Verleihung des Jakob-Wassermann- Literaturpreises 2006 an DR. UWE TIMM am 12. März 2006

4 Über Jakob Wassermann

5 Programmablauf der Preisverleihung

6 Dr. Uwe Timm – Biografisches

7 Begrüßungsansprache Oberbürgermeister Dr. Thomas Jung

11 Laudatio Dr. Martin Hielscher Programmleiter Literatur im C.H. Beck Verlag

19 Dankrede Dr. Uwe Timm

26 Der Jakob-Wassermann-Literaturpreis: Richtlinien und Kuratoriumsmitglieder

3 Über Jakob Wassermann, die sehr früh verstarb, folgte bei der Beerdi- den großen Romancier gung die „halbe Stadt“. Wassermann, der ursprünglich den Kaufmannsberuf erlernen Jakob Wassermann, der am 10. März 1873 wollte, zog als Sekretär von Ernst von Wol- in Fürth als Sohn eines jüdischen Gemischt- zogen nach München, war als Redakteur warenhändlers geboren wurde und am beim „Simplizissimus“ tätig und lebte von 1. Januar 1934 in Alt-Aussee (Steiermark) 1898 an in Wien und schließlich bis zu sei- starb, war nach seinem Tod literarisch na- nem Tod in Alt-Aussee. hezu in Vergessenheit geraten. Der Freund von Schnitzler, Hofmannsthal und Thomas Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, Mann durchleuchtete in seinen Romanen bis , ist Jakob sowohl den Menschen als auch die Gesell- Wassermann seit langem – eigentlich unver- schaft seiner Zeit, besonders aber auch das ständlich – in den Hintergrund getreten und jüdische Leben. verdient es nunmehr, die Aufmerksamkeit zu erhalten, die seine Person und sein gleicher- Wassermann war sehr produktiv. In der maßen wertvolles wie umfangreiches Werk Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zählte er verdienen. zu den meistgelesensten deutschsprachi- gen Autoren. Romane wie „Das Gänse- männchen“, „Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens“ und „Der Fall Mau- rizius“ waren in nahezu jeder literarisch in- teressierten Familie zu finden. Als überaus exakter Rechercheur fungierte Wasser- mann in seinen historischen Werken, von denen das 1929 entstandene Portrait über „Christoph Columbus“ noch heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat.

Wassermann, der exakte Schilderer von Menschen und ihrer psychischen Strukturen und Subjektivität, war kein in erster Linie politisch denkender Mensch. Dennoch nahm er die gesellschaftlich relevanten Strömungen und Veränderungen durchaus wahr und sah den Entwicklungen mit Besorgnis entgegen.

In seiner Schrift „Mein Weg als Deutscher und Jude“ erzählt Jakob Wassermann von seiner Jugend in Fürth. Sein Vater, der eine kleine Fabrik gegründet hatte, die bald bankrott ging, arbeitete bei einer Versiche- rung. Der schönen und geliebten Mutter, 4 Programmablauf der Preis- verleihung am 12. März 2006

Johannes Brahms: Ungarische Tänze: Nr.1 „Allegro molto“, Nr.4 „Poco sostenuto“, Nr.6 „Vivace“

Begrüßung Oberbürgermeister Dr. Thomas Jung

Laudatio Dr. Martin Hielscher Programmleiter Literatur im C.H. Beck Verlag

W. A. Mozart: Aus Sonate D-Dur KV 448, I. Satz „Allegro con spirito“

Ehrung Oberbürgermeister Dr. Thomas Jung

Eintrag ins Goldene Buch

Maurice Ravel: „La valse“

Dankrede Dr. Uwe Timm

Franz Liszt: „Reminiscences de Don Juan“

Musikalische Umrahmung: Klavierduo Katja und Ines Lunkenheimer 5 Dr. Uwe Timm – Biografisches

Uwe Timm wurde am 30. März 1940 in geboren. Nach der Volksschule absolvierte er eine Lehre als Kürschner und besuchte das Braunschweigkolleg.

1963 Abitur. Anschließend Studium der Germanistik und Philosophie in München und Paris

1967/68 politische Tätigkeit im Sozialisti- schen Deutschen Studentenbund (SDS).

1971 Promotion über „Das Problem der Absurdität bei Camus“

1970-1972 Studium der Soziologie und Volkswirtschaft in München

Seit 1971 freier Schriftsteller

1971/72 Gründung der „Wortgruppe Erschienene Titel (Auswahl) München“, Mitherausgeber der Zeitschrift „Kerbels Flucht“, Roman, 1980 „Literarische Hefte“ „Der Mann auf dem Hochrad“, Legende, 1984 „Morenga“, Roman, 1984 1972-1982 Herausgeber der „Autoren- „Der Schlangenbaum“, Roman, 1989 Edition“ „Römische Aufzeichnungen“, 1989 „Kopfjäger“, Roman, 1991 1981 „Writer in residence“ an der „Erzählen und kein Ende“, 1993 Universität Warwick, Großbritannien. „Die Entdeckung der Currywurst“, Novelle, 1993 „Johannisnacht“, Roman, 1996 1981-1983 Aufenthalt in Rom. „Heißer Sommer“, Roman, 1998 „Nicht morgen, nicht gestern“, Erzählungen, 1999 1991/92 Paderborner Gastdozentur für „Rot“, Roman 2001 Schriftsteller. „Am Beispiel meines Bruders“, 2003 „Der Freund und der Fremde“, 2005 Seit Herbst 1994 ist Uwe Timm ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Spra- Kinder- und Jugendbücher che und Dichtung, Darmstadt und des PEN- „Die Zugmaus“ Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. „Rennschwein Rudi Rüssel“ Heute lebt er als freier Schriftsteller in Mün- „Die Piratenamsel“ chen und Berlin. „Der Schatz auf Pagensand“ 6 Ansprache: Oberbürgermeister zeuge, die ihm zu überleben halfen. Werk- Dr. Thomas Jung zeuge, mit denen er seine Geschichten verar- beitete. Geschichten und Erzählungen, die „Wenn ich durch Fürth gehe, habe ich fast von frühester Jugend an in seinem Kopf ent- das Gefühl, als würde ich durch meine eige- standen. Dinge, die er nicht verstand oder ne Familiengeschichte gehen.“ nicht begreifen wollte, bearbeite er auf dem Wenn ich Ihnen sagen würde, dieser Satz Papier so lange, bis er für sich eine Antwort stammt von Jakob Wassermann – Sie wür- gefunden hatte, mit der er weiterleben konnte. den mir das sicherlich ohne Zweifel abneh- men. Heute vor zwei Tagen jährte sich der Und das Leben meinte es hart mit Jakob Geburtstag des großen Schriftstellers zum Wassermann. Er wuchs in ärmlichen Verhält- 133. Male. Zum Andenken an den „Weltstar nissen auf und musste als Neunjähriger den des Romans“, wie ihn Weggefährte Thomas frühen Tod der Mutter verkraften. Sie war Mann einst genannt hat, vergibt die Stadt die einzige Person, die an ihn und seine er- Fürth seit 1996 den Jakob-Wassermann- zählerische und schreiberische Begabung Literaturpreis. Zur heutigen, 5. Verleihung an glaubte; die einzige Person, die zu ihm hielt. den Autor Dr. Uwe Timm heiße ich Sie und Anders der Vater und ganz besonders seine Ihre Tochter Johanna im Stadttheater Fürth Stiefmutter: Sie antworteten mit Schlägen herzlich willkommen. auf das literarische Talent des jungen Jakobs.

Stellt sich die Frage: Wie soll ein Kind, ein Ju- „Wenn ich durch Fürth gehe, habe ich fast gendlicher, mit so viel Ablehnung umgehen? das Gefühl, als würde ich durch meine eige- Jakob Wassermann verarbeitete das Erlebte ne Familiengeschichte gehen.“ Nein, dieses in seinen Werken. Wie bei kaum einem an- Zitat stammt nicht von Jakob Wassermann. Es stammt von seiner einzigen, heute noch lebenden Nachfahrin, von seiner Enkelin Sakura, die in Sydney/Australien lebt. Die 48-Jährige besuchte im vergangenen Herbst zum ersten Mal die Heimatstadt ihres Groß- vaters. Der Zeitpunkt der Reise war mit Be- dacht gewählt: Er fiel mit der Eröffnung der Ausstellung „Jakob Wassermann – Deut- scher Jude Literat“ im Oktober zusammen, die das Jüdische Museum Frankens in Fürth konzipiert hat und bis einschließlich heute zeigt – übrigens nur wenige Schritte vom Theater entfernt. Zu sehen sind unter ande- rem ein verschollen geglaubtes Tagebuch von 1903 bis 1924 und Fotoalben, die Enke- lin Sakura beisteuerte, sowie ein originales Tintenfass und Schreibpapier.

Geschriebenes, Tinte und Papier – das waren die Werkzeuge Jakob Wassermanns. Werk- 7 deren Schriftsteller sind seine Arbeiten von messen diesen Werten – Toleranz, Humani- autobiographischen Details durchzogen. tät und Gerechtigkeit – herausragende Be- So taucht zum Beispiels die böse Stiefmut- deutung bei. Es genügt nicht, dass ein Kan- ter, die eine regelrechte Jagd auf die Manus- didat mal eben in einem Roman zu einer kripte des Buben macht und diese ver- gerechten, menschlichen Sicht der Dinge brennt, als Figur in „Das Gänsemännchen“ aufruft, Gewalt verurteilt oder die Aus- und „Joseph Kerkhovens dritte Existenz“ grenzung Schwacher kritisiert. Ein würdiger auf. Im Kerkhoven-Roman sowie in „Etzel Preisträger muss diese Werte selbst verinner- Andergast“ schildert er darüber hinaus fast licht haben – im eigenen Wesen, in den Fi- eins zu eins seine eigene düstere Kindheit, guren seiner Werke, ja in seiner Sprache und die schwierigen materiellen Verhältnisse der seinem Sein. Die Jury hat bei der Vergabe Familie und das Wohnumfeld mit der lauten des Jakob-Wassermann-Literaturpreises Bierwirtschaft im Parterre. In „Mein Weg als 2006 hohe Maßstäbe angesetzt. Mit der Deutscher und Jude“ und „Die Juden von Entscheidung für den in Hamburg gebore- Zirndorf“ beschäftigt er sich schließlich mit nen Schriftsteller Dr. Uwe Timm hat das Ku- dem zunehmenden Antisemitismus, dem er ratorium eine ausgezeichnete Wahl getrof- im ausgehenden 19. Jahrhundert sowohl fen, denn die Gebote der Toleranz, während seiner Militärzeit und selbst später Humanität und Gerechtigkeit ziehen sich – im Gespräch mit langjährigen Freunden be- ganz ohne erhobenen Zeigefinger – wie ein gegnet. roter Faden durch seine Werke. Jakob Wassermann lässt uns in seinen Wer- ken teilhaben an seinem Leben in dieser Von Brüdern im Geiste zu reden, wäre nicht einfachen Zeit. Er spiegelt damit auch angesichts der doch sehr unterschiedlichen sehr eindringlich die gesellschaftlichen Zeiten, in denen Jakob Wassermann und Verhältnissen von der Jahrhundertwende bis Uwe Timm gelebt haben bzw. leben, sicher- zur Machtergreifung der Nationalsozialisten lich nicht zutreffend. Dennoch finden sich wider. Und hinterlässt so ein Stück Zeitge- erstaunlich viele Parallelen im Leben und schichte – mahnend und ergreifend zugleich. Werk der beiden Schriftsteller.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Zu aller erst die Vorliebe für Geschichten, im Niederschreiben der Erlebnisse, im Erzäh- fürs Geschichtenerzählen und den Hang zum len, sah Wassermann aber nicht nur eine Schreiben von früher Kindheit an. Hier, bei Möglichkeit, die eigene Vergangenheit zu Wassermann, die Schwierigkeiten des Fürther verarbeiten und sich vom Geschehenen zu Arbeitermilieus, dort die Hamburger Matro- befreien. Vielmehr wollte er die Menschen sen und der Großvater als Kapitän, die den wachrütteln und mit der Wahrheit konfron- jungen Uwe Timm mit ihrem Seemannsgarn tieren. Das Streben nach einer gerechten inspirierten. Sicht der Dinge ließ ihn Zeit seines Lebens In einem Interview haben Sie, sehr geehrter nicht los und ist Ausdruck seines ausgepräg- Herr Dr. Timm, gesagt, Schreiben sei für Sie ten Gerechtigkeitssinns und seiner Mahnung eine Form gewesen, sich mit Ihren Proble- zu Menschlichkeit und Toleranz. men während der Kindheit auseinanderzu- setzen. Mit dem autoritären Vater und Ihrem Die Statuten zur Verleihung des Jakob-Was- Lehrer Blumenthal. Dieser hat Ihre – ich darf sermann-Literaturpreises der Stadt Fürth Sie zitieren – „sehr eigenwilligen, inbrünsti- 8 gen und langen Aufsätze“, die noch dazu Meine Damen und Herren, die wichtigste Ge- gespickt mit Fehlern waren, vor der Klasse meinsamkeit im Leben und Werk von Jakob laut vorgelesen, um zu zeigen, wie sehr Sie Wassermann und Uwe Timm sehe ich jedoch doch das Thema verfehlt haben. Das sollte in diesem Punkt: Dass beide Autoren in ihrem sich der Pauker heute noch mal erlauben! Werk auf Ungerechtigkeiten in der Gesell- schaft aufmerksam machen. Wie schon er- Sie haben großartige Kinderbücher geschrie- wähnt, steckt fast in jedem Werk Wasser- ben, darunter das bekannte „Rennschwein manns eine Mahnung zu mehr Menschlich- Rudi Rüssel“, das auch fürs Kino verfilmt keit, ein Aufruf zu mehr Toleranz und ein wurde und noch heute zu den beliebtesten Plädoyer für Gerechtigkeit. Dieser Sinn fürs Jugendbüchern gehört. Das Staunen und Wichtige, verbunden mit einem ausgepräg- Bewundern ist niemandem sonst mehr zu ei- ten erzählerischen Talent, machen den gen als Kindern, die mit allen Sinnen Neues Schriftsteller Jakob Wassermann zu einem entdecken. Aber auch Erwachsenen steht es der ganz großen Autoren des 20. Jahrhun- gut zu Gesicht, neugierig zu sein. Wissbegie- derts. Und dieses Prädikat gilt auch für den rig, mehr vom Leben zu erfahren. Und so heutigen Preisträger Uwe Timm. sind auch die Erzähler in Ihren Büchern Jäger und Sammler, die den Leser bei ihrer span- Sehr geehrter Herr Dr. Timm, nenden Suche nach dem Fremden und die Stadt Fürth verleiht Ihnen den 5. Jakob- Unerforschten an ihrer Seite mitnehmen. Wassermann-Literaturpreis weil Sie – wie der Namensgeber des Preises – in Ihren Werken Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Jakob auf gesellschaftliche Probleme und Deforma- Wassermann und Uwe Timm ist ihre emotio- tionen hinweisen und für eine politisch, sozial nale Nähe zur Geburtsstadt. Und das ob- und wirtschaftlich gerechtere Welt eintreten. wohl beide Städte zur jeweiligen Zeit kein Ausbund an Schönheit waren. Wassermann Sie erhalten den Jakob-Wassermann-Litera- selbst erlebte Fürth als düstere, unwirtliche turpreis, weil Ihr literarisches Schaffen von Stadt – eine Stadt, die ihn in seinen Möglich- großer erzählerischer Kompetenz zeugt. Ihre keiten einengte und die er mit vielen schlim- Sprache beschreibt keine Figuren oder Bilder, men Erinnerungen verband. Dennoch oder sondern sie macht Menschen lebendig und gerade deswegen taucht die Stadt, der er Szenen real. bereits mit 16 Jahren den Rücken kehrte, so Sie sind ein würdiger Preisträger, weil Sie ein häufig in seinen Werken auf. Dass ihn Fürth ehrlicher Chronist der geschichtlichen und geprägt hat, bekennt Wassermann später, in gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutsch- dem er sagt, ich zitiere, „dass keine Zeile, land nach 1945 sind, der selbst den eigenen die ich geschrieben habe, diese Herkunft Vater nicht verschont. Wie in „Am Beispiel verleugnet... Der Dichter, der sich ... von sei- meines Bruders“ kritisieren Sie dessen Ideali- nen Wurzeln reißt, ist keiner.“ Zitatende. sierung des Krieges und die falsche Helden- Auf der anderen Seite eben Hamburg – das verehrung Ihres älteren Bruders, der sich frei- Aufwachsen in einer vom Krieg zerstörten willig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hat. Stadt, die dennoch Heimat bedeutet und mit Sie erhalten den Jakob-Wassermann-Litera- so vielen Kindheitserinnerungen verbunden turpreis, weil Sie sich – wie in „Morenga“ – ist, und die deshalb in so vielen Ihrer Roma- der Auseinandersetzung und dem falschen ne direkt oder indirekt vorkommt. Umgang mit fremden Kulturen widmen: mit 9 einem Roman über die deutsche Vergangen- steller, der seit den 1970er Jahren aus der heit als Kolonialmacht in Deutsch-Südwest- deutschen Literaturszene nicht mehr wegzu- afrika. denken ist. Die höchstdotierte Auszeichnung Die Jury hat Sie ausgewählt, weil Sie sich als der Stadt Fürth geht an einen Autor, der mit Zeitgenosse wie kein zweiter Schriftsteller seinen Romanen, Kinderbüchern und Erzäh- mit den Beweggründen der Studentenrevolte lungen, Hörspielen und Drehbüchern eine und den Anliegen der 68-Generation ausein- Kreativität an den Tag legt, die ihresgleichen andersetzen – wie in den Romanen „Heißer sucht. Sommer“, „Kerbels Flucht“ oder „Rot“. Und nicht zuletzt erhalten Sie den Jakob- Sehr geehrter Herr Dr. Timm, Wassermann-Literaturpreis für Ihre Präzision der Jakob-Wassermann-Literaturpreis der und Lebendigkeit, mit der Sie mal ernsthaft Stadt Fürth ist eine Würdigung Ihres Lebens- und mal humorvoll, scheinbar banale All- werkes. Ganz im Sinne des Namensgebers täglichkeiten erzählen – wie in der Novelle sieht es die Gebote der Toleranz, Gerechtig- „Die Entdeckung der Currywurst“, dieser keit und Menschlichkeit nicht als Verpflich- zugleich grotesken wie anrührenden Liebes- tung, sondern als Selbstverständlichkeit an – geschichte, die voller Menschlichkeit und und macht darüber hinaus das Lesen wieder Wärme steckt. zu einem neuen Erlebnis.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herzlichen Glückwunsch! die Stadt Fürth verleiht den Jakob-Wasser- mann-Literaturpreis 2006 an einen Schrift-

10 Uwe Timms Romane, „Heißer Sommer“, „Morenga“, „Kopfjäger“ oder „Rot“, die Legende „Der Mann auf dem Hochrad“ und die Novelle „Die Entdeckung der Curry- wurst“, die Kinderbücher – am bekanntes- ten ist „Rennschwein Rudi Rüssel“ – und die autobiographischen Bücher – zuletzt „Am Beispiel meines Bruders“ und „Der Freund und der Fremde“ – hängen in vielfältiger Weise zusammen und bilden in Wirklichkeit ein Geflecht von Beziehungen, Abhängigkei- ten und Verwandtschaften – ein Rhizom.

Was diese Bücher auszeichnet, ist ihr Erzähl- reichtum, die Stimmenvielfalt, die Fabulier- Laudatio: Martin Hielscher freude, der Humor, ihre Genauigkeit, ihr En- „Wärmestrom“ gagement und ihre Tiefe. Die Erwachsenenbücher bilden eine Chronik Sehr verehrter Herr Oberbürgermeister, deutscher Geschichte, die das ganze 20. meine sehr verehrten Damen und Herren, Jahrhundert umfasst, die autobiographi- liebe Johanna, lieber Uwe, schen Bücher reichen in die Abgründe unse- rer Mentalitätsgeschichte hinab und schaffen es gibt Autoren, deren Bücher Sie mit Ehr- einen historischen Echoraum auch für unsere furcht lesen, deren Bedeutung Ihnen streng jüngste Vergangenheit. Die Kinderbücher vom Feuilleton versichert wird, vor denen Sie sind burleske, vergnügliche Abenteuer- und respektvoll den Hut ziehen und die Sie doch Reisegeschichten, in denen die Familie und ziehen lassen. Etwas Brillant-Kühles, allzu Freundschaftsbündnisse unter Menschen Marmornes und In-sich-Verkeiltes strahlen und Tieren als Gegenwelt zu einer oft un- sie aus. Sie hören die Botschaft, allein Ihnen freundlichen Gegenwart beschrieben wer- fehlt der Glaube, der Glaube, dass tatsäch- den und sich manifestieren. lich Sie gemeint sind, dass Ihnen etwas mit- geteilt wird und dass Sie als Hörer und Leser Und doch sagt das noch nicht alles über das wichtig sind. Besondere dieses Autors, darüber, was Uwe Timms Bücher so anziehend und so wirkungs- Und dann gibt es Autoren wie Uwe Timm, mächtig macht. Ich möchte es den Wärme- den Sie heute mit dem Jakob-Wassermann- strom seines Erzählens nennen. Erlauben Sie Preis auszeichnen: Uwe Timm wird ebenfalls mir eine kleine Abschweifung. gefeiert und vom Feuilleton hoch gelobt, sein Rang in der deutschen Gegenwarts- Sie kennen sie vielleicht, die Erzähler auf den literatur und auch international ist unbestrit- arabischen Märkten, um die sich, sobald sie ten und in seine Bücher werden Sie sofort auftauchen, sofort ein Kreis von Zuhörern hineingezogen. Sie folgen seinen Lesungen scharrt, die alles stehen und liegen lassen, gebannt und nehmen an seinen Figuren und jedenfalls für einen Augenblick oder auch Geschichten sofort Anteil. Warum ist das so? eine Weile, um sich unterhalten, bezaubern, 11 in eine andere Welt entführen zu lassen, um nologische, auf die Nachwelt gerichtete Er- zu lachen, zu staunen, um von anderen und zählen, das der Schrift bedarf, denn sonst doch von ihresgleichen zu erfahren. Der Er- gäbe es die Bücher nicht. zähler berichtet in verschlungenen, kompli- ziert verschachtelten Episoden seine Ge- Aber noch fehlt ein wichtiges Element. schichten, immer neue Verwicklungen und Abschweifungen bannen die Zuhörer fest, Ein Junge sitzt in der Küche seiner Tante, der die irgendwann zahlen, etwas geben müs- Tante Grete. Sie wohnt an der Ecke Brüder- sen, um die Fortsetzung zu hören, und so straße – Großer Trampgang im Hamburger kann es immer weiter gehen. Sie kennen das Gängeviertel. Wegen einer Liebesgeschichte aus „Tausendundeine Nacht“. Die Zuhörer hat sie ihren Mann, einen wohlbestallten lachen und rufen, mischen sich ein, beant- Postamtsrat und dessen geräumiges Haus worten Fragen und schütteln den Kopf, es verlassen und lebt nun mit Hans, ihrem gibt eine Rückkopplung zwischen ihnen und neuen Mann, in dieser Wohnung im Gänge- dem Erzähler. Sie finden ihn noch heute, viertel. Hans, der Lieblingsonkel des Jungen, nach tausend Jahren und mehr, auf dem ein Tunichtgut, hat viel Zeit für die Kinder, Djemma el Fna etwa, in Marrakesch, auf die ihn lieben. Bis zur Währungsreform be- dem Platz der Gehenkten. Er hat ein Mikro- findet sich in dieser Gegend Hamburgs der phon in der Hand, aber sonst ist er der glei- Schwarzmarkt. Bis in die sechziger Jahre ge- che geblieben. In anderer, zeitgemäßer Form hen hier Hausfrauen und Schulmädchen auf begegnet er Ihnen in den Gestalten von eine Art „Amateurstrich“, ein Milieu, das Eminem und Fifty Cent, in den Rappern und den Jungen anzieht und interessiert. Spoken Word-Poeten der Populärkultur. Manchmal kommt eine der Frauen nach oben, setzt sich in Tante Gretes Küche, trinkt Sie wissen, irgendwann hat es den Über- Kaffee, raucht eine Zigarette und redet mit gang von der gesungenen und gesproche- den anderen, die auch nur mal eben rein- nen Sprache zur Schrift gegeben, und die geschaut haben, dann aber sitzen geblieben Kultur des Nahhorizonts, des Alltags und des sind, weil sie ins Erzählen gekommen sind. Pop, die Kultur der Wiederholung und des Rausschmeißer, Ewerführer, Werftarbeiter, mythischen Einsseins hat sich von der Kultur Nutten, Maschinisten, Matrosen, Steuerleute. des Fernhorizonts, der Kontemplation, des Der Hafen ist nicht weit, und man hört das Nacheinander, der Kultur der Selbstreflexion Hämmern von den Werften. und der Geschichte geschieden. Vielfältig sind die Übergänge, Vermischungen und In dieser Küche werden alltägliche Geschich- Verschränkungen, und in manchen Werken ten erzählt von Geburten und Toden, Arbeits- lebt beides in staunenswerter Verbindung suche, Schulden und Abtreibungen, es wird fort, in anderen ist vom Zauber mündlichen von der Liebe in allen Varianten und äußerst Erzählens nichts geblieben, und nur die Er- detailliert gesprochen, wilde, ja bizarre eroti- habenheit der Schrift, ihr Verweis auf die sche Verwicklungen ausgebreitet, es wird Abwesenheit des Erzählten, weht Sie an. Es vom täglichen Glück und Unglück erzählt, wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen von Verrat und Mord, Unfällen und glückli- sage, dass Sie in den Büchern Uwe Timms chen Wendungen, Geschichten wie die vom beides finden, das archaische, dialogische Er- Trümmermörder, die man heute als „Wand- zählen und das kunstvoll-monumentale, mo- ersagen“ bezeichnet. 12 Wir können uns vorstellen, wie der Junge in Die Unterbrechungen, Verschiebungen, Ab- einem Sessel sitzt und alles still und aufmerk- wandlungen, Korrekturen, das Hörensagen, sam verfolgt, im Lauschen zu verschwinden die Vermutungen – all das findet sich in scheint und die Berichte hört, von Schmugg- Timms Büchern, von dem „Mann auf dem lergeschichten bis zu den drastischen Bege- Hochrad“ bis zur „Entdeckung der Curry- benheiten aus dem Liebesleben, in einer le- wurst“. Die Subversion, die Wünsche. bendigen, kraftvollen, farbigen Sprache. Er Zugleich wird das richtungslose, chaotische hört, wie die gleichen Begebenheiten immer Alltagserzählen geordnet und auf eine höhe- neu erzählt werden, variiert, ausgeschmückt re Ebene der Selbsterkenntnis und Selbst- und umgedichtet werden, wie die Wirklich- reflexion gebracht. Dem modernen literari- keit gedeutet und verändert wird, wie die schen Zweifel an der Erzählbarkeit der Welt Verhältnisse verkehrt werden, wie Hoffnun- wird Rechnung getragen, indem das Brüchi- gen und Wünsche sich manifestieren. Es ist ge, Phantastische, Fragile und Fragmentari- eine Welt voller Wunder, sonderbarer Bege- sche der erzählten Geschichten gezeigt wird. benheiten und seltsamer Charaktere, es wird Und doch wird in der Rückkoppelung an das gelogen und phantasiert, und der Junge kollektive Erzählen aus Mythen, Märchen spürt die subversive Lust und Energie, die und Legenden und ihrem Weiterleben im sich in den Geschichten und in der Art, wie Alltag die einsame Position des modernen, erzählt wird, zum Ausdruck bringen. Dies ist vereinzelten Autors mit seiner Deutungs- das alltägliche Erzählen, das sich in seinen autorität unterlaufen. Das, meine Damen Stoffen und der Bedürfnisstruktur vom ar- und Herren, gehört alles zu jenem Wärmest- chaischen Erzählen auf dem Markt unter- rom des Erzählens, aber was ihn ausmacht, scheiden mag, nicht aber in der Form. Dialo- ist noch mehr. gisch, auf Augenhöhe, verschachtelt, auf Gratifikation bedacht, zirkulär. Der Junge Es ist zugleich ein nach außen gerichtetes Er- wird die Geschichten, die er bei Tante Grete zählen, der Welt und ihren Wundern zuge- hört, weitererzählen, ausschmücken, variie- wandt, dem Leben, den sozialen Kämpfen ren, neue Pausen setzen, und er wird mit und erotischen Wirren, den individuellen und seinen Geschichten um die Liebe und Auf- kollektiven Lebensmustern. Und noch etwas merksamkeit seiner Freunde und vor allem hat Uwe Timm in dieser Küche zu ahnen be- der Mädchen werben: ein Tauschverhältnis. gonnen und, wie gesagt, dann auch selbst erlebt: dass Erzählen etwas mit Tausch und Dieser Junge, Sie ahnen es schon, ist Uwe Gabe, mit Geld und Sexualität zu tun hat, Timm, und die Küche seiner Tante Grete ist dass es dem Begehren entstammt und es der ursprüngliche „Garten der Erzählung“, wiederum zu erwecken vermag, dass es mit neben den später der Betrieb tritt, in dem Geld und Liebe aufgewogen werden kann Timm seine Lehre absolviert, eine Kürschner- und Geld und Liebe verzehrt. Nicht nur das lehre. Hier liegt das Erzählzentrum seiner Schicksal seines Cousins Klaus zeugt davon, Kindheit und Jugend, und bis in die Mikro- der tatsächlich wie Peter Walter im „Kopfjä- struktur hinein nehmen Uwe Timms Bücher ger“ seinen späteren Kunden ihr Geld abge- das kollektive Erzählen, das Stimmengewirr schwatzt, durch das Erzählen unerhörter Ge- aus jener Küche, das „Geflüster der Genera- schichten abgeschwindelt und sich mit den tionen“ in sich auf, die Intention, aber auch veruntreuten Millionen ins Ausland abge- die Form jenes Erzählens. setzt hat. Auch Timm selbst erprobt das Er- 13 zählen und seine Wirkung auf die Mädchen te erzählt, zwischen Lena Brücker, die in früh, beim so genannten „Geschichtenball“. Hamburg in einer Kantine arbeitet, und dem Die Mädchen wissen es einzurichten, dass er deutlich jüngeren Marinesoldaten Hermann dabei immer wieder drankommt. Bremer, der in den letzten Kriegstagen 1945 bei ihr Unterschlupf findet und desertiert. Das alltägliche Erzählen bildet die Brücke Lena hält ihn fest, verlängert ihr Glück, in- zwischen dem archaischen Erzählen und dem sie durch falsche Berichte und Geschich- dem Monument der Schrift, und für diese ten verschleiert, dass der Krieg längst zu Ursprünge und Übergänge, ihre Verbunden- Ende ist. Und dann, Bremer ist längst fort, heit und ihre Bedeutung interessiert sich entdeckt sie durch einen Unfall die Curry- Uwe Timm in besonderer Weise. Ich sage Ih- wurst mit ihrem paradiesischen Geschmack. nen das, weil alle diese Figuren und Themen Aber durch eine Erzählung Bremers ist sie in Timms Büchern vorkommen und weil hier, bereits auf die Wunder dieses Gewürzes ge- so glaube ich, das Geheimnis seines kommen. Der wiederum, Hermann Bremer, Erzählens liegt. Die archaischen Erzähler, das hat zwischenzeitlich den Geschmack verloren ist etwa der Vogelmann, jener Sänger-Tän- und gewinnt ihn erst wieder, als er eines Ta- zer-Erzähler, dessen Figur Peter Walter, der ges, viel später, noch einmal nach Hamburg Protagonist von Timms Roman „Kopfjäger“, zurückkehrt und eine von Lena Brückers mit sich führt, das sind auch die Zugochsen, Currywürsten isst. Sie ahnen schon, dass Er- die in Timms Afrikaroman „Morenga“ die zählen und Schmecken, Sprechen und Lie- drei längsten Exkurse, „Landeskunde“ ge- ben viel miteinander zu tun haben und mit nannt, ausführen. Jene Verknüpfung von all- der Zunge, die alles verknüpft. täglichem Erzählen und literarischem Text, der zum dauerhaften Bedeutungsträger, Doch wer ist Lena Brücker? zum Monument wird, ist geradezu unter- schwellig das Thema von Uwe Timms Novel- Sie ist, die genaue Lektüre verrät es Ihnen, le „Die Entdeckung der Currywurst“, einem Scheherazade, sie ist aber auch eine Zauberin, seiner erfolgreichsten Bücher. Es ist im übri- die den reisenden Soldaten Bremer, der übers gen, wie auch der Roman „Kopfjäger“, eine Meer kommt, durch Liebe und doch gegen Hommage an Tante Grete und ihre Erzähl- seinen Willen und mit List und Magie an sich küche, in der, jedenfalls in der im Roman bindet, sie ist, Sie ahnen es schon, Kirke, aber „Kopfjäger“ anverwandelten Erscheinungs- auch, blinde Erzählerin und Chronistin des form, Lena Brücker, die Entdeckerin der Krieges, Homer, ein weiblicher Homer. Aber Currywurst, zuerst auftaucht. Denn der Ich- das weiß sie nicht. Und auch der Ich-Erzähler Erzähler der „Currywurst“ ist der Autor, der weiß es vielleicht nicht, und erst die verdichte- an sieben Besuchstagen im Altersheim der te, reiche, vielschichtige und durch die Zeiten inzwischen erblindeten Lena Brücker die Ge- und Literaturen, durch die gesprochenen und schichte von der Currywurst erst abringen, geschriebenen Geschichten rauschende und ihre Erzählungen ordnen, begradigen, struk- sie wie Kristalle wachsen lassende Novelle turieren muss. weiß es und gibt es an Sie weiter, die Sie ge- Aber was bedeutet das alles? bannt lesen und lauschen und ebenso wie der Ich-Erzähler nach etwas suchen. Zunächst Sie wissen, dass die „Entdeckung der Curry- einmal nach einer guten, spannenden, bewe- wurst“ eine ungewöhnliche Liebesgeschich- genden, aufwühlenden, pointenreichen Ge- 14 schichte, die einen Wert, auch einen handfes- ßerdem mit der französischen Moderne be- ten Wert hat. Eine Novelle, die auch etwas kannt machte. über die Nachkriegszeit und ihre Hoffnungen und Wünsche, ihre Not und ihre Überlebens- Diese Umwege und Widerstände, die frühe tricks erzählt. Verantwortung, auch der wirtschaftliche Er- folg – denn es gelang Uwe Timm tatsächlich, Aber was suchen Sie, was suchen wir noch? das Geschäft zu entschulden – haben nicht Was erzeugt jenen Wärmestrom des nur einen Themenreichtum, eine Erfahrungs- Erzählens, was ist das Begehren, das es steu- fülle mit sich gebracht, die Timm – und sein ert, das wir in Uwe Timms Büchern erken- Werk – sonst nicht besäßen, sie haben ihn nen können und das noch weiter reicht als auch menschlich und politisch tief geprägt. Neugier, Lust und der Wunsch nach einem Aber es gibt etwas in dieser Arbeit selbst, im Lebenssinn, obwohl das alles dazugehört? Handwerk des Kürschners, in der Atmosphä- re, in der gearbeitet wurde, in den Tagesab- Erlauben Sie mir einen kleinen Exkurs in die läufen, das seinem Schreiben tief verwandt Biografie Uwe Timms. ist, es gibt etwas, das auf dieses Schreiben gewartet hat, das schon vorher da war und Uwe Timms Leben als Schriftsteller, sein Timms Schreiben befeuert hat. Werdegang, ist durchaus hart erkämpft, kein glatt verlaufener Bildungsgang. Eine Er selbst spricht in seinen Poetik-Vorlesungen Urszene in diesem Zusammenhang ist der von den „gezeichneten Dingen“, auf die sei- Augenblick in der Schule, als sein damaliger ne Literatur reagiere. Die Dinge, das sind die Deutschlehrer, Herr Blumenthal, einen Auf- Steinaxt mit den zwei Bohrlöchern, auf die satz von Uwe Timm vor der ganzen Klasse sein Schulaufsatz antwortete, das sind der vorlas, eine acht Seiten lange – sehr fantasie- silberne Zahnstocher auf seinem Schreib- volle – Geschichte, bei der Timm angeblich tisch, der zum Anlass für die Geschichte vom das Thema verfehlt hatte, und ihn dem Ge- „Mann auf dem Hochrad“ wurde, das sind lächter der Klasse preisgab. Timm konnte Napoleons Feldbett oder ein Stück Eisen, das nur die Volksschule absolvieren, machte dann auf Kaiser Wilhelm geschleudert wurde, eine auf Wunsch seines Vaters, der ein ursprüng- Aktentasche mit Plastiksprengsatz, zwei Gra- lich gut gehendes Pelzgeschäft in Hamburg natäpfel unter einem Küchenschrank und betrieb, eine Kürschnerlehre. Als sein Vater der Satz von Diderot, dass man davon aus- 1958 plötzlich starb, übernahm der erst gehen müsse, dass der Stein denkt. Dinge 18jährige Timm das inzwischen hoch ver- sind sedimentierte Geschichte, Dinge sind schuldete Geschäft, um die Familie zu ent- das Andere unserer uferlosen Einbildungs- schulden. Erst danach konnte er, mit einem kraft, Dinge sind Spuren, Dinge erzählen Begabtenstipendium versehen, am Braun- vom Gebrauch, bergen Geschichten, Dinge schweig-Kolleg das Abitur nachholen und sind so rätselhaft da wie die Riesen- anschließend studieren. Am Braunschweig- skulpturen auf den Osterinseln. Das Geheim- Kolleg war Benno Ohnesorg, der selber nis unseres in Wirklichkeit phantastischen, schrieb und später als Student 1967 bei den unvorhergesehenen und endlichen Daseins Anti-Schah-Demonstrationen in Berlin vom ist in den Dingen, die uns als verlässliche, Polizeiobermeister Kurras erschossen wurde, dienliche Gebrauchsgegenstände und als sein erster Leser und Freund, der Timm au- Spielzeug zur Verfügung stehen uns aber 15 auch plötzlich fremd werden können, auf hör für die Stimmen, für die Wendungen, eine dichte, unerschöpfliche Weise aufgeho- Sprachfärbungen, Dialekte und Formeln der ben, und es muss nicht zuletzt die Nähe zu gesprochenen Sprache, für die Zwischentöne dieser Erfahrung gewesen sein, die Uwe und das Verschwiegene, ein Sinn für List, Iro- Timm dazu gebracht hat, seine Dissertation nie, Humor. Für jemand, der von gesproche- über die existentialistische Philosophie zu ner Sprache und ihrer Vitalität so angeregt schreiben. Ein Mensch, der von dem Rätsel wird wie Timm, ist Sprache in ihrer Zeichen- der Dinge, ihrer scheinbaren Einfachheit und haftigkeit nicht etwas Gegebenes, sondern zugleich Verschlossenheit, dem Zeugnis von ein Gegenstand des Staunens, ja Stutzens, menschlicher Geschichte, das sie wie ein und von Anfang an sind Timms Romane Konzentrat in sich aufbewahren, so ange- sprachbewusst, über Sprache reflektierend, sprochen, ja angesprungen wird wie Uwe von bisweilen sehr komischen Diskursen über Timm, schreibt anders als ein Mensch, der die Sprache durchzogen, die Sprache ist dieses Zur-Welt-Geöffnetsein nicht kennt. rhythmisiert, Elemente des Jazz werden, wie in „Rot“, im Text aufgenommen, umspielt. Seine eigene Poetelogie kann man sich in Wahrheit nicht aussuchen, sie ist letztlich Aber zurück zur Frage nach der treibenden eine existentielle Disposition, nicht etwas In- Kraft des Timmschen Erzählens. Wer Kinder tentionales, etwas, das man sich aus guten hat, der weiß, dass sie in der Wahl ihrer Absichten zusammen denken würde. Stofftiere, Schmusetücher, Einschlaf-Fetische eine ebenso entschlossene wie gänzlich Zu dieser Disposition gehört bei Timm ein unableitbare Wahl treffen, eine entschiedene unerschöpfliches Bedürfnis nach dem Hören und ganz individuelle Wunsch- und und Erzählen von Geschichten und ein Ge- Beziehungsenergie ist hier am Walten, die

16 sich mit der Pubertät in die ebenso individu- Selbsterhaltung wie im Nebel stehen. Wir er- ellen erotischen Interessen einspeist und auf- kennen uns nur im andern. Und wer dieser fächert. Das Erzählen wird – davon legt ge- andere ist und wer dann wir sind, teilt sich rade Timms Roman „Kopfjäger“ beredtes uns eben nicht abstrakt mit, sondern nur so Zeugnis ab – von diesem Zeitpunkt an zwei- konkret wie möglich, in einer „dichten Be- erlei: Es ist Teil einer erotischen Erobe- schreibung“, die einen Anfang und ein Ende rungsstrategie und gleichzeitig der Ort, an kennt, ein Beziehungs- und Handlungs- dem davon berichtet wird, des Wunderns geflecht, einen thematischen Schwerpunkt: und Staunens. Denn so unberechenbar Kin- eine Geschichte. Und nur der zugewandte der in ihrer Wunschökonomie sind, so anar- Erzähler, der etwas vom anderen will und chisch bleibt die sexuelle Triebkraft auch un- den anderen hört, wird Ihnen etwas über ter der Glasglocke ihrer zivilisatorischen sich erzählen können. Und deshalb hören Sie Bändigung. ihm zu.

Ein so neugieriger, so weltwacher Autor wie Die anderen, die abgewandten Erzähler, Timm hat dies von Anfang an erahnt, erfah- lassen Sie kalt, weil Sie instinktiv spüren, ren, geteilt, beobachtet, hat sich im Schrei- dass sie sich nicht für Sie interessieren, dass ben dem Staunen und Wundern hingege- Sie nur die Leinwand für ihre Schattenspiele ben und es zugleich reflektiert. sein sollen.

Die Wunschenergie ist es, welche die Men- Unser sehnlich begehrtes „Erkenne Dich schen in ihrem Handeln bewegt, und weil selbst“ meint eben nicht ein ehernes philoso- dieses Handeln in der Zeit geschieht, ent- phisches Gesetz, hinter dem sich die anthro- schlossen und doch endlich ist, weil die pologische Konstante von der Vergänglich- Menschen weder sich selbst noch den ande- keit und Flüchtigkeit, der Hinfälligkeit und ren ganz verstehen können und, was ge- Bedeutungslosigkeit des menschlichen Da- schehen ist, eben erst nachträglich bis zu ei- seins verbirgt. Es meint im Gegenteil das von nem gewissen Grad kenntlich wird, werden der maskierten Wunschenergie gesteuerte Geschichten erzählt, müssen Geschichten er- Strukturgesetz jedes einzelnen Lebens und zählt werden. seinen Beziehungsgehalt mit der Welt. Wenn sich einmal der Vorhang der Selbsterhaltung, Das, meine Damen und Herren, ist glaube des Nützlichkeitszwangs hebt, erkennen wir ich der Grund, warum wir Geschichten so eine andere Beziehung zwischen uns und dringend brauchen und Erzähler wie Uwe der Welt, zwischen uns und den anderen Timm. Die Menschen kennen sich nicht. Sie und den Dingen, eine, wie Alejo Carpentier wissen nicht, wer sie sind. Lena Brücker weiß es nannte, „wunderbare Wirklichkeit“. Uwe nicht, wer sie ist. Wir erkennen unsere Wün- Timm hat das geahnt, als er in der Küche sche nicht, weil sie zumeist nur maskiert er- von Tante Grete seine Lektionen des Erzäh- scheinen und vielleicht sogar nur maskiert in lens erhielt, er hat sie behalten und verfei- Erfüllung gehen. Wir erkennen uns nicht, nert, und daher lassen wir uns von ihm mit- weil wir, gefangen in unseren maskierten nehmen in jene Wirklichkeit. Trieben, den Zwängen unseres Lebens, der reißenden Flüchtigkeit der Zeit, unseren ehr- Aber dafür müssen die Sinne geöffnet blei- geizigen Zielen, der dunklen Gewalt der ben, dafür muss man, wie Uwe Timm, mit 17 der Sprache die Welt erkunden, ermessen, ein Denkmal der Fehlplanung und Korrupti- ausloten, feiern wollen, im epischen Erzäh- on..., so aber, durchgeschwitzt, durstig, mit len, während jene, die, mit geschlossenen beulendicken Insektenstichen und einer Ze- Sinnen geplagt, mit der Welt hadern, ge- cke von der Größe eines Mistkäfers im Arm, gen sie anreden, gegen ihre Missratenheit ritt er in innigem Staunen über die Brücke.“ protestieren müssen, in der Tirade enden. Wagner muss den Weg der körperlichen Die Literatur, meine Damen und Herren, Erschöpfung gehen, um zu diesem neuen ist eine Tür, durch die Sie die Wirklichkeit, Staunen gelangen zu gehen. Wir haben es in der wir leben, gleichsam von der ande- als Leser Uwe Timms ein wenig leichter, wir ren Seite noch einmal betreten können. brauchen nur seinen Texten, Geschichten, Büchern zu folgen, mit geöffneten Sinnen. In Uwe Timms Roman „Der Schlangen- baum“ stößt die Hauptfigur, der Bauinge- Meine Damen und Herren, liebe Jury, ich nieur Wagner, in dem lateinamerikani- gratuliere Ihnen zur Wahl Uwe Timms für schen Land, in dem er eine Baustelle den Jakob-Wassermann-Literaturpreis des überwachen soll, bei einer Reise ins Jahres 2006, und ich gratuliere Dir, Uwe, Landesinnere auf einen Arzt, der ihm die zu dieser schönen Auszeichnung! Verhältnisse im Land zu erklären versucht: „This country is a miracle. Because it is a continual transformation from rational structures to shit and then from shit to fairy tales and finally to real miracles.“

Diese Erklärung deckt sich nicht nur mit Wagners Lernprozess, der in dem Maße, in dem er seine erfolgsorientierte Rigidität verliert, sich für jene andere Erfahrungs- dimension öffnet, sondern bezeichnet et- was, das sich in den Büchern Timms selbst mit der dargestellten Wirklichkeit abspielt.

Wagner hat sich bei seiner Reise ins Landesinnere verirrt. Mitten im Dschungel stößt er, nachdem er ein Stück des Wegs auf einem Esel reitend hinter sich gebracht hat, auf eine sechsspurige Autobahn, eine Bauruine: „Sie lag vor Wagner, mächtig und auf eine wunderschöne Weise zweck- los und ohne Sinn, es sei denn, sie trug ih- ren Sinn in sich selbst. Er entdeckte einen Fußgänger auf der Brücke. Wäre er in ei- nem Landrover hierher gekommen, er hät- te sie als Kuriosität belächeln können, als 18 Dankworte: Dr. Uwe Timm

Sehr verehrter Herr Bürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren, als ich vor ein paar Wochen die Nachricht bekam, dass mir die Jury den Jakob-Wasser- mann-Preis zuerkannt hatte, da wusste ich zwar, wer Jakob Wassermann war, einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller in den zwanziger Jahren, gelesen aber hatte ich von ihm nichts. Als Schüler, als Student habe ich aus jener Zeit Thomas Mann, , Alfred Döblin gelesen, um nur einige zu nennen, aber eben nicht Jakob Wasser- mann.

Kein benennbarer Grund hat mich daran ge- hindert, es sei denn der, dass ich in meinem bekannt hatte. Wir kennen das Diktum Bekanntenkreis niemanden hatte, der mir Heines, dass, wo Bücher verbrannt werden, Wassermann ans Herz gelegt hätte. Und das bald auch Menschen brennen. Einer, der belegt einmal mehr, dass Wassermann nicht diese Gefahr früh gespürt hat, war Jakob zu dem Literaturkanon an der damaligen Wassermann. Universität gehörte. Er ist einer jener Auto- ren, deren Lektüre durch das Verbot wäh- In seinem autobiographischen Essay Mein rend der Nazizeit nicht nur unterbrochen, Weg als Deutscher und Jude erzählt Jakob sondern dauerhaft gestört wurde. Wobei Wassermann von einer dreifachen Not. Da seine Nichtbeachtung nach 1945 politische ist die Armut, in der er aufwächst, sodann und psychologische Gründe hatte. der Mangel an Liebe nach dem frühen Tod der Mutter, der durch keine äußere Zuwen- Die in der Nazizeit verbotenen und geächte- dung oder Bestätigung ausgeglichen werden ten Autoren, insbesondere die verfolgten Ju- kann, denn von außen schlägt ihm, dem Ju- den, erinnerten die Nachkriegsdeutschen den, nur Ablehnung entgegen. Dennoch hat zwangsläufig an die begangenen Verbre- sich Wassermann und das ist eine ganz er- chen und die selbstverschuldete Katastro- staunliche Leistung, die er selbst stolz immer phe. Das Gefühl der Peinlichkeit, mit denen wieder hervorhebt, als Autodidakt fortgebil- man ihnen begegnete, sofern man ihnen det und zu dem erfolgreichen Schriftsteller noch begegnen konnte, übertrug sich auf entwickelt. Thomas Mann, der dieses Buch ihre Bücher. Man nahm sie nicht gern zur gelesen hat und es in einem Brief an den Hand. Sie konfrontierten den Leser mit dem Freund Wassermann lobt, tut das mit der eigenen schlechten Gewissen. Die Bücher, Einschränkung, es sei alles doch in einem arg die Romane, Gedichte, Essays waren ja ver- schwarzen Licht gesehen, insbesondere der brannt worden, um einen kritischen Geist deutsche Antisemitismus. Ist nicht doch viel auszulöschen, zu dem man sich selbst nicht dichterische Hypochondrie im Spiele? 19 Worauf Wassermann in seiner Antwort auf viele andere damals die Gefahr unterschätz- die Unvergleichbarkeit der Erfahrungen, sei- ten und sie gut meinend auch noch denen ner und der Thomas Manns, hinweist: Was ausreden wollten, die wie Wassermann, hätten Sie empfunden, wenn man aus Ihrem Opfer des alltäglichen Antisemitismus waren. Lübecker- und Hanseatentum ein Misstrau- ensvotum konstruiert hätte. Das Gegenteil Was mich angerührt hat, an diesem Buch, war der Fall, geehrt wurden Sie deshalb. das ich mir als Student oder Schüler zu lesen gewünscht hätte, ist dieser eindringliche Wassermann hatte bei der Beschreibung der Wunsch Wassermanns, es möge, trotz der deutschen Wirklichkeit nicht übertrieben, Verstocktheit der Deutschen in ihrem Hass, sein Blick war durchaus realistisch, kam aber dennoch zu einer Verständigung, zu einem von einem bestimmten Standort aus, den gedeihlichen Miteinander kommen. Wasser- Wassermann sich nicht selbst gewählt hatte mann, in der Tradition der Aufklärung ste- und den zu wechseln ihm nicht erlaubt war, hend, glaubt unbeirrbar, der Mensch trage so oft er auch den Wohnort wechseln moch- den Keim des Guten in sich und nur widrige te. Er trug die Erfahrungen aus dem Klein- Verhältnisse trieben ihm zum Bösen. Ange- bürgertum der Provinz mit sich, wo ihm ein rührt haben mich in diesem Zusammenhang dumpfer, gegen jede bessere Einsicht abge- auch die wunderbaren Beschreibungen der dichteter Antisemitismus entgegengeschla- fränkischen Landschaft, die ihm Heimat war, gen war. Ein krankhafter Hass, der für jeden in der er sich geborgen fühlte, auch wenn eigenen Mangel, jede erfahrene Zurückset- die Bewohner dieses Landstrichs ihn in ihrer zung die Juden verantwortlich machte. Ein Verblendung geschnitten und ausgegrenzt Hass, der einem Selbsthass entspringend, haben. nach etwas sucht, das er stellvertretend ver- nichten kann. Ein mörderischer Hass. In dem Was ist das für eine Nation, die für das eige- Essay, der 1921 erschienen ist, also 20 Jahre ne Selbstverständnis das Fremde, Andere vor der Wannseekonferenz, auf der bürokra- derart aggressiv ausgrenzt? tisch der Völkermord beschlossen wurde, richtet sich Wassermann an einen wohlmei- Was heißt es, deutsch zu sein? Eine Frage, nenden Deutschen, es könnte Thomas Mann die sich Wassermann stellte, und die er im Ti- gemeint sein, und charakterisiert dessen Hal- tel des Buches – Mein Weg als Deutscher tung folgendermaßen: „Er meint, dass die und Jude – probeweise beantwortet, stellt Wut der Lärmmacher und Schaumschläger sich heute, nach der deutschen Katastrophe, nicht beweisgültig sei für die Gemütsverfas- für die Bürger der Bundesrepublik anders. sung und sittliche Richtung der Nation; er Sie wird – auch dies eine Folge früherer übersieht aber die Zahl der Opfer; er über- Großkotzigkeit und Selbstüberhebung – sieht, dass es müßig ist, wenn ich mich als aus einer tiefen Unsicherheit heraus gestellt. Gefangener in einem Raum voll Kohlenoxyd- Und sie wird in letzter Zeit dringlicher ge- gas befinde, mich damit zu beruhigen, dass stellt. Das liegt einmal in dem neu zu finden- morgen die Fenst er geöffnet werden.“ 124 f. den Selbstverständnis nach der Vereinigung Wassermann hatte nicht übertrieben, aus der beiden Staaten und der damit verbunde- Kohlenoxyd wurde Zyklon B, und die prog- nen internationalen Souveränität der nostische Sensibilität des Autors erschreckt Bundesrepublik, zum anderen liegt es an der uns, die wir wissen, dass Thomas Mann wie Präsenz von fast 7 Millionen Menschen, von 20 denen hier viele schon lange leben, von den Mann aus Southampton oder auch aus Einwohnermeldeämtern aber immer noch Warrick kann sich mit seinem Land, seiner als Ausländer gezählt werden. Man hatte Geschichte identifizieren, vielleicht mit der diese Menschen ins Land geholt; man hatte einen oder anderen Einschränkung, was die sie zum Arbeiten geholt, meist schwere oder Kolonialpolitik betrifft, aber doch so, dass dreckige Arbeit, und man hatte gehofft, sie über regionale Unterschiede ein nationales verschwänden wieder. Nun sind sie geblie- Selbstverständnis daraus erwächst, ben, und ihre Kinder auch, und haben eben insbesondere mit der über Jahrhunderte er- nicht nur eine andere Küche, sondern eine kämpften Verfassung. Zu ihr gehört das andere Sprache, andere Sitten, andere Reli- Königshaus, das immer noch das Recht hät- gionen. Was ist für die neuen, oft ja weiter- te, im Parlament beschlossene Gesetze abzu- hin nur geduldeten Bürger deutsch und was lehnen, was es seit 300 Jahren nicht getan ist es für die, auf deren Geburtsurkunde hat, und auch das ist eine gute Tradition. deutsch steht. Was ist das Deutschsein? Und erst aus einer solchermaßen demokrati- Es sind die Fragen, die von Politikern und schen Tradition, können sich wiederum de- Publizisten gestellt und diskutiert, in Wahl- mokratische Verhaltensweisen zur Mentalität zeiten auf ungute Weise virulent werden. ausprägen, die etwa Fairplay, Understate- Der Begriff Leitkultur ist – auch unabhängig ment und Höflichkeit als unbezweifelbare von den damit anvisierten politischen Zielen Tugenden einschließt. Briten, Dänen, Schwe- – schon deshalb unbefriedigend, weil er, für den, Schweizer, Holländer können sich, mich jedenfalls, immer etwas Herdenhaftes ohne darum Nationalisten zu sein, mit ihrem assoziert, eine Glocke läutet und das Vieh Land identifizieren. Sie zeigen Flagge. Man trottet hinterher. Austausch und Auseinan- kann es, wenn man durch Dänemark oder dersetzung impliziert er jedenfalls nicht, Schweden reist, auch sehen. In Dänemark dabei sind die doch unabdingbar, will man weht in den Gärten und vor den Häusern sich auf gemeinsame Werte verständigen. der Dannebrog, auch oder gerade auch, wenn er zur Zeit andernorts verbrannt wird. Fragt man einen Engländer, was ist englisch, Übrigens hat Wassermann in seinem, wie dann differenzieren sich die Antworten ganz gesagt 1921 erschienenen Buch, gerade das selbstverständlich. Es ist wie beim näheren Verhalten der Dänen gegenüber Juden als Betrachten der Umrisse Englands, der beispielhaft hervorgehoben, und auch das Küstenlinie der britischen Inseln: Je länger, je wissen wir, es waren Dänen, die ihre jüdi- genauer man hinsieht, desto mehr löst sich schen Mitbürger vor dem Zugriff der Deut- die feste Umgrenzung auf. Wenn man jeden schen nach Schweden retteten. Fels, jeden Stein, jedes Sandkorn betrachtet, gibt es schließlich keinen exakten Umriss Das Selbstverständnis einer Nation lässt sich mehr. auch an ihren Feiertagen ablesen. Der 14. Juli erinnert an den Sturm auf die Bastille, Und doch gibt es England, also auch das, also den Beginn der französischen Revoluti- was Englisch ist: die Sprache, die Kultur, die on. Das Fest wird, wer es je in Paris erlebt Geschichte. Dass Nordiren oder Waliser sich hat, auf eine ausgelassene, freudige Weise dazu etwas anderes denken als jemand, der gefeiert. Ein Volksfest, bei dem etwas von aus London oder Birmingham stammt, ist der Lust des utopischen Denkens gefeiert ebenso geschichtlich zu erklären. Aber unser wird: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. 21 Unser Nationaler Feiertag ist der 3.Oktober. Was ist deutsch? Zwar ist es nicht mehr der Sedantag, benannt Auf die Frage, was mich mit meiner Nation nach der Schlacht 1870 in Frankreich, aber verbindet, habe ich meist auf meinen Reise- es ist doch ein Einigungstag. Wie hieß es pass hingewiesen, eine Antwort, die nur damals in Leipzig: Wir sind ein Volk. Auch dies besagte, man hat mit der Nation, mit darin steckt immer noch etwas Völkisches, deutschen Werten, nicht viel am Hut. Oder die Vorstellung der Familie, der Sippe. Hätte die Antwort lautete: Ich bin Hanseat, Ham- man nicht einen anderen Tag finden kön- burger. Auch das ist nur ein Herausreden, nen, zum Beispiel den Tag, an dem – was denn natürlich ist Hamburg in die deutsche Habermas vorgeschlagen hatte – über eine Geschichte eingebunden. Hitler wurde in Verfassung dieser neuen Bundesrepublik ab- Hamburg begeistert gefeiert. Auf den Werf- gestimmt worden wäre. Das hätte der erste ten wurden Schlachtschiffe und U-Boote Schritt zu dem oft vergeblich beschworenen gebaut. Die Stadt prosperierte dank der Verfassungspatriotismus sein können, ein Aufrüstung. Patriotismus, bei dem nicht die Nation im Vordergrund steht, sondern die Werte der Also was verbindet man mit seinem Deutsch- Menschenrechte und die wären ihrem We- sein? Die Kultur und die Sprache. Deutsch sen nach human und universal. So aber war wird jedoch auch in der Schweiz gesprochen die Vereinigung nur ein Anschluss, und von und auch die Kultur hat vieles mit der vielen, die sich über die neu gewonnene Deutsch-Schweiz Gemeinsames, aber eben Freiheit freuten, wurde die darauf folgende eines – und das ganz entschieden – nicht, Abwicklung als kolonialer Akt empfunden. diese kontaminierte Geschichte des letzten

22 Jahrhunderts. Das offizielle Österreich hatte wohnung. Die Erfahrungen zeigen, dass im sich aus dieser Geschichte stehlen wollen, Alltag Zurücksetzung stattfindet, die sich mit dem Hinweis, es sei 1938 das erste Op- durchaus zu Gewalttätigkeiten steigern kön- fer der Deutschen Annexionspolitik gewor- nen. Als in Rostock Brandsätze in Asylbewer- den. Bis es zu dem Fall Waldheim kam, und ber Heime geworfen wurden, davor der grö- man sich der Begeisterung vieler Österrei- lende Mob, glichen die Bilder denen aus der cher bei der Annexion erinnerte, auch daran, Pogromnacht vom 9. November 1938. woher viele, sehr viele der hohen Nazis, zu Allerdings, und das macht den wesentlichen allererst Adolf Hitler, kamen. Von heute auf Unterschied aus, haben Hunderttausende morgen, buchstäblich, wurden die Juden dagegen mit Lichterketten demonstriert, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen Freiwillige haben nachts die Wohncontainer drangsaliert und vertrieben. Egon Schwarz, der Asylsuchenden bewacht. Bürgerinitiati- einer der Vertriebenen und heute ein bedeu- ven entstanden, die nicht nur verbal für Min- tender amerikanischer Germanist, beschreibt derheiten eintreten, sondern für deren Rech- es in seiner Biografie: Unfreiwillige Wander- te aktiv werden. Ein Bürgersinn, der nicht jahre. Solche Feststellungen können die Gehorsam als hohe Tugend setzt, was sich deutsche Schuld nicht verlagern oder verklei- sprachlich in der Floskel geht in Ordnung nern, sie weisen nur auf eine gemeinsame, ausspricht, sondern, wenn nötig, mehr zivi- lange Tradition hin, die des Antisemitismus. len Ungehorsam leistet, gerade dann, wenn staatliche Macht sich allzu selbstverständlich Wassermann beschreibt die daraus folgende aufbläht. Es wäre ein nationales Selbstver- Exklusion, dieses stetig vermittelte Gefühl, ständnis, das sich aus der Negation versteht, nicht dazu zu gehören, ausgegrenzt zu sein, aus der geschichtlichen Schuld, der Erfah- eine Schmach, die nicht durch berufliches rung dessen, was als Zivilisationskatastrophe Können, nicht durch die Beherrschung der bezeichnet wird. Es wäre ein Selbstverständ- Sprache, nicht durch Anstand, Ehrlichkeit, nis, das die eigene nationale Identität, nicht Hilfsbereitschaft, also durch nichts aufgeho- aus einem herabsetzenden Vergleich mit an- ben werden kann, weil sie von der Abstam- deren gewönne, sondern aus dem Wissen, mung hergeleitet wird, von der Blutsver- eine problematische Geschichte zu haben. wandtschaft ausgeht, eine Staatsangehörig- Damit wäre auch die Überwindung eines keit, die nach dem Prinzip des Jus sanguinis emotional aufgeladenen Begriffs von Nation definiert ist. Es ist eine Leistung der Rot- möglich, zugunsten eines eher nüchternen, – grünen-Koalition, dieses Gesetz zumindest also doch lieber der Hinweis auf den Reise- ansatzweise in ein Jus solis umgewandelt zu pass, als auf die Heroen der deutschen Kul- haben, bei dem die Staatsbürgerschaft von tur, die, je bedeutender sie waren, desto dem Geburtsort bestimmt wird. stärker auch von internationalen literari- schen, musikalischen oder wissenschaftlichen Sicherlich seit der Zeit, in der Wassermann in Einflüssen profitierten. Es wäre ein nationales Deutschland lebte, hat sich einiges geändert, Selbstverständnis der Reflexion, nicht der dennoch wären heutige Vorurteile gegenü- emotionalen Selbstgewissheit. Ein Selbstver- ber Minderheiten zu prüfen, beispielsweise ständnis, das auch auf Zukunft gerichtet an dem Verhalten gegenüber türkischen Zu- wäre. Dazu gehören könnte eine heuristi- wanderern oder Afrikanern, etwa bei der sche Freude an Projekten, die nicht allein auf Vergabe einer Arbeitsstelle oder einer Miet- eine Maximierung von Geld und Erfolg zie- 23 len, sondern darauf, Methoden zu entwi- dig, auf gegenseitige Hilfe, Solidarität mit al- ckeln und Erkenntnisse zu sammeln, mit de- len die ausgebeutet, drangsaliert, erniedrigt ren Hilfe Armut und Not bekämpft werden werden. Das müsste nicht immer mit ange- könnten. Eine verantwortliche Solidarität mit strengtem Ernst betrieben werden, sondern den Armen im Land und in der Ferne ande- könnte etwas Spielerisches haben. Ein Aus- rer Länder. Freundlichkeit im Umgang probieren von Möglichkeiten, und selbst im miteinander und eine selbstkritische Gelas- Misslingen könnte noch etwas lustvolles Uto- senheit. Hilfsbereitschaft. Das meint nicht pisches aufscheinen. nur, die auf der Straße liegenden Fahrräder aufzuheben, alten oder gebrechlichen Men- Vielleicht wäre diese Leichtigkeit, auch die schen Plätze in den Straßenbahnen anzubie- Selbstironie, eben das, was Jakob Wasser- ten. Stammtischredner geben der 68er Ge- manns Feststellung über den Deutschen: neration die Schuld an einem allgemeinen „Liebe zu erwecken hat er nirgends verstan- Verfall der Sitten. Die konstatierbare Rück- den...“ korrigieren könnte. Vielleicht könnte sichtslosigkeit und Brutalisierung im Alltag eine Nation, die jetzt so freudlos erscheint, erscheint mir jedoch eher eine Folge des sich öffnen und von den anderen Nationen Wirtschaftsdarwinismus zu sein, sie ist Resul- nicht nur geachtet, sondern auch gemocht tat einer Konkurrenzgesellschaft, in deren werden. Mittelpunkt allein Erfolg und Profit stehen, und damit auch die Angst vor dem Schei- Das sind viele Konjunktive, aber der Kon- tern. Vielleicht wäre eine Rückbesinnung auf junktiv, den wir, wunderbarerweise, noch im das, was nicht nur 68ger bewegte, notwen- Deutschen haben und zu dessen Vorteil, wie

24 ich finde, der Konjunktiv wird grammatika- lisch als irreale Aussage definiert, aber auch als etwas im Bereich des Möglichen, Wün- schenswerten. Ein relativ leicht erfüllbarer Wunsch, der ein wenig helfen könnte das andere Wünschenswerte voranzutreiben, wäre, dass die Bücher von Jakob Wasser- mann die ihnen gebührende Aufmerksam- keit bekämen. Und jetzt zum Schluss ohne Konjunktiv, bedanke ich mich für den Preis, der die Lektüre Jakob Wassermanns ein- schloss. Der Stadt Fürth ist es zu danken, dass mit diesem Preis dem Autor Wasser- mann eine literarische Heimat gegeben wird. Ich bedanke mich bei den Juroren und bei der Stadt Fürth, deren Gast ich sein darf, und Ihnen danke ich, dass Sie gekommen sind.

25 Die Stadt Fürth verleiht seit 1996 den Jakob- Richtlinien für die Verleihung des Jakob-Wasser- Wassermann-Literaturpreis erst im drei-, jetzt mann-Literaturpreises der Stadt Fürth (und Kura- torium) vom 22. Dezember 1993, zuletzt geändert am zweijährigen Turnus an einen deutschspra- 13. Mai 1998, in der Fassung vom 27. Juni 2001, chigen Autor / eine deutschsprachige Auto- zuletzt geändert am 14. November 2001 rin, dessen / deren Werk dem literarischen 1. Die Stadt Fürth verleiht zur Erinnerung an den in Schaffen Wassermanns gerecht wird. Fürth geborenen großen Erzähler und Essayisten Jakob Wassermann den nach ihm benannten Der Preis ging bisher an Jakob-Wassermann-Literaturpreis. Edgar Hilsenrath (1996) 2. Mit dem Jakob-Wassermann-Literaturpreis wird ein Hilde Domin (1999) deutschsprachiger Autor ausgezeichnet, dessen Werk dem literarischen Schaffen Jakob Wasser- Dagmar Nick (2002) manns gerecht wird und das der Förderung von Hu- Sten Nadolny (2004) manität, Toleranz und Gerechtigkeit verpflichtet ist. Dr. Uwe Timm (2006) Gewertet werden einzelne Arbeiten oder das Gesamtschaffen eines Autors. 3. Der Preis wird alle zwei Jahre verliehen; er ist mit 10.000 EUR dotiert. Eine Eigenbewerbung ist nicht möglich. 4. Der Jakob-Wassermann-Literaturpreis wird zuerkannt durch Beschluss des Stadtrates auf Vorschlag eines Kuratoriums, dem sieben beschließende und zwei beratende Mitglieder angehören: 4.1.Beschließende Mitglieder • Ein Vertreter der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (derzeit: Ota Filip) • Ein Literaturkritiker einer regionalen Tageszeitung (Inge Rauh, Nürnberger Nachrichten) • Ein Professor für Neuere Deutsche Literatur (Prof. Dr. Gunnar Och) • Ein Vertreter des Bayerischen Rundfunks (Dr. Dieter Hess) • Ein Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt (N.N.) • Der Oberbürgermeister der Stadt Fürth als Vorsitzender (Dr. Thomas Jung) • Der für Kultur zuständige Referent als sein Stell- vertreter (berufsm. Stadtrat Dr. Karl Scharinger). 4.2.Beratende Mitglieder: • Zwei ehrenamtliche Stadtratsmitglieder ohne Stimmrecht (Stadträtin Birgit Arnold und Stadtrat Rolf Werner). 4.3.Jedes Mitglied des Kuratoriums kann persönliche Vorschläge in die Beratung einbringen. Zur Erstellung des Vorschlages an den Stadtrat genügt die einfache Mehrheit. Die Mitglieder des Kuratoriums sind eh- renamtlich tätig; die mit dieser Tätigkeit verbunde- nen Aufwendungen werden erstattet. 5. Wird der Preis nicht verliehen, werden die Mittel den Städtischen Bibliotheken zur Verfügung gestellt. Herausgegeben von der Stadt Fürth, 6. Der Jakob-Wassermann-Literaturpreis wird anlässlich Bürgermeister- und Presseamt (BMPA), 90744 Fürth, [email protected], Tel. 0911 / 974-1201 des Geburtstages von Jakob Wassermann (10. März) Gestaltung: Susanne Altenberger (BMPA) verliehen. Fotos: Norbert Mittelsdorf (BMPA), Thomas Scherer 7. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. 26