Morgen Tanzt Die Ganze Welt Amend/Morgen Tanzt Die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 2 Amend/Morgen Tanzt Die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 3
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Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 1 Christoph Amend Morgen tanzt die ganze Welt Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 2 Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 3 Christoph Amend Morgen tanzt die ganze Welt Die Jungen, die Alten, der Krieg Karl Blessing Verlag Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 4 Umwelthinweis: Dieses Buch und sein Schutzumschlag wurden auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die Einschrumpffolie (zum Schutz vor Verschmutzung) ist aus umweltschonender recyclingfähiger PE-Folie. Der Karl Blessing Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 2. Auflage Copyright © by Karl Blessing Verlag GmbH München 2003 Umschlaggestaltung: Design Team München unter Verwendung des Gemäldes alle wollen den Führer sehen von Norbert Bisky / Galerie Michael Schultz, Berlin Satz: Uhl+Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-89667-199-5 www.blessing-verlag.de Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 5 Inhalt Warum ich mich mitten im Chaos der Gegenwart auf eine 7 merkwürdige Reise in Deutschlands Vergangenheit begebe Als Richard von Weizsäcker von seiner Angst im Dritten 16 Reich erzählt, höre ich ihn immer wieder kichern Warum wir lieber über Nutella-Gläser diskutieren, als unsere 31 Großeltern nach Hitler zu fragen Als der Derrick-Erfinder Herbert Reinecker vom Berlin der 38 Nazi-Zeit erzählt, fühle ich mich an das Berlin von heute erinnert Warum ich nachts in einem Berliner Club einer Blondine 51 beinahe ein Gespräch über den Irak-Krieg aufdränge Obwohl der Politologe Iring Fetscher nach dem 59 Krieg zum Katholizismus übergetreten ist, schwärmt er mir von seinen Erfolgen als Schütze in Russland vor Warum uns Jungen die Welt offen steht und wir trotzdem mit 70 unserem Leben so wenig anfangen können Weshalb das Leben des Schriftstellers Erich Loest und das 74 Haus, in dem er wohnt, einfach nicht zusammenpassen Warum viele aus meiner Generation so gerne Ego-Shooter 89 spielen und damit die Kämpfe ihrer Großväter erneut austragen 5 Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 6 Wie ich mich mit Egon Bahr über den Sieg der deutschen 102 Nationalelf freue und er mir dann von einem Kriegserlebnis erzählt, das ihn in seinen Träumen verfolgt Ernst Glaeser hat das Generation Golf-Buch der Zwanzigerjahre 114 geschrieben – Begegnung mit einem vergessenen Bestseller Das Haus des Historikers Joachim Fest sieht von vorn aus wie 124 ein Bunker und von hinten wie ein italienisches Landhaus, und es verrät, welches Bild der Mann von sich selbst hat Der Journalist Hellmuth Karasek kann bis heute die Wehrmachts- 143 hierarchie aufsagen und fühlt sich trotzdem nicht älter als ich Wie ich im Herzen ein Amerikaner wurde und dann erst 157 bemerkte, dass Rödelheim nicht in den USA liegt Während mein Schulfreund Peter in den Krieg zieht, 164 verweigere ich, der Partys wegen Bei einem Cappuccino erklärt mir der Enkel von Ernst Jünger, 174 warum man sich nicht so viel um andere Menschen kümmern soll Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter mustert mich 182 und sagt mir dann, rein äußerlich hätte ich prima in die Nazi- Zeit gepasst Warum ich am Grab meines Lieblingsgroßvaters keine Trauer 197 empfinden kann, sondern sich nur Leere in mir ausbreitet Wieder zu Hause oder Warum ich Deutschland nun mit 206 anderen Augen sehe, und was das mit Lili Marleen und Kruder & Dorfmeister zu tun hat Auswahlbibliografie 219 Namensregister 222 6 Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 7 Warum ich mich mitten im Chaos der Gegenwart auf eine merkwürdige Reise in Deutschlands Vergangenheit begebe Der Krieg ist erst vor ein paar Jahren in mein Leben getreten. Ich hatte früher schon einmal Rambo gesehen, Good Morning, Vietnam und Full Metal Jacket, und ich hatte Erich Maria Re- marques Roman Im Westen nichts Neues und Die Nackten und die Toten von Norman Mailer gelesen, aber das hier war anders. Das war kein Fernsehen, kein Kino, kein Buch. Das war das Leben meines Opas. Er kam gerade aus dem Krankenhaus und hatte eine schwere Operation hinter sich, Krebs. Ich war zu Besuch, da sagte er: »Komm, wir beide gehen mal spazieren.« Wir nah- men unsere Jacken, Opa seine Mütze, und schlenderten durch die kleine schwäbische Stadt,in der meine Großeltern wohnten. Schon früher sind Opa und ich immer wieder zusammen raus, um Zito auszuführen, seinen Cockerspaniel. Er war vor kurzem gestorben. »Christoph«, sagte er, »du weißt, wie sehr ich dich mag.« Das ging ja gut los. »Und du weißt auch, dass ich vielleicht nicht mehr lange zu leben habe.« Wir kamen an einem Teich in einer Wohnanlage vorbei. »Ich will dir etwas erzählen, das nur uns beide etwas angeht.« Ich versuchte, mich auf jeden Schritt zu konzentrieren. Etwas, das nur uns beide angeht? »Ich habe sehr, sehr lange nicht darüber gesprochen«, fuhr Opa fort, »aber ich möchte, dass du weißt, wie es im Krieg war.« Wie es im Krieg war. Das ist einer dieser Sätze, die man wie in Trance hört, die 7 Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 8 nachhallen wie: »Ich glaube, wir sollten uns trennen.« Oder wie: »Leider eine Fünf, mein Lieber.« Es wurde ein langer Spaziergang, und als wir zurückkamen, wirkte Opa erleichtert. Ich wunderte mich, denn er hatte mir keine spektakulären Geheimnisse anvertraut, nur harmlose Ge- schichten vom Abenteuer an der Front und von der Heimkehr ins zerstörte Deutschland von 1945. An diesem Tag dachte ich zum ersten Mal darüber nach, was es heißt,Soldat gewesen zu sein und getötet zu haben,was es be- deutet,in den Abgrund hinabgeblickt zu haben,in den Abgrund anderer und in den eigenen. Ich habe mit Opa nie wieder über dieses Thema gesprochen; er starb im Sommer 2001 nach langer Krankheit. Aber ich werde das leichte Zittern in seiner Stimme nicht vergessen, als er von seinen Einsätzen in Italien berichtete. Es war ihm wich- tig, er wollte kurz vor seinem Tod von den Jahren erzählen, die sein ganzes Leben geprägt hatten. Er hatte nie darüber gespro- chen. Doch dann brach es auf einmal aus ihm heraus. Warum erst jetzt? Ich traf wieder auf den Krieg,als ich einige Jahre später in Mün- chen als Redakteur bei jetzt arbeitete, dem Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung. Eines Tages rief mich Alexander Kluge an und fragte, ob er mich zusammen mit einem meiner Kollegen zu einem Interview einladen dürfe, er wolle sich mit uns über die Sprache der heutigen Jugend unterhalten. Alexander Kluges Interviews laufen nachts auf RTL oder Sat.1. Ich sagte zu. Ein paar Wochen später sitzen wir in Kluges Studio, das er in einer Schwabinger Altbauwohnung eingerichtet hat. Wir reden über Jugendsprache und über die Vorstellungen und Wünsche junger Leser. Nach einer Stunde sagt er: »So, das war’s, vielen Dank. Ich würde gerne noch ein paar andere Fragen stellen, zu einem Thema, das mich persönlich sehr interessiert.« Die Ka- 8 Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 9 mera läuft weiter. Er sieht mich direkt an und fährt fort: »Wissen Sie eigentlich, was Ihr Großvater im Krieg gemacht hat?« Mir wird ein wenig heiß, und ich werde rot. »Ja«, stottere ich los, »also, ich glaube, äh, er war in Italien und in Frankreich, aber wann, ja, wann? Ich fürchte, viel mehr kann ich gar nicht sagen.« Ich fühle mich wie damals in der Schule: »Amend, geh mal an die Tafel und rechne uns das vor.« Ich sehe in Alexander Kluges fragendes Gesicht und versuche es ein zweites Mal: »Mein Opa hat mir mal von seiner Flucht 1945 erzählt, quer durchs Land, er ist also quasi desertiert, und er musste unheimlich vorsichtig sein, damit sie ihn nicht erwi- schen.« Ich möchte mich am liebsten unsichtbar machen, so ein zu- sammenhangsloses Gefasel.Was heißt Flucht,was Desertion? Ich war doch so stolz, dass Opa mir bei unserem Spaziergang von seinen Erlebnissen erzählt hatte. Aber was weiß ich wirklich? Nichts! Nach dem Interview führte uns Kluge durch seine Wohnung und schenkte jedem sein Buch Lebensläufe,darin finden sich Ge- schichten über Biografien, die durch das Jahr 1945 verändert wurden. Seine freundliche, zurückhaltende Art hat mich ziem- lich beeindruckt. Seit den Sechzigerjahren gehört Kluge zu den führenden linken Intellektuellen des Landes. Er hat als Filmre- gisseur gearbeitet, als Schriftsteller, als Essayist, und als einer der ersten Kulturmacher seiner Generation hat er begriffen, welche Macht das Fernsehen hat.Als Anfang der Achtzigerjahre das Pri- vatfernsehen aufkam, sicherte sich Kluge mit ein paar Tricks Sendezeiten beispielsweise bei RTL. Seitdem laufen dort seine Sendungen, doch die Einschaltquoten sind weit davon entfernt, Rekorde zu brechen. Das ist der Grund, warum der eine oder andere Fernsehboss seine Programme gerne loswerden möchte. Ich frage ihn, wie er es geschafft hat, sich gegen den damali- gen RTL-Chef, den inzwischen legendären Helmut Thoma, 9 Amend/Morgen tanzt die Welt 30.12.2009 16:03 Uhr Seite 10 durchzusetzen, der ein erklärter Feind von Kluges Fernsehen ist. »Wissen Sie«, antwortet er, »das ist wie im Krieg. Zwei Feldher- ren stehen sich auf ihren Hügeln gegenüber und sammeln ihre Truppen.« Da ist er wieder, der Krieg. Seltsam: Vor mir sitzt ein Sympa- thisant der 68er, ein Lieblingsschüler des linken Theoretikers Theodor W.Adorno,einer,der einen ziemlich kritischen Doku- mentarfilm über Franz Josef Strauß gedreht hat,und erzählt vom Krieg. Genauer: Er erklärt sein Handeln, das mit dem Thema Krieg nichts zu tun hat, mit einem Bild aus dem Krieg. Ich muss wohl erstaunt geschaut haben, denn Kluge sagt dann: »Das war nur ein Beispiel, zur Veranschaulichung, mehr nicht.« Später habe ich erfahren, dass Alexander Kluge, Jahrgang 1932, zu den »weißen Jahrgängen« gehört; er war also während des Zweiten Weltkriegs gerade noch zu jung, um als Flakhelfer an die Front geschickt zu werden.