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Aus Freude am Lesen

1162_73919_Hage_Titelei.indd62_73919_Hage_Titelei.indd 1 003.09.103.09.10 12:0412:04 Die deutschsprachige Literatur befi ndet sich in einer aufre- genden Phase des Übergangs: Jüngere Schrift steller vermessen die Welt neu und betreten erfolgreich das Parkett, auf dem die vitalen und erfolgreichen Autoren der legendären Gruppe 47 noch munter „Letzte Tänze“ (Titel eines Lyrikbandes von Günter Grass) absolvieren. Erzähler wie Daniel Kehlmann, Uwe Tellkamp, Katharina Hacker, Arno Geiger oder können inzwischen Bestsellerruhm für sich verbuchen. Kernstück dieser ersten umfassenden Darstellung der aktuellen Gegenwartsliteratur ist der Essay „Kurze Geschichte der neues- ten deutschen Literatur“, der den Höhepunkten und Debatten, den Trends und neuesten Entwicklungen folgt. Im zweiten Teil werden exemplarische Werke präsentiert und einzelne Autoren porträtiert. Den Schlusspunkt setzt eine Gesprächsrunde mit drei jüngeren Autoren über Erfolge, Erfahrungen, Pläne.

Volker Hage, geboren 1949 in Hamburg, kam nach Stationen bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und der »Zeit« zum „Spiegel“, wo er seit 1992 als Literaturredakteur arbeitet. Er hatte Gastprofessuren in Deutschland und den USA inne. Als Heraus- geber und Autor zahlreicher Bücher hat er die deutsche sowie die internationale Literaturentwicklung kritisch beobachtet und kommentiert. Er ist einer der bekanntesten Literaturkritiker im deutschsprachigen Raum.

Volker Hage bei btb: Schiller. Vom Feuerkopf zum Klassiker (74009)

1162_73919_Hage_Titelei.indd62_73919_Hage_Titelei.indd 2 003.09.103.09.10 12:0412:04 Volker Hage Letzte Tänze, erste Schritte

Deutsche Literatur der Gegenwart

1162_73919_Hage_Titelei.indd62_73919_Hage_Titelei.indd 3 003.09.103.09.10 12:0412:04 Mix Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und anderen kontrollierten Herkünften www.fsc.org Zert.-Nr. GFA-COC-001223 © 1996 Forest Stewardship Council Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100 Das für dieses Buch verwendete fsc-zertifizierte Papier Munken Pocket liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

1. Auflage Juli 2010 btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © 2007 by Deutsche Verlags-Anstalt, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: semper smile, München unter Verwendung einer Vorlage von Büro Jorge Schmidt, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Einband: CPI – Clausen & Bosse, Leck MM · Herstellung: SK Printed in isbn 978-3-442-73919-6

www.btb-verlag.de

1162_73919_Hage_Titelei.indd62_73919_Hage_Titelei.indd 4 003.09.103.09.10 12:0412:04 INHALT

1. TEIL: CHRONIK

13 Kurze Geschichte der neuesten deutschen Literatur (1999–2009)

2. TEIL: KRITIK

121 Das ganze Säkulum: ein Quiz Günter Grass: „Mein Jahrhundert“ (1999)

126 Der Westen küsst anders : „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (1999)

130 Ehebruch vor dem Kloster Doris Dörrie: „Was machen wir jetzt?“ (2000)

135 Fenstersturz im Täterland Maxim Biller: „Die Tochter“ (2000)

137 Gottes Auge, Menschenblick Botho Strauß: „Das Partikular“ (2000)

142 Wildwest im Ossiland Christoph Hein: „Willenbrock“ (2000)

145 Hände wie Zauberstäbe Alissa Walser: „Die kleinere Hälfte der Welt“ (2000)

148 Der Bulle und das Mädchen : „Gier“ (2000)

1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er5er5 5 004.09.20104.09.2010 8:33:258:33:25 UhrUhr 150 Der Mörder im Keller Josef Haslinger: „Das Vaterspiel“ (2000)

155 Anjas Wunsch und Wahn Dieter Wellershoff: „Der Liebeswunsch“ (2000) 159 Wunderfahrt ins Alte Land Brigitte Kronauer: „Teufelsbrück“ (2000) 163 Theaterszenen im All Silvia Szymanski: „Agnes Sobierajski“ (2000) 167 Blutiger Abgang Helmut Krausser: „Schmerznovelle“, Thomas Lehr: „Frühling“ (2001) 172 Der Duft der Frauen Thomas Hürlimann: „Fräulein Stark“ (2001) 175 Ich bin nicht unschuldig Bodo Kirchhoff: „Parlando“ (2001) 178 Wilde Bärbel, geheime Konten Frank Schulz: „Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien“ (2001) 181 Vom tausendmaligen Sterben erzählen Günter Grass: „Im Krebsgang“ (2002) 189 Auf Leben und Tod : „Leibhaftig“ (2002) 194 Geliebtes Monster Liane Dirks: „Vier Arten meinen Vater zu beerdigen“ (2002) 198 Deutschland im Herbst : „Endmoränen“ (2002) 202 Auf der Suche nach Therese Daniel Kehlmann: „Ich und Kaminski“ (2003)

1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er6er6 6 004.09.20104.09.2010 8:33:268:33:26 UhrUhr 204 Sex mit dem Hundemörder Sabine Gruber: „Die Zumutung“ (2003)

207 Sommergäste, hautnah Ernst Augustin: „Die Schule der Nackten“ (2003) 209 „Nimm dich nicht so wichtig!“ Christa Wolf: „Ein Tag im Jahr“ (2003) 216 Geiseln der Sucht Maike Wetzel: „Lange Tage“ (2003) 218 Siegen und siechen Einar Schleef: „Tagebuch 1953–1963. Sangerhausen“ (2004) 224 Fremde in der Kleinstadt Christoph Hein: „Landnahme“ (2004) 226 Die Verteidigung der Blindheit : „Der Augenblick der Liebe“ (2004) 229 Als die D-Mark jung war Dieter Forte: „Auf der anderen Seite der Welt“ (2004) 234 Luxuriöses Unglück Wilhelm Genazino: „Die Liebesblödigkeit“ (2005) 238 Chor der stummen Stimmen Walter Kempowski: „Culpa“, „Abgesang ’45“ (2005) 244 Wiener Pointenstadl Eva Menasse: „Vienna“ (2005) 248 Die Bucht der toten Schiffe Jochen Missfeldt: „Steilküste“ (2005) 250 Glücksgefühle ohne Dauer Annette Mingels: „Die Liebe der Matrosen“ (2005)

1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er7er7 7 004.09.20104.09.2010 8:33:278:33:27 UhrUhr

251 Ganz verrückt nach Ada Jens Petersen: „Die Haushälterin“ (2005) 253 Wühlarbeit im Haus der Ahnen Arno Geiger: „Es geht uns gut“ (2005) 257 Nach dem Sommerfest Dieter Wellershoff: „Das normale Leben“ (2005) 259 Held auf der Laufstrecke Hans-Ulrich Treichel: „Menschenfl ug“ (2005) 262 Strapazen der Rückkehr Bernhard Schlink: „Die Heimkehr“ (2006) 264 Von hinten anschleichen Walter Kempowski: „Hamit“ (2006) 267 Ein Fremder in Paris Peter Stamm: „An einem Tag wie diesem“ (2006) 270 Meine Frau, deine Frau Botho Strauß: „Mikado“ (2006) 272 Kain und Abel, dem Himmel nah Christoph Ransmayr: „Der fl iegende Berg“ (2007) 275 Im toten Winkel : „Kali“ (2007) 278 Dichter auf Reisen : „Handy“ (2007) 281 Zerbrechliches Wunderkind Pascal Mercier: „Lea“ (2007) 283 Flotter Dreier auf Capri Arnold Stadler: „Komm, gehen wir“ (2007)

1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er8er8 8 004.09.20104.09.2010 8:33:278:33:27 UhrUhr 284 Nächte am Baseler Platz Martin Mosebach: „Der Mond und das Mädchen“ (2007) 285 Im Haus des Henkers Botho Strauß: „Die Unbeholfenen“ (2007) 288 Baumeister der Bombe Michael Köhlmeier: „Abendland“ (2007) 290 Gedächtniswunder Gerhard Roth: „Das Alphabet der Zeit“ (2007) 292 Der übermütige Unglücksritter Peter Handke: „Die morawische Nacht“ (2008) 297 Lieben mit Goethe Martin Walser: „Ein liebender Mann“ (2008) 303 Unterwegs mit Zwodoppelvier Karen Duve: „Taxi“ (2008) 308 Mit Stella auf der Insel : „Schweigeminute“ (2008) 310 Bockbeiniges Väterchen Günter Grass: „Die Box“ (2008) 315 Die Blutbäder der anderen Lukas Bärfuss: „Hundert Tage“ (2008)

1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er9er9 9 004.09.20104.09.2010 8:33:278:33:27 UhrUhr 321 Mentor und Manager Benedict Wells: „Becks letzter Sommer“ (2008) 323 „Ich habe sehr gelitten“ Daniel Kehlmann: „Ruhm“ (2009) 327 Nun wollen sie es wissen Daniel Glattauer: „Alle sieben Wellen“ (2009) 330 Den Vater im Genick Sibylle Lewitscharoff: „Apostoloff“ (2009) 331 Abschluss und Abschied Walter Kempowski: „Langmut“ (2009) 332 Ein unerhört Verstehen Walter Kappacher: „Der Fliegenpalast“ (2009) 333 Alle sieben Jahre Stephan Thome: „Grenzgang“ (2009) 336 Unterwegs Hugo Loetscher: „War meine Zeit meine Zeit“ (2009) 337 Die Getreuen der Liebe : „Vom Aufenthalt“ (2009) 340 Mond und Totschlag Rolf Bauerdick: „Wie die Madonna auf den Mond kam“ (2009)

1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er10er10 1010 004.09.20104.09.2010 8:33:288:33:28 UhrUhr 342 Erbarmen in der Ehe Katharina Hacker: „Alix, Anton und die anderen“ (2009) 343 Robertas Risiko Martina Zöllner: „Hundert Frauen“ (2009) 346 Ade BRD oder: Der lange Abschied von der Bonner Republik Jochen Schimmang: „Das Beste, was wir hatten“ (2009)

3. TEIL: INTERVIEW

349 Unsicherheit als Motor Gesprächsrunde mit Judith Kuckart, Clemens Meyer und Ilija Trojanow (2006)

359 Bio-bibliografi sche Angaben 385 Nachweise 387 Register

1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er11er11 1111 004.09.20104.09.2010 8:33:288:33:28 UhrUhr 1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er12er12 1212 004.09.20104.09.2010 8:33:288:33:28 UhrUhr 1. TEIL CHRONIK

Kurze Geschichte der neuesten deutschen Literatur (1999 –2009)

Bevor das 20. Jahrhundert zu Ende ging, erlebte die deutsche Nachkriegsliteratur noch einen großen Triumph. Am 30. Sep- tember 1999 kam die Meldung, dass dem Schriftsteller Günter Grass der Nobelpreis für Literatur zuerkannt worden sei. Als erster Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg war 1972 Heinrich Böll (1917–1985) mit dem begehrten Preis ausgezeichnet worden – schon damals hatte sich die literarische Fachwelt gewundert und war sich weitgehend einig, dass die Auszeichnung eher Grass zuge- standen hätte, dem größeren und risikobereiteren Erzähltalent. Die erste Reaktion des damals 71 Jahre alten Autors auf die gute Nachricht aus Stockholm: Er habe rund 20 Jahre lang als Kandidat gegolten, und das Warten habe ihn jung gehalten. Nun beginne für ihn das Alter. Grass erhielt den Preis 40 Jahre nach dem Erscheinen seines internationalen Erfolgsromans „Die Blechtrommel“. Ein wenig wie Zahlenmystik mutet es an, dass dem aus Danzig stammen- den Schriftsteller ausgerechnet im Jahr mit der Dreifach-Neun als neuntem deutschsprachigen Autor der Preis zugesprochen wurde – mitgezählt und , die beide aus Deutschland stammten, allerdings nicht als Deutsche aus- gezeichnet worden waren (Hesse war 1946 Bürger der Schweiz, und die aus Deutschland gefl ohene Sachs wurde 1966 als Schwe- din geehrt). Immerhin vermied es die Jury in Stockholm, aus- schließlich den Debütroman von Grass zu würdigen – wie es 1929, sehr zum Verdruss des Autors, bei und dessen „Buddenbrooks“ (1901) der Fall war. Freilich wurde „Die Blech-

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er13er13 1313 004.09.20104.09.2010 8:33:288:33:28 UhrUhr Chronik trommel“ deutlich genug in der Preisbegründung hervorgeho- ben: Bei Erscheinen des Romans im Jahre 1959 sei es gewesen, „als wäre der deutschen Literatur nach Jahrzehnten sprachlicher und moralischer Zerstörung ein neuer Anfang vergönnt wor- den“. Ein großartiger Anfang war das damals, in der Tat: Für Grass sowohl wie für die deutsche Literatur nach 1945. Und ein genialer Romananfang überdies: Dem gerade 31 Jahre alten Grass war ein Auftakt gelungen, der bis heute zu den elegantesten Spieleröff- nungen der Weltliteratur zählt. Nicht nur, dass sich der Roman- held, der aus eigenem Entschluss kleinwüchsige Oskar Matzerath mit wenigen Worten („Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pfl egeanstalt“) als höchst eigenwilliger Ich-Erzähler und fragwür- diger Zeuge der Ereignisse präsentiert, es werden auch gleich auf den ersten Seiten die modischen Zweifel am Erzählen aufgegriffen und lässig vom Tisch gewischt. Es macht immer noch Vergnü- gen, dem wild entschlossenen epischen Debütanten Grass dabei zuzusehen, wie er sich sein Recht aufs Fabulieren gegen die litera- turtheoretischen Verbotstafeln der Zeit ertrotzt: Natürlich könne man eine Geschichte in der Mitte beginnen, lässt er seinen Oskar sagen, man könne auch ganz am Anfang behaupten, es sei heutzu- tage unmöglich, einen Roman zu schreiben, oder beteuern, es gebe keine Romanhelden mehr, „weil es keine Individualisten mehr gibt, weil die Individualität verlorengegangen, weil der Mensch einsam, jeder Mensch gleich einsam, ohne Recht auf individuelle Einsamkeit ist und eine namen- und heldenlose Masse bildet“. Er, Oskar, und sein Pfl eger Bruno seien aber Helden, „ganz ver- schiedene Helden“. Selbst eine dem traditionellen epischen Erzählen abholde Autorin wie die Österreicherin Elfriede Jelinek, die kaum ahnen konnte, dass sie wenige Jahre später selbst den Nobelpreis er- halten würde, sprach 1999 aus Anlass der Grass-Auszeichnung in höchsten Tönen von diesem Roman und seinem Beginn, von der „Atemlosigkeit und Gehetztheit des frühen Grass“. Jelinek schrieb weiter: „Er hat nach dem Mief der Nazis etwas geschafft, was ich an Innovationskraft in der deutschen Literatur nie wie-

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er14er14 1414 004.09.20104.09.2010 8:33:288:33:28 UhrUhr Erzählen? Warum denn nicht? der gefunden habe. Den Prosarhythmus, diesen großen epischen Atem – wer hat das denn noch? Ich habe Böll sehr geschätzt, aber Grass hatte die größere Bedeutung für die Literaturge- schichte.“

Erzählen? Warum denn nicht?

Der Nobelpreis für Grass weckte hohe Erwartungen, auch und gerade bei Autoren, die bisher im Schatten der Größen der deut- schen Nachkriegsliteratur gestanden hatten, im Schatten von Böll und Grass, von Walter Kempowski und Siegfried Lenz, Martin Walser und Christa Wolf. Nachdem in den achtziger und neun- ziger Jahren nur eine relativ geringe Aufmerksamkeit für die Prosa der Nachfolger und Nachgeborenen zu verzeichnen gewesen war – von Ausnahmen wie Patrick Süskind („Das Parfum“, 1985), Christoph Ransmayr („Die letzte Welt“, 1988), Robert Schneider („Schlafes Bruder“, 1992) oder Bernhard Schlink („Der Vorleser“, 1995) abgesehen –, zog das Interesse Ende der neunziger Jahre merklich an, und auch jüngere deutsche Autoren aus Ost und West erreichten mit ihren Büchern hohe Aufl agen. Der 1965 in Ost-Berlin geborene Thomas Brussig etwa hatte von seinem 1995 publizierten Roman „Helden wie wir“ schon rund 200 000 Exemp- lare verkauft, als die Verfi lmung im November 1999 in die Kinos kam. Gerade einmal 17 Jahre alt war Benjamin Lebert, als im Früh- jahr 1999 sein später dann ebenfalls verfi lmter Erstling „Crazy“ erschien – bis Ende desselben Jahres waren schon an die 180 000 Stück abgesetzt. Das waren Zahlen, von denen jüngere Autoren bis dahin nur träumen konnten, nicht selten mussten sie sich mit Aufl agen von wenigen Tausend Exemplaren zufriedengeben. Auch das Ausland, an der deutschen Literatur lange Zeit des- interessiert, begann sich wieder für Romane und Novellen made in Germany zu erwärmen. „Die Situation hat sich plötzlich ver- ändert“, stellte im Oktober 1999 das Londoner Literaturblatt „The Times Literary Supplement“ fest: dank einer „ungewöhn- lich großen Anzahl perfekter Erstlingsromane“ jüngerer deut-

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er15er15 1515 004.09.20104.09.2010 8:33:298:33:29 UhrUhr Chronik scher Autoren. Der Nobelpreis für Grass war da eine zusätzliche Ermutigung. „Ich glaube ganz sicher“, sagte etwa Michael Krüger, Chef des Münchner Hanser-Verlags und selbst Autor, „dass diese Preisverleihung an Grass einen Schub für die deutsche Literatur bringen wird. Schon in den Jahren zuvor hat sie im Ausland mehr Aufmerksamkeit gefunden als in früheren Jahren.“ Seit 1995 gibt es auch das Deutsche Literaturinstitut Leipzig, hervorgegangen aus dem ehemaligen Johannes-R.-Becher-Institut der DDR und nun der Universität angegliedert: eine regelrechte Schreibakademie. Der österreichische Schriftsteller Josef Haslin- ger, der 1996 dort seine Arbeit als Dozent aufnahm, erklärte drei Jahre später, man könne zwar keine Autoren heranzüchten, aber viele Anfängerfehler vermeiden helfen. Die ewige Frage „Lässt sich noch erzählen?“ spiele kaum noch eine Rolle, sagte er. „Da gibt es eine neue Unbekümmertheit.“ Die Enkel der Nachkriegsliteratur traten an, befreit von man- cher Beschwernis der vom Zweiten Weltkrieg geprägten Vorgän- gergeneration. Übermächtige Schuldgefühle waren es vor allem, die deutsche Autoren nach 1945 immer wieder in erzählerische Selbstzweifel getrieben hatten. Die Nachkriegsliteratur konnte nicht umhin, sich von der ersten Stunde an mit dem Schatten der Nazi-Verbrechen, den Folgen des verlorenen Krieges und der Frage der deutschen Schuld auseinanderzusetzen. Das war nicht nur ein moralisches, es war auch ein ästhetisches Problem: Wie ließ sich – und ließ sich überhaupt – angemessen auf den Horror reagieren, der vergangen, aber nicht vergessen, ja noch nicht ein- mal richtig erinnert worden war? „Die Literatur war nicht vorbereitet auf und hat keine Mit- tel entwickelt für solche Vorgänge“, hatte bald nach dem Krieg mit Blick auf die deutschen Konzentrations- lager notiert: Die Vorgänge dort würden „keine Beschreibung in literarischer Form“ vertragen. Noch Jahrzehnte später sah der damalige Rowohlt-Verleger Michael Naumann die deutschen Schriftsteller in einer schwierigen Lage: Keiner von ihnen könne „bei hellem Verstand“ eine Geschichte erzählen, als wäre nichts geschehen. Das „wahre Wunder“ sei, dass die deutsche Dichtung

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er16er16 1616 004.09.20104.09.2010 8:33:298:33:29 UhrUhr Erzählen? Warum denn nicht? nach dem Krieg nicht gänzlich verstummte. Rigorose Ansich- ten hatte nicht zuletzt Theodor W. Adorno formuliert, der das Schreiben von Gedichten nach Auschwitz für „barbarisch“ hielt, außerdem 1954 kategorisch behauptete: „Es läßt sich nicht mehr erzählen.“ In der Folge des Krieges sei die „Identität der Erfah- rung“ und damit „die Haltung des Erzählers“ für immer ver- lorengegangen. Erst vor diesem Hintergrund war auch die Leistung des „Blechtrommel“-Verfassers recht zu würdigen, ließ sich die Wir- kung des Romans überhaupt verstehen: Gegen alle Skrupel hatte Grass Ende der fünfziger Jahre in seinem Pariser Kellerzimmer munter angeschrieben, bestärkt und beraten nicht zuletzt von sei- nem Gesprächspartner (1920–1970), dem melancho- lischen Holocaust-Überlebenden und rätselvollen Lyriker („Todes- fuge“). Wild entschlossen trommelten der Autor und sein Held, der Winzling Oskar Matzerath, gegen das Erzählverbot. Der Bericht aus Zwergensicht ermöglichte das ungezwungene Fabulieren und dabei auch die Darstellung von Greueltaten und Schrecken, ohne die Form des Romans zu sprengen. Oskar erzählt von einer klein- bürgerlichen Kindheit in Danzig, einer Jugend unter Hitler, von deutschen Kriegs- und Nachkriegszeiten. Und er schildert einige sexuelle Begebenheiten – übrigens geradezu dezent, auch wenn das Brausepulver-Vorspiel zwischen dem kleinen Oskar und der gewaltigen Maria bald schon einen fast legendären Ruf genoss: „Mir jedoch lag Marias Bauchnabel nahe, und ich vertiefte meine Zunge in ihm, suchte Himbeeren und fand immer mehr […], und ich ließ mir einen elften Finger wachsen.“ Doch kaum waren 1959 und im Jahr darauf die ambitionierten Romane von Grass, von Heinrich Böll („Billard um halbzehn“), („Mutmassungen über Jakob“) und Martin Walser („Halbzeit“) erschienen, begann der Aufstand gegen das Erzählen erst richtig. In den sechziger Jahren wurde eine regelrechte Anti- haltung von jenen Autoren und Literaturtheoretikern kultiviert, die sich als Statthalter der Moderne verstanden. Die literarischen Gattungen wurden für überholt, der Roman und schließlich – im Verbund mit der Studentenrevolte – die ganze „bürgerliche Lite-

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er17er17 1717 004.09.20104.09.2010 8:33:298:33:29 UhrUhr Chronik ratur“ für tot erklärt. Von heute her gesehen will das damalige Literaturklima nahezu suizidal erscheinen: Den Schriftstellern selbst galt plötzlich das Erfi nden von Geschichten als verdächtig und verachtenswert. Die Voraussetzungen für den Roman seien zusammen mit dem Bürgertum verschwunden, wurde behauptet, spannende Fabeln mit auffälligen Helden seien anachronistisch, mithin bloß noch trivial, ja auf das Fabulieren überhaupt müsse verzichtet werden. Der junge Österreicher Peter Handke schrieb 1967: Die „Methode der Geschichte“ sei für ihn nur noch anwend- bar „als refl ektierte Verneinung ihrer selbst: eine Geschichte zur Verhöhnung der Geschichte“. Dieses selbstzerstörerische Endzeitlied wurde Ende der sech- ziger Jahre, als die neue Linke gegen Konventionen revoltierte, zum intellektuellen Gassenhauer. Die Autoren schufen sich gewis- sermaßen selbst ab: „Die Geschichten machen keinen Spaß mehr“ (), „Literatur in jeder Form ist unnütz“ (Peter O. Chotjewitz), hieß es, und als Gebot der Stunde wurde ernst- haft ausgegeben: „Holen wir die geschriebenen Träume von den brechenden Bücherborden der Bibliotheken herunter und drü- cken wir ihnen einen Stein in die Hand“ (Peter Schneider). Wer nicht gleich auf die Straße ging und dennoch auf der Höhe der Zeit sein wollte, produzierte gattungslose „Texte“, experimentierte mit Zitatmontagen und dokumentarischem „Material“ und ödete damit nicht nur das Publikum an, sondern am Ende wahrschein- lich auch sich selbst. Mitte der siebziger Jahre galt es vielen, wie dem Maler und Autor Wolfgang Hildesheimer (1912–1991), als ausgemacht, dass die Schriftsteller „unsicher über Wert und Gül- tigkeit der Fiktionen geworden sind“ und „keine Geschichte mehr zum Erzählen fi nden“ – wobei Hildesheimer ketzerisch fragte: „Warum wagen diese Schriftsteller nicht den endgültigen Schritt und geben die Literatur auf?“ Der ausgestellte Überdruss am eigenen Metier, das Misstrauen den „eigenen Kunststücken“ (Grass) gegenüber, alles im Namen eines dubiosen literarischen Fortschritts und gerichtet gegen das angeblich naive und traditionelle Geschichtenerzählen, ver- schreckte zahlreiche Nachwuchstalente – zumal ein Großteil der

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er18er18 1818 004.09.20104.09.2010 8:33:308:33:30 UhrUhr Erzählen? Warum denn nicht? deutschen Literaturkritik sich die Argumente zu eigen machte. Da half es vorerst auch wenig, wenn einige der Autoren bald schon die voreilige Preisgabe von Fabel und Fiktion bereuten und zur Umkehr mahnten. Peter Handke erkannte zu Beginn der siebziger Jahre, „daß eine Fiktion nötig ist, eine refl ektierte Fiktion, damit die Lesenden sich wirklich identifi zieren können“. Doch vielen Lesern war die Lust auf deutsche Literatur vorerst vergangen: Es gab ja genug großartige Erzähler in Europa, von denen aus Nord- und Südamerika ganz zu schweigen. Allenfalls hatte ein Fabulierkopf wie Michael Ende noch eine Chance, der sich als Jugendbuchautor weitgehend frei von Erzählskrupeln fühlen durfte und mit den beiden für Kinder und Jugendliche geschriebenen Romanen „Momo“ (1973) und „Die unendliche Ge- schichte“ (1979) überraschend ein Millionenpublikum erreichte. Die zwei Bücher belegten die ersten beiden Plätze der „Spiegel“- Jahresbestsellerliste 1981 und gaben die Richtung für die acht- ziger Jahre vor: Wenn die Phantasie schon nicht im Straßenkampf an die Macht zu bringen war, so sollte sie doch in der Literatur wieder zu ihrem angestammten Recht kommen. Mit seinem 1985 veröffentlichten Roman „Das Parfum“, der ebenfalls märchenhafte Züge trägt, gelang dem 1949 geborenen Patrick Süskind als erstem deutschen Autor der Nachkriegsgeneration ein großer interna- tionaler Bucherfolg, der nicht nur an den der „Blechtrommel“ heranreichte, sondern ihn glatt überrundete: Mittlerweile ist der Süskind-Bestseller weltweit mehr als sechzehn Millionen Mal ver- kauft worden. Auf „Das Parfum“ folgte „Der Vorleser“: Schlinks zehn Jahre später publizierter Roman, der in Deutschland von der Kri- tik positiv aufgenommen worden war, ohne gleich zu einem spektakulären Verkaufserfolg zu werden, machte international eine beachtliche Karriere, zunächst in Frankreich und Groß- britannien. Im Frühjahr 1999 führte „The Reader“ (so der angel- sächsische Titel) dann auch die Bestsellerliste der „New York Times“ an. Ein ungewöhnlicher Erfolg für ein ungewöhnliches Buch: Aus der Perspektive eines Nachgeborenen, der als Schü- ler von einer älteren Frau verführt worden ist und sie später als

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er19er19 1919 004.09.20104.09.2010 8:33:308:33:30 UhrUhr Chronik Student in einem KZ-Prozess auf der Anklagebank erkennt, schildert Schlink das Dilemma einer Generation, die es sich mit der Verurteilung der Eltern leicht macht und kaum Fragen an sich selbst richtet. Schon 1997, als der Roman – mit bescheidener Startaufl age – in Amerika herausgekommen war, hatte ihn die „New York Times“ hymnisch begrüßt. „Gerade in dem Moment, wo alles über Deutschland und den Krieg gesagt zu sein scheint, kommt dieses fesselnde, philosophisch elegante und moralisch komplexe Buch von Bernhard Schlink“, war in der Kritik zu lesen. Am Ende sei der Leser bewegt und verstört, erschüttert und irritiert – und vor allem „mächtig angesprochen von einer Erzählung, die das Gewicht der Wahrheit auf ihren Schultern trägt“. Andere ameri- kanische Zeitungen waren nicht minder begeistert, das anspruchs- volle Blatt „New York Review of Books“ begann seine umfangrei- che Rezension des Werks mit den Worten: „Nur selten vermag ein Roman von diesem bescheidenen Umfang solche Anforderungen an seine Leser zu stellen.“ Wie für Süskinds Roman (dessen nicht besonders überzeugende Verfi lmung 2006 in die deutschen Kinos kam) interessierte sich die Filmindustrie auch bald für Schlinks „Vorleser“. Als 1998 das Hollywood-Studio Miramax den Zuschlag erhielt, lagen beim Schweizer Diogenes-Verlag nicht weniger als 34 Anfragen aus den USA, 21 aus Deutschland und noch einmal rund 30 aus dem übrigen Europa vor (die Dreharbeiten sollen im Spätsommer 2007 beginnen). Von Nachkriegsgrößen wie Grass und Walser unterschieden sich die jüngeren Erfolgsautoren wie Süskind und Schlink in einem wesentlichen Punkt: Sie suchten nicht das Scheinwerfer- licht der Öffentlichkeit, waren als Person wenig greifbar. Zum Inbegriff solcher Zurückgezogenheit war der – wie Schlink – 1944 geborene Botho Strauß geworden, der seit den achtziger Jahren eine Form von Gedankenprosa kultivierte („Paare, Passanten“), die von der neuen Fabulierlust gleich weit entfernt war wie von Avantgardedenken und Sprachexperiment. Mit mildem Spott schaute Strauß denn auch in seinem Prosabuch „Die Fehler des Kopisten“ (1997) auf die jüngere „Roman-Literatur“ der Kollegen,

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er20er20 2020 004.09.20104.09.2010 8:33:308:33:30 UhrUhr Erzählen? Warum denn nicht? die zumindest „auf dem Markt einen produktiven Aufschwung“ zeige – „seitdem die Risiken der Moderne in Vergessenheit gerie- ten und eine nachschöpferische Unbefangenheit die Werke leich- ter hervorbringt“. Strauß klagte nicht, er stellte nur fest: Man werde Woche für Woche von „Meisterwerken“ bedrängt, von neuen Romanen und Filmen, die freilich, so seine Einschätzung, „ein wenig zu harm- los ausfallen und es zu meisterlich verstehen, größere Gefahren des Geistes und der Form zu vermeiden, um nicht letztlich aus der Werkstatt von Kleinmeistern zu stammen“. Grimmiger und unversöhnlicher äußerte sich der „Merkur“-Herausgeber Karl Heinz Bohrer: „Die literarischen Standards sind auf dem tiefs- ten Niveau der Nachkriegszeit angelangt.“ Es sei das Wesen des modernen Erzählens, dass es „die erzählte Gegenständlichkeit der weit fortgeschrittenen Refl exion aussetzte“. Davon konnte Boh- rer in der neueren deutschen Gegenwartsliteratur offenbar nichts mehr entdecken. War der junge Erfolg der erzählenden Literatur mit formalen und inhaltlichen Zugeständnissen an den Publikumsgeschmack erkauft? Die ästhetischen Verbotstafeln der Adorno-Ära hatten offenbar an Faszination und Überzeugungskraft eingebüßt. Karen Duve etwa, Jahrgang 1961, deren im Frühjahr 1999 publizierter „Regenroman“ sich schnell zu einem Verkaufsschlager entwickelt hatte, erklärte recht gelassen in einem Gespräch im Oktober des- selben Jahres: „Nachdem lange genug verkündet wurde, direktes, geradliniges, munteres Erzählen eigener Erlebnisse sei naiv oder gar ,unmöglich‘ – noch in den achtziger Jahren galt unterhaltsame Prosa nicht als Literatur –, kommt jetzt eben die Gegenbewegung, und man zieht mit dem gleichen Eifer und der gleichen Ungerech- tigkeit über experimentelle Schriftsteller her. Ich habe irgendwann beschlossen, mich nicht mehr in Texträtsel zu hüllen, die zwar einigen Kritikern gefi elen, mir selbst aber schon bald keinen Spaß mehr machten.“ Ende des Jahres 1999, befragt zu den Erwartungen an die Kul- tur im neuen Jahrhundert oder Jahrtausend, blieb die Autorin dagegen wortkarg und beharrte auf ihren Rechenkünsten: Sie

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er21er21 2121 004.09.20104.09.2010 8:33:318:33:31 UhrUhr Chronik werde „ständig darauf hinweisen“, dass das neue Jahrhundert erst mit dem Jahr 2001 beginne. Der zunächst hauptsächlich als Lyri- ker bekannt gewordene Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, holte etwas weiter aus. Er sah die zukünftige Entwicklung der Kul- tur in skeptischem Licht, nämlich „dicht auf den Fersen der leicht verkäufl ichen Künste“, degradiert zur schönsten Nebensache der Welt: „Ein Heer von Kulturangestellten ist zur Stelle, wann immer es einen Rest Kunst zu verwalten gilt. Und so wird es wohl wei- tergehen. Kultur schafft Arbeitsplätze und nimmt Visionen. Kein Künstler muss mehr ins Armengrab, Gott sei Dank, die Beteilig- ten gehen, ein wenig gelangweilt, aber gut bezahlt, abends nach Hause, wo das Dessert sie erwartet: in Form eines kulinarischen Fernsehprogramms. Die Zeiten des totalen Kulturkapitalismus brechen eben erst an. Kultur, das lässt sich voraussagen, hat eine große Zukunft.“ Selbstbewusst und optimistisch äußerte sich im September 1999 Thomas Brussig in einem Gespräch: „Es soll sich unter den Lesern herumsprechen, dass sich in der deutschen Gegenwarts- literatur etwas tut. Die Leute haben ja den größten angelsäch- sischen Schrott gekauft. Auch da gibt es eine Wende, glaube ich. Es entsteht eine lesbare, aber auch gehaltvolle Literatur – also im schönsten Sinne Belletristik. Das wünsche ich mir.“

Liebe im Gästehaus der DDR

Kaum ein jüngerer Autor hatte sich in den neunziger Jahren so deutlich als Chronist der untergegangenen DDR positioniert wie Brussig. Im Jahr 1999 kam nicht nur die Verfi lmung seines Bestsel- lers „Helden wie wir“ in die Kinos, sondern zugleich noch ein wei- terer Film mit einem Brussig-Stoff: „Sonnenallee“ – parallel dazu erschien die Erzählung „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“.* „Jetzt, da es vorbei ist, bemerken wir plötzlich, dass sich die DDR ganz gut anhand ihrer Profanitäten und Lächerlichkeiten erzählen

* Rezension s. S. 126.

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er22er22 2222 004.09.20104.09.2010 8:33:318:33:31 UhrUhr Liebe im Gästehaus der DDR lässt“, erklärte der Autor im Gespräch. „Die DDR hatte einen Alltag, und sie hatte ein konkretes Interieur, und darin stecken jede Menge guter, bislang vernachlässigter Geschichten. Und komischerweise werden gerade die überall auf der Welt verstanden.“ Auf die Frage, mit welchem Gefühl er auf die DDR zurück- blicke, antwortete Brussig: „Sehr präsent ist sie nicht mehr, aber sie beschäftigt mich ständig, und viel mehr, als mir lieb ist. Dabei hat es in den letzten zehn Jahren so viel interessante, geradezu umstürzende Veränderungen gegeben: Es gibt das Internet, die digitale Revolution, es gibt Kleinanleger, Einschaltquoten, deut- sche Soldaten im Krieg und die neue Mitte. Aber im Osten wird immer nur über den Osten geredet, als wäre die Zeit stehen geblie- ben.“ Er werde die Herkunft nur schwer los und sehe das auch als Chance: „Es gibt da die Erfahrung des Bruches.“ Gut zehn Jahre nach dem Verschwinden des SED-Staats von der politischen Landkarte tauchte die deutsche Republik im Osten auf wundersame Weise wieder auf: als Schauplatz zahlreicher Romane und Erzählungen. Im Jahr 2000 meldeten sich auffällig viele Auto- ren literarisch zu Wort, die, wie Barbara Honigmann oder Katja Lange-Müller, ihre Kindheit, Jugend und manche Erwachsenen- jahre im SED-Staat zugebracht hatten, bevor sie in den Westen gingen, oder die, als Kinder der DDR, noch jung waren, als die Mauer fi el. Andere wiederum kannten den SED-Sozialismus über- haupt nur vom Hörensagen oder aus Recherchen: so der 1961 in München geborene Michael Kumpfmüller, in dessen Debüt roman „Hampels Fluchten“ ein Mann geschildert wird, der in den sech- ziger Jahren vor seinen Gläubigern aus der Bundesrepublik in die DDR fl üchtet. „Die DDR wird jetzt zum Thema, weil sie verschwunden ist“, sagte Katja Lange-Müller, Jahrgang 1951, bei einem Gespräch am 3 . Oktober 2000 in Berlin. Die Autorin, die mit ihrer Erzählung „Die Letzten“ auf die siebziger Jahre im Osten zurückblickt, wurde wie ihre Kollegin Honigmann, Jahrgang 1953, in Ost-Berlin gebo- ren, und beide gingen im selben Jahr, 1984, in den Westen. In ihrem Buch – Untertitel: „Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Dru- ckerei“ – beschreibt Lange-Müller eine Nische im staatlich gelenk-

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1162_73919_Hage_Letzte62_73919_Hage_Letzte Taenze,Taenze, er23er23 2323 004.09.20104.09.2010 8:33:318:33:31 UhrUhr UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Volker Hage Letzte Tänze, erste Schritte Deutsche Literatur der Gegenwart

Taschenbuch, Broschur, 400 Seiten, 11,8 x 18,7 cm ISBN: 978-3-442-73919-6

btb

Erscheinungstermin: Juni 2010

Von der Generation Grass zur Generation Kehlmann

Volker Hage, der Literaturkritiker des SPIEGEL, gibt einen Überblick über die wichtigsten deutschsprachigen Autoren und Neuerscheinungen der letzten Jahre. Noch immer sind die großen Alten wie Grass und Walser für Debatten gut. Aber die Jungen machen sich mit erfrischenden Debüts bemerkbar und treten aus dem Schatten der übermächtigen Großväter.

Ein umfassender Überblick über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur.