die Zahl der minderjährigen Arbeiter in den größeren Städten der Region Kurdistan gestiegen, was zum Teil auf den Zustrom www.ris.bka.gv.at Seite 46 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 von vertriebenen Familien aus dem Irak und Syrien zurückzuführen ist. Die bereits erwähnte, von der irakischen zentralen Statistikorganisation gemeinsam mit dem kurdischen regionalen Statistikbüro und dem irakischen Gesundheitsministerium im Jahr 2018 durchgeführte Umfrage zur Situation von Kindern ergab nachstehende statistische Werte hinsichtlich Kindern zwischen 5 und 17 Jahren, die in den jeweiligen Gouvernements von Kinderarbeit betroffen sind:

Es gibt in der Region Kurdistan ein Hohes Komitee für Kinderarbeit, das behördenübergreifende Richtlinien zur Kinderarbeit koordiniert. Das Komitee wird vom Ministerium für Arbeit und Soziales geleitet. Weitere Mitglieder sind Vertreter aus fünf weiteren Ministerien der Region Kurdistan.

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In der Region Kurdistan gilt das irakische Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels, welches Menschenhandel verbietet, nicht. Es gilt das Arbeitsgesetz von 1987, welches Kinderhandel erwähnt, aber die mit Kinderhandel einhergehenden Aspekte nicht explizit verbietet.

Zwangsrekrutierung:

Es liegen keine Berichte über Kindersoldaten vor, die innerhalb des irakischen Militärs einschließlich der Peschmerga der kurdischen Regionalregierung eingesetzt würden. Die irakische Regierung setzte die Ausbildung von Militärs in Fragen bezüglich Kindersoldaten fort. Im November 2017 richtete die Regierung - mit Unterstützung des Premierministers - einen nationalen interministeriellen Ausschuss ein, der die Verletzungen der Kinderrechte in Konfliktzonen im Irak überwachen, bewerten und darüber berichten soll.

Die Volksverteidigungseinheiten (Hêzên Parastina Gel, HPG) der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) und die jesidische Miliz der Shingal Resistance Units (YBS), die in Sinjar im Gouvernement Ninawa und der autonomen Region Kurdistan operieren, rekrutierten jedoch weiterhin Kinder und setzen diese auch ein. Laut der jezidischen NGO Yazda blieben von etwa 400 jezidischen Kindern unter 18 Jahren, die von PKK- und YBS-Milizen als Kindersoldaten rekrutiert wurden, im November 2018 schätzungsweise 100 bei den Milizen, während viele der anderen später zu ihren Familien zurückkehrten. In einem Bericht des Sicherheitsrats der UN- Generalversammlung vom 16.05.2018 wird berichtet, dass insgesamt 35 Jungen von nicht identifizierten bewaffneten Gruppierungen rekrutiert wurden; 9 von der HPG; 4 von den YBS, 1 von Hêza Parastina Êzîdxanê/Protection Force of Ezidkhan und 1 von den Zeravani forces, die Teil der Peshmerga sind. Ob diese Fälle von Rekrutierungen im Jahr 2018 oder einem früheren Jahr erfolgten und ob die Rekrutierung unter Zwang stattfand, wird im Bericht nicht offengelegt.

Quellen:

- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Das Schulsystem im Irak, Mai 2017

- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 25.03.2019 betreffend die Situation von Kindern in der autonomen Region Kurdistan-Irak

2. Beweiswürdigung:

2.1. Der oben unter Punkt I angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des BFA und des vorliegenden Gerichtsakts. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt, und das Erkenntnis betreffen die Kernfamilie des Beschwerdeführers, Zlen: L521 2170253, L521 2170255, L521 2170258, L521 2170260, L521 2170261, L521 2201029 eingesehen, dies unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben des Vaters und der Mutter des Beschwerdeführers vor dem Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie des Inhaltes der gegen die angefochtenen Bescheide erhobenen Beschwerden einschließlich der im Verfahren erstatteten schriftlichen Stellungnahmen und den vorgelegten Urkunden. Ferner durch die niederschriftlichen Aussagen der Befragung des Vaters und der Mutter in der Beschwerdeverhandlung am 06.02.2019, und schließlich durch Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer, die Anfragebeantwortung von ACCORD vom 22.08.2016 betreffend Einberufungsbefehle zum Militärdienst und drohende Strafen bei Verweigerung, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 07.12.2015 betreffend Austritt und Desertion von den Peschmerga, die Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 07.01.2019 zu den kurdischen Peschmerga, Zusammenstellungen sicherheitsrelevanter Vorfälle im zweiten und dritten Quartal 2018 des Armed Conflict www.ris.bka.gv.at Seite 47 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Location & Event Data Project (ACLED), Anfragebeantwortungen von ACCORD vom 21.03.2017, vom 29.03.2018 und vom 21.02.2019 jeweils zur Sicherheitslage, zur sozioökonomischen Lage und zur Menschenrechtssituation in der autonomen Region Kurdistan, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 25.03.2019 zur Lage von Kindern in der autonomen Region Kurdistan eingeholte sowie den Bericht von ACCORD zum irakischen Schulsystem vom Mai 2017. Zum Zweck der Heranziehung aktueller Statistiken zur Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan wurde außerdem in den öffentlich zugänglichen Bericht des European Asylum Support Office vom Februar 2019 (EASO) betreffend Security situation (supplement) - Iraq Body Count - civilian deaths 2012, 2017-2018, Einsicht genommen (https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/Iraq_IBC_Civilian_Deaths.pdf).

2.2. und 2.3. Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem abgeschlossenen Gerichtsaktes zu den Zlen L521 2170253, L521 2170255, L521 2170258, L521 2170260, L521 2170261, L521 2201029.

Bezüglich der hierbei getroffenen Feststellungen kann in weiten Teilen auf die Gerichtsakte der mit Erkenntnis dieses Gerichts vom 05.06.2019 abgeschlossenen Asylverfahren der Familienmitglieder des Beschwerdeführers zu den Zlen. L521 2170253, L521 2170255, L521 2170258, L521 2170260, L521 2170261, L521 2201029 verwiesen werden.

2.4. Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, welche vom Richter in der mündlichen Verhandlung des vorangegangenen Verfahrens erörtert und der rechtsfreundlichen Vertretung bereits vor der Verhandlung zur Äußerung zugemittelt wurden. Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Ergänzend berücksichtigt wurden aktuelle Statistiken zur Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan aus dem Bericht des European Asylum Support Office vom Februar 2019 (EASO) betreffend Security situation (supplement) - Iraq Body Count - civilian deaths 2012, 2017-2018. Die Statistik erfasst Todesfälle von Zivilpersonen, die außerhalb militärischer Kampfhandlungen eintreten, wobei das Motiv (Terrorismus, stammesbezogene Gewalt, organisierte Kriminalität) nicht getrennt erfasst wird.

Die zur Lage in der autonomen Region Kurdistan getroffenen Feststellungen sowie die Feststellungen zur Lage von Kindern in der in der autonomen Region Kurdistan gründen sich auf die jeweils im Anschluss an die Feststellungen angeführten Anfragebeantwortungen von ACCORD und der Staatendokumentation, denen keine anderweitigen Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens gegenüberstehen und die von den beschwerdeführenden Parteien nicht beanstandet wurden. Hinsichtlich der Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat gilt, dass zunächst Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat - sohin dem Staat Irak in seiner Gesamtheit - getroffen werden und im Anschluss daran spezifische Feststellungen zur Lage in der autonomen Region Kurdistan bzw. zur Lage von Kindern in der autonomen Region Kurdistan getroffen werden. Soweit spezifische Feststellungen im Hinblick auf die autonomen Region Kurdistan, sohin der Herkunftsregion der beschwerdeführenden Parteien, getroffen werden, sind diese von vorrangiger Bedeutung.

Die beschwerdeführenden Parteien sind den ihnen mit Noten des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.01.2019, vom 08.03.2019 und vom 25.03.2019 zur Stellungnahme übermittelten Erkenntnisquellen zur Lage im Herkunftsstaat nicht entgegengetreten und haben dazu auch in der mündlichen Verhandlung keine Stellungnahme abgegeben. In der Stellungnahme vom 25.03.2019 wird abschließend vorgebracht, dass die übermittelten Erkenntnisquellen zur Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis genommen würden und in der Folge der eigene Verfahrensstandpunkt bekräftigt, wonach dem Erstbeschwerdeführer im Fall einer Rückkehr Verfolgung drohe und die beschwerdeführenden Parteien in ihrem Herkunftsstaat keine Lebengrundlage vorfinden würden.

Wenn in der Beschwerde moniert wird, dass ein Konflikt der Türkei mit den Kurden in Syrien sich unweigerlich auf das gesamte kurdische Gebiet beziehen und die jetzt schon angespannte Situation weiter destabilisieren wird, so sei an dieser Stelle auf die aktuelle Berichterstattung des Deutschen Auswärtigen Amtes verwiesen, welches von erneuten Demonstrationen seit den Abendstunden des 24.10.2019 in Bagdad und anderen größeren Städten mit Ausschreitungen und gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und irakischen Sicherheitskräften mit vielen Todesopfern und Verletzten berichtet. Für Bagdad und weitere Provinzen im Süden des Landes werden demzufolge lokale nächtliche Ausgangssperren verhängt. Bereits Anfang Oktober 2019 haben demnach Ausschreitungen und gewalttätige Zusammenstöße in Bagdad und anderen größeren Städten zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert und in der Folge zu Ausgangssperren und Abschaltung des Internets bzw. der Sperrung sozialer Medien geführt. Die Region Kurdistan-Irak sei davon jedoch explizit nicht www.ris.bka.gv.at Seite 48 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 betroffen. Vor Reisen nach Irak wird mit Ausnahme der Region Kurdistan-Irak gewarnt. Von nicht erforderlichen Reisen in die Region Kurdistan-Irak wird abgeraten. (Quelle: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/iraksicherheit/202738, Zugriff am 08.11.2019, Stand: 08.11.2019, unverändert gültig seit 06.11.2019).

Das Bundesverwaltungsgericht hält im gegeben Zusammenhang fest, dass eine besondere Auseinandersetzung mit der Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit des Staates einschließlich diesbezüglicher Feststellungen nur dann erforderlich ist, wenn eine Verfolgung durch Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen festgestellt wird (vgl. VwGH 02.10.2014, Ra 2014/18/0088). Da die beschwerdeführenden Parteien nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehende Verfolgung zu gewärtigen haben, sind spezifische Feststellungen zum staatlichen Sicherheitssystem sowie zur Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit der Behörden der Herkunftsregion nicht geboten.

2.5. Die Feststellung, dass die minderjährigen Geschwister des Beschwerdeführers und der Beschwerdeführer selbst keine eigenen Fluchtgründe hervorgebracht haben, beruht auf dem Inhalt der bezughabenden Niederschrift des belangten Bundesamtes betreffend die Mutter und hinsichtlich der minderjährigen Kinder ergänzend auf die Angaben der Mutter in der mündlichen Verhandlung vor diesem Gericht.

2.6. Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der Glaubhaftmachung im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinn der Zivilprozessordnung zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der hierzu geeigneten Beweismittel, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers, voraus (vgl. VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0058 mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt ebenso wie die Beweisführung den Regeln der freien Beweiswürdigung (VwGH 27.05.1998, Zl. 97/13/0051). Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.02.1993, Zl. 92/03/0011; 01.10.1997, Zl. 96/09/0007). Im Falle der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers sind positive Feststellungen von der Behörde nicht zu treffen (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).

Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Angaben eines Asylwerbers hat der Verwaltungsgerichtshof als Leitlinien entwickelt, dass es erforderlich ist, dass der Asylwerber die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert (VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294) und dass diese Gründe objektivierbar sind (VwGH 05.04.1995, Zl. 93/18/0289). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, genügt zur Dartuung von selbst Erlebtem grundsätzlich nicht. Der Asylwerber hat im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage und allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069; 30.11.2000, Zl. 2000/01/0356). Die Mitwirkungspflicht des Asylwerbers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).

Es entspricht ferner der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes beziehungsweise Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens bzw. der niederschriftlichen Einvernahmen unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650). Die Unkenntnis in wesentlichen Belangen indiziert ebenso mangelnde Glaubwürdigkeit (VwGH 19.03.1997, Zl. 95/01/0466).

2.7. Unter Berücksichtigung der vorstehend angeführten Rechtsprechung ist es der Familie des Beschwerdeführers nicht gelungen, ein asylrelevantes Vorbringen glaubwürdig und in sich schlüssig darzulegen und eine zur Gewährung von internationalem Schutz führende Gefährdung im Rückkehrfall glaubhaft zu machen. Im Einzelnen:

2.7.1. Zum Vorbringen des Vaters des Beschwerdeführers:

www.ris.bka.gv.at Seite 49 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Diesbezüglich führte dieses Gericht im Erkenntnis vom 05.06.2019, Zlen. L521 2170253, L521 2170255, L521 2170258, L521 2170260, L521 2170261, L521 2201029 aus wie folgt:

"Der Erstbeschwerdeführer brachte vor dem belangten Bundesamt bei seiner Einvernahme am 10.08.2017 keine individuelle Gefährdung seiner Person vor der Ausreise vor und bezog sich bei der Beantwortung der Frage nach dem Ausreisegrund auf die (unten noch zu erörternde) schwierige wirtschaftliche Lage seiner Familie. Erst auf Nachfrage legte er dar, er haben "zum Schluss" seinem Regimentskommandanten telefonisch mitgeteilt, dass er nicht mehr als Peschmerga dienen wolle. Von Österreich aus habe er sein Ausscheiden telefonisch seinem Kommandanten kommuniziert, worauf ihm sein Kommandant mitgeteilt habe, den Erstbeschwerdeführer nicht mehr in Kurdistan sehen zu wollen (AS 320). Auf neuerliche Nachfrage legte der Erstbeschwerdeführer darüber hinaus dar, dass sein Vater festgenommen und über seine Ausreise befragt worden sei, auf abermalige Nachfrage legte der Erstbeschwerdeführer dann schließlich dar, dass sein Kommandant ihm im Rückkehrfall die Festnahme angedroht habe (AS 321). Bei einer neuerlichen Erörterung der Situation gegen Ende der niederschriftlichen Einvernahme schilderte der Erstbeschwerdeführer den Vorfall schließlich abweichend von seiner vorangehenden Verantwortung dahingehend, dass ein Leibwächter seines Kommandanten ihn in Österreich angerufen und dann das Mobiltelefon dem Kommandanten übergeben habe. Diesem gegenüber habe er sich zunächst über die unregelmäßige Bezahlung beklagt. Daraufhin habe ihm sein Kommandant mitgeteilt, dass er im Fall einer Rückkehr entweder weiter bei den Peschmerga dienen müsse oder "für immer" eingesperrt werde (AS 325).

Bereits die variierenden und erst nach und nach auf die entsprechenden Nachfragen hin getätigten Angaben des Erstbeschwerdeführer vor dem belangten Bundesamt sprechen entschieden gegen die Glaubhaftigkeit des Standpunktes des Erstbeschwerdeführers, zumal sich der Erstbeschwerdeführer eines sich steigernden Vorbringens bediente, indem er zunächst nur eine vage Drohung seines Kommandanten in den Raum stellte, der ihn nicht mehr sehen wollen, zuletzt aber von einer lebenslangen Haft sprach und noch dazu zuletzt einen abweichenden Modus der ersten Kontaktaufnahme im Hinblick auf die Frage in den Raum stellte, wer wen zuerst anrief. Das Unvermögen des Erstbeschwerdeführers bereits vor dem belangten Bundesamt, aus eigenem ein stringentes und von vornherein vollständiges Vorbringen zu erstattet, spricht für einen spontan konstruierten Sachverhalt.

Ein weiteres Indiz in dieser Hinsicht stellt das gänzliche Unwissen der Zweitbeschwerdeführerin dar, die die angeblich gegen den Erstbeschwerdeführer gerichteten Drohungen bei ihrer Einvernahme vor dem belangten Bundesamt mit keinem Wort erwähnte. In der mündlichen Verhandlung erklärte die Zweitbeschwerdeführerin ihr Unwissen damit, dass der Erstbeschwerdeführer die Bedrohungen ihr gegenüber verheimlich und erst nach der Einvernahme davon erzählt habe. In Anbetracht dessen, dass der Erstbeschwerdeführer seinen Anspruch auf Asyl wesentlich auf diese Drohungen stützte und er Furcht vor seinem ehemaligen Kommandanten in den Raum stellte, stellt sich der Standpunkt für das Bundesverwaltungsgericht als lebensfremd dar, zumal gerade in einer Fluchtsituation davon ausgegangen werden muss, dass die wesentlichen Punkte - auch im Hinblick auf das Verfahren - unter Eheleuten besprochen werden.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gelang es dem Erstbeschwerdeführer ebenfalls nicht, die behauptete Gefährdung in seinem Herkunftsstaat glaubwürdig und in sich schlüssig darzulegen. Zunächst legte der Erstbeschwerdeführer - erstmals im gesamten Verfahren - dar, den Irak aus Angst vor den Kampfhandlungen mit dem Islamischen Staat verlassen zu haben. Das diesbezügliche Vorbringen erweist sich indes, abgesehen davon, dass es erst sehr spät im Verfahren überhaupt vorgebracht wurde und in Konflikt mit dem Neuerungsverbot steht, bereits deshalb als nicht glaubhaft, weil die anschließende Befragung des Erstbeschwerdeführers ergab, dass er im Juli und August 2015 an Kampfhandlungen habe teilnehmen müssen. Im Hinblick auf die Furcht vor Kampfhandlungen mangelt es sohin am erforderlichen zeitlichen Zusammenhang mit der späteren Ausreise im Dezember 2015 mangelt, weswegen diesen Ereignissen allein schon aus diesem Grund keine Asylrelevanz zukommen kann. Die Voraussetzung der wohlbegründeten Furcht wird nämlich in der Regel nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (VwGH 19.10.2000, 98/20/0430, siehe auch VwGH 30.08.2007, 2006/19/0400-6). Angesichts der behauptetet Bedrohung durch Kampfhandlungen im Irak ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Erstbeschwerdeführer dort noch mehr als drei Monate zubrachte, bevor er tatsächlich den Irak verließ. Darüber hinaus kann in Anbetracht der zwischenzeitlich eingetretenen militärischen Niederlage des Islamischen Staates ausgeschlossen werden, dass der Erstbeschwerdeführer im Fall einer Rückkehr mit großflächigen Kampfhandlungen konfrontiert sein wird. Ausgehend davon kann auch nicht die maßgebliche Gefahr erkannt werden, im Rückkehrfall von Kampfhandlungen individuell betroffen zu sein, sodass auf diesen Punkt mangels Aktualität des vorgebrachten Sachverhaltes nicht weiter eingegangen werden muss.

In der Folge steigerte der Erstbeschwerdeführer sein Vorbringen hinsichtlich der behaupteten Verfolgung durch seinen Regimentskommandanten neuerlich und legte nunmehr, dass er im Rückkehrfall nicht nur umgehend festgenommen würde, sondern ihm sein Kommandant auch mitgeteilt habe, dass er den Erstbeschwerdeführer www.ris.bka.gv.at Seite 50 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

"verschwinden lassen" werde bzw. dass der Erstbeschwerdeführer getötet werde. Dem Bundesverwaltungsgericht erschließt sich im gegebenen Zusammenhang nicht - sollten solche Drohungen tatsächlich ausgesprochen worden sein - weshalb der Erstbeschwerdeführer diese doch manifesteren Drohungen vor dem belangten Bundesamt noch verschwieg und dort nur Furcht vor einer drohenden Inhaftierung in Rückkehrfall vortrug. Da der Erstbeschwerdeführer die Einvernahme vor dem belangten Bundesamt nicht beanstandete und diese im Beisein eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die Sprache Sorani stattfand, ist nicht von Unregelmäßigkeiten bei der Einvernahme auszugehen und im Ergebnis evident, dass der Erstbeschwerdeführer sich im Beschwerdeverfahren neuerlich eines gesteigerten Vorbringens im Hinblick auf das ihm angeblich angedrohte Unbill bedient, was seiner Glaubwürdigkeit weiter abträglich ist.

In der Folge gelang es dem Erstbeschwerdeführer bei seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung auch nicht, die Umstände der Kontaktaufnahme durch seinen vermeintlichen Verfolger im Bundesgebiet schlüssig darzulegen. Auf den Vorhalt, dass er bei der Einreise kein Mobiltelefon mit sich führte gestand der Erstbeschwerdeführer dies zunächst zu, jedoch habe ihm sein Bruder sodann ein Mobiltelefon geschenkt. Wenn der Erstbeschwerdeführer im Anschluss daran behauptet, dass sein vermeintlicher Verfolger seine Telefonnummer von Freunden in Kurdistan bekommen habe, mit welchen er (nach dem Erhalt des Mobiltelefons) telefoniert habe, erscheint ein solcher Geschehnisverlauf in Anbetracht der kurzen Zeitspanne zwischen der Einreise am 31.12.2015 und der angeblichen Bedrohung im März 2016 (eine nähere Einschränkung in zeitlicher Hinsicht war dem Erstbeschwerdeführer nicht möglich) unwahrscheinlich. Darüber hinaus erscheint es aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes lebensfremd, dass sich ein Offizier im Rang eines Obersten bzw. Generals persönlich um das Nichterscheinen eines "einfachen Soldaten" (so der Erstbeschwerdeführer, vgl. AS 323) seines Regimentes annehmen würde, anstatt dies dem Zwischenvorgesetzten oder seinem Stab zu überlassen. Da der Erstbeschwerdeführer in keinen besonderen Treue- oder Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Regimentskommandanten stand, erschließt sich dem Bundesverwaltungsgericht auch nicht, weshalb ein Offizier im Rang eines Obersten bzw. Generals einen "einfachen Soldaten", der sich in das Ausland abgesetzt hat, noch im Nachhinein mit wüsten Drohungen bzw. Beschimpfungen konfrontieren sollte. Im März 2016 - dem behaupteten Zeitpunkt der telefonischen Drohungen - steuerten die Kämpfe mit den Milizen des Islamischen Staates im Nordirak auf ihren Höhepunkt zu und ist demnach wahrscheinlich, dass ein hochrangiger Kommandant der Peschmerga mit grundsätzlicheren Angelegenheiten konfrontiert war, als im Ausland befindliche Personen telefonisch zu bedrohen. Die vom Erstbeschwerdeführer in den Raum gestellte Konstellation entbehrt insoweit jeglicher Nachvollziehbarkeit.

Nicht schlüssig ist ferner, dass der Vater des Erstbeschwerdeführers bereits im Februar 2016 festgenommen und befragt worden sein soll. Ausweislich der eingeholten und unten noch im Detail zu erörternden länderkundlichen Berichte bestehen keine Anzeichen dafür, dass das Entfernen vom Dienst bei den kurdischen Peschmerga überhaupt von den kurdischen Strafverfolgungsbehörden oder von der Peschmerga selbst verfolgt wird. Der Vorwurf einer Beteiligung des gänzlich unbeteiligten Vaters des Erstbeschwerdeführers an einer Straftat ist nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar. Entgegen den Angaben des Erstbeschwerdeführers, der von einer Inhaftierung seines Vaters im Jahr 2016 sprach, gab die Zweitbeschwerdeführerin davon abweichend an, dass sein Vater bei der Rückgabe seines Dienstausweises im Jahr 2016 bedroht worden sei. Von einer Inhaftierung wusste die Zweitbeschwerdeführerin nichts zu berichten, was neuerlich auf einen konstruierten Sachverhalt hinweist.

Auch in Bezug auf seinen Vater steigerte der Erstbeschwerdeführer außerdem sein Vorbringen in der mündlichen Verhandlung und brachte - erstmals - vor, dass sein Vater bedroht und vor etwa einem Jahr nach Griechenland geflohen sei, wo er sich als Asylwerber aufhalte. Bei den diesbezüglichen Fragen in der Verhandlung zeigte der Erstbeschwerdeführer Nervosität, er war nicht in der Lage, die Nachfragen zusammenhängend zu beantworten. Schon die angebliche Ausreise des Vaters legte der Erstbeschwerdeführer ungefragt bei der Frage nach seinem letzten Wohnsitz vor der Ausreise dar. Selbst auf wiederholte Nachfrage hin konnte in weiterer Folge nicht ergründet werden, aus welchem Grund und von welcher Person der Vater des Erstbeschwerdeführers bedroht worden sein soll. Vielmehr verlor sich der Erstbeschwerdeführer in Schilderungen sich selbst betreffend und dass er "über" seinen Vater bedroht worden sei. Welche Drohungen auf diesem Weg von welchem Bedroher kommuniziert wurden, blieb jedoch im Dunkeln und kam im gesamten Verlauf der Befragung in der mündlichen Verhandlung nicht hervor. Der in den Raum gestellte neue Sachverhalt blieb in einem hohen Maß vage und wirkte konstruiert. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes ist auch nicht nachvollziehbar, aus welchem Anlass der Vater des Erstbeschwerdeführers im Januar oder Februar 2018 (so die zeitliche Einordnung des Erstbeschwerdeführers) neuerlich in das Blickfeld der vermeintlichen Verfolger gerückt sein sollte, wo doch die Ausreise und angebliche Desertion des Erstbeschwerdeführers bereit Ende des Jahres 2015 bzw. die angeblichen Drohungen Anfang 2016 waren. Dass der Vater des Erstbeschwerdeführers in der Folge zwei Jahre unbehelligt weiter in der autonomen Region Kurdistan lebt und sodann im Januar oder Februar 2018 aufgrund desselben Sachverhaltes plötzlich aus der autonomen Region Kurdistan vertrieben wird, ist nicht schlüssig. Eine nähere Aufklärung im Hinblick auf diese angeblichen Ereignisse konnte freilich - in Anbetracht der unsubstaniierten Angaben des Erstbeschwerdeführers - nicht erfolgen. www.ris.bka.gv.at Seite 51 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Wenn der Erstbeschwerdeführer schließlich angibt, nicht genau zu wissen, wo in Griechenland sich sein Vater befindet, diesen angeblich bereits im Januar oder Februar 2018 eingetretenen Sachverhalt bis zur mündlichen Verhandlung zurückhält und schließlich trotz entsprechender Nachfrage in der mündlichen Verhandlung keine dahingehenden Bescheinigungsmittel in Vorlage bringt, gelangt das Bundesverwaltungsgericht zur Ansicht, dass in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen nicht glaubhaft ist, dass der Vater des Erstbeschwerdeführers nach dessen Ausreise tatsächlich einer behördlichen Verfolgung, Festnahme und Vertreibung ausgesetzt war. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich der Vater des Erstbeschwerdeführers - wie anlässlich der Einvernahme vor dem belangten Bundesamt vorgebracht - weiterhin in Erbil lebt und dort mit Altwaren handelt.

Nicht schlüssig ist schließlich die vom Erstbeschwerdeführer in den Raum gestellte zeitliche Abfolge in Ansehung seiner Ausreise am 12.12.2015. Der Erstbeschwerdeführer legte in dieser Hinsicht dar, er habe stets eine Woche Dienst versehen müssen und dann immer zwei Wochen dienstfrei gehabt. Er sei während der dienstfreien Zeit ausgereist. In der Folge schilderte der Erstbeschwerdeführer, er habe zuletzt am 03.11.2015 Dienst versehen. Ausgehend von seinen eigenen Angaben hätte er demnach am 17.11.2015 wieder zum Dienst erscheinen müssen. Da der Erstbeschwerdeführer eigenen Angaben zufolge (AS 293) am 12.12.2015 den Irak verließ, hätte sein Nichterschienen zum Dienst demnach bereit Wochen vor seiner Ausreise auffallen müssen. In diesem Kontext ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Erstbeschwerdeführer nicht sogleich belangt wurde bzw. nach ihm gefahndet wurde (sodass er spätestens bei der Ausreisekontrolle festgenommen worden wäre). Der Erstbeschwerdeführer brachte auch nicht vor, dass er sich bis zur Ausreise versteckt oder anderweitige Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätte, was nur den Schluss zulässt, dass er entweder sein Dienstverhältnis zuvor im Einvernehmen beendete (bzw. die Zeit seiner Dienstverpflichtung ablief) oder - wie die eingeholten und sogleich im Detail zu erörternden länderkundlichen Berichte nahelegen - schlicht keine Verfolgung von Peschmerga, die nicht mehr zum Dienst erscheinen, stattfindet und der Erstbeschwerdeführer deshalb keine gegen ihn gerichteten Maßnahmen befürchten musste. Für eine einvernehmliche Beendigung des Dienstverhältnisses bzw. ein reguläres Ende durch Zeitablauf spricht, dass sich der Erstbeschwerdeführer nicht über den Verfall der Kaution beklagte.

Ausweislich der eingeholten länderkundlichen Berichte sind die kurdischen Peschmerga als Streitkräfte der autonomen Region Kurdistan zwar formal Teil der irakischen Streitkräfte, sie sind de facto aber unabhängig. Bei den Peschmerga gibt es sämtlichen übereinstimmenden Berichten zufolge keine Wehrpflicht. Kurdische Männer melden sich freiwillig. Peschmerga-Kämpfer sind oft Männer mittleren Alters, was gegen ein Einberufungssystem spricht (ACCORD 22.06.2016).

Dazu tritt, dass ausweisliche der Feststellungen - wie bereits angesprochen - für die Peschmerga ein Kautionssystem etabliert wurde. Wenn die rekrutierte Person ihren Einsatz vor dem Vertragsende beendet, muss der Bürge möglicherweise einen Teil oder die gesamte Summe bezahlen. Anderweitige Konsequenzen einer eigenmächtigen Beendigung des Dienstverhältnisses können den eingeholten länderkundlichen Berichte nicht entnommen werden. Informationen über Strafverfahren liegen nicht vor. Das in einem Bericht zitierte irakische Militärstrafgesetzbuch Nr. 19 aus dem Jahr 2007 ist ausweislich dessen Art. 1 auf kurdische Sicherheitskräfte gar nicht anwendbar und wurde seitens des Generalsekretärs des Ministry of Peshmerga Affairs auch keine weitergehende Sanktion als der (teilweise) Verfall der Kaution und die Beendigung des Dienstverhältnisses vorgesehen. Dass er mit der Waffe desertiert sei oder die Waffe gar verkauf hätte wurde vom Erstbeschwerdeführer nicht vorgebracht, ebensowenig, dass er zum Feind (dem Islamischen Staat) übergelaufen sei. Ansatzpunkte für eine drohende Strafverfolgung liegen demgemäß nicht vor und erachtet das Bundesverwaltungsgericht schon deshalb eine drohende Strafverfolgung im Rückkehrfall als nicht glaubhaft. Dass der Erstbeschwerdeführer das Kautionssystem und den Verfall einer Kaution aufgrund seiner angeblichen Desertion nicht erwähnte, deutet wie vorstehend bereits ausgeführt auf eine reguläre Beendigung seines Dienstverhältnisses hin. Maßgeblich ist schließlich, dass den herangezogenen Berichten - insbesondere der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist sowohl aktuell als auch ausführlich - kein Hinweis darauf entnommen werden kann, dass eine Desertion zu Verfolgung durch andere Kämpfer oder Kommandanten der Peschmerga führt. In diesem Kontext verwundert es noch mehr, dass gerade der Erstbeschwerdeführer, der nicht im Geringsten ein exponiertes Profil aufweist, von einem Offizier im Rang eines Obersten oder Generals noch in Österreich gravierend bedroht worden sein will. Vielmehr erweist sich die vom Erstbeschwerdeführer geschilderte Verfolgungssituation im Kontext der Berichtslage und der Feststellungen zu den Peschmerga als vollkommen unplausibel (vgl. allgemein zur Verpflichtung, den realen Hintergrund der vom Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte zur erheben und die Glaubwürdigkeit von Behauptungen auch im Vergleich zu den diese Ereignisse betreffenden Berichten zu messen siehe VwGH 11.04.2018, Ra 2018/20/0040). Die Berichtslage unterstreicht demnach, dass das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers als nicht glaubwürdig anzusehen ist.

Das Bundesverwaltungsgericht kann sohin entgegen dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers nicht feststellen, dass sich der Erstbeschwerdeführer vor der Ausreise unbefugt vom Dienst bei den kurdischen www.ris.bka.gv.at Seite 52 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Peschmerga entfernte und er nunmehr deshalb oder aus anderweitigen Gründen einer von seinem ehemaligen Kommandanten ausgehenden individuellen Gefährdung ausgesetzt wäre oder ihm aus diesem Grund im Fall einer Rückkehr in den Irak und dort in der autonomen Region Kurdistan Strafverfolgung drohen würde. Das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers stellte sich widersprüchlich und unplausibel dar und ist mit der erhobenen Lage im Herkunftsstaat unvereinbar.

Es kann ferner nicht festgestellt werden, dass der Vater des Erstbeschwerdeführers nach der Ausreise des Erstbeschwerdeführers aufgrund der Umstände seines Ausscheidens aus dem Dienst bei den kurdischen Peschmerga festgenommen und inhaftiert sowie aus der autonomen Region Kurdistan vertrieben wurde, zumal bereits die behauptete Desertion vom Dienst bei den kurdischen Peschmerga nicht glaubhaft ist und darüber hinaus die angebliche Vertreibung seines Vaters vom Erstbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung nur vage in den Raum gestellt wurde und der Erstbeschwerdeführer gerade bei der Schilderung dieser angeblichen Ereignisse einen höchst unsicheren und nervösen Eindruck hinterließ."

Im Kern stützt der Beschwerdeführer den vorliegenden Asylantrag auf die behauptete Verfolgung des Vaters. Nachdem im abgeschlossenen Verfahren der Kernfamilie bereits entschieden wurde, dass weder dem Vater noch der Mutter oder den vier Geschwistern Asyl oder subsidiärer Schutz gebührt, weil keine dafür relevanten Gründe vorliegen, und die Geschwister (die ja desselben Vaters Kinder sind) keine eigenen Fluchtgründe haben, war davon auszugehen, dass eine Verfolgung des Beschwerdeführers aus dem behaupteten Grund nicht anzunehmen ist.

2.7.2. Zur wirtschaftlichen Lage der Familie des Beschwerdeführers vor der Ausreise:

Die Familie des Beschwerdeführers brachte als eigentliches Ausreisemotiv (die vorstehend als nicht glaubhaft verworfene Bedrohung durch den Regimentskommandanten soll sich erst nach der Einreise in das Bundesgebiet ereignet haben) wirtschaftliche Schwierigkeiten und eine unzureichende medizinische Versorgung des Viertbeschwerdeführers vor.

Das diesbezügliche Vorbringen der Eltern des Beschwerdeführers erweist sich indes aufgrund aufgetretener Wiedersprüche und im Kontext der sonst objektivierten Umstände vor bzw. während der Ausreise ebenfalls als nicht glaubhaft.

Der Vater legte in dieser Hinsicht vor dem belangten Bundesamt dar, er habe immer wieder die Unterkunft wechseln müssen und sei oft vom Vermieter "auf die Straße gesetzt" worden und habe "die nach auf der Straße verbracht" (AS 319). Demgegenüber beklagte die Mutter bei der Einvernahme vor dem belangten Bundesamt nur allgemein über die schwierigen Lebensumstände und dass sie nur über ein kleines gemietetes Haus mit einem Zimmer verfügt hätten (AS 227). Von Delogierungen und Obdachlosigkeit berichtete sie hingegen nicht. Schon deshalb kann das Vorbringen des Vaters nicht als glaubhaft angesehen werden, zumal ja im Fall des Zutreffens auch die Mutter von der Delogierung betroffen gewesen und dazu in der Lage gewesen wäre, entsprechend vorzubringen.

In der mündlichen Verhandlung bestätigte der Vater zunächst, vor der Ausreise in einem gemieteten Haus in Erbil gelebt zu haben. Sohin ist davon auszugehen, dass zuletzt eine Unterkunft vorhanden war. Anders als noch vor dem belangten Bundesamt stellte der Vater - wie bereits erwähnt - seine Furcht vor Kampfhandlungen und dem mit dem Islamischen Staat damals gegebenen bewaffneten Konflikt sowie den Wunsch nach einer medizinischen Behandlung des Viertbeschwerdeführers als zentrale Motivation seiner Ausreise dar. Erst auf gezielte Nachfrage wiederholte der der Vater sein Vorbringen betreffend die angebliche Obdachlosigkeit. Zunächst stellte er aber nur einen solchen Vorfall in den Raum, während er noch vor dem belangten Bundesamt davon sprach, dass er "oft" derogiert worden und obdachlos gewesen sei. Die Nachfrage nach der zeitlichen Einordnung des Vorfalls konnte der Vater nicht beantworten, er zog sich vielmehr auf die allgemeine Aussage zurück, dass er "immer finanzielle Probleme mit dem Unterkunftgeber" gehabt hätte, was jedoch mit der Frage nach dem Zeitpunkt einer Delogierung nichts zu tun hat.

Bei der folgenden näheren Erörterung der angeblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Herkunftsstaat in der mündlichen Verhandlung offenbarten sich in mehrerer Hinsicht Ungereimtheiten, die das diesbezügliche Vorbringen nicht als glaubhaft erscheinen lassen. Auf die Möglichkeit angesprochen, zu seinem Vater zu übersiedeln antwortet der Vater des Beschwerdeführers zunächst ausweichend, dass sein Vater selbst Mieter sei (was freilich wiederum im Kontext der Frage unerheblich ist). Auf neuerliche Nachfrage legte der Vater des Beschwerdeführers dar, dass die Mutter des Beschwerdeführers lieber alleine gelebt habe und nicht mit anderen Familienmitgliedern. In diesem Zusammenhang erschließt sich dem Bundesverwaltungsgericht jedoch der Standpunkt der Familie des Beschwerdeführers nicht, Obdachlosigkeit - noch dazu mit Kindern in sehr jungem Alter - einer (wenn auch nur vorübergehenden) Unterbringung beim Großvater oder anderen der zahlreichen www.ris.bka.gv.at Seite 53 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Verwandten bevorzugt zu haben. Die Mutter sprach schließlich auch in der mündlichen Verhandlung nicht von Obdachlosigkeit, sondern nur davon, dass sie in derselben Straße mehrmals umgezogen wären.

Außerdem legte die Mutter vor dem belangten Bundesamt ausdrücklich dar, dass der Vater ihr untersagt habe, einem Erwerb nachzugehen. Wenn einerseits behauptet wird, dass die finanziellen Mittel knapp waren, andererseits eine Erwerbstätigkeit der Mutter des Beschwerdeführers - mag diese auch nur aus gelegentlichen Arbeiten bestehen - vom Vater aus traditionellen Erwägungen unterbunden wird (wobei letztlich dahinstehen kann, ob der Vater ihr die Erwerbstätigkeit untersagte oder von der eigenen Familie dahingehender Druck ausgeübt wurde), liegt darin nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts ein Widerspruch, zumal ein Aufrechterhalten solcher traditioneller Ansichten auch in der (behaupteten) existenziellen Krise nicht schlüssig ist.

Dazu tritt, dass der Vater seine Einkommensverhältnisse als Peschmerga unrichtig darstellte, zumal er ein Einkommen von (nur) ca. 250,00 USD (300.000 irakische Dinar) in den Raum stellte, ausweislich der Feststellungen jedoch einem Peschmerga zumindest ein Gehalt von 400,00 USD gebührt. Schließlich wendete der Vater eigenen Angaben zufolge USD 10.000,00 auf, um nach Europa geschleppt zu werden. Er will dazu Geld von seinem Vater und Verwandten erhalten und den Schmuck der Mutter versetzt haben (AS 327). In Anbetracht dessen kann das Bundesverwaltungsgericht neuerlich die angeblich vor der Ausreise bestehende existenzielle Krise nicht nachvollziehen, zumal es dem Vater offenbar gelungen ist, binnen kurzer Zeit einen fünfstelligen Dollarbetrag liquide zu machen. Wäre er davor bereits von Obdachlosigkeit betroffen gewesen, ist - in Anbetracht des Alters seiner Kinder - nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes ohne weitere davon auszugehen, dass er die vorhandenen Geldmittel bzw. vorhandenen Schmuck dazu verwendet hätte, die Obdachlosigkeit abzuwenden. Schließlich ist nicht nachvollziehbar, dass der Vater einerseits von seinen Verwandten Geld für die Ausreise erhalten haben will, er andererseits aber in der Verhandlung in Bezug auf seinen Bruder vorbrachte, dass dieser in Armut leben würde. Die dargelegten Positionen sind nicht miteinander in Einklang zu bringen.

Im Hinblick auf die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Trinkwasser ist festzuhalten, dass diesbezügliche Defizite vor der Ausreise von der Familie des Beschwerdeführers nicht vorgebracht wurden. Die beiden ältesten Brüder des Beschwerdeführers wurden außerdem im Bundesgebiet untersucht und ihnen - wie festgestellt - ein guter Allgemeinzustand attestiert. Hinweise auf Mangelernährung oder eine Entwicklungsretardierung können den Befunden nicht entnommen werden, was ebenfalls gegen die behauptete existenzielle Notlage spricht.

Das Bundesverwaltungsgericht zweifelt zusammenfassend nicht daran, dass die wirtschaftliche Lage der Familie des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat schwierig war und das Gehalt des Vaters als Peschmerga fallweise verzögert oder gar nicht ausbezahlt wurde. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass den eigenen Angaben der des Vaters zufolge an eine einwöchige Dienstzeit als Peschmerga zwei dienstfreie Wochen anschlossen und er in dieser Zeit anderweitigen beruflichen Tätigkeiten (Arbeiter bzw. Tischler auf Baustellen, Taxilenker) nachging, um sein Einkommen aufzubessern. Der Vater war damit nicht ausschließlich von seinem Gehalt als Berufssoldat abhängig, vielmehr hatte er genügend dienstfreie Zeit für andere Tätigkeiten und nutzte die Zeit auch dafür.

Die behauptete existenzielle Krise in Gestalt wiederkehrender Obdachlosigkeit und die in den Raum gestellte Armut der Familie bzw. der Familienmitglieder des Beschwerdeführers kann jedoch in Anbetracht der liquide verfügbaren maßgeblichen finanziellen Mittel für die Schleppung nach Europa nicht nachvollzogen werden. Vielmehr ist von bescheidenen, aber stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen vor der Ausreise auszugehen, wobei freilich der Wunsch nach einer Verbesserung die wirtschaftlichen Verhältnisse als schlüssiges Ausreisemotiv gesehen werden kann.

2.7.3. Zum soziokulturellen Hintergrund und zur allgemeinen Lage der Familie des Beschwerdeführers vor der Ausreise:

Die Familie des Beschwerdeführers gehört ausweislich des Vorbringens des seiner Eltern keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Sie brachten weder eine politische Betätigung vor der Ausreise substantiiert vor, noch zivilgesellschaftliche Aktivitäten (etwa die Teilnahme an Demonstrationen), die auf eine exponierte Stellung vor der Ausreise hinweisen würden.

Die Familie des Beschwerdeführers gehört außerdem der kurdischen Volksgruppen an und bekennt sich den Angaben seiner Eltern zufolge zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung. Sie gehören damit der in der autonomen Region Kurdistan mehrheitlich vertretenen Ethnie bzw. Religionsgemeinschaft an und sind in dieser

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Hinsicht ebenfalls nicht exponiert. Schwierigkeiten aufgrund der religiösen bzw. ethnischen Zugehörigkeit vor der Ausreise kamen im Verfahren nicht hervor.

Schließlich wurde im Verfahren nicht vorgebracht, dass die Familie des Beschwerdeführers vor ihrer Ausreise von den vorstehend erörterten Aspekten abgesehen einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte in ihrem Herkunftsstaat ausgesetzt waren, sodass auch keine dahingehenden Feststellungen zu treffend waren.

2.8. Zur Lage im Rückkehrfall:

2.8.1. Da das Vorbringen des Vaters des Beschwerdeführers betreffend die behauptete individuelle Gefährdung aufgrund der Umstände seines Ausscheidens aus dem Dienst nicht als glaubwürdig anzusehen war und den Feststellungen nicht zugrunde gelegt werden konnte, kann daraus auch keine glaubhafte Gefährdung im Rückkehrfall abgeleitet werden. Insbesondere ist der Lage des Falles nach nicht von einem unbefugten Entfernen vom Dienst bei den bei den kurdischen Peschmerga auszugehen, sodass daraus erwachsende Unrechtsfolgen im Rückkehrfall schon von vornherein ausgeschlossen werden können. Darüber hinaus findet eine strafgerichtliche Verfolgung von Deserteuren in der autonomen Region Kurdistan den Feststellungen zufolge nur dann statt, wenn diese ihre Waffe nicht abgegeben bzw. weiterverkauft haben. Beide Fälle treffen auf den Vater nicht zu. Er lief auch nicht zum Feind (Islamischer Staat) über, sodass im Ergebnis eine Strafverfolgung selbst dann ausgeschlossen werden kann, wenn er sich entgegen den getroffenen Feststellungen tatsächlich unbefugt vom Dienst bei den Peschmerga entfernt hätte.

Eine von seinem Kommandanten ausgehenden individuelle Gefährdung im Rückkehrfall erweist sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes - wiederum nur für den Fall, dass sich der Vater entgegen den getroffenen Feststellungen doch unbefugt vom Dienst bei den Peschmerga entfernt hätte - ebenfalls als nicht glaubhaft. Der Vater des Beschwerdeführers ist in keinster Weise exponiert, schon deshalb ist nicht erkennbar, weshalb sein Kommandant nach mehr als dreijähriger Abwesenheit noch ein aktuelles Verfolgungsinteresse in Ansehung des Vaters hegen sollten. Dazu tritt, dass die militärischen Auseinandersetzungen mit den Milizen des Islamischen Staates bereits Ende des Jahres 2017 erfolgreich beendet wurden. Vor diesem Hintergrund ist kein Bedürfnis einer Verfolgung von einstigen Deserteuren aus generalpräventiven oder anderweitigen grundsätzlichen Erwägungen erkennbar. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes würde eine Rückkehr des Vaters in die autonome Region Kurdistan auf niemandes Interesse stoßen.

2.8.2. Die Mutter des Beschwerdeführers brachte keine eigenen Rückkehrbefürchtungen vor. Sie ist eine verheiratete Frau, die gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren Kindern zurückkehren würde. Eine allenfalls amtswegig wahrzunehmende und aus traditionellen Werten oder Stammesstrukturen resultierende Rückkehrgefährdung ist nicht erkennbar. Ansatzpunkte für eine geschlechtsspezifische Verfolgung der Mutter des Beschwerdeführers offenbarten sich in der Befragung ebenfalls nicht. Sie gehört schließlich keiner der in den Beschwerden angesprochenen bzw. in länderkundlichen Berichten ersichtlichen Risikogruppen (wie etwa alleinstehende oder geschiedene Frauen, von Zwangsverheiratung oder Genitalverstümmelung bedrohte Frauen) an.

2.8.3. Die minderjährigen Geschwister des Beschwerdeführers sind - ebenso wie der Beschwerdeführer selbst - im Fall einer Rückkehr in den Irak und dort in der autonomen Region Kurdistan nicht maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von geschlechtsspezifischer Gewalt einschließlich Zwangsprostitution, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit oder Zwangsehe betroffen.

In den gegenständlichen Verfahren wurde zunächst kein dahingehendes substantiiertes Vorbringen erstattet. Ein erhöhtes Risiko im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt kann der vorgebrachten und festgestellten Familienstruktur ebensowenig entnommen werden, wie den anderweitigen Ausführungen der Eltern des Beschwerdeführers. Den Feststellungen zufolge stellt Kinderprostitution und das Eingehen von Zeitehen zwar ein Problem dar, insbesondere aber unter Binnenvertriebenen. Im gegenständlichen Fall kann eine individuelle Betroffenheit der minderjährigen Geschwister im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt der Sachlage nach ausgeschlossen werden.

Eine Zwangsehe bzw. Zwangsarbeit müsste (vorrangig) von den Eltern des Beschwerdeführers ausgehen, entsprechende Absichten, die minderjährigen Geschwister einer Zwangsverheiratung oder der Zwangsarbeit zuzuführen, traten im Verfahren nicht zutage. Den Feststellungen zufolge betrugt der Anteil an arbeitenden Kindern im Gouvernement Erbil zuletzt knapp unter 2% der Kinder zwischen 6 und 14 Jahren, sodass auch unter statistischen Gesichtspunkten die maßgebliche Gefahr von Zwangsarbeit bzw. Kinderarbeit im Rückkehrfalls vereint werden kann.

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Zwangsrekrutierung kommt den Feststellungen zufolge bei den kurdischen Peschmerga nicht vor, es ist lediglich ein Fall einer Rekrutierung bekannt (wobei dessen zeitliche Einordnung nicht möglich war). Die Familie des Beschwerdeführers weist darüber hinaus keine Nähe zur Partiya Karkerên Kurdistanê auf und gehört nicht der ethno-religiösen Gruppe der Jesiden an, sodass im Hinblick auf die getroffenen Feststellungen das Risiko einer Zwangsrekrutierung ebenfalls auszuschließen ist.

2.8.4. Im Hinblick auf den gesundheitlichen Zustand der Geschwister des Beschwerdeführers wird auf die untenstehende rechtliche Beurteilung verwiesen, wobei weder aus den vorgelegten Befunden - wie eingangs bereits erörtert - noch aus dem Vorbringen der Eltern eine dauerhafte Behandlungsnotwendigkeit bzw. eine notwendige medikamentöse oder anderweitige Therapie ergibt. Dass sich die besagten Geschwister nicht in Lebensgefahr befinden und auch keine rasche und unwiederbringliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustands zu befürchten ist, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt, bedarf aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes in Anbetracht der vorgelegten Befunde keiner weiteren Erörterung und wurde seitens der beschwerdeführenden Parteien auch nicht vorgebracht. Für den Beschwerdeführer selbst wurde diesbezüglich in der rezenten BFA-Einvernahme vom 05.09.2019 durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin vorgebracht, dass er gesund sei, keiner ärztlichen Behandlung bedürfe und auch keine Medikamente einnehme.

2.8.5. Da die Familie des Beschwerdeführers keine staatliche Strafverfolgung in der autonomen Region Kurdistan aufgrund eines Kapitalverbrechens in den Raum gestellt hat, ist zur Feststellung zu gelangen, dass sie im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würde. Ebenso kann aus dem Vorbringen der Familie des Beschwerdeführers keine anderweitige individuelle Gefährdung durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe abgeleitet werden, zumal keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften vorgebracht wurden und die vorgebrachte Desertion weder glaubhaft ist, noch diese im Fall des tatsächlichen Zutreffend zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen würde.

2.8.6. Die Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan im Allgemeinen und im Gouvernement Erbil im Besonderen stabil und es ereignen sich nur vereinzelt sicherheitsrelevante Vorfälle mit einer vergleichsweise geringen Anzahl von Todesopfern. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt finden im Gouvernement Erbil nicht statt. Die militärischen Auseinandersetzungen mit den Milizen des Islamischen Staates kamen nach dessen Niederlage Ende 2017 ebenso zum Erliegen, wie die kurzzeitigen militärischen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften der irakischen Zentralregierung nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum im September 2017.

Ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Sicherheitslage in der autonomem Region Kurdistan finden nur sporadisch terroristische Aktivitäten statt. Für das Jahr 2018 sind zwei sicherheitsrelevante Vorfälle in der Stadt Erbil dokumentiert. Bei der Explosion einer Autobombe wurden zwei Personen verletzt. 2018 erschossen kurdische Sicherheitskräfte in Erbil bewaffnete Männer, die ein Regierungsgebäude gestürmt und Geiseln genommen hatten. Ein Regierungsmitarbeiter wurde dabei getötet, zwei Polizisten wurden verletzt. Die in den Feststellungen zur Sicherheitslage in der autonomem Region Kurdistan ersichtlichen Statistiken kamen im Gouvernement Erbil im Jahr 2017 16 Zivilpersonen durch Gewaltanwendung zu Tode. Im Jahr 2018 waren es 26 Zivilpersonen. In der Provinz Erbil wurde im Jahr 2017 vier Zivilpersonen Opfer tödlicher Gewalt, im Jahr 2018 neun Zivilpersonen (dies bei einer Einwohnerzahl von ca. 1.222.000 Personen).

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann in Anbetracht der erörterten Feststellungen zur Sicherheitslage im Gouvernement Erbil im Wege einer Gegenüberstellung der Einwohnerzahl zu den sicherheitsrelevante Vorfällen dargestellten Gefahrendichte nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz der Familie des Beschwerdeführers in der Stadt Erbil davon ausgegangen werden muss, dass diese wahrscheinlich Opfer eines terroristischen Anschlages, stammesbezogener Gewalt oder und krimineller Aktivtäten werden würden (vgl. VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137 zur Lage in Bagdad). Da die anderen Provinzen im Gouvernement Erbil und die anderen Gouvernements der autonomen Region Kurdistan ähnlich niedere Werte im Hinblick auf Gewaltakte an Zivilpersonen aufweisen, gilt dieser Schluss für das gesamte Gouvernement Erbil einerseits und die autonome Region Kurdistan an sich andererseits. Im gegebenen Zusammenhang wurde bereits erörtert, dass die Familie des Beschwerdeführers keine Nähe zur Partiya Karkerên Kurdistanê aufweisen. Eine individuelle Betroffenheit durch Angriffe türkischer Streitkräfte, die gegen Stellungen der PKK im Nordirak gerichtet sind, kann demnach ebenfalls ausgeschlossen werden. Überhaupt wurden risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf Familie des Beschwerdeführers, welche zu einer im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung stark erhöhte Gefährdung durch terroristische Aktivitäten oder im Hinblick auf stammesbezogene Gewalt oder kriminelle Aktivtäten hindeuten würden, im Verfahren nicht vorgebracht. Eine dahingehende darstellbare Gefährdung im Rückkehrfall kann sohin ausgeschlossen werden.

2.8.7. Die Feststellungen betreffend die (grundsätzliche) Arbeitsfähigkeit der Eltern des Beschwerdeführers beruhen auf den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die jeweils konsumierte www.ris.bka.gv.at Seite 56 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Ausbildung und die im Herkunftsstaat ausgeübte Berufstätigkeit. Der Eltern zeigten sich an einer Erwerbstätigkeit interessiert und brachten keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor, welche die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen würden.

2.8.8. Die Familie des Beschwerdeführers ist in der autonomen Region Kurdistan und dort im Gouvernement Erbil geboren und aufgewachsen und mit der Sprache sowie den Gebräuchen in ihrem Herkunftsstaat vertraut. Sie gehören der im Gouvernement Erbil mehrheitlich vertretenen kurdischen Volksgruppe und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an. Da die Familie des Beschwerdeführers nach wie vor über zahlreiche enge Verwandte in der Stadt Erbil bzw. im Gouvernement Erbil verfügen, werden sie umgehend sozialen Anschluss im Fall einer Rückkehr in die Herkunftsregion vorfinden, sodass Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung ausgeschlossen werden können.

Im Hinblick auf den minderjährigen Beschwerdeführer und seine ebenfalls minderjährigen Geschwister ist bereits an dieser Stelle festzuhalten, dass sich diese allesamt in einem anpassungsfähigen Alter (vgl. dazu statt aller VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0059). Sie sind ferner der Sprache Sorani mächtig, was sich schon daraus ergib, dass mit der Mutter eine Verständigung in deutscher Sprache nicht möglich ist und der Vater über nur grundlegende Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 verfügt, sodass davon auszugehen ist, dass die Familie des Beschwerdeführers untereinander Sorani sprechen. Die beiden ältesten Kinder haben außerdem die ersten Lebensjahre im Herkunftsstaat verbracht. Der Beschwerdeführer und sein um ein Jahr älterer - ebenfalls erst im Bundesgebiet geborener - Bruder sind in Anbetracht ihrer Lebensalter im gegebenen Zusammenhang erst eingeschränkt wahrnehmungsfähig. In Ansehung der Schwester des Beschwerdeführers kann in Anbetracht der gemeinsamen Rückkehr im Familienverband davon ausgegangen werden, dass aufgrund der Anwesenheit sämtlicher Bezugspersonen und aufgrund der noch begrenzen Einsichtsfähigkeit als Kleinkind keine das Kindeswohl beeinträchtigende Entwurzelung eintritt (VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162,) auch wenn sie den Herkunftsstaat im Alter von ca. fünf Monaten verließ und demgemäß einen höheren Anteil ihres Lebens im Bundesgebiet zubrachte. Im Detail wird hiezu auf die Erwägungen unter Punkt 3.4.5. verwiesen.

2.8.9. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 MRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 21.02.2017, Ro 2016/18/0005).

In Ansehung der Familie des Beschwerdeführers - die eine fehlende Lebensgrundlage im Rückkehrfalls behaupten - sind folgende Erwägungen zu im Rückkehrfall zu erwartenden sozioökonomischen Lage maßgeblich:

Der Vater des Beschwerdeführers hat in Erbil grundlegende Schulbildung konsumiert und trat anschließend als Arbeiter bzw. Tischler auf Baustellen in das Berufsleben ein. Ferner verpflichtete er sich als Berufssoldat, übte jedoch in der dienstfreien Zeit weiterhin die Tätigkeit als Handwerker aus und betätigte sich ferner als Taxifahrer. Er konnte sein Auskommen mehrere Jahre durch eigene Erwerbstätigkeit bestreitet. Dass er mit seiner Familie vor der Ausreise in eine existentielle Notlage geriet, ist ausweislich der vorstehenden Erwägungen nicht glaubhaft.

Es steht dem Vater im Fall einer Rückkehr frei, den vor der Ausreise ausgeübten Tätigkeiten im Rückkehrfall neuerlich nachzugehen. Ebenso ist ihm die Aufnehme einer anderweitigen Erwerbstätigkeit - sei es im Handel, in der öffentlichen Verwaltung oder in der Gastronomie - möglich und zumutbar. Er ist jung und arbeitsfähig, er brachte im Verfahren keine Gründe vor, die der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Rückkehrfall grundsätzlich entgegenstehen würden.

Neben der Inanspruchnahme der im Rahmen der freiwilligen Rückkehr sämtlichen Fremden ausbezahlten Geldleistung steht es ihm auch frei, im Rückkehrfall zum Zweck der Eröffnung eines neuen Geschäftes oder Betriebes am ERIN-Programm teilzunehmen. ERIN ist ein Rückkehr- und Reintegrationsprogramm auf europäischer Ebene mit dem Hauptziel, Reintegrationsunterstützung im Herkunftsland anzubieten. ERIN ist eine Spezifische Maßnahme (Specific Action) im Rahmen des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU, wird von den Niederlanden (Repatriation and Departure Service (R&DS) - Ministry of Security and Justice of the Netherland) geleitet und zu 90% aus Europäischen Mitteln finanziert.

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Im Rahmen des ERIN Programms erhält jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin eine Reintegrationsleistung in der Höhe von 3.500 Euro, wobei 500 Euro als Bargeld und 3.000 Euro als Sachleistung vom Service Provider im Herkunftsland ausgegeben werden. Während die Geldleistung grundsätzlich dazu gedacht ist die unmittelbaren Bedürfnisse nach der Rückkehr zu decken, dient die Sachleistung insbesondere als Investition zur Schaffung einer Existenzgrundlage und trägt somit zu einer nachhaltigen Rückkehr bei. Von Juni 2016 bis Jänner 2018 erhielten 843 Personen im Rahmen ihrer Rückkehr von Österreich in ihr Heimatland Reintegrationsunterstützung über das ERIN-Programm. Unter Berücksichtigung von Familienangehörigen kehrten im selben Zeitraum sogar 1.254 Personen freiwillig in ihr Heimatland zurück. Aktuell wird die ERIN-Reintegrationsunterstützung im Zentralirak und in der autonomen Region Kurdistan zur Verfügung gestellt (http://www.bmi.gv.at/107/EU_Foerderungen/Finanzrahmen_2014_2020/AMIF/ERIN.aspx). Die Teilnahme an diesem Programm vermittelt hinreichende Starthilfe für eine selbständige Tätigkeit und den Aufbau eines eigenen Geschäftes, etwa als Tischler, für sonstige bauwirtschaftsbezogene Dienstleistungen, als Transportunternehmer wie Bus- oder Taxifahrer oder in der Gastronomie.

Im Hinblick auf das Vorbringen der Familie des Beschwerdeführers insbesondere in der mündlichen Verhandlung verkennt das Bundesverwaltungsgericht im gegebenen Zusammenhang nicht, dass die wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan angespannt ist. Die Arbeitslosenrate beträgt im Gouvernement Erbil 9,2 Prozent, wobei die Arbeitslosenrate unter niedrig qualifizierten Personen geringer ist. Die Feststellungen bieten demnach keinen Anlass für die vorgetragene Befürchtung, in der autonomen Region Kurdistan keine existenzsichernde Arbeit zu finden. Zwar ist die Arbeitslosenrate im Vergleich zu europäischen Werten leicht erhöht, von Massenarbeitslosigkeit kann jedoch keine Rede sein. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes kann schon ob des persönlichen Profils des Vaters des Beschwerdeführers einerseits und der den Feststellungen zu entnehmenden statistischen Werde andererseits davon ausgegangen werden, dass er im Rückkehrfall - entsprechendes Engagement und Anspannung vorausgesetzt - eine seinen Kenntnissen und Erfahrungen entsprechende Stellung erlangen wird.

Entsprechendes gilt auch für die Mutter des Beschwerdeführers, wobei diese im Rückkehrfall (in Anbetracht der vor der Ausreise gelebten Aufteilung der alltäglichen Besorgungen) weiterhin vorranging mit der Betreuung der fünf minderjährigen Kinder ausgelastet sein wird. Dennoch erachtet es das Bundesverwaltungsgericht als grundsätzlich möglich, dass auch die Mutter fallweise durch die Verrichtung von Gelegenheitsarbeiten oder einer gelegentlichen Tätigkeit als Friseurin - wiederum entsprechendes Engagement und Anspannung vorausgesetzt - einen Beitrag zum Familieneinkommen wird leisten können.

Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens verdeutlichen zusammengefasst, dass der Vater über schulische Ausbildung und langjährige Berufserfahrung verfügt. Die Mutter wurde alphabetisiert und erlernte den Beruf der Friseurin. Beide Eltern sind arbeitsfähig und leiden unter keinen Beeinträchtigungen. In Anbetracht der festgestellten wirtschaftlichen Lage geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Vater ungeachtet der wirtschaftlichen Schwierigkeiten rasch eine adäquate Beschäftigung in einem der oben angesprochenen Bereiche auffinden wird und der Mutter zumindest eine gelegentliche Erbringung von Hilfstätigkeiten oder tageweise Tätigkeiten dann möglich und zumutbar erscheinen, wenn sie nicht durch Betreuungspflichten daran gehindert ist (etwa an dienstfreien Tagen des Vaters). Das Bundesverwaltungsgericht kann auch keinen Grund erkennen, der den Vater daran hindern würde, neuerlich einer Tätigkeit als Berufssoldat (Peschmerga) oder sonst im Sicherheitsbereich nachzugehen. Das Gehalt als Peschmerga beträgt zumindest USD 400,00. Die dienstfreie Zeit ermöglicht eine weitergehende berufliche Betätigung zur Aufbesserung des Gehaltes, wie dies bereits vor der Ausreise erfolgte.

Für die erste Zeit nach der Ankunft steht im Übrigen die Reintegrationshilfe zur Verfügung, die in Anbetracht der Anzahl der Familienmitglieder entsprechend ausfallen wird.

Die Familienmitglieder des Beschwerdeführers sind als irakische Staatsbürger außerdem berechtigt, am Public Distribution System (PDS) teilzunehmen, einem sachleistungsorientierten Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft und an die Bevölkerung verteilt und dermaßen eine Grundsicherung bei der Nahrungsmittelversordnung herstellen soll. Mit einer Lebensmittelbezugskarte können monatliche Nahrungsmittelrationen pro Person von 9kg Weizen, 3kg Reis, 2kg Zucker, einem Liter pflanzlichem Öl und drei Packungen (450g) Milchpulver bezogen werden. Da die Familie des Beschwerdeführers an ihren Herkunftsort zurückkehrt, wo sie ordnungsgemäß registriert wird, sind keine Schwierigkeiten bei der Ausgabe von Lebensmittelbezugskarten zu erwarten. Das PDS arbeitet zwar den Feststellungen zufolge mit Verzögerungen und wird ineffizient geführt. Dennoch kann zumindest von einem Beitrag zur Bestreitung des Bedarfs an Grundnahrungsmitteln ausgegangen werden.

Im Hinblick auf die notwendige Unterkunft erscheint eine Mietunterkunft im Zentrum Erbils in hinreichender Größe derzeit unerschwinglich. Die Familie des Beschwerdeführers war vor der Ausreise in einem nicht zentral www.ris.bka.gv.at Seite 58 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 gelegenen Stadtteil Erbils beheimatet. Ausweislich der Feststellungen zur sozioökonomischen Lage im Herkunftsstaat sind Unterkünfte außerhalb des Stadtzentrums für gewöhnlich günstiger. Der Familie des Beschwerdeführers steht außerdem die Möglichkeit offen, sich in einer Ortschaft in der Umgebung von Erbil niederzulassen und dermaßen den Anteil der Wohnkosten zu reduzieren, zumal auch zahlreiche Verwandte der Zweitbeschwerdeführerin außerhalb der Stadt Erbil in Dörfern leben.

Der Vater und die Mutter des Beschwerdeführers verfügen außerdem über ein aufgrund der Größe leistungsfähiges familiäres Netz in ihrer Herkunftsregion. Der Vater verfügt über einen berufstätigen Vater in Erbil, einen seiner Brüder und drei Schwestern. Die Zweitbeschwerdeführerin verfügt über ihre Mutter, drei Schwestern und zwei Brüder in der Herkunftsregion. Ein Großteil der Geschwister ist verheiratet und hat seinerseits - eine teilweise große Anzahl - Nachkommen. Wiewohl die Verwandten der Familie des Beschwerdeführers selbst in bescheidenen Verhältnissen leben, kann aufgrund ihrer Anzahl davon ausgegangen werden, dass zumindest anfänglich eine hinreichende Unterstützung im Wege der Zurverfügungstellung von Gütern des täglichen Bedarfs, (gebrauchter) Bekleidung für Kinder, Unterkunft und der Unterstützung bei der Betreuung von Kindern stattfindet. Wenn die im Bundesgebiet aufhältigen Brüder den Vater finanziell unterstützen, ist eine solche Unterstützung weiterhin im Wege von Geldsendungen möglich und teilweise sogar mit einer höheren Kaufkraft vor Ort verbunden.

Die Familie des Beschwerdeführers brachte im Verfahren keine familiären Spannungen vor, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die familiäre Bande nicht beschädigt ist und in Anbetracht der in einem Stammessystem ausgeprägten familiären Unterstützung auch davon ausgegangen werden darf, dass eine solche im Rahmen der Leistungsfähigkeit der Verwandten in der Herkunftsregion auch erfolgt.

Gegen exzeptionelle Umstände im Rückkehrfall sprechen schließlich entschieden einerseits die Familienverhältnisse und andererseits die Feststellungen zur sozioökonomischen Lage in der Herkunftsregion. Im Hinblick auf die Familienverhältnisse ist evident, dass der die Eltern des Beschwerdeführers über zahlreiche in der Herkunftsregion lebende Geschwister verfügen, von welchen die überwiegende Mehrheit verheiratet ist und über bis zu sechs Kinder verfügt. Die Einbettung in eine Großfamilie ist daher als Regelfall in der Herkunftsregion anzusehen. In Anbetracht des Vorbringens im Verfahren kann das Bundesverwaltungsgericht nicht nachvollziehen, weshalb der Bruder des Vaters des Beschwerdeführers als Arbeiter und Vater von sechs Kindern in der Herkunftsregion eine Existenzgrundlage vorfindet, dies aber dem Vater des Beschwerdeführers selbst nicht möglich sein sollte. Entsprechendes gilt für die Verwandten der Mutter. Im gegeben Kontext ist von Bedeutung, dass nach der Rechtsprechung das Vorliegen exzeptioneller Umstände detailliert und konkret darzulegen ist, umso mehr als das Vorhandensein naher mehrerer naher Verwandter mit Großfamilien in der Herkunftsregion dafür spricht, dass - zumindest im Regelfall - sehr wohl auch für kinderreiche Familien eine Lebensgrundlage besteht. Gerade der Vater verabsäumte die Möglichkeit, in der mündlichen Verhandlung darzulegen, weshalb ihm im Gegensatz zu seinem Bruder nicht möglich sein sollte, im Rückkehrfall eine Existenzgrundlage für sich und seine Familie zu schaffen. Er begnügte sich mit dem Hinweis, dass sein Bruder "in Armut" leben würde. Eine glaubhafte Darstellung exzeptioneller Umstände im Sinn der eingangs zitieren Rechtsprechung kann darin nicht gesehen werden, zumal die Aussage per se nur den Schluss zulässig, dass der Vater einen im Vergleich zu seinem Bruder besseren sozialen Status anstrebt, jedoch dem Asylwesen im gegebenen Zusammenhang nicht die Aufgabe zukommt, den sozialen Status von Personen zu verbessen, sondern lediglich die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK hintanzuhalten.

Hinsichtlich der statistischen Daten wird einerseits auf die bereits angesprochene Arbeitslosenrate hingewiesen, die keine Massenarbeitslosigkeit erkennen lässt. Abseits davon legt das Fehlen von Berichten über massenhaftes Elend, Hunger und Auswanderungswellen nahe, dass die wirtschaftliche Lage zwar angespannt ist, aber eine Existenzgrundlage ohne weitere bejaht werden kann (siehe dazu auch die Erwägungen betreffend die minderjährigen Beschwerdeführer sogleich unter 2.8.10).

Davon abgesehen gehört die Familie des Beschwerdeführers keiner ethnischen oder religiösen Minderheit an, sodass auch diesbezüglich keine Vulnerabilität oder Schwierigkeiten beim Eintritt in das Erwerbsleben oder der Erlangung einer Unterkunft im Fall einer Rückkehr erkannt werden können.

2.8.10. Schließlich ist im vorliegenden Revisionsfall zu beachten, dass es sich bei den beschwerdeführenden Parteien um eine Familie mit vier minderjährigen Kindern und bei letzten um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe handelt. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den beschwerdeführenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besonders zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien tatsächlich vorfinden (siehe dazu statt aller VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336 mwN; VfGH 11.12.2018, E 2025/2018).

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Eingangs ist festzuhalten, dass von einer Rückkehr der fünf minderjährigen Geschwister gemeinsam mit ihren Eltern auszugehen ist, sodass die Betreuung und Beaufsichtigung der minderjährigen Kinder sichergestellt ist. Darüber hinaus ist in der Herkunftsregion wie soeben erörtert ein familiäres Netzwerk vorhanden, welches ebenfalls subsidiär im Fall der Notwendigkeit für die Kinderbetreuung herangezogen werden könnte. Eine inadäquate Beaufsichtigung ist daher fallbezogen nicht zu befürchten.

Die drei ältesten Kinder sind schuldpflichtig. Ausweislich der Feststellungen sind im Irak alle Ausbildungsstufen kostenlos, von der Volksschule bis zur Hochschule. In der autonomen Region Kurdistan umfasst die Grundschule neun Jahre und wird mit einer nationalen Prüfung abgeschlossen, mit der auch der mittlere Schulabschluss erreicht wird. Nach Abschluss der Mittelschule können die Schülerinnen und Schüler ihren Bildungsweg fortsetzen, indem sie sich entweder für eine allgemeine Sekundarschule (al-i'dadiya) oder eine berufliche Ausbildung in verschiedenen Bereichen entscheiden.

96 Prozent der Kinder in der autonomen Region Kurdistan besuchen eine Grundschule, 67 Prozent der Kinder besuchen in der Folge die erste Sekundarstufe. Der Unterricht wird ausweislich der Feststellungen mittels traditioneller, rigider Lehrmethoden aufgebaut, bei denen der Unterrichtsinhalt in einer monotonen und nicht sehr ansprechenden Weise vermittelt wird. Darüber hinaus leidet das Schulsystem an einem Investitionsstau im Hinblick auf die Schulgebäude sowie einer Unterbezahlung im Hinblick auf die Lehrkräfte, was fallweise dazu führt, dass der schulbetrieb in mehreren Schichten abgewickelt wird. Dessen ungeachtet ist entscheidungswesentlich, dass ein kostenloses Schulsystem eingerichtet ist und den Feststellungen keine Hinweise auf Diskriminierung beim Zugang zum Schulsystem entnommen werden können. In Anbetracht dessen werden sämtliche minderjährigen Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr Zugang zu schulischer Ausbildung vorfinden, wobei die Einschulungsrate im Gouvernement Erbil 91 Prozent beträgt und kein Hinweis erkennbar ist, dass gerade den minderjährigen Geschwistern und dem Beschwerdeführer selbst von ihren Eltern oder Dritten der Zugang zum Ausbildungssystem verunmöglicht werden sollte. Die gegenteilige Behauptung der Mutter ist nicht nachvollziehbar. Wenn die Mutter in diesem Zusammenhang auf die sichtbaren Folgen der Operation des zweitältesten Sohnes am Gaumen bzw. der Nase hinweist, kann das Bundesverwaltungsgericht dennoch im Kontext der Feststellungen nicht erkennen, inwieweit dieser vom Schulbetrieb ausgeschlossen sein sollte. Dass eine sichtbare Narbe allenfalls zu Diskriminierung durch einzelne Mitschüler führt, ist nicht der Lage im Herkunftsstaat geschuldet und könnte es im Bundesgebiet gleichermaßen zu einer solche Situation kommen. Ein schlechtes Unterrichtsniveau oder Defizite bei der Qualität der Schulgebäude kann nicht als drohende Verletzung von durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten gesehen werden.

Den minderjährigen Geschwistern steht auch ein adäquater Zugang zu medizinischer Versorgung offen, wobei bereits erörtert wurde, dass ein akuter Behandlungsbedarf im Hinblick auf die beiden ältesten Söhne nicht feststellbar ist und die minderjährigen Geschwister allesamt keine Medikamente benötigen.

In Dohuk wird das pädiatrische Krankenhaus "Heevi" betrieben. Heevi ist das einzige spezialisierte Kinderkrankenhaus im Nordirak. Die Unterstützung der WHO war entscheidend für ihre Mission, den am stärksten gefährdeten Familien im Irak eine qualitativ hochwertige tertiäre Versorgung zu bieten. In Zusammenarbeit mit der NGO Italian Association for Solidarity among People (AISPO) und des Gesundheitsdirektorats Dohuk wurde das Krankenhaus renoviert und mit modernsten Maschinen ausgestattet. Es wurde eine pädiatrische Intensivstation geschaffen und eine semi-intensive neonatale Einheit (NICU) erweitert und ausgestattet. Das Personal wurde nach internationalen Standards geschult. Der Familie des Beschwerdeführers ist es in diesem Zusammenhang zumutbar, im Fall einer notwendigen pädiatrischen fachärztlichen Behandlung Dohuk aufzusuchen (Entfernung ca. 160 km). Bei akuten bzw. herkömmlichen Erkrankungen stehen in Erbil - einer Großstadt mit einer Einwohnerzahl von ca. 1.222.000 Personen - zahlreiche Spitäler und niedergelassene Ärzte zur Verfügung (zB das Rizgary Teaching Hospital, wobei der Zugang zum Gesundheitssystem ausweislich der Feststellungen für irakische Staatsbürger kostenfrei ist und in öffentlichen Einrichtungen nur geringe Gebühren zB für Medikamente entrichtet werden müssen. Die Ausführungen insbesondere der Mutter betreffend Nichtverfügbarkeit einer medizinischen Versorgung im Irak können deshalb nicht nachvollzogen werden. Die Mutter äußerte sich dahingehend auch widersprüchlich, zumal sie vor dem belangten Bundesamt auf Nachfrage einräumen musste, dass sehr wohl Behandlungsmöglichkeiten im Hinblick auf den zweitältesten Sohn vorhanden waren, ferner kam hervor, dass der Viertbeschwerdeführer im Irak sogar operiert wurde, was jedoch Geld gekostet habe. Auch vor dem Bundesverwaltungsgericht vertrat die Mutter zunächst die Auffassung, dass es im Irak keine (!) medizinische Versorgung geben würde, eine Behauptung, die schon durch die vorliegenden Berichte wiederlegt ist und nur demonstriert, dass sich die Mutter auch haltloser Vorbringen bedient, um ihre Situation im Verfahren zu verbessern. In der Folge legte sie nämlich auch in der mündlichen Verhandlung dar, dass der zweitälteste Sohn "über 15- mal in das Spital" gebracht worden sei, aber das Wissen der Ärzte nicht ausgereicht habe. Ausgehend davon ist zunächst festzuhalten, dass schon in Anbetracht des Vorbringens von vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten und einem dazu gegebenen Zugang auszugehen ist. Dass sich die Mutter mit dem Qualitätsniveau der Ärzte unzufrieden zeigt, ist im gegebene Zusammenhang schon deshalb unerheblich, weil im Verfahren nicht hervorkam, dass der zweitälteste Sohn www.ris.bka.gv.at Seite 60 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 infolge einer ihm verweigerten oder aus anderen Gründen nicht zuteil gewordenen medizinischen Versorgung einer gravierenden gesundheitlichen Gefährdung vor der Ausreise ausgesetzt war. Der Wunsch nach einer qualitativ besseren medizinischen Behandlung - mag er auch nachvollziehbar sein, gerade wenn es wie im vorliegenden Fall auch um kosmetische Aspekte geht - steht einer Außerlandesbringung nämlich nach der Rechtsprechung nicht entgegen. Es hat kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland einer Abschiebung nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaats gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche außergewöhnlichen Umstände können im gegenständlichen Fall nicht erkannt werden, wobei abschließend nochmals darauf hingewiesen wird, dass der zweitälteste Sohn die noch erforderliche Operation im Bundesgebiet erhalten hat und der älteste Sohn ebenfalls nach Durchführung der erforderlichen Operationen an keinen akut zu behandelnden schweren Erkrankungen leidet.

Die medizinische Versorgung in der autonomen Region Kurdistan lässt zusammenfassend aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes keine Verletzung von durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten der minderjährigen Geschwister sowie des Beschwerdeführers selbst erwarten.

Im Vergleich zur pränatalen Versorgung war der Zugang zur postnatalen Versorgung in der autonomen Region Kurdistan den Feststellungen zufolge geringer (73% der stillenden Frauen). Obwohl Leistungen zur Verfügung standen, hatten Frauen in der Regel aus persönlichen Gründen, mangelndem Bewusstsein für die Existenz dieser Leistungen oder der Bedeutung des Zugangs zu diesen Leistungen keinen Zugang zur postnatalen Versorgung. Ausgehend davon gelangt das Bundesverwaltungsgericht zur Auffassung, dass der Mutter des Beschwerdeführers im Rückkehrfall Zugang zu postnataler Versorgung im Rückkehrfall zur Verfügung steht.

Dass den minderjährigen Geschwistern und dem Beschwerdeführer selbst im Rückkehrfall nicht geschlechtsspezifische Gewalt, Zwangsprostitution, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit oder Zwangsehe droht, wurde eingangs bereits erörtert.

Das Bundesverwaltungsgericht kann außerdem in Ansehung der minderjährigen Geschwister und des Beschwerdeführers nicht die reale Gefahr erkennen, im Rückkehrfall von häuslicher Gewalt betroffen zu sein. Die Eltern des Beschwerdeführers vermittelten nach Durchsicht des Gerichtsaktes den Eindruck, am Wohlergehen ihrer minderjährigen Kinder interessiert zu sein. Hinweise auf gewalttätige Übergriffe auf die minderjährigen Beschwerdeführer im Bundesgebiet liegen nicht vor. Die Eltern des Beschwerdeführers brachten auch keine von Verwandten im Herkunftsstaat potentiell ausgehenden Gewalttätigkeiten vor. Ausgehend davon ist nicht zu besorgen, dass die minderjährigen Geschwister nicht die reale Gefahr erkennen, im Rückkehrfall von häuslicher Gewalt betroffen wären.

Ob der Erwägungen unter Punkt 2.8.6. und den getroffenen Feststellungen zur Sicherheitslage ist nicht zu besorgen, dass die minderjährigen Geschwister als besonders vulnerable Personen im Rückkehrfall von terroristische Aktivitäten oder stammesbezogener Gewalt oder kriminellen Aktivtäten überhaupt betroffen wären. Ein dahingehendes substantiiertes Vorbringen wurde im Verfahren nicht erstattet und es kann das Bundesverwaltungsgericht in Ansehung der persönlichen Profile der Familie des Beschwerdeführers auch kein amtswegig wahrzunehmendes besonderes Gefährdungsmoment erkennen. Die Sicherheitslage im Gouvernement Erbil ist stabil und es ereignen sich nur vereinzelt sicherheitsrelevante Vorfälle mit einer vergleichsweise geringen Anzahl von Todesopfern. In Anbetracht der in den Feststellungen dargestellten Gefahrendichte kann im Ergebnis ausgeschlossen werden, dass die minderjährigen Geschwister im Rückkehrfall von terroristischer, stammesbezogener oder krimineller Gewalt betroffen wären.

In Anbetracht der getroffenen Feststellungen zur sozioökonomischen Lage in der autonomen Region Kurdistan besteht schließlich nicht die reale Gefahr, dass die minderjährigen Geschwister im Rückkehrfall von einer unzureichenden Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern oder von Unterernährung betroffen sind. Der Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen ist in der autonomen Region Kurdistan mit einem Wert von 98 Prozent sehr hoch, auch wenn es eine Herausforderung darstellt, weiterhin sicherzustellen, dass alle Familien Zugang zu sauberem Trinkwasser vor Ort haben. Den Feststellungen zufolge sind 2,9% der Kinder unter 5 Jahren im Irak leicht untergewichtig sind. 2,5 Prozent der Kinder leiden unter mittlerem oder starken Untergewicht. 9,9 Prozent der Kinder sind in ihrem Wachstum zurückgebliebenen. Nach den allgemeinen Merkmalen sind die Indikatoren für Unterernährung in der Regel in der Region Kurdistan im Vergleich zu Mittel- und Südirak geringer, aber die Unterschiede sind nicht groß. Da die beiden ältesten Geschwister des Beschwerdeführers erwiesenermaßen in gutem Allgemeinzustand sind und bereits vorstehend erörtert wurde, dass die von der Familie des Beschwerdeführers im Verfahren skizzierte existenzbedrohende Notlage vor der Ausreise nicht glaubhaft ist, kann ein Versorgungsengpass vor der Ausreise ausgeschlossen werden. Das www.ris.bka.gv.at Seite 61 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Bundesverwaltungsgericht kann in diesem Zusammenhang nicht erkennen, weshalb für den Rückkehrfall zu einer anderslautenden Prognose zu gelangen wäre.

Hinweise auf Versorgungsengpässe bzw. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen (Windeln, Babynahrung, Obst, Milch, medizinische Produkte) liegen ausweislich der Feststellungen nicht vor. Der Anteil der in Armut lebenden Kinder in der Region Kurdistan beträgt weniger als 6% gegenüber nahezu 50% in den südlichen Gouvernements des Irak wie Muthanna, Qadissiya, Missan und Thi- Qar. Die Kindersterblichkeit ist in der autonomen Region Kurdistan deutlich niedriger als in anderen Gebieten im Irak.

Ausgehend von den statistischen Daten, den persönlichen Profilen der der Familie des Beschwerdeführers und den Erwägungen zur Lebensgrundlage im Herkunftsstaat unter Punkt 2.8.9. geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die minderjährigen Geschwister und der Beschwerdeführer selbst im Wege der Versorgung durch ihre Eltern, die für sie bestimmten Zuwendungen des PDS und der durch das familiäre Netzwerk erlangbare Hilfe nicht nur eine hinreichende Absicherung im Hinblick auf die Güter des täglichen Bedarfs sondern insbesondere auch im Hinblick auf ihre altersgerechten Bedürfnisse erfahren werden. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass die in der Herkunftsregion lebenden Geschwister des Vaters und der Mutter des Beschwerdeführers selbst in Familien mit bis zu sechs Kindern leben, ohne zur Ausreise gezwungen zu sein. Bei der im gegenständlichen Fall veranlassten Recherche konnten auch keine wie auch immer geratenen Hinweise aufgefunden, dass Kinderarmut in der autonomen Region Kurdistan eine ernstzunehmende Erscheinung darstellen würde. Demgemäß weisen die vorstehend dargelegten statistischen Werte - die vor dem Hintergrund zu lesen sind, dass sich in der autonomen Region Kurdistan auch zahlreiche Binnenvertriebene aufhalten, die teilweise in prekären Verhältnissen in Flüchtlingslagern leben - auch darauf hin, dass keine exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen würden, dass die minderjährigen Geschwister und der Beschwerdeführer selbst in der autonomen Region Kurdistan keine Lebensgrundlage vorfinden könnten. Insbesondere ist nicht erkennbar, weshalb es dem Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers gelingt, als Arbeiter eine Familie mit sechs Kindern zu erhalten, dies dem Vater des Beschwerdeführers selbst jedoch nicht möglich sein sollte. Eine nachvollziehbare Erklärung wurde dazu - wie bereits erörtert - in der mündlichen Verhandlung nicht dargeboten. Vielmehr ist - wie bereits erörtert - davon auszugehen, dass die minderjährigen Geschwister im Wege der Versorgung durch ihre Eltern, die für sie bestimmten Zuwendungen des PDS und der durch das familiäre Netzwerk erlangbare Hilfe eine hinreichende Absicherung im Hinblick auf die Güter des täglichen Bedarfs und ihre altersgerechten Bedürfnisse erfahren werden.

2.8.11. An dieser Stelle ist abschließend eine Auseinandersetzung mit der im Mai 2019 veröffentlichten Position des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge "International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq" erforderlich, erforderlich, da Empfehlungen internationaler Organisationen Indizwirkung nach der Rechtsprechung zukommt (VwGH 13.03.2019, Ra 2018/18/0500) und sich die angeführte Position von UNHCR ausführlich mit potentiellen Verfolgungsszenarien im Irak auseinandersetzt. Die zitierte Indizwirkung bedeutet jedoch nicht, dass das Bundesverwaltungsgericht in Bindung an entsprechende Empfehlungen etwa des UNHCR Asyl zu gewähren hat. Vielmehr ist, wenn in den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat der Einschätzung des UNHCR nicht gefolgt wird, beweiswürdigend darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte von einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat ausgegangen wird (VwGH 13.12.2010, Zl. 2008/23/0976; 06.02.2017, Ra 2017/20/0016, zur Lage im Irak).

Der zitierte Bericht kommt im Hinblick auf die Lage in der autonomen Region Kurdistan zunächst zum Ergebnis, dass die Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan relativ stabil bleibt, obwohl das Risiko von Angriffen des Islamischen Staates weiterhin besteht. Die Sicherheitskräfte wären wachsam angesichts der gemeldeten Anwesenheit von Schlafzellen und Operationen des Islamischen Staates in den südlichen Gouvernements Kirkuk und Diyala.

Unzufriedenheit über Korruption und sich verschlechternde wirtschaftliche Bedingungen, insbesondere Zahlungsverzögerungen und Kürzungen bei den Gehältern staatlicher Angestellter haben zu Protesten in Erbil und Sulaimaniyya Ende 2017 und im März 2018 geführt. Einige Proteste sollen gewalttätig geworden sein. Menschenrechtsorganisationen äußerten sich besorgt über die Behandlung von Demonstranten und Journalisten, die über Proteste berichteten. Bei türkischen Luftangriffen gegen angebliche Positionen der PKK im Nordirak komme es Berichten zufolge regelmäßig zu Opfern bei Kämpfern und Zivilisten sowie zu Sachschäden. Die Einschätzung des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge stimmt somit mit den vorstehenden Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur Sicherheitslage überein. Soweit in der Position auf ihren Seiten 46 bis 58 Einschätzungen zur humanitären Lage im Irak getroffen werden, sind diese zu allgemein gehalten und darüber hinaus auf die Lage von Binnenvertriebenen fokussiert, sodass in Anbetracht der vom Bundesverwaltungsgericht durchgeführten zielgerichteten Ermittlungen zur Lage in der autonomen Region Kurdistan daraus keine zusätzlichen Erkenntnisse für das gegenständliche Verfahren gewonnen werden können. www.ris.bka.gv.at Seite 62 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

In der Folge identifiziert der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zwölf Personengruppen, die als besonders schutzbedürftig angesehen werden (siehe die Seiten 58 ff des Berichtes). In Ansehung der Familie des Beschwerdeführers ist festzustellen, dass diese keiner dieser Gruppen angehören. Seine Familienmitglieder haben sich nicht als Kritiker des kurdischen politischen Systems exponiert oder anderweitig oppositionell betätigt, sodass eine diesbezügliche Gefährdung (deren Bezeichnung im Original: "Persons Opposing, or Perceived to Be Opposing, the KRG or Those Affiliated with the KRG") ausgeschlossen werden kann. Im Verfahren kamen darüber hinaus keine Hinweise darauf hervor, dass die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers im Rückkehrfall von geschlechtsspezifischer oder häuslicher Gewalt, Zwangsprostitution oder Zwangsheirat oder stammesbezogener Gewalt bzw. Ehrverbrechen betroffen sind. Die Mutter des Beschwerdeführers ist weder alleinstehend, noch geschieden und insoweit nicht exponiert. Insgesamt können die weiblichen Familienmitglieder des Beschwerdeführers keinem der auf Seite 96 angeführten Risikoprofilen zugeordnet werden. Entsprechendes gilt für die Seite 99f angeführten Risikoprofile betreffend Kinder. Die minderjährigen Geschwister und der Beschwerdeführer waren und sind nicht von Kinderarbeit, geschlechtsspezifischer oder häuslicher Gewalt, Zwangsprostitution oder Zwangsheirat betroffen, ebenso ist keine Zwangsrekrutierung zu besorgen. Die minderjährigen Geschwister und der Beschwerdeführer selbst entspringen außerdem keiner außerehelichen bzw. nicht offiziell registrierten Beziehung. Sie sind nicht vom Zugang zu Bildung ausgeschlossen und verfügen schließlich (mit Ausnahme des jüngsten Bruders und des Beschwerdeführers selbst) über irakische Dokumente. Ansatzpunkte für eine aufgrund der Ausführungen im Berichts "International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq" des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom Mai 2019 amtswegig wahrzunehmende Gefährdung der Familie des Beschwerdeführers liegen zusammenfassend nicht vor.

Der Vollständigkeit halbe ist abschließend darauf hinzuweisen, dass die Familie des Beschwerdeführers nicht auf eine innerstaatliche Aufenthaltsalternative verwiesen werden, sodass die diesbezüglichen Passagen des Berichts "International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq" des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom Mai 2019 nicht einschlägig sind.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 65/2018 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde.

Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 10.08.2018 Ra 2018/20/0314; 10.11.2015, Ra 2015/19/0185).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu www.ris.bka.gv.at Seite 63 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 befürchten habe (VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233 mwN). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z. 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183; 18.02.1999, Zl. 98/20/0468).

3.1.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht der Familie des minderjährigen Beschwerdeführers und insbesondere des Vaters des Beschwerdeführers, im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:

Im gegenständlichen Fall gelangt das Bundesverwaltungsgericht aus oben im Rahmen der Beweiswürdigung ausführlich erörterten Gründen zum Ergebnis, dass die Familie des Beschwerdeführers keiner individuellen Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt war und sie im Fall der Rückkehr dorthin auch keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Verfolgung ausgesetzt wäre. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100). Für den minderjährigen Beschwerdeführer selbst wurden - wie oben ausgeführt - keine eigenen Fluchtgründe namhaft gemacht.

Bezüglich der Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, bleibt festzuhalten, dass diese keine Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes darstellen, da alle Bewohner gleichermaßen davon betroffen sind. Bestehende schwierige Lebensumstände allgemeiner Natur sind hinzunehmen, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die etwa in Folge des Krieges, Bürgerkrieges, Revolution oder sonstiger Unruhen entstehen, ein Standpunkt den beispielsweise auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in Punkt 164 einnimmt (VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).

Eine Verfolgung der Familie des Beschwerdeführers im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Z. 2 GFK liegt zusammenfassend nicht vor und es braucht daher auf die Frage der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der staatlichen Organe vor derartigen Bedrohungen sowie des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr eingegangen werden.

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide kommt folglich keine Berechtigung zu.

3.2. Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten:

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung des Beschwerdeführers in den Irak Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.

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Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein "real risk" einer gegen Art. 3 MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Um von der realen Gefahr einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (VwGH 18.10.2018, Ra 2017/19/0109).

Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Es ist die konkrete Einzelsituation des Fremden in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).

Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH). Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 MRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 MRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 MRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 21.02.2017, Ro 2016/18/0005).

Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt dabei es grundsätzlich dem Beschwerdeführer, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihm im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, I. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255; VwGH 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Die Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 18.12.2002, Zl. 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (vgl. VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86).

3.2.2. Unter "real risk" ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (grundlegend VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; RV 952 BlgNR XXII. GP 37). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560). Die Feststellung einer Gefahrenlage im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfordert das Vorliegen einer konkreten, den Beschwerdeführer betreffenden, aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbaren Gefährdung bzw. Bedrohung. Ereignisse die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher ohne Hinzutreten besonderer Umstände, welche ihnen noch einen aktuellen Stellenwert geben, nicht geeignet, die begehrte Feststellung zu tragen (vgl. VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; 14.10.1998, Zl. 98/01/0122).

3.2.3. Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle seiner Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. EGMR U 08.04.2008, Nnyanzi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21878/06).

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (VfSlg 13.314/1992; EGMR www.ris.bka.gv.at Seite 65 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat des Antragstellers zu berücksichtigen, wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein ausreichend reales Risiko für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragsstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (EGMR U 04.07.2006, Karim gegen Schweden, Nr. 24171/05, U 03.05.2007, Goncharova/Alekseytev gegen Schweden, Nr. 31246/06).

Der Verwaltungsgerichtshof hat unter Hinweis auf die einschlägige Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bereits in zahlreichen Fällen erkannt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in Österreich zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung in seinem Herkunftsstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, soweit der Betroffene tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung hat. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt eine Abschiebung in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Herkunftsstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (VwGH 22.03.2017, Ro 2017/18/0001, unter Verweis auf das Urteil des EGMR vom 13.12.2016, Paposhvili gegen Königreich Belgien, Nr. 41738/10).

3.2.4. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (VG München 13.05.2016, M 4 K 16.30558).

Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Beschwerdeführers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH U. 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09). Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit www.ris.bka.gv.at Seite 66 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, zur Lage in Bagdad). Die bloße Möglichkeit einer den betreffenden Bestimmungen der EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).

Im Hinblick der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die der Beschwerdeführer typischerweise zurückkehren wird. Zur Feststellung der Gefahrendichte kann auf eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung zurückgegriffen werden. Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (dt BVerwG 17.11.2011, 10 C 13/10).

3.2.5. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nicht gegeben sind:

Dass die Familie des Beschwerdeführers im Fall der Rückkehr in ihre Herkunftsregion Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde die Familie des Beschwerdeführers insoweit somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden.

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Familie des Beschwerdeführers als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes oder als Folge terroristischer Aktivitäten, stammesbezogener oder krimineller Gewalt mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Die Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan im Allgemeinen und im Gouvernement Erbil im Besonderen ist stabil und es ereignen sich nur äußerst wenige sicherheitsrelevante Vorfälle mit einer in Anbetracht der Einwohnerzahl äußerst geringen Anzahl von Todesopfern. Offene Kampfhandlungen finden im Gouvernement Erbil nicht statt. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann in Anbetracht der Feststellungen zur Sicherheitslage im Gouvernement Erbil im Wege einer Gegenüberstellung der Einwohnerzahl zu den sicherheitsrelevante Vorfällen dargestellten Gefahrendichte nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz der Familie des Beschwerdeführers in der Stadt Erbil oder einer anderen Stadt des Gouvernements Erbil davon ausgegangen werden muss, dass die Familie des Beschwerdeführers wahrscheinlich das Opfer eines terroristischen Anschlages, krimineller Aktivtäten oder von stammesbezogener Gewalt werden würde (vgl. VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137 zur Lage in Bagdad). Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf die Familie des Beschwerdeführers, welche zu einer im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung stark erhöhte Gefährdung durch terroristische oder kriminelle Aktivitäten hindeuten würden, wurden im Verfahren nicht vorgebracht.

Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle sowie der dabei getöteten Zivilisten verharrte in den Jahren 2017 und 2018 konstant auf einem niedrigen Niveau, sodass von einer insgesamt stabilen Sicherheitslage auszugehen ist. Anhaltspunkte für eine nachtteilige Prognose einer zukünftigen Entwicklung liegen nicht vor.

Nach der bereits zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Art. 3 EMRK hat kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland einer Abschiebung nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil www.ris.bka.gv.at Seite 67 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 des Zielstaats gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Herkunftsstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (VwGH 22.03.2017, Ro 2017/18/0001, 23.02.2016, Ra 2015/20/0142; 11.11.2015, Ra 2015/20/0196 mwN).

Ausweislich der getroffenen Feststellungen sind der Vater, die Mutter, die Schwester, der jüngste Bruder des Beschwerdeführers und der Beschwerdeführer selbst gesund.

Der älteste Bruder leidet gegenwärtig an Strabismus concomitans divergens H50.1 (Schielen linksseitig), einer Obliquus-Dysfunktion (Dyfunktion der Augenmuskeln), Pseudophakie (Ersatz der natürlichen Linse des Auges durch eine Kunstlinse linksseitig) und Amblyopie (Schwachsichtigkeit des Auges linksseitig). Dass der Drittbeschwerdeführer eine regelmäßige Therapie, Medikamente oder Heilbehelfe benötigen würde, konnte im per 05.06.2019 abgeschlossenen Asylverfahren nicht festgestellt werden. Eine Okklusionstherapie wurde im Oktober 2017 beendet. Er verfügt derzeit über eine Brille, trägt diese aber nicht mehr. Aus den vorliegenden Befunden geht weder eine dauerhafte, noch eine in naher Zukunft eintretende Behandlungsnotwendigkeit hervor. Bei einer Untersuchung wurde ihm ansonsten ein guter Allgemeinzustand attestiert.

Ausgehend davon gelangt das Bundesverwaltungsgericht zur Einschätzung, dass der älteste Bruder des Beschwerdeführers im Fall einer Rückkehr in den Irak nicht mit einem realen Risiko konfrontiert wäre, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Herkunftsstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt.

Der zweitälteste Bruder des Beschwerdeführers leidet an einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte Q35.7. Er unterzog sich am 19.01.2017 einer kieferchirurgischen Korrekturoperation. Seit der Operation am 19.01.2017 waren keine weiteren medizinischen Behandlungen erforderlich. Dass er eine regelmäßige Therapie, Medikamente oder Heilbehelfe benötigen würde, konnte im per 05.06.2019 abgeschlossenen Asylverfahren ebenfalls nicht festgestellt werden. Aus den vorliegenden Befunden geht weder eine dauerhafte, noch eine in naher Zukunft eintretende Behandlungsnotwendigkeit hervor. Bei einer Untersuchung wurde auch dem zweitältesten Bruder des Beschwerdeführers ein guter Allgemeinzustand attestiert.

Vor diesem Hintergrund davon gelangt das Bundesverwaltungsgericht zur Einschätzung, dass die Familie des Beschwerdeführers im Fall einer Rückkehr in den Irak nicht mit einem realen Risiko konfrontiert wäre, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Herkunftsstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt.

Ausweislich der Feststellungen steht der Familie des Beschwerdeführers darüber hinaus in ihrem Herkunftsstaat der Zugang zu ärztlicher Hilfe offen. In der Stadt Dohuk in der autonomen Region Kurdistan steht ein modernes Kinderkrankenhaus zur Verfügung. Die Stadt Erbil selbst hat mehr als 1,2 Millionen Einwohner und verfügt über eine entsprechende Dichte an Krankenanstalten (siehe https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_hospitals_in_Iraq#Erbil). Die postnatale Versorgung erfolgt außerdem durch Gesundheitszentren (PHC), die einen hohen Grad an Versorgung ermöglichen. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem. Der Familie des Beschwerdeführers einschließlich der vulnerablen minderjährigen Geschwister steht somit ein hinreichender Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung zur Verfügung. Die Mutter wird auch postnatale Versorgung in ihrem Herkunftsstaat vorfinden.

Es kann schließlich nicht erkannt werden, dass der Familie des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059). Ausweislich der getroffenen Feststellungen und der diesbezüglichen Beweiswürdigung werden die Familie des Beschwerdeführers einschließlich der vulnerablen minderjährigen Geschwister im Fall einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion eine gesicherte Existenzgrundlage vorfinden.

Der Vater und die Mutter des Beschwerdeführers sind arbeitsfähige und gesunde Menschen, die an keinen Beeinträchtigungen leiden und die in Anbetracht ihres persönlichen Profils in keinster Weise exponiert sind. Die www.ris.bka.gv.at Seite 68 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 grundsätzliche Möglichkeit einer Teilnahme am Erwerbsleben kann in Ansehung der Eltern des Beschwerdeführers vorausgesetzt werden. Der Vater verfügt über grundlegende Schulbildung und Berufserfahrung als Soldat, als Arbeiter bzw. Tischler auf Baustellen und als Taxifahrer. Aufgrund der im Rahmen der Beweiswürdigung angestellten Überlegungen ist davon auszugehen, dass er im Herkunftsstaat bei entsprechendem Engagement grundsätzlich in der Lage sein wird, sich mit eigener Erwerbstätigkeit etwa als Arbeiter auf Baustellen, in der Gastronomie, als Berufssoldat oder sonst im Sicherheitswesen oder als Kraftfahrer ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts und des Lebensunterhaltes seiner Familie zu erwirtschaften. Die Mutter des Beschwerdeführers verfügt über eine Ausbildung als Friseurin. Wiewohl sie vorranging mit der Betreuung der minderjährigen Kinder ausgelastet sein wird, wäre es grundsätzlich auch ihr möglich und zumutbar, bei entsprechendem Engagement als Friseurin zumindest durch Gelegenheitsarbeit zum Familieneinkommen beizutragen.

Es steht der Familie des Beschwerdeführers ferner frei, Unterstützung des Programmes ERIN in Anspruch zu nehmen, welches den nachhaltigen Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz im Herkunftsstaat (etwa im Wege der Gründung eines Unternehmens) zum Gegenstand hat. Das Programm ERIN stellt nicht nur Baraushilfen zur Überbrückung der ersten Wochen nach der Rückkehr zur Verfügung, sondern bietet eine Betreuung durch vor Ort anwesende Organisationen ("Service Provider") bei der Unternehmensgründung, sodass es etwa dem Vater möglich wäre, mittels Unterstützung des genannten Programms einen Handwerks- oder Transportbetrieb aufzubauen.

Die Familienmitglieder des Beschwerdeführers sind als irakische Staatsbürger außerdem berechtigt, am Public Distribution System (PDS) teilzunehmen, einem sachleistungsorientierten Programm, bei dem die Regierung Lebensmittel kauft und an die Bevölkerung verteilt. Auch wenn das Programm von schlechter Organisation gekennzeichnet ist und Verzögerungen bei der Ausgabe der Rationen dokumentiert sind, ist zumindest von einer Unterstützung im Hinblick auf den Bedarf an Grundnahrungsmitteln auszugehen. Da die Familie des Beschwerdeführers an ihren Herkunftsort zurückkehren könne, sind keine Schwierigkeiten bei der neuerlichen Ausstellung von Lebensmittelbezugskarten zu erwarten.

Schließlich ist davon auszugehen, dass die Familie des Beschwerdeführers bei der Rückkehr in ihre Herkunftsregion bei ihren dort aufhältigen zahlreichen Verwandten Unterstützung finden wird. Sowohl der Vater als auch die Mutter verfügen in ihrer Herkunftsregion über einen Elternteil und mehrere Geschwister samt deren Ehepartnern und Nachkommen. Auch wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der einzelnen Verwandten beschränkt ist, konstituiert deren Anzahl aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ein hinreichend leistungsfähiges familiäres Netzwerk, welches der Familie des Beschwerdeführers im Fall einer Rückkehr in die Herkunftsregion bei der Auffindung einer geeigneten Unterkunft sowie der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs unterstützen kann. Dass eine solche Unterstützung zu erwarten ist, ergibt sich schließlich aus dem Umstand, dass familiäre Schwierigkeiten und Differenzen im Verfahren nicht vorgebracht wurden.

Der Familie des Beschwerdeführers ist es schließlich möglich und zumutbar, in Fall einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion ihren Wohnsitz in einem Vorort der Stadt Erbil oder einem Dorf in der Nähe der Stadt Erbil zu begründen, um die Wohnkosten gering zu halten.

Bei den vier Geschwistern des Beschwerdeführers und dem Beschwerdeführer selbst handelt es sich um minderjährige Kinder, bei denen es sich um besonders vulnerable Personen handelt (vgl. dazu etwa die Begriffsdefinition in Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU), sodass sich das Bundesverwaltungsgericht im Besonderen mit der Lage der minderjährigen Beschwerdeführer im Rückkehrfall auseinandersetzen hat (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0089). In diesem Zusammenhang ist zunächst wesentlich, dass ausweislich der Feststellungen und der dazu angestellten beweiswürdigenden Erwägungen nicht nur von einer gesicherten Existenzgrundlage des Vaters und der Mutter des Beschwerdeführers auszugehen ist, sondern ein für eine bescheidene Lebensführung hinreichendes Einkommen für die gesamte Familie auch unter Berücksichtigung der minderjährigen Geschwister und des Beschwerdeführers erwarten lässt. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen (Windeln, Babynahrung, Obst, Milch, medizinische Produkte), konnten im Rahmen der beauftragten Recherche nicht erhoben werden, sodass keine dahingehenden Schwierigkeiten im Herkunftsstaat feststellbar sind.

Die Mutter des Beschwerdeführers brachte keine Schwierigkeiten bei der Betreuung ihrer minderjährigen Kinder vor der Ausreise vor und es wurden im Hinblick auf die Bedürfnisse der minderjährigen Kinder auch keine erheblichen Rückkehrbefürchtungen substantiiert vorgebracht.

Den minderjährigen Geschwistern des Beschwerdeführers und dem Beschwerdeführer selbst steht ausweislich der Feststellungen der Zugang zum irakischen Schulsystem offen. Alle Ausbildungsstufen bis einschließlich der Hochschule sind kostenlos. Der Besuch der in Kurdistan neunjährigen Volksschule ist verpflichtend, sie wird mit einer nationalen Prüfung abgeschlossen, mit der auch der mittlere Schulabschluss erreicht wird. Nach Abschluss www.ris.bka.gv.at Seite 69 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 der Mittelschule können die Schülerinnen und Schüler ihren Bildungsweg fortsetzen, indem sie sich entweder für eine allgemeine Sekundarschule oder eine berufliche Ausbildung in verschiedenen Bereichen entscheiden. Die Einschulungsrate in der Grundschule beträgt 96 Prozent der Kinder in der autonomen Region Kurdistan. 67 Prozent der Kinder besuchen in der Folge die Sekundarstufe. Die minderjährigen Beschwerdeführer genießen demnach Zugang zu einer hinreichenden schulischen Ausbildung. Dass das Schulwesen unter einer schlechten Qualität der Schulgebäude leidet und der Unterricht abschnittsweise in mehreren Schichten durchgeführt werden muss führt noch nicht zur realen Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK.

Dass die minderjährigen Geschwister und der minderjährige Beschwerdeführer selbst im Irak nicht von geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsrekrutierung oder Zwangsarbeit betroffen sein werden, wurde bereits erörtert.

Die minderjährigen Geschwister und der minderjährige Beschwerdeführer selbst verfügen zusammenfassend in ihrer Herkunftsregion Erbil über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage, es besteht eine hinreichende Betreuung im Familienverband (insbesondere durch die Mutter) und eine hinreichende Absicherung in altersentsprechenden Grundbedürfnissen. Den minderjährigen Geschwistern und dem minderjährigen Beschwerdeführer selbst steht ferner kostenfreier und nichtdiskriminierender Zugang zum öffentlichen Schulwesen sowie leistbarer und nichtdiskriminierender Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung in der autonomen Region Kurdistan zur Verfügung.

Zusammenfassend ist auch hinsichtlich der Bedürfnisse der minderjährigen Geschwister von einer gesicherten Existenzgrundlage im Irak auszugehen, wobei an dieser Stelle ergänzend auf die bereits im Rahmen der Beweiswürdigung angestellten ausführlichen Überlegungen hingewiesen wird.

Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen nicht vor. Soweit in den Feststellungen zur Lage im Irak abschnittsweise auf eine prekäre Versorgungssituation hingewiesen wird, ergibt sich aus den diesbezüglichen Feststellungen klar, dass diese Unzulänglichkeiten die zuletzt umkämpften und vormals unter der Kontrolle des Islamischen Staates stehenden Gebiete vorwiegend betreffen und nicht die autonome Region Kurdistan, die nie vom Islamischen Staat erobert und auch nicht bei Kampfhandlungen zerstört wurde. Dass die Versorgungssituation in der autonomen Region Kurdistan an sich unzureichend sei, wurde im Übrigen nicht vorgebracht.

Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen nicht vor. Dass die Versorgungssituation in der autonomen Region Kurdistan an sich unzureichend sei, wurde nicht vorgebracht.

3.2.6. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde die Familie des Beschwerdeführers somit nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.

Weder droht ihnen im Herkunftsstaat das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch bestünde die Gefahr, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Familienmitglieder des Beschwerdeführers als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen, sodass der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide zutreffend abgewiesen wurde.

3.3. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz:

3.3.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

§ 10 Abs. 1 AsylG 2005 sieht ferner vor, dass eine Entscheidung nach dem Asylgesetz dann mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden ist, wenn- wie im Gegenstand - der Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen wird (Z. 3 leg. cit.) und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt www.ris.bka.gv.at Seite 70 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 wird. Die Rückkehrentscheidung setzt daher eine vorangehende Klärung der Frage voraus, ob ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 erteilt wird.

3.3.2. Im Ermittlungsverfahren sind keine Umstände zu Tage getreten, welche auf eine Verwirklichung der in § 57 Abs. 1 AsylG 2005 alternativ genannten Tatbestände hindeuten würden, insbesondere wurde von der Familie des Beschwerdeführers selbst nichts dahingehend dargetan und auch in der Beschwerde kein diesbezügliches Vorbringen erstattet.

Der Aufenthalt der Familie des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

Den Familienmitgliedern des Beschwerdeführers ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen. Der gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerde kommt daher keine Berichtigung zu.

3.4. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK und Erlassung einer Rückkehrentscheidung:

3.4.1. Die Einreise der Familie des Beschwerdeführers in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Bisher stützte sich der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet alleine auf die Bestimmungen des AsylG 2005 für die Dauer des nunmehr abgeschlossenen Verfahrens. Ein sonstiger Aufenthaltstitel ist nicht ersichtlich und wurde auch kein auf andere Bundesgesetze gestütztes Aufenthaltsrecht behauptet. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet mehr vor und es unterliegt dieser auch nicht dem Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG betreffend Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung.

Die Entscheidung ist damit gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 mit einer Rückkehrentscheidung nach dem 8. Hauptstück des FPG 2005 zu verbinden.

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts der beschwerdeführenden Partei auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16.928/2003).

Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 09. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 08.06.2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22.08.2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29.03.2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art. 8 EMRK Rz 76). Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, Zl. 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, Zl. 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, Zl. 97/21/0778; 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine "hinreichend starke Nahebeziehung" besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung (vgl. VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines www.ris.bka.gv.at Seite 71 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Familienlebens iSd Art. 8 EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.

In Bezug auf die Familienmitglieder des Beschwerdeführers untereinander ist festzuhalten, dass diese gleichermaßen von einer Rückkehrentscheidung betroffen sind, schon deshalb liegt insoweit kein Eingriff in das schützenswerte Familienleben vor (VwGH 19.12.2012, Zl. 2012/22/0221 mwN).

3.4.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung jedenfalls der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Moustaquim ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des Berufungswerbers abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).

Hinsichtlich der Abwägung der öffentlichen Interessen mit jenen des Berufungswerbers ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, dass Asylwerber und sonstige Fremde nicht schlechthin gleichzusetzen sind. Asylwerber hätten regelmäßig ohne Geltendmachung von Asylgründen keine rechtliche Möglichkeit, legal nach Österreich einzureisen. Soweit die Einreise nicht ohnehin unter Umgehung der Grenzkontrolle oder mit einem Touristenvisum stattgefunden hat, ist Asylwerbern der Aufenthalt bloß erlaubt, weil sie einen Asylantrag gestellt und Asylgründe geltend gemacht haben. Sie dürfen zwar bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung weder zurückgewiesen, zurückgeschoben noch abgeschoben werden, ein über diesen faktischen Abschiebeschutz hinausgehendes Aufenthaltsrecht erlangen Asylwerber jedoch lediglich bei Zulassung ihres Asylverfahrens sowie bis zum rechtskräftigen Abschluss oder bis zur Einstellung des Verfahrens. Der Gesetzgeber beabsichtigt durch die zwingend vorgesehene Ausweisung von Asylwerbern eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung im Inland von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern. Es kann dem Gesetzgeber nicht entgegengetreten werden, wenn er auf Grund dieser Besonderheit Asylwerber und andere Fremde unterschiedlich behandelt (VfSlg. 17.516/2005).

3.4.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).

Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99; vgl. VwGH 5.7.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.

Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren - was bei einem bloß vorläufigen Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens jedenfalls als gegeben angenommen werden kann - ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen www.ris.bka.gv.at Seite 72 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

(EGMR U 24.11.1998, Mitchell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 40.447/98; U 05.09.2000, Solomon gegen die Niederlande, Nr. 44.328/98; 31.1.2006, U 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99).

Bereits vor Inkrafttreten des nunmehrigen § 9 Abs. 2 BFA-VG entwickelten die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den Erkenntnissen VfSlg. 18.224/2007 und VwGH 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216 unter ausdrücklichen Bezug auf die Judikatur des EGMR nachstehende Leitlinien, welche im Rahmen der Interessensabwägung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen sind. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 28.04.2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (VwGH 13.06.2016, Ra 2015/01/0255). Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.

Der Verfassungsgerichtshof hat sich bereits im Erkenntnis VfSlg. 19.203/2010 eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalts bewusst waren. Der Verfassungsgerichtshof stellt dazu fest, dass das Gewicht der Integration nicht allein deshalb als gemindert erachtet werden darf, weil ein stets unsicherer Aufenthalt des Betroffenen zugrunde liege, so dass eine Verletzung des Art. 8 EMRK durch die Ausweisung ausgeschlossen sei. Vielmehr müsse die handelnde Behörde sich dessen bewusst sein, dass es in der Verantwortung des Staates liegt, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren effizient führen zu können und damit einhergehend prüfen, ob keine schuldhafte Verzögerungen eingetreten sind, die in der Sphäre des Betroffenen liegen (vgl. auch VfSlg. 19.357/2011).

Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiter dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, Zl. 95/21/0169; 28.06.2007, Zl. 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).

Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer bei der asylrechtlichen Ausweisung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn er sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätte und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.

Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007; VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251).

Die öffentliche Ordnung, hier im Besonderen das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird etwa beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, Zl. 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz gilt, dass aus einer unter Missachtung der www.ris.bka.gv.at Seite 73 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).

Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den sensiblen Arbeitsmarkt als auch für das Sozialsystem gravierende Auswirkung hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Fremde, welche daher auch über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf den inoffiziellen Arbeitsmarkt drängen, was wiederum erhebliche Auswirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat.

3.4.4. In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung der Familie des Beschwerdeführers ergibt sich für den gegenständlichen Fall Folgendes:

Der Vater stellte für sich und seine Familie nach unrechtmäßiger Einreise am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Asylanträge der Eltern und der vier älteren Geschwister des Beschwerdeführers wurden abgelehnt. Sämtliche Ablehnungen hat dieses Gericht am 05.06.2019 bestätigt.

Dabei ergibt im Fall des Beschwerdeführers eine individuelle Abwägung der berührten Interessen, dass ein Eingriff in dessen Privatleben durch eine Außerlandesbringung als im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig anzusehen ist.

Der Beschwerdeführer hat kein Familienleben außerhalb der Kernfamilie im Bundesgebiet. Diese ist aufgrund der Entscheidung dieses Gerichts vom 05.06.2019 gleichermaßen von der Rückkehrentscheidung und Ausreisepflicht betroffen. Die Rückkehr der Kernfamilie kann gemeinsam erfolgen, sodass kein relevanter Eingriff in das Familienleben anzunehmen ist. Zu prüfen war daher ein etwaiger Eingriff in sein Privatleben. Unter den gegebenen Umständen kann vom Vorhandensein eines Privatlebens kaum ausgegangen werden, zumal der Beschwerdeführer erst knapp sechs Monate alt ist und keine Beeinträchtigungen aufweist.

Nach der genannten Anwesenheitsdauer kann auch nicht von einer Aufenthaltsverfestigung ausgegangen werden. Zudem beruhte der Aufenthalt auf einem Asylantrag, der unbegründet war, weshalb sich die (für die Dauer des Aufenthalts ursächlich hier verbliebenen) Eltern des Beschwerdeführers dessen unsicheren Aufenthalts bewusst sein mussten.

Dem allenfalls bestehenden Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich stehen öffentliche Interessen gegenüber. Zuerst steht ihm das öffentliche Interesse daran gegenüber, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die ohne Aufenthaltstitel anwesend sind - gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz - auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden.

Im Fall des Beschwerdeführers kommt die Ausreisepflicht seiner Eltern, seiner drei Brüder und seiner Schwester hinzu.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung kann daher nicht im Sinne von § 9 Abs. 2 BFA-VG als unzulässig angesehen werden.

Im gegenständlichen Verfahren ist insgesamt keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, die den zuständigen Behörden zur Last zu legen wäre (vgl. hiezu auch VwGH 24.05.2016, Ro 2016/01/0001).

3.4.5. Soweit Kinder von einer Ausweisung betroffen sind, sind nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (EGMR U 18.10.2006, Üner gegen Niederlande, Nr. 46.410/99; GK 6.7.2010, Neulinger und Shuruk gegen Schweiz, Nr. 1615/07). Maßgebliche Bedeutung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie www.ris.bka.gv.at Seite 74 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter (EGMR U 31.7.2008, Darren Omoregie ua. gegen Norwegen, Nr. 265/07; U 17.2.2009, Onur gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 27.319/07; siehe dazu auch VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072) befinden.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX im Bundesgebiet geboren und hat dieses bislang nicht verlassen. Er hat demnach wie seine Schwester und sein jüngster Bruder keinen persönlichen Bezug zu seiner Herkunftsregion, wiewohl mit einem Erwerb der Sprache Sorani im Wege der Eltern gerechnet werden kann. Hinsichtlich des Beschwerdeführers hat die Sozialisation außerhalb des engen Familienkreises noch gar nicht begonnen, sodass kein Wiedereingliederungshindernis vorliegt (VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162).

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes deutet zusammenfassend nichts darauf hin, dass es dem Beschwerdeführer gemeinsam und in Begleitung seiner Eltern und seiner ebenfalls noch minderjährigen Geschwister im Falle einer Rückkehr in den Irak nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft zu integrieren. Dies ergibt sich insbesondere aufgrund seines Lebensalters, das Anpassungsfähigkeit indiziert, und des Fehlens wichtiger Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie. Die engsten Bezugspersonen des minderjährigen Beschwerdeführers - nämlich die Eltern und die Geschwister - bleiben erhalten.

Die Rückkehr in die autonome Region Kurdistan im Familienverbund mit den Eltern ist sohin auch den minderjährigen Beschwerdeführern zumutbar. Die gebotene Berücksichtigung des Kindeswohles führt daher nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der Rückkehrentscheidung.

Im Übrigen ist auf die vorstehenden Ausführungen zu verweisen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes schlägt - wenngleich Kindern das fremdenrechtliche Fehlverhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden kann - dieses auch auf die Kinder von Fremden durch und ist daher insbesondere das Bewusstsein der Eltern um die Unsicherheit des Aufenthaltsstatus auch in Bezug auf die minderjährigen Beschwerdeführer von entscheidungswesentlicher Bedeutung (VwGH 22.02.2017, Ra 2017/19/0001; 20.03.2012, Zl. 2010/21/0471 mwN).

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG wider den Beschwerdeführer keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen.

3.5. Zulässigkeit der Abschiebung:

3.5.1. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 von Amts wegen gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG2005 (VwGH 15.9.2016, Ra 2016/21/0234).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen, also im Fall der Abschiebung in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG 2005 - diese Bestimmungen stellen auf dieselben Gründe ab, wie sie in §§ 3 und 8 AsylG 2005 enthalten sind - glaubhaft zu machen. Es ist die konkrete Einzelsituation des Fremden in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen; für diese Beurteilung ist nicht unmaßgeblich, ob allenfalls gehäufte Verstöße im Sinn des § 50 Abs. 1 FPG 2005 durch den betroffenen Staat bekannt geworden sind (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).

Der Prüfungsmaßstab im Hinblick auf den subsidiären Schutz entspricht somit jenem des Refoulementverbots im FPG 2005. Erkennbar eben deshalb ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers aber auch ein gesonderter Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Grunde des § 50 FPG 2005 nicht möglich; einem Fremden ist es verwehrt, eine derartige Feststellung zu begehren, weil über das Thema dieser Feststellung ohnehin im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz abzusprechen ist. Ein inhaltliches Auseinanderfallen der genannten Entscheidungen (insbesondere nach § 8 AsylG 2005) einerseits und der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG 2005 andererseits ist ausgeschlossen (VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).

3.5.2. Bezüglich § 50 Abs. 1 FPG 2005 bleibt festzuhalten, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens betreffend den von der Familie des Beschwerdeführers gestellten Antrag auf internationalen Schutz nicht festgestellt werden konnte, dass die Familie im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte. Durch eine Rückführung in www.ris.bka.gv.at Seite 75 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019 den Herkunftsstaat würden minderjährige Beschwerdeführer und seine Familie somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht ihnen im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung, noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen ebenfalls nicht vor.

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die beschwerdeführende Partei als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Ebenso sind keine von Amts wegen aufzugreifenden stichhaltige Gründe für die Annahme erkennbar, dass im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers dessen Leben oder dessen Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Ansichten im Sinn des § 50 Abs. 2 FPG 2005 bedroht wäre und wird insoweit auf die Erwägungen in der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung betreffend den von den beschwerdeführenden Parteien gestellten Antrag auf internationalen Schutz verwiesen.

3.5.3. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 3 FPG 2005 schließlich unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine solche Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme besteht hinsichtlich des Staates Irak nicht.

3.6. Frist für die freiwillige Ausreise:

3.6.1. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG 2005 ist mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG 2005 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festzulegen.

§ 55 Abs. 2 FPG 2005 zufolge beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

Derlei Gründe wurden von gesetzlichen Vertreterin des Beschwerdeführers nicht vorgebracht.

4. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen:

4.1. Der angefochtene Bescheid erweist sich ob der vorstehenden Ausführungen und in Zusammenschau mit den zweitinstanzlich abgeschlossenen Asylverfahren der Eltern und der Geschwister des Beschwerdeführers zu den Zlen. L521 2170253, L521 2170255, L521 2170258, L521 2170260, L521 2170261, L521 2201029 als im Ergebnis rechtsrichtig, sodass die dagegen erhobene Beschwerde als unbegründet abzuweisen ist.

4.2 Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, vorstehend im Einzelnen zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gewährung von internationalem Schutz ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das zur Entscheidung berufene Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, zum Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht.

Ebenso wird zu diesen Themen keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung. www.ris.bka.gv.at Seite 76 von 77 Bundesverwaltungsgericht 08.11.2019

5. Zum Unterbleiben einer Verhandlung:

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.

Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der für die rechtliche Beurteilung relevante Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist.

Außerdem muss die Verwaltungsbehörde ihre die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Gericht diese tragenden Erwägungen in seiner Entscheidung teilen. Auch darf im Rahmen der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht zu bleiben hat, wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt.

Die genannten Kriterien treffen in diesem Fall zu. Der Sachverhalt ist durch die belangte Behörde vollständig erhoben und weist - aufgrund des Umstandes, dass zwischen der Entscheidung durch die belangte Behörde und jener durch das Gericht rund zwei Monate liegen - die gebotene Aktualität auf. Der Beweiswürdigung durch die belangte Behörde hat sich das Gericht zur Gänze angeschlossen.

Das Gericht musste sich auch keinen persönlichen Eindruck vom knapp sechs Monate alten Beschwerdeführer oder seinen ihn gesetzlich vertretenden Eltern verschaffen, da es sich um einen eindeutigen Fall in dem Sinne handelt, dass auch bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn der persönliche Eindruck ein positiver ist (vgl. VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0422 mwH). Die Asylverfahren der Eltern und der Geschwister des Beschwerdeführers wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit rezentem Erkenntnis dieses Gerichts vom 05.06.2019 zu den Zlen. L521 2170253, L521 2170255, L521 2170258, L521 2170260, L521 2170261, L521 2201029 negativ abgeschlossen. Der Beschwerdeführer brachte zudem eigene Fluchtgründe nicht vor, sondern war für ihn - wie auch für den Rest seiner Familie - das Fluchtvorbringen seines Vaters maßgeblich.

Die Abhaltung einer Verhandlung konnte demnach unterbleiben.

European Case Law Identifier ECLI:AT:BVWG:2019:I415.2224340.1.00

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