<<

Dossier Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 2

Einleitung

8. Mai 1945: Europa liegt in Trümmern. In den Krisen der Weimarer Republik war der Nationalsozialismus in Deutschland zur Massenbewegung gewachsen. Während der zwölf Jahre seiner Herrschaft wurden Juden, politische Gegner und andere Gruppen systematisch verfolgt, vertrieben und ermordet. 1939 entfachte Deutschland einen Weltkrieg, der am Ende über 60 Millionen Menschen das Leben kostete. In sieben Kapiteln führt das Dossier durch die Geschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in Deutschland. Und es fragt, wie die Deutschen sich an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnern, die bis heute ihr Verhältnis zu sich selbst und ihren Nachbarn bestimmen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 3

Inhaltsverzeichnis

1. Der Untergang der Weimarer Republik 6

1.1 Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19 7

1.2 Kampf um die Republik 1919 - 1923 29

1.3 Zwischen Festigung und Gefährdung 1924-1929 48

1.4 Die nationalsozialistische Bewegung in der Weimarer Republik 70

1.5 Die nationalsozialistische Massenbewegung in der Staats- und Wirtschaftskrise 90

1.6 Zerstörung der Demokratie 1930 - 1932 104

1.7 Ursachen des Nationalsozialismus 125

1.8 Der Kampf gegen den Nationalsozialismus vor 1933 128

2. NS-Staat 134

2.1 Die Zeit des Nationalsozialismus 135

2.2 Machteroberung 138

2.3 "" 164

2.4 Beseitigung des Rechtsstaates 187

2.5 Ausbau des Führerstaates 191

2.6 Wirtschaft und Gesellschaft unterm Hakenkreuz 216

3. Verfolgung und Widerstand 232

3.1 Massenmord und Holocaust 233

3.2 Shoa und Antisemitismus 255

3.3 Ein Tag in meinem Leben 265

3.4 Selbstbehauptung und Gegenwehr von Verfolgten 270

3.5 Jugend- und Studentenopposition 273

3.6 Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg 279

3.7 Der militärische Widerstand 285

3.8 Stille Helden 290

3.9 Kommunen und NS-Verfolgungspolitik 298

3.10 Auf dem Weg zum 20. Juli 1944 306

3.11 Literatur und Presse 316

3.12 Literatur im Nationalsozialismus: Überblick Werke und Autoren 329

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 4

4. Krieg, Flucht und Vertreibung 334

4.1 Der Weg in den Krieg 335

4.2 Der Zweite Weltkrieg 361

4.3 Der Zusammenbruch des Dritten 377

4.4 Kriegsziele der Alliierten 381

4.5 Erinnerungen an den Luftkrieg in Deutschland und Großbritannien 386

4.6 Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße 395

4.7 "Plötzlich war überall eine Feuerwand" 410

4.8 Durch den Bombenhagel zum Bunker 412

5. Deutschland nach 1945 414

5.1 Neubeginn: "Alltag" in Nachkriegsdeutschland 415

5.2 Errichtung der Besatzungsherrschaft 418

5.3 Infrastruktur und Gesellschaft im zerstörten Deutschland 430

5.4 Bestrafung der Schuldigen 443

5.5 Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung 448

5.6 Soviel Anfang war nie 461

6. Deutsche Teilung im Kalten Krieg 464

6.1 Der Beginn der Bipolarität 465

6.2 Die Deutschlandplanung der Sieger 481

6.3 Ost-West-Konflikt und deutsche Teilung 489

6.4 Ursachen und Entstehung des Kalten Krieges 496

6.5 - auf dem Weg zur geteilten Stadt 509

6.6 Zwei Staatsgründungen auf deutschem Boden 513

7. Geschichte und Erinnerung 522

7.1 Video-Interview: Der 8. Mai als europäisches Datum 523

7.2 Vortrag: Rückblick auf die Holocaustforschung 526

7.3 Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus 528

7.4 Der 20. Juli 1944 - mehr als ein Tag der Besinnung und Verpflichtung 536

7.5 Die Deutschen und ihr "Drittes " 544

7.6 Kollektive Erinnerung im Wandel 553

7.7 Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik 569

7.8 Die Erinnerung an den Holocaust in Israel und Deutschland 578

7.9 Die schwierige deutsch-polnische Vergangenheitspolitik 587

7.10 "Nicht alle Deutschen haben ein Herz aus Stein" 591

7.11 Eine integrierte Geschichte des Holocaust 602

7.12 Deutsche Vereinigung und NS-Vergangenheit 610

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 5

7.13 Zwei deutsche Diktaturen im 20. Jahrhundert?* 617

7.14 Keine gemeinsame Erinnerung 625

7.15 Regieren nach Auschwitz 633

8. Redaktion 639

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 6

Der Untergang der Weimarer Republik

6.4.2005

Die Weimarer Republik war der erste praktische Versuch in der Geschichte, Deutschland eine demokratische Staatsform zu geben. Doch sie hatte es von Anfang an schwer: Ihr fehlte es an Rückhalt in der Bevölkerung, an Geschlossenheit und Unterstützung durch die exekutive Gewalt. Massenarbeitslosigkeit, Kriegsschäden und Reparationsforderungen aus dem ersten Weltkrieg lasteten schwer auf der jungen Demokratie. Europaweit erlangten antidemokratische Strömungen Aufwind. In Deutschland wuchs mit dem Nationalsozialismus eine Massenbewegung, die vielen Bürgerinnen und Bürgern ein Ende des politischen Chaos versprach.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 7

Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19

Von Reinhard Sturm 23.12.2011 geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. 1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus. Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht.

Kontakt: »[email protected]«

Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg war zugleich das Ende des Kaiserreichs: Wilhelm II. dankte ab, in den Wirren der darauffolgenden Revolution wird die Republik ausgerufen. Zunächst steht die Frage nach dem zukünftigen System – parlamentarische Demokratie oder Rätesystem – zur Diskussion. Im August 1919 tritt die Weimarer Verfassung in Kraft.

Einleitung

Der Anfang vom Ende des Deutschen Kaiserreichs lässt sich auf den 29. September 1918 datieren. Denn an diesem Tag trat in Berlin der "Kronrat" zusammen, dem neben Kaiser Wilhelm II. der Chef der Obersten Heeresleitung (OHL), Generalfeldmarschall , seine rechte Hand, General , Reichskanzler Graf von Hertling und der Staatssekretär des Äußeren, Admiral Paul von Hintze, angehörten. Dieses Gremium beriet über die Konsequenzen aus der Tatsache, dass der Weltkrieg wegen der personellen und materiellen Übermacht der Gegner endgültig verloren war, und beschloss einschneidende Maßnahmen.

Revolution von oben

Eine schnelle "Revolution von oben" – so berichtet Hintze – sollte ein "Chaos" und eine "Revolution von unten" (wie in Russland) verhindern. Das bedeutete, dass erstmals eine vom Reichstag (dem nach dem allgemeinen Männerwahlrecht gewählten Parlament) getragene Reichsregierung ins Auge gefasst wurde. Ferner beschloss man die "sofortige" Übermittlung eines Waffenstillstandsangebotes an die alliierten Kriegsgegner durch die neue Regierung.

Welche Hintergedanken vor allem die OHL dabei hegte, äußerte Ludendorff am 1. Oktober 1918 gegenüber seinen Stabsoffizieren: "Ich habe aber Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind. [...] Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt , die sie uns eingebrockt haben."

Gemeint waren – nach der Spaltung der Sozialdemokratie in die linke "Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (USPD) und die gemäßigte "Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands" (MSPD) 1916 – die MSPD, die linksliberale "Fortschrittliche Volkspartei" und die katholische "Zentrumspartei", die im Reichstag eine oppositionelle Mehrheit bildeten ("Mehrheitsparteien"). Sie hatten seit vielen Jahren eine Demokratisierung des obrigkeitsstaatlichen Kaiserreiches gefordert; den Krieg hatten sie mitgetragen, sich aber seit 1917 gemeinsam für einen ehrenvollen "Verständigungsfrieden" ohne Gebietsverluste und Entschädigungen ausgesprochen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 8

Anfänge der parlamentarischen Regierung

Der kaiserliche Parlamentarisierungserlass vom 30. September 1918 stieß bei den Mehrheitsparteien auf ein positives Echo, zumal sie den designierten neuen Reichskanzler Prinz Max von Baden – ein Cousin des Kaisers – wegen seiner sozialen und liberalen Gesinnung akzeptieren konnten. Am 1. Oktober bekam Prinz Max, tags darauf auch die Führer der Reichstagsfraktionen einen ungeschminkten militärischen Lagebericht. Sie waren entsetzt; die Regierungsbildung geriet vorübergehend ins Stocken. Aber am 3. Oktober 1918 erhielt das Kaiserreich die erste parlamentarische Regierung seiner Geschichte. MSPD und Fortschrittspartei stellten je zwei Staatssekretäre, das Zentrum drei.

Waffenstillstandsgesuch

Noch am selben Tag musste Prinz Max in einer diplomatischen Note den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson bitten, alle kriegführenden Staaten zu Friedensverhandlungen einzuladen. Als Grundlage sollten die "14 Punkte" dienen, ein Friedensprogramm, das Wilson seit Anfang des Jahres immer wieder verkündet und weiterentwickelt hatte; es beruhte auf den Grundsätzen "Herrschaft des Rechts und der Demokratie überall", "Selbstbestimmungsrecht der Völker" sowie "unparteiische Gerechtigkeit und Gleichberechtigung" im Leben der Völker. Der entscheidende, kapitulationsähnliche Satz der deutschen Note lautete: "Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung, den sofortigen Abschluss eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen." Damit hatte die OHL ihr Ziel, sich aus der Verantwortung für den verlorenen Krieg zu stehlen, erreicht.

Schlagartig löste sich der von der kaiserlichen unermüdlich versprochene "Siegfrieden" in nichts auf. Mit der schmerzlichen Erkenntnis, dass alle Anstrengungen, Entbehrungen und Opfer vergeblich gewesen waren, entstand aus der physischen und psychischen Kriegsmüdigkeit großer Teile der Bevölkerung ein rasch um sich greifender Friedenswille. Anders als die zu zähen Verhandlungen bereite Regierung kannten die friedensbewegten Massen nur ein Ziel: die sofortige Beendigung des Krieges ohne weiteres Blutvergießen. Sie politisierten und radikalisierten sich, je länger der ersehnte Friedensschluss auf sich warten ließ.

Denn zunächst kam es zu einem wochenlangen Notenwechsel mit Präsident Wilson. Dieser stellte schließlich am 23. Oktober 1918 zwei Vorbedingungen: Entwaffnung (die Waffenruhe müsse "eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten seitens Deutschlands unmöglich machen") und Demokratisierung (der König von Preußen dürfe nicht mehr die Macht besitzen, "die Politik des Reiches unter seiner Kontrolle zu halten"). Jetzt mischte sich die OHL doch wieder in die Politik ein: Wilsons Forderungen seien unannehmbar, es gelte "Widerstand mit den äußersten Kräften" zu leisten – was sie kurz zuvor noch für unmöglich erklärt hatte. Prinz Max sorgte dafür, dass Wilhelm II. Ludendorff am 26. Oktober entließ und durch den politisch unauffälligen General Groener ersetzte; Hindenburg blieb im Amt.

Durch die Wilson-Note vom 23. Oktober entstand der Eindruck, dass Wilhelm II. einem schnellen Friedensschluss im Wege stand. "Der Kaiser muss weg!" lautete jetzt eine immer populärer werdende öffentliche Forderung. Auch namhafte Unternehmer wie Robert Bosch, die eine revolutionäre Erhebung fürchteten, sprachen sich nun dafür aus, den Monarchen, notfalls auch die Monarchie zu opfern.

Oktoberverfassung

In diesen kritischen Wochen versäumte es der Reichstag, sich zum Zentrum der politischen Diskussion über Frieden und Demokratie zu machen – nach der Regierungserklärung des Prinzen Max am 5. Oktober vertagte er sich und überließ dem Kanzler und seinen Staatssekretären alles Weitere. Erst am 22. Oktober trat er wieder zusammen, um eine Verfassungsreform zu beraten. Die wichtigsten Veränderungen lauteten:

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 9

• Kriegserklärungen und Friedensverträge bedurften der Zustimmung des Reichstages.

• Regierungsmitglieder durften dem Reichstag angehören.

• Der Reichskanzler und die Staatssekretäre benötigten das Vertrauen des Reichstages. Sie waren dem Reichstag und dem Bundesrat (der Vertretung der Einzelstaaten, vor allem der Landesfürsten) für ihre Amtsführung verantwortlich.

• Der Reichskanzler trug die Verantwortung für alle politischen Handlungen des Kaisers.

Mit dem In-Kraft-Treten der Reform am 28. Oktober 1918 verwandelte sich die Verfassung des Kaiserreichs, das die deutschen Fürsten "von Gottes Gnaden" ohne das Volk 1871 gegründet hatten, von einer obrigkeitsstaatlichen in eine parlamentarisch-demokratische Monarchie. Die Mehrheitsparteien waren mit dem Erreichten durchaus zufrieden. Sie wünschten jetzt eine ruhige demokratische Entwicklung, um das Problem des Friedensschlusses zu lösen.

Revolution von unten

Dazu kam es jedoch nicht mehr – zum einen, weil die immer weiter anschwellende "Friedensbewegung" bereits die Abdankung des Kaisers forderte; zum anderen, weil der Monarch und das Militär mit provozierenden Aktionen demonstrierten, dass sie nicht gewillt waren, die neue demokratische Ordnung zu respektieren und mit Regierung und Parlament loyal zusammenzuarbeiten. Am 29. Oktober 1918 reiste Wilhelm II. ohne Rücksprache mit dem Reichskanzler nach Spa ins Hauptquartier der OHL. Dieser Schritt wirkte freilich wie eine Flucht aus Berlin und fügte dem Ansehen der Hohenzollernmonarchie schweren Schaden zu.

Matrosenrevolte

Seit dem Beginn der Verfassungsberatungen im Reichstag am 22. Oktober bereitete die Seekriegsleitung ohne Wissen der Reichsregierung einen Angriff auf die britische Flotte im Ärmelkanal vor. "Wenn auch nicht zu erwarten ist, dass hierdurch der Lauf der Dinge eine entscheidende Wendung erfährt, so ist es doch aus moralischen Gesichtspunkten Ehren- und Existenzfrage der Marine, im letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben," heißt es in der Eintragung im Kriegstagebuch der Seekriegsleitung vom 25. Oktober 1918.

Die Matrosen erkannten rasch, dass sie von der Admiralität unmittelbar vor dem Ende des Krieges noch auf eine sinnlose "Todesfahrt" geschickt werden sollten. Am 29./30. Oktober löschten sie auf mehreren vor Wilhelmshaven liegenden Schlachtschiffen das Feuer unter den Kesseln und zerstörten die Ankerlichtmaschinen. Die Seekriegsleitung musste ihren Angriffsplan fallen lassen. Als sie mehr als 1000 Meuterer verhaften und in Wilhelmshavener und Kieler Militärgefängnisse bringen ließ, wo ihnen das Kriegsgericht und die Todesstrafe drohten, eskalierte die Entwicklung.

Am Morgen des 4. November wählten die Mannschaften Soldatenräte, bewaffneten sich und entwaffneten ihre Offiziere. Der Kieler Militärgouverneur wurde gezwungen, die gefangenen Meuterer freizulassen. Matrosen und Marinesoldaten besetzten die wichtigsten militärischen und zivilen Dienststellen. Als die Aufständischen am Abend bereits die ganze Stadt kontrollierten, erhielten sie Unterstützung von den solidarisch in Streik getretenen Werft- und Industriearbeitern. Jetzt schalteten sich die Kieler MSPD und die USPD ein. In der Nacht organisierten sie gemeinsam einen "Provisorischen Zentralen Arbeiter- und Soldatenrat" als neues Machtzentrum. Aus Berlin traf der MSPD-Abgeordnete ein. Er wurde begeistert begrüßt und übernahm die politische und militärische Leitung in Kiel.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 10

Aber die Angst, von heranrückenden Truppen eingeschlossen zu werden, und die Sorge um die in Wilhelmshaven noch inhaftierten Kameraden trugen die Matrosenbewegung über Kiel hinaus. Innerhalb weniger Tage lösten reisende Matrosengruppen in den militärischen Einrichtungen der norddeutschen Hafenstädte und weiterer Städte des Binnenlandes eine revolutionäre Welle aus, die sich von selbst und unwiderstehlich in alle Himmelsrichtungen fortpflanzte. Im Prinzip spielte sich überall dasselbe ab wie in Kiel: "Die "Kaserne" revolutionierte die "Fabrik" (Ulrich Kluge), Soldatenräte und Arbeiterräte übernahmen die Macht, MSPD und USPD setzten sich an die Spitze der Rätebewegung, um sie in geordnete Bahnen zu lenken. Es gab kaum Blutvergießen – nur selten erhob sich noch eine Stimme oder regte sich eine Hand für die Rettung der alten Ordnung. Die Monarchie begann zu zerbrechen: Am späten Abend des 7. November rief der bayerische USPD-Führer in München die Republik aus; am 8. dankte der Wittelsbacher König Ludwig III. ab. Ähnlich erging es in den nächsten Tagen den übrigen Fürstenhäusern. Die Friedensbewegung hatte sich in eine "Volksbewegung gegen den Militär- und Obrigkeitsstaat" (Helmut Heiber) verwandelt.

Revolution in Berlin

Vor diesem Hintergrund forderte die MSPD am 7. November ultimativ einen stärkeren Einfluss im Kabinett, eine parlamentarische Regierung auch in Preußen und "den sofortigen Rücktritt des Kaisers und Kronprinzen". "Jetzt heißt's, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, sonst gibt's doch anarchische Zustände im Reich" – so beurteilte der MSPD-Fraktionsvorsitzende die Lage.

Denn inzwischen bereiteten sich Berliner Linksradikale auf die Revolution vor: Teile des linken Flügels der USPD, namentlich die "Spartakusgruppe" (in Berlin annähernd 100, reichsweit 2000 bis 3000 Anhänger der russischen Revolution, geführt von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht) sowie die " Revolutionären Obleute" (80 bis 100 bei den Berliner Arbeitern angesehene linksradikale Gewerkschaftsfunktionäre). Wie überall musste die Haltung der Soldaten den Ausschlag geben; aber anders als in den übrigen Städten ging es in der Hauptstadt in erster Linie um die Kontrolle über die Reichspolitik.

Am 9. November begann die Revolution mit einem Generalstreik der größeren Betriebe, ausgerufen von den Revolutio-nären Obleuten und der Spartakusgruppe, mitgetragen von der MSPD und den ihr nahestehenden Gewerkschaften, unterstützt von den zunehmend MSPD-orientierten Soldaten.

Arbeiter- und Soldatenräte wurden gebildet, das Polizeipräsidium und andere strategisch wichtige Gebäude besetzt. Die Straßen der Innenstadt füllten sich mit endlosen Demonstrationszügen. Da die MSPD jetzt fürchtete, ihren Einfluss auf die revolutionäre Bewegung zu verlieren, erklärte sie ihren Austritt aus der Reichsregierung.

Abdankung der Hohenzollern

Zur selben Zeit versuchte Prinz Max die Monarchie zu retten. Vergeblich beschwor er den Kaiser in Spa telefonisch und telegrafisch zur Übergabe des Throns an einen "Regenten" (das heißt einen verfassungsmäßigen Vertreter), der zum Reichskanzler ernennen und eine " verfassunggebende deutsche Nationalversammlung" wählen lassen sollte. Gegen 11.30 Uhr sah der Kanzler keine andere Möglichkeit mehr, als eigenmächtig den Verzicht von Kaiser und Kronprinz auf den deutschen Kaiserthron und den preußischen Königsthron bekannt zu geben.

Gegen zwölf Uhr erschien die MSPD-Führung in der Reichskanzlei; der Parteivorsitzende Friedrich Ebert forderte Prinz Max zur Übergabe der Regierungsgeschäfte auf. Nach einer kurzen Kabinettsberatung "übertrug" der Kanzler sein Amt auf Ebert.

Der neue Regierungschef ließ die Oktoberregierung weitgehend unverändert, stellte aber dem

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 11 preußischen Kriegsminister und dem für Berlin zuständigen Militärbefehlshaber sozialdemokratische Kontrolleure an die Seite. Ebert wandte sich sogleich mit mehreren Aufrufen an die Öffentlichkeit, in denen er versprach, eine "Volksregierung" zu bilden, Frieden zu schließen und die Freiheit zu sichern. Er beschwor die Bürger, die Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen, die Straßen zu verlassen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Eine verfassunggebende Nationalversammlung sei zu wählen – erstmals unter Beteiligung der Frauen. Die Soldaten sollten so rasch wie möglich zu ihrer Familie und zur Erwerbsarbeit zurückkehren. Das Eigentum müsse vor "willkürlichen Eingriffen" geschützt werden.

Ausrufung der Republik

Aber die Massen erwarteten eine klarere politische Orientierung. Gegen zwei Uhr nachmittags wurde Philipp Scheidemann von Parteifreunden genötigt, an ein Fenster des Reichstags zu treten und zu der versammelten Menge zu sprechen. Er ließ sich spontan dazu hinreißen, nicht nur das Ende der Hohenzollernherrschaft und des "Militarismus" zu verkünden, sondern auch die "deutsche Republik " auszurufen. Reichskanzler Ebert werde eine Regierung aller sozialistischen Parteien bilden. Die Menge reagierte begeistert, Ebert jedoch war entsetzt: "Du hast kein Recht, die Republik auszurufen! Was aus Deutschland wird, ob Republik oder was sonst, entscheidet eine Konstituante (verfassunggebende Nationalversammlung – Anm.d.Red.)!", schrie er seinen Parteifreund an.

Nur zwei Stunden später proklamierte der "Spartakus"-Führer Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Stadtschlosses aus die "freie sozialistische Republik Deutschland". Er erklärte die "Herrschaft des Kapitalismus" für gebrochen und propagierte eine "neue staatliche Ordnung des Proletariats" mit dem Ziel der "Vollendung der Weltrevolution".

Um die Linksradikalen durch ein rasches Regierungsbündnis zwischen MSPD und USPD auszumanövrieren, machte Ebert der USPD-Führung erhebliche Zugeständnisse: Grundsatzentscheidungen sollte eine Vollversammlung der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte treffen, die verfassunggebende Nationalversammlung vorläufig zurückgestellt werden. Auf dieser Basis wurde am Vormittag des 10. November ein neues, von beiden sozialdemokratischen Parteien paritätisch besetztes " entscheidendes Kabinett" gebildet, dem die bisherigen Fachminister als "Gehilfen" unterstanden.

Am selben Morgen übertrug Kaiser Wilhelm II. in Spa Hindenburg das militärische Oberkommando und reiste nach Holland ins Exil. Ludendorff floh, verkleidet und mit falschen Papieren, nach Schweden.

Rat der Volksbeauftragten

Am Nachmittag nahm eine Versammlung von 3000 in den Berliner Betrieben und Kasernen gewählten, mehrheitlich MSPD-orientierten Vertretern der Arbeiter und Soldaten die Einigung zwischen USPD und MSPD begeistert auf. Störversuche der Spartakusgruppe blieben erfolglos. Die neue Regierung wurde "bestätigt" und "Rat der Volksbeauftragten" genannt. Die MSPD hielt die wichtigsten Ressorts – vor allem Inneres und Militär (Ebert) – in ihren Händen. Zwar erreichte die USPD-Linke die Wahl eines " Vollzugsrates des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin", der die Volksbeauftragten kontrollieren sollte. Die 24 Mitglieder standen jedoch mehrheitlich der MSPD nahe. Otto (MSPD) wurde Stadtkommandant, Emil Eichhorn (USPD) Polizeipräsident von Berlin.

Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann ...

Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik! Der Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen worden. Ebert ist damit beauftragt worden, eine neue Re-gierung zusammenzustellen. Dieser Regierung werden alle sozialistischen Parteien angehören. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, diesen glänzenden Sieg, diesen vollen Sieg des deutschen Volkes, nicht beschmutzen zu lassen, und deshalb bitte ich Sie, sorgen Sie dafür, daß keine

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 12

Störung der Sicherheit eintrete! Wir müssen stolz sein können, in alle Zukunft auf diesen Tag! Nichts darf existieren, was man uns später wird vorwerfen können! Ruhe, Ordnung und Sicherheit, das ist das, was wir jetzt brauchen! Dem Oberkommandierenden in den Marken und dem Kriegsminister Scheüch werden je ein Beauftragter beigegeben. Der Abgeordnete Genosse Göhre wird alle Verordnungen des Kriegsministers Scheüch gegenzeichnen. Also es gilt von jetzt ab, die Verfügungen, die unterzeichnet sind von Ebert, und die Kundmachungen, die gezeichnet sind mit den Namen Göhre und Scheüch, zu respektieren. Sorgen Sie dafür, daß die neue deutsche Republik, die wir errichten werden, nicht durch irgend etwas gefährdet werde! Es lebe die deutsche Republik!

Von einem, der dabei war: Wie die deutsche Republik ausgerufen wurde, in: Deutscher Revolutionsalmanach für das Jahr 1919 über die Ereignisse des Jahres 1918, Hoffmann & Campe, Berlin 1919, S. 72

... und durch Karl Liebknecht

[...] der Tag der Freiheit ist angebrochen. Nie wieder wird ein Hohenzoller diesen Platz betreten. Vor 70 Jahren stand hier am selben Ort Friedrich Wilhelm IV. und mußte vor dem Zug der auf den Barrikaden für die Sache der Freiheit Gefal- lenen, vor den fünfzig blutüberströmten Leichnamen, seine Mütze abnehmen. Ein anderer Zug bewegt sich heute hier vorüber. Es sind die Geister der Millionen, die für die heilige Sache des Proletariats ihr Leben gelassen haben. [...] Parteigenossen, ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. Wir rufen unsere russischen Brüder zurück. Sie haben bei ihrem Abschied zu uns gesagt: Habt ihr in einem Monat nicht das erreicht, was wir erreicht haben, so wenden wir uns von Euch ab. Und nun hat es kaum vier Tage gedauert.

Wenn auch das Alte niedergerissen ist [...], dürfen wir doch nicht glauben, daß unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf. [...] Hoch die Freiheit und das Glück und der Frieden!

Ausrufung der sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht, 9.11.1918, in: Peter Longerich (Hg.), Die Erste Republik. Dokumente zur Geschichte des Weimarer Staates, Piper, München 1992, S. 46 f.

Positionen im Kampf um die politische Neuordnung am 9./10. November 1918

Schreiben des Vorstandes der MSPD an den Vorstand der USPD, 9.11.1918

Von dem aufrichtigen Wunsche geleitet, zu einer Einigung zu gelangen, müssen wir Ihnen unsere grundsätzliche Stellung zu Ihren Forderungen klarlegen. Sie fordern:

1. Deutschland soll eine soziale Republik sein.

[Antwort:] Diese Forderung ist das Ziel unserer eigenen Politik. Indessen hat darüber das Volk durch die konstituierende Versammlung zu entscheiden.

2. In dieser Republik soll die gesamte exekutive, legislative und die jurisdiktionelle Macht ausschließlich in den Händen von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten sein.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 13

[Antwort:] Ist mit diesem Verlangen die Diktatur eines Teils einer Klasse gemeint, hinter dem nicht die Volksmehrheit steht, so müssen wir diese Forderung ablehnen, weil sie unseren demokratischen Grundsätzen widerspricht.

3. Ausschluss aller bürgerlichen Mitglieder aus der Regierung.

[Antwort:] Diese Forderung müssen wir ablehnen, weil ihre Erfüllung die Volksernährung erheblich gefährden, wenn nicht unmöglich machen würde. [...]

6. Gleichberechtigung der beiden Leiter des Kabinetts.

[Antwort:] Wir sind für die Gleichberechtigung aller Kabinettsmitglieder, indessen hat die Konstituierende Versammlung darüber zu entscheiden.

Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Antwort des Vorstandes der USPD an den Vorstand der MSPD, 10.11.1918.

Auf Ihr Schreiben vom 9. November 1918 erwidern wir Folgendes: Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei ist bereit, um die revolutionären sozialistischen Errungenschaften zu befestigen, in das Kabinett unter folgenden Bedingungen einzutreten:

Das Kabinett darf nur aus Sozialdemokraten zusammengesetzt sein, die als Volkskommissare gleichberechtigt nebeneinanderstehen. [...]

Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, die zu einer Vollversammlung aus dem ganzen Reiche alsbald zusammenzuberufen sind.

Die Frage der Konstituierenden Versammlung wird erst bei einer Konsolidierung der durch die Revolution geschaffenen Zustände aktuell und soll deshalb späteren Erörterungen vorbehalten bleiben.

Für den Fall der Annahme dieser Bedingungen, die von dem Wunsche eines geschlossenen Auftretens des Proletariats diktiert sind, haben wir unsere Mitglieder Haase, Dittmann und Barth in das Kabinett delegiert.

Der Vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei.

Aufruf der Spartakusgruppe, 10.11.1918

Sichert die von euch errungene Macht!

[...] Mit der Abdankung von ein paar Hohenzollern ist es nicht getan.

[...] Denn euer Ziel ist die sofortige Herbeiführung eines proletarisch-sozia-istischen Friedens, der sich gegen den Imperialismus aller Länder wendet, und die Umwandlung der Gesellschaft in eine sozialistische.

Zur Erlangung dieses Zieles ist es vor allem notwendig, [...] folgende Forderungen mit aller Entschlossenheit und unbezähmbaren Kampfwillen zu verfolgen:

1. Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere sowie der Soldaten, die nicht auf dem Boden der neuen Ordnung stehen; Bewaffnung des Volkes; [...]

2. Übernahme sämtlicher militärischer und ziviler Behörden und Kommandostellen durch

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 14

Vertrauensmänner des Arbeiter- und Soldatenrates.

3. Übergabe aller Waffen- und Munitionsbestände sowie aller Rüstungsbetriebe an den Arbeiter- und Soldatenrat.

4. Kontrolle über alle Verkehrsmittel durch den Arbeiter- und Soldatenrat.

5. Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit; Ersetzung des militärischen Kadavergehorsams durch freiwillige Disziplin.

6. Beseitigung des Reichstages und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung; Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bis zur Errichtung eines Reichs- Arbeiter- und Soldatenrates.

7. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten in ganz Deutschland, in deren Hand ausschließlich Gesetzgebung und Verwaltung liegen. [...]

8. Abschaffung aller Dynastien und Einzelstaaten; unsere Parole lautet: einheitliche sozialistische Republik Deutschland.

9. Sofortige Aufnahme der Verbindung mit allen in Deutschland bestehenden Arbeiter- und Soldatenräten und den sozialistischen Bruderparteien des Auslandes.

10. Sofortige Rückberufung der russischen Botschaft nach Berlin.

[...] Es darf kein "Scheidemann" mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung eintreten, solange ein Regierungssozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die euch vier Jahre lang verraten haben.

Wolfgang Michalka / Gottfried Niedhart (Hg.), Die ungeliebte Republik. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik Weimars 1918-1933, dtv, München 1980, S. 27 ff.

Pro und Contra Rätesystem

Aus den Debatten des Reichsrätekongresses am 19. 12. 1918

Max Cohen-Reuß (MSPD)

Wie man auch über die Arbeiter- und Soldatenräte denken mag [...], in jedem Falle drücken die Arbeiter- und Soldatenräte nur einen Teilwillen, niemals aber den Willen des ganzen deutschen Volkes aus. Diesen festzustellen, darauf kommt es an. [...] Wenn wir eine sozialistische Mehrheit bekommen wollen, müssen wir die Nationalversammlung so schnell wie möglich einberufen. [...] (Es) wird nicht mehr Sozialismus durchführbar sein, als die Mehrheit des Volkes will. [...]

Parteigenossen, schätzen Sie wirklich [...] den Widerstand der bürgerlichen Kreise und der Intelligenz so gering ein, dass wir, wenn wir sie politisch entrechten, gegen ihren Willen die Wirtschaft führen können? [...]

Ernst Däumig (USPD)

[...] [Das] muss doch jedem Klardenkenden einleuchten, dass die jubelnde Zustimmung zur Nationalversammlung gleichbedeutend ist mit einem Todesurteil [...] für das Rätesystem. [...]

Im Wirtschaftsleben werden mit Hilfe der Nationalversammlung und des Bürgertums die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 15

Gewerkschaften alten Stils natürlich die Arbeiterräte aus den Betrieben ganz schnell herausgedrängt haben. [...] Die Diktatur ist zweifellos mit dem Rätesystem verbunden. Aber was sich in Russland durch die historischen Gesetze aufzwang, braucht noch lange nicht in Deutschland der Fall zu sein. [...]

Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16.-21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhaus zu Berlin. Stenografische Berichte, Berlin 1919, in : Gerhard A. Ritter / Susanne Miller (Hg.), Die deutsche Revolution 1918-1919. Dokumente, /M. 2. Aufl. 1983, S. 372 ff.

Am Abend des 10. November hatte sich die breite Mehrheit der gemäßigten Sozialisten gegen die linksradikale Minderheit durchgesetzt.

Waffenstillstandsunterzeichnung

Währenddessen leistete der Kern des deutschen Heeres an der zurückweichenden Westfront noch immer zähen Widerstand. Am 5. November 1918 erklärten die Alliierten ihre Bereitschaft zu Waffenstillstandsverhandlungen. Drei Tage später nahm die noch von Prinz Max entsandte, von Staatssekretär (Zentrum) geleitete deutsche Delegation im Hauptquartier des alliierten Oberkommandierenden, Marschall Foch, im Wald von Compiègne nordöstlich von die harten Waffenstillstandsbedingungen entgegen:

• Rückzug des Westheeres hinter den Rhein innerhalb von 15 Tagen,

• Besetzung der linksrheinischen deutschen Gebiete sowie dreier Brückenköpfe bei Köln, Mainz und Koblenz durch alliierte Truppen innerhalb von 25 Tagen,

• Aufrechterhaltung der Seeblockade bis zum Friedensvertrag,

• Übergabe des schweren Kriegsgerätes, der U-Boote und der Hochseeflotte,

• Ablieferung von 5.000 Lokomotiven, 150.000 Waggons und 5.000 LKW als erste Reparationsleistungen,

• Freilassung der alliierten Kriegsgefangenen,

• Aufhebung der Friedensverträge mit Rumänien und Russland,

• Rückzug des Ostheeres auf Abruf hinter die deutsche Grenze von 1914; vorläufige Stationierung deutscher Truppen im Baltikum, um die Ausbreitung des russischen Kommunismus zu verhindern.

Erzbergers Hoffnung, als demokratischer Zivilist und Friedenspolitiker könne er bessere Bedingungen aushandeln als ein kaiserlicher General, wurde bitter enttäuscht. Marschall Foch gewährte lediglich eine geringfügige Verlängerung der Rückzugsfrist. OHL-Chef Hindenburg riet dringend zur Annahme des Waffenstillstandes.

Als dieser am 11. November 1918 um 11 Uhr die Kampfhandlungen beendete, hatte der Erste Weltkrieg insgesamt ca. zehn Millionen Tote und 20 Millionen Verwundete gefordert. Etwa 1,8 Millionen deutsche Soldaten waren gefallen, 4,2 Millionen waren verwundet und oftmals verstümmelt worden, mehr als 600.000 befanden sich in Kriegsgefangenschaft.

Matthias Erzberger

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 16

Als was sollte man die 66. Sitzung der Nationalversammlung am 25. Juli 1919 in Weimar beschreiben? Als eine Art [...] Jüngstes Gericht? Oder als eine erste parlamentarische Sternstunde der jungen Weimarer Republik? Noch den heutigen Leser des Protokolls überkommt ein kalter Schauer angesichts der scharfen Abrechnung, die der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger den Parteien der Rechten, dem früheren kaiserlichen Regiment und der Führung der vorhielt. Zum ersten Mal erfuhren die Deutschen an jenem Freitagnachmittag von dem größenwahnsinnigen Versagen der vormaligen Reichsführung.

[...] Von ihr sei die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens im Jahre 1917 sabotiert worden: "Durch die Verblendung militärischer Machthaber, die für unsere politische Kraft und militärische Macht nicht das richtige Augenmaß hatten, ist ein günstiger Moment für die Herbeiführung des Friedens versäumt und verpaßt worden." [...] "Jeder Friedensvertrag", resümierte Erzberger am Ende seiner Rede, "ist die Schlußrechnung eines Krieges. Wer den Krieg verliert, verliert den Frieden, und wer hat bei uns den Krieg verloren? [...] [D]iejenigen, welche den handgreiflichen Möglichkeiten eines maßvollen und würdigen Friedens immer wieder einen unvernünftigen, trotzigen und verbreche-rischen Eigensinn entgegenstellten [...]. Dadurch, daß wir Ihren Waffenstillstand und Ihren Frieden unterzeichnen mußten, haben wir für Ihre Schuld gebüßt. Diese Schuld werden Sie niemals los, [...] weder vor uns, noch vor der Geschichte, noch vor Ihrem eigenen Gewissen." Das Protokoll verzeichnet: "Stürmischer Beifall und Händeklatschen im Zentrum und bei den Sozialdemokraten. – Zischen rechts. [...]

In der Tat konnte man sich keinen größeren Gegensatz vorstellen: da die protestantische, teils akademische, teils militärische, teils unternehmerische, zumeist adelige Elite des preußisch dominierten Reiches – hier der württembergische Katholik Matthias Erzberger, ganz kleiner Leute Kind, ohne universitäre Bildung, ohne militärischen Rang, weder Vermögen noch Titel geerbt und alles, was er war, durch hohe Begabung und harten Fleiß erarbeitet. Erzberger hatte ihnen die Konsequenzen ihres Versagens abgenommen – und genau das haben ihm die alten Eliten nie verziehen. Als er nahe dem Kurort Bad Griesbach im Hochschwarzwald [...] am 26. August 1921 von zwei rechtsradikalen Fememördern erschossen wurde, war die Freude unter den Feinden der jungen Weimarer Republik kaum noch klammheimlich zu nennen. [...]

Im Kabinett des SPD-Kanzlers Philipp Scheidemann Minister ohne Ressort, [war] er [zuvor] am 21. Juni 1919 im Kabinett Gustav Bauers (ebenfalls SPD) zum Finanzminister ernannt [worden]. In wenigen Monaten setzte er [...] eine völlig neue Finanzverfassung für Deutschland durch, vor allem eine einheitliche Finanzverwaltung. Auf diese Weise stellte er das Reich auf eigene fiskalische Beine und schuf ein Steuersystem, das im Grundsatz bis heute Bestand hat und das die materiellen Privilegien der Besitzbürger im Sinne der Leistungsgerechtigkeit stutzte. Allein diese enorme Tat müsste ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte unserer Republik sichern. [...] [B]is auf den heutigen Tag erinnert im Straßenbild der Reichs- und Bundeshauptstadt Berlin kein einziges öffentliches Zeichen an diesen Opfergänger unserer Demokratie.

Robert Leicht, "Patriot in der Gefahr", in: Die Zeit Nr. 34 vom 18. August 2011

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 17 Rätesystem oder Parlamentarismus?

In ganz Deutschland hatte sich über private und staatliche Betriebe und über Regierungen, Verwaltungen und Militärbehörden aller Ebenen ein locker geknüpftes Netz aus revolutionären Gremien gelegt; es reichte vom Rat der Volksbeauftragten über die Revolutionsregierungen in den Bundesstaaten bis zu den regionalen und lokalen Arbeiter- und Soldatenräten. Dieses revolutionäre Netzwerk stützte sich auf die bewaffnete Macht der Soldaten, die Streikmacht der Arbeiter und die Demonstrationsmacht der Massen.

In diesem provisorischen Gebilde aus alten und neuen Strukturen dominierte die MSPD. Hinter ihr standen die meisten Arbeiterräte und fast alle Soldatenräte. Ihr Parteiapparat bildete in Verbindung mit den Gewerkschaftsorganisationen ein eigenes, ausgedehntes Kommunikations- und Kooperationsnetz. Durch die Zusammenarbeit mit der USPD – in ländlichen Städten auch mit bürgerlichen Katholiken und Liberalen – hatte die MSPD die Linksradikalen fast völlig aus den Räten heraushalten können. Außerdem hielt sie eine strategische Schlüsselstellung in Händen: "Durch das Aufeinandertreffen der beiden Bewegungen – quasi-legale Machtüberleitung "von oben", revolutionäre Machtbildung "von unten" – kam Friedrich Ebert, der Führer der Mehrheitssozialisten, in eine Doppelstellung und -funktion hinein [...]. Er war noch ernannter Reichskanzler und damit von der alten Ordnung beglaubigter Macht- und Entscheidungsträger, gewissermaßen eine Brücke der Legalität; zugleich stützte er sich als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten auf die revolutionäre Legitimität und stand ihr gegenüber in Verantwortung." (Ernst-Wolfgang Böckenförde).

Der von Ebert geleitete Rat der Volksbeauftragten stand vor gewaltigen Aufgaben: Acht Millionen Soldaten mussten demobilisiert und wieder in den Wirtschaftsprozess eingegliedert werden; davon waren drei Millionen in kürzester Frist über den Rhein ins Reich zurückzuführen. In Anbetracht des bevorstehenden Winters musste die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Heizmaterial (Kohle) gewährleistet werden. Und nicht zuletzt war ein Mindestmaß an innerer und äußerer Sicherheit aufrechtzuerhalten und insbesondere die Einheit des Reiches in Süd- und Westdeutschland gegen separatistische Tendenzen, im östlichen Grenzgebiet gegen polnische Expansionsbestrebungen zu behaupten.

Vertagung der Sozialisierung

In Anbetracht der schwierigen Umstände wurden diese Pro-bleme erstaunlich gut gemeistert. Dies war allerdings nur mit einem Heer qualifizierter Fachleute möglich, über das MSPD und USPD nicht selbst verfügten. Die Volksbeauftragten waren daher auf die wilhelminischen Unternehmer und Großagrarier, Offiziere, höheren Regierungs- und Verwaltungsbeamten, Richter, Staatsanwälte und Polizeiführer angewiesen. Ebendiese monarchistischen Eliten hätte man jedoch enteignen bzw. aus ihren Positionen entfernen müssen, um die Repu-blikanisierung und Demokratisierung dauerhaft abzusichern. In diesem Dilemma gaben die regierenden Sozialdemokraten der Lösung der dringendsten Aufgaben den Vorrang, zumal die Frage der Überführung von Schlüsselindustrien (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Energiewirtschaft) in Formen von Gemeineigentum ("Sozialisierung") zwischen ihnen umstritten war. Die MSPD-Volksbeauftragten sahen sich in erster Linie als "Konkursverwalter" (Ebert) des Kaiserreiches; verfassungsrechtliche Entscheidungen – Rätesystem oder parlamentarische Demokratie, Privatwirtschaft oder Sozialisierung – durften nach ihrer Überzeugung nicht durch spontan gebildete Arbeiter- und Soldatenräte, sondern nur durch eine vom Volk gewählte Nationalversammlung getroffen werden. Demgegenüber drängten die USPD- Volksbeauftragten auf eine schnelle Sozialisierung; eine Nationalversammlung sollte nach ihren Vorstellungen erst später gewählt und (auf noch zu klärende Weise) mit dem Rätesystem verbunden werden. Beide Linksparteien waren sich jedoch einig, über die Frage der Nationalversammlung möglichst bald einen Beschluss durch einen Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte herbeizuführen.

Machterhalt der wilhelminischen Eliten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 18

So bewirkte die Entwicklung zwischen November 1918 und Januar 1919 ein Abbremsen der Revolution – die Umwälzung blieb letztlich auf den politischen Bereich beschränkt. Eine Demokratisierung des öffentlichen Dienstes, der Wirtschaft und wichtiger gesellschaftlicher Einrichtungen fand nicht statt. Seit Eberts Aufrufen vom 9. November arbeiteten die Regierungs-, Verwaltungs- und Justizbehörden ohne wirksame Kontrolle weiter; selbst betont antidemokratische Beamte wurden nicht entlassen. Gymnasien und Universitäten – Hochburgen des Monarchismus, Nationalismus und Antisemitismus – blieben unreformiert. Allerdings mussten die evangelischen Landeskirchen, deren Pfarrer sich (besonders in Preußen) überwiegend kritiklos mit Kaiser und Reich identifiziert hatten, auf das landesherrliche Kirchenregiment (das heißt auf die Stellung des Landesfürsten als Kirchenoberhaupt) verzichten, das dem Protestantismus eine privilegierte Stellung gegenüber dem Katholizismus gesichert hatte.

Generalität und Offizierskorps behielten ihre Stellung. Noch am Abend des 10. November 1918 unterstellte sich die OHL in einem Telefongespräch (bekannt als "Ebert-Groener-Bündnis") dem Rat der Volksbeauftragten, um ihrer Auflösung zu entgehen und ihre Autorität gegenüber den Soldaten zu festigen. Zwar wurden die kaiserlichen Militärs für die Demobilisierung noch gebraucht, aber die Volksbeauftragten versäumten es, der OHL gegenüber selbstbewusst aufzutreten und deren Befugnisse auf das Nötigste zu beschränken. Der Versuch, das kaiserliche Militär durch eine "Freiwillige Volkswehr" zu ersetzen, scheiterte, weil nur noch wenige republikanisch und demokratisch gesinnte Weltkriegssoldaten zum Wehrdienst bereit waren. So blieb die alte Armee bestehen. Im Zuge der Demobilisierung schmolz sie unter der Regie der OHL bis zum Sommer 1919 auf einen Kern von etwa 150000 Soldaten zusammen, die der Republik und der Demokratie fast ausnahmslos fern standen.

Auch die ostelbischen adligen und bürgerlichen Großgrundbesitzer, die im Kaiserreich den Großteil des höheren Offizierskorps stellten und das Rückgrat der Monarchie bildeten, kamen ungeschoren davon. Sie durch Enteignung zu entmachten, wurde von keiner gesellschaftlichen Gruppe gefordert.

Verzicht auf Sozialisierung – der Stinnes-Legien-Pakt

Schon früh wurden die Weichen so gestellt, dass die rheinisch-westfälischen Schwerindustriellen – auch sie Säulen des kaiserlichen Obrigkeitsstaates – von Enteignungen verschont blieben. Am 15. November 1918 schlossen der Vorsitzende der Unternehmerverbände Hugo Stinnes und der (der MSPD angehörende) Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien ein Abkommen, in dem sie folgendes vereinbarten:

• die Anerkennung der Gewerkschaften als "berufene Vertretung der Arbeiterschaft" und das Prinzip der kollektiven Tarifverträge,

• den Acht-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich,

• Arbeiterausschüsse und paritätische Schlichtungsausschüsse in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten,

• die Wiedereinstellung der demobilisierten Soldaten,

• sowie einen paritätisch besetzten "Zentralausschuss" (Zentralarbeitsgemeinschaft/ZAG) zur Durchführung des Abkommens und zur "Entscheidung grundsätzlicher Fragen".

Erstmals wurden die Gewerkschaften von den Unternehmern als gleichberechtigte Vertragspartner anerkannt. Auch war die damals geschaffene Tarifautonomie der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen ein bedeutender sozialpolitischer Erfolg, der noch heute einen Eckpfeiler

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 19 des Sozialstaates der Bundesrepublik bildet. Das geschickte Angebot der Unternehmer – "Sozialpolitik gegen Verzicht auf Sozialisierung" (Eberhard Kolb) – stieß bei den Gewerkschaftsführern auf Zustimmung, weil diese die spontane Rätebewegung in den Betrieben als lästige Konkurrenz empfanden. Die Volksbeauftragten einigten sich zwar am 18. Dezember auf den Kompromiss, Industriezweige, die dafür "reif" waren, zu sozialisieren, sobald eine Expertenkommission aus Wirtschaftswissenschaftlern, Unternehmern und Arbeitervertretern die notwendigen Einzelheiten ausgearbeitet hätte. Aber dieser Beschluss lief auf eine Vertagung der Sache hinaus.

Ebenfalls am 15. November 1918 beriefen die Volksbeauftragten Hugo Preuß, einen angesehenen linksliberalen Staatsrechtslehrer und bekannten Kritiker des kaiserlichen Obrigkeitsstaates, zum Staatssekretär des Innern und erteilten ihm den Auftrag, eine neue Reichsverfassung zu entwerfen. Preuß Ernennung signalisierte, dass die MSPD ihre Zusammenarbeit mit dem liberalen Bürgertum und dem politischen Katholizismus fortsetzen wollte.

Grundsatzentscheidungen im Reichsrätekongress

Vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 tagte im preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin der "Erste Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands". Reichsweit war auf je 200000 Einwohner bzw. je 100000 Soldaten ein Delegierter gewählt worden. Der Kongress führte eine Grundsatzdebatte über die Vor- und Nachteile des Rätesystems und der parlamentarischen Demokratie sowie über den richtigen Zeitpunkt der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Er fasste – jeweils mit großer Mehrheit – richtungweisende Beschlüsse:

• Abgelehnt wurde der Antrag der USPD, am "Rätesystem als Grundlage der Verfassung einer sozialistischen Republik" festzuhalten und den Räten die "höchste gesetzgebende und Vollzugsgewalt" zuzugestehen.

• Angenommen wurde der Antrag der MSPD, bis zur Regelung durch die Nationalversammlung die gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten zu übertragen und diesen nicht mehr durch den Berliner Vollzugsrat, sondern durch einen vom Kongress zu wählenden "Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik" zu kontrollieren. In diesem Gremium war dann nur die MSPD vertreten – die USPD boykottierte die Wahl, weil der Zentralrat keine Gesetzgebungsbefugnis erhielt. Das Ende der Zusammenarbeit zwischen den beiden Linksparteien kündigte sich an.

• Die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung wurden auf den frühestmöglichen Termin (19. Januar 1919) festgesetzt.

Damit hatte sich erwartungsgemäß die politische Linie der MSPD durchgesetzt. Denn von den 514 Delegierten des Reichsrätekongresses stellte sie rund 300, die USPD etwa 100 (darunter 10 Spartakisten); die übrigen waren Linksliberale, Parteilose oder Vertreter unabhängiger revolutionärer Gruppen.

Umso mehr überraschten zwei weitere Beschlüsse: Die Volksbeauftragten wurden angewiesen, "mit der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen". Auch sollten sie die militärische Kommandogewalt (unter der Kontrolle des Vollzugsrates) selbst übernehmen und für die "Zertrümmerung des Militarismus" und die "Abschaffung des Kadavergehorsams" sorgen. Offenbar existierte in der starken demokratisch-sozialistischen Massenbewegung ein parteiübergreifender Konsens über eine sofortige (!) strukturelle Demokratisierung von Heer, Verwaltung und Wirtschaft.

Doch die Mehrheitssozialdemokraten blieben ihrer Devise, dass man der Nationalversammlung nicht

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 20 vorgreifen dürfe, treu und verschleppten die Reformbeschlüsse des Rätekongresses. Mit dieser Politik enttäuschten sie Teile ihrer Anhängerschaft und brachten die radikale Linke noch mehr gegen sich auf. Daher waren sie, um die Macht zu behaupten, immer stärker auf die alten Mächte angewiesen – vor allem auf das Militär. In der Folge kam es zum Blutvergießen und zum Bruch zwischen USPD und MSPD.

Weihnachtskämpfe

Seit Dezember schwelte ein Streit um die "Volksmarinedivision", die nach dem 9. November 1918 zum Schutz des Berliner Regierungsviertels aus etwa 1000 Kieler Matrosen aufgestellt und im Schloss einquartiert worden war. Mittlerweile stand sie der USPD und dem "Spartakusbund" nahe. Da sie sich nicht korrekt verhielt – im Schloss verschwanden Kunstschätze –, sollte die Volksmarinedivision nach dem Willen der Volksbeauftragten ein neues Quartier beziehen. Die Matrosen ließen es auf eine Machtprobe ankommen: Sie setzten am 23. Dezember die Volksbeauftragten in der Reichskanzlei fest und entführten den Stadtkommandanten in den Marstall, wo er misshandelt wurde.

Daraufhin rief Friedrich Ebert über eine nicht überwachte Telefonleitung OHL-Truppen zu Hilfe, die sich am nächsten Tag bei einem Feuergefecht mit der Volksmarinedivision als bürgerkriegsuntauglich erwiesen: Als ihnen auch die Sicherheitswehr des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD), bewaffnete Arbeiter und eine unbewaffnete Volksmenge gegenüberstanden, zogen sie sich zurück. Ebert erlitt eine Niederlage: Wels kam frei, musste aber als Stadtkommandant zurücktreten; Schloss und Marstall wurden geräumt, aber die Volksmarinedivision blieb vorerst bestehen. Aus Protest gegen den Militäreinsatz beendete die USPD am 29. Dezember 1918 ihre Zusammenarbeit mit der MSPD und schied aus den Revolutionsregierungen aus. Im Rat der Volksbeauftragten wurden die USPD- Mitglieder durch Mehrheitssozialdemokraten (Militär: Gustav Noske, Arbeit und Soziales: ) ersetzt. Die Weihnachtskämpfe und der Bruch zwischen den beiden Linksparteien signalisierten den Eintritt der Revolution in eine zweite, weitaus radikalere Phase.

Bereits seit Mitte November hatte die OHL parallel zur Demobilisierung des Heeres die Bildung von "" durch ausgesuchte Offiziere gefördert. In diesen (meist von Großagrariern und Industriellen finanzierten) militärischen Freiwilligenverbänden sammelten sich antirevolutionär, monarchistisch und nationalistisch eingestellte Weltkriegssoldaten, die nur das Kriegshandwerk gelernt hatten, keinen Rückweg in eine zivile Existenz mehr fanden und gegen den "Bolschewismus" kämpfen wollten. Als Reaktion auf die Weihnachtskämpfe ließen jetzt auch die Volksbeauftragten, in Zusammenarbeit mit der OHL, überall Freikorps anwerben. Sie waren nicht nur für die Sicherung der östlichen Grenzgebiete und (entsprechend dem Waffenstillstandsabkommen) den Schutz des Baltikums vor der Roten Armee, sondern auch für den Einsatz im Innern vorgesehen. Bis März 1919 entstanden etwa 100 Freikorps unterschiedlicher Stärke mit einer Gesamtzahl von 250000 . Die Freikorpssoldaten fühlten sich jedoch nicht der Republik und der Demokratie, sondern allein ihren Kommandeuren und dem Staat als solchem verpflichtet.

Gründung der KPD

Durch den Rätekongress und die Weihnachtskämpfe verschärften sich auch die Spannungen zwischen den verschiedenen Flügeln der USPD. Am 30. Dezember 1918 gründete der "Spartakusbund" zusammen mit Hamburger und Bremer Linksradikalen die "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD), die von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geführt wurde. Rosa Luxemburg versuchte die KPD von Lenins Parteidiktatur in Russland abzugrenzen und auf eine Doppelstrategie einzuschwören: "Der Sozialismus wird nicht gemacht und kann nicht gemacht werden durch Dekrete [...]. Der Sozialismus muss durch die Massen, durch jeden Proletarier (das heißt besitzlosen Arbeiter – Anm. d. Red.) gemacht werden. [...] Wir wollen innerhalb der Nationalversammlung ein siegreiches Zeichen aufpflanzen, gestützt auf die Aktion von außen." Der Gründungsparteitag beschloss jedoch, die Wahl der Nationalversammlung zu boykottieren – diese sei nur ein "Organ der Bourgeoisie" (das heißt des kapitalbesitzenden Bürgertums).

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 21

Januaraufstand

Den Weihnachtskämpfen folgte unausweichlich die nächste Machtprobe: Ein Berliner Polizeipräsident, der Aufständischen half, statt die Regierung zu schützen, war nicht tragbar – am 4. Januar 1919 wurde Eichhorn entlassen. USPD, Revolutionäre Obleute und KPD riefen sofort zu einer Protestdemonstration auf, die am Folgetag großen Zulauf fand und unerwartet außer Kontrolle geriet. Bewaffnete Demonstranten besetzten das Berliner Zeitungsviertel. In völliger Fehleinschätzung der Lage ließen sich die Führer der drei linksradikalen Gruppen zu dem Beschluss hinreißen, den Aufstand bis zum "Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann" fortzusetzen – sie wollten die Wahl der Nationalversammlung verhindern und die Revolution fortsetzen.

Die Volksbeauftragten hatten sich rechtzeitig an den Stadtrand zurückgezogen. Mit den Worten: "Meinetwegen! Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!" übernahm Gustav Noske den Auftrag, in der Umgebung Berlins Freiwilligenverbände aufzustellen. Als Verhandlungen mit den Aufständischen scheiterten, ließ er am 11./12. Januar das Berliner Zeitungsviertel beschießen und stürmen. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Obwohl die Ordnung bereits am 13. Januar wiederhergestellt war, beorderte Noske zusätzliche Freikorps der OHL nach Berlin. Zu diesen gehörte eine Gruppe von Offizieren um den Hauptmann Waldemar Pabst, die am 15. Januar 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in ihre Gewalt brachte und brutal ermordete. Die Täter gingen vor dem Militärgericht straffrei aus bzw. entzogen sich ihrer geringen Freiheitsstrafe durch die Flucht.

Vom Verlust seiner beiden fähigsten Köpfe konnte sich der deutsche Kommunismus nie mehr erholen. Die KPD machte die MSPD für die Bluttat politisch verantwortlich; umgekehrt warf die MSPD der KPD vor, sie durch ihren sinnlosen Putschismus zum Militäreinsatz gezwungen zu haben. Aus Gegnerschaft wurde erbitterte Feindschaft. Nach der blutigen Niederwerfung des Januaraufstandes radikalisierte sich auch die USPD.

Die Revolution von 1918/19 im Urteil der Historiker

Die Revolution von 1918/19, aus der Weimar hervorgegangen ist, gehört zu den umstrittensten Ereignissen der deutschen Geschichte. Manche Historiker meinen, dass die erste deutsche Demokratie vielleicht nicht untergegangen und dann auch Hitler nicht an die Macht gekommen wäre, hätte es damals einen gründlichen Bruch mit der obrigkeitsstaatlichen Vergangenheit gegeben. Tatsächlich war der Handlungsspielraum der regierenden Mehrheitssozialdemokraten (also jenes Teils der alten SPD, der dem Reich bis zuletzt Kriegskredite bewilligt und seit 1917 eng mit den Parteien der bürgerlichen Mitte, dem katholischen Zentrum und den Linksliberalen, zusammengearbeitet hatte) in den entscheidenden Wochen zwischen dem Sturz der Monarchie am 9. November 1918 und der Wahl der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 größer als die Akteure mit Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, an der Spitze selbst meinten. Sie hätten weniger bewahren müssen und mehr verändern können. Es wäre, mit anderen Worten, möglich gewesen, in der revolutionären Übergangszeit erste Schritte zu tun auf dem Weg zu einer Demokratisierung der Verwaltung, der Schaffung eines republikloyalen Militärwesens, der öffentlichen Kontrolle der Macht – unter Umständen bis hin zu einer Vergesellschaftung des Bergbaus, einer Forderung, die nach der Jahreswende 1918/19 zu einer zündenden Streikparole wurde. [...]

Gegen eine Mehrheit Politik zu machen war für die Sozialdemokraten unvorstellbar. Es hätte auch dem bisherigen Gang der deutschen Verfassungsgeschichte widersprochen. [...] Deutschland war um 1918 bereits zu demokratisch, um sich eine revolutionäre Erziehungsdiktatur (sei es nach dem Vorbild der französischen Jakobiner von 1793 oder, was aktueller war, nach dem der russischen Bolschewiki von 1917) aufzwingen zu lassen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 22

Deutschland war auch zu industrialisiert für einen völligen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse. [...] Für hochindustrialisierte Gesellschaften aber ist ein starker Bedarf an der Aufrechterhaltung der Dienstleistungen von Staat und Kommunen, das heißt an administrativer Kontinuität, kennzeichnend. Beide Faktoren, der Grad der Demokratisierung und der Grad der Industrialisierung, wirkten objektiv revolutionshemmend. Sie erklären, warum die deutsche Revolution von 1918/19 nicht zu den großen Revolutionen der Geschichte gerechnet werden kann.

Heinrich August Winkler, Weimar: "Ein deutsches Menetekel". In: Ders. / Alexander Cammann (Hg.), Weimar. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1918-1933. C. H. Beck, München 1997, S. 15 ff.

Ich will [...] nur auf die mir relativ der Wirklichkeit am nächsten kommende These von Heinrich August Winkler eingehen [...].

Bisher wurde noch nie der Versuch unternommen, einmal stundenweise diese zehn Wochen (9. November 1918 bis 19. Januar 1919 – Anm. d. Red.) zu untersuchen [...]. Dabei würde deutlich, dass den Mitgliedern des Rates der Volksbeauftragten ein Übermaß an Kraft und Ideen abverlangt worden ist. [...] Dennoch sind in diesen zehn Wochen über 130 Gesetze [...] geschaffen worden. [...]

Wenn man die zehn Wochen als Zeitbudget formal fasst, dann bleibt am Schluss eigentlich nur die Zeit zwischen dem 9. November und den Weihnachtstagen 1918 übrig, auch hier schon unterbrochen durch Rebellion von Kräften in Berlin, die sicherlich nicht bolschewistisch waren, [...] aber eine Lage herbeiführen halfen, in der radikale Kräfte auf beiden Seiten sich in die Hände spielen konnten. Diese "Weihnachtsunruhen" aber führten dann dazu, dass Ebert und Scheidemann, weil eben ein enormes Machtvakuumbestand, sich die Unterstützung der unter dem Befehl der Obersten Heeresleitung stehenden Freikorps sicherten, die allerdings ganz andere Ziele, nämlich solche der Rückeroberung der Macht für die reaktionäre Rechte vertraten.

Hier liegt in der Tat der große Fehler, dass es nicht gelungen ist, wie etwa in Österreich, für diese Regierung der Volksbeauftragten eine Truppe von mehreren tausend Mann zusammenzubringen, die in der Lage gewesen wäre, Putschgelüste von rechts und Aufstandsversuche von links [...] niederzuhalten oder [...] abschreckend zu wirken [...].Weshalb sage ich: nur bis Weihnachten 1918? Nach dieser ersten Auseinandersetzung, bei der es zahlreiche Tote gab, kam es zum Rückzug der USPD-Mitglieder aus dem Rat der Volksbeauftragten. Das heißt, das, was innerhalb der Regierung an Druck von links her ausgeübt hätte werden können, entfiel. Der folgende "außerparlamentarische" Druck der USPD führte im Grunde eher zur Verengung der Wahrnehmung und natürlich auch zur Verengung des Aktionsradius von Ebert und den Seinen.

Hartmut Soell, "Von der Machterschleichung zur Machtergreifung: Überlegungen zum Ende der ersten deutschen Republik".

In: Christoph Gradmann / Oliver von Mengersen (Hg.), Das Ende der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtergreifung, Manutius, 1994, S. 9 ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 23 Parlamentarische Demokratie

Am 19. Januar 1919 wurde die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt. Nach dem reinen Verhältniswahlrecht entfiel auf je 150.000 Stimmen ein Mandat. Durch Senkung des Wahlalters von 25 auf 20 Jahre und Einführung des Frauenwahlrechts stieg die Zahl der Wahlberechtigten auf 36,7 Millionen (mehr als doppelt so viele wie bei den letzten Reichstagswahlen 1912). Im Hinblick auf die Verfassungsentwicklung war das Abschneiden der bürgerlichen Parteien, die sich im November/ Dezember 1918 neu formiert hatten, von besonderem Interesse. Zwischen den Parteien des Kaiserreiches und der Republik gab es eine bemerkenswerte Kontinuität.

Bürgerliche Parteien

Im Lager des bürgerlichen Liberalismus setzte sich die überkommene Spaltung fort. Die "Deutsche Demokratische Partei" (DDP) ging aus der "Fortschrittlichen Volkspartei" und dem linken Flügel der "Nationalliberalen Partei" hervor. Sie wurde getragen von eher linksliberal eingestellten Bildungsbürgern, leitenden Angestellten und Beamten, vorwiegend der Chemie- und der Elektroindustrie zugehörigen Industriellen, Mittelständlern und liberalen Juden. Die DDP war für die parlamentarisch-demokratische Republik und sagte deren "bolschewistischen" und "reaktionären" Gegnern den Kampf an. Für Sozialisierungen zeigte sich nur ein Teil ihrer Mitglieder und Anhänger aufgeschlossen. Dagegen führte die "Deutsche Volkspartei" (DVP) die Tradition des rechten Flügels der Natio-nalliberalen fort. Sie vertrat vor allem die wirtschaftsliberal, monarchistisch und antirevolutionär gesinnten Teile des Bildungsbürgertums, der Industrie (besonders der Schwerindus- trie) und des Mittelstandes.

Die "Deutsche Zentrumspartei" blieb eine Konfessionspartei für die Katholiken aller Gesellschaftsschichten, von adligen Großgrundbesitzern bis zu christlichen Gewerkschaftsangehörigen. Die Zusammenarbeit mit der "atheistischen" MSPD und der liberalen DDP auf dem Boden der Republik wurde besonders von dem durch die Revolution gestärkten Arbeitnehmerflügel des Zentrums getragen; der monarchistische Flügel sah in der Kooperation nur das kleinere Übel im Vergleich zu einer revolutionären Räterepublik. Die Sozialisierungsfrage war innerparteilich umstritten. Der bayerische Landesverband machte sich im November 1918 als "Bayerische Volkspartei" (BVP) selbstständig. Sie war dem Königshaus Wittelsbach verbunden, trat betont föderalistisch und antisozialistisch auf, bildete aber auf Reichsebene eine Fraktionsgemeinschaft mit dem Zentrum.

In der "Deutschnationalen Volkspartei" (DNVP) sammelten sich Anhänger der "Deutschkonservativen Partei", der "Reichspartei" und der 1917 gegründeten, 1918 gescheiterten imperialistischen "Vaterlandspartei". In erster Linie waren es Offiziere, Beamte und Angestellte, Akademiker, Mittelständler und Bauern; ostelbische Großagrarier und rheinisch-westfälische Schwerindustrielle gaben den Ton an. Die nationalkonservative und antisemitische DNVP, deren rechter Flügel die Grenze zum völkischen Rechtsradikalismus überschritt, lehnte Republik und Demokratie grundsätzlich ab. Ihr Hauptziel war die Wiedererrichtung der Hohenzollernmonarchie über Preußen und das Deutsche Reich.

Die Wahlbeteiligung betrug 83 Prozent, bei den Frauen sogar 90 Prozent. Von den 416 Abgeordneten stellten die Frauen aber nur 37 (= 8,9 Prozent). Die Stimmen der weiblichen Wähler kamen nicht etwa USPD und MSPD zugute, denen sie das Wahlrecht verdankten; vielmehr tendierten die Frauen in überwiegend protestantischen Gegenden zu DDP und DNVP, in überwiegend katholischen zum Zentrum bzw. zur BVP.

Eindeutige Wahlsieger waren die Mehrheitssozialdemokraten. MSPD, DDP und Zentrum brachten es gemeinsam auf 76,1 Prozent der Wählerstimmen, was Republik und Demokratie ein solides Fundament zu verleihen schien. Die beiden sozialdemokratischen Parteien blieben zusammen deutlich unter, die bürgerlichen Parteien über 50 Prozent. Insgesamt bedeutete das Wahlergebnis einen großen Sieg für die Anhänger der parlamentarischen Demokratie, eine klare Niederlage für deren linksradikale und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 24 monarchistische Gegner und eine bittere Enttäuschung für alle Anhänger tiefgreifender Gesellschaftsreformen durch Sozialisierungen.

Nationalversammlung

Die Nationalversammlung trat am 6. Februar nicht im Berliner Reichstag, sondern im Weimarer Nationaltheater zusammen – einerseits, um nach dem Berliner Januaraufstand ungestört zu beraten, andererseits, um das republikanische Deutschland symbolisch mit den humanistischen, aufklärerischen und klassischen Traditionen der deutschen Kultur zu verbinden. Am 11. Februar wählten die Abgeordneten Friedrich Ebert zum ersten Reichspräsidenten; dieser beauftragte Philipp Scheidemann mit der Regierungsbildung. Am 13. Februar wurde die erste, vom ganzen deutschen Volk legitimierte, parlamentarisch-demokratische Regierung aus Ministern der "Weimarer Koalition" (MSPD, DDP, Zentrum) vereidigt. Danach begannen die Verfassungsberatungen und die allgemeine Gesetzgebung.

Frühjahrsunruhen

Nach den für die radikale Linke enttäuschenden Wahlen zur Nationalversammlung kam es zwischen Februar und Mai 1919 vielerorts zu lokalen Aufständen, "wilden" Streiks (das heißt ohne Beteiligung der Gewerkschaften) und Betriebsbesetzungen, letztere namentlich im mitteldeutschen Bergbau um und Merseburg und im Ruhrgebiet. Dabei ging es um den Erhalt und Ausbau des Rätesystems, die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und die Demokratisierung des Militärs sowie um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Massenbewegung dieser zweiten Phase der Revolution war im Umfang erheblich kleiner, aber in den Zielen bedeutend radikaler als die Volksbewegung vom November 1918. Die Mehrheit der Industriearbeiter stand jetzt im Lager der USPD.

Anfang März 1919 fand in Berlin ein von Anhängern aller Linksparteien organisierter Generalstreik für die Demokratisierung des Militärs statt. Die KPD betrieb jedoch die Umwandlung des Streiks in einen Aufstand, was zur Verhängung des Ausnahmezustandes über Berlin führte. Aufgrund der Falschmeldung, Kommunisten hätten 60 Polizisten ermordet, erließ Gustav Noske (inzwischen Reichswehrminister) als Inhaber der vollziehenden Gewalt am 9. März den Befehl: "Jede Person, die mit Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen." Freikorps und Polizei machten daraufhin rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch. Die Berliner Märzkämpfe kosteten rund 1.000 Menschen das Leben.

In Bayern löste am 21. Februar 1919 die Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD) durch einen monarchistischen Offizier große Empörung aus, die in linksradikale Versuche zur Gründung einer Räterepublik mündeten. Schließlich übernahm die KPD am 13. April mit Hilfe einer von ihr aufgestellten Miliz ("Rote Armee") in München die Macht. Daraufhin schickte Noske starke Freikorpsverbände, die die kommunistische Herrschaft in harten Kämpfen niederschlugen. Unter den insgesamt 606 Todesopfern befanden sich 335 Zivilisten.

Anfang Mai 1919 endete mit der Münchner Räterepublik, die die Kommunismusfurcht des Bürgertums nachhaltig schürte, auch die Revolution von 1918/19. Schon seit Januar übernahmen demokratisch gewählte Parlamente die Aufgaben der Arbeiter- und Soldatenräte. Die meisten Räte lösten sich im Frühjahr und Sommer 1919 auf, die letzten im Herbst und Winter 1919/20.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 25 Weimarer Verfassung

Am 31. Juli 1919 nahm die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit – gegen die Stimmen von USPD, DVP und DNVP – die Weimarer Verfassung an, die nach ihrer Unterzeichnung durch den Reichspräsidenten am 14. August in Kraft trat. Sie beruhte weitgehend auf dem Entwurf von Hugo Preuß. Bei den Nationalsymbolen kam es zu einem Kompromiss: Schwarz-rot-gold, die Farben der bürgerlich-demokratischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, wurden die Reichsfarben der Republik. Die Handelsflagge behielt die schwarz-weiß-roten Farben des Kaiserreiches – mit einer kleinen schwarz-rot-goldenen Gösch in der inneren oberen Ecke. 1922 erklärte der Reichspräsident das "Lied der Deutschen" von Hoffmann von Fallersleben zur Nationalhymne.

Zentrale Verfassungsprinzipien waren die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und die Grundrechte, darunter erstmals die staatsbürgerliche und familienrechtliche Gleichstellung der Frauen (Artikel 109, 119 und 128). Weitere Strukturelemente bildeten die repräsentative Demokratie mit einer dem Parlament verantwortlichen Regierung, die plebiszitäre Demokratie mit Volksabstimmungen (nach dem Vorbild der Schweiz) und die Präsidialdemokratie mit einem starken, direkt gewählten Präsidenten (wie in den USA und in Frankreich). Der deutsche Föderalismus wurde etwas abgeschwächt: Man erweiterte die Kompetenzen des Reiches und trennte das Amt des preußischen Ministerpräsidenten vom Vorsitz des Reichsrates (der Ländervertretung) und vom Amt des Reichskanzlers. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung wurde zum Sozialstaat ausgebaut. Die Mischung aus repräsentativen, plebiszitären und autoritären Verfassungselementen ergab jedoch kein harmonisches Ganzes.

Repräsentative, plebiszitäre und autoritäre Elemente

Die Grundrechte waren kein unmittelbares, die Gewalten (Legislative, Exekutive, Jurisdiktion) bindendes Recht (wie im Grundgesetz von 1949); sie galten nur nach Maßgabe der Gesetze. Eine dem heutigen Bundesverfassungsgericht vergleichbare Institution als Hüterin der Verfassung fehlte. Zwar war die Gesetzgebung Sache des vom Volk für vier Jahre gewählten Reichstages; auch ließen sich Einsprüche der Ländervertretung (anders als im Kaiserreich) mit einem Zweidrittelvotum des Parlamentes überstimmen. Aber ein Volksbegehren von zehn Prozent der Wahlberechtigten konnte den Reichstag dazu zwingen, einen ihm zugeleiteten Gesetzentwurf unverändert zu beschließen oder einem Volksentscheid zu überlassen (Artikel 73). Fünf Prozent der Wahlberechtigten vermochten unter bestimmten Bedingungen sogar einen Volksentscheid über ein vom Parlament bereits verabschiedetes Gesetz zu erzwingen (Artikel 72). Diese Möglichkeiten direkter Demokratie stellten die Kompetenz des Parlaments, mithin die repräsentative Demokratie als solche, infrage.

Der vom Volk für sieben Jahre direkt gewählte Reichspräsident besaß eine solche Machtfülle, dass man ihn auch als "Ersatzkaiser" bezeichnet hat. Der Präsident konnte die Volksvertretung fast beliebig ("nur einmal aus dem gleichen Anlass") auflösen (Artikel 25). Jedes vom Reichstag verabschiedete Gesetz, mit dem er nicht einverstanden war, durfte er einem Volksentscheid überantworten (Artikel 73) – eine nie praktizierte Regelung, die gleichwohl den Parlamentarismus latent bedrohte.

Der Reichspräsident ernannte und entließ den Reichskanzler und, auf dessen Vorschlag, die Reichsminister (Artikel 53). Alle Kabinettsmitglieder bedurften des Vertrauens des Reichstages. Dieses wurde vorausgesetzt, solange das Parlament kein Misstrauensvotum abgab, mit dem es den Kanzler oder einen Minister stürzen konnte (Artikel 54). Eine Kanzlerwahl durch den Reichstag, die das Parlament gegenüber der Regierung und beide zusammen gegenüber dem Reichspräsidenten gestärkt hätte, war jedoch nicht vorgesehen.

Ferner vertrat der Reichspräsident das Reich völkerrechtlich (Artikel 45) und hatte den Oberbefehl über die Streitkräfte (Artikel 47). Nach Artikel 48 Abs. 1 traf er allein Maßnahmen (notfalls auch militärische) gegen ein Land, das die Verfassung oder Reichsgesetze verletzte (sog. ). Vor allem entschied er über den "Ausnahmezustand": Stellte er fest, dass "die öffentliche Sicherheit

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 26 und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet" war, so durfte er gemäß Artikel 48 Abs. 2 quasi diktatorisch die "nötigen Maßnahmen" treffen, das heißt das Militär im Innern einsetzen und sogar die wichtigsten Grundrechte "vorübergehend" außer Kraft setzen, nämlich Freiheit der Person (Artikel 114), Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 115), Postgeheimnis (Artikel 117), freie Meinungsäußerung (Artikel 118), Versammlungsfreiheit (Artikel 123), Vereinsfreiheit (Artikel 124) und Eigentumsrecht (Artikel 153). Zwar konnte der Reichstag mit einfacher Mehrheit die Aufhebung dieser Maßnahmen verlangen (Artikel 48 Abs. 3). Aber das in Artikel 48 Abs. 5 vorgesehene Ausführungsgesetz, das die Gefahr willkürlicher Machtausübung hätte verringern können, kam nie zustande. Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten bedurften der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler bzw. den zuständigen Reichsminister (Artikel 50); doch war auch dies kein zuverlässiges Kontrollinstrument, da der Präsident erheblichen Einfluss auf die Regierungsbildung besaß.

Gesellschaftspolitische Bestimmungen

Die Rätebewegung der Revolution fand in Artikel 165 einen gewissen Nachhall. Von Arbeitnehmern und Arbeitgebern paritätisch besetzte Bezirkswirtschaftsräte und ein Reichswirtschaftsrat sollten in erster Linie bei der Durchführung von Sozialisierungen mitwirken. Artikel 153 Abs. 2 erlaubte gesetzliche Enteignungen "zum Wohle der Allgemeinheit" gegen eine "angemessene" Entschädigung, "soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt". Da es für Sozialisierungen aber keine politischen Mehrheiten gab, haben diese Räte nie etwas bewirkt.

Im Vergleich zum Kaiserreich machte der Sozialstaat beträchtliche Fortschritte. Artikel 159 gewährleistete die Koalitionsfreiheit (das heißt die soziale und wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit) und verlieh damit Gewerkschaften wie Unternehmerverbänden ein verfassungsmäßiges Existenz- und Betätigungsrecht. Artikel 161 verankerte das von Bismarck begründete Sozialversicherungswesen in der Verfassung. Darüber hinaus enthielt Artikel 163 einen Verfassungsauftrag zur Einrichtung einer staatlichen Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Nicht zuletzt legte Artikel 146 erstmals die noch heute existierende vierjährige "für alle gemeinsame Grundschule" als Basis des darauf aufbauenden gegliederten Schulwesens fest – eine bildungspolitische Konstruktion, deren Vereinheitlichungstendenz konservativen Kritikern zu weit, linken dagegen nicht weit genug ging.

Trotz ihrer strukturellen Probleme bildete die Weimarer Verfassung ein tragfähiges Fundament für den Aufbau einer rechts- und sozialstaatlichen Demokratie. Welchen Belastungsproben sie ausgesetzt sein würde und ob sie ihnen standhalten konnte, musste sich freilich erst noch erweisen.

Ausgewählte Verfassungsartikel

Artikel 25

Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass.

Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tag nach der Auflösung statt.

Artikel 48

Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.

Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 27

Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.

Von allen gemäß Absatz 1 oder Absatz 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. [...]

Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der im Absatz 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.

Artikel 53

Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen.

Artikel 54

Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss das Vertrauen entzieht.

Artikel 73

Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt. Ein Gesetz, dessen Verkündung auf Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu unterbreiten, wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt.

Ein Volksentscheid ist ferner herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. Dem Volksbegehren muss ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zu Grunde liegen. Er ist von der Regierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Reichstag zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der begehrte Gesetzentwurf im Reichstag unverändert angenommen worden ist. [...]

Artikel 153

Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. [...]

Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt. [...]

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.

Artikel 156

Das Reich kann durch Gesetze, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen. Es kann sich selbst, die Länder oder die Gemeinden an der Verwaltung wirtschaftlicher Unternehmungen und Verbände beteiligen oder sich daran in anderer Weise einen bestimmten Einfluss sichern. [...]

Artikel 165

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 28

Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.

Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.

Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. [...]

Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu beantragen. [...]

Hermann Mosler (Hg.), Die Verfassung des deutschen Reichs vom 11. August 1919, Reclam, 1964, S. 18 ff.

Aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 261) - Kampf um die Republik 1919-1923 (2011)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 29

Kampf um die Republik 1919 - 1923

Von Reinhard Sturm 23.12.2011 geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. 1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus. Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht.

Kontakt: »[email protected]«

Schon die ersten Jahre der Weimarer Republik erwiesen sich politisch als äußerst schwierig: Die Last der Reparationszahlungen, die fehlende Akzeptanz der neuen Staatsform in der Bevölkerung und ein aufkeimender Extremismus stellten die junge Demokratie vor eine Zerreißprobe.

Einleitung

Noch vor der Verabschiedung der Verfassung musste sich die Nationalversammlung mit dem Friedensvertrag befassen. Am 7. Mai 1919 erhielt die vom parteilosen Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau geleitete deutsche Delegation den Entwurf, den die seit dem 18. Januar in Paris tagende Konferenz der Siegermächte – ohne Beteiligung der Besiegten – erarbeitet hatte. Er war letztlich das Werk der "Großen Drei": des US-Präsidenten Woodrow Wilson, des britischen Premierministers Lloyd George und des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau.

Der Friedensvertrag von Versailles

Die vorgesehenen Gebietsverluste, Souveränitätsbeschränkungen, Reparationen und vor allem die Zuweisung der Alleinschuld am Krieg lösten in ganz Deutschland, quer durch alle politischen Lager und sozialen Schichten, einen Entrüstungssturm aus. Fast alle deutschen Änderungswünsche (bis auf eine Abstimmung in Oberschlesien über die nationale bzw. staatliche Zugehörigkeit) wiesen die Alliierten ab. Daraufhin trat das Kabinett Scheidemann am 20. Juni zurück; die DDP schied vorläufig aus der Koalition aus (bis zum 3. Oktober 1919). Neuer Reichskanzler wurde (MSPD).

Am 23. Juni rief Reichspräsident Ebert bei der OHL in Kolberg an, um sich nach den Chancen eines militärischen Widerstandes zu erkundigen. Hindenburg überließ es Groener, Ebert mitzuteilen: "Die Wiederaufnahme des Kampfes ist [...] aussichtslos. Der Friede muss daher unter den vom Feinde gestellten Bedingungen abgeschlossen werden."

Da es keine verantwortbare Alternative gab, beschloss die Nationalversammlung am Nachmittag des 23. Juni 1919 mit großer Mehrheit die Annahme des Friedensvertrages, gegen die Stimmen von DNVP, DVP, der Mehrheit der DDP-Fraktion und einiger Zentrumsabgeordneter. Die Unterzeichnung fand am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles statt – dem Ort, den die deutschen Fürsten 1871 gewählt hatten, um Wilhelm I. zum Kaiser auszurufen und gleichzeitig Frankreich zu demütigen. Der Vertrag von Versailles trat nach der Ratifizierung durch die Unterzeichnerstaaten am 10. Januar 1920 in Kraft.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 30

Bestandteil des Vertrages war die Satzung des vor allem auf Betreiben Wilsons am 29. April 1919 in Versailles gegründeten Völkerbundes, dem Deutschland vorläufig nicht angehören durfte. Der US- Kongress verweigerte jedoch im November 1919 seine Zustimmung, weil er künftige Verwicklungen der USA in europäische Konflikte vermeiden wollte. Dadurch war der Völkerbund von vornherein geschwächt. Ein deutsch-amerikanischer Friedensschluss erfolgte am 25. August 1921.

Die deutsche Delegation der bei den Verhandlungen zum Versailler Friedensvertrag. Lizenz: cc by-sa/3.0/de (Bundesarchiv, Bild 183-R11112, Foto: o.A.)

Der Versailler Vertrag nahm Deutschland nicht nur sämtliche Kolonien, sondern auch 13 Prozent seines Territoriums und zehn Prozent seiner Bevölkerung, damit verbunden 50 Prozent der Eisenerzversorgung, 25 Prozent der Steinkohleförderung, 17 Prozent der Kartoffel- und 13 Prozent der Weizenernte. Der Großteil dieser Gebiete fiel an den nach 123-jähriger Teilung wieder gegründeten Staat Polen, den die Alliierten auch als Bollwerk gegen den russischen Bolschewismus betrachteten. Die neue Grenzziehung im Osten führte wegen der dortigen gemischtnationalen Siedlungsweise unvermeidlich zu neuen Minderheitsproblemen. Wo bisher Polen unter preußisch-deutscher Herrschaft lebten und nationalistische Diskriminierungen erdulden mussten, kehrten sich diese Verhältnisse jetzt um.

Im März 1918 hatte Deutschland dem Russischen Reich im "Diktatfrieden" von Brest-Litowsk annähernd ein Viertel seines europäischen Territoriums – das freilich von nach Unabhängigkeit strebenden Völkern bewohnt war – und damit ein Viertel seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche sowie drei Viertel seiner Schwerindustrie und Kohleproduktion entzogen. Nun wurde es selbst in Versailles ähnlich hart behandelt. Gleichwohl blieb sein nationalstaatliches Gefüge weitgehend erhalten; auch eine Rückkehr in den Kreis der Großmächte war keineswegs ausgeschlossen.

Bestimmungen des Versailler Vertrages

Gebietsabtretungen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 31

Elsass-Lothringen an Frankreich (ohne Abstimmung)

Saargebiet für 15 Jahre unter Völkerbundkontrolle, Kohlegruben an Frankreich, deutsches Rückkaufrecht (1935 Abstimmung)

Eupen und Malmedy an Belgien (nach umstrittener Abstimmung)

Nordschleswig an Dänemark (nach umstrittener Abstimmung)

Posen und Westpreußen ("Korridor") an Polen (ohne Abstimmung)

Südliche Teile Ostpreußens an Polen (dazu kam es nicht, weil bei der Abstimmung über 90 Prozent den Verbleib bei Deutschland wünschten)

Danzig mit Weichselmündung "Freie Stadt" unter Kontrolle des Völkerbundes, mit Sonderrechten für die polnische Minderheit

Memelgebiet 1923 an Litauen (ohne Abstimmung)

Ostoberschlesien an Polen (trotz Abstimmung in Oberschlesien, bei der 60 Prozent den Verbleib bei Deutschland wünschten)

Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei (ohne Abstimmung)

Deutsche Kolonien als Mandatsgebiete an verschiedene alliierte Staaten

Souveränitätsbeschränkungen

Auslieferung des Kaisers als Kriegsverbrecher (von den Niederlanden abgelehnt)

Verbot der Vereinigung mit Deutsch-Österreich

Eingeschränkte Lufthoheit

Internationalisierung der Flüsse Rhein, Donau, Elbe, Oder und Memel

Verbot der allgemeinen Wehrpflicht, Beschränkung des Heeres auf 100000 Mann und der Marine auf 15000 Mann

Verbot aller schweren Waffen (Kanonen, Panzer, Kampfflugzeuge, U-Boote, Großkampfschiffe)

Kontrolle durch eine alliierte Kommission

Besetzung des linken Rheinufers und rechtsrheinischer Brückenköpfe auf 15 Jahre, 50 km breite entmilitarisierte Zone rechts des Rheins

Reparationen

Als völkerrechtliche Grundlage aller Forderungen dient der Artikel 231 ("Kriegsschuldparagraph"):

"Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 32

Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben."

Gefordert werden: umfangreiche Sachlieferungen

Ablieferung aller Handelsschiffe über 1600 Tonnen

Zahlungen in Goldmark (GM) in erst noch zu berechnender Höhe

Der Versailler Vertrag (Abriss)

Dennoch gelangte die deutsche Öffentlichkeit bei der Auseinandersetzung mit dem Vertrag von Versailles über eine leidenschaftliche Verdammung nicht hinaus. Zu groß war die Enttäuschung darüber, dass das von Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker zwar auf andere Nationen, aber kaum auf Deutschland angewandt wurde.

Finanzpolitik und Wirtschaftsentwicklung

Im Sommer 1919 waren die Umstellung der Kriegs- auf Friedenswirtschaft und die Wiedereingliederung der Kriegsteilnehmer in den Arbeitsprozess noch nicht abgeschlossen; hinzu kamen Flüchtlinge und Ausgewiesene aus den abgetrennten Ostgebieten. Die Binnenwirtschaftsbeziehungen zu diesen Territorien wurden gekappt. Der Staat war mit 153 Milliarden Mark verschuldet, seine Finanzmittel äußerst knapp. Die Reparationen – vorab bis zum 1. Mai 1921 Leistungen im Werte von 20 Milliarden Goldmark (eine inflationssichere Verrechnungseinheit; 1 GM entsprach dem Wert von rund 0,36 Gramm Feingold) – bedeuteten eine schwere Belastung. Da das Kaiserreich den Krieg von 1914 bis 1918 nicht nur mit Krediten finanziert hatte, sondern – bei rückläufigem Warenangebot – auch durch eine Vervierfachung der umlaufenden Bargeldmenge und des Giralgeldes (Buchgeld für den bargeldlosen Zahlungsverkehr), war eine erhebliche Nachkriegsinflation die Folge.

Für die Lösung dieser Probleme sowie den Aufbau des neuen Staates und seiner Sozialpolitik benötigte die Republik enorme finanzielle Mittel. Reichsfinanzminister Erzberger reformierte daher 1919/20 die Finanzverwaltung und das Steuersystem. 39 Prozent des gesamten Steueraufkommens erhielt künftig das Reich, 23 Prozent die Länder, 38 Prozent die Gemeinden. Die neu eingeführte Erbschaftssteuer sowie mehrere einmalige Abgaben für Vermögende sollten für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.

Trotz der schwierigen Ausgangslage nahm die wirtschaftliche Entwicklung bis 1922 einen relativ günstigen Verlauf. Es kam zu einem Aufschwung der Friedensproduktion bei annähernder Vollbeschäftigung. Durch die – vorläufig beherrschbare – Inflation und niedrige Löhne konnte die Industrie kostengünstig produzieren und sich auf dem internationalen Markt Wettbewerbsvorteile verschaffen. Ging die Industrieproduktion 1920/21 weltweit um 15 Prozent zurück, was damals als starker Einbruch galt, so stieg sie in Deutschland um 20 Prozent an. Freilich erreichte sie 1921 erst wieder 66 Prozent des Vorkriegsniveaus. Die Arbeitslosigkeit fiel bis 1922 unter zwei Prozent, während sie im Ausland durchweg im zweistelligen Bereich lag.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 33 Dolchstoßlüge

Am 18. November 1919 verlas Hindenburg – seit Juni im Ruhestand – vor dem Ausschuss der Nationalversammlung für die Schuldfragen des Weltkriegs eine Aussage über die "Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918", die in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen erregte. Trotz der Überlegenheit des Feindes, so behauptete er, wäre der Krieg gewonnen worden, wenn "Heer und Heimat" zusammengestanden hätten. Stattdessen habe eine "heimliche planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer" eingesetzt. "So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlussstein. Ein englischer General sagte mit Recht: "Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden."

Damit machte sich Hindenburg – unter fälschlicher Berufung auf einen ungenannten englischen General – zum prominentesten Vertreter der sogenannten Dolchstoßlegende, treffender: Dolchstoßlüge. Denn niemand wusste besser als die kaiserlichen Generäle, dass unter ihrer Führung der Krieg bereits militärisch verloren war, bevor die Auflösungserscheinungen an der Westfront begannen; dass diese auf permanente Überforderung der Soldaten zurückzuführen waren; dass die OHL selbst ein sofortiges und deshalb kapitulationsähnliches Waffenstillstandsgesuch verlangt hatte; und dass die Revolution erst ausgebrochen war, nachdem sich der jahrelang propagierte "Siegfrieden " als bloße Illusion herausgestellt hatte.

Die republikanischen Parteien unterschätzten die politische Sprengkraft der Dolchstoßlüge. Sie unterließen es, die deutsche Öffentlichkeit ständig darüber aufzuklären, dass das Kaiserreich den Weltkrieg maßgeblich mitverschuldet hatte und allein das Regime Wilhelms II. für Kriegsniederlage und Friedensbedingungen verantwortlich war.

Dieses Versäumnis hatte fatale Folgen: Vor dem Hintergrund des als hart und demütigend empfundenen Versailler Vertrages, und während die regierungsoffizielle Propaganda aus Gründen der Staatsräson jede Kriegsschuld bestritt, wurde von prominenten kaiserlichen Militärs und Politikern, mit Unterstützung konservativer und rechtsradikaler Zeitungen, die Dolchstoßlüge unermüdlich verbreitet. Sie traf in breiten nationalbewussten Bevölkerungskreisen, die sich mit der Sinnlosigkeit ihrer Entbehrungen und Opfer im Krieg nicht abfinden mochten, auf Zustimmung. Dadurch wirkte sie ihrerseits wie ein Dolchstoß in den Rücken der Republik.

Radikalisierung

Rechtsradikalismus

Im Zuge des Kriegsendes und der Revolution von 1918/19 entstand ein rechtsradikales Lager, das sich aus zahlreichen konkurrierenden Parteien und Organisationen zusammensetzte. Die ideologischen Grenzen zwischen diesem offenen Rechtsradikalismus und dem besonders manifesten Natio-nalkonservatismus am rechten Rand der DNVP waren oft fließend.

Die Frühjahrsunruhen 1919 veranlassten überall in Deutschland Mittelständler und Bauern zur Bildung lokaler antirevolutionärer Selbstschutzverbände. Der Schwerpunkt dieser milizartigen bewaffneten " Einwohnerwehren" lag in Bayern, wo sie mehr als 350.000 Mitglieder hatten und zum Teil auch überregional organisiert waren.

Den besonders militanten, extremen Flügel des Rechtsradikalismus bildeten diverse "deutschvölkische " Geheimbünde, Gruppen, Kampfverbände und Parteien. Deren Mitgliederschaft bestand hauptsächlich aus entlassenen Soldaten und Freikorpsleuten, die der Krieg sozial entwurzelt und moralisch verwildert hatte. Zum vorläufigen Kristallisationskern entwickelte sich rasch – vor allem in Bayern – der "Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund" mit über 100.000 Mitgliedern. Aber auch die " Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" (NSDAP) unter ihrem rednerisch begabten Vorsitzenden , einem österreichischen Gelegenheitsarbeiter und dekorierten Frontsoldaten, erregte bald über München hinaus Aufmerksamkeit. Ende 1920 besaß sie bereits eine eigene Zeitung,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 34 den "Völkischen Beobachter", seit August 1921 auch einen eigenen Kampfverband, die " " (SA). Ende 1922 hatte die NSDAP etwa 10.000 Mitglieder.

Aus der Sicht der deutschvölkischen Szene galt es KPD, USPD, MSPD, Gewerkschaften und bürgerliche Demokraten mit allen Mitteln zu bekämpfen, da ihnen die Schuld an allen gesellschaftlichen Übeln zugeschoben wurde. Der Krieg sei das Werk einer "jüdischen Weltverschwörung" gewesen, Waffenstillstand und Friedensvertrag die Folge des "Dolchstoßes" und der Revolution. Die parlamentarische Demokratie hielten die Deutschvölkischen für etwas "Undeutsches", von den Siegern Aufgezwungenes. Die Weimarer Republik hieß bei ihnen nur verächtlich "das System", ihre Repräsentanten beschimpften sie als "Novemberverbrecher". Sie erstrebten einen starken Staat, den sich nur wenige noch als Monarchie, die meisten dagegen als "Führerstaat" nach dem Vorbild des italienischen Faschismus unter vorstellten.

Antisemitismus

Der für die deutschvölkische Szene besonders charakteristische Judenhass (so wollte die NSDAP schon seit 1920 die Juden ausbürgern) wurzelte in Deutschland – wie in anderen europäischen Ländern auch – im jahrhundertealten christlichen Antijudaismus. Dieser hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Antisemitismus entwickelt. In ihm verbanden sich politische Bestrebungen, die Emanzipation der Juden (1869/71) rückgängig zu machen, und rückwärts gewandte Kritik an der industriellen Moderne, für die wirtschaftlich erfolgreiche Juden sinnbildlich standen, mit international verbreiteten pseudowissenschaftlichen Rassenlehren, in denen insbesondere die Juden zu einer minderwertigen Rasse mit ausschließlich negativen Eigenschaften erklärt wurden. Der europäische Antisemitismus steigerte sich bis zu der absurden Behauptung einer jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft; den Beweis dafür sollten die 1919 (nicht nur) in deutscher Sprache gedruckten "Protokolle der Weisen von Zion" liefern. Dabei handelt es sich zweifelsfrei um eine antisemitische Fälschung, die gleichwohl in der deutschvölkischen Szene weite Verbreitung fand; selbst heute noch wird ihr von Antisemiten Glauben geschenkt.

Linksradikalismus

Bei der politischen Linken trieb die Enttäuschung über die stecken gebliebene Revolution die Radikalisierung voran. Unter der Dominanz ihres linken Flügels näherte sich die USPD der KPD an: Im Dezember 1919 propagierte auch sie die "Diktatur des Proletariats" und beharrte auf dem Rätesystem als Form der "Organisation der sozialistischen Gesellschaft". Durch diese Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik blieb die Kluft zwischen USPD und MSPD unüberbrückbar.

1920 drängte der linke Flügel der USPD auf den Beitritt zur "Kommunistischen Internationale " (Komintern), dem von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gesteuerten Dachverband der internationalen kommunistischen Parteien. Dadurch wurde eine Spaltung unvermeidlich. Im Dezember 1920 vereinigte sich die USPD-Linke mit der KPD, deren Mitgliederzahl dadurch sprunghaft anstieg. Im September 1922 schloss sich die Rumpf-USPD der MSPD an; die vereinigte Partei nannte sich ab 1924 wieder SPD. Künftig war das linke Lager durch den Gegensatz zwischen revolutionärer KPD und reformorientierter SPD geprägt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 35 Aufstände und Putschversuche

Im Frühjahr 1920 musste die Weimarer Republik ihre erste große Existenzkrise überstehen, die durch einen Rechtsputsch ausgelöst wurde, der einen Linksputsch nach sich zog.

Nach den Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages sollten bis zum 31. März – nach einer Fristverlängerung bis zum Jahresende – das Heer auf 100.000, die Marine auf 15.000 Mann verkleinert werden. Rund 300.000 Reichswehrangehörige und Freikorpsleute standen vor der Entlassung. Die meisten klammerten sich an das Militär, das ihnen Halt gab. Zu den ersten Freikorps, deren Auflösung Reichswehrminister Noske am 29. Februar verfügte, gehörte die in Döberitz stationierte, 6.000 Mann starke, von dem Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt geführte Marinebrigade II. Am 12. März marschierte sie spätabends nach Berlin, um die Regierung zu stürzen.

Kapp-Lüttwitz-Putsch

Hinter diesem Putschversuch steckte die Verschwörergruppe "Nationale Vereinigung", die eine Militärdiktatur anstrebte, um den Versailler Vertrag auszuhebeln. Zu ihr zählten Ludendorff, General Walther von Lüttwitz, dem die mitteldeutschen und ostelbischen Reichswehrverbände sowie die meisten Freikorps unterstanden, Hauptmann Waldemar Pabst, der die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu verantworten hatte, Traugott von Jagow, der letzte kaiserliche Polizeipräsident von Berlin, und Wolfgang Kapp, ostpreußischer Generallandschaftsdirektor und Mitglied der DNVP.

Noske beriet sofort mit der Reichswehrführung über Gegenmaßnahmen. Doch nur der Chef der Heeresleitung, General Walther Reinhardt, forderte einen Truppeneinsatz gegen die Putschisten. Die übrigen Generäle, die der Republik fernstanden, rieten davon ab – im Raum Berlin stünden nicht genügend Soldaten zur Verfügung, und "Reichswehrtruppen (würden) niemals auf andere Reichswehrtruppen schießen", wie General äußerte.

Der Regierung blieb nur die Flucht nach Stuttgart. Inzwischen besetzte die Brigade Ehrhardt, unterstützt von einem Reichswehrbataillon, das Berliner Regierungsviertel. Kapp rief sich selbst zum Reichskanzler aus und ernannte von Lüttwitz zum Oberbefehlshaber der Reichswehr.

Gerettet wurde die Republik durch einen Generalstreikaufruf aus der Reichskanzlei, der von den Gewerkschaften und der SPD sofort befolgt wurde. Die KPD, der die Weimarer Republik als "Noske- Demokratie" verhasst war, schloss sich nur zögerlich an. Vielerorts kam es zu bewaffneten Kämpfen mit Kapp-Lüttwitz-Anhängern.

Zum Glück für die Republik war der Putsch schlecht vorbereitet. Wirklichen Rückhalt besaß er nur bei den Großagrariern, Offizieren und Landräten östlich der Elbe. Am 17. März 1920 brach die Aktion landesweit zusammen. Lüttwitz floh nach Ungarn, Kapp nach Schweden, Ehrhardt tauchte in Bayern unter.

Tags darauf forderten die Arbeitnehmervertretungen – der "Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund " (ADGB), die ihm angeschlossene "Arbeitsgemeinschaft für Angestellte" (AfA-Bund) und der vor allem die untere Beamtenschaft vertretende "Deutsche Beamtenbund" (DBB) – die Bildung einer MSPD- USPD-Regierung unter einem Reichskanzler Carl Legien. Diese sollte endlich durch strukturelle Reformen die Demokratie wirkungsvoll schützen, u. a. durch Entlassung illoyaler Staatsdiener und durch Sozialisierungen. Doch im Reichstag war nur eine neue Weimarer Koalitionsregierung unter Hermann Müller (MSPD) durchsetzbar. Weil Noske, dessen Politik der Härte gegenüber dem Links- und Rechtsradikalismus an den Generälen gescheitert war, von Otto Geßler (DDP) abgelöst wurde, trat der republiktreue General Reinhardt zurück. Neuer Chef der Heeresleitung wurde ausgerechnet der zwar fähige, aber politisch unzuverlässige General von Seeckt. Unter seiner Amtsführung entwickelte sich die Reichswehr in den folgenden Jahren erst recht zu einer Art "Staat im Staate".

Aufstand der "Roten Ruhrarmee"

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 36

Noch während des Kapp-Lüttwitz-Putsches übernahmen in den größeren Orten des Ruhrgebietes spontan entstandene lokale "Vollzugsräte" der USPD und der KPD die politische Macht. Sie organisierten bewaffnete Arbeiterwehren, denen es in erbitterten Kämpfen gelang, die einmarschierenden aufständischen Freikorps zum Rückzug zu zwingen. Ein Teil dieser Arbeiterwehren formierte sich zu einer etwa 50.000 Mann starken revolutionären "Roten Ruhrarmee", die bis Ende März das gesamte Ruhrgebiet unter ihre Kontrolle brachte.

Unterstützung erhielt sie durch den Streik von mehr als 300.000 Bergarbeitern (rund 75 Prozent der Belegschaften). Der linksradikale Widerstand gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch verwandelte sich in einen Kampf für die Wiederbelebung und Vollendung der sozialen Revolution und des Rätesystems. Diese "Märzrevolution" war die größte bewaffnete Arbeiteraktion, die es in Deutschland je gab. Sie nährte, wie schon die Münchner Räterepublik, die Angst des Bürgertums vor dem Bolschewismus, zumal es, weil eine einheitliche, anerkannte Führung fehlte, örtlich immer wieder zu Ausschreitungen gegen tatsächliche oder vermeintliche Kapp-Lüttwitz-Anhänger kam.

Die Reichsregierung versuchte vergeblich, durch die Zusage politischer Reformen und einer Amnestie die Selbstauflösung der Roten Ruhrarmee zu erreichen. Schließlich erhielten Reichswehrtruppen und Freikorps (darunter auch ehemalige Kapp-Lüttwitz-Putschisten) freie Hand, die Rote Ruhrarmee mit allen Mitteln (auch mit standrechtlichen Erschießungen) zu bekämpfen. Diesmal ließ sich die Reichswehr bereitwillig einsetzen, ging es doch gegen "Bolschewisten", nicht gegen "Kameraden". Am Ende der Kämpfe hatten die Aufständischen weit mehr als 1000 Tote zu beklagen, Reichswehr und Freikorps etwa 250.

Reichstagswahlen 1920

Der Putschversuch von rechts und der Revolutionsversuch von links veranlassten die regierende Weimarer Koalition dazu, vorzeitig den ersten republikanischen Reichstag wählen und an die Stelle der Nationalversammlung treten zu lassen. Nach einer Wahlrechtsänderung entfiel jetzt auf 60.000 Stimmen ein Mandat. Die Wahlen vom 6. Juni 1920 endeten für MSPD, DDP und Zentrum mit einem Desaster: Zusammen rutschten sie unter die 50-Prozent-Marke. Dieses Bündnis zwischen sozialdemokratischer Arbeiterschaft, liberalem Bürgertum und politischem Katholizismus vermochte nie wieder eine Mehrheit zu erringen. Dagegen erzielten einerseits die USPD, andererseits DVP und DNVP beträchtliche Gewinne. Die starken Einbußen der Weimarer Koalition erklären sich aus der seit Sommer 1919 anhaltenden politischen Polarisierung, die – je nach Standort der Wähler – mit der Enttäuschung über die stecken gebliebene Revolution und ihre gescheiterte Fortsetzung oder mit der Empörung über den Versailler Vertrag und der Anziehungskraft der Dolchstoßlüge zusammenhing.

Tief enttäuscht wechselte die MSPD in die Opposition. Zentrum, DDP und DVP bildeten eine bürgerliche Minderheitsregierung unter Reichskanzler Konstantin Fehrenbach (Zentrum). Reformen stand die neue Regierung fern. Die Freikorps wurden jetzt aufgelöst, auf Druck der Alliierten auch die Einwohnerwehren (in Bayern im Sommer 1921). Viele ihrer Mitglieder wandten sich den deutschvölkischen Organisationen zu, darunter der NSDAP und der SA.

Zumindest in Preußen – hier regierte noch eine Weimarer Koalition – machte man jetzt ernst mit der Demokratisierung des öffentlichen Dienstes und entfernte in den folgenden Jahren viele republikfeindliche Beamte aus ihren Positionen. Preußen, das über 60 Prozent der Fläche und der Bevölkerung der Weimarer Republik umfasste, galt Republikanern bald als "Bollwerk der Demokratie ", Rechtsstehenden als "rote Festung". Demgegenüber entwickelte sich Bayern, der zweitgrößte Flächenstaat, in die entgegengesetzteRichtung. Die MSPD wurde schon während des Kapp-Lüttwitz- Putsches in die Opposition gedrängt; es etablierten sich rechtskonservative Regierungen, stets unter Beteiligung der BVP. Bayern erwarb sich – je nach politischer Perspektive – den Ruf einer " Ordnungszelle" bzw. eines "Hortes der Reaktion".

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 37

Politische Justiz

Um den politischen Frieden wiederherzustellen, verabschiedete der Reichstag am 2. August 1920 ein großzügiges Amnestiegesetz. Die Straftaten der am Kapp-Lüttwitz-Putsch oder am Aufstand im Ruhrgebiet Beteiligten sollten nur geahndet werden, wenn sie aus "Rohheit" oder "Eigennutz " begangen wurden. Lediglich die "Urheber" und "Führer" des Kapp-Lüttwitz-Putsches wollte man zur Rechenschaft ziehen.

Reichswehr- und Freikorpssoldaten unterstanden der Militärgerichtsbarkeit. Von 775 Verfahren wurden 486 eingestellt. 48 Offiziere wurden ihres Dienstes enthoben, sechs nahmen ihren Abschied, die übrigen erhielten geringfügige Disziplinarstrafen. Noch milder verfuhren die zivilen Gerichte. In 705 Verfahren kam es nur zu einer Verurteilung; die anderen Verfahren wurden aus vielerlei Gründen eingestellt. Selbst hochgestellten Persönlichkeiten billigte man zu, keine "Urheber" oder "Führer " gewesen zu sein, und amnestierte sie.

Demgegenüber verhängte die Justiz gegen die Mitglieder der "Roten Ruhrarmee" zahlreiche zum Teil hohe Haftstrafen. Dies war kein Zufall: Die vom Kaiserreich übernommene zivile und militärische Richterschaft neigte dazu, ihre Unabhängigkeit für politisch motivierte Urteile zu missbrauchen. Wie schon die Berechnungen des Statistikers Emil Julius Gumbel 1923 zeigten, kamen vor Gericht bei denselben Delikten rechte politische Straftäter im Durchschnitt mit viel geringeren Strafen davon als linke.

Terrorismus

In den ersten Jahren der Republik wurden auf zahlreiche prominente Kommunisten, Sozialdemokraten, liberale und katholische Demokraten politisch, zum Teil auch antisemitisch motivierte Mordanschläge verübt. Die Täter waren fast ausnahmslos ehemalige oder aktive junge Reichswehroffiziere bzw. Freikorpsleute und gehörten in der Regel zur deutschvölkischen Szene. Soweit sie gefasst werden konnten, kamen sie meist mit verhältnismäßig milden Strafen davon. Spätestens 1933 wurden sie vom NS-Regime amnestiert.

Zu den bekanntesten Todesopfern zählen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (KPD-Führer, Januar 1919); Kurt Eisner (bayerischer USPD-Ministerpräsident, Februar 1919); Matthias Erzberger (Zentrum, Unterzeichner des Waffenstillstandes, früherer Reichsfinanzminister, August 1921); und (DDP, Außenminister, Juni 1922). Rathenaus Ermordung löste reichsweit Protestdemonstrationen aus.

Diese Attentatsserie war die extremste Folge der politischen Polarisierung. In der deutschvölkischen Szene und am rechten Rand der DNVP sowie der dazugehörigen Presse war ein Hass- und Gewaltklima entstanden, in dem die physische Vernichtung politischer Gegner sozusagen als salonfähig galt.

Zumindest die Mordanschläge auf Erzberger und Rathenau waren erwiesenermaßen nicht das Werk einzelner Fanatiker, sondern einer terroristischen Vereinigung. Die Täter hatten in der Marinebrigade Ehrhardt gedient; jetzt gehörten sie der "Organisation Consul" (O. C.) an. Dort erhielten sie ihre Befehle von ihrem alten und neuen Kommandeur: Kapitän Ehrhardt, der getarnt in Bayern lebte, wo er ausgezeichnete Verbindungen besaß. Der Münchner Polizeipräsident Pöhner zum Beispiel, ein NSDAP-Sympathisant, versorgte ihn mit falschen Pässen. In der Münchner Zentrale der O. C., deren Netz sich über ganz Deutschland erstreckte, arbeiteten zeitweise bis zu dreißig hauptamtliche Mitarbeiter. Nach dem Scheitern des Kapp-Lüttwitz-Putsches verfolgte Ehrhardt den abenteuerlichen Plan, durch eine Attentatsserie die politische Linke zu einem großen Aufstand zu verleiten. Dessen Niederschlagung durch Reichswehr, Polizei und deutschvölkische Kampfverbände sollte dann zur Errichtung einer Rechtsdiktatur führen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 38

Als Reaktion auf die Mordanschläge verabschiedete der Reichstag am 21. Juli 1922 das " Republikschutzgesetz". Vereinigungen, die es unternahmen, Regierungsmitglieder zu töten oder die republikanische Staatsordnung zu beseitigen, wurden mit hohen Strafen bedroht. Zuständig war ein neuer (1926 wieder aufgelöster) "Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik", der jedoch nur wenig bewirkte. Im Oktober 1922 verurteilte er zwar 13 Personen wegen Beihilfe zur Ermordung Rathenaus zu Freiheitsstrafen, erklärte jedoch eine Verschwörung für unbewiesen. Im Januar 1923 verbot er den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund; aber dessen Mitglieder verteilten sich einfach auf andere völkische Organisationen, darunter die NSDAP. Als Ende 1924 doch noch ein Prozess gegen Mitglieder der O. C. stattfand, wurden diese "ehrenhaften, wahrheitsliebenden und unerschrockenen Männer " (so der Oberreichsanwalt als Anklagevertreter) freigesprochen.

Der Mordfall Luxemburg/Liebknecht

[...] Die Revolution stirbt im Januar 1919: mit der Niederschlagung des sogenannten Spartakus- Aufstands. [...] Am 12. Januar sind die Kämpfe erloschen, befinden sich alle strategisch wichtigen Punkte in der Hand regierungstreuer Truppen. Am 13. Januar marschieren Freikorps in die Stadt. Die Rache beginnt.

Liebknecht und Luxemburg sind auf der Flucht und wechseln ständig das Quartier. Mit Glück erreichen sie am 14. Januar in Berlin-Wilmersdorf ihr letztes Asyl: Mannheimer Straße 43, die Wohnung des Kaufmanns Siegfried Marcusson, eines USPD-Mitglieds. Hier schreiben sie ihre letzten Artikel für die Rote Fahne. Karl Liebknecht verfasst sein loderndes "Trotz alledem!", das die Niederlage als nötige Lehre eingesteht. Die Zeit sei nicht reif gewesen zur Revolution. [...] Rosa Luxemburgs letzter Text, geschichtsreligiös aufgeladen, schließt: "Ihr stumpfen Schergen! Eure Ordnung ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon rasselnd wieder in die Höh´ richten und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!"

In den Abendstunden des 15. Januar 1919 dringt ein Trupp der neu gegründeten Wilmersdorfer Bürgerwehr in die Wohnung ein. Liebknecht und Luxemburg werden verhaftet. [...] [M]an [...] schafft die Inhaftierten ins Nobelhotel Eden, das Stabsquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division. Diese ursprünglich kaiserliche Elitetruppe untersteht dem Hauptmann Waldemar Pabst. Er befiehlt die Morde.

[...] Liebknecht wird im Eden bespuckt, bepöbelt, mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Um 22.45 Uhr fährt ihn eine Marine-Eskadron unter Führung des Kapitänleutnants Horst von Pflugk-Hartung mit einem offenen NSU in den Tiergarten. Am Neuen See täuscht man eine Panne vor und lässt Liebknecht aussteigen. Pflugk-Hartung schießt ihm in den Hinterkopf, dann feuern die anderen. Die Mörder fahren zurück und liefern den Leichnam um 23.15 Uhr in der Rettungswache am Zoo als "unbekannten Toten " ab.

Rosa Luxemburg sitzt derweil bei Pabst in dessen "Arbeitszimmer" und näht ihren beim Abtransport beschädigten Rocksaum. Sie liest in Goethes Faust, als der von Pabst zum Transportführer bestimmte a. D. Kurt Vogel sie abholt und durch die Hotelhalle zum Ausgang führt. Der Jäger Otto Wilhelm Runge, der schon Liebknecht geschlagen hat, rammt auch ihr seinen Gewehrkolben ins Gesicht. Stark blutend, wird sie ins Auto geworfen. Nach kurzer Fahrt springt der Leutnant zur See Hermann Souchon aufs linke Trittbrett des offenen Phaeton und tötet Rosa Luxemburg durch einen Schuss in den Kopf.

Pabst hat geplant, den Mord als spontanen Übergriff empörter Volksmassen auszugeben. Vogel handelt weisungswidrig. Der Wagen fährt zum Landwehrkanal. An der Lichtensteinbrücke wirft Vogel die Leiche ins Wasser. Die "amtliche Darstellung" der Garde-Kavallerie- Schützen-Division behauptet, eine zweite erregte Menschenmenge habe Frau Luxemburg der Begleitmannschaft entrissen.

Ein riesiger Trauerzug geleitet am 25. Januar die Särge Liebknechts und Dutzender weiterer Opfer

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 39 vom Bülow-, dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, zum Friedhof nach Friedrichsfelde. Zwischenfälle bleiben aus. Die Absperrung untersteht dem Befehl des Hauptmanns Pabst. Einer der mitgeführten Särge ist leer. Erst viereinhalb Monate nach der Tat, am 31. Mai 1919, wird Rosa Luxemburgs stark verweste Leiche von dem Schleusenarbeiter Knepel in der Landwehrkanal- Schleuse zwischen Freiarchen- und S-Bahn- Brücke gefunden. [...]

Christoph Dieckmann, "Und ob wir dann noch leben werden...", in: Die Zeit Nr. 3 vom 10. Januar 2008

Reparationsprobleme

Nach langer Vorbereitung – ohne deutsche Beteiligung – entschieden die Alliierten am 29. Januar 1921 in Paris über die von Deutschland zu erbringenden Reparationen. Die deutsche Öffentlichkeit zeigte sich über das Ergebnis schockiert; die Regierung Fehrenbach erklärte die Forderungen für weder annehmbar noch erfüllbar. Denn ab 1. Mai 1921 sollten 226 Milliarden Goldmark (GM) gezahlt werden, verteilt auf 42 Jahre, in Jahresraten von anfangs zwei, später sechs Milliarden GM. Darüber hinaus waren im selben Zeitraum jährlich zwölf Prozent des Wertes der deutschen Ausfuhr (etwa 1-2 Milliarden GM) abzuführen. Frankreich sollte 52 Prozent, England 22 Prozent, Italien zehn Prozent und Belgien acht Prozent der Reparationen erhalten; die restlichen acht Prozent verteilten sich auf sonstige Kriegsgegner.

Die treibende Kraft hinter diesen harten Forderungen war der französische Vorsitzende der alliierten Reparationskommission, Raymond Poincaré. Mit Hilfe der deutschen Zahlungen wollte vor allem Frankreich seine Nachkriegskrise überwinden, Kriegsschulden bei amerikanischen Gläubigern (Banken) begleichen und Deutschland dauerhaft schwächen, um es kriegsunfähig zu machen. Damit verband sich auch die Idee einer territorialen Revision des Versailler Vertrages: Erfüllte Deutschland die hohen Forderungen nicht, konnten vertraglich festgelegte Sanktionen verhängt werden, nämlich die Besetzung von Teilen des Industriegebietes an Rhein und durch alliierte bzw. französische Truppen. Darin sah Poincaré die Chance, Frankreichs Ostgrenze bis an den Rhein vorzuschieben und das Ruhrgebiet mit seiner Schwer- und Rüstungsindustrie zu kontrollieren.

Londoner Ultimatum

Auf der folgenden Londoner Reparationskonferenz unterbreitete Deutschland am 1. März 1921 ein eigenes Angebot in Höhe von 50 Milliarden GM. Die Alliierten wiesen es jedoch zurück und beharrten auf der Annahme ihres Pariser Zahlungsplans. Am 8. März erhöhten sie den Druck auf die Reichsregierung durch die Besetzung der "Sanktionsstädte" Düsseldorf, und Ruhrort.

In Deutschland kam es zu einer wochenlangen Regierungskrise, die die KPD zu einem Umsturzversuch verführte. Ende März 1921 organisierte sie Arbeiteraufstände in Mitteldeutschland und in , die jedoch von der Polizei niedergeschlagen wurden. Auch polnische Freiwilligenverbände hielten die Gelegenheit für günstig und rückten – mit Duldung der französischen Besatzungsmacht – am 2. Mai 1921 in Oberschlesien ein, das sich in einer Volksabstimmung am 20. März mit großer Mehrheit (60 Prozent) für den Verbleib bei Deutschland entschieden hatte. Sie wurden von deutschen Freiwilligen vertrieben. Dennoch musste Ostoberschlesien aufgrund eines Beschlusses des Völkerbundrates an Polen abgetreten werden, was in Deutschland neuerliche Verbitterung auslöste und dem Ansehen der Republik schadete.

Da die DVP die Übernahme der Reparationsverpflichtungen nicht mitverantworten wollte, trat die Regierung Fehrenbach am 4. Mai 1921 zurück. Am Tag darauf verlangten die Siegermächte die Annahme ihrer Forderungen, die sie aber inzwischen fast auf die Hälfte verringert hatten: 132 Milliarden GM, Jahreszahlungen für Zinsen und Tilgung in Höhe von etwa zwei Milliarden GM, ferner Abgabe von 26 Prozent des jährlichen Exportwertes – anderenfalls werde ab 12. Mai das Ruhrgebiet besetzt. Die am 10. Mai neu gebildete Weimarer (Minderheits-)Regierung unter Reichskanzler (Zentrum) sah sich gezwungen, dieses "Londoner Ultimatum" anzunehmen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 40

Die alliierten Reparationsbeschlüsse waren Wasser auf die Mühlen der konservativen und rechtsradikalen Gegner der Weimarer Republik; sie gaben der Dolchstoßlegende und der Kriegsunschuldspropaganda neue Nahrung. Aus der Sicht der Reichsregierung überforderten auch die Londoner Beschlüsse bei weitem die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die Zahlungsfähigkeit des deutschen Staates. Daher rang die Regierung 1921/22 mit den Alliierten ständig um Zahlungsaufschübe und um die Umwandlung von Geldzahlungen in Sachlieferungen, damit Staatsverschuldung und Inflation nicht außer Kontrolle gerieten. Die französische Regierung argwöhnte hinter diesen Bemühungen, dass Deutschland seine Zahlungsverpflichtungen zu umgehen versuchte.

Deutsch-russisches Abkommen

Vom 10. April bis zum 19. Mai 1922 fand in Genua eine Weltwirtschaftskonferenz unter Beteiligung Deutschlands statt. Die USA und die Türkei blieben ihr fern, unter anderem, weil das bolschewistische Russland eingeladen war. Während die Konferenz ergebnislos endete, sorgten Deutschland und Russland für eine Überraschung. Am 16. April schlossen ihre Delegationen in Rapallo einen Vertrag über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, den gegenseitigen Verzicht auf die Erstattung von Kriegsschäden und Kriegskosten, den deutschen Verzicht auf Entschädigungen für sozialisiertes Eigentum in Russland und die Errichtung von Handelsbeziehungen nach dem Grundsatz der " Meistbegünstigung" (das heißt, die Vertragspartner wollten sich gegenseitig die vorteilhaftesten Handelsbedingungen einräumen, die sie bereits anderen Staaten gewährten).

Deutschland und die Sowjetunion überwanden in Rapallo ihre außenpolitische Isolation und erweiterten – ungeachtet ihrer ideologischen Gegensätze – ihre wirtschaftlichen Beziehungen. Sogar auf militärischem Gebiet kam es zu einer begrenzten (geheim gehaltenen) Zusammenarbeit: Beim Aufbau ihrer Rüstungsindustrie und bei der Entwicklung moderner schwerer Waffen (Panzer, Flugzeuge, Artillerie) konnte die Sowjetunion die Hilfe deutscher Experten in Anspruch nehmen. Im Gegenzug fuhren Reichswehroffiziere nach Russland zur Ausbildung an diesen Waffen, die Deutschland aufgrund des Versailler Vertrages weder besitzen noch herstellen durfte.

Die Reichsregierung versprach sich von der Verständigung mit Moskau auch eine Stärkung ihrer Verhandlungsposition gegenüber den Westmächten. Doch "Rapallo" verhärtete eher die Fronten, denn es stellte sich die Frage, ob das Abkommen eine allgemeine deutsche Option für den Osten und gegen den Westen bedeutete – und womöglich eine Gefährdung Polens. Tatsächlich löste Rapallo in der deutschen Rechten zum Teil abenteuerliche Spekulationen aus. General von Seeckt zielte in einer geheimen Denkschrift vom 11. September 1922 bereits auf die Wiederherstellung Deutschlands und Russlands "in den Grenzen von 1914", was eine neuerliche Aufteilung Polens bedeutet hätte. Mit Polen werde zugleich auch die "stärkste Säule des Versailler Vertrages" fallen: die "Vormachtstellung Frankreichs".

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 41 Ruhrbesetzung

"Nun geht das Krisenjahr zu Ende. Die inneren und äußeren Gefahren waren so groß, dass sie Deutschlands ganze Zukunft bedrohten", schrieb der britische Botschafter in Berlin, Viscount d'Abernon, am 31. Dezember 1923 in sein Tagebuch. Tatsächlich wurde die Republik in jenem Jahr heftiger denn je von einer ganzen Serie schwerer wirtschaftlicher und politischer Krisen geschüttelt.

Wegen der akuten wirtschaftlichen und finanziellen Probleme des Reiches (Verbrauch der Gold- und Devisenvorräte für die Reparationen, Staatsverschuldung, Währungsverfall) verzichteten die Alliierten im August 1922 vorläufig auf Geldleistungen. Zum Ausgleich verlangten sie eine Erhöhung der Sachlieferungen, unter anderem von Holz (Telegrafenstangen) und Kohle.

Als das Reich die Holz- und Kohlelieferungen bis Ende 1922 nicht erfüllen konnte, stellte die alliierte Reparationskommission mehrheitlich einen Verstoß gegen den Versailler Vertrag fest. Am 10. Januar wurde der Reichsregierung eine französisch-belgisch-italienische Ingenieurkommission angekündigt, die unter dem Schutz der dazu "erforderlichen Truppen" die Kohleproduktion kontrollieren werde. Tags darauf begann der Einmarsch von fünf französischen Divisionen und einer belgischen Division in Essen und Gelsenkirchen. Die Besetzung wurde über Bochum und Dortmund nach Osten ausgedehnt; die Invasionstruppen erreichten im Laufe des Jahres eine Stärke von 100.000 Mann.

Ganz Deutschland wurde von einer nationalen Protestwelle erfasst. Sämtliche Reparationslieferungen wurden eingestellt und die Beamten angewiesen, jede Zusammenarbeit mit den Besatzern zu vermeiden. Reichspräsident Ebert rief am 13. Fe-bruar die Bevölkerung zum "passiven Widerstand " auf.

Die Invasionstruppen überwachten den Abtransport von Holz und Kohle, fanden aber bald kein mitarbeitsbereites Personal mehr. Daraufhin legten sie Zechen und Fabriken still, beschlagnahmten öffentliche Kassen und Firmenkassen und wiesen 180.000 Personen aus der Region aus. Von den Besatzern verursachte Gewaltakte und Unfälle forderten bis August 1924 137 Tote und 603 Verletzte.

Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden der Ruhrbesetzung belief sich auf 3,5 bis vier Milliarden GM.

Entgegen den Appellen der Reichsregierung entwickelte sich auch ein aktiver Widerstand rechtsradikaler Sabotagetrupps. Diese sprengten einige Kanalbrücken und Gleise, um den Abtransport von Reparationsgütern zu verhindern; sie überfielen französische und belgische Posten und töteten mindestens acht Kollaborateure. Zur Märtyrerfigur des gesamten Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung wurde der 29-jährige Albert Leo Schlageter, ehemaliger Freikorpssoldat, Mitglied der NSDAP und anderer deutschvölkischer Verbände. Nach mehreren Sabotageakten verurteilte ihn ein französisches Militärgericht zum Tode; trotz landesweiter und internationaler Proteste wurde er am 26. Mai 1923 hingerichtet.

Hyperinflation

Die durch Zinszahlung und Schuldentilgung bereits angespannte Haushaltslage des Reiches wurde durch die Produktions- und Steuerausfälle im Ruhrgebiet und durch die Unterstützung der Ausgesperrten und Ausgewiesenen dramatisch verschärft. Diese Kostenlawine versuchte die Regierung mit immer höheren Krediten der Reichsbank und durch immer häufigere Betätigung der Notenpresse zu bewältigen.

Aus der bereits galoppierenden Inflation wurde im Juni 1923 eine Hyperinflation. Das Giralgeld und das umlaufende Bargeld wuchsen je auf rund 500 Trillionen Mark an. Gemeinden und Großbetriebe gaben zusätzlich "Notgeld" in Höhe von 200 Trillionen Mark aus. Reichsbanknoten mit astronomischen Nennwerten zeugten vom Kaufkraftverfall der deutschen Währung; der Dollar-Kurs stieg steil an. Die Flucht in den Dollar, in Sachwerte und Immobilien beschleunigte sich. Den Preissteigerungen in immer kürzeren Abständen hinkten die Löhne hinterher. Schließlich traten Naturalien (beispielsweise

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 42

Lebensmittel, Zigaretten, Kohle) als Zahlungsmittel an die Stelle des Bargeldes. Als der Einzelhandel seine Waren zu horten begann, kam es zu Hungerdemonstrationen und Plünderungen. Im Berliner Scheunenviertel, wo viele eingewanderte "Ostjuden" lebten, führte das Gerücht, die Brotversorgung werde von Juden manipuliert, am 5./6. November zu antisemitischen Ausschreitungen.

Gewinner der Inflation waren die Schuldner – vor allem viele Bauern, die sich von ihren Schulden aus der Vorkriegszeit befreiten, und der Staat, der seine Kriegsanleihen bei den Bürgern ablöste. Ferner profitierten Mieter und Pächter, besonders aber Exportunternehmer, die bei sinkenden Kosten für ihre Produkte im Ausland harte Dollars erhielten. Dem devisenstarken Großunternehmer und DVP- Reichstagsabgeordneten Hugo Stinnes war es schon 1920 bis 1922 gelungen, mit kreditfinanzierten Eigentumsanteilen an mehr als 1600 Betrieben die "Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union" zu gründen (nach seinem Tod 1924 löste sie sich wieder auf). Sein Geschäftspartner Friedrich Flick, ebenfalls DVP-Mitglied, erwarb durch geschickte Börsenspekulationen Industrieanteile im Werte von 100 Millionen GM.

Verlierer waren die Gläubiger, die für "gutes" verliehenes Geld jetzt wertloses zurückerhielten, ebenso die Bezieher fester Geldeinkommen (Arbeitnehmer, Rentner, Vermieter, Verpächter), mit denen man immer weniger kaufen konnte, und die Besitzer von Sparguthaben. Viele Menschen waren sowohl Gewinner als auch Verlierer – was überwog, zeigte erst ihre persönliche Bilanz.

Der Mittelstand erlebt die Inflation

Aus den Erinnerungen des Schriftstellers Rudolf Pörtner (geb. 1912)

Ich will nicht verschweigen, dass wir zunächst Nutznießer der fürchterlichen Geldvernichtung waren. Das Ehepaar Pörtner hatte sich 1922 kurzfristig entschlossen, ein im Entstehen begriffenes Haus in der Melberger Kronprinzenstraße, auf der Westseite von Bad Oeynhausen, zu kaufen. Kostenpunkt: 800000 Mark. Als wir am 1. April 1923 einzogen, war das ein Betrag, der selbst sensible Gemüter nicht mehr zu beunruhigen vermochte. Ein Griff in die Westentasche genügte, alle Verbindlichkeiten einschließlich der hypothekarischen Eintragungen aus der Welt zu schaffen.

Leider war das Haus erst halb fertig, als wir es übernahmen: halb fertig, miserabel gebaut, aus Altmaterialien zusammengeschustert. Inzwischen arbeiteten die Handwerker nur noch gegen Naturalien. Damit konnten wir natürlich nicht dienen, und dasGeld, das Vater ausbezahlt bekam, zuletzt zweimal täglich, reichte gerade für das nackte Leben. Noch im hohen Alter hat er häufig von dem defekten Ofenrohr in der Küche (also unserem ) erzählt, aus dessen Löchern und Ritzen ein bronchien- und schleimhautfeindlicher Rauch quoll, ohne dass wir die Möglichkeit gehabt hätten, dem Übelstand abzuhelfen. Es gab ja keine Ofenknie und wenn, dann nicht für die lächerlichen Milliardenscheine, die acht Tage nach Erscheinen nicht einmal mehr das Papier wert waren, aus dem sie bestanden.

Was die Ablösung der homöopathisch ausgedünnten Währung durch die Rentenmark im bedeutete, lässt sich heute nicht mehr ermessen. Es war, als wenn ein Ertrinkender, in einer Springflut von Papiergeld fast schon versunken, plötzlich Boden unter den Füßen verspürt hätte. Als mein Vater mit dem ersten wertbeständigen Zahlungsmittel heimkehrte, traten wir wie zur Besichtigung einer säkularen Kostbarkeit an, und es verschlug uns fast den Atem, als wir die erste Rentenmark zunächst beäugen, dann sogar wie eine wundertätige Reliquie in die Hand nehmen durften.

Die Stöße übrig gebliebenen Inflationsgeldes haben wir dann genutzt, die getünchten Wände unserer wenig einladenden Toilettenanlage zu tapezieren, unseren Lokus, mit Verlaub zu sagen, in ein Billionenkabinett zu verwandeln. Die Hauptattraktion war eine aus Millionenscheinen montierte Zahl mit sechsunddreißig Nullen, die in Worten auszudrücken uns nie gelungen ist. Wir hätten schon einen Astronomen zurate ziehen müssen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 43

Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 360 f.

Aus den Erinnerungen des Buchautors Curt Riess (geb. 1902)

[...] Diejenigen aber, die alles verloren, waren in der großen Mehrheit. Was uns persönlich anging – mein Vater begriff erst, woran er war, als er feststellen musste, dass die Rechnung für 3,20 Meter Tuch, aus dem ein Anzug gemacht werden konnte, höher war als die Rechnung, die er einem Kunden für den Anzug ausstellen konnte. Von diesem Tag an fertigte er nur noch Anzüge gegen Dollar an. So blieb ihm sein Geschäft erhalten. Aber nicht jeder deutsche Kaufmann reagierte so schnell. Viele gingen zugrunde.

Und wie stand es um die so genannten kleinen Leute, die Gehaltsempfänger? Sie mussten am Ende des Monats feststellen, dass sie sich für den Lohn, den sie erhielten, so gut wie nichts mehr kaufen konnten. Um diesem Desaster abzuhelfen, wurde es zur Regel, dass Angestellte und Arbeiter nicht mehr monatlich bezahlt wurden, sondern wöchentlich, dann jeden dritten Tag, schließlich täglich. Dann sausten sie mit Erlaubnis der Geschäftsleitung oder auch der Betriebsleitung in die nahen Geschäfte und kauften ein. Und die Geschäftsinhaber brachten das eingenommene Geld so schnell wie möglich auf die Bank und kauften dafür, wenn irgend möglich, fremde Währungen, vor allem Dollar, Pfund oder Schweizer Franken.

Ich erinnere mich noch, wie grotesk die Zustände wurden, weil ich sie am eigenen Leib zu spüren bekam. Ich war krank geworden, und ich sollte zur Erholung in den "Weißen Hirsch", den damals noch feudalen Kurort oberhalb von . Mein Vater hatte mir für vierzehn Tage vierzehn Dollar mitgegeben, in Scheinen, die man in Mark umwechseln konnte. Er hatte mir eingeschärft, jeden Tag zu warten, bis der jeweils neue Dollarkurs verkündet wurde. Das war so um 15 Uhr.

Um 15 Uhr wechselte ich also einen Dollar und bekam dafür die entsprechende Marksumme und konnte die tägliche Pensionsrechnung bezahlen, auch die Straßenbahn nach Dresden, eine Karte für die Oper oder das Schauspielhaus und die Fahrt zurück. Und das alles für einen Dollar, wenn ich überhaupt den ganzen Dollar, will sagen die Unsummen an Mark, innerhalb von 24 Stunden ausgeben konnte.

[...] Natürlich erhöhte auch die Pension ihre Tagesrechnungen, die elektrische Straßenbahn ihre Gebühren, natürlich musste man auch für einen Platz im Opernhaus im Laufe von zwei Wochen mehr und mehr zahlen. Aber so schnell konnten die Behörden mit ihren Preisen gar nicht nachziehen, wie die Mark stürzte.

Freilich, ich war in einer bevorzugten Position. Wer konnte schon von Dollarscheinen leben?

Curt Riess, "Weltbühne Berlin" in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 34 f.

Währungsreform

Die seit November 1922 amtierende DVP-Zentrum-DDP-Regierung unter dem parteilosen Reichskanzler Wilhelm Cuno musste erkennen, dass der Kampf gegen die Ruhrbesetzung in den wirtschaftlichen Ruin führte; am 12. August 1923 trat sie zurück. (DVP) bildete ein Kabinett der "Großen Koalition" (SPD – DDP – Z – DVP), verkündete am 26. September das Ende des passiven Widerstandes und leitete eine Währungsreform ein. Die am 15. November übergangsweise eingeführte "Rentenmark" (1 Rentenmark = 1 Billion Papiermark [das heißt Inflationsgeld] bei 4,2 Rentenmark für den Dollar) wurde rasch als Zahlungs- und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 44

Wertaufbewahrungsmittel akzeptiert. Auch schuf sie die Voraussetzung für konstruktive Reparationsverhandlungen, die zum Dawes-Plan führten. Am 30. August 1924 erfolgte die Ablösung der Rentenmark durch die goldgedeckte, voll konvertierbare "".

Rechtsdiktatur in Bayern

Für einen politischen Schlag gegen die Weimarer Republik sorgte die rechtskonservative bayerische Staatsregierung unter Ministerpräsident Eugen Ritter von Knilling. Um in Bayern eine Diktatur zu errichten, berief sie sich am 26. – ohne nachvollziehbare Voraussetzungen – auf Artikel 48 Abs. 4 WV, der auch einer Landesregierung Notstandsmaßnahmen erlaubte. Sie verhängte den Ausnahmezustand über Bayern, ernannte den Regierungspräsidenten von Oberbayern und früheren Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr zum "besonderen Generalstaatskommissar" und übertrug ihm die vollziehende Gewalt. Auf diesen offenkundigen Hochverrat reagierte Reichspräsident Ebert mit der Verhängung des Ausnahmezustandes über ganz Deutschland. Er übertrug die vollziehende Gewalt auf Reichswehrminister Geßler; de facto lag sie beim Chef der Heeresleitung, General von Seeckt.

Der mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete Kahr bildete mit dem bayerischen Wehrkreiskommandeur, General Otto von Lossow, und dem Chef der bayerischen Landespolizei, Oberst Hans von Seißer, eine Art "Triumvirat" (Drei-Männer-Bündnis). In den folgenden Wochen wurde in Bayern unter anderem das Republikschutzgesetz außer Kraft gesetzt, linke Organisationen und Zeitungen verboten und mehrere hundert jüdische Familien, die vor Jahrzehnten aus Osteuropa eingewandert waren ("Ostjuden"), aus Bayern ausgewiesen. Das Triumvirat zielte auf eine reichsweite Diktatur mit Hilfe eines "Marsches auf Berlin" (nach dem Vorbild des "Marsches auf Rom" der italienischen Faschisten unter Benito Mussolini am 28. Oktober 1922); es hoffte dabei auf die Unterstützung des Chefs der Heeresleitung. Seeckt hegte zwar Sympathien für die neuen Münchner Machthaber und verhinderte eine Reichsexekution gegen das Land Bayern, getreu seiner Devise, Reichswehr schieße nicht auf Reichswehr. Mehr aber unternahm er nicht, sondern hielt sich geschickt im Hintergrund.

Kommunistische Umsturzversuche

Ende August 1923 beurteilte das Politbüro der KPdSU die krisenhafte Entwicklung in Deutschland als revolutionäre Situation und beschloss, eine "Oktoberrevolution" der KPD (nach dem Vorbild Russlands von 1917) mit allen Mitteln zu unterstützen. Es gab sogar Vorbereitungen für eine groß angelegte militärische Intervention. Denn im Falle einer deutschen Revolution mit sowjetischer Hilfe erwartete man einen Krieg zuerst mit dem Durchmarschland Polen, danach mit Frankreich, England und den baltischen Ländern. Nach einem Sieg der KPD würde das hoch industrialisierte "Sowjetdeutschland ", so kalkulierte man in Moskau, den wirtschaftlichen Aufbau der noch überwiegend agrarischen Sowjetunion unterstützen.

Im September begann die KPD mit der konkreten Vorbereitung revolutionärer Aktionen, die sie am 9. November, dem symbolträchtigen Jahrestag der Revolution von 1918/19, auslösen wollte. Moskau half mit Geld und Militärexperten bei der Aufstellung "Proletarischer Hundertschaften" (ca. 50.000-60.000 Mann, darunter auch Sozialdemokraten). Außerdem nutzte die KPD die Chance, durch den Eintritt in SPD-geführte Landesregierungen am 10. Oktober in Dresden, am 16. in Weimar in staatliche Machtpositionen zu gelangen. Von Sachsen und Thüringen sollte der "deutsche Oktober " seinen Ausgang nehmen. Die zum linken Flügel der SPD zählenden sächsischen und thüringischen Sozialdemokraten versprachen sich von einer Koalition mit den Kommunisten einerseits die Überwindung der Feindschaft zwischen den beiden Arbeiterparteien; andererseits wollten sie mit Hilfe der "Proletarischen Hundertschaften" den aus Bayern befürchteten "Marsch auf Berlin" stoppen. Die revolutionären Absichten der KPD nahmen sie nicht wahr.

Anders als in Bayern handelte es sich in Sachsen und Thüringen um legitime parlamentarische

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 45

Mehrheitsregierungen. Jedoch verstießen die "Proletarischen Hundertschaften" gegen den Versailler Vertrag. Außerdem hielten Ebert und Stresemann Kommunisten in Staatsämtern für untragbar. Der Reichspräsident ordnete daher am 29. Oktober 1923 gegen Sachsen, am 6. November gegen Thüringen die Reichsexekution an. Reichswehrtruppen marschierten nach Dresden und Weimar; es gab mehrere Dutzend Tote und Verletzte. Die "Proletarischen Hundertschaften" wurden aufgelöst, die kommunistischen Minister entlassen (Sachsen), oder sie traten zurück (Thüringen).

Der "deutsche Oktober" war allerdings schon kurz vor den Reichsexekutionen wieder abgeblasen worden. Anders als bei früheren Aufständen scheute die KPD diesmal das Risiko, mit einer isoliert bleibenden Aktion zu scheitern. Daher versammelte sie am 21. Oktober in 450 Arbeiterdelegierte – Kommunisten, Gewerkschafter und einige Sozialdemokraten, hauptsächlich aus Sachsen und Thüringen. Die Konferenzteilnehmer lehnten revolutionäre Aktionen mehrheitlich ab. Trotzdem kam es noch zu einem Aufstand in Hamburg am 23. Oktober: Bewaffnete kommunistische Trupps – rund 300 Mann – überfielen wie geplant 17 Polizeistationen und besetzten öffentliche Gebäude. Die Hintergründe sind ungeklärt; entweder wollte die aktionistische Hamburger KPD-Leitung die vorsichtigere Parteiführung in Berlin doch noch zum Losschlagen zwingen, oder sie wurde von ihren Delegierten, die in Chemnitz erst nach der Konferenz eintrafen, irrtümlich falsch informiert. Die Polizei schlug den Aufstand binnen weniger Tage nieder; 24 Kommunisten und 17 Polizisten kamen bei den Kämpfen ums Leben.

Hitlerputsch

Im Laufe des Jahres 1923 konnte die NSDAP von der krisenhaften Entwicklung stark profitieren. Ihre Mitgliederzahl stieg sprunghaft auf 55000; sie hatte sich in Bayern zur aktivsten rechtsradikalen Kraft entwickelt. Die SA gehörte zum "Deutschen ", einem Zusammenschluss der drei radikalsten (von Reichswehroffizieren ausgebildeten) Wehrverbände, der von Hitler und Ludendorff – inzwischen die Galionsfigur des deutschvölkischen Lagers – geleitet wurde. Hitler verkehrte in den besten Münchner Kreisen und galt in Bayern vielen bereits als "deutscher Mussolini", dem ein "Marsch auf Berlin" gelingen konnte.

Hitler beschloss, die Initiative an sich zu reißen und am 9. November – für die Rechtsradikalen ein Symbol der "nationalen Schmach" – den gegenrevolutionären Umsturz zu wagen. Vorher wollte er Kahr, Lossow und Seißer, die am Abend des 8. November im Münchner Bürgerbräukeller eine politische Versammlung abhielten, überrumpeln und mitreißen. Die SA umstellte das Lokal. Hitler ließ den Saal mit einem Maschinengewehr in Schach halten und verschaffte sich mit einem Pistolenschuss in die Decke Gehör. Er proklamierte die "nationale Revolution", erklärte die bayerische und die Reichsregierung für abgesetzt und kündigte die Bildung einer "nationalen Regierung" an. Anschließend beschworen in einem Nebenraum der NSDAP-Führer und der erst jetzt herbeigeholte Ludendorff das Triumvirat, den "Marsch auf Berlin" mitzuorganisieren und in eine Regierung Hitler einzutreten – scheinbar erfolgreich. Das Publikum bejubelte die Einigung; die SA nahm sicherheitshalber im Saal noch einige prominente Geiseln; dann löste sich die Versammlung auf.

Noch in der Nacht trafen Kahr, Lossow und Seißer Maßnahmen zur Unterdrückung des Putsches. Am Morgen des 9. November musste Hitler erkennen, dass sein Umsturzversuch isoliert bleiben würde. Daran konnte auch ein eilig improvisierter Demonstrationsmarsch des "Deutschen Kampfbundes" um die Mittagszeit nichts mehr ändern. An der Feldherrnhalle stieß der von Hitler und Ludendorff angeführte Zug von mehreren tausend Personen auf eine Absperrung der bayerischen Landespolizei. Es kam zu einem Handgemenge und zu einem kurzen Feuergefecht, bei dem 14 Demonstranten und drei Polizisten starben. Die Menge stob auseinander; Hitler floh zu einem Freund und wurde dort einige Tage später verhaftet. Der dilettantische Frühstart der NSDAP machte alle Pläne für einen "Marsch auf Berlin" zunichte.

Der anschließende Hochverratsprozess gegen Hitler, Ludendorff und andere geriet zu einer Farce. Die Angeklagten – in den Augen der Richter Männer von "rein vaterländischem Geist" und "edelstem

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 46 selbstlosen Willen" – durften Propagandareden gegen die Republik und ihre Politiker halten; der Ankläger agierte eher wie ein Verteidiger. Am 1. April 1924 erhielten Hitler und drei weitere Angeklagte lediglich fünf Jahre (ehrenvolle) Festungshaft mit der Aussicht auf Begnadigung nach sechs Monaten; die übrigen kamen mit noch geringeren Strafen davon. Ludendorff wurde sogar freigesprochen. Das Gericht lehnte es ausdrücklich ab, auf "einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler", die Bestimmungen des Republikschutzgesetzes anzuwenden und ihn als wegen Hochverrats verurteilten Ausländer nach Österreich abzuschieben.

Separatistenbewegungen

Seit Ende September 1923 verstärkten separatistische Bewegungen im preußischen Rheinland, in der bayerischen Pfalz und in Rheinhessen mit Unterstützung der französischen und belgischen Besatzungsmacht ihre Bestrebungen, diese Gebiete in selbstständige, eng mit Frankreich und Belgien zusammenarbeitende Territorien zu verwandeln. Poincaré – seit 1922 französischer Ministerpräsident – sah die Chance zur Schaffung eines unabhängigen rheinischen Staates und damit zur Abtrennung des Ruhrgebietes vom Deutschen Reich. Die Separatisten versprachen sich wirtschaftliche und politische Vorteile für die ausgegliederten Regionen. Am 21. Oktober riefen sie eine "Rheinische Republik" aus, am 12. November eine "Autonome Pfalz". In , Koblenz, , , und Mainz stürmten sie die Rathäuser. Die Reichsregierung war machtlos, da sie keine Truppen in die entmilitarisierte Zone schicken durfte. Die separatistischen Bewegungen, denen sich auch kriminelle Elemente anschlossen, scheiterten jedoch innerhalb weniger Monate einerseits am energischen Widerstand der Bevölkerung. Andererseits lehnten Großbritannien und die USA eine Loslösung des Ruhrgebietes von Deutschland wegen der unabsehbaren internationalen wirtschaftlichen und politischen Risiken ab. Im Februar 1924 ließ Poincaré die separatistischen Bewegungen fallen und besiegelte damit ihr Ende.

Sturz der Regierung

In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion herrschte Empörung darüber, dass die (aufs Ganze gesehen erfolgreiche) Regierung Stresemann gegen die Rechtsdiktatur des Triumvirates in Bayern praktisch nichts unternahm, gegen die SPD-KPD-Regierungen in Sachsen und Thüringen dagegen die Reichswehr einsetzte. Am 2. November 1923 schieden die SPD-Minister aus der Reichsregierung aus. Als der Kanzler am 23. November bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage eine Niederlage erlitt, trat er zurück. Neuer Regierungschef einer bürgerlichen Minderheitsregierung (DDP, Zentrum/ BVP, DVP), der Stresemann als Außenminister angehörte, wurde der Zentrumsführer .

Das Jahr 1923 markierte den Höhepunkt der krisenhaften Nachkriegsentwicklung in Deutschland. Die Hauptkrisen dieses Jahres waren die Ruhrbesetzung und die durch den passiven Widerstand verstärkte Währungszerrüttung. Sie wurden durch vernünftiges politisches Handeln gelöst: Frankreich blieb mit seiner überharten Deutschlandpolitik im Kreise der Siegermächte isoliert und musste schließlich einlenken. Die nach dem unvermeidlichen Abbruch des passiven Widerstandes durchgeführte Währungsreform, die Sozialdemokraten wie Deutschnationale mittrugen, wurde rasch zum Erfolg.

Bei den übrigen Gefahren handelte es sich um gezielt ausgelöste Nebenkrisen, die mehr oder weniger aus denselben Gründen scheiterten: Der "deutsche Oktober" musste bereits in Sachsen und Thüringen vorzeitig abgebrochen werden, der "Marsch auf Berlin" gelangte nicht einmal über München hinaus, und der rheinische Separatismus brach kläglich zusammen, nicht nur weil die Akteure dilettantisch vorgingen, sondern vor allem, weil eine "Diktatur des Proletariats" nach sowjetischem Muster, ein " Führerstaat" nach italienischem Vorbild oder eine Zerstörung der Reichseinheit jeweils nur einer kleinen Minderheit der Bevölkerung als erstrebenswert galt. Deshalb erreichten die Nachkriegskrisen 1923 mit ihrem Gipfel zugleich auch ihr Ende.

Aus:

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 47

Informationen zur politischen Bildung (Heft 261) - Kampf um die Republik 1919-1923 (2011)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 48

Zwischen Festigung und Gefährdung 1924-1929

Von Reinhard Sturm 23.12.2011 geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. 1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus. Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht.

Kontakt: »[email protected]«

Nach den ersten Krisenjahren der Republik zeichnete sich ab 1924 mit Erfolgen der Außen- und Innenpolitik eine Wende zum Guten ab. Die Weimarer Republik schien sich konsolidiert zu haben; Produktion, Konsum und Volkseinkommen nahmen in den Jahren 1924 bis 1929 stetig zu.

Einleitung

Im Laufe des Jahres 1924 mehrten sich die Anzeichen für eine Stabilisierung der Weimarer Republik. Tatsächlich war das folgende Jahrfünft durch außen- und reparationspolitische Erfolge, wirtschaftlichen Aufschwung sowie gesellschafts- und sozialpolitische Fortschritte gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund beruhigte sich die innenpolitische Lage, während Kunst und Kultur eine Blütezeit erlebten. Diese erfreuliche Gesamtentwicklung wurde jedoch immer wieder durch gegenläufige Tendenzen infrage gestellt.

Außenpolitische Erfolge

Eine erste Entspannung in der Reparationsfrage brachte der von der alliierten Reparationskommission und Deutschland angenommene "Dawes-Plan". Seine wichtigsten, von dem US-Bankier Charles Dawes entwickelten Grundsätze lauteten:

• Die deutsche Wirtschaft sollte sich erholen, um die Reparationsleistungen an die Gläubiger zu gewährleisten – nur so konnten diese ihre Kriegsschulden an die USA zurückzahlen. Politisch motivierte Sanktionen wie die Ruhrbesetzung sollte es nicht mehr geben.

• Die jährliche Belastung sollte 1924 eine Milliarde Reichsmark (RM) betragen und bis September 1928 auf die "Normalrate" von 2,5 Milliarden RM ansteigen. Besaß Deutschland nicht genügend Devisen für die Umwandlung der Jahresrate in die Währungen der Empfängerländer, durfte die Zahlung niedriger ausfallen ("Transferschutz"). Als Starthilfe wurde ein US-Kredit über 800 Millionen RM gewährt, sodass von der ersten Jahressumme nur 200 Millionen RM aus Eigenmitteln aufgebracht werden mussten.

• Ein alliierter Reparationsagent mit Sitz in Berlin, der US-Finanzexperte Parker Gilbert, übernahm die Organisation der Reparationszahlungen.

Zeitliche Begrenzung und endgültige Höhe der Reparationen blieben weiterhin offen; dennoch waren

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 49 die neuen Bedingungen wesentlich günstiger als die des Londoner Ultimatums vom Mai 1921. Am 1. September 1924 trat der Dawes-Plan in Kraft; die Ruhrbesetzung wurde bis September 1925 wieder aufgehoben.

Verträge von Locarno

Im Zuge der durch den Dawes-Plan bewirkten Verbesserung des politischen Klimas tagten vom 5. bis 16. Oktober 1925 in dem schweizerischen Kurort Locarno die Regierungschefs und Außenminister Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens, Italiens, Polens und der Tschechoslowakei, um Abkommen zur Stabilisierung des Friedens in Europa zu schließen – Voraussetzung für weitere amerikanische Kredite. In einem "Garantiepakt" erklärten Deutschland, Frankreich und Belgien sowie England und Italien (als Garantiemächte) die deutsche Westgrenze für "unverletzlich". Dafür war das Reich künftig gegen territoriale Sanktionen geschützt. Die Locarno-Verträge waren weitgehend das Werk der Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Gustav Stresemann und Aristide Briand; sie wurden dafür am 10. Dezember 1926 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Freilich war Stresemann – wie andere europäische Staatsmänner seiner Zeit auch – stets beides: " ein kühl kalkulierender Realpolitiker und ein nationaler Machtpolitiker" (Eberhard Kolb). Zwar verpflichtete sich das Reich in Schiedsverträgen mit Polen und der Tschechoslowakei zum Verzicht auf gewaltsame Grenzveränderungen, aber eine Grenzgarantie wie im Westen lehnte Stresemann ausdrücklich ab. Ein "Ostlocarno" hätte seine Strategie gefährdet, Deutschland schrittweise wieder zur Großmacht werden zu lassen und zu gegebener Zeit Polen durch wirtschaftlichen Druck zu Grenzverhandlungen zu bewegen.

Locarno brachte eine spürbare Verbesserung der deutschen Position in der internationalen Politik. Greifbarstes Ergebnis war, neben dem Abzug der britischen Besatzungstruppen aus der Kölner Zone bis Januar 1926, die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (mit ständigem Ratssitz) am 10. September 1926. Dennoch verweigerten Nationalkonservative und Rechtsradikale ebenso wie die radikale Linke ihre Zustimmung zu den Locarno-Verträgen. Wetterten DNVP und NSDAP gegen die Preisgabe deutscher Gebiete im Westen, so befürchtete die KPD die Einbeziehung Deutschlands in eine gemeinsame Front der kapitalistischen Länder gegen die Sowjetunion. Nach dem Austritt der DNVP aus der im Januar 1925 gebildeten "Bürgerblock"-Regierung Luther (Amtszeit: Januar 1925- Mai 1926) konnten die Locarno-Verträge nur mit Hilfe der oppositionellen SPD ratifiziert werden.

Als Ergänzung bzw. Gegengewicht zum Locarno-Pakt schloss Deutschland mit der Sowjetunion am 24. April 1926 den "Berliner Vertrag" über gegenseitige Neutralität im Falle eines Krieges mit dritten Staaten. Demzufolge durften bei einem russisch-polnischen Krieg französische Truppen Polen nicht über deutsches Territorium zu Hilfe kommen.

Stresemanns außenpolitische Ziele

Vertraulicher Brief Stresemanns an Kronprinz Wilhelm vom 7. September 1925 (1932 bekannt geworden).

[...] Die deutsche Außenpolitik hat nach meiner Auffassung für die nächste absehbare Zeit drei große Aufgaben: Einmal die Lösung der Reparationsfrage in einem für Deutschland erträglichen Sinne und die Sicherung des Friedens, die die Voraussetzung für eine Wiedererstarkung Deutschlands ist.

Zweitens rechne ich dazu den Schutz der Auslandsdeutschen, jener 10-12 Millionen Stammesgenossen, die jetzt unter fremdem Joch in fremden Ländern leben.

Die dritte große Aufgabe ist die Korrektur der Ostgrenzen: die Wiedergewinnung von Danzig, vom polnischen Korridor und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 50

Im Hintergrund steht der von Deutsch-Österreich [...]. Wollen wir diese Ziele erreichen, so müssen wir uns aber auch auf diese Aufgaben konzentrieren. Daher der Sicherheitspakt, der uns einmal den Frieden garantieren und England sowie, wenn Mussolini mitmacht, Italien als Garanten der deutschen Westgrenze festlegen soll. Der Sicherheitspakt birgt andererseits in sich den Verzicht auf [...] Rückgewinnung Elsass-Lothringens, [...] der aber insoweit nur theoretischen Charakter hat, als keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich besteht. [...] Zudem sind alle Fragen, die dem deutschen Volk auf dem Herzen brennen, [...] Angelegenheiten des Völkerbundes [...].

Die Frage des Optierens zwischen Osten und Westen erfolgt durch unseren Eintritt in den Völkerbund nicht. [...] Ich warne vor einer Utopie, mit dem Bolschewismus zu kokettieren.

[...] Das Wichtigste ist [...] das Freiwerden deutschen Landes von fremder Besatzung. Wir müssen den Würger erst vom Halse haben. [...] Deshalb wird die deutsche Politik [...] in dieser Beziehung zunächst darin bestehen müssen, zu finassieren (Tricks anzuwenden – Anm. der Red.) und den großen Entscheidungen auszuweichen.

Ich bitte E. K. H. (Eure Kaiserliche Hoheit – Anm. d. Red.), [...] diesen Brief selbst – den ich absichtlich nicht unterzeichne, damit er nicht, auch nur aus Versehen, in fremde Hände fällt – freundlichst unter dem Gesichtspunkt würdigen zu wollen, dass ich mir natürlich in allen meinen Äußerungen eine große Zurückhaltung auferlegen muss. [...]

Gustav Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, hg. von Henry Bernhard, Ullstein, Berlin 1932, S. 553 ff.

Young-Plan

Auf der Basis des Dawes-Plans und der Locarno-Verträge kam es in den folgenden Jahren zu weiteren Verbesserungen des deutsch-französischen Verhältnisses, insbesondere der Handelsbeziehungen. Auch nahm das internationale Ansehen Deutschlands nach seinem Eintritt in den Völkerbund zu. Der " Briand-Kellogg-Pakt" – benannt nach den Außenministern Frankreichs und der USA – vom 27. August 1928 war auch Stresemanns Werk. Bis Ende 1929 traten bereits 54 Staaten diesem Abkommen zur Kriegsächtung bei.

Als sich Ende 1928 abzeichnete, dass die Umstellung der jährlichen Reparationszahlungen auf die " Normalrate" von 2,5 Milliarden RM die deutsche Zahlungsfähigkeit überforderte, drängte die seit Ende Juni amtierende Regierung der Großen Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) auf eine endgültige Regelung der Reparationsfrage zu erträglichen Bedingungen. Nach langen und schwierigen Verhandlungen legte der US-Wirtschaftsexperte Owen D. Young einen Plan vor, der folgende Neuerungen enthielt:

• Die Begrenzung der Reparationsleistungen auf 112 Milliarden RM, zahlbar innerhalb von 59 Jahren (das heißt bis 1988).

• Die Herabsetzung der Jahresraten: Sie sollten in den ersten 37 Jahren allmählich von 1,7 auf 2,1 Milliarden RM ansteigen und danach den jährlichen Kriegsschulden-Rückzahlungen der Alliierten an die USA angepasst werden. Grundsätzlich waren jährlich 600 Millionen RM in Devisen zu zahlen – das heißt ohne "Transferschutz".

• Die Abwicklung der Zahlungen in souveräner deutscher Verantwortung über eine "Bank für internationalen Zahlungsausgleich" in Basel. Die alliierte Reparationskommission und der Reparationsagent stellten ihre Tätigkeit ein.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 51

• Die vorzeitige Räumung des Rheinlandes durch die Alliierten bis zum 30. Juni 1930 (statt 1935) – ein außenpolitischer Triumph, den Stresemann nicht mehr erlebte.

Mochte die Aussicht auf Reparationszahlungen bis 1988 zunächst erschrecken, so konnte doch kein Zweifel daran bestehen, dass der "Young-Plan" gegenüber allen bisherigen Regelungen eine weitere deutliche Verbesserung darstellte.

Wirtschaftsentwicklung

Währungsreform, Dawes-Plan und ausländische Kredite bewirkten einen beträchtlichen Wirtschaftsaufschwung. Produktion, Konsum und Volkseinkommen nahmen zwischen 1924 und 1929 stetig zu. Schwerindustrie (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung), Maschinenbau und Textilindustrie, vor allem aber elektrotechnische, chemische und optische Industrie sowie neue Industriezweige wie Automobil- und Flugzeugbau, Messing-, Aluminium- und Kunstseideherstellung, Film und Rundfunk konnten ihre Produktion erheblich steigern. Technische Großprojekte wie das Luftschiff "Graf Zeppelin " oder das Verkehrsflugzeug "Dornier DO X" demonstrierten die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie.

Bereits 1926 übertraf der Warenexport den von 1913. Da der Aufschwung den Verteilungsspielraum erweiterte, kam er auch Arbeitern, Angestellten und Beamten zugute. Dabei half die 1923 eingeführte, arbeitnehmerfreundlich gehandhabte staatliche Zwangsschlichtung als letzte Instanz bei Tarifkonflikten. 1928/29 erreichten Industrieproduktion und Löhne insgesamt wieder das Vorkriegsniveau – bei deutlich verringerter Wochenarbeitszeit. Der Reichshaushalt war, trotz der Reparationsbelastungen, stets annähernd ausgeglichen.

Konzentrationsbewegung

Die Ursache der bald nach dem Kriegsende in der deutschen Eisenindustrie einsetzenden Konzentrationsbewegung war Rohstoffmangel. Durch den Versailler Vertrag wurde mit einem Federstrich eine Strukturänderung geschaffen, die der deutschen eisenschaffenden Industrie mit einem Schlage ein anderes Gepräge gab: Die Verbindung der rheinisch-westfälischen Werke mit den lothringischen Betrieben, die in dem gegenseitigen Austausch von Ruhrkohle und Koks gegen lothringische Erze und Walzwerksprodukte zum Ausdruck kam, wurde aufgehoben; in Oberschlesien erstreckten sich die Zerstörungen durch die neuen Grenzziehungen sogar auf das Betriebsverhältnis der Werke, die in ihrer technischen Einheit auseinandergerissen wurden. [...]

Es mussten also neue Querverbindungen nach der Rohstoffseite wie nach der Seite der weiterverarbeitenden Industrie geschaffen werden. [...] Auch die Verarbeitungs- und Verfeinerungsindustrie, häufig sogar die Fertigungsindustrie, wurden in die Zusammenschlussbewegung einbezogen. Das größte Beispiel dieser vertikalen Konzernbildung ist die unter Führung von Hugo Stinnes erfolgte Gründung des Elektromontankonzerns, der Rhein-Elbe-Siemens-Schuckert-Union. Unter dem Druck der Rohstoffknappheit wurde der –in seinen Anfängen bis in die Vorkriegszeit zurückreichende – Typus des "gemischten Betriebes" in der Eisenindustrie vorherrschend. [...]

Während in den ersten Nachkriegsjahren Rohstoffsicherung die maßgebende Rolle bei der Konzernbildung gespielt hatte, war jetzt Rohstoff reichlich vorhanden. Der immer drückender werdende Absatzmangel forderte gebieterisch eine Verringerung der Gestehungskosten, um dem Weltmarkt gegenüber konkurrenzfähig zu werden; [...]. Die mit größter Energie aufgenommene technische Rationalisierung der einzelnen Betriebe erwies sich als nicht ausreichend [...]; aber auch der gewaltige Kapitalbedarf, der durch die technische Umstellung der Betriebe hervorgerufen wurde, zwang zu einer Verstärkung der Betriebsgrundlagen durch Zusammenfassung gleichartiger Produktionseinheiten, zu horizontalen Zusammenschlüssen im Wege der Fusion. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 52

Die Angliederung gleichartiger Produktionsstätten gab den Großkonzernen die Möglichkeit, die Erzeugung auf die günstigst gelegenen und bestgeeigneten Betriebe zusammenzulegen und dafür weniger aussichtsreiche Betriebe durch Stilllegung aus dem Produktionsprozess auszuschalten. [...]

Wirtschaftsdienst, Heft 41 vom 10. Oktober 1930, S. 1746-1752 in: Werner Abelshauser/Anselm Faust/ Dietmar Petzina (Hg.), Deutsche Sozialgeschichte 1914-1945, C. H. Beck, München 1985, S. 25 ff.

Krisenanfälliger Aufschwung

Gleichwohl blieben die Wachstumsraten der Industrieproduktion und des Außenhandels hinter denen anderer Industrieländer zurück. Außerdem gab es eine Reihe bedenklicher Trends:

• Das Wirtschaftswachstum war ungleichmäßig verteilt; zum Beispiel konnte die Schwerindustrie mit der Chemie- und Elektroindustrie nicht Schritt halten.

• Die Wirtschaftskonzentration nahm weiter zu. Bereits 1926 entfielen auf 16 Prozent der Aktiengesellschaften 66 Prozent des Aktienkapitals. Im Bergbau und in der Stahlindustrie dominierten Konzerne. 1925 entstand der weltgrößte Chemiekonzern ("I. G. Farbenindustrie AG "), 1926 der größte europäische Montankonzern ("Vereinigte Stahlwerke"). Monopolpreise für Rohstoffe und Halbfabrikate machten der verarbeitenden Industrie zu schaffen.

• Wettbewerbsbedingte Rationalisierungen wie die Einführung der Fließbandarbeit nach dem Vorbild der Ford-Werke in den USA gefährdeten immer mehr Arbeitsplätze von Arbeitern und zunehmend auch von kleinen und mittleren Angestellten. Schon vor der Weltwirtschaftskrise lag die Zahl der Arbeitslosen durchschnittlich bei 1,4 Millionen (circa 6,5 Prozent).

• Die Landwirtschaft arbeitete vielfach unrentabel und war nach ihrer inflationsbedingten Entschuldung bald wieder verschuldet. Das galt sowohl für die Kleinbauern in Mittel-, Südwest- und Süddeutschland als auch besonders für die ostelbischen Großagrarier. Ab 1927 befand sich die Landwirtschaft infolge einer weltweiten Überproduktion, die mit einem anhaltenden Verfall der Erzeugerpreise (besonders für Schweine und Roggen) einherging, in einer Dauerkrise.

• Die Auslandsverschuldung (vor allem bei den USA) erreichte 1929 einen Gesamtumfang von 25 Milliarden RM; die kurzfristige Verschuldung betrug 12 Milliarden RM. Ein Abzug der kurzfristigen, von den deutschen Banken aber oft langfristig weitervergebenen Auslandskredite konnte verheerende Folgen haben.

• Die expansive Kreditpolitik der Großbanken und ihre oft riskanten Spekulationen mit Wertpapieren waren nicht ausreichend durch Eigenkapital und liquide Mittel abgesichert, denn private Haushalte und Unternehmen verspürten nach der Inflationserfahrung von 1923 wenig Neigung zum Sparen bzw. zur Kapitalbildung.

• Die Zentralbank (Reichsbank) konnte damals nur mittels Diskontpolitik (Verteuerung bzw. Verbilligung der Kredite, die sie den Privatbanken gewährte) das Wirtschaftsgeschehen beeinflussen. Über die Mindestreservenpolitik (Erhöhung bzw. Senkung der Geldschöpfung und Kreditgewährung der Geschäftsbanken) sowie die Offenmarktpolitik (An- und Verkauf von Wertpapieren zur Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage) verfügte sie noch nicht.

• Das Finanzgebaren der öffentlichen Hände gab Anlass zur Sorge. Von 1926 bis 1929 stiegen die jährlichen Ausgaben von Reich, Ländern und Gemeinden zusammen von 17,9 auf 24,3 Milliarden RM. Die Kommunen finanzierten bis zu zwei Drittel ihrer Infrastrukturmaßnahmen unsolide mit

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 53

Hilfe der Auslandsanleihen.

Demnach fand eine fundamentale wirtschaftliche Stabilisierung in den Jahren 1924 bis 1929 nicht statt; der Wirtschaftsaufschwung wurde mit einer erheblichen "hausgemachten" Krisenanfälligkeit erkauft.

Gesellschaft im Wandel

Nach den Einschnitten durch Kriegseinwirkungen und Gebietsverluste erhöhte sich die Bevölkerungszahl im Deutschen Reich zwischen 1925 und 1933 um etwa 2,8 Millionen, sodass sie am Ende wieder den Vorkriegsstand von rund 65 Millionen erreichte. Davon waren knapp zwei Drittel Protestanten und annähernd ein Drittel Katholiken; der Anteil der Juden sank von 0,9 auf 0,8 Prozent. Im selben Zeitraum hielten die für hochindustrialisierte Gesellschaften typische Landflucht und Verstädterung weiter an. Der Bevölkerungsanteil der Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern nahm von 35,6 auf 32,9 Prozent ab, während der der Großstädte (über 100.000 Einwohner) von 26,8 auf 30,4 Prozent anstieg. Parallel dazu vollzog sich ein Rückgang der Erwerbspersonen in der Landwirtschaft von 30,5 auf 28,9 Prozent, in Industrie und Handwerk von 42,1 auf 40,4 Prozent, während der Dienstleistungsbereich von 27,4 auf 30,7 Prozent zunahm.

Die Weimarer Republik erbte vom Kaiserreich eine hochdifferenzierte, hierarchisch gegliederte Industriegesellschaft mit ausgeprägten schicht-, geschlechts- und generationsspezifischen Strukturen sozialer Ungleichheit hinsichtlich Einkommens- und Vermögensverteilung, Berufsbedingungen und familiären Lebensverhältnissen. In manchen Bereichen vollzog sich jedoch in den 1920er Jahren ein beträchtlicher Wandel.

Oberschichten

Zur alten Oberschicht gehörten adlige und bürgerliche Großagrarier, Wirtschaftsbürgertum (darunter immer mehr angestellte "Manager" von Aktiengesellschaften), Bildungsbürgertum, (überwiegend adliges) höheres Beamtentum und Offizierskorps. Sie hatte durch die Revolution von 1918/19 ihren unmittelbaren Zugang zur politischen Macht weitgehend verloren. Unter dem aus ihren Reihen stammenden Reichspräsidenten, dem Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg, gewann sie ihn nach 1925 allmählich zurück. Mit dem großagrarischen "Reichslandbund" und dem schwerindustriell dominierten "Reichsverband der deutschen Industrie" (RDI) verfügte sie über die beiden mächtigsten Interessenverbände. Politisch wurde der protestantische Teil der alten Oberschicht hauptsächlich durch DNVP, DVP und (in geringerem Maße) DDP vertreten; der katholische Teil orientierte sich am Zentrum.

Neben die traditionelle Elite schob sich eine durch die breite Einführung der parlamentarischen Demokratie erzeugte "neue politische Oberschicht" (Hagen Schulze): Regierungsmitglieder und Parlamentarier, von denen rund drei Viertel aus sozialen Aufsteigern vor allem aus den Mittel- und Unterschichten bestanden – einer der Gründe für die Verachtung, die die alte Oberschicht dem Parlamentarismus entgegenbrachte. Das bekannteste Beispiel ist Reichspräsident Friedrich Ebert, ein gelernter Sattler, der sich bis zum Staatsoberhaupt hocharbeitete. Vor allem aus den Reihen von SPD, DDP und Zentrum kam die neue politische Oberschicht.

Mittelschichten

Die Mittelschichten umfassten zum einen den "alten Mittelstand": selbstständige Handwerker und Einzelhändler, kleine und mittlere Unternehmer, freie (akademische) Berufe und Bauern, nebst ihren mithelfenden Familienangehörigen – überwiegend Kleinbetriebe mit weniger als fünf Beschäftigten. Die eigentumsorientierten, statusbewussten selbstständigen Mittelständler fühlten sich stets zwischen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 54

Kapital und Arbeit eingeklemmt, weil sie im Wettbewerb mit Großunternehmen standen und sich gleichzeitig von den Lohnforderungen der Gewerkschaften bedrängt sahen. Der Verlust ihrer Ersparnisse durch die Inflation 1923 bedeutete für sie eine kollektive traumatische Erfahrung, die mehr noch als Versailler Vertrag und Dolchstoßlegende ihr Vertrauen in den demokratischen Staat untergrub.

Zum anderen hatte sich bereits im Kaiserreich ein "neuer Mittelstand" – mittlere und kleine Angestellte und Beamte – herausgebildet, der aufgrund der allgemeinen Bürokratisierungstendenz in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat zunahm. Die Berufssituation der Angestellten näherte sich im Gefolge der Rationalisierungswelle in der deutschen Industrie in den 1920er Jahren hinsichtlich der Arbeitsbedingungen (Großraumbüros) und der Arbeitsplatzsicherheit (wachsende Arbeitslosigkeit, besonders bei älteren Angestellten) derjenigen der Arbeiter immer stärker an. Umso verbissener jedoch grenzten sich die Angestellten von den Arbeitern ab, unter anderem durch eigene Versicherungen und durch Verbände, deren politisches Spektrum vom SPD-nahen AfA-Bund ("Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände") bis zum "Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband" (DNHV) reichte. Ihr eher an den Arbeitgebern als an der Arbeiterschaft orientiertes berufsständisches Sonderbewusstsein war in Deutschland ausgeprägter als in vergleichbaren Industrieländern.

Charakteristisch für alte und neue Mittelschichten war das breite Spektrum der von ihnen bevorzugten Parteien. Traditionell bildeten sie den Kern des politischen Liberalismus (auch Katholizismus); man wählte aber auch die Deutschnationalen, mittelständisch orientierte Kleinparteien oder regionale Parteien. Diese politische "Heimatlosigkeit" führte zum allmählichen Niedergang der beiden liberalen Kernparteien DDP und DVP.

Unterschichten

Zu den Unterschichten zählten Industrie- und Landarbeiter, Handwerksgesellen und Lehrlinge, Knechte und Mägde, Hausangestellte, Arbeitslose, Rentner und Invaliden. Indus-triearbeiter stellten gut drei Fünftel dieses Gesellschaftssegments. Katholische Arbeiter standen der Zentrumspartei und ihren christlichen Gewerkschaften nahe. Die von der Revolution 1918/19 kaum berührten Landarbeiter blieben eher konservativ orientiert. Die übrigen Unterschichten bildeten das soziale Fundament der Sozialdemokratie und des Kommunismus. Ältere Arbeiter und Facharbeiter fühlten sich eher der SPD und dem ihr nahe stehenden "Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund" (ADGB) verbunden, Jungarbeiter, ungelernte Arbeiter und Arbeitslose eher der KPD. SPD, KPD und Zentrum vermochten ihre Anhänger in ein dicht geknüpftes Netz aus Parteigliederungen, Selbsthilfeorganisationen, Sport- und Freizeitvereinen, Gaststätten, Bildungseinrichtungen und ein eigenes Pressewesen einzubinden. Sozialwissenschaftler sprechen daher von "sozialmoralischen Milieus" (Rainer M. Lepsius) oder politischen "Solidargemeinschaften" (Peter Lösche), beim kommunistischen Milieu sogar von einem abgedichteten "selbstständigen Lager innerhalb der Gesamtgesellschaft" mit einer ausgeprägten " Lagermentalität" (Oskar Negt/Alexander Kluge).

Frauen

Schicht- bzw. milieuspezifische Unterschiede wurden teilweise von geschlechts- und generationsspezifischen überlagert. Frauen blieben trotz Artikel 109 WV (staatsbürgerliche Gleichheit) und 119 WV (eheliche Gleichberechtigung) benachteiligt, da die Gesetzgebung nicht angepasst wurde. So durften verheiratete Frauen, wie schon im Kaiserreich, nur mit Genehmigung des Ehemannes einen Beruf ausüben. Die Erwerbstätigkeit einer Frau galt allgemein als Übergangsstadium bis zur Ehe, in der ihr dann die Hausarbeit und die Kindererziehung zufielen. 1925 waren nur 35,6 Prozent der Frauen erwerbstätig (Männer 68 Prozent), davon jede Zehnte als Hausgehilfin ohne soziale Sicherung und mit überlangen Arbeitszeiten. In der Industrie erhielten Hilfs- und Facharbeiterinnen im Durchschnitt nur zwei Drittel der Männerlöhne; in Krisenzeiten wurden sie stets als erste entlassen.

Über diese traditionelle Rollenvorstellung wies das von der Werbung propagierte Bild der "neuen Frau " – berufstätig, unabhängig, selbstbewusst, attraktiv, modisch gekleidet – bereits hinaus. Es bezog

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 55 sich vor allem auf weibliche Angestellte, deren wachsender Anteil an der Angestelltenschaft 1925 bereits 12,6 Prozent betrug. Zwischen 1919 und 1932 stieg auch der Anteil der Studentinnen von sieben auf 16 Prozent. Leitende Positionen blieben Frauen aber in der Regel verwehrt. Weder die weiblichen Abgeordneten in den Parlamenten (durchweg weniger als zehn Prozent) noch die bürgerliche oder proletarische Frauenbewegung erreichten in den zwanziger Jahren nennenswerte Fortschritte.

Alltag einer Arbeiterin

Unter dem Motto "Mein Arbeitstag – Mein Wochenende" schrieb 1928 das Arbeiterinnensekretariat des Deutschen Textilarbeiterinnenverbandes einen Literaturwettbewerb aus, der sich an alle Verbandsmitglieder richtete. Authentisch und überzeugend sollten die Frauen ihren gewöhnlichen Tagesablauf schildern, für die beste Arbeit standen 30 Mark als Preis bereit. Eine 48-jährige Arbeiterin:

"Durch Arbeitslosigkeit meines Mannes bin ich zu der Erwerbstätigkeit gezwungen. Um nicht in allzu große Notlage zu geraten, muss ich zum Haushalt meiner Familie, welche aus meinem Mann, drei Kindern im Alter von 3 bis 13 Jahren und mir besteht, beitragen. Mein Wohnort liegt im Kreise Zeitz, die Arbeitsstelle ist eine Wollkämmerei, in welcher ich Putzerin bin. Da ich fast eine Stunde Bahnfahrt habe, stehe ich früh um 4.30 Uhr auf. Der Zug fährt um 5.10 Uhr ab, kommt 5.55 Uhr am Arbeitsort an. Da unsere Arbeitszeit um 6 Uhr beginnt, muss ich vom Bahnhof zur Fabrik einen Dauerlauf machen, um zur rechten Zeit zur Stelle zu sein. Dort putze ich bis 14.15 Uhr Krempelmaschinen. Der Zug, mit welchem ich fahren kann, fährt erst um 17.13 Uhr. Ich muss mich solange auf dem Bahnhof aufhalten und bin um 18 Uhr zu Hause. Nun gibt es noch daheim zu schaffen. Das Essen fertig zu kochen, für den nächsten Tag vorzubereiten, bei den Kindern die Sachen nachsehen, ob sie noch ganz und sauber sind. Wenn man den ganzen Tag nicht da ist, wird noch ein bisschen mehr gebraucht, weil die kleinen Schäden nicht so beachtet werden können. Am Abend ist man auch von der langen Zeit müde und abgespannt und die Sachen, Wäsche und Strümpfe, müssen sonntags ausgebessert werden. Manchmal muss ich noch meinen Schlaf opfern, da ich Partei- und Arbeiterwohlfahrtsversammlungen besuche und letztere sogar als Vorsitzende leiten muss. Am Sonnabend bin ich um dieselbe Zeit zu Hause. Da gehe ich erst einmal in den Konsumverein einkaufen, um für die ganze Woche Lebensmittel zu haben. Alle vier Wochen habe ich große Wäsche für meine Familie allein zu waschen. Am Abend vorher mache ich dazu alles fertig, um Sonntagmorgen beizeiten anfangen zu können. Sonst beginnt der Sonntag um 7 Uhr. Da gibt es zu tun mit dem Reinemachen der Wohnung und dem Ausbessern der Kleidungsstücke. Dabei wird das Mittagessen bereitet. Um 14 Uhr beginnt dann für mich der Sonntag. Er wird mit dem Besuch einer Arbeiterveranstaltung oder mit einem Spaziergang beendet [...]."

Kristine von Soden, "Frauen und Frauenbewegung in der Weimarer Republik", in: Die wilden Zwanziger. Weimar und die Welt 1919-33, Espresso, Berlin 1986, S. 112 f.

Jugend

Seit der Jahrhundertwende gab es in der Jugend Ansätze zur Entwicklung von Zusammenschlüssen mit eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Die naturverbundene bürgerliche "Wandervogel "-Bewegung wurde nach dem Krieg weitgehend von der gesellschaftlich orientierten "bündischen Jugend" abgelöst. In den 1920er Jahren bildeten erwerbslose Heranwachsende aus den Unterschichten in den Großstädten zuweilen "wilde Cliquen", die ihren Protest gegen Armut und Zukunftsunsicherheit "krass materialistisch und nicht selten jenseits der Legalität" (Heinrich August Winkler) auslebten. Nach dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 versuchte der Staat, durch Einrichtungen der Jugendfürsorge und Angebote der Jugendpflege die Entwicklung der Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Doch blieb Unterschichtkindern der Zugang zu höheren Schulen – und damit der soziale Aufstieg – wegen des weiterhin erhobenen Schulgeldes in der Regel versperrt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 56

Anfang der 1930er Jahre gehörten von neun Millionen Jugendlichen knapp vier Millionen einer Jugendorganisation an. Am beliebtesten waren Sportvereine (zwei Millionen) sowie katholische und evangelische Jugendverbände (eine Million bzw. 600.000). Dahinter schob sich in weitem Abstand die "Hitler-Jugend" (HJ) (100.000) vor die – an Mitgliederschwund leidende – SPD-nahe "Sozialistische Arbeiterjugend" (SAJ) (90.000). Es folgten die "bündischen" Jugendgruppen (70.000) und der " Kommunistische Jugendverband Deutschlands" (KJVD) (55.000).

Gleichwohl verbrachten die meisten jungen Leute ihre Freizeit vorzugsweise im Freundeskreis, gingen auf Wanderfahrt und nutzten die Möglichkeiten der neuen "Massenkultur": Grammofon, Radio und Kino, Gaststätten und Tanzlokale.

Die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen der Jahrgänge 1897 bis 1917 waren – je nach Geburtsjahr – durch einschneidende Erfahrungen geprägt: durch das seelisch verwüstende Kriegs- bzw. Fronterlebnis ("verlorene "), das vaterlose Aufwachsen und die Entbehrungen während des Krieges, die Nachkriegskrisen (die eine hohe Jugendkriminalität erzeugten), die Stabilisierungsjahre oder schließlich den unmittelbaren Übergang von der Schule oder der Universität in die Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise ("überflüssige Generation").

Die soziale Unzufriedenheit vieler Jugendlicher äußerte sich nicht zuletzt in der Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Dasein und nach Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Gegensätze. Von der bürokratischen Politik in den Parlamenten und von den überalterten Parteien und ihren einflusslosen Jugendorganisationen fühlten sich vor allem die außerhalb des katholischen und des Arbeitermilieus stehenden Jugendlichen eher abgestoßen. Dies machte sich ab Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 die extreme Rechte mit wachsendem Erfolg zunutze: Hitler verstand es, die NSDAP als Partei der Jugend und des Aufbruchs zu einer nationalen "Volksgemeinschaft" unter seiner Führung darzustellen.

Sozialpolitik

Viele Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit wurden seit der Revolution von 1918/19 zwar nicht beseitigt, aber wesentlich stärker als früher sozialpolitisch abgemildert. Das in den 1880er Jahren von Bismarck eingeführte Sozialversicherungswesen (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung) wurde in der Verfassung verankert (Artikel 161 WV), die Rentensätze erhöht. Außerdem sorgte eine Vielzahl von größeren und kleineren Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit. Sie reichten von der Anerkennung neuer Berufskrankheiten, die zum Bezug einer Invalidenrente berechtigten, über die Steigerung der Zahl der Ärzte und der Krankenhausbetten bis zum sozialen Wohnungsbau: Zwischen 1925 und 1929 erhöhte sich die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen (in weiträumigen Siedlungen oder mehrstöckigen Mietshäusern ohne Hinterhöfe) von 106.502 auf 317.682; davon wurde jede zweite mit staatlichen Mitteln gefördert oder vom Staat selbst gebaut.

Arbeitslosenversicherung

Viele sozialpolitische Reformen waren, neben dem anhaltenden Druck der organisierten Arbeitnehmerschaft, dem tatkräftigen Reichsarbeitsminister (Zentrum) zu verdanken. Sein bedeutendstes Werk war das Gesetz über die Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 1. Oktober 1927, von der "Bürgerblock"-Regierung (Zentrum – BVP – DVP – DNVP) unter Reichskanzler Wilhelm Marx (Zentrum) eingebracht und vom Reichstag mit großer Mehrheit verabschiedet. Künftig übernahmen eine Reichsanstalt sowie regionale und lokale Arbeitsämter die Arbeitsvermittlung. Anspruchsberechtigte Arbeitslose konnten bis zu 39 Wochen ihren Unterhalt aus einer Versicherung beziehen, die zu gleichen Teilen durch Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber finanziert wurde. Der Staat sollte im Notfall mit Darlehen einspringen. Somit wurde bei der sozialen Absicherung der Arbeitslosen das bisherige entwürdigende Fürsorgeprinzip durch das Versicherungsprinzip abgelöst. Weil Teile der Unternehmerschaft schon im Vorfeld heftig über die Erhöhung ihrer Soziallasten klagten, wurde die Beitragshöhe niedrig (auf drei Prozent des Grundlohns) angesetzt. Daher reichten die Finanzmittel vorläufig nur für etwa 700.000 Arbeitslose.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 57

Der Ausbau des Weimarer Sozialstaates

1918

Abschaffung der Gesindeordnung

Einführung des Frauenwahlrechts

Zulassung von Frauen zum Hochschullehrerberuf

Erwerbslosenfürsorge für entlassene Soldaten

1919

Grundrechte der Frauen auf staatsbürgerliche Gleichstellung und Gleichberechtigung in der Ehe

Grundrechte der Jugend auf Erziehung, Bildung, Schutz, Fürsorge und Pflege

Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie für Gewerkschaften und Unternehmerverbände

Verankerung des Sozialversicherungssystems in der Verfassung

1920

Betriebsrätegesetz

Grundschulgesetz

Versorgungsregelung für 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte und 2,5 Millionen Hinterbliebene

1922

Jugendwohlfahrtsgesetz

Zulassung von Frauen zum Richteramt

Mietpreisbindung

Arbeitsnachweisgesetz (Ablösung der gewerblichen durch eine kommunale Arbeitsvermittlung)

Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in die Aufsichtsräte

1923

Jugendgerichte

Gesetz über Mindestlöhne für Heimarbeiter

Förderung der Einstellung von Schwerbeschädigten

Mieterschutz gegen willkürliche Kündigungen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 58

Knappschaftsgesetz (soziale Sicherung der Bergleute)

Staatliche Zwangsschlichtung von Tarifstreitigkeiten

1924

Einheitliche staatliche Fürsorge (statt kommunaler Armenpflege)

1925

Wöchnerinnen- und Mutterschutz als Pflichtleistung der Krankenkassen

1926

Landesarbeitsgerichte, Reichsarbeitsgericht

1927

Besonderer Arbeits- und Kündigungsschutz für werdende und stillende Mütter

Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

Mehrarbeitszuschläge für Überstunden

1928

Krankenversicherungspflicht für Seeleute

Zerwürfnis der Tarifvertragsparteien

1928 vertiefte sich die Kluft zwischen RDI und ADGB. Zunächst gingen die Gewerkschaften im September mit einem Programm für "Wirtschaftsdemokratie" in die Offensive. Ihre Forderungen lauteten:

• Ausbau des Arbeitsrechts, der Sozialpolitik und der innerbetrieblichen Mitbestimmungsrechte,

• Erleichterung des Bildungszugangs für Arbeiter,

• Vermehrung der "gemeinwirtschaftlichen" (das heißt der staatlichen und genossenschaftlichen) Betriebe,

• paritätische Besetzung der Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern,

• Kontrolle der Großunternehmen durch Kartellämter und durch Arbeitnehmervertreter in den Geschäftsleitungen.

Die Arbeitgeberverbände begriffen die "Wirtschaftsdemokratie" nicht zu Unrecht als Kampfansage an die freie Unternehmerinitiative; vor allem der RDI reagierte mit heftiger Kritik. Mehr noch: Beim " Ruhreisenstreit" im Oktober 1928, dem größten Arbeitskampf in der Geschichte der Weimarer Republik, lehnte die Arbeitgeberseite den eher maßvollen Schiedsspruch des staatlichen Schlichters ab, sperrte mehr als 230.000 Metallarbeiter aus, ließ es auf ein Arbeitsgerichtsverfahren ankommen und begann

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 59 eine Kampagne gegen die staatliche Zwangsschlichtung bei Tarifkonflikten. Der Druck der Unternehmer führte am Ende zu einem zweiten, für sie günstigeren Schiedsspruch. Mit seiner Offensive gegen Gewerkschaften und Zwangsschlichtung signalisierte der RDI, dass er die Flächentarifverträge durch betriebliche Einzelvereinbarungen zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft (ohne gewerkschaftliche und staatliche Beteiligung) ersetzen wollte. So standen sich Ende 1928 Unternehmerverbände und Gewerkschaften unversöhnlich gegenüber – der Stinnes-Legien-Pakt vom November 1918, die "Sozialverfassung der Republik" (Hagen Schulze), war zerbrochen.

Innenpolitische Entspannung

Zwischen 1924 und 1929 blieb die innenpolitische Lage weitgehend stabil. Die Kommunisten konzentrierten sich wieder auf die legalen Formen der Parteiarbeit. Da sie bedingungslos der von der KPdSU vorgegebenen ideologischen und politischen Linie folgten, sprechen Historiker von einer " Stalinisierung" der KPD. Die radikale Rechte wirkte politisch gelähmt. Hitler saß bis Dezember 1924 in Festungshaft und schrieb sein Buch ""; dem Zerfall der NSDAP musste er tatenlos zusehen. In Bayern führte ein erfolgreiches Volksbegehren für Landtagsneuwahlen im Februar 1924 zur Ablösung des regierenden Triumvirats Kahr – Lossow – Seißer und zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Verhältnisse.

Reichstagswahlen von 1924

Nach Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode wurde der Reichstag am 4. Mai 1924 neu gewählt. Das Wahlergebnis war vom Krisenjahr 1923 und der aktuellen Diskussion über den Dawes-Plan geprägt. Mit Ausnahme von Zentrum und BVP mussten alle seit 1920 regierenden Parteien – SPD, DDP, DVP – zum Teil herbe Verluste hinnehmen. Demgegenüber verzeichneten die DNVP und die Splitterparteien beträchtliche Gewinne. Die von Reichskanzler Marx gebildete Minderheitsregierung (Zentrum – DDP – DVP) scheiterte, weil das Parlament Steuererhöhungen zum Ausgleich des Staatshaushalts ablehnte. Reichspräsident Ebert löste den Reichstag am 20. Oktober wieder auf.

Die Neuwahl vom 7. Dezember 1924 stand im Zeichen der allgemeinen Stabilisierung. Klare Wahlsiegerin wurde die SPD, gefolgt von der DNVP. Die bürgerlichen Mittelparteien konnten wieder leichte Gewinne verbuchen. Eindeutige Verlierer waren die KPD, Ludendorffs "Nationalsozialistische Freiheitsbewegung" und die Splitterparteien. Dieses Gesamtbild signalisierte den Beginn einer politischen Normalisierung, zumal sich die ehemals strikt nationalliberal-monarchistische DVP unter dem Einfluss ihres angesehenen Vorsitzenden, des früheren Reichskanzlers und jetzigen Außenministers Gustav Stresemann, zu einer Partei der "Vernunftrepublikaner" entwickelte. Das heißt, sie akzeptierte die von der Revolution 1918/19 geschaffenen Realitäten.

Wechselnde Mehrheiten

Die politischen Parteien taten sich jedoch weiterhin schwer mit der parlamentarisch-demokratischen Regierungsweise, das heißt mit der Bildung stabiler Koalitionsregierungen, der Bereitschaft zum politischen Kompromiss und dem Mut zu unpopulären Entscheidungen. Unter dem Einfluss ihres linken Flügels, der Koalitionen prinzipiell ablehnte, blieb die SPD in der Opposition. Die linksliberale DDP und die monarchistische DNVP waren nicht miteinander koalitionsfähig. Auch führten Spannungen zwischen den beiden katholischen Parteien dazu, dass die BVP nicht, wie die Zentrumspartei, allen, sondern nur einigen Regierungen der Weimarer Republik angehörte.

Vor diesem Hintergrund besaßen die Reichsregierungen der Jahre 1924 bis 1928 trotz mehrfacher Umbildungen keine oder nur eine unsichere Mehrheit. Denn mit Ausnahme der im Oktober 1925 gescheiterten breiten "Bürgerblock"-Regierung (von der DDP bis zur DNVP) amtierten entweder

• Minderheitsregierungen der bürgerlichen Mittelparteien (DDP – Zentrum – ggs. BVP – DVP), die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 60

auf Tolerierung in innenpolitischen Fragen meist von rechts, in außenpolitischen von links angewiesen waren, oder

• "Bürgerblock"-Regierungen vom Zentrum bis zur DNVP, die zwar in der Innenpolitik weitgehend übereinstimmten, nicht aber in der Außenpolitik.

Diese Regierungen arbeiteten häufig mit wechselnden Mehrheiten, weshalb zwischen Regierungsfraktionen und Kabinett ein distanziertes Verhältnis bestand. Die SPD geriet dabei in eine politische Zwitterstellung: Obwohl linke Oppositionspartei, musste sie den bürgerlichen Regierungen immer wieder zur Mehrheit verhelfen, um wichtige außenpolitische Projekte wie Dawes-Plan, Locarno- Verträge oder Völkerbundsbeitritt nicht am "Nein" der DNVP scheitern zu lassen.

Der "Normalfall" einer klaren Minderheitsopposition und einer dauerhaften Mehrheitsregierung stellte sich nicht ein. Unter diesen Umständen blieb der Parlamentarismus instabil.

Reichspräsidentenwechsel

Am 28. Februar 1925 starb Reichspräsident Ebert überraschend im Alter von nur 54 Jahren. Er hatte eine nötige Operation zu lange aufgeschoben, um sich in einem langwierigen Gerichtsverfahren gegen die Verleumdung eines deutschvölkischen Journalisten zu wehren. Dieser hatte im Sinne der Dolchstoßlegende behauptet, Ebert habe im Januar 1918 als Mitorganisator mehrtägiger Streiks in Berlin und anderen Großstädten "Landesverrat" begangen. (Tatsächlich hatte sich Ebert mit anderen MSPD-Führern in die Leitung eines "wilden" – das heißt ohne Gewerkschaft begonnenen – Streiks wählen lassen, um diesen so schnell wie möglich zu beenden; Linksradikale warfen ihm daraufhin " Arbeiterverrat" vor). Friedrich Eberts früher Tod bedeutete einen herben Verlust für die Weimarer Republik. Seine Hauptverdienste bestanden in der Vermittlung des Konsenses zwischen sozialdemokratischer Arbeiterschaft, linksliberalem Bürgertum und politischem Katholizismus über die Gründung der Weimarer Republik sowie in seiner untadeligen verfassungstreuen und überparteilichen Amtsführung, die auch von seriösen politischen Gegnern anerkannt wurde. Jedoch hatte er sich durch sein unkritisches Vertrauen auf die "Fachleute" – konservative Generäle und Beamte – und durch seine Härte gegenüber Linksradikalen seiner eigenen Partei zunehmend entfremdet.

Bei der ersten Volkswahl des Reichspräsidenten lag nach dem ersten Wahlgang am 29. März 1925 Reichsinnenminister (DVP), den auch die DNVP unterstützte, klar vor dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) und den abgeschlagenen übrigen Bewerbern; er verfehlte jedoch die erforderliche absolute Mehrheit.

Vor dem zweiten Wahlgang, in dem die relative Mehrheit genügte, bildeten sich der "Reichsblock " (DVP, BVP, DNVP, Deutschvölkische) und der "Volksblock" (SPD, DDP, Zentrum), die jeweils einen Kandidaten unterstützten. Im Volksblock konnte die Zentrumspartei ihr Führungsmitglied Wilhelm Marx durchsetzen, was die SPD aus Sorge um die Weimarer Koalition in Preußen hinnahm. Der Reichsblock präsentierte überraschend den 77-jährigen Paul von Hindenburg, der das breite Spektrum der rechts stehenden Wähler hinter sich bringen sollte. Bevor er die Kandidatur annahm, holte er heimlich die Zustimmung "seines" Kaisers in Doorn ein. Politisch unerfahren, aber geschickt beraten, gab er sich im Wahlkampf ebenso vaterländisch wie verfassungstreu.

Am 26. April 1925 entschied Hindenburg den zweiten Wahlgang knapp für sich.

Der ehemalige OHL-Chef, prominente Monarchist und Miturheber der Dolchstoßlegende im höchsten Staatsamt der Republik – das war ein schwerer Schlag für die Demokratie. Was die begeisterte Rechte von Hindenburg erwartete, äußerte der DNVP-Fraktionsvorsitzende Kuno Graf Westarp unverblümt am 19. Mai 1925 im Reichstag: "Die 14,6 Millionen, die am 26. April unserer Parole gefolgt sind, haben damit ein Bekenntnis abgelegt, ein Bekenntnis zu dem Gedanken der Führerpersönlichkeit, ein

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 61

Bekenntnis zu jener Vergangenheit, die vor 1918 lag."

Hindenburg und die Monarchie

Aus einem Interview Hindenburgs mit einem US-Journalisten vom 21. April 1925

Frage: Im Ausland hat man den Gedanken aufgeworfen, ob durch Ihre Reichspräsidentschaft [...] eine Beunruhigung Europas eintreten könnte?

Antwort: Soweit dabei an militärische Dinge gedacht ist, kann ich versichern, dass mir als altem Soldaten die militärische Ohnmacht Deutschlands viel zu genau bekannt ist, als dass ich kriegerische Abenteuer irgendwie befürworten kann. [...]

Frage: Ihre Kandidatur wird vielfach als eine monarchistische aufgefasst. Wie denken Sie darüber?

Antwort: Einen plötzlichen Wandel der verfassungsmäßigen Grundlagen des Deutschen Reiches halte ich weder für möglich, noch für erwünscht; denn die dabei unvermeidliche Fehde würde dem Programm der inneren Eintracht widersprechen. Meine Herkunft aus einer monarchistischen Welt verleugne ich ebenso wenig, wie Herr Ebert seine Herkunft aus der alten sozialdemokratischen Kampf-atmosphäre verleugnet hat. Ein Reichspräsident, der allen Ständen und Gliedern des Volkes dienen muss, darf aber nicht Vertreter des Kampfgedankens irgendwelcher Klassen sein. Es ist völlig unwahr, dass ich mich mit Doorn über die Annahme meiner Kandidatur verständigt habe. Ich habe in dieser Frage keine Fühlung mit dem Hause Hohenzollern gehabt.

Aus einem Brief Hindenburgs an Wilhelm II. vom 27. November 1927

"Euer Majestät lege ich die inständige Bitte zu Füßen, davon überzeugt sein zu wollen, dass ich wie immer, so auch in den damaligen unglücklichen Tagen lediglich bemüht gewesen bin, Schaden und Nachteil vom Haupte meines Kaisers und Königs abzuwenden. Nur aus diesem Grunde musste ich nach gewissenhafter Prüfung schweren Herzens wohlgemeinten, aber nach Lage der Dinge unausführbaren Ratschlägen Anderer widersprechen und einen, wie ich glaubte, vorübergehenden Aufenthalt in Holland als bestes Mittel für oben erwähnten Zweck empfehlen. Von Euer Majestät missverstanden zu werden, ist mir altem Soldaten der größte Schmerz. Darum bitte ich vorbeugend daran erinnern zu dürfen, dass ich mein jetziges dornenvolles Amt nach langem Sträuben erst übernommen habe, nachdem man mich bei der Ehre fasste, und ich mich der Einwilligung Eurer Majestät versichert hatte. So verbleibe ich bis in ein nicht mehr fernes Grab in Treue und Ehrgefühl als Euer Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster v. Hindenburg, Generalfeldmarschall."

Walther Hubatsch (Hg.), Hindenburg und der Staat, Musterschmidt, Göttingen 1965, S. 188 und 46

Hindenburgs Amtsführung

Die von manchen gehegte Hoffnung, der neue Reichspräsident werde zur Festigung der Demokratie beitragen, denn er könne wie kein anderer die Monarchisten mit der Republik versöhnen, erfüllte sich nicht. Im Gegensatz zu Stresemann war und wurde Hindenburg kein "Vernunftrepublikaner". Vielmehr verstand er sich als Statthalter und Interessenvertreter der Hohenzollernmonarchie. Dieses Selbstverständnis – zu dem er sich freilich nur im Kreise seiner Vertrauten bekannte – erschließt sich aus vielen Verhaltensweisen und Amtshandlungen. Drei Beispiele:

• Noch 1925 brachte Hindenburg einen Gesetzentwurf der SPD zur Beschränkung der Ansprüche

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 62

der 1918 abgesetzten, aber nicht enteigneten Fürstenhäuser auf Rückgabe ihres Vermögens bzw. Entschädigung zu Fall, indem er das Gesetz für verfassungsändernd erklärte. Tatsächlich erlaubte Artikel 153 Abs. 2 WV auch entschädigungslose Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit mittels einfacher Gesetze.

• Ein Volksbegehren der KPD zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten, dem sich SPD und Gewerkschaften anschlossen und das in der Bevölkerung auf große Resonanz stieß, nannte der Reichspräsident einen "bedenklichen Verstoß [...] gegen die Grundlagen der Moral und des Rechts " und duldete die Verwendung dieses Zitats auf den Plakaten der Gegner des Volksbegehrens (DNVP, BVP, DVP, Zentrum und Kirchen), was einem Amtsmissbrauch gleichkam. Dennoch stimmten beim Volksentscheid am 20. Juni 1926 14,5 Millionen Bürger für die Fürstenenteignung. Die erforderlichen 21 Millionen Stimmen wurden aber nicht erreicht.

• Ende 1926 verhinderte Hindenburg ein Ausführungsgesetz zum Artikel 48 WV, das seine Diktaturvollmachten einschränken sollte. Gerade im Notfall, so schrieb er am 26. November an Reichskanzler Marx, sei es geboten, dem Reichspräsidenten "freie Hand zu lassen in der Wahl und in der Durchführung der [...] Abwehrmaßnahmen". Indem er vor "schweren Kämpfen im Reichstag" warnte, drohte er mit der Mobilisierung aller konservativ gesinnten Abgeordneten gegen den Gesetzentwurf.

Wenn Hindenburg es nicht für seine Aufgabe hielt, vorbehaltlos für die parlamentarisch-demokratische Republik einzutreten, so wurde er darin von seinen engsten Beratern bestärkt. Zu dieser "Kamarilla " gehörten u. a. Otto Meissner, Staatssekretär im Reichspräsidentenpalais, Elard von Oldenburg- Januschau, ein prominenter ostpreußischer Gutsbesitzer, und Hindenburgs Sohn Oskar, ein Reichswehroberst. Diese Präsidentenberater verfolgten gemeinsame politische Ziele: Überwindung des Versailler Vertrages (vor allem der Entwaffnungs- und Reparationsvorschriften), Wiederherstellung Deutschlands mindestens in den Grenzen von 1914, Beseitigung der Demokratie und des Einflusses der politischen Linken, Rückkehr zur Monarchie.

Dennoch schien die politische Stabilisierung weitere Fortschritte zu machen. So bekannte sich der angesehene Braunkohlen-Industrielle und stellvertretende Vorsitzende des RDI, Paul Silverberg, am 6. September 1926 in einer Aufsehen erregenden Rede auf einer RDI-Tagung klar zur Republik und empfahl sogar eine Regierungsbeteiligung der SPD.

Als aber der amtsmüde gewordene Reichswehrminister Geßler am 14. Januar 1928 zurücktrat, erlitt die Demokratie wieder einen Rückschlag: Als Nachfolger akzeptierte die amtierende Bürgerblock- Regierung Hindenburgs Wunschkandidaten, den parteilosen Generalquartiermeister a. D. . Von jetzt an befanden sich das Reichspräsidentenamt und das Reichswehrministerium sozusagen in der Hand der letzten kaiserlichen Obersten Heeresleitung. Durch die Förderung seines alten und neuen Chefs Groener stieg der frühere Major im Hauptquartier der OHL, Oberst Kurt von Schleicher, innerhalb weniger Jahre militärisch zum Generalleutnant und Leiter des Ministeramts auf; politisch wurde er als Vertrauter Hindenburgs der strategische Kopf der "Kamarilla".

Reichstagswahl 1928

Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 errangen die Sozialdemokraten einen klaren Wahlsieg, während die Deutschnationalen herbe Verluste erlitten. Dass die SPD als stärkste demokratische Partei in die Regierungsverantwortung zurückkehrte, während die stärkste republikfeindliche Partei, die DNVP, in die Opposition wechselte, schien die Republik zu festigen. Beunruhigend wirkten jedoch die beträchtlichen Einbußen der Mittelparteien, während die KPD und die Splitterparteien Mandate hinzugewannen. Die NSDAP, deren Parteiapparat Hitler nach seiner vorzeitigen Haftentlassung im Dezember 1924 wieder aufgebaut und reichsweit ausgedehnt hatte, erhielt nur zwölf Parlamentssitze.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 63

Nach langwierigen Verhandlungen bildete der neue Reichskanzler Hermann Müller (SPD) eine "Große Koalition" (SPD, Zentrum/BVP, DDP, DVP). Zwar verfügte sie im Reichstag über eine breite Mehrheit, aber in die Zusammenarbeit der Regierungsparteien waren quasi mehrere "Soll-Bruchstellen " eingebaut:

• Die SPD-Minister hatten in ihrer eigenen Partei keinen leichten Stand. Im Kabinett beschlossen sie den von ihren Koalitionspartnern verlangten Bau des neuen Panzerkreuzers A mit; im Reichstag mussten sie am 16. November 1928 mit ihrer Fraktion sowie der KPD dagegen stimmen. (Der Bau wurde mit den Stimmen aller Mittel- und Rechtsparteien von der DDP bis zur NSDAP beschlossen.) Hinzu kamen immer heftigere Angriffe der Kommunisten: Seit 1929 versuchte die KPD, den ADGB durch eine "Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition" (RGO) zu spalten; außerdem beschimpfte sie die in Preußen und im Reich regierenden Sozialdemokraten als " Sozialfaschisten" und erklärte sie zu ihrem "Hauptfeind". So geriet die SPD unter einen Rechtfertigungs- und Erfolgszwang; sie musste klar erkennbar die Interessen der Arbeitnehmer vertreten.

• Demgegenüber fühlte sich die DVP vorrangig den Interessen der Großindustrie verpflichtet – zum Leidwesen ihres Vorsitzenden Gustav Stresemann, der auf sozialen Ausgleich bedacht war. Nur mit großer Mühe hatte er die Widerstände in seiner Partei gegen eine Koalition mit der SPD überwunden. Als der überarbeitete und gesundheitlich angeschlagene Stresemann am 3. Oktober 1929 im Alter von nur 51 Jahren starb und Anfang Dezember der industrienahe Ernst Scholz an die Spitze der Partei rückte, verschärfte sich sogleich der wirtschafts- und sozialpolitische Streit im Kabinett.

• Auch im Zentrum hatte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein Rechtstrend eingesetzt, durch den der SPD-freundliche Arbeitnehmerflügel an Einfluss verlor. Deshalb konnte sich bei der Neuwahl des Parteivorsitzenden im Dezember 1928 der erzkonservative Prälat gegen den christlichen Gewerkschafter Adam Stegerwald durchsetzen.

• Unauffälliger verlief das allmähliche Abdriften der DDP nach rechts, mit dem die Partei unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Erich Koch-Weser auf ihren schleichenden Niedergang reagierte. Das Ausmaß der Rechtsentwicklung in der DDP wurde erst 1930 voll erkennbar.

Kampagne gegen den Young-Plan

Im Herbst 1929 entfesselte die deutsche Rechte, die die außenpolitischen Erfolge der Republik beharrlich ignorierte, gegen den Young-Plan die größte politische Propagandaaktion in der Geschichte der Weimarer Republik. Erstmals arbeitete dabei die seit Ende Oktober 1928 von dem Großverleger geführte DNVP mit Hitlers NSDAP zusammen. Hugenberg ließ seine auflagenstarken Zeitungen fast täglich Hetzartikel gegen den Young-Plan drucken – und immer öfter wohlwollende Berichte über die Nationalsozialisten. Auch finanzierte er den von DNVP, "Stahlhelm " (Bund der Frontsoldaten) und NSDAP gegründeten "Reichsausschuss" für ein Volksbegehren gegen den Young-Plan, der einen Entwurf für ein "Gesetz gegen die Versklavung Deutschlands" vorlegte.

Die erforderliche Unterschriftenzahl wurde knapp erreicht; beim Volksentscheid vom 22. Dezember 1929 stimmten dann nur 5,8 Millionen Wähler (statt der erforderlichen 21 Millionen) dafür. Die große Mehrheit der Bevölkerung sah infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit 1924 die Reparationsfrage mittlerweile gelassen. Am 12. März 1930 wurden die Young-Plan-Gesetze – trotz anhaltender Kritik von rechts, die im demonstrativen Rücktritt des Reichsbankpräsidenten gipfelte – von der Großen Koalition (mit Ausnahme der BVP) im Reichstag beschlossen.

Als Hauptnutznießerin der fehlgeschlagenen Anti-Young-Plan-Kampagne erwies sich die NSDAP. Mit

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 64

Hugenbergs Hilfe hatte Hitler es verstanden, sich reichsweit ins Gespräch zu bringen und nationalistisch zu profilieren. Auch außerhalb Bayerns besaßen die NSDAP-Führer jetzt Zutritt zu den "besseren Kreisen".

Kulturelle Blütezeit

Das Kriegs- und Revolutionserlebnis, der Durchbruch der Demokratie, aber auch der technische Fortschritt und nicht zuletzt amerikanische Einflüsse (Jazz-Musik, Filmkunst) gaben der kulturellen Entwicklung kräftige Impulse. Die Weimarer Republik setzte in der kurzen Zeit ihrer Existenz in beispielloser Weise künstlerische Energie und Kreativität frei. Kunsthistoriker zählen die Jahre zwischen 1918 und 1933 zur "Klassischen Moderne", denn die Vielfalt und Modernität ihrer Kunst- und Kulturformen – zwischenzeitlich vom NS-Regime unterdrückt – wirkten nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart hinein inhaltlich und formal anregend oder sogar prägend.

Die Weimarer Kultur blieb – bei fließenden Grenzen – stets mehrfach gespalten: in anspruchsvolle Kultur und Massenkultur, in avantgardistische und traditionalistische Strömungen, in proletarisch- revolutionäre, linksliberale, konservative und völkische bzw. nationalsozialistische Richtungen. Demzufolge wurden die politischen Auseinandersetzungen auch mit den Mitteln der Kunst ausgetragen.

Anspruchsvolle Kultur ereignete sich hauptsächlich auf den Feuilletonseiten der angesehenen liberalen, überregio-nalen Tageszeitungen ("Vossische Zeitung", ""), in literarisch- politischen Zeitschriften ("Die Weltbühne", "Neue Rundschau", "Die Linkskurve"), in Malerei und Architektur, Sprech- und Musiktheater, Konzert, Revue und Kabarett, Romanen und Gedichten. Expressionismus und Neue Sachlichkeit, aber auch klassische Traditionen und proletarisch- revolutionäre Kunst fanden dort ihr Publikum. Massenkultur fand vor allem im lokalen und regionalen Zeitungswesen, in Fortsetzungs- und "Groschenromanen", in den Fotoreportagen der neuartigen Illustrierten, in Schlager, Film und Rundfunk und in sportlichen Großveranstaltungen statt.

Den strahlenden Mittelpunkt des kulturellen Lebens bildete die Reichs- und preußische Landeshauptstadt Berlin, wo das Preußische Ministerium für Erziehung und Wissenschaft und die Preußische Akademie der Künste mit Kompetenz und Geld die moderne Kunst förderten.

Massenmedien

Unter den sich rasant entfaltenden Massenmedien behielt die Presse ihre Spitzenstellung: 1928 erschienen 3356 Tageszeitungen, davon 147 in Berlin. Nur 26 erreichten eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren, die "Berliner Illustrierte Zeitung" ("B. I. Z.") dagegen 1930 fast 1,9 Millionen.

In der Herstellung und Verbreitung von Filmen aller Art wurde Deutschland in Europa führend. Zahlreiche deutsche Produktionen erlangten internationale Anerkennung. Das Kinopublikum bestand zum größten Teil aus Jugendlichen, Arbeitern und kleinen Angestellten. Bereits 1925 kauften täglich zwei Millionen Menschen eine Kinokarte. Im Zuge der Umstellung auf den Tonfilm ab 1929 gewannen die im Beiprogramm gezeigten "Wochenschauen" an Attraktivität.

Wirtschaftskonzentration und steigende Kosten spiegelten sich auch in der Filmproduktion wieder: Die Zahl der Filmgesellschaften ging von 1922 bis 1929/30 von 360 auf drei (Ufa, Tobis, Terra) zurück, die der jährlich gedrehten Filme von 646 auf etwa 120. Anders als Rundfunk und Printmedien unterlag der Film einer staatlichen Zensur (Reichslichtspielgesetz vom 12. Mai 1920); viele Weimarer Politiker misstrauten den suggestiven Wirkungen dieses Mediums.

Der Rundfunk brachte die Kultur sogar direkt ins Haus. Anfang 1924 gab es erst 10.000 Rundfunkteilnehmer, 1932 bereits über vier Millionen (etwa ein Viertel der Haushalte), denen die Sender der 1926 gegründeten "Reichs-Rundfunk-Gesellschaft" Musikprogramme, Vorträge,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 65

Reportagen und Dichterlesungen anboten. Hier entstand auch das Hörspiel als neue literarische Gattung, durch die zahlreiche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erstmals bekannt wurden.

Neue Sachlichkeit

Neue Sachlichkeit war eine für die zweite Hälfte der 1920er Jahre besonders typische Kunstrichtung, die – beeinflusst von der Massenkultur und den neuen technischen Medien Film und Rundfunk – das damalige Lebensgefühl der Menschen, ihr nüchternes Streben nach Bewältigung des Alltags, auszudrücken versuchte. Der Begriff geht auf eine Ausstellung moderner Malerei in 1925 zurück. Künstler wie Max Beckmann, George Grosz, Otto Dix und andere präsentierten dort richtungweisende neue Arbeiten: gegenständliche Malerei mit alltäglichen Themen (oft Stillleben und Porträts). Darin zeigte sich eine Abkehr vom Expressionismus mit seinen Traum- und Phantasiewelten, verzerrten Formen und realitätsfernen Farbgebungen.

Da es zwischen den verschiedenen Sparten der Kunst strukturelle Entsprechungen – gemeinsame Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen – gibt, wurde Neue Sachlichkeit bald zum allgemeinen Begriff für eine konkrete, distanzierte künstlerische Auseinandersetzung mit der "greifbaren Wirklichkeit", die dem Inhalt den Vorrang vor der Form einräumte und das Schlichte gegenüber dem Ornamentalen bevorzugte.

Bauhaus

Zur führenden neusachlichen Künstlerschule wurde das 1919 in Weimar gegründete, 1925 nach umgezogene "". Es strebte eine Zusammenführung von Architektur, Malerei und angewandter handwerklicher Kunst an. Neben Architekten (Walter Gropius, Hannes Meyer, ) gehörten ihm daher auch Maler (Wassily Kandinsky, Paul Klee, Lyonel Feininger) und Gebrauchsdesigner (Marcel Breuer, Marianne Brandt) an; der Komponist Paul Hindemith und andere Dozenten hielten Gastvorlesungen. Bauhaus-Architektur zeichnete sich durch schlichte, funktionale Form, Stahl und Beton, offenes Skelett und große Glasflächen aus. Beispiele sind der Bauhaustrakt in Dessau, die Weißenhofsiedlung in Stuttgart und die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz. Bauhauskünstler entwarfen moderne, formschöne und funktionale Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände (zum Beispiel Sessel, Lampen, Küchenmöbel). Neusachliche Mode befreite die Frauen von Dutt, Korsett und fußlangen Röcken, die Männer von Stehkragen ("Vatermörder"), gestärkter Hemdbrust und Bart.

Theater und Literatur

Im Theater begann 1925 die Abkehr von expressionistischer Wirklichkeitsverzerrung und Sprachverstümmelung mit Carl Zuckmayers gefeiertem Volksstück "Der fröhliche Weinberg" (1925). Es entwickelte sich das neusachliche Zeit- oder Gesellschaftsstück, zum Beispiel Zuckmayers berühmte antimilitaristische Tragikomödie "Der Hauptmann von Köpenick" (1930).

Neusachliche Romane griffen historische Themen auf (Lion Feuchtwangers "Jud Süß" 1925), verarbeiteten kritisch das Weltkriegserlebnis (Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" 1929) oder spiegelten soziale Probleme (Hans Falladas "Kleiner Mann, was nun?" 1932) wider. Auch Erich Kästners heiter-ernste Kinderbücher ("Emil und die Detektive" 1929, "Pünktchen und Anton" 1931) lassen sich hier anführen. In Alfred Döblins Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" vermischten sich Einflüsse des Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit, amerikanischer Autoren (Upton Sinclair, John Dos Passos) und des Films (Schnitttechnik). Döblin nutzte beispielhaft alle Vermarktungsmöglichkeiten: 1929 erschien das Buch, 1930 das Hörspiel, 1931 der Film.

Die Lyrik der Neuen Sachlichkeit war vor allem "Gebrauchslyrik" (Kurt Tucholsky): Humorvolle, satirische Verse über Liebe, Alltag und Politik von Bertolt Brecht, Kästner, Walter Mehring, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Mascha Kaléko

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 66 und Werner Finck; als Gedichte oder Lieder, Bänkelsänge oder Balladen, insbesondere für das Kabarett, das sich großer Beliebtheit erfreute.

Musik und Film

Entsprechend handelte es sich bei neusachlicher Musik um "Gebrauchsmusik" (Hindemith): Antiromantisch, nüchtern bis verspielt, klar strukturiert, vom amerikanischen Jazz beeinflusst, meist geschrieben für Varieté, Kabarett, Kino und Revue. Besonders berühmt wurde die "Dreigroschenoper " (1928) von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik). Im Bereich der musikalischen Massenkultur entstand der deutsche Schlager – zum Teil mit witzigen Nonsenstexten –, durch den besonders die seit 1928 auftretende Gesangsgruppe "Comedian Harmonists" ("Veronika, der Lenz ist da", " Wochenend´ und Sonnenschein") rasch populär wurde. Von den Kapellen und Grammofonen in Cafés, Tanzlokalen und Nachtklubs hörte man zunehmend Jazz-Musik; man tanzte Shimmy und Charleston.

Auch im Film vollzog sich ein Wandel von den düsteren Visionen und schrillen Kulissen des Expressionismus (wie im "Kabinett des Dr. Caligari" von Robert Wiene 1919/20) zur Neuen Sachlichkeit. Deren wichtigster Regisseur wurde Georg Wilhelm Pabst: "Die freudlose Gasse" (1925) schilderte den moralischen Verfall von Menschen durch das Inflationselend.

Proletarisch-revolutionäre Kunst

Eine linksradikale Variante der Neuen Sachlichkeit verkörperte die proletarisch-revolutionäre Kunst. Sie entstand vor allem im 1928 gegründeten KPD-nahen "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands", der die Literaturzeitschrift "Die Linkskurve" herausgab. Ihm gehörten Brecht, Johannes R. Becher (später DDR-Kulturminister), Anna Seghers, Friedrich Wolf, Theodor Plivier und andere Autoren an. Neben reinen Propagandawerken zur Verherrlichung des Kommunismus entstanden künstlerisch beachtliche sozialkritische Werke, wie Seghers´ Erzählung " Aufstand der Fischer von St. Barbara" (1928) oder Pliviers Roman "Der Kaiser ging, die Generäle blieben" (1932). Brechts kapitalismuskritischer Film "Kuhle Wampe" (1932) wurde 1933 von den Nationalsozialisten sogleich verboten.

Konservativer Antimodernismus

Wie Nationalkonservative und Rechtsradikale die Weimarer Demokratie als "undeutsches", von den Siegermächten aufgezwungenes politisches System hassten und bekämpften, so lehnten sie die moderne Kunst als "Amerikanismus" ab oder brandmarkten sie gar als "Kulturbolschewismus". 1928 gründete die NSDAP einen "Kampfbund für deutsche Kultur", der eine Rückbesinnung auf deutsche Klassik, Heimatkunst und Volksmusik forderte. Wo Hitlers Partei an Landesregierungen beteiligt wurde, führte sie sogleich einen . In Thüringen ließ sie Ende 1930 siebzig Werke der modernen Malerei aus dem Weimarer Schloss entfernen. In Anhalt vertrieb sie im September 1932 das Bauhaus aus Dessau; nach Berlin umgesiedelt, musste es sich 1933 selbst auflösen.

Konservative Intellektuelle traten mit einflussreichen antidemokratischen Schriften hervor. In Ernst Jüngers viel gelesenem Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" (1920) wurde das Soldatentum als wahre Berufung des Mannes, der Krieg als schicksalhafte Prüfung eines Volkes hingestellt. Oswald Spenglers geschichtsphilosophisches Werk "Der Untergang des Abendlandes" (1918/1922), das in den meisten bildungsbürgerlichen Haushalten stand, deutete Kulturen als "höchste Lebewesen", zwischen denen es "immer nur um das Leben, den Triumph des Willens zur Macht" gegangen sei. Der prominente Staatsrechtler und Gegner des Parlamentarismus definierte Politik als kompromisslosen Kampf zwischen "Freund" und "Feind" ("Der Begriff des Politischen" 1927). Hans Grimms Roman " Volk ohne Raum" (1926) prägte und propagierte bereits mit seinem Titel nationalistisches und nationalsozialistisches Gedankengut. "Jungkonservative" Theoretiker entwickelten die Idee einer " konservativen Revolution": Da die Weimarer "Demoplutokratie" () die ewigen Werte des Zusammenhangs zwischen Mensch, Natur und Gott zerstört habe, müsse der Konservatismus selbst

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 67 revolutionär werden, um eine bewahrenswerte Ordnung erst wiederherzustellen. Die ideologische Schnittmenge zwischen Rechtsintellektuellen, Jungkonservativen und Nationalsozialisten bestand vor allem in den gemeinsamen Zielbegriffen der ständisch gegliederten "Volksgemeinschaft", des autoritären politischen "Führers" und des nichtmarxistischen "nationalen Sozialismus". Solches Ideengut erreichte einen beträchtlichen Teil der konservativen Oberschicht in Militär, Bürokratie, Hochschulen und Wirtschaft, der unter anderem im "Deutschen Herrenklub" organisiert war.

Zweifellos schlugen dem parlamentarisch-demokratischen System der Weimarer Republik und seinen Repräsentanten auch von links Abneigung und Hass entgegen. Priesen die Theoretiker und Propagandisten der KPD unermüdlich das Vorbild der Sowjetunion, so reimte man auf dem linken Flügel der SPD: "Die Republik, das ist nicht viel – der Sozialismus bleibt das Ziel!" Unabhängige Linksintellektuelle, namentlich der Kreis um die von Carl von Ossietzky herausgegebene Zeitschrift " Die Weltbühne", übten ätzende Kritik an politischen Missständen, persönlichen Unzulänglichkeiten einzelner Politiker und am demokratischen Kompromiss. Ihr Beitrag zur Destabilisierung der Republik war jedoch wesentlich geringer, da sie im Gegensatz zum Rechtsintellektualismus nicht das politische Denken derjenigen Kräfte beeinflussten, die ab 1930 die Regierungsgewalt zur Zerstörung der Demokratie missbrauchten.

Massenwirksamer als das Schrifttum der politischen Rechten wurden auffällige Veränderungen in der Filmkultur seit 1930. Zwar traten manche Filme nach wie vor für humane Werte ein, etwa "M – eine Stadt sucht einen Mörder" von Fritz Lang (1930/31) oder die (von der Zensur verbotene) deutsche Fassung der amerikanischen Remarque-Verfilmung "Im Westen nichts Neues" (1932). Aber zum einen wurden zunehmend reine Unterhaltungsfilme gedreht, allen voran "Der Blaue Engel" von Josef von Sternberg (1930), der Marlene Dietrich zum Weltstar machte. Zum anderen leisteten manche populäre Filme durch bestimmte Tendenzen dem Nationalsozialismus Vorschub: "Das Flötenkonzert von Sanssouci" (1930) und "Barberina, die Tänzerin von Sanssouci" (1931) verherrlichten den Krieg und den patriarchalischen Staatslenker. "Morgenrot" (1932/33), eine dramatische U-Boot-Episode aus dem Ersten Weltkrieg, feierte den soldatischen Heldentod.

Juden in Kultur und Wissenschaft

Das kulturelle Leben der Weimarer Republik war den von antisemitischen Ressentiments erfüllten Nationalkonservativen und Nationalsozialisten schon deshalb verhasst, weil es ihnen als von Juden beherrscht erschien. Richtig ist, dass sich die herausragenden Beiträge jüdischer Deutscher aus der Weimarer Kultur nicht wegdenken lassen. Josef von Sternberg, drei der sechs "Comedian Harmonists ", Arnold Schönberg und Kurt Weill, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Kurt Tucholsky und Carl Zuckmayer sind nur die prominentesten Namen. Auch in der Wissenschaft spielten sie eine große Rolle. Fünf von 15 deutschen Nobelpreisträgern waren Juden: Die Physiker (1921), James Franck (1925) und Gustav Hertz (1925) sowie die Mediziner Otto Meyerhof (1922) und Otto H. Warburg (1931). Indem das NS-Regime fast alle jüdischen Künstler und Wissenschaftler – wie auch viele ihrer links stehenden nichtjüdischen Kollegen – ins Exil trieb, aus dem die meisten von ihnen nicht mehr zurückkehrten, fügte es der deutschen Kultur einen unermesslichen Verlust zu.

Republikferne des Bürgertums

Wir lebten im Widerspruch, ohne besondere Zuneigung zu der immer wieder gedemütigten Republik, aber voller Sehnsucht nach Würde, Größe und Lebenssinn. [...] Die Versuchung zum Selbstbetrug, zur Flucht ins Illusionäre war groß.

[...] Es war nicht leicht, sich in jenen chaotischen Jahren nach 1918 zu orientieren, einen verlässlichen Halt zu finden. Man war nicht mehr Untertan SM (Seiner Majestät – Anm. d. Red.), man war Bürger einer Republik. Der Pflichtmensch, der in unverbrüchlichem Gehorsam, in streng geregelter militärischer und ziviler Disziplin nach einem sakrosankten moralischen Kodex unter dem Doppelgestirn

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 68 von Thron und Altar sein Lebenspensum absolvierte – dieser "Pflichtmensch" sah sich mit einem Mal einer Freiheit ausgesetzt, die ihm aus Willkür, Unordnung, Sittenlosigkeit zu bestehen schien.

Das bis dahin in einem übersichtlichen sozialen Raster gegliederte Volk, das im Wesentlichen aus Herrschaften und "Leuten", aus Standespersonen und Dienstpersonal, aus privilegierten Befehlshabern und abhängigem Proletariat bestand, hatte sich in eine anscheinend diffuse Masse von "Stimmberechtigten" verwandelt, die nach dem Verständnis der "besseren" Gesellschaft doch nur "Stimmvieh" waren, nach wie vor unmündig, der Führung bedürftig. Aber wo waren die zur Führung Legitimierten, die Garanten einer restaurierten gesellschaftlichen und sittlichen Ordnung? SM, soviel man auch an ihm auszusetzen hatte, war immerhin "von Gottes Gnaden" gewesen. Wer von den neuen Männern hatte die "Gnade"? [...]

Man liebäugelte aber auch mit den aus dem Kriege übrig gebliebenen Freikorps und befreundete sich schließlich mit den neuen militanten Formationen der NSDAP. Auch die Putschisten im Stile von Kapp durften auf Wohlwollen in der bürgerlichen Gesellschaft rechnen. Man war primär an der Ordnung, am formalen Recht interessiert; Gerechtigkeit rangierte an zweiter Stelle und wurde zumeist als Gleichmacherei missverstanden, als Nivellierung, als Niedergang der bürgerlichen Kultur.

Ich selbst, gespeist von der geistigen Tradition der vorrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft, ließ mich in jenen turbulenten Jahren allzu leicht bezaubern von formaler Größe, ästhetischer Ordnung, moralischer Disziplin. Von daher erklärt es sich wohl, dass ich, vorübergehend, vom Glanz des Stahlgewitters Ernst Jüngers geblendet und von seinen Mythologimena betört wurde. Ein Schulfreund hatte mich angesteckt. Wir schwafelten viel vom "Heldischen", vom "Heroischen". Der Krieg, die Niederlage wurde von uns nicht reflektiert, sondern als "nibelungischer" Untergang mythologisiert. Wir träumten vom verborgenen Reich und einem heimlichen geistigen Führer, der auf seine Stunde wartete. [...]

Mein politisches Interesse war unterentwickelt. In der Zeitung, der nationalliberalen Täglichen Rundschau, die damals zweimal am Tage erschien, interessierte mich ausschließlich der kulturelle Teil, das Feuilleton. Auch meinem Freundeskreis fehlte das politische Organ. Wir waren, unserer Herkunft nach, selbstverständlich "national", aber ohne bewusst staatsbürgerliche Gesinnung; zu fein für die banale Demokratie. Wir verkannten, um nicht zu sagen verachteten, die sich im Alltagsgeschäft beschmutzenden Demokraten. Man konnte damals wahrlich keinen Ruhm und nur wenig Ehre im Existenzkampf der von allen Seiten, von den radikalen Rechten wie von den extrem Linken, befehdeten Republik gewinnen. [...]

Heinz Flügel, "Wir träumten vom verborgenen Reich", in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 175 ff.

Krieg als Bewährungsprobe?

Noch wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns. Der gewaltigste der Kriege ist uns noch zu nahe, als daß wir ihn ganz überblicken, geschweige denn seinen Geist sichtbar auskristallisieren können. Eins hebt sich indes immer klarer aus der Flut der Erscheinungen: Die überragende Bedeutung der Materie. Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet. Die Verbände wurden wieder und wieder an den Brennpunkten der Front zur Schlacke zerglüht, zurückgezogen und einem schematischen Gesundungsprozeß unterworfen. "Die Division ist reif für den Großkampf."

Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete. Nachts wälzten sich müde Kolonnen auf zermahlenen Straßen dem brandigen Horizont entgegen. "Licht aus!" Ruinen und Kreuze säumten den Weg. Kein Lied erscholl, nur leise Kommandoworte und Flüche unterbrachen das Knirschen der Riemen, das Klappern von Gewehr und Schanzzeug. Verschwommene Schatten tauchten aus den

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 69

Rändern zerstampfter Dörfer in endlose Laufgräben.

Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompagnien. Das wäre Hohn gewesen. Keine Fahnen schwammen wie einst im Pulverdampf über zerhackten Karrees, das Morgenrot leuchtete keinem fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben. Selten umwand der Lorbeer die Stirn des Würdigen.

Und doch hat auch dieser Krieg seine Männer und seine Romantik gehabt! Helden, wenn das Wort nicht wohlfeil geworden wäre. Draufgänger, unbekannte, eherne Gesellen, denen es nicht vergönnt war, vor aller Augen sich an der eigenen Kühnheit zu berauschen. Einsam standen sie im Gewitter der Schlacht, wenn der Tod als roter Ritter mit Flammenhufen durch wallende Nebel galoppierte. Ihr Horizont war der Rand eines Trichters, ihre Stütze das Gefühl der Pflicht, der Ehre und des inneren Wertes. Sie waren Überwinder der Furcht; selten ward ihnen die Erlösung, dem Feinde in die Augen blicken zu können, nachdem alles Schreckliche sich zum letzten Gipfel getürmt und ihnen die Welt in blutrote Schleier gehüllt hatte. Dann ragten sie empor zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der Gräben, Meister des Sprengstoffs. Dann wüteten ihre Urtriebe mit kompliziertesten Mitteln der Vernichtung.

Doch auch wenn die Mühle des Krieges ruhiger lief, waren sie bewundernswert. Ihre Tage verbrachten sie in den Eingeweiden der Erde, vom Schimmel umwest, gefoltert vom ewigen Uhrwerk fallender Tropfen. Wenn die Sonne hinter gezackten Schattenrissen von Ruinen versank, entklirrten sie dem Pesthauch schwarzer Höhlen, nahmen ihre Wühlarbeit wieder auf oder standen, eiserne Pfeiler, nächtelang hinter den Wällen der Gräben und starrten in das kalte Silber zischender Leuchtkugeln. Oder sie schlichen als Jäger über klickenden Draht in die Öde des Niemandslandes. Oft zerrissen jähe Blitze das Dunkel, Schüsse knallten, und ein Schrei verwehte ins Unbekannte. So arbeiteten und kämpften sie, schlecht verpflegt und bekleidet, als geduldige, eisenbeladene Tagelöhner des Todes. [...]

In Stahlgewittern. Vorwort, Hannover 1920, in: Ernst Jünger. Politische Publizistik 1919-1933. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, S. 9 f.

Aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 261) - Kampf um die Republik 1919-1923 (2011)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 70

Die nationalsozialistische Bewegung in der Weimarer Republik

Von Hans-Ulrich Thamer 6.4.2005 geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.

Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.

In vielen Ländern Europas entwickelten sich infolge des Ersten Weltkrieges, durch das italienische Vorbild bestärkt, faschistische Bewegungen. Auch die Keimzeit der NSDAP fällt in diese Phase. Der krisenhafte Charakter der jungen Republik verhalf ihr zum Aufstieg.

Einleitung

Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus standen ebenso in einem nationalgeschichtlichen wie in einem europäischen Zusammenhang. Zunächst war der Nationalsozialismus ein Produkt der deutschen Geschichte. Er war eine Folge der politischen und sozialen Spannungen im verspäteten deutschen Nationalstaat des Kaiserreichs, die dann durch Verlauf und Folgen des Ersten Weltkriegs entscheidend verschärft wurden. Diese Spannungen wurden zur Erblast der Weimarer Republik und gehörten zu den Voraussetzungen für den Aufstieg der antidemokratischen, nationalsozialistischen Massenbewegung und ihres Bündnisses mit den konservativen Machteliten. Geprägt durch das Kaiserreich wollten sie keinen Frieden mit der neuen parlamentarischen Demokratie.

Das deutsche Kaiserreich war "Schauplatz des klassischen Modernisierungsdilemmas" (Hans-Ulrich Wehler): Einem rasanten industriewirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß standen starke soziale und politische Beharrungskräfte gegenüber. Solche Gegensätze gab es zwar anderswo auch, doch nirgends traten sie so massiv und auf den kurzen Zeitraum eines halben Jahrhunderts zusammengedrängt auf. Der 1871 unter monarchischen und militärischen Vorzeichen im Vergleich zu anderen Ländern verspätet gegründete deutsche Nationalstaat stand gleich vor mehreren Aufgaben und Belastungsproben. Neben dem Ausbau einer Reichsverwaltung standen vor allem die Begründung und Weiterführung einer demokratisch-parlamentarischen Verfassungsordnung an, die die politische Mitwirkung der Gesellschaft und damit auch deren Integration in den neuen Nationalstaat herstellen mußte, damit dieser auch ein Staat der Bürger würde. Diese Parlamentarisierung ist bekanntlich gescheitert und mit ihr auch der politische Liberalismus, der eigentliche Träger der Verfassungsbewegung. Er unterlag einem mehrfachen Druck von außen:

• Durch den populären Reichskanzler , der Reichstag und Parteien durch Massenmobilisierung und Staatsstreichdrohung ausschaltete;

• durch die Arbeiterbewegung, die zu einer Massenbewegung wurde und die soziale Frage zu einem Instrument ihrer Fundamentalopposition machte und

• durch die ökonomische Depression der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Diese führte zu einem System des Protektionismus und einer Sammlungspolitik von Großlandwirtschaft und Großindustrie, die einer starren Politik des Machterhaltes den Vorrang vor möglichen Öffnungen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 71

und gesellschaftlichen Reformen gab.

So war Deutschland zwar um die Jahrhundertwende zur führenden Industriemacht geworden mit einem beträchtlichen wirtschaftlichen Wachstum und einer schrittweisen Verbesserung der materiellen Situation auch der Industriearbeiterschaft. Aber dieser Aufschwung vollzog sich im Gehäuse des überkommenen preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates, der kaum reformfähig war.

Auch wenn das Bürgertum auf kommunalpolitischer Ebene, in Wirtschaft und Kultur großen Einfluß hatte, Erfolge erzielte und bürgerliche Normen und Maßstäbe durchsetzen konnte, gaben weiterhin die alten Gruppen den Ton im politisch-sozialen Herrschaftsbereich an: Der Hofadel und der grundbesitzende Adel, der auch das Militär dominierte, sowie eine machtbewußte Bürokratie; dazu kleine Gruppen des Besitz- und Bildungsbürgertums, Industrielle, Bankiers und Professoren, die sich zunehmend der Lebensweise des Adels annäherten. Einig war man sich in der des Emanzipationsanspruches der Arbeiterschaft, deren politische Vertretung in Gestalt der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Demokratie und Sozialstaat weiter entwickeln wollte. Einig war man sich bei den traditionellen Eliten und in den erwähnten Gruppen des Bürgertums darum auch in der Blockade weiterer Parlamentarisierung und Demokratisierung, um nicht den Sozialdemokraten und Linksliberalen zuviel Raum zu geben.

So konnte sich im kaiserlichen Deutschland weder eine gefestigte liberal-demokratische politische Kultur entfalten noch ein demokratischer Nationalismus. Vielmehr behaupteten sich hier Reste älteren Bewußtseins, die in einem Sozialideal gipfelten, das der Schriftsteller einmal ironisch mit dem Titel "General Dr. von Staat" charakterisiert hat. Mehr noch, der deutsche Nationalismus übernahm aggressive, imperialistische und militaristische Züge, die von einer Ausgrenzungsstrategie gegen die sogenannten "Reichsfeinde" bestimmt waren und aus der Einkreisungsangst der Mittellage in Europa die Forderung nach einem starken Staat inmitten einer Welt von vermeintlichen Feinden ableiteten. Zu den "Reichsfeinden" gehörten aus der Sicht dieses Nationalismus anfänglich nur Katholiken, dann vor allem Polen und Sozialdemokraten und später zunehmend auch deutsche Juden.

Folgen des Weltkrieges

Als sich der Erste Weltkrieg in den Schützengräben festgefressen hatte, erlebte die deutsche Gesellschaft im Inneren nicht nur schwere materielle Bedrückungen, sondern verschärfte soziale Konflikte, neue Formen der staatlichen Intervention und der organisierten Kriegswirtschaft. Vor allem aber vollzog sich der Eintritt breiter Schichten in das politische Leben unter den Vorzeichen eines militanten Nationalismus, einer verschärften politischen Polarisierung, die das Freund-Feind-Denken der Weimarer Republik vorwegnahm und zu einer Brutalisierung des politischen Verhaltens führte. Der Schock über die unerwartete militärische Niederlage des Deutschen Kaiserreichs und den damit verbundenen Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 führte nicht zu einem Abbau autoritärer Verhaltensweisen und langfristig nicht zu einem Mentalitätswandel, der zu einer Befestigung der jungen Demokratie hätte beitragen können. Im Gegenteil, bei der Mehrheit der Deutschen bewirkten Krieg und Niederlage, Zusammenbruch und Revolutioeine Radikalisierung älterer Einstellungen und verstärkten die Suche nach Sündenböcken.

Mit der sogenannten Dolchstoßlegende bot sich eine propagandistisch wirksame Erklärung für die nationale Demütigung an. Nach dieser Legende ist ein Teil der von der politischen Linken angeblich aufgehetzten Heimatbevölkerung dem im Felde unbesiegten Frontheer in den Rücken gefallen und hat damit die Niederlage verursacht. Mit derartigen Erklärungen konnten die alten Eliten und die deutsche Rechte leicht von den eigentlichen Ursachen des deutschen Zusammenbruchs ablenken, die primär im politisch-sozialen System lagen. Es war verhängnisvoll für die weitere politische Entwicklung, daß die Empörung über den als Diktat empfundenen Versailler Vertrag in der öffentlichen Diskussion in Deutschland die fällige Selbstkritik an der wilhelminischen imperialistischen Politik der Vorkriegs- und Kriegsjahre weitgehend verdrängte. All das belastete die ungeliebte Republik von

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 72

Weimar. Hinzu kam, daß die Republik selbst politisch und materiell wenig Glanz, dafür um so mehr Krisen und Elend zu bieten hatte.

Die Krise der Weimarer Demokratie, die schließlich in die Staats- und Wirtschaftskrise der Jahre 1930 bis 1932 und zur nationalsozialistischen Machtergreifung führen sollte, hatte zugleich eine europäische Dimension. Überall stellte der Erste Weltkrieg, die "Urkatastrophe unseres Jahrhunderts" (George Kennan), die europäischen Staaten und Gesellschaften vor schwere materielle und soziale Belastungen und führte zu einer politischen Mobilisierung und Radikalisierung. Auf den politischen Flügeln entstanden radikale Parteien. Sie waren radikal nationalistisch dort, wo man die Ergebnisse der Friedenskonferenzen von Versailles und den anderen Pariser Vororten nicht hinnehmen wollte. Daneben wurden vor allem aber in vielen Staaten Europas linkssozialistische und kommunistische Bewegungen gegründet, die zur sozialen Revolution aufriefen. Die Mobilisierung durch den industriellen Großkrieg und die sozialen und materiellen Folgen der Demobilisierung nach dem Krieg führten überall zu Massenprotesten, mitunter zu sozialvolutionären Umverteilungsaktionen bis hin zu Land- und Fabrikbesetzungen wie beispielsweise in Norditalien.

Die politische Mobilisierung erfaßte soziale Gruppen, die bislang am politischen Leben kaum beteiligt waren und nun auf Teilhabe drängten. Das stellte sowohl die Parteien als auch die Verfassungsordnung vor neue Herausforderungen. Die Ausweitung bzw. Veränderung des Wahlrechts 1918 (z.B. Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts und Einführung des Frauenwahlrechts) zwang die alte politische Klasse, sich an neue Gesichter, neue politische Auswahlverfahren bzw. an einen neuen politischen Stil anzupassen. Politische Entscheidungen konnten nicht länger nur in den Kabinetten oder in den bislang von bürgerlichen Eliten beherrschten Parlamenten getroffen werden, sondern gerieten unter den Druck der Agitation auf der Straße und von paramilitärischen Verbänden. Hinzu kam die Bedrohung durch die kommunistische Revolution, die mit der Forderung nach einer Diktatur des Proletariats die bürgerlichen Ordnungen Westeuropas herausforderte und auch die reformistischen sozialistischen Parteien in Bedrängnis brachte soe zur verhängnisvollen Spaltung der Arbeiterbewegung führte.

Faschistische Bewegungen in Europa

Die revolutionäre Nachkriegskrise führte in vielen europäischen Staaten zur Bildung von extrem nationalistischen, faschistischen Protest- und Kampfbewegungen, die sich durch eine militante antiliberale, antimarxistische und teilweise auch antibürgerliche Haltung hervortaten. Sie propagierten jenseits der parlamentarischen Debatte politischen Kampf und Gehorsam, terroristische Einschüchterung und politische Gewalt als Inhalt von Politik und praktizierten sie mit ihren nach der Hemdfarbe ihrer Uniformen benannten Parteiarmeen der Schwarz-, Braun- oder Grünhemden.

Ihr Vorbild war die italienische faschistische Bewegung von Benito Mussolini, der seine "Fasci di combattimento" 1919 gegründet und mit den faschistischen Sturmtruppen (Squadren) seit 1920/21 im Norden des Landes durch politischen Terror zunehmend eine Art Nebenregierung errichtet hatte. Mit seinem "Marsch auf Rom", der mehr ein inszeniertes Propaganda- und Drohmanöver als eine wirkliche Putschaktion darstellte, war er schon 1922 als Chef einer konservativen Koalitionsregierung an die Macht gekommen, die er bis 1925 zu einer faschistischen Führerdiktatur ausbaute. Auch die frühe Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) orientierte sich am politischen Stil des italienisches Vorbildes, bis nach Hitlers Machtergreifung 1933 der Nationalsozialismus zum neuen Zentrum autoritärer und faschistischer Bewegungen bzw. Regime der dreißiger Jahre werden sollte.

Vergleicht man die Erfolgschancen der faschistischen Bewegungen und Grüppchen, die sich in Frankreich ebenso finden wie in Spanien, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien oder in England, dann lassen sich wichtige Voraussetzungen für den Durchbruch zur Massenbewegung bis hin zur Regierungsbeteiligung der europäischen Faschismusbewegungen bestimmen: Massenwirksamkeit und politische Erfolge erreichten sie dort, wo das überkommene bürgerlich-liberale Parteiensystem nicht mehr zur stabilen Mehrheitsbildung fähig war und eine starke Linksbewegung das bürgerliche

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 73

Lager verunsichert hatte.

Erfolgreich waren sie auch dort, wo zu den politisch-sozialen Krisen noch Belastungen der nationalen Identität durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und eine Friedensregelung hinzukamen, die als nationale Schmach und als Herausforderung zu einer radikalen Revisionspolitik empfunden wurde. Hier boten sich die faschistischen Bewegungen als militante Hilfstruppen dem verunsicherten bürgerlichen Lager an und versuchten dieses dann durch die Dynamik der eigenen Massenbewegung zu überspielen.

Diese Bündelung verschiedener Problemkonstellationen finden wir vor allem in Italien und Deutschland, zwei spät gebildeten Nationen mit starken inneren Spannungen. Nur hier konnten die faschistisch- nationalsozialistischen Bewegungen zu einer Massenbewegung anschwellen und zu einem eigenständigen politischen Machtfaktor werden, der ihnen dann im Bündnis mit konservativen Parteien und Gruppen den Weg zur Macht öffnete.

In anderen westeuropäischen Ländern blieben die faschistischen Bewegungen Splitterparteien, da sich die liberale Verfassungsordnung als stabil erwies. In den südosteuropäischen Regionen war die allgemeine politische Mobilisierung noch nicht so weit vorangeschritten, daß sich die traditionellen Eliten verunsichert fühlten und nach einem Bündnis mit der jeweiligen radikalen faschistischen Bewegung ihres Landes Ausschau hielten.

Demgegenüber war der Erfolg von Mussolini und Hitler mit ihren Parteien Folge von langfristigen Strukturveränderungen, die zwar unterschiedlich ausgeprägt waren, aber in beiden Ländern nicht mehr durch ein gestärktes nationales Selbstwertgefühl kompensiert werden konnten. Fühlte man sich in Italien nach 1919 um den Sieg betrogen, so richteten sich in Deutschland die Kampagnen, die unter dem Schlagwort des "Dolchstoßes" gegen die sogenannten "Novemberverbrecher" wie gegen die Weimarer Republik geführt wurden, deren "Erfüllungspolitik" man als Verrat "nationaler Interessen " und als politische Schwäche bekämpfte.

Belastungen der Weimarer Republik

Die Weimarer Republik hatte es schwer, als neue politische und gesellschaftliche Ordnung von der Mehrheit der Deutschen anerkannt zu werden. Zu schwer wogen die Erblasten, die sie vom Kaiserreich übernehmen mußte und die sie in der kurzen Zeit ihrer Existenz kaum abbauen konnte: Ein obrigkeitsstaatliches Politikverständnis und eine autoritär geprägte politische Kultur, dazu ein zunehmend militantes antidemokratisches Denken, das auch das zivile Leben mehr und mehr prägte; ferner mangelnde Erfahrung mit demokratisch-parlamentarischen Entscheidungsprozessen und eine scharfe Abneigung gegen politische Kompromisse und Koalitionen unter den Parteien; die Orientierung der Parteien an den Weltanschauungsgeboten, die ihrer Kompromißbereitschaft enge Grenzen zogen. Das alles förderte die Neigung zu einer überparteilichen bürokratischen Form der Politik, die man lieber Fachleuten und Beamten anvertraute als den ungeliebten Parteien.

Schließlich förderten die materiellen und sozialen Belastungen durch fast permanente ökonomische Krisen eine Polarisierung der überkommenen Klassengesellschaft. Tiefe Gräben trennten darum die politischen Lager der Weimarer Republik, und sie wurden im Verlauf ihrer Geschichte noch tiefer. Das Freund-Feind-Denken wurde zu einem vorherrschenden politischen Schema. Die Weimarer Republik wurde zu jedermanns "Vorbehaltsrepublik": Für die einen trug sie den Makel einer Geburt aus Niederlage und Revolution. Das machte sie reaktionären und restaurativen Kräften in Politik, Wirtschaft, Militär und Verwaltung verhaßt. Strebten die traditionelleren Gruppen, die vor allem in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) ihre politische Heimat fanden, darum zurück zur Monarchie, so bot die Republik der militanten neuen Rechten einen Vorwand zur Agitation für eine nationale Diktatur. Für die andern, die politische Linke, waren die Strukturreformen, zu der die Republik anfangs noch die Kraft hatte, nicht weit genug gegangen, wadem Radikalismus von links in der Unabhängige Sozialdemokratischen Partei (USPD) 1919 und später in der Kommunistischen Partei Deutschlands

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 74

(KPD) verstärkten Zulauf aus dem Lager der Enttäuschten sicherte.

Die Weimarer Republik hatte am Anfang durchaus Chancen. Das beweisen die Wahlergebnisse zur Nationalversammlung vom Januar 1919, bei denen 76,1 Prozent der Wähler sich für demokratische Parteien entschieden. Aber die neue Verfassungsordnung hätte Zeit gebraucht, um eine demokratische politische Kultur zu befestigen. Und sie hätte günstige ökonomische und politische Rahmenbedingungen gebraucht, um die Folgen von Krieg und Inflation zu überwinden. Beides aber hatte die Weimarer Republik nicht. So blieben viele Reformen und Leistungen im sozialpolitischen Bereich, aber auch in der Außen- und Wirtschaftspolitik stecken und kurzfristig ohne Wirkung.

Als aber der wirtschafts- und sozialpolitische Ausgleich, den die Republik 1919 ansatzweise realisiert hatte, bald vollends zerbrach und vor allem einflußreiche Kräfte der Großlandwirtschaft sowie Teile der Großindustrie die ersten schweren innen- und außenpolitischen Krisenjahre nutzten, um gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Weimarer Koalition Sturm zu laufen, waren die Chancen verspielt. Nun schlugen die antiparlamentarischen Vorbehalte in antidemokratische Politik um. Unter den ungünstigen Bedingungen, mit denen die Republik vor allem in ihren Anfangs- und Schlußjahren von 1919 bis 1923 und dann von 1929 bis 1933 zu ringen hatte, wurden die langfristigen politischen und sozialen Belastungen zu einer Bürde, an denen die pluralistische Demokratie zerbrach.

Verschärft wurde die innenpolitische Polarisierung von Anfang an durch die außenpolitischen Belastungen, die mit dem Namen Versailles verbunden sind. Auch wenn die tatsächlichen außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Auflagen und Verluste gemessen an den viel weitergehenden Forderungen einiger Siegermächte noch moderat waren und sich mittelfristig mit einer klugen Politik durchaus hätte korrigieren lassen, so lagen die eigentlichen Belastungen mehr im kollektivpsychologischen Bereich, in dem verbreiteten Gefühl nationaler Demütigung. Denn die deutsche Großmachtposition war in ihrer Substanz noch erhalten und die internationalen Verhältnisse boten die Chancen zu einer friedlichen, aber eben auch zu einer aggressiven Politik der Revision der internationalen Nachkriegsordnung und der dort diktierten deutschen Gebietsabtrennungen vor allem an Polen und Frankreich.

Für sich genommen wäre jeder Belastungsfaktor erträglich gewesen. Erst ihre Bündelung wurde zu einer Gefahr für die Republik, die sich seit der Wahl des populären Weltkriegsgenerals Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten 1925 stärker nach rechts bewegte. Das gab jenen Kräften Auftrieb, die einen Verfassungswandel weg von Parlamentarismus und Sozialstaat hin zu einem autoritären Verwaltungsstaat anstrebten. Verstärkt wurden solche Bemühungen durch die Krise des Parteiensystems selbst, das immer weniger zu notwendigen Kompromissen und Kursänderungen im Bereich der Finanz- und Sozialpolitik fähig war. Die Rede war von einem "Hindenburg-Kabinett", das ohne die Sozialdemokraten mit den Mitteln des Notstandsartikels 48 der Weimarer Verfassung einen Schritt in Richtung eines neuen starken Staates gehen sollte.

Weltwirtschaftskrise

Im Winter 1929/30 wurde Deutschland von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise erfaßt. Ab September 1929 stieg die Zahl der Arbeitslosen innerhalb eines Jahres von 1,3 auf 3 Millionen. Im September 1932 lag die Zahl bei 5,1 Millionen und überstieg Anfang 1933 die Sechs-Millionen-Grenze. Damit war jeder dritte deutsche Arbeitnehmer arbeitslos. Diese Krise und die ungelösten Finanzprobleme des Deutschen Reiches eröffneten die Chance zu einer Verformung der Verfassung im autoritären Sinne. Fast alle Parteien, vor allem auch die der bürgerlichen Mitte, rückten ein Stück weit nach rechts. Das kam in Führungswechseln, aber vor allem in ihrem politischen Stil zum Ausdruck. In der Zentrumspartei bedeutete die Wahl von Prälat Ludwig Kaas bereits 1928 einen solchen Rechtsruck. Nach dem Tode von Gustav Stresemann 1929 erhielten in der Deutschen Volkspartei (DVP) Interessen der Schwerindustrie das alleinige Sagen. In der DNVP dominierten nun die Kreise, die mit der Wahl des nationalistischen Großverlegers Alfred Hugberg zum Parteivorsitzenden gegen die vorübergehende Annäherung an die bürgerliche Regierungsmehrheit und für die Rückkehr zu

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 75 einem scharfen Oppositionskurs gegen die Republik eintraten.

Die Parteien organisierten sich zusätzlich in Kampfbünden, die auf der Straße agitierten und ihre militante Bereitschaft zu Entschlossenheit und Kampf demonstrieren sollten, sei es für oder gegen die Republik. Das reichte bis zur republikanischen Wehrorganisation "Reichbanner Schwarz-Rot-Gold " und dem "Jungdeutschen Orden", dem sich die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) anschloß. Auf der Rechten gab es schon längst die zahlreichen Wehrverbände und Kampfbünde, unter denen der "Stahlhelm" eine große Nähe zum politischen Establishment aufwies und die SA als paramilitärische Einrichtung der NSDAP vor allem in den zunehmenden Straßenkämpfen mit dem kommunistischen "Rotfrontkämpferbund" die spektakulärsten Auftritte inszenierte. Es war eine schleichende Militarisierung des politischen Lebens, in dem die Verfassungsnormen einer parlamentarischen Demokratie immer mehr durch Muster eines gewaltbereiten Aktionismus ersetzt wurden. Die Militanz der SA fiel allenfalls noch durch ihre besondere Radikalität auf, ansonsten aber war bereits eine gewisse Gewöhnung an einen veränderten politischen Stil eingetreten.

Nun erwies sich der Notstandsartikel 48 der Weimarer Verfassung, der dem demokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert bis 1925 zur Stabilisierung der parlamentarischen Verfassung gedient hatte, als Hebel für eine Verfassungsrevision. Reichskanzler Heinrich Brüning vom Zentrum (1930 bis 1932), der selbst den Parlamentarismus beschneiden wollte und mit einer Rückkehr zur Monarchie liebäugelte, konnte sich noch auf die Tolerierung durch die Mehrheit im Reichstag stützen. Diese sah in einer Präsidialregierung angesichts der drohenden Polarisierung von den politischen Flügeln her und vor allem angesichts der nationalsozialistischen erdrutschartigen Wahlerfolge vom September 1930 immer noch das kleinere Übel. Brüning begab sich aber immer mehr in Abhängigkeit vom Reichspräsidenten und von den Machtgruppen vorwiegend aus Reichswehr und Großagrariern, die unmittelbaren Einfluß auf den "alten Herrn", Reichspräsident Hindenburg, hatten. Damit wurde Brüning zum "ersten Kanzler der Auflösung der Weimarer Republik" (rl Dietrich Bracher), dem mit und Kurt von Schleicher Exponenten eines entschieden autoritären Kurses folgten, die Parteien und Parlament gänzlich ausschalten wollten.

Präsidialregierungen

Mit der Wende zum autoritären Staat, die mit der Regierung Brüning 1930 ihren Ausgang nahm und unter dem Nachfolger Franz von Papen 1932 ihren Höhepunkt erlebte, verband sich die Geschichte der NSDAP und die Auflösung der Weimarer Republik. Die autoritäre Verformung der Verfassung, die durch die mangelnde Konsensfähigkeit der verfassungstreuen Parteien begünstigt wurde, ging dem Aufstieg des Nationalsozialismus voraus. Sie war keineswegs eine bloße Abwehr- und Notreaktion auf die zunehmende antidemokratische Massenagitation sowie die schwere ökonomische Krise mit der dramatischen Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die Krise wurde von den Trägern der "Hindenburg- Kabinette" vielmehr für ihre politischen Absichten genutzt. Die Weimarer Republik war im Kern bereits gescheitert, als der Durchbruch der NSDAP zur Massenbewegung im September 1930 die politische Landschaft veränderte. Nicht Hitlers Wahlerfolge und die Massenarbeitslosigkeit verursachten die Krise des parlamentarischen Systems, sondern die beiden Faktorenonnten, indem sie sich wechselseitig verstärkten, ihre Wirkung erst entfalten, als die Auflösung der Weimarer Demokratie bereits im Gange war.

Schon bei den Verhandlungen, die zur Bildung der Präsidialregierung Brüning hinter den Kulissen geführt worden waren, hatten sich die Strukturprobleme der künftig "halbparlamentarischen, halbpräsidialen Regierung" (Martin Broszat) abgezeichnet: Sie sollte nicht mehr von den Parteien abhängig sein, sondern stattdessen von einem als Vertrauensmann des Reichspräsidenten handelnden Fachmann gebildet werden. Aber sie war weiterhin auf die Duldung im Reichstag angewiesen, weil dieser nach wie vor das verfassungsmäßige Recht hatte, auch Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 wieder aufzuheben. Umgekehrt war es ein verführerischer Gedanke, den die Verfassung zudem nahelegte, den Reichstag durch Vertagung oder Auflösung zu umgehen. Dies hatte Brüning bereits bei der Vorlage seiner ersten Notverordnung im Juni/Juli 1930

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 76 ausgenutzt und den widerspenstigen Reichstag ohne Not aufgelöst.

Als bei den Septemberwahlen 1930 die NSDAP ihre sensationellen, aber durchaus vorhersehbaren Erfolge erzielte, schrumpften die Handlungsspielräume sowohl der Regierung als auch der anderen Parteien. Der abschüssige Weg zu einer schrittweisen, am Ende von den konservativ-autoritären Kreisen aus Politik, Reichswehr, Bürokratie und Großwirtschaft durchaus gewollten Auflösung der demokratischen Verfassungsordnung war beschritten. Die Bildung der Regierung Papen 1932 konnte dann von Hindenburg zufrieden als eine Regierung ohne republikanische Minister begrüßt werden. Denn die Regierung wurde von der einstigen nationalen Opposition gebildet, die nun meinte, sich bei der Etablierung eines "hochkonservativ-autoritären Regiments" (Broszat) auf die Nationalsozialisten gleichsam als Fußtruppen stützen zu können, was die revolutionäre Dynamik der nationalsozialistischen Massenbewegung und den diktatorischen Herrschaftsanspruch ihrer Führer dramatisch unterschätzte.

Mit den weiteren Wahlerfolgen der extremen Parteien einher ging die Bereitschaft von Repräsentanten des neuen Kurses, sich auch mit Hitlers Massenpartei einzulassen und diese durch Vorleistungen einzufangen sowie dann durch Koalitionen, zunächst auf Länderebene, in ihr Machtkonzept einzubinden und dadurch zu "zähmen". Durch diese Politik der versuchten "Zähmung" blieb bald nur noch die Alternative zwischen einer autoritären Regierung gestützt auf die Verfügung des Reichspräsidenten über das Notverordnungsrecht und notfalls auch auf die Macht der Reichswehr einerseits und einer faschistischen Lösung andererseits, das heißt einer Machtübertragung an die Nationalsozialisten, die sich allenfalls noch in einer nationalen Koalitionsregierung unter Hitler einbinden ließen.

Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Verfassung

Artikel 43

Amtsdauer, Absetzung

Das Amt des Reichspräsidenten dauert sieben Jahre.Wiederwahl ist zulässig.

Vor Ablauf der Frist kann der Reichspräsident auf Antrag des Reichstags durch Volksabstimmung abgesetzt werden. Der Beschluß des Reichstags erfordert Zweidrittelmehrheit. Durch den Beschluß ist der Reichspräsident an der ferneren Ausübung des Amtes verhindert. Die Ablehnung der Absetzung durch die Volksabstimmung gilt als neue Wahl und hat die Auflösung des Reichstags zur Folge.

Der Reichspräsident kann ohne Zustimmung des Reichstags nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Artikel 46

Ernennungs- und Entlassungsrecht

Der Reichspräsident ernennt und entläßt die Reichsbeamten und die Offiziere, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Er kann das Ernennungs- und Entlassungsrecht durch andere Behörden ausüben lassen.

Artikel 47

Oberbefehl

Der Reichspräsident hat den Oberbefehl über die gesamte des Reichs.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 77

Artikel 48

Maßnahmen bei Störung von Sicherheit und Ordnung

Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.

Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.

Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen.

Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. []

Aufstieg der NSDAP 1919 bis 1929

Der Nationalsozialismus war ein Kind der Krisen. Seine Entstehung fiel in die krisenhaften, von Revolution und Gegenrevolution geprägten Anfangsjahre der Weimarer Republik, sein Aufstieg zur Massenpartei seit den Wahlen von 1930 war eng verbunden mit der Staats- und Wirtschaftskrise der Weimarer Republik. Während die erste Phase noch mit der Selbstbehauptung der von allen Seiten bekämpften parlamentarischen Ordnung der jungen Republik einerseits und dem fehlgeschlagenen Putsch der NSDAP vom 9. November 1923 andererseits endete, mündete die große Krise der dreißiger Jahre und der erneute Ansturm von rechts auf die Republik in der Etablierung der Diktatur. Dazwischen lagen die wenigen Jahre der Stabilisierung der Weimarer Republik, die für die NSDAP die bescheidene Existenz einer Splitterpartei bedeuteten, die sich dann 1928/29 im Augenblick neuer Wahlerfolge mitten in der organisatorischen Umgestaltung befand.

Frühgeschichte

Begonnen hatte die NSDAP als eine unter vielen Protestgruppen im völkisch-antisemitischen Milieu Münchens, wo die Nachkriegswirren noch durch die Münchener Räterepublik und die anschließende Gegenrevolution verschärft wurden. Aus dem "Alldeutschen Verband", dem mächtigsten nationalistischen und antisemitischen Agitationsverband der Vorkriegs- und Kriegszeit, hatten sich verschiedene völkisch-nationale Organisationen herausgebildet, unter ihnen auch die "Thule- Gesellschaft", ein "Germanenorden" mit geheimen, okkultistischen Ritualen, dessen Mitglieder vorwiegend aus dem bürgerlichen Milieu stammten. In ihrem Kampf gegen die politische Linke versuchte diese Gruppierung auch, Arbeiterzirkel zu bilden, was zur Gründung der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) durch den Eisenbahnschlosser zusammen mit dem Journalisten Karl Harrer am 5. Januar 1919 führte. Die DAP blieb zunächst eine unter vielen völkischen Splittergruppen, die sich ohne besonderes programmatisches Profil zunächst in Stammtischgesprächen echöpfte und durch einige zugkräftige Redner und Werbeveranstaltungen in den Münchner Bierhallen Aufsehen zu erregen versuchte.

Ein anderer Ableger des Alldeutschen Verbandes war die zunächst erfolgreichere antisemitische Sammlungsbewegung, der "Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund". Er unterhielt zahlreiche

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 78

Querverbindungen zu Freikorps und rechtsstehenden Kreisen der Reichswehr bzw. Soldatenverbänden, bald aber auch zur jungen DAP/NSDAP, deren Funktionäre anfangs ebenfalls Mitglieder des Schutz- und Trutzbundes waren. Als dieser nach inneren Zerwürfnissen zerfiel und nach dem von Angehörigen der rechtsextremen völkisch-nationalistischen Organisation "Consul" an Außenminister Walther Rathenau begangenen Mord (24. Juni 1922) schließlich verboten wurde, trat die NSDAP deren Nachfolge an, die sich unter der Führung Adolf Hitlers mittlerweile zur lautstärksten Gruppe der völkischen Bewegung entwickelt hatte.

Am 12. September 1919 hatte der Reichswehragent Adolf Hitler im dienstlichen Auftrag eine Versammlung der DAP besucht. Das Bayerische Reichswehrgruppenkommando hatte ihn nach der Absolvierung politischer "Aufklärungskurse" abkommandiert, um Parteiversammlungen im Münchener Raum zu beobachten und unter Soldaten politisch zu agitieren. Ein Diskussionsbeitrag Hitlers bewog Parteigründer Drexler, diesen zum Eintritt in den Parteiausschuß der DAP einzuladen. Bald darauf schloß er sich der Splittergruppe an, da er hier nach seiner drohenden Entlassung aus der Reichswehr eine politische Betätigung und Heimat zu finden hoffte, die es ihm erlaubte, als Werbeobmann seine demagogischen Fähigkeiten einzusetzen. Binnen kurzem wurde er zum Hauptredner und "Trommler " des Grüppchens aus heimatlosen Soldaten und völkischen Weltverbesserern und machte sich für seine Partei zunehmend unentbehrlich.

Die politischen Ansichten, die er unermüdlich vortrug, waren im völkisch-nationalen Milieu nicht ungewöhnlich: Er rief zum Kampf gegen den als "Schanddiktat" gebrandmarkten Friedensvertrag von Versailles und zur Verfolgung aller als "Novemberverbrecher" denunzierten Repräsentanten der demokratischen Parteien auf, die er bezichtigte, für den "Dolchstoß" aus der Heimat in den Rücken der kaiserlichen Armee an der Front verantwortlich gewesen zu sein. Solche und andere maßlosen, von Haßtiraden geprägten Attacken richteten sich meist gegen Juden, Marxisten, Pazifisten und Demokraten. Auffallend war der Fanatismus, mit dem er seine Parolen vortrug, und die Unbedingtheit, mit der er sich diesen fast bis zur physischen Erschöpfung leidenschaftlich vorgetragenen Schlagworten und Appellen selbst verschrieb.

Auch das 25-Punkte-Parteiprogramm, das von Drexler und Hitler zusammengestellt worden war und aus Anlaß der Umbenennung in "Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" (NSDAP) am 24. Februar 1920 vorgestellt wurde, stellte einen Querschnitt des damaligen rassistisch-nationalistischen Ideengemenges vermischt mit antikapitalistischen Tönen dar: Die Forderung nach dem Anschluß Österreichs und dem Rückerwerb der Kolonien, nach Wiederherstellung deutscher Großmachtstellung; nach Durchführung einer Bodenreform und der Verstaatlichung der Großunternehmen. Ferner wurde unermüdlich von dem völkischen Weltverbesserer und selbsternannten "Wirtschaftstheoretiker" der Partei, , die Forderung nach der "Brechung der Zinsknechtschaft" vorgetragen, die in der Politik der Banken und Börsen das Grundübel sah und deren Verstaatlichung verlangte. Schließlich propagierte man die Forderung nach der Einziehung der Kriegsgewinne sowie der Ausbürgerung der Juden aus dem Deutschen Reich.

Auch wenn dieses aus bereits Vorhandenem zusammengetragene Parteiprogramm 1926 sogar noch für "unabänderlich" erklärt wurde, kümmerte es Hitler wenig. Es sagt weder etwas über das politisch- ideologische Profil Hitlers und der NSDAP noch über deren spätere Attraktivität aus. Hitler benutzte das Parteiprogramm nur, um sich als "Hüter der nationalsozialistischen Idee" darzustellen und zu rechtfertigen.

Die Anziehungskraft, die die Partei zunächst auf das völkisch-antisemitische Lager ausübte, hatte ihre Ursachen zum einen in der Radikalität, mit der die Partei die Vernichtung des Judentums aus dem deutschen "Volkskörper" als Voraussetzung für eine "nationale Gesundung" forderte, und zum anderen in der propagandistisch-rhetorischen Wirkungskraft, mit der Hitler diese Parolen vortrug und bündelte.

Er nutzte den Antisemitismus vor allem in der Entstehungs- und Aufstiegsphase der NSDAP als Integrationsideologie, um die in sich zerstrittenen völkischen Gruppen zu einer "Bewegung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 79

" zusammenzuschweißen und die diffusen völkisch-antisemitischen Vorstellungen zu bündeln. Denn mittlerweile war die Saat des Antisemitismus, die im wilhelminischen Deutschland gesät worden war, durch die politische Ideologisierung und Polarisierung im Ersten Weltkrieg aufgegangen. In der Weimarer Republik war sie dann von zahlreichen antisemitischen Organisationen in unterschiedlicher Ausprägung verbreitet worden - einmal schrill und primitiv, dann wieder gemäßigt und mit dem "Anstrich von Wissenschaft" (Uwe Lohalm) versehen.

Das Vordringen antisemitischer Einstellungen läßt sich vor allem an der Einführung des " Arierparagraphen" in den Satzungen zahlreicher Vereine und Verbände ablesen, die die Mitgliedschaft von Juden ausschlossen. Ihr Spektrum reichte von den Soldatenverbänden über den mitgliederstarken und einflußreichen "Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband", den "Reichslandbund" bis hin zu Jugendbünden und Studentenschaften. Das zeigt, daß das antisemitische Vorurteil vor allem in mittelständischen Bevölkerungsschichten auf einen fruchtbaren Boden fiel, die sich durch Statusverlust und Existenzgefährdung bedroht fühlten und nach einem Sündenbock suchten. Dieses große Wähler- und Mitgliederreservoir suchte der Antisemit und Rassist Adolf Hitler mit Erfolg hinter sich zu vereinigen, indem seine eigenen antisemitischen Ressentiments sich mit denen seiner Zuhörer trafen. Das setzte einerseits möglichst allgemeine und vage Formulierungen voraus, um zwischen den zerstrittenen Strömungen vermitteln zu können. Andererseits bedurfte es jener vordergründigen Glaubwürdigkeit und Hingabebereitschaft, die der Agitator Hitler wirkungsvoll verkörperte.

Hitlers Kindheit und Jugend

Wann und wie er sich dieses rassistische und antisemitische Weltbild angeeignet hat, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Entscheidender ist ohnehin die Wirkung, die davon ausging. Hitler war bis zu dem Zeitpunkt seines "Eintritts in die Politik" ein politischer und sozialer Niemand, der 30 Jahre seines Lebens am Rande der Gesellschaft, ohne Berufsausbildung und ohne politische Erfahrungen bzw. Aktivitäten zugebracht hatte. Offenbar wurde in dieser Zeit im Wien der Vorkriegszeit sein "Weltbild " in den Grundzügen geprägt. Sein eigentlicher weltanschaulicher Formierungs- und politischer Lernprozeß vollzog sich dann in der relativ kurzen Zeit zwischen 1919 und 1925 in München.

Vieles von dem, was er später in seiner Rechtfertigungs- und Propagandaschrift "Mein Kampf" über seine Kindheit und Jugend geschrieben hat, ist stilisiert oder nur halbwahr. Alles deutete in den frühen Jahren auf eine bescheidene, aber unbedeutende Zukunft, nichts auf eine politische Karriere, die einmal die Welt in Faszination und Schrecken versetzen sollte.

Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in der österreichischen Grenzstadt Braunau als Sohn eines kleinen Zollbeamten geboren, der auf Aufstieg und Respektabilität bedacht war. Die Familie bot ihm auch nach dem Tod des Vaters (1903) durchaus materielle Sicherheit und Geborgenheit. Das galt ebenfalls für die Zeit, als er nach dem 9. Schuljahr seinen Schulbesuch abbrach und in tatenloser Muße zunächst bei der Mutter in (1905 bis 1907) und dann in Wien (1907 bis 1913) zubrachte. Nach zwei vergeblichen Anläufen, in die Wiener Kunstakademie aufgenommen zu werden, führte er ohne Ausbildung ein unstetes Leben, in dem er sich "Kunststudent" oder "Schriftsteller" nannte. Tatsächlich lebte er von dem Verkauf selbstgefertigter Architektur-Ansichtskarten und vertrieb sich seine Zeit mit Aushilfsarbeiten, Theaterbesuchen und Zeichnen.

Aus dieser Zeit stammen auch einige Elemente seiner völkisch-antisemitischen Weltanschauung, die er sich aus wahlloser Lektüre und der Beobachtung des politischen Geschehens aneignete. Eindruck auf ihn machten die wüsten antisemitischen und rassistischen Ausfälle des verkrachten Mönches Lanz von Liebenfels, der in seiner Zeitschrift, den "Ostara"-Heften, in trivialster Form reproduzierte, was sich im Wien der Jahrhundertwende an völkischen Wunschträumen und antisemitischen Ressentiments angestaut hatte. Auch die antisemitische und antisozialistische Demagogie des christlich-sozialen Wiener Oberbürgermeisters Karl Lueger verfehlte ihre Wirkung auf den jungen Hitler ebensowenig wie der österreichisch-großdeutsche Nationalismus des Alldeutschen Georg von Schönerer. Hier begegnete Hitler der gleichen zwanghaften Neigung, mit der er später selber alles

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 80

Böse dieser Welt auf die Juden zurückführte. Hier fand er die gleiche Radikalität in der Kampfansage gegen die Kräfte der "Zersetzung", die später den Kern der eigen Weltanschauung ausmachten. Schon in der Wiener Zeit war für Hitler der Antisemitismus offenbar "das ideologische Passepartout" (Wendt), mit dem er für sich die Welt und das eigene private Schicksal der drohenden sozialen Deklassierung erklären konnte.

Kriegserlebnis

Einen entscheidenden und prägenden Abschnitt stellte für Hitler, der sich 1913 vor einem drohenden Einberufungsbefehl nach München abgesetzt hatte, das Kriegserlebnis 1914 bis 1918 dar. Ein Foto zeigt ihn mit begeistertem Gesicht in der jubelnden Menge auf dem Odeonsplatz in München am 2. August 1914, dem Tag nach der deutschen Kriegserklärung an Rußland. Die allgemeine Begeisterung des August 1914 ergriff den Außenseiter um so mehr, als er nun aus seinem ziel- und nutzlosen Dasein befreit schien. Hier eröffnete sich ihm eine feste Ordnung, die jene nationalen und sozialen Erwartungen und Einstellungen befriedigte, von denen er bisher nur geträumt hatte. Der Krieg befreite ihn von allen Zurückweisungen einer Gesellschaft, in der er bisher nicht hatte Fuß fassen können.

Am 3. August 1914 richtete Hitler ein Gesuch an den bayerischen König, um als Österreicher in ein bayerisches Regiment aufgenommen zu werden, was ihm bereits einen Tag später gewährt wurde. Als Meldegänger zwischen dem Regimentsstab und vorgeschobenen Stellungen zeichnete er sich durch seine Tapferkeit aus. Einzelgänger blieb Hitler auch als Gefreiter, der nach dem Urteil seiner Vorgesetzten keine "Führungseigenschaften" besaß. Das Fronterlebnis prägte Hitlers starres Festhalten an militärischen Befehls- und Werthierarchien, die später zum bestimmenden Prinzip der Organisationsstruktur der NSDAP und der von den Nationalsozialisten propagierten "nationalen Volksgemeinschaft" werden sollten. Für Hitler war das Regiment, wie ein ehemaliger Vorgesetzter später bestätigte, "Heimat". Schließlich verstärkte das Kriegserlebnis seine Vorurteile, seine vagen völkisch-nationalistischen Wunsch- und Zielvorstellungen. So meinte er zu wissen, daß man nach dem Krieg den "inneren Internationalismus" zerbrechen müsse, und entwickelte einen Haß auf alles Fremde, verbunden mit einer Furcht vor dem inneren und äußeren Feind. Später schrieb er, daß der Krieg für ihn die "unvergeßlichste" und "größte" Zeit seines Lebens gewesen sei.

Um so schockierender mußte auf jemanden, der im Krieg zu sich "gefunden" hatte, die Nachricht von der Niederlage vom November 1918 wirken, von der er nach einer Augenverwundung durch Gasbeschuß im Lazarett erfuhr. Nun gewann der Kampf um die nationale Sache für ihn eine existentielle Dimension. Das war die Quelle der "fanatischen Energie, mit der nun Hitler den Krieg in Permanenz zu seinem Leitbild erhob" (Bracher). Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sollte zum ersten und wichtigsten politischen Anliegen Hitlers werden. Sie wurde auch zur Voraussetzung seines politischen Wirkens, denn damit traf er die Gefühle großer Teile der Frontgeneration.

Eintritt in die Politik

Hitlers Eintritt in die Politik vollzog sich wesentlich undramatischer, als er dies später behauptet hat. Wieder waren es der Zufall und seine Sorge um ein bescheidenes Auskommen wie um mentale Geborgenheit, die ihn aus Furcht vor der Demobilisierung zurück zu seinem alten Regiment nach München trieb. Nach Niederschlagung der Münchener Räterepublik im April 1919 stellte er sich einer Untersuchungskommission zur politischen Säuberung der Truppe von "revolutionären Elementen" zur Verfügung und begann damit nach eigenem Urteil seine "erste mehr oder weniger rein politische aktive Tätigkeit". Da er seine Aufgabe mit großem "nationalen Eifer" zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten erfüllte, schickte man ihn im Juni 1919 zu einem politischen Schulungskurs. Für Hitler war das vor allem die Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen, bis er als "Verbindungsmann" der Reichswehr einem "Aufklärungskommando" zugewiesen wurde und zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber politische Agitation betrieb, als "ein geborener Volksredner, der durch seinen Fanatismus und sein populäres Auftreten die Zuhörer unbedingt zur Aufmerksamkeit und zum Mitdenken zwingt."

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 81

Wie sehr sich seine antisemitischen Vorstellungen zu diesem Zeitpunkt schon zu radikalen Postulaten verfestigt hatten, zeigt ein Antwortschreiben, das Hitler im Auftrag seines Hauptmanns an einen anderen Verbindungsmann über die "Gefahren des Judentums" verfaßte, seine erste überlieferte politische Äußerung. Dort war von einem "Antisemitismus der Vernunft" die Rede, der "zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden" führen müsse. Das letzte Ziel aber, so Hitler in diesem Brief weiter, "muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Das waren ideologische Glaubenssätze, die bis zu Hitlers Ende im Berliner Bunker für ihn Gültigkeit behielten, die aber trotz ihrer erschreckenden Kontinuität noch nicht erklären, warum aus diesen antisemitischen Tiraden, die Hitlers Eintritt in die Politik begleiteten, einmal politische Realität werden sollte. Als Verbindungsmann der Reichswehr kam Hitler dann auch zur Deutschen Arbeiterpartei (DAP), einer von etwa 70 rechtsextremen Splittergruppen, die in der ersten Nachkriegszeit überall im Reich entstanden waren. In ihr fand er eine politische Gruppierung, die ähnliche nationalistische und antisemitische Parolen vortrug wie er selbst. Hier fand er nach seiner Entlassung aus der Reichswehr im Mai 1920 eine neue Betätigung.

Führungsclique

Schon bevor Hitler als Bierkeller-Agitator von sich reden machte, war im politischen Lager der nationalen Rechten der zwanziger Jahre die Sehnsucht nach einem großen Führer verbreitet. Er selbst hatte sich anfangs auch nur als "Trommler" für eine nationale Erlösergestalt verstanden, bis er sich schließlich selbst als Anwärter für eine solche charismatische Führergestalt anpreisen konnte. Dies war erst möglich, nachdem er die inzwischen in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) umbenannte völkische Gruppierung übernommen und zu einer Führerpartei umorganisiert hatte.

Zudem verstand Hitler es, zunehmend Männer seiner Wahl in den Parteivorstand zu schleusen und damit seine Position zu sichern. Dazu gehörte einmal die Gruppe der völkischen Ideologen, die aus der Thule-Gesellschaft stammten: Der antisemitische Schriftsteller , der auf Hitlers politisch-ideologischen Bildungsprozeß einen nicht unerheblichen Einfluß hatte; ferner der Baltendeutsche , dessen Erfahrungen in Rußland ihn zu einem entschiedenen Antibolschewismus gebracht hatten, den Hitler mit antisemitischen Ideen zur Vorstellung einer " russisch-jüdischen Revolution" verschmolz. Schließlich auch Gottfried Feder, der das Schlagwort von der "Brechung der Zinsknechtschaft" in Umlauf gebracht hatte.

Einflußreicher wurden bald die Militärs: Der Hauptmann Ernst Röhm, der sich zum Verbindungsmann zur Reichswehr und zum Waffenbeschaffer der nationalsozialistischen Parteiarmee entwickeln sollte; der hochdekorierte Jagdflieger des Weltkrieges Hermann Göring, der 1923 das Kommando der SA übernahm; schließlich Oberstleutnant Hermann Kriebel, der über enge Kontakte zu den völkischen Wehrverbänden verfügte.

Darüberhinaus fanden auch einige akademisch gebildete Ex-Offiziere ihre Heimat in der NSDAP: Der fanatische Hitler-Anhänger Rudolf Heß, ferner Max Amann, der den Parteiverlag der NSDAP gründete, schließlich Walter Buch, der später das Parteigericht der NSDAP leiten sollte. Außerdem gehörten zu Hitlers Umgebung die beiden fanatischen Antisemiten und . Sie alle unterstützten Hitler in seinem Aufstieg zur Parteiführung und bei seiner Kontaktaufnahme mit Gönnern in Reichswehr und Münchener Bürgertum. So war es auch Ernst Röhm, der die 60000 Reichsmark vermittelte, die für den Ankauf des Parteiblattes "Völkischer Beobachter" erforderlich waren.

Im Zentrum von Hitlers Aktivitäten standen nun weniger programmatische Aussagen als Propagandakampagnen zur Werbung von Mitgliedern und Wählern. Was er von Parteitrupps wirkungsvoll untermauert an antisemitischen, antisozialistischen, völkisch-nationalistischen und antidemokratischen Parolen vortrug, fand auf dem Hintergrund des verlorenen Krieges und der Revolution, des Bewußtseins sozialer Statusbedrohung, aber auch dem Bedürfnis nach Erlösung und politischer Orientierung zunehmend Aufmerksamkeit und Zustimmung. Hitler wurde bald zum Medium

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 82 vielfacher Ressentiments und Erwartungen. Nicht seine Persönlichkeitsmerkmale und die Originalität seiner politischen Ideen verschafften ihm eine wachsende Aufmerksamkeit und Anziehungskraft, die ihm schließlich auch über die bayerischen Grenzen hinaus den Nimbus eines omnipotenten Führers verlieh, sondern der neuartige politische Stil, der die NSDAP aus dem Gefecht völkischer Verbände heraushob.

Erst die Verbindung von Weltanschauung und Organisation bzw. Propaganda machte die NSDAP unverwechselbar und charakterisierte Hitlers Politikverständnis. Eine "einheitlich organisierte und geleitete Weltanschauung" erklärte Hitler, bedürfe einer "sturmabteilungsmäßig organisierten politischen Partei." Die Weltanschauung könne in knappen Formeln zusammengefaßt werden und müsse nicht in einem wortreichen Programm ihren Ausdruck finden. Endlose weltanschauliche Debatten hielt er für abträglich; sie schadeten der Massenwirksamkeit wie der eigenen Machtposition. Stattdessen müsse die Organisation darauf ausgerichtet sein, die politische Propaganda wirkungsvoll zu verbreiten und der Entschlossenheit der Partei symbolisch Ausdruck zu verleihen.

Wichtigste Elemente der Propaganda, wie sie von Hitler entwickelt und praktiziert wurde, waren die Rede, die Einfachheit der dort vorgetragenen dualistischen Weltsicht und die Gewißheit, mit der Hitler seine Glaubenssätze verkündete; seine Fähigkeit, die eigenen Ängste und Visionen zu einer persönlichen Weltanschauung zu bündeln und sich dabei zum Medium all derer zu machen, die sich von ähnlichen Erfahrungen und Erwartungen bestimmt sahen.

Hitlers Weltanschauung

Gleichwohl kommt Hitlers Weltanschauung für sein Selbstbewußtsein wie für seinen Machtanspruch in der Partei und später im Regime große Bedeutung zu. Das Gefühl über ein festes Gedankengebäude zu verfügen, in das sich scheinbar alle Erfahrungen und Wahrnehmungen einbetten ließen, gab dem Außenseiter und Autodidakten Sicherheit. Die Behauptung, er allein verfüge über ein gültiges, in sich geschlossenes System der Welt- und Politikerklärung festigte seine diktatorische Machtfülle im Nationalsozialismus. Schließlich sollten die Entscheidungen über Krieg und Rassenpolitik, die beiden zentralen Dimensionen der nationalsozialistischen Politik, auf Hitlers weltanschaulichen Willen zurückgehen. Doch daß Hitlers Weltanschauung schließlich Staatsdoktrin wurde, setzte einen langen und komplizierten Prozeß der Umsetzung einer Ideologie voraus, die sich zuerst aus individuellen Erfahrungen und Einflüssen bildete.

Die Außenwirkung einer solchen Ideologie, die über ihre Politik und Konsensfähigkeit entscheiden sollte, hing ganz wesentlich davon ab, daß viele der ideologischen Formeln vertraut klangen, zugleich griffig und populistisch formuliert wurden und scheinbar eine einfache Antwort auf eine komplizierte und bedrohliche Wirklichkeit boten. Sie mußten dem Bedürfnis nach Sündenböcken eine klare Richtung für die Kanalisierung der kollektiven Frustrationen und Haßgefühle geben. Dazu war es notwendig, daß viele der Hitlerschen Weltanschauungs- und Propagandaangebote schon verbreitet und der Boden für ihre Politisierung und Organisation schon vorbereitet war. Eine solche Politikfähigkeit setzt nicht unbedingt denkerische Originalität voraus, denn die hatte Hitlers Weltanschauung ganz gewiß nicht. Sie war keine eigenständige Erfindung, sondern stammte aus dem "Ideenschutt" (Joachim C. Fest) des 19. Jahrhunderts.

Bis zur Mitte der zwanziger Jahre hatte Hitler aus den verschiedenen Versatzstücken der völkisch- antisemitischen, rassenbiologistischen und sozialdarwinistischen, nationalistischen und imperialistischen, antidemokratischen und antimarxistischen Vorstellungen sein persönliches Weltbild zusammengetragen, das von zwei Ideensträngen zusammengehalten wurde: von einem radikalen, universalen Rassenantisemitismus und von der Lebensraumdoktrin. Verbunden war dieser ideologische Kern mit dem Glauben, die Geschichte sei von einem permanenten "Kampf der Völker um Lebensraum " bestimmt, der nur dann siegreich geführt werden könne, wenn die "Rassereinheit" gewahrt bliebe bzw. hergestellt würde. Dieses sozialdarwinistische Geschichtsbild und die beiden damit verbundenen Ideenstränge des Rassenantisemitismus und der imperialistischen Lebensraumdoktrin waren

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 83 anderswo schon vielfach vorgetragen worden und durch entsprechende politische Bewegungen in der Weimarer Republik einem größeren Publikum vertraut.

Ideologische Wurzeln

Rassismus und Antisemitismus wurden seit dem späten 19. Jahrhundert in kleinen Zirkeln ideologisch miteinander verbunden und durch die Agitation antisemitischer Gruppierungen seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts populär gemacht. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung und Vermittlung rassistischer und antisemitischer Vorstellungen spielte der Wagner-Kreis in , der den Mythos von "Ariern" und Germanen durch Bühnenweihespiele für ein gebildetes Publikum hoffähig machte. Nicht nur, daß Richard Wagner, den Hitler zutiefst verehrte, selbst Antisemit und Rassist war; durch seinen Kreis wurden zudem die Werke des wichtigsten "Rassetheoretikers", des französischen Grafen Arthur de Gobineau, ins Deutsche übersetzt, während der andere "Klassiker des Rassismus", der britische Publizist Houston Stewart Chamberlain, seit Anfang 1880 selbst zum Bayreuther Kreis gehörte. In seinem 1855 erschienenen Buch "Versuch über die Ungleichheit der menschlichen Rassen " hatte Gobineau die Menschheitsgeschichte nach rsischen Gesichtspunkten gedeutet.

Der Graf behauptete den Vorrang der "weißen Rasse" vor allen "anderen Rassen" und sah im "Arier " das eigentlich kreative Element, den Schöpfer jeder höheren Kultur, während die "niederen Rassen " allein zur Knechtschaft taugten. Die politisch-ideologische Absicht solcher abstruser Geschichtsbilder war klar: Es ging um die Rechtfertigung einer überkommenen, europäisch beherrschten Gesellschafts- und Weltordnung. Dahinter standen soziale Ängste und Abwehrmechanismen, die auch in der Furcht vor der "rassischen Degeneration" zum Ausdruck kamen. Gobineau sah die "Arier" vom "Rassetod " bedroht und prophezeite deren Niederlage im Kampf zwischen den "niederen" und "höheren" Rassen. Nur wenn sich die "höheren Rassen reinhielten", könnten sie diesem Untergang entgehen.

Damit war auch der zutiefst inhumane Züchtungsgedanke angedeutet, der dann durch den Einfluß biologistischer Denkmuster verstärkt wurde, wie sie durch Charles Darwin begründet und populär wurden. Die auf der Erde lebenden "Rassen", so Darwin, seien das Ergebnis eines Prozesses der natürlichen Auslese, der sich im Kampf um das Dasein manifestiere. Was bei Darwin noch wertneutral gemeint war, erhielt bei den Sozialdarwinisten eine politische und sozial ausgrenzende Bedeutung und fand eine große Verbreitung. Von der Ausschaltung aller "Untüchtigen", der Vernichtung " lebensunwerten Lebens" war nun die Rede, ebenso von dem Versuch, die Eignung für den Überlebenskampf durch das Messen von Kopfgröße und Nasenlänge zu ermitteln. Auch die Kräfte, die dem natürlichen Ausleseprozeß entgegenstünden, wurden denunziatorisch herausgestellt: Die christliche Moral, der aufgeklärte Rechts- und Toleranzbegriff und die moderne Zivilisation schlechthin, die allein die Schwachen schütze.

Waren Gobineau und Darwin keine Antisemiten, so erhielt die biologistisch begründete Rassenlehre eine noch gefährlichere Bedeutung, wenn sie sich mit antisemitischen Vorurteilen verband und die von Gobineau beklagte "Degeneration der Rassen" mit der angeblichen "Zersetzungstätigkeit der Juden" verband. Man leitete daraus die Forderung nach einer "Auslesepolitik" ab, die den Prozeß der Degeneration stoppen solle. Die neue Rassenlehre, wonach "Judesein" eine "unveränderte negative Eigenschaft" darstelle, war zur selben Zeit in Frankreich durch George Vacher de Lapouge und Edouard Drumont sowie in Deutschland durch Eugen Dühring, Wilhelm Marr und durch Houston Stewart Chamberlain publizistisch verbreitet worden. Sie alle forderten mehr oder weniger offen die Vernichtung der Juden, um die Reinheit und Herrschaft der "Arier" zu sichern. Dabei mündeten ältere aus dem Spätmittelalter überkommene und christlich-religiös motivierte antijudaistische Stereotype in den neuen, scheinwissenschaftlichen Rassismus ein. Sie rstärkten damit seine Resonanz bei einem Publikum, das ähnlich alte Vorurteile mit Wissenschaftsglauben und sozialen Ängsten verband.

Imperialismus und Kolonialismus

Einstweilen blieben die sozialdarwinistischen und rassenantisemitischen Entwürfe noch

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 84

Gedankenkonstruktionen. Aber die Leserschaft einschlägiger Publizisten wie Marr und Chamberlain, die die antisemitischen Schmähungen mit kulturpessimistischen Visionen verbanden, nahm zu. Derartige Autoren machten den Antisemitismus unter einem bürgerlichen Publikum ebenso gesellschaftsfähig wie die Aufnahme antisemitischer Forderungen in das Programm der Deutschkonservativen Partei (1892) und in die Satzungen von Interessen- und Agitationsverbänden (Alldeutsche, Bund der Landwirte) den Antisemitismus allmählich politikfähig machte. Der Haß auf alles Fremde und der Antisemitismus waren im ausgehenden 19. Jahrhundert überall in Europa auch in den Nationalismus eingegangen, besonders aber in Deutschland und Italien.

Die Wendung des Nationalismus zum radikalen Imperialismus, der dann auch in der Weltanschauung Hitlers eine zentrale Rolle spielen sollte, hatte in Europa um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt und sich mit der Zuspitzung der sozialen Konflikte in den sich entfaltenden Industriegesellschaften beschleunigt. Der überkommene Nationalismus verband sich mit machtstaatlichen und imperialen Tendenzen zu einer nationalistischen Sendungsideologie. Der neue Nationalismus rechtfertigte nicht nur die nationalen Machtansprüche in Übersee, sondern präsentierte sich als Instrument der Abwehr und Ausgrenzung im Inneren: Gegen das sozialistische und internationalistische Proletariat ebenso wie gegen die "goldene Internationale des Bankkapitals", das vor allem in jüdischer Hand gesehen wurde. Das Gegenmodell eines "nationalen Sozialismus" verhieß nationale Geschlossenheit statt Klassenkampf, bedeutete Mobilisierung nach außen statt Verbrüderung über die Grenzen.

Der Ablenkung von inneren Spannungen nach außen diente das imperialistische Moment im neuen Nationalismus. Der Kolonialgedanke faszinierte nationale Agitationsvereine, die ihre Anhänger im Bürgertum, weniger bei Unternehmen fanden. Kolonialträume trieben das nationale Lager auch noch in der Weimarer Republik um, als die wenigen deutschen Kolonien, die ökonomisch zudem nicht profitabel waren, durch den Versailler Vertrag abgetreten werden mußten. Um so faszinierender wirkte dann der Mitteleuropagedanke, der sich durch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit Deutschlands mit den südost-europäischen Staaten einen gesicherten Rohstoff- und Absatzmarkt erhoffte.

Rassegedanken

Im Mittelpunkt von Hitlers Geschichtsdenken standen die Begriffe "Volk" und "Rasse", die weitgehend identisch verwandt wurden. Völker und Rassen galten ihm als in sich abgeschlossene Arten; jede Vermischung war ein Verstoß gegen die Natur und ein Grund für den Verfall. Zwischen den Rassen und Völkern aber herrsche das Gesetz des ewigen Kampfes. Der Lebenskampf als Gesetz der Geschichte gelte vor allem der Selbsterhaltung. Die Funktion solcher rassentheoretischer und sozialdarwinistischer Gedanken war eindeutig:Sie dienten der Rechtfertigung innerer Abwehr und außenpolitischer Expansion.

Bei dem Kampf um die Selbsterhaltung stießen die Völker, und damit verbindet sich die Rassenlehre mit dem Raumgedanken, an die Grenzen des Raumes. Der Widerspruch zwischen der Begrenztheit des Raumes und dem unbedingten Erhaltungstrieb der Völker war für Hitler Ursache für den "ewigen Kampf um den Raum". Hitler meinte, als Grundgesetz der Geschichte erkannt zu haben: "Lebenskampf der Völker" um "Lebensraum". Zugleich war damit sein Rassen- wie sein Raumeroberungsprogramm begründet. In seiner zutiefst inhumanen naturalistisch-biologistischen Weltsicht war auch der Gedanke der "Rassenzüchtung" des Menschen angelegt.

Aus diesen vermeintlichen Gesetzen der Geschichte ergab sich für Hitler als Aufgabe der Politik: " Politik ist die Kunst der Durchführung des Lebenskampfes eines Volkes um sein irdisches Dasein. Außenpolitik ist die Kunst, einem Volk den jeweils notwendigen Lebensraum in Größe und Güte zu sichern. Innenpolitik ist die Kunst, einem Volk den dafür notwendigen Machteinsatz in Form seines Rassenwertes und seiner Zahl zu erhalten." Das waren Schlagworte, die vom Parteiführer Hitler vielfach wiederholt wurden, die zwar nicht die einzelnen Schritte und Instrumente seiner Machtpolitik ankündigten, wohl aber deren Fernziele angaben. Bevölkerungspolitik und Rassenpolitik wurden damit in einen gleichsam dialektischen Zusammenhang gebracht, der an einem vorindustriellen Konzept

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 85 von Raum, Rasse und Ernährung orientiert war. Jedes Anwachsen der Bevölkerungszahl führte danach zu einer Verknappung des Raumes und damit zum Lebensraumkrieg. Umgekehrt würde ein Stagnieren oder Sinken der Bevölkerungszahl die anderen Völker stärker werden lassen und zum Verlust von Lebensraum führen.

Antisemitismus

Alle Vorgänge in der modernen Welt, die Hitler beunruhigten, wurden auf die Juden zurückgeführt. " Nichts ist mehr verankert, nichts mehr wurzelt in unserem Innern. Alles ist äußerlich, flieht an uns vorbei. Unruhig und hastig wird das Denken unseres Volkes. Das ganze Leben wird vollständig zerrissen." Das waren Ängste vor der Moderne, die auf einen "Schuldigen" zurückgeführt wurden; das war eine ideologische Kampfansage an den gesamten emanzipatorischen Prozeß der Neuzeit. Die Juden wurden für den historischen Wandel verantwortlich gemacht und ebenso universal verstand Hitler seine historische Mission. Mit dem deutschen und dem jüdischen Volk standen sich im Urteil des Rassenideologen zwei Grundprinzipien der Geschichte gegenüber: Das deutsche Volk sei das typische "Raumvolk", das jüdische Volk sei immer ein "raumloses" Volk, ein Volk ohne Staat mit festen Grenzen, unfähig zur festen Staatsbildung.

Die Juden waren für Hitler auch Urheber und Träger der politischen Prinzipien der Gegenwart, durch die er die natürlichen Lebensformen der "Rassen" bedroht sah. Sein Haß galt darum vor allem dem Internationalismus, dem Pazifismus und der Demokratie. Sie stünden im Gegensatz zu den von ihm für positiv gehaltenen Werten des Nationalismus, des Heroismus und des Führerprinzips.

Sein Haß gegen Internationalismus, Pazifismus und die Gleichheit der Menschen und Völker mündete in die Kampfansage an Marxismus und Kommunismus, die seit der Revolution von 1917/18 in Rußland nicht nur für Hitler einen festen Bestandteil des eigenen ideologischen Bedrohungs- und Abwehrszenarios ausmachten. Im Kommunismus sah Hitler die radikalste und letzte Angriffswaffe des Judentums im Kampf um die Herrschaft über die ganze Welt. Wenn der Kommunismus nach Meinung Hitlers nichts anderes war als der erneute Versuch der Juden, "ihre alten Träume der Weltherrschaft zu verwirklichen", dann war nicht nur das Ziel des nationalsozialistischen Angriffs erkennbar, sondern auch die daraus abgeleitete Verpflichtung der Nation zum "Selbsterhaltungskampf". Es charakterisiert den Ideologen und Propagandisten, daß er seine eigenen verborgenen Ziele dem Gegner unterstellte und seine Eroberungspläne darum als Verteidigungsmaßnahme zu rechtfertigen versuchte.

Die "Rassenpolitik" war schließlich auch letzte Begründung des außenpolitischen Programmes. Wie aus dem konventionellen Antisemiten ein radikaler Rassenideologe mit einem universellen "Heilungs "- und Vernichtungsanspruch geworden war, so hatte sich in wenigen Jahren der konventionelle außenpolitische Revisionist zum Ideologen der Lebensraumeroberung gewandelt, der nicht mehr nur eine Aufhebung des Versailler Vertragssystems anstrebte, sondern ganz im Sinne imperialistischen Denkens Raum für ein deutsches "Herrenrassen-Imperium" gewinnen wollte. Das freilich sollte nicht mehr in Übersee, sondern im europäischen Osten liegen.

Auch diese imperialistischen Elemente von Hitlers Weltanschauung waren im ideologisch- propagandistischen Weltbild der Deutschen nicht unbekannt. Die Forderung nach einer "Revision" des Vertrages von Versailles war in fast jeder bürgerlichen Parteiversammlung zu hören. Sie besaß eine große politische Integrationskraft, die sich gegen die Republik richten ließ. Wer sich ihr in propagandistisch erfolgreicher Weise bemächtigte, der konnte mit breiter Zustimmung rechnen. Dasselbe galt für altbekannte imperialistische Forderungen, vom Kolonialgedanken über das Mitteleuropakonzept bis hin zu Annexionsforderungen nach Osten.

Anti-Positionen

Um diesen weltanschaulichen Kern rankten sich weitere ideologische Anti-Positionen, wie sie sich in anderen nationalistischen und faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit auch fanden:

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 86

Antimarxismus, Antiliberalismus, Antiparlamentarismus, Antikapitalismus und auch ein tendenzieller Antikonservativismus. Als Gegenbilder standen dem Elemente des neuen radikalen Nationalismus der Jahrhundertwende gegenüber: Ein völkischer Nationalismus, verbunden mit dem Konzept eines nationalen Sozialismus und einer nationalen Volksgemeinschaft unter Führung einer neuen politischen Elite. Diese sollte sich durch die Bereitschaft zum Glauben, zum Gehorsam und durch den Willen zur Tat bzw. zum Kampf auszeichnen.

Daneben stellte das Führerprinzip ein konstitutives Element für Ideologie und Organisation des Nationalsozialismus dar: Es war Gegenmodell zu Liberalismus und Demokratie und zugleich Legitimations- und Integrationsmittel für die Partei und ihre Anhänger. Der "Führer" hielt die widersprüchlichen Elemente der nationalsozialistischen Programmatik und Propaganda zusammen. Seine Rolle als Vermittler zwischen rivalisierenden Zielvorstellungen und als Interpret der wahren Lehre begründete Hitlers absolute Führungsstellung in der Partei.

Die nationalsozialistische Weltanschauung mit ihrem Anspruch auf Totalität muß bei der Erklärung von Hitlers Macht ernstgenommen werden, auch wenn sie kein Regierungsprogramm darstellte und Hitler jede programmatische Präzisierung und Ausgestaltung, die auf die Interessen einzelner sozialer Gruppen und politischer Fraktionen Rücksicht nahm, unterbunden hat. Eine Vermittlung zwischen verschiedenen Interessen sollte nicht durch ein Programm, sondern durch Propaganda und das Charisma des "Führers" stattfinden. Das ließ ihm genügend Raum, seine Allmacht zu demonstrieren, und suggerierte das Bild von (programmatischer) Geschlossenheit. Überdies ließen die teilweise sehr vagen und widersprüchlichen Zielvorstellungen, die innerhalb der nationalsozialistischen Führungsclique bestanden, taktische Anpassungsmanöver zu und erlaubten es Hitler, seine weltanschaulichen Kernvorstellungen unter geschickter Ausnutzung der jeweiligen politischen Konstellationen stufenweise zu realisieren. Denn Hitler hat nicht nur mit großer Hartnäckigkeit bis zu seinem Ende im Führerbunker der Reichskanzlei an seiner Weltanschauung festgehalten, sondern sie auch bei aller taktischen Flexibilität und Improvisation zur treibenden Kraft seiner Politik gemacht.

Erfolg und erstes Scheitern

In der Kombination des "Programmatikers" und des "Politikers" sah Hitler selbst seine politische Stärke begründet, und bald war der innere Kreis seiner Partei auch davon überzeugt. Seit 1922/23 entwickelte sich ein Personenkult um Hitler, der alle Krisen überstand und sich bis zum Ende der zwanziger Jahre durchgesetzt hatte. Der Weg Hitlers zu dieser unangefochtenen Machtposition zunächst in der eigenen Partei und dann in weiten Teilen der Wählerschaft führte über seine rastlosen Propagandaaktivitäten und seine missionarische Ausstrahlungskraft, aber auch über taktisches Geschick, das mit einem ideologischen Machtwillen gepaart war.

Bereits in der ersten Parteikrise vom Sommer 1921, an deren Ende Hitler gegen Drexler den Vorsitz der Partei mit fast diktatorischen Vollmachten erlangen konnte, wurden wesentliche Merkmale von Hitlers Handlungsweise sichtbar, die in späteren Konfliktsituationen und Knotenpunkten in der Geschichte des Nationalsozialismus immer wieder zu beobachten sein sollten: Hitler besaß keinen strategischen Plan zur Erringung der diktatorischen Machtposition, sondern den Willen, sich nicht unterordnen zu müssen. Vor allem vermochte er es, die jeweilige Konfliktsituation durch eine scheindemokratische Mobilisierung der Parteiöffentlichkeit zu seinen Gunsten auszunutzen. Hitler hatte einen eher harmlosen Anlaß zu einer Überreaktion benutzt, die sein Mißtrauen und seinen Machtanspruch durchscheinen ließ. Während seiner Abwesenheit hatte sich die NSDAP mit einer unbedeutenden ideologisch verwandten Gruppierung zusammengeschlossen. Weil er die Verwässerung seines Politik- und Propagandakonzepts durch den anderen völkischen Dettierklub befürchtete, drohte Hitler sofort mit seinem Parteiaustritt. Es sprach für seine Unentbehrlichkeit als Agitator, daß man sich schließlich seinem diktatorischen Machtanspruch unterwarf.

Steigende Mitgliederzahlen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 87

Inzwischen war Hitler schon zum Aushängeschild der Partei geworden und konnte eine deutliche Zunahme an Parteimitgliedern für sich verbuchen. Im Laufe des Jahres 1923 stieg die Mitgliedschaft von 15000 auf 55000 an, blieb aber noch immer auf Bayern konzentriert. Das Aufsehen, das er mit seinen lauten Massenkundgebungen und dem aggressiven Stil seiner politischen Propaganda erregte, brachte ihm zudem bald einflußreiche Gönner und Freunde aus Bürokratie, Militär und Großbürgertum ein, wie etwa die Verlegerfamilie Bruckmann, den Klavierfabrikanten Bechstein oder den Unternehmer Fritz Thyssen. Sie sahen in der NSDAP eine Unterstützung ihrer antisozialistischen Ziele. Die Parteiarbeit wurde sowohl in den Anfängen als auch später weniger durch solche Unterstützungen als durch Mitgliedsbeiträge und Versammlungseinnahmen finanziert.

Massenkundgebungen und spektakuläre Aktionen, wie der nach dem Muster faschistischer Strafexpeditionen gegen Hochburgen der Linken in Norditalien organisierte Auftritt Hitlers mit 800 SA- Männern auf dem "Deutschen Tag" in Coburg im Oktober 1922, bei dem es zu Massenschlägereien mit Sozialdemokraten kam, machten die NSDAP zu einer der auffälligsten antirepublikanischen Agitationsgruppen im süddeutschen Raum. Die Parteipropaganda stilisierte Hitler hinfort als "Retter Deutschlands". Ihre Mitglieder gewann die NSDAP aus vorwiegend mittelständischen Schichten, die von Orientierungs- und Statusverlusten bedroht waren und die sich von der radikalen Agitation der Hitler-Bewegung gegen "Versailles" und den Weimarer Staat angezogen fühlten. Aber auch Angehörige anderer Schichten wurden durch die Propaganda angesprochen. So waren etwa 33 Prozent der frühen Mitglieder Arbeiter. Wichtiger noch war der Zustrom aus den aufgelösten militärischen Verbänden und Freikorps vor allem in Bayern, aber auch im östlichen Deutschlan

Die Folge war ein rasches Anwachsen der SA, die vom ursprünglichen Saalschutz durch den Beitritt von militärisch versierten Führern mehr und mehr zu einem parteiunabhängigen Wehrverband wurde. Das bot den Vorteil, daß man, wie andere nationalistische Verbände auch, von der bayerischen Reichswehr Waffen- und Ausbildungshilfe erhielt. Das hatte aber für Hitler und die NSDAP auch den Nachteil, daß das Eigengewicht der militärischen Führung der SA wuchs und Hitlers Anspruch auf die alleinige Parteiführung immer wieder gefährdet wurde. Durch die Einbeziehung in die von Ernst Röhm im Januar 1923 gegründete "Arbeitsgemeinschaft der vaterländischen Kampfverbände" drohte die SA noch mehr dem Zugriff Hitlers zu entgleiten, obwohl sie im Unterschied zu den anderen Wehrverbänden sich als politischer Verband begriff. Der Konflikt zwischen der politischen Organisation der NSDAP und der Parteiarmee SA um die richtige politische Strategie und den Führungsanspruch sollte den Nationalsozialismus bis zu seiner Machtergreifung 33/34 begleiten. Auch darin lag eine Gemeinsamkeit der europäischen faschistischen Bewegungen, die fast alle eine paramilitärische Parteiarmee besaßen, deren Funktion aber zwischen Wehr- oder Veteranenverband und politischem Propagandainstrument schwankte.

Krise 1923

Die frühe NSDAP verstand sich nicht als Partei, sondern als revolutionäre Bewegung, die auf dem Weg eines Putsches die verhaßte Weimarer Republik von Bayern aus beseitigen wollte. Vorbild und Ermutigung war dabei der erfolgreiche "Marsch auf Rom" von Mussolini im Oktober 1922. Bald danach erklärte NSDAP-Propagandaleiter Hermann Esser Hitler zum "deutschen Mussolini", und Hitler selbst forderte im November eine "nationale Regierung nach faschistischem Muster". Die Gelegenheit dazu bot sich in der Krise des Jahres 1923, die zum Kampf um das "Überleben des parlamentarischen Systems" (Hans Mommsen) führte.

Die schwere ökonomische und politische Krise des Jahres 1923, die die Weimarer Republik an den Rand des Zusammenbruchs führte und vor allem in Bayern den Ausnahmezustand und Gedanken eines nationalen Umsturzes entstehen ließ, schuf den Boden, auf dem die junge NSDAP zu ihrem ersten, eher dilettantischen Griff nach der Macht ausholte.

Die deutsche Wirtschaft wurde 1923 von einer Hyperinflation erschüttert. Der Dollar, der im Juli 1919 noch 14 Mark gekostet hatte, stieg Mitte November 1923 auf 4,2 Billionen Mark an. In diesem Herbst

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 88 kam es etwa gleichzeitig zu Konflikten zwischen der Reichsregierung und den linken Koalitionsregierungen in Sachsen und Thüringen einerseits und dem Reich und Bayern andererseits, die zu einer politischen Bedrohung der Weimarer Republik wurden. Während die Reichswehr auf die Vorbereitungen eines kommunistischen Aufstandes in Sachsen und Thüringen mit einem sofortigen Einmarsch in Sachsen reagierte, verhielt sie sich in Bayern trotz offensichtlichen Ungehorsams des bayerischen Reichswehrkommandos sehr zurückhaltend.

Damit gab sie der Hoffnung rechtsextremer, nationalistischer Kreise Nahrung, von Bayern aus zum Sturm auf das "rote" Berlin blasen zu können. Reichswehrminister Otto Geßler und der Chef der Heeresleitung General Hans von Seeckt verweigerten einen Einsatz der Reichswehr gegen Bayern, wo unter Bruch der Verfassung Generalstaatskommissar Gustav von Kahr an die Stelle der legalen Regierung trat und sich eine enge Zusammenarbeit zwischen ihm, der bayerischen Reichswehrführung unter General Otto Hermann von Lossow und dem Leiter der Bayerischen Landespolizei Hans von Seißer bildete, die offen Befehle aus Berlin verweigerten. Damit wurde deutlich, daß sich Bayern zum Zentrum von republikfeindlichen Gruppen entwickelt hatte, die Umsturzaktionen gegen die Republik zum Ziel hatten.

Für Hitler bedeutete die undurchsichtige Situation eine Chance und Gefahr zugleich. Er war überzeugt, den Konflikt für die eigenen Zwecke nutzen zu können und die von ihm geführten vaterländischen Kampfbünde auf sein politisches Programm festlegen zu können. Zugleich drohte die Gefahr der politischen Isolierung, zumal die Ausnahmegewalt von Kahrs Hitlers Macht, die sich auf die Volksbewegung stützen sollte, empfindlich einzuschränken begann.

Als sich Putschgerüchte Anfang November verdichteten, drohte Hitler den Anschluß zu verlieren. In den Plänen des Direktoriums Kahr-Lossow-Seißer fehlte sein Name. Auch wenn die drei zögernden Putschisten nicht mehr mit der Unterstützung durch die Reichswehrführung rechnen konnten, hofften sie auf ihre Chance durch eine Parallelaktion in Berlin. Daß eine Putschaktion von rechts, die vermutlich eine französische Intervention provoziert hätte, ohne militärische Unterstützung der Reichswehr zum Scheitern verurteilt sein würde, war auch Hitler bewußt. Der Agitator setzte aber nach wie vor auf eine Propagandaaktion, von der er sich eine Initialzündung für eine Revolution von rechts erhoffte. Die Entfachung einer fanatisierten Massenbewegung, wie sie ihm offensichtlich vorschwebte, paßte aber überhaupt nicht in das Kalkül des Direktoriums und der traditionellen nationalen Kräfte.

Hitler-Putsch in München

Zunächst deutete alles darauf hin, daß die Männer des "alten Systems", nämlich Generalstaatskommissar von Kahr mit der bayerischen Reichswehr und der Landespolizei die Dinge im Griff hatten und daß die Kampfbünde an der kurzen Leine gehalten werden sollten. Das war Grund genug für Hitler, die Flucht nach vorn anzutreten. Die Gelegenheit zum operettenhaften Coup, der ihn doch noch an die Spitze der "deutschen Revolution" setzen sollte, bot eine Kundgebung im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1923. Hierzu hatte von Kahr mit Ausnahme von Hitler und seinen Gefolgsleuten alles geladen, was im nationalistisch-bürgerlichen Lager Rang und Namen hatte.

Mit Pistolen bewaffnet verschaffte sich Hitler mit seiner Begleitung dennoch Einlaß und verkündete, nachdem seine Gefolgsleute, unter ihnen Göring und Heß, das Podium erobert hatten und die Versammlung mit einem Maschinengewehr in Schach hielten, daß nun die "nationale Revolution " ausgebrochen sei und daß er an die Spitze einer neuen Reichsregierung treten werde. Für den Fall des Scheiterns drohte der selbsternannte nationale Diktator mit Waffengewalt und damit, daß er sich erschießen werde. Das war eine Drohung zu der Hitler in Situationen äußerster Anspannung später noch häufiger greifen sollte. Die Männer der alten, autoritären Ordnung ließen sich von dieser Alles- oder-Nichts-Strategie nicht einschüchtern. Erst durch die Einschaltung des später eingetroffenen populären Weltkriegsgenerals Erich von Ludendorff, der sich auf die Seite Hitlers stellte, gab Kahr nach und willigte in einen Pakt ein. Nach der Versammlung im Bürgerbräukeller sagten sich von Kahr und von Lossow jedoch noch in derselben Nacht von Hitler und Ludendorff los und ließen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 89 entsprechende Plakate anschlagen. Zur Begründung gaben sie an, sie seien erpreßt worden.

Als Hitler davon erfuhr, war ihm klar, daß er das Gesetz des Handelns wieder verloren hatte, und er versuchte noch einmal durch einen improvisierten Gewaltakt am Morgen des 9. November die Initiative an sich zu reißen: Er organisierte den "Marsch zur Feldherrnhalle", der später von der NS-Propaganda als Heldentat und Opfergang verklärt wurde. Er war weniger eine militärische Machtdemonstration der von Hitler und Ludendorff angeführten bewaffneten Kampfbünde als eine verzweifelte letzte Demonstration, die im Kugelhagel der Landespolizei in der Münchener Innenstadt endete. Vierzehn Putschisten und drei Polizisten wurden getötet, Hitler konnte leicht verletzt und völlig verwirrt zunächst flüchten, nur Ludendorff marschierte weiter. Ein Desaster für die NSDAP, die in der Folge verboten wurde. Hitler stand vor dem Zusammenbruch seiner kurzen politischen Karriere.

Nach monatelangen Voruntersuchungen wurde er am 1. April 1924 in einem Hochverratsverfahren vor dem bayerischen Volksgerichtshof zu fünf Jahren Festungshaft in Landsberg verurteilt. Unverkennbare national-konservative Sympathien des Gerichts und die rhetorischen Fähigkeiten Hitlers machten den Prozeß zu einem Triumph des gescheiterten Putschisten. Unter dem brausenden Beifall der Zuhörer schuf das Gericht, das wie damals überall im Reich üblich mit Angeklagten aus dem rechten Spektrum besonders milde umging, ein Stück von der "Führer-Legende", indem es dem Agitator Tapferkeit, ein "ehrliches Streben", einen "reinen vaterländischen Geist" und " Selbstaufopferung für die Idee, die ihn beseelte" bescheinigte.

Haftzeit

Während seiner Haftzeit, aus der Hitler am 20. Dezember 1924 vorzeitig entlassen wurde, zerbrach die kaum organisierte und nun führerlose Bewegung in mehrere völkische Gruppierungen. Bei den Reichstagswahlen am 4. Mai 1924 erzielte die völkische Liste 1,9 Millionen Stimmen, am 7. Dezember 1924 nur noch 0,9 Millionen - ein Hinweis auf die einsetzende Stabilisierung der Republik nach dem Katastrophenjahr 1923, das bei den Maiwahlen 1924 noch nachgewirkt hatte.

Da Hitler sich an den völkischen Führungsstreitigkeiten nicht beteiligt hatte, konnte er nach seiner Entlassung wieder zum Sammelpunkt beim Wiederaufbau der NSDAP werden. Er hatte aus dem gescheiterten Putsch drei Konsequenzen gezogen: Zuerst ersetzte eine für die Zukunft angestrebte Legalitätstaktik den Gedanken an einen Putsch als Mittel der Machteroberung, ohne daß er damit der politischen Gewalt abschwor; der Massenmobilisierung und dem Weg über Wahlen räumte er lediglich Vorrang ein. Zweitens wurde die am 27. Februar 1925 neu gegründete NSDAP regional weit gefächert und auf Reichsebene straff organisiert. Sie sollte sich von anderen völkischen Gruppen strikt abgrenzen, die paramilitärische SA hatte sich der politischen Führung der Partei unterzuordnen und sollte vor allem der politischen Massenmobilisierung dienen. Drittens sollte die Partei zu einem bedingungslosen Instrument des Führerwillens geformt werden.

Seine Führungsrolle versuchte Hitler durch seine umfangreiche Programmschrift "Mein Kampf" zu sichern, mit deren Abfassung er im Sommer 1924 in Landsberg begonnen hatte. Der erste Band wurde 1925, der zweite 1927 veröffentlicht. Hier verdichteten sich die bisherigen ideologischen Versatzstücke zu einem geschlossenen Programm, dem sich Hitler bei aller Flexibilität in seiner Politik bis zu seinem Ende im Führerbunker mit dogmatischer Unbeirrbarkeit verpflichtet fühlte und das zugleich zum Bezugspunkt aller parteiinternen Rivalitäten wurde.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Die nationalsozialistische Bewegung in der Weimarer Republik

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 90

Die nationalsozialistische Massenbewegung in der Staats- und Wirtschaftskrise

Von Hans-Ulrich Thamer 6.4.2005 geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.

Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.

Ende der 1920er war aus dem Nationalsozialismus eine Massenbewegung geworden - und eine straff organisierte Partei. Mit massiver Propaganda nach innen und außen gewann die NSDAP mehr und mehr Wahlstimmen für sich. Bei den Reichstagswahlen 1930 wurde sie nach der SPD zur zweitstärksten Partei.

Einleitung

Hitler hatte seine Rückkehr in die politische Öffentlichkeit gut vorbereitet. Bei der Neugründung der NSDAP im Münchener Bürgerbräukeller am 26. Februar 1925 bekräftigte er seinen unbedingten Führungsanspruch und rief zugleich zur Einigkeit im völkischen Lager auf. Nur General von Ludendorff, einen der berühmtesten Militärs des Ersten Weltkrieges, wollte er neben sich akzeptieren und bei der Reichspräsidentenwahl unterstützen. Um so leichter fiel es Hitler dann, den General nach dessen Wahlniederlage im Frühjahr 1925 politisch endgültig ins Abseits zu drängen.

Gleichzeitig hatte Hitler seinen Führungsanspruch in der eigenen Partei organisatorisch abgesichert. Die Münchener Ortsgruppe, die er mit seinen engen Gefolgsleuten beherrschte, wurde formell für alle Fragen der Parteiorganisation und Mitgliederaufnahme zuständig. Die gesamte NSDAP war damit organisationsrechtlich ein Ableger der Münchener Ortsgruppe, obwohl sich das Schwergewicht der Partei mittlerweile nach Nord- und Westdeutschland verschoben hatte. Vor allem wurde in der neuen Parteisatzung das Führerprinzip festgeschrieben. Eine innerparteiliche Kontrolle bzw. Willensbildung gab es nicht.

Organisation

Zunächst war Hitler jedoch durch ein Redeverbot, das die bayerische Regierung im März 1925 und nach ihr fast alle anderen Ländern für die Dauer von mindestens zwei Jahren verhängt hatten, daran gehindert, die neue Machtstellung zu entfalten. Stattdessen konnten sich einige Unterführer mit der Billigung Hitlers beim Neuaufbau der Partei hervortun. Dadurch bot die mit etwa 27000 Mitgliedern recht kleine Partei ein buntscheckiges Bild verschiedener politisch-ideologischer Grüppchen und endloser Führungsrivalitäten.

Eine beständige bürokratische Organisationsarbeit war zwar für den Zusammenhalt der Partei unentbehrlich, aber Hitlers Sache war sie nicht. Er bevorzugte eine personale Bindung der Unterführer, die sich nach seinen Vorstellungen im harten Wettstreit untereinander behaupten sollten. Das sollte den Unterführern genügend Spielraum belassen, zugleich aber seine eigene Führerstellung stärken, die vor allem damit begründet werden sollte, daß allein der "Führer" die nationalsozialistische Idee verkörperte. Durchkreuzt wurde diese Unterwerfung unter den Führerwillen zunächst durch das

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 91

Organisationskonzept der Führungsgruppe um . Hitler war auf seine Unterstützung außerhalb Bayerns angewiesen. Strasser hatte in der Arbeitsgemeinschaft der nordwestdeutschen Gauleiter recht unterschiedliche, insgesamt aber linke Strömungen in einer bündischen, kollegialen Führungsstruktur locker zusammengefaßt. Mit eigenen Publikationsorganen, den von redigierten "Nationalsozialistischen Briefen" und der eiwochenschrift "Der Nationale Sozialist " von , vertrat die Parteilinke auch ideologisch eine abweichende, betont sozialistische Linie.

Daß Hitler eine Programmdiskussion, wie sie Strasser mit einem Entwurf zur Präzisierung des höchst verschwommenen 25-Punkte-Parteiprogramms anstrebte, zutiefst zuwider war, weil er dadurch seinen unbeschränkten Führungsanspruch gefährdet sah, mußte der gutgläubige Gregor Strasser auf einer kurzfristig im Frühjahr 1926 nach einberufenen Führertagung erfahren. Sie endete mit einem Sieg Hitlers und dem Umfallen des jungen Goebbels, der autoritätsgläubig in das Lager Hitlers wechselte und fortan zu den eifrigsten Propagandisten des "Führers" gehörte. Gregor Strasser hinderte diese Erfahrung jedoch nicht daran, sich weiterhin und mit noch größerer Energie dem Aufbau einer schlagkräftigen Parteiorganisation zuzuwenden.

Auch im Konflikt mit Ernst Röhm um das zukünftige Konzept der SA setzte sich Hitler im Frühjahr 1925 durch, in diesem Fall von der Strasser-Gruppe unterstützt. Nicht als selbständiger Wehrverband, wie ihn Röhm in der Zwischenzeit weiter ausgebildet hatte, sondern als politischer Verband innerhalb der Partei, sollte die SA wiederaufgebaut werden. Nicht mit paramilitärischen Methoden, sondern als Propagandatruppe und Abbild des politischen Willens der Partei sollte die SA auf der Straße agieren. Das erforderte allein schon der Legalitätskurs, auf den sich Hitler nach dem kläglichen Scheitern seines Putsches festgelegt hatte.

Die Organisationsstruktur der NSDAP beschränkte sich zunächst auf die Reichsleitung in München, auf die Gaue (ihre Zahl schwankte von 1925 bis 1937 zwischen 30 und 36) und die Ortsgruppen. Träger der Parteiarbeit und ihrer Expansion waren die Gauleiter, die als Unterführer in einem personalen Gefolgschaftsverhältnis zum "Führer" standen und ihre Macht auf ihre eigene Durchsetzungsfähigkeit wie auf ihr besonderes Treueverhältnis zum "Führer" gründeten. Sie erkannten ihn überdies als Symbol der Parteieinheit an, obwohl sie in der Regel von Gregor Strasser eingesetzt worden waren.

Dank des Organisationstalents von Strasser wurde die Partei zunächst in ihren Untergliederungen bis hinunter auf die Ebene der Ortsgruppe aufgebaut. Ab 1926, verstärkt ab 1929 kamen Sonderorganisationen und Berufsverbände hinzu, die nach dem Vorbild anderer moderner Massenparteien ein Netzwerk zur Mobilisierung und Erfassung der heterogenen Mitglieder- und Anhängerschaft mit ihren unterschiedlichen Interessen bildeten: 1926 wurde als Jugendverband der " Bund der deutschen Arbeiterjugend" sowie der "Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund " (NSDtB) gegründet; 1928 folgte der "Bund Nationalsozialistischer Juristen", 1929 der " Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund" und der "Kampfbund für Deutsche Kultur", 1929 der " Nationalsozialistische Schülerbund", 1930 der "Agrarpolitische Apparat" und die "Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation" (NSBO), 1931 die "Nationalsozialistische Frauenschaft", im Dezember 1932 der "Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand". Dem Staatsapparat nachempfundene "Ämte für Außenpolitik, Presse, Politik in den Betrieben, Rechtsfragen, Technik usw. kamen hinzu und führten zum ambitiösen Ausbau eines "Schattenstaates", der propagandistisch wirksam den Machtanspruch der Partei repräsentierte und den Ehrgeiz der Funktionäre befriedigte. Vor allem sollte und konnte die Partei dadurch schon früh in die verschiedenen gesellschaftlichen Bereich eindringen, was den Prozeß der Machteroberung ganz erheblich befördern sollte.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 92 Führerkult

Während sich die Partei politisch noch im Abseits oder allenfalls im Aufwind befand, entstand so der organisatorische Rahmen für die spätere Massenmobilisierung. Vor allem wurde der auf Hitler fixierte Führerkult endgültig institutionalisiert: Alle Parteigenossen hatten sich mit "Heil Hitler" zu grüßen und der Jugendverband wurde in "Hitler-Jugend" (HJ) umbenannt. Goebbels wurde nun zum Propagandisten des Führerkultes, den aber auch der in Bamberg unterlegene Gregor Strasser nun energisch unterstützte.

Neben der Schaffung von äußeren Symbolen für seine politische Herrschaft gelang es Hitler vor allem, das Parteiprogramm ganz mit seiner Person zu identifizieren. Adolf Hitler war, wie von der Parteipropaganda unablässig verbreitet, das Programm und stand darum nach außen für eine Geschlossenheit der Partei, die in der parteiinternen Realität nur bedingt existierte und durch Konflikte zwischen einzelnen Unterführern immer wieder gefährdet wurde. Idee und Organisation waren nun in der charismatischen Führerpartei untrennbar miteinander verbunden.

Hitler war zum ideologischen und machtpolitischen Bezugspunkt innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung geworden. Seine Herrschaft gründete sich auf eine tatsächliche persönliche Machtposition über der Partei und ihrer rivalisierenden Fraktionen, aber auch auf eine symbolische, außergewöhnliche Stellung: Auf eine Führererwartung und einen Führerkult, der an ihn herangetragen und von der Propaganda unaufhörlich verstärkt und verbreitet wurde. Diese personale, auf außergewöhnliche Merkmale begründete Herrschaft wurde mit dem Soziologen Max Weber als charismatische Herrschaft bezeichnet. Sie unterscheidet sich von einer traditionalen Herrschaft ererbter Titel wie von einer legalen, unpersönlichen und bürokratischen Herrschaft. Sie war auf eine außerordentliche Machtstellung eines einzelnen gegründet, der das Bedürfnis nach Heroismus und Sendungsbewußtsein, nach Größe und Hingabe verkörperte. Dieser charismatische Herrscher war andererseits auf Erfolg und eine sich ständig erneuernde Zustimmung angewiesen. Seine Entscheidungen orientierten sich nicht nach bürokratischen Regeln, sondern an "Tat und Beispiel" (Max Weber) und erfolgten von Fall zu Fall.

Zu einem erfolgreichen charismatischen Führer gehörte überdies eine Organisation bzw. Gefolgschaft, die alle Kennzeichen einer charismatischen Gemeinschaft erfüllte. Sie bestand aus einem engen Kreis Vertrauter, die zugleich als Transmissionsriemen des Führerkultes dienten und sich zum "Führer" in einem gleichsam feudalen personalen Treueverhältnis befanden. Eine solche charismatische Führerfigur konnte freilich nur in Zeiten Massenwirksamkeit erzielen, die so krisenhaft und außergewöhnlich waren.

Die Willensbildung in der charismatischen Führerpartei, als die man die NSDAP wie kaum eine andere Bewegung charakterisieren kann, bezog sich allein auf die personale Autorität des "Führers". Ansätze kollegialer politischer Willensbildung wurden unterbunden. Innerparteiliche Gruppierungen organisierten sich nicht gegen Hitler, sondern suchten seine Unterstützung im Machtkampf mit anderen Personen und Gruppierungen der Partei zu gewinnen. Hitler duldete und förderte zeitweise solche Gruppenbildungen, die seine Rolle als oberste Schiedsinstanz herausstellen halfen. Die Versuche des Reichsorganisationsleiters Gregor Strasser, durch eine zentrale Reichsleitung die politischen Entscheidungswege der Partei dauerhaft und bürokratisch zu organisieren, gefährdete den Machtanspruch des charismatischen Führers, war aber umgekehrt für eine Massenpartei unverzichtbar. Bezeichnenderweise wurden nach dem Ausscheiden Strassers im Dezember 1932 von Hitler alle Elemente, die auf eine eigene Machtkompetenz der zentralen Reichsitung zielten, wieder rückgängig gemacht und auf Hilter allein bezogen, was die Tendenz zum Zerfallen der Partei in personenorientierte Machtgruppen wieder verstärkte.

Erste Erfolge

Die politischen Erfolge der NSDAP blieben in den Jahren der Stabilisierung der Weimarer Republik sehr beschränkt. Bei dem ersten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl am 29. März 1925 erreichte der von der NSDAP unterstützte Weltkriegsheld Ludendorff nur 285000 Stimmen. Das bedeutete

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 93 zugleich das politische Ende eines für Hitler damals noch gefährlichen Rivalen. Bei den Reichtstagswahlen 1928 erhielt die NSDAP 2,6 Prozent der Stimmen und 12 Abgeordnetensitze. Ende 1929 saßen in 13 Landtagen insgesamt 48 NSDAP-Abgeordnete.

Die erdrutschartigen Wahlerfolge der NSDAP seit 1930 lassen sich nicht aus der Persönlichkeit Hitlers erklären, sondern aus den Erwartungen, die in der großen Krise auf einen charismatischen Führer und seine Bewegung gerichtet wurden. Es war die Aufgabe der nationalsozialistischen Partei, die als charismatische Gemeinschaft längst auf ihren Führer eingeschworen war, das Bild von Hitler als dem Führer und Retter in die Wählerschaft zu tragen und die wachsende Zustimmung zu organisieren. Dabei wurde aus der NSDAP eine ideologische Protestbewegung, deren vorrangiges Ziel die Mobilisierung der Wähler durch eine permanente Propagandakampagne war.

Propaganda

Die NSDAP zog den größten Nutzen aus der Wirtschafts- und Staatskrise, die die Glaubwürdigkeit sowohl der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung wie des parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaates endgültig erschütterte. Mit ihren Ankündigungen eines strikten Sparkurses und der Wiederherstellung eines starken Beamten- und Verwaltungsstaates jenseits der Parteien und des Parlamentes konnten die traditionellen Machtgruppen um den Reichspräsidenten das widersprüchliche Verlangen sowohl nach Arbeit und Brot als auch nach politisch sozialen Visionen nicht befriedigen. Dies gelang hingegen der Hitler-Partei, die Veränderung und Bewahrung zugleich versprach und dies propagandistisch wirksam mit viel Pathos und Radikalität vortrug. Nun zeigten sich die Vorzüge der nationalsozialistischen "Idee", die vage genug war, um das Bild einer besseren Zukunft und eine leidenschaftliche Anklage gegen alles Bestehende zu entwickeln. Nationale Erneuerung und die Vernichtung der Volksfeinde mit dem Ziel einer national Volksgemeinschaft, das waren die Themen der unzähligen Propagandaveranstaltungen.

Hitlers Versprechungen kamen nicht deswegen an, weil sie etwa originell waren, sondern weil sie auf einen weithin fruchtbaren Boden fielen. Ihm und seiner Werbemaschinerie gelang es, die Ängste und Erwartungen der Vielen glaubhaft mit den eigenen Empfindungen zu verbinden und scheinbar einfache Lösungen zu versprechen. Hitler wurde seit dem Ende der zwanziger Jahre zunehmend zum "Vereinigungspunkt vieler Sehnsüchte, Ängste und Ressentiments" (Fest).

Hitlers Erfolge als Agitator waren in der Suggestivität seiner Rhetorik und in der immer weiter verfeinerten Inszenierung um seine Auftritte herum begründet. Seit seinen Anfängen in den Münchener Bierkellern hatte Hitler seine Zuhörer durch den beißenden Sarkasmus und auch durch das leidenschaftliche Pathos seiner Reden angezogen, und war dabei weder vor pseudoreligiösen Formeln noch vor brutalen Haßtiraden zurückgeschreckt. Er war immer flexibel genug, um sich den Erwartungen seiner jeweiligen Zuhörerschaft anzupassen und in der Thematik wie in der Tonlage und den Äußerlichkeiten seines Auftretens zu variieren. Das Repertoire reichte von einem Verhalten, das durch Attribute wie Lederpeitschen und Revolver revolutionäre Entschlossenheit signalisieren sollte, bis zu einem betont linkischen, zurückhaltenden Auftreten, mit dem er seine bürgerlichen Gönner mit Erfolg zu gewinnen suchte. Dann konnte er wieder der Natur- und Kunstfreund sein; später nach der "Machtergreifung" gefiel er sich in der Pose des Staatsmnes und des Mannes der "Vorsehung", der sich über die Kleinlichkeiten des Alltages längst erhoben hatte.

Auch wenn es sicherlich zutreffend ist, seit den späten zwanziger Jahren von einer "Hitler-Partei" zu sprechen, so ist die Wirkung des charismatischen Führers nicht ohne einen Blick auf die Führungsclique und seine propagandistischen Multiplikatoren zu erklären. Sie waren Hitler in einem personalen Treue- Verhältnis verbunden und wirkten ihrerseits beständig an der Verbreitung des Führer-Mythos mit. Das galt für Goebbels, der zu Hitler seit 1926 in einem besonderen Verhältnis der gläubigen Unterwerfung stand und der in hymnischen Wendungen am Führer-Mythos strickte. Das galt aber auch für Gregor Strasser, der, als potentieller Rivale zu schwach, alles daran setzte, durch das Zusammenwirken von Organisation und Propaganda, die NSDAP zu mobilisieren und die inneren Schwächen zu überspielen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 94

Instrumente der Agitation und Mobilisierung, die alle auf den Führer-Mythos ausgerichtet waren, bildeten Parteirituale und -symbole ebenso wie Aufmärsche und Demonstrationszüge der Parteigliederungen. Durch Parteitage und durch die Wahlkämpfe mit ihren Massenkundgebungen, mit ihren Fahnen, Appellen und ihrer Massenchoreographie, durch den Einsatz von Werbefilmen, Lautsprecherübertragungen und durch die spektakulären Deutschlandflüge mit der vieldeutigen Parole "Hitler über Deutschland" im April und Juli 1932 wurde eine Allgegenwart des Nationalsozialismus suggeriert. Damit signalisierte die NSDAP einerseits Entschlossenheit und Dynamik, andererseits technische Modernität und jugendlichen Aktivismus und unterstrich zugleich die charismatische Stellung Hitlers.

Organisationsstruktur der NSDAP

Die Partei wurde straff zentralisiert nach dem "Führerprinzip" gegliedert und auf den "Führer" als letztverantwortliche Instanz ausgerichtet, demokratische Ansätze der Frühzeit schnell durch das diktatorische Ernennungsprinzip von oben nach unten ersetzt. Oberstes Organ der NSDAP war die Reichsleitung mit dem "Führer" und der "Kanzlei des Führers" bzw. seit 1941 der "Parteikanzlei" an der Spitze und den einzelnen Amtsleitern bzw. ab 1933 Reichsleitern für bestimmte Aufgaben: unter anderem der Stellvertreter des "Führers" (1925-32 Gregor Strasser, 1933-41 Rudolf Heß) bzw. seit 1941 der Sekretär des "Führers" (), der Reichspropagandaleiter (1925-28 Strasser, seit 1929 Joseph Goebbels), der Reichsorganisationsleiter (1928-32 Strasser, dann ), der Reichsschatzmeister (Franz Xaver Schwarz), der Oberste Parteirichter (Walter Buch), der Reichspressechef (), der Amtsleiter für die Presse (Max Amann), der Stabschef der SA (1930-34 Ernst Röhm), der Reichsjugendführer (ab 1931 Baldur v. Schirach), der Parteigeschäftsführer (Philipp Bouhler) sowie der Chef der Auslandsabteilung (Ernst Wilhelm Bohle), des späteren Reichsamtes für Agrarpolitik (Richard Walter Darré), des Reichsrechtsamtes (), des Außenpolitischen Amtes (Alfred Rosenberg), des Kolonialpolitischen Amtes (Franz Ritter von Epp) und der Reichstagsfraktion (). Regional war die NSDAP vertikal durchstrukturiert in Gaue [ ], Kreise, Ortsgruppen, Zellen und Blocks; ihre Leiter bildeten zusammen das "Korps der politischen Leiter", 1937 rund 700000 Personen.

Wendt, Bernd-Jürgen, Deutschland 1933-1945. Das Dritte Reich. Hannover 1995, S. 46 f.

Die Rastlosigkeit der regionalen Versammlungswellen und der Propagandamärsche, der Plakat- und Flugblattaktionen, der Werbetrupps und SA-Musikzüge, der SA-Suppenküchen und der Spendenbüchsen erweckte den Eindruck permanenter Bewegung und Kraftentfaltung. Die Demonstrationsmärsche der SA oft durch Wohnquartiere der politisch-sozialen Gegner schufen nicht nur eine bürgerkriegsähnliche Situation, sondern boten dem Nationalsozialismus die Chance, sich als entschlossene Kampfbewegung darzustellen. Aktionismus und Gewalt von den paramilitärischen Parteiverbänden der SA und SS, Überfälle auf kommunistische Parteieinrichtungen und -mitglieder, wobei man auch nicht vor Mordaktionen zurückschreckte; ferner der Irrationalismus der Fahnenweihen und des Märtyrerkultes um die nationalsozialistischen Opfer der Straßenkämpfe, schließlich die Treue- und Opferschwüre - all das waren Elemente einer Heroisierung der Politik. Sie sollten Zeichen dafür sein, daß man sich in einem fundamentalen Gegensatz zur politischen Kultur der rlamentarischen Demokratie verstand.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 95 Mitglieder und Wähler

Hitlers Charisma mußte nicht jeden beeindrucken; für viele wirkte das Ritual der nationalsozialistischen Propaganda und Rhetorik eher lächerlich oder abstoßend. Das galt vor allem für diejenigen, die über feste kulturelle Orientierungen verfügten: Weite Teile des katholischen Deutschlands, vor allem dort, wo die Konfession noch eine starke Wirkungskraft besaß, und ebenso die klassenbewußte, vor allem sozialdemokratische Arbeiterschaft, die in der Arbeiterkultur verankert war.

Umgekehrt gewann die NSDAP zunächst vor allem Anhänger unter der vorwiegend protestantischen Bevölkerung Nord- und Ostdeutschlands. Hitler fand mehr Zustimmung auf dem Land und in kleinen Städten als in industriellen Großstädten. Mitglieder und Wähler kamen vor allem aus den Schichten, die sich von der Krise in ihrer Existenz bedroht sowie um ihre Zukunft betrogen fühlten und die auf eine Veränderung aber nicht im Sinne der sozialistischen Parteien drängten. Stattdessen wollten sie an Elementen der Tradition und überkommener Autorität festhalten. Zugleich wurden sie durch antidemokratisches Gedankengut umgetrieben.

Aktive Mitglieder der NSDAP waren vor allem jüngere Männer. Nur 7,8 Prozent der Neuzugänge zwischen 1925 und 1932 waren Frauen. Fast 70 Prozent der Mitglieder im Jahre 1930 waren jünger als 40 Jahre, 37 Prozent jünger als 30 Jahre. Auch von den Parteifunktionären waren 65 Prozent unter 40 Jahre, 26 Prozent unter 30. Neben der sozialen Rekrutierung spielte also das Alter, das jugendliche Auftreten, eine erhebliche Rolle für den Beitritt zur NSDAP.

In sozialer Hinsicht stammten von den neuen Mitgliedern der Jahre 1930 bis 1932 35,9 Prozent aus den Unterschichten, 54,9 Prozent aus der unteren Mittelschicht und 9,2 Prozent aus der Oberschicht. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung waren die untere Mittelschicht und die Oberschicht deutlich überrepräsentiert, die Unterschichten unterrepräsentiert. Dennoch rekrutierten sich die NSDAP- Mitglieder aus allen sozialen Schichten, was in der Parteienlandschaft der Weimarer Republik relativ ungewöhnlich war. Immerhin waren ein Drittel der Neuzugänge Angehörige der Unterschichten, und die NSDAP war neben ihrem deutlichen mittelständischen Kern auch eine "Arbeiterpartei". Dabei rangierte sie allerdings nach SPD und KPD auf dem dritten Platz. In der Mehrzahl handelte es sich um bislang nichtorganisierte Arbeiter aus kleineren und mittleren Betrieben, aus Heimarbeit und Kleingewerbe und aus dem öffentlichen Dienst, die vor allem nach dem September 1930 zur NSDAP strömten.

Den ursprünglichen Kern bildeten Angehörige der unteren Mittelschichten, darunter vor allem Kaufleute und Gewerbetreibende (17,3 Prozent), kleinere und mittlere Angestellte (25,6 Prozent), Freiberufler (3 Prozent) und nichtakademische Fachleute wie Bauern (14,1 Prozent). Am Vorabend der Septemberwahlen 1930 waren 17,3 Prozent der Mitglieder Selbständige aus Handwerk, Gewerbe und Handel (Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 9,2 Prozent). Auch kleine und mittlere Angestellte waren gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in der NSDAP immer überrepräsentiert. Obwohl ihnen parteipolitische Aktivitäten untersagt waren, waren 1930 immerhin schon 8,3 Prozent der Mitglieder der NSDAP Beamte. Bemerkenswert war auch der Anteil der Bauern mit 14,1 Prozent, war dies doch eine soziale Gruppe, die sich traditionsgemäß politisch weniger organisierte.

Bedeutung der Mittelschichten

Was für die soziale Herkunft der Mitglieder gilt, bestätigt sich mit einigen Verschiebungen auch bei den Wählern. Die NSDAP fand ihre Wähler in allen Schichten und sie stellte darum den Typus einer "Volkspartei" dar. Das Gewicht der verschiedenen sozialen Schichten veränderte sich im Verlauf der Parteigeschichte. Den stabilsten Kern der NS-Wählerschaft bildeten Angehörige der alten städtischen Mittelschichten und der kleinen Landwirte. In der großen Krise kamen vor allem Protestwähler aus der neuen Mittelschicht der Angestellten sowie aus dem Rentnermilieu hinzu. Nach 1930 wuchs zudem die Neigung bürgerlicher Honoratioren, die NSDAP zu wählen, sehr stark. Das zeigen die Wahlergebnisse in wohlhabenden Wohnvierteln der Städte. Der Anteil der Frauen unter den NS- Wählern war 1930 im Vergleich zur Gesamtbevölkerung noch leicht unterrepräsentiert, was sich bis

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 96

1933 in ein leichtes Übergewicht verwandelte.

Wichtig im Wahlverhalten waren die regionalen und konfessionellen Unterschiede. Die NSDAP wurde in den protestantischen Kreisen Norddeutschlands gewählt bis hin ins protestantische Franken und nach Thüringen. Sie gewann 50 Prozent ihrer Stimmen in Gemeinden und Städten unter 5000 Einwohnern, in den Großstädten nur maximal 40 Prozent. Gegen den verbreiteten Sog zur NSDAP konnten sich nur die Zentrums-Partei, die noch einigermaßen fest im katholischen Milieu verankert war, wie die SPD und die KPD andererseits behaupten, die ihre Stammwähler weitgehend halten konnten.

Was die Hitler-Partei attraktiv machte, waren die Wirksamkeit des Hitler-Kultes, die restaurativen Sehnsüchte nach der Rückkehr zu alten Sozialordnungen wie auch die Erwartungen von sozialem Aufstieg und Modernisierung. Bei genauerem Zusehen hätte auffallen müssen, daß die verschiedenen Versprechungen, die die NSDAP ihrem aus fast allen sozialen Lagern stammenden Publikum machte, in sich höchst widersprüchlich waren und längst nicht alle materiellen Interessen der Anhänger hätten befriedigen können (und später auch nicht getan haben). Daß die Propaganda in einer solchen von Krisen, Ängsten und Hoffnungen geprägten Situation so attraktiv war und daß der Appell zur Volksgemeinschaft und nationalen Größe so wirksam werden konnte, war ein Reflex der Legitimations- und Identitätskrise der deutschen Gesellschaft der frühen dreißiger Jahre, die sich in ihrer Mehrheit nach einfachen und radikalen Lösungen sehnte.

Die NSDAP finanzierte ihre aufwendigen Propagandakampagnen in erster Linie durch ihre Mitglieder und deren Beiträge, durch Eintrittsgelder für ihre Massenveranstaltungen und dann auch durch Spenden von Sympathisanten aus dem bürgerlich-gewerblichen Bereich, vor allem von Inhabern kleinerer und mittlerer Betriebe. Es liegen dagegen keine Belege für eine kontinuierliche finanzielle Förderung der NSDAP durch die Großindustrie vor, die ihre Zuweisungen zudem parteipolitisch streute. Auch wenn es aus Banken und Großunternehmungen wie der IG-Farben persönliche finanzielle Zuwendungen an einzelne Repräsentanten eines wirtschaftsfreundlichen Kurses in der NSDAP gab, so erfolgten diese und andere Subventionen in der Regel immer erst nach den Wahlerfolgen der NSDAP.

Wie begrenzt die politischen Einflußmöglichkeiten des Geldes waren, zeigen Versuche der Großindustrie zwischen 1930 und 1932, eine bürgerliche Rechtspartei nach eigenen Wünschen zu gründen bzw. zu fördern, was fehlschlug. Zudem war das Verhalten der Großindustrie gegenüber der NSDAP und einer Regierungsbeteiligung Hitlers sehr uneinheitlich; nur eine kleine Fraktion, darunter Fritz Thyssen und Paul Silverberg, zweiter Mann des Reichsverbandes der Industrie, unterstützte Hitler; die Mehrheit aus Schwerindustrie und den modernen Leichtindustrien aus Elektro-, Chemie- und Verarbeitungsbereich setzte weiterhin auf eine Präsidialregierung unter Franz von Papen oder gab dem Konzept des Reichskanzlers Kurt von Schleicher den Vorzug. Entscheidender war die Rolle der Großwirtschaft, die sie im Verbund mit anderen traditionellen Machteliten schon zuvor bei der Zerstörung der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer autoritären Staatsform seit 1929/30 gespielt hatten; eine Lösung, die sich am Ende dann vor dem Ansturm der nationalsozialistischen Massenbewegung nicht behaupten konnte.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 97 Auf dem Weg zur Macht

Der Durchbruch zur Macht vollzog sich in kaum mehr als zwei Jahren. Nachdem die NSDAP durch ihre Beteiligung am Volksbegehren gegen den Young-Plan vom 22. Dezember 1929, das die endgültige Regelung der deutschen Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg vorsah, von der traditionellen Rechten aus Deutschnationalen und Stahlhelm hoffähig gemacht worden war, gelang es Hitler, erste Erfolge bereits bei Kommunal- und Landtagswahlen im Winter 1929/30 zu erringen. Auffällig war auch die starke Mitgliederzunahme unmittelbar nach dem Volksbegehren, mit dem in einer großangelegten Hetzkampagne gegen die angebliche "Versklavung des deutschen Volkes" und mit der Drohung von Landesverratsanklagen gegen alle an der Annahme des Young-Plans Beteiligten die nationalen Leidenschaften aufgewühlt worden waren. Allein im Dezember 1929 sollen 19000 Aufnahmegesuche bei der NSDAP eingegangen sein. Bereits im Frühjahr 1930 betrug die Mitgliederzahl der Partei über 200000. Der Aufstieg der NSDAP ging also nicht allein auf die Weltwirtschaftskrise zurück, sondern begann bereits vorher in einer Phase der nationalistischen Emotionalisierung, das heißt in einem Moment der sich zuspitzenden Krise der parlamentarischen Demokratie.

In dieser Stimmung konnte die NSDAP bei den Landtagswahlen in Thüringen im Dezember 1929 ihre Stimmenzahl verdreifachen, so daß sie zum ersten Mal auf über zehn Prozent der Stimmen anwuchs. Hier wurde dann auch die erste Regierung unter Beteiligung der NSDAP mit Wilhelm Frick als Innen- und Volksbildungsminister gebildet, der alles tat, um Thüringen zum "nationalsozialistischen Modell" (Broszat) zu machen. Es gelang ihm, den nationalsozialistischen Einfluß auf die Schulen auszudehnen, an der Universität einen Lehrstuhl für Rassenfragen und Rassenkunde einzurichten und erste personalpolitische Säuberungsaktionen vorzunehmen, die sich derselben antimarxistischen Argumente bedienten wie später bei der nationalsozialistischen Machtergreifung im Frühjahr 1933. Schließlich konnte der sozialdemokratische Reichsinnenminister einer weiteren Nazifizierung Thüringens durch Sperrung von Finanzzuweisungen einen Riegel vorschieben.

Schon 1932 eroberten die Nationalsozialisten auch andere Länder wie Oldenburg, Sachsen-Anhalt und , wo Hitler 1932 vor der Reichspräsidentenwahl noch in aller Eile zum Regierungsrat ernannt wurde, um die zur Wahl notwendige deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten. Bei der Landtagswahl am 24. April 1932 verkürzte sich in Bayern der Abstand zwischen Zentrum bzw. Bayerischer Volkspartei (BVP, 32,6) zur NSDAP (32,5) auf 0,1 Prozent. Dies macht augenfällig, wie wichtig diese ersten Stützpunkte in den Ländern sein sollten; später bei der Politik der im Frühjahr 1933 bildeten sie die entscheidenden Brückenköpfe.

Reichstagswahlen 1930

Zu einem politischen Erdrutsch kam es dann bei den Reichstagswahlen im September 1930. Die NSDAP konnte mit 6,4 Millionen Wählern (18,3 Prozent) das Achtfache der Wählerzahl von 1928 vorweisen: Ihre Mandatszahl stieg von zwölf auf 107. Damit war sie hinter der SPD (24,5 Prozent) und vor dem Zentrum zur zweitstärksten Partei geworden und hatte über Nacht die Parteienlandschaft verändert. Bereits die ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung von 82 Prozent, die fast an den Spitzenwert von 1919 (83 Prozent) heranreichte, zeigt das Ausmaß der Mobilisierung, die sich vor allem zugunsten der NSDAP auswirkte. Neben der hohen Wahlbeteiligung waren vor allem die Verluste der bürgerlichen Parteien für den Wahlerfolg der NSDAP verantwortlich. Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) waren plötzlich zu Splitterparteien geworden, und auch Hugenbergs Deutschnationale Volkspartei (DNVP) war auf sieben Prozent zusammengeschrumpft. Sonst hatten nur noch die Kommunisten Gewinne erzielt, deren Ergebnis mit 13,1 Prozent längst nicht so dramatisch ausfiel wie das der NSDAP.

Die historische Zäsur, die diese Wahl bedeutete, wurde auch von den Zeitgenossen sofort erkannt. Sie galt ihnen als Ausdruck der Krise des Parlamentarismus und eines Legitimationsschwundes der bürgerlich-liberalen Ordnung, der sich offenbar in einem unbestimmten Wunsch nach Veränderung niederschlug. "Kein positiver Wille, auch nicht der zu einem wirklichen Umsturz des heutigen Staates

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 98

[...] steht hinter einem großen Teil dieser radikal-negierenden Stimmen", stellte die "Frankfurter Zeitung" fest.

Reaktionen auf NSDAP-Gewinne

Auch verfassungspolitisch stand nun ein neues Thema auf der Tagesordnung. Hatte der Gegensatz bis dahin noch gelautet "Republik oder Monarchie", so wurde dies nun von dem Gegensatz "Rechtsstaat oder Diktatur" überlagert. Aus der Verschränkung dieser beiden Alternativen, die gegen die Republik gerichtet waren, ergab sich ein großer Teil der Dynamik im Auflösungsprozeß der Weimarer Republik, der mit der Machteroberung durch die NSDAP verbunden war, aber davon nicht allein verursacht worden war. Denn die Weimarer Republik war bereits seit 1930 durch die Schwäche der sie tragenden Parteien und die mangelnde Konsensfähigkeit im Parlament, vor allem aber durch die Pläne zu einer Verfassungsveränderung von rechts in einem Zustand der Auflösung, so daß die Nationalsozialisten diesen Prozeß zusammen mit den Verfechtern einer autoritären Lösung nur noch beschleunigt haben.

Seit den Septemberwahlen von 1930 ging es in der deutschen Politik auch um die Frage, wie man sich gegenüber der neuen nationalsozialistischen Massenbewegung verhalten sollte. Überlegungen wurden in Reichswehr und Politik laut, die mittelfristig eine Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten anstrebten, um diese zu zähmen und zu integrieren. Die Alternative, die ebenfalls in Parteien und Parlament diskutiert wurde, war die Bildung einer geschlossenen Abwehrfront gegen diese Herausforderung. Zunächst gab es durchaus Anzeichen dafür, daß die Kräfte des Rechtsstaates und der Verständigung zusammenrückten: Die Sozialdemokraten tolerierten den Sparkurs von Reichskanzler Brüning. Darüber hinaus versuchten Preußen und andere demokratische Länderregierungen, durch Verordnungen und durch Druck auf die Reichsregierung energisch gegen die politischen Gewalttätigkeiten der Nationalsozialisten vorzugehen.

Daneben gab es auch im gesellschaftlichen Bereich Widerstand. Das sozialdemokratische Reichsbanner machte gegen die NSDAP mobil. Auch die katholischen Bischöfe grenzten sich in gemeinsamen Erklärungen scharf vom Nationalsozialismus ab. Eine erste Maßnahme des Reiches war eine Notverordnung des Reichspräsidenten 1931 gegen politische Gewalttätigkeit von links und rechts; die schärfste Form war die Notverordnung vom April 1932 "zur Sicherung der Staatsautorität", die ein Verbot von SA und SS aussprach. Doch prominente Förderer und Anhänger, bis hin zum Kaisersohn August Wilhelm von Preußen sicherten der NSDAP nach wie vor hohes Ansehen. Darüber hinaus lösten Überlegungen der Reichswehr, die das Wehrpotential der SA für ihre Zwecke nutzen wollte, die Abwehrfront noch weiter auf. So blieben die Abwehrmaßnahmen Stückwerk und wurden bald von erneuten Vorleistungen an die NSDAP aufgelöst.

Unübersehbar waren zudem auch Pläne, die "national wertvollen Kräfte" der NSDAP für die eigenen Zielsetzungen fruchtbar zu machen. Überlegungen, man könne und müsse die revolutionären Elemente im Nationalsozialismus nur zähmen und die Bewegung behutsam an den Staat heranführen, mußten in dem Maße attraktiver werden, in dem die ökonomische Krise sich seit 1931 noch zuspitzte, die NSDAP noch größeren Zulauf erhielt. Derartige Vorstellungen gab es in der Reichswehr, aber auch in der Großwirtschaft und schließlich bei den bürgerlichen Rechtsparteien. Auch Brüning suchte im Oktober 1930 das politische Gespräch, um festzustellen, ob mit Hitler nicht in eine kalkulierbare politische Verabredung zu kommen wäre. Das mußte freilich das Mißtrauen bei den demokratischen Parteien wachsen lassen, besonders bei der SPD, die umgekehrt auf der radikalen politischen Linken in der erstarkenden KPD einen Konkurrenten besaß, mit dem man angesichts der sozialen Not und der Verbitterung vor allem im Arbeitermilieu rechnen mußte undadurch im Handlungsspielraum eingeengt war.

Nach der Septemberwahl war nicht absehbar, wie Hitler den Weg zur Macht fortsetzen wollte. Verhandlungen über eine direkte Beteiligung an der Regierung blieben ohne Erfolg, andererseits wuchs mit dem Erfolg auch der Erwartungsdruck der Anhänger. Die Frage, ob man den Legalitätskurs einhalten oder wieder zur revolutionären Strategie greifen sollte, war längst noch nicht entschieden und wurde

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 99 durch Ausbrüche von politischer Gewalt in NSDAP und SA immer wieder aufgeworfen. Eine andere Möglichkeit bestand im Bündnis mit der nationalistischen Rechten, das im Oktober 1931 in Gestalt der "Harzburger Front", einem vorübergehenden Zusammenschluß nationalistischer und vaterländischer Verbände von Deutschnationalen, NSDAP und dem mächtigen konservativ-autoritären Frontsoldatenverband "Stahlhelm". Dazu waren das gegenseitige Mißtrauen und die jeweils eigenen Profilierungs- und Machtansprüche viel zu groß.

Deutlich wurde dies bei den Reichspräsidentenwahlen von 1932, wo die bürgerliche Rechte und die NSDAP sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten. In einer Stichwahl kam es zum Zweikampf zwischen Hitler und Hindenburg. Hindenburg wurde dabei von einer Koalition der demokratischen Parteien unterstützt und konnte eine Mehrheit von 53 Prozent auf sich vereinigen. Hitler konnte hingegen mit 36,8 Prozent eine erneute Stimmensteigerung verzeichnen. Doch in der ungeduldigen Massenbewegung, besonders in der SA, wurde das als Niederlage empfunden, die erneut die Frage der richtigen politischen Strategie aufkommen ließ.

Die internen Zweifel und Gegensätze wuchsen, als bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 die NSDAP zwar noch einmal zulegen konnte (37,3 Prozent), aber ein Ende der Zuwachsraten absehbar war. "Zur absoluten Mehrheit kommen wir so nicht", notierte Goebbels in sein Tagebuch. "Also einen anderen Weg einschlagen." Für den Propagandaleiter konnte das nur eine Abkehr vom Legalitätskurs oder vom Verlangen der NSDAP nach der ganzen Macht bedeuten. Für eine dezidierte Kursänderung trat der Reichsorganisationsleiter, Gregor Strasser, ein, der wegen der prekären Finanzsituation der Partei und der Grenzen der Mobilisierungsstrategie nach möglichen Koalitionen Ausschau hielt.

Von Papens Preußenschlag

Unterdessen hatte Reichspräsident von Hindenburg Ende Mai 1932 die Regierung Brüning fallengelassen. Massiv beeinflußt von General Kurt von Schleicher aus dem Reichswehrministerium hatte er stattdessen mit dem Zentrumspolitiker Franz von Papen und seinem Kabinett von parteipolitisch ungebundenen Adligen am 1. Juni 1932 eine neue Regierung installiert, die in einer Zeit wirtschaftlicher Krise und tiefgehender Massenmobilisierung politisch völlig isoliert war. Sie konnte sich nur auf das Notverordnungsrecht nach Artikel 48 der Verfassung und die Macht der Bürokratie und der Reichswehr stützen. Die Regierung Papen mit ihrem "Neuen Kurs" sollte nach dem Willen ihrer Schöpfer eine neue und entscheidende Stufe im Prozeß der autoritären Umgestaltung der Verfassung sein. Damit war einerseits eine Rückkehr zu einer halb-parlamentarischen halb- diktatorialen Regierungsform nach dem Muster Brünings verbaut. Andererseits gab es im Reichstag eine Mehrheit der verfassungsfeindlichen Parteien von NSDAP und KPD. Damit waren tionale politische Entscheidungen oder gar der Versuch eines mehrheitsfähigen parlamentarischen Konsenses aussichtslos oder liefen ins Leere. Stattdessen war nun Zufällen, Intrigen und Massenemotionen Tür und Tor geöffnet.

Dennoch wurden in der kurzen Regierungszeit Papens wichtige Weichen gestellt: Zunächst wurden neue Minister aus dem Lager der politischen Rechten bestellt, die außerhalb des parlamentarischen Spektrums standen und grundsätzlich auch zu einer Zusammenarbeit mit der NSDAP bereit waren. Sie hatten dann auch keine Probleme, nach dem 30. Januar 1933 in der Regierung Hitler weiter mitzuarbeiten. Auch einer Außerkraftsetzung der Verfassung und einer autoritären Diktatur - gestützt auf die Reichswehr - stand die Regierung Papen nicht ablehnend gegenüber, was einen sichtbaren Ausdruck in ihrer ersten spektakulären Aktion fand, dem "Preußenschlag" vom 20. Juli 1932.

Rechtswidrig und nur fadenscheinig begründet setzte von Papen die geschäftsführende, das heißt die nach den Landtagswahlen vom April 1932 ohne parlamentarische Mehrheit arbeitende preußische Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun ab, die von Sozialdemokraten und Zentrum getragen wurde. Der Reichskanzler übernahm selbst das Amt des preußischen Ministerpräsidenten, für den Posten des Innenministers wurde ein Reichskommissar ernannt. Auch wenn die preußische Regierung nach den Wahlen ihre Mehrheit verloren hatte und der neue Landtag nicht mehr zur Mehrheitsbildung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 100 fähig war, war dies ein offener Verfassungsbruch.

Damit war ein wichtiges Bollwerk der Republik geschleift und die föderale Struktur der Verfassung entscheidend ausgehöhlt. In den folgenden Wochen und Monaten wurden in Preußen sozialdemokratische oder demokratische Regierungs- und Polizeipräsidenten oder Landräte ihrer Ämter enthoben und durch konservative Beamte ersetzt. Vor allem aber machte der Verlauf der Aktion, die auf wenig Widerstand stieß, deutlich, wie schwach die Demokratie nur noch war. Für die Nationalsozialisten sollte sich die Ausschaltung einer demokratischen Länderregierung und die sich daran anschließenden politischen Säuberungen in den Spitzen der Bürokratie als folgenreichste Vorleistung erweisen. Immerhin war damit ein antirepublikanischer Stützpunkt errichtet, der zum Ausgangspunkt der Gleichschaltungsaktionen im Frühjahr 1933 wurde.

Noch eine andere Vorleistung hatte die Regierung Franz von Papen sofort gebracht: Die Aufhebung des von Brüning und seinem Innenminister Wilhelm Groener verfügten SA-Verbots, was die Welle der bürgerkriegsähnlichen Gewaltaktionen sofort wieder anschwellen ließ und auch die Atmosphäre prägte, in der im Juli 1932 erneut Reichtstagswahlen stattfanden. Diese waren notwendig geworden, da von Papen, der keine parlamentarische Mehrheit besaß, am 4. Juni den Reichstag aufgelöst hatte. Wozu sich diese unruhige Truppe, die massiven Zulauf erhalten hatte, einsetzen ließ, zeigten die Vorgänge nach den Wahlen.

Nachdem bereits in ersten Vorgesprächen der neue Reichswehrminister von Schleicher eine Unterstützung der Reichskanzlerschaft Hitlers abgelehnt hatte, verweigerte der greise Reichspräsident von Hindenburg Hitler in einem kurzen Gespräch am 13. August strikt die Übergabe der Regierungsgewalt. Die Reichsregierung verschärfte noch diese Niederlage durch die Veröffentlichung eines Kommuniques, in dem sie nicht nur Hindenburgs Weigerung bekanntgab, sondern auch auf die Diktaturgefahr verwies, die von der NSDAP ausginge. Auch der Aufmarsch von SA-Truppen in Berlin konnte die alten Eliten nicht von ihrer Haltung abbringen, zumal Hitler vor einer offenen Kraftprobe mit der Exekutive zurückschreckte.

In der SA lösten die Demütigungen und die zurückhaltende Taktik Hitlers eine neue Welle der Enttäuschung und Wut aus. Daß für Papen und seine Führungsgruppe ein Zurück zu einem parlamentarischen System völlig ausgeschlossen war, machten die Pläne und Programme für einen Neuen Staat deutlich, die seine Ratgeber entwickelten. Sie planten eine autoritäre Staatsordnung ohne Parteien und mit einem schwachen Parlament, dessen Kompetenzen fast völlig beschnitten werden sollten. Außerhalb des Reichstages hatten solche Vorstellungen, die zurück in die Bismarck-Zeit strebten, durchaus Anhänger: in Teilen der Industrie und unter Großagrariern, aber auch in Reichswehr und Bürokratie. Auch an eine autoritäre Formierung der Erziehung war gedacht. Mit einer Notverordnung vom September 1932 wurde vor dem Hintergrund einer finanziellen Notlage größten Ausmaßes die Abkehr von den sozialpolitischen Errungenschaften des Weimarer Wohlfahrtsstaates praktiziert: Die Tariflöhne konnten nun um zwölf Prozent, in manchen Fällen um 20 Prozent unterschritten werden und auch die Leistungen im Wohlfahrtsbereich wurden drastisch eingeschränkt.

Mit seinen Plänen für einen autoritären "Neuen Staat" bewegte sich Papen freilich zunehmend im politischen Niemandsland. Noch brauchte er nach den Bestimmungen der Verfassung die parlamentarische Duldung für seine Notverordnungsregierung, und die erhielt er nach den Wahlen vom Juli nicht mehr. Auch drohten die Gewerkschaften mit einem Generalstreik. Auf der anderen Seite ließ die wachsende Welle von Gewalt, die über das Land schwappte, zunehmend Zweifel an der Ordnungskraft dieser Regierungsform aufkommen. Bevor Papen weiter handeln konnte, hatte ihm aber der neugewählte Reichstag schon die Unterstützung verweigert, so daß es zu einer erneuten Auflösung des Parlamentes und zu Neuwahlen am 6. November 1932 kam.

Schleichers schnelles Scheitern

Bei den Novemberwahlen waren die Stimmen der NSDAP von 37,3 Prozent auf 33,1 Prozent merklich

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 101 zurückgegangen, während umgekehrt die KPD einen Zuwachs von 14,3 Prozent auf 16,9 Prozent zu verzeichnen hatte. Die beiden extremistischen Parteien verfügten wiederum über eine Blockademehrheit im Reichstag. Die Regierung Papen fand wieder keine parlamentarische Basis und es blieb ihr nur noch der Rücktritt. Damit endete eine Phase konservativ-autoritärer Illusionen, in der versucht worden war, Ziele einer kleinen Oberschicht zum Fundament einer Regierung und eines Staates zu machen. Wollte Schleicher seine alternative Strategie einer Einbindung der als "wertvoll" erachteten Teile der NSDAP in die Regierung doch noch verwirklichen, mußte er, der bisher immer im Hintergrund agiert hatte, nun selbst das politische Ruder übernehmen. Er setzte auf ein alternatives politisches Programm, das auf die veränderten politischen Kräfteverhältnisse und auch auf mögliche interne Gegensätze in der NSDAP zu reagieren suchte.

Schleicher verkündete eine Politik des "Burgfriedens" zwischen den politisch-sozialen Lagern und die Bildung einer "Querachse" zwischen den Freien Gewerkschaften einerseits und den kooperationswilligen Teilen der NSDAP andererseits zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und des sozialen Elends. Er bot Gregor Strasser als dem vermeintlichen Exponenten solcher Kräfte in der NSDAP die Vizekanzlerschaft an, jedoch waren die Gräben zwischen den Lagern zu tief und die Machtverhältnisse in der NSDAP anders als Schleicher dies vermutet hatte. Die Gewerkschaften gaben ihm eine Absage, weil sie die Glaubwürdigkeit Schleichers und seines angedeuteten politischen Kurswechsels bezweifelten und weil sie noch stärker als die SPD, die sich vorsichtig kooperationsbereit zeigte, fürchteten, durch ein solches Bündnis mit einer Regierung, deren Mitglieder als elitäre "Herrenreiter" galten, Einfluß an die radikale KPD abzugeben.

Gregor Strasser nahm das Angebot zwar ernst, doch zeigte er sich im entscheidenden Moment Hitler an politischer Willenskraft unterlegen und beugte sich seinem Kurs des Alles oder Nichts. Mehr noch er trat von allen Parteiämtern zurück und resignierte, was ihn freilich genauso wenig von Hitlers späterer Rache schützte wie Schleicher. Beide wurden in den Mordaktionen während der sogenannten Röhm- Affäre im Sommer 1934 durch den nationalsozialistischen Staat umgebracht. Schleichers Plan scheiterte aber auch am Mißtrauen der großen wirtschaftlichen Interessenorganisationen. Sowohl die Großagrarier als auch Teile der Industrie lehnten seinen Kurs als "sozialistisch" ab und intervenierten dementsprechend beim Reichspräsidenten, der einzigen Stütze der Präsidialregierungen.

Papens Intrigen für Hitler

In dieser Situation begann der dramatische Schlußakt im Prozeß des Untergangs der Weimarer Republik, im Übergang von einem autoritären System zu einer nationalsozialistischen Diktatur. Doch auch an der Jahreswende 1932/33 waren noch verschiedene Ausgänge und Lösungen der Staatskrise denkbar; vor allem eine Fortsetzung eines autoritären Regimes war nicht ausgeschlossen und wurde von der Mehrheit der Zeitgenossen auch angenommen. Der Weg zur Regierungsübernahme durch Hitler war nicht zwingend und auch nicht unvermeidlich; bis zuletzt gab es politische Alternativen, auch wenn einige davon schon verbraucht waren.

Die entscheidende Rolle in dem politischen Intrigen- und Machtstück, das sich nun vollends entfaltete, spielte Papen, der nach wie vor das Vertrauen Hindenburgs besaß. Er wollte auf jeden Fall Schleicher, seinen einstigen Gönner, zu Fall bringen und konnte sich dabei auch der Unterstützung von Teilen der traditionellen Machtgruppen vor allem aus dem Kreis der Großagrarier, aber auch der Industrie sicher sein. Papen meinte, zu seinem Machtpoker auch die NSDAP einsetzen zu können, die nach den Wahlverlusten vom November 1932, nach der Führungskrise um Gregor Strasser und durch erneute interne Konflikte mit rebellischen SA-Einheiten geschwächt war. Grundsätzlich ähnelten die Verfechter des autoritären Staates und auch die NSDAP mit Hitlers Alles-oder-Nichts-Strategie im Januar 1933 zwei politisch Verunsicherten oder Gescheiterten, die nach einer letzten Stütze suchten.

Zum Jahreswechsel, als die politischen Leitartikler schon das baldige Ende des Hitlerismus prophezeiten, hatte Papen sich hinter von Schleichers Rücken mit Hitler heimlich getroffen und ihm die Reichskanzlerschaft in einem gemeinsamen Kabinett angeboten. Doch stand hinter diesem

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 102

Ränkespiel keine breite politische Front: Weder die Großindustrie stützte mehrheitlich diesen Kurs, noch konnte die NSDAP in diesem Moment sich ihrer Massenbewegung sicher sein. Ansonsten waren die politischen Akteure zerstritten und geschwächt, alle bisherigen politischen Lösungsmodelle schienen zudem erschöpft oder unvorstellbar. Das war der Vorteil des Planes von Papen, der nun alles daran setzte, die Zustimmung des zögernden oder ablehenden Hindenburg zu bekommen. Am Ende waren es Gerüchte oder drohende Skandale, die die Entscheidung zu einer Lösung Hitler/Papen begünstigten. Vor allem die Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten in der Osthilfe, einem Regierungsförderungsprogramm für die ostdeutsche Landwirtschaft, schreckte die Großlawirtschaft auf und wurde politisch eingesetzt, um auch Hindenburg für die Konzepte Papens geneigter zu machen.

Auch die Sorgen vor einem "sozialistischen" Experiment Schleichers riefen weiterhin starke ökonomische Interessen auf den Plan, die für eine Unterstützung einer Regierung Hitler/Papen benutzt wurden. Neben dem Reichslandbund, der Interessenvertretung der Großagrarier, gab es auch einflußreiche Reichswehrgeneräle wie , die gegen Schleichers Pläne einer Militärdiktatur als Ausweg aus der verfahrenen Situation Front machten und sich ihrerseits Hitler andienten. Denn Schleicher wollte nun gestützt auf die präsidiale Notverordnungsmacht denselben Kurs steuern, den er Papen noch einige Wochen zuvor verweigert hatte. Hinzu kam bei einigen Generälen der verlockende Gedanke, mit der nationalsozialistischen Massenbewegung eine Stärkung der Stellung des Militärs zu betreiben, das Militär aber zugleich aus der direkten Politik herauszuhalten.

Umgekehrt bot sich für Hitler die Chance, im Bündnis mit der Reichswehr diese aus der Politik herauszuhalten und damit mittelfristig als politische Gegenkraft auszuschalten. Denn die Parole Hitlers von den "zwei Säulen" im Staat, nämlich einer nationalsozialistischen politischen Macht einerseits und der Reichswehr andererseits, die sich auf die "Wehrhaftmachung" und die Aufrüstung konzentrieren sollte, schien beiden Seiten zu dienen. Für die Reichswehr deutete sich eine Zukunft an, in der sie ihre eigenen Wünsche auf Wiederaufrüstung und Revision des Versailler Vertrages, aber auch auf Anerkennung ihrer vermeintlich von der Republik bestrittenen sozialen Elitefunktion zu verwirklichen hoffte.

Damit waren die wichtigsten Entscheidungen hinter den Kulissen gefallen und der greise Reichspräsident von seiner Abneigung gegen Hitler abgebracht, den er bis dahin als den "böhmischen Gefreiten" zu bezeichnen pflegte. Schließlich hatte man ihm versichert, daß nun eine Regierung mit klaren Mehrheiten gefunden würde, die ihm die Bürde der Verantwortung abnehmen und ihn von der Belastung eines möglichen Verfassungsbruches und Bürgerkriegs befreien würde, in die ihn seine eigenen Vertrauten in den Präsidialregierungen Papen und Schleicher mit ihren Staatsnotstandsplänen manövriert hatten. Nach diesen Vorentscheidungen wurden Schleicher am 28. Januar die Notverordnungsvollmachten des Präsidenten mit den Argumenten verweigert, die er Wochen zuvor selbst gegen Papen eingesetzt hatte. Es blieb dem politischen General nur noch der Rücktritt, zwei Tage später wurde Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.

Das Zähmungskonzept, das seit 1930 in der Reichswehr und in konservativen Führungszirkeln als mögliche politische Lösung diskutiert und getestet wurde, hatte sich am Ende durchgesetzt. In der Tat gab es immer weniger Alternativen, seitdem der Weg zurück zum Parlamentarismus so gut wie abgebrochen und die Auflösung der politischen Macht so weit vorangeschritten war, daß es nur noch die Lösung einer autoritären Regierung mit oder ohne die Nationalsozialisten zu geben schien.

Mit dieser als plebejisch verachteten nationalsozialistischen Massenbewegung, die lediglich als Mehrheitsbeschafferin agieren sollte, meinten die konservativen Machtträger aus vielerlei Gründen fertigwerden zu können: Schließlich besaßen die konservativen Eliten die wichtigsten institutionellen Machtapparate wie das Heer, die Bürokratie, die Justiz und die Unterstützung der Großwirtschaft. Was ihnen fehlte, nämliche eine Massenbasis als Voraussetzung für eine politische Integration, sollten ihnen die politikunerfahrenen Nationalsozialisten besorgen. Entsprechend meinte Papen jubeln zu können: "Wir haben ihn uns engagiert." Und weiter: "In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, daß er quietscht."

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 103

Das war das klassische Dokument einer Fehleinschätzung, denn es fehlte den Verfechtern dieser Konzeption eine Vorstellung von der revolutionären Dynamik einer charismatischen Glaubens- und Kampfbewegung und von den politisch-sozialen Auflösungserscheinungen, die die Staats- und Wirtschaftskrise in Gesellschaft und Wirtschaft hinterlassen hatte, auch wenn die Fassade mitunter noch stabil und machtvoll wirkte. Wie schnell diese Bastionen unter dem Druck von Gewalt und der Bereitschaft zur Selbstaufgabe und Anpassung zusammenbrachen, zeigten die wenigen Wochen nach dem 30. Januar 1933. Sie wurden von den Nationalsozialisten sofort als "Machtergreifung" gefeiert. Tatsächlich waren sie zunächst aber nur die Folge der Auslieferung der Macht, die dann freilich in einen umfassenden Vorgang der Machteroberung mündete.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Die nationalsozialistische Massenbewegung in der Staats- und Wirtschaftskrise

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 104

Zerstörung der Demokratie 1930 - 1932

Von Reinhard Sturm 23.12.2011 geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. 1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus. Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht.

Kontakt: »[email protected]«

Der Börsensturz am "Schwarzen Freitag" im Oktober 1929 traf Deutschland nach den USA besonders schwer. Massenarbeitslosigkeit und Armut führten zur politischen Radikalisierung der Bevölkerung. Eine dichte Folge von Regierungskrisen schwächten die Republik noch weiter - und trieb den Nationalsozialisten Wahlstimmen zu.

Wirtschaftskrise

Am 24. Oktober 1929 begann ein dramatischer Verfall der Aktienkurse an der New Yorker Börse ("Schwarzer Freitag"). Ursache waren jahrelange Überinvestitionen in der Industrie und damit ein Überangebot an Waren, mit dem die Nachfrage nicht Schritt gehalten hatte. Binnen kurzem weitete sich die amerikanische Krise aufgrund der internationalen Finanz- und Wirtschaftsverflechtungen zur größten Krise der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert aus. Sie hat die Errichtung der NS-Diktatur 1933 keineswegs verursacht, aber doch mit ermöglicht und beschleunigt.

Das Deutsche Reich war, nach den USA, am stärksten von der Krise betroffen. Trotz eines sich schon 1928 ankündigenden Nachfragerückgangs hatte die Industrie auch 1929 noch investiert. Dadurch entstanden Überkapazitäten, zumal bald alle Industrieländer die bereits bestehenden Zollschranken im Zuge der Krise erhöhten. Das Überangebot an Waren führte zu einer Produktionsdrosselung; Kurzarbeit und Entlassungen sowie Firmenzusammenbrüche waren die Folge. Von 1928 bis 1931 verdoppelte sich die Zahl der jährlichen Konkurse. Im Winter 1929/30 gab es bereits mehr als drei Millionen Arbeitslose, die materiell weitaus schlechter abgesichert waren als heute. Es entstand ein Teufelskreis aus sich verringernder Kaufkraft, zurückgehender Nachfrage, sinkender Produktion und weiteren Entlassungen. In der Landwirtschaft konnten viele kleine und mittlere Bauern ihre Schulden nicht mehr abbezahlen. Es kam zu Zwangsversteigerungen, gegen die sich ein verzweifelter bäuerlicher Protest formierte. Schon 1929 trat die schleswig-holsteinische "Landvolkbewegung" durch tätliche Angriffe auf Gerichtsvollzieher und Polizisten sowie durch Bombenattentate auf staatliche Gebäude in Erscheinung.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 105 Bruch der Großen Koalition

Die Massenarbeitslosigkeit überforderte rasch die Finanzmittel der Arbeitslosenversicherung. In der Regierung kam es zu einem anhaltenden, erbitterten – durch die gemeinsame Verabschiedung des Young-Planes am 12. März nur kurz unterbrochenen – Koalitionsstreit über die Lösung des Problems. Im Kern ging es um die Frage: Sollten die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erhöht oder die Leistungen für die Arbeitslosen gekürzt werden? Die industrienahe DVP wollte zusätzliche Kosten der Arbeitgeber infolge erhöhter Beiträge vermeiden. Die Arbeitnehmerpartei SPD lehnte es ab, das ohnehin geringe Arbeitslosengeld zu kürzen.

Nach mehreren gescheiterten Lösungsansätzen unterbreitete schließlich der Zentrums- Fraktionsvorsitzende Heinrich Brüning am 27. März 1930 einen Kompromissvorschlag, der die Hauptentscheidung – Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen – vorläufig vertagte. Die DVP stimmte zu, während die SPD ablehnte, weil sie mit der Arbeitslosenversicherung die Substanz des Sozialstaates in Gefahr sah. So blieb dem Kabinett Müller am 27. März 1930 nur der Rücktritt.

Dem Anschein nach war die Große Koalition an der Unbeweglichkeit der SPD in einer an sich lösbaren Streitfrage zerbrochen. Als Hindenburg jedoch schon drei Tage später, ohne die üblichen Koalitionsverhandlungen, den neuen Reichskanzler – nämlich Heinrich Brüning – ernannte, lag der Rückschluss nahe, dass der Bruch der Großen Koalition auf langfristiger Planung beruhte, der die SPD allerdings mit ihrer kompromisslosen Haltung entgegengekommen war. Ihre bisherigen Koalitionspartner mussten eingeweiht gewesen sein, denn Brüning ersetzte lediglich die drei SPD- Minister durch Vertreter konservativer Kleinparteien sowie des gemäßigten Flügels der Deutschnationalen, der sich Ende Juli als "Konservative Volkspartei" (KVP) von der DNVP abspaltete. Die Bereitschaft der DDP zur Mitarbeit im Kabinett Brüning und bald darauf ihr Zusammenschluss mit dem antisemitischen "Jungdeutschen Orden" zur "Deutschen Staatspartei" im Juli 1930 offenbarten den Rechtstrend auch bei den Linksliberalen.

Übergang zum Präsidialregime

Die Regierung Brüning besaß keine Mehrheit. Wie der Kanzler trotzdem seine Politik durchzusetzen gedachte, teilte er dem Reichstag am 1. April 1930 in seiner Regierungserklärung mit: Sein Kabinett – so laute Hindenburgs Auftrag – sei "an keine Koalition gebunden" und werde "der letzte Versuch sein, die Lösung mit diesem Reichstage durchzuführen". Demnach wollte die neue Regierung notfalls ohne und gegen das Parlament arbeiten, und zwar mit Hilfe der Machtmittel des Reichspräsidenten: Notverordnungen nach Artikel 48 WV und Reichstagsauflösung nach Artikel 25 WV. Sie verstand sich als "Präsidialkabinett" oder "Hindenburg-Regierung".

An den Sondierungen und Planungen für diese autoritäre, in der Verfassung nicht vorgesehene Regierungsweise waren, außer Hindenburg, vor allem seine Berater Schleicher und Meissner sowie – neben Brüning – die Fraktionsvorsitzenden im Reichstag Ernst Scholz (DVP) und Graf Westarp (DNVP) beteiligt. Seinen Memoiren zufolge erfuhr Brüning schon kurz nach Ostern 1929 von Schleicher, der Reichspräsident sehe die Gefahr, "dass die ganze Innen- und Außenpolitik im Sumpfe verlaufe". Er wolle daher "das Parlament im gegebenen Augenblick für eine Zeit nach Hause schicken und in dieser Zeit mit Hilfe des Artikels 48 die Sache in Ordnung bringen". Weiter berichtet Brüning, Schleicher und er hätten sich damals auf das Ziel der Wiedereinführung der Monarchie verständigt; manche Historiker halten dies jedoch für eine nachträgliche Selbststilisierung.

Nach Meissners Erinnerungen ließ Hindenburg Ende Dezember 1929 Brüning mitteilen, er möge sich für das Amt des Reichskanzlers zur Verfügung stellen. Der angesehene Konservative galt in der Umgebung des Reichspräsidenten als möglicherweise sogar der SPD vermittelbare Integrationsfigur. Aus den Aufzeichnungen des Grafen Westarp vom 15. Januar 1930 gehen Hindenburgs Leitlinien für die Regierung Brüning hervor: "a) antiparlamentarisch, also ohne Koalitionsverhandlungen und Vereinbarungen, b) antimarxistisch [...]" (also ohne die SPD); "c) Wandlung in Preußen [...]" mit Hilfe des Zentrums – die in Preußen regierende Weimarer Koalition sollte ebenfalls gesprengt werden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 106

Parallel zu diesen Planungen nahmen Wirtschaftskreise verstärkt Einfluss auf die industrienahe DVP unter ihrem Vorsitzenden Ernst Scholz, um deren Austritt aus der Großen Koalition zu erreichen. Im Dezember 1929 forderte der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) in einer Denkschrift mit dem Titel "Aufstieg oder Niedergang?" Steuererleichterungen für Unternehmer, Abschaffung der Zwangsschlichtung, Senkung der Staatsausgaben und Reform der Arbeitslosenversicherung durch "Ersparnismaßnahmen, nicht aber durch erhöhte Beiträge". Diesen SPD- und gewerkschaftsfeindlichen Kurs machte sich die DVP zu eigen. Am 5. Februar 1930 schrieb der DVP-Abgeordnete Erich von Gilsa dem Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Stahlindustrieller, Paul Reusch, vertraulich, Scholz wolle "bewusst auf einen Bruch mit der Sozialdemokratie hinarbeiten".

Der Bruch der Großen Koalition erfolgte also im Zusammenspiel einflussreicher Vertreter autoritärer politischer – wenn nicht monarchistischer – Bestrebungen und wirtschaftlicher Interessen. Vor diesem Hintergrund erscheint Brünings Vermittlungsvorschlag vom 27. März 1930 in einem anderen Licht: der künftige Reichskanzler gedachte die Große Koalition "vor der Öffentlichkeit an der Kompromisslosigkeit der SPD und nicht an der Intransigenz des kommenden Koalitionspartners DVP zu Schanden gehen zu lassen" (Volker Hentschel).

Reichstagsauflösung

Die ersten Gesetzesvorlagen der neuen Regierung – Finanzhilfen für die ostelbische Großlandwirtschaft, Steuererhöhungen zur Deckung des Reichshaushaltes 1930 – wurden vom Reichstag mit knapper Mehrheit angenommen. Da die Arbeitslosigkeit weiter zunahm, beschloss die Regierung im Juni eine zusätzliche Deckungsvorlage: Reform der Arbeitslosenversicherung durch Beitragserhöhung auf 4,5 Prozent (der jetzt auch die DVP zustimmte) und Leistungskürzungen; Ledigensteuer; Notopfer für Beamte und Angestellte; einheitliche Kopfsteuer. Als der Reichstag Teile dieses sozial unausgewogenen Programms am 16. Juli ablehnte, setzte Brüning die gesamte Vorlage in Form zweier Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Abs. 2 WV in Kraft.

Die Umwandlung eines vom Reichstag abgelehnten Gesetzentwurfs in eine Notverordnung war eindeutig verfassungswidrig. Der Antrag der SPD-Fraktion vom 18. Juli, Brünings Notverordnungen nach Artikel 48 Abs. 3 WV aufzuheben, wurde daher vom Parlament mit großer Mehrheit (bei gespaltener DNVP) angenommen. Unmittelbar danach löste der Reichspräsident nach Artikel 25 WV den Reichstag auf. Die Notverordnungen wurden in einer sogar noch verschärften Fassung wieder in Kraft gesetzt. Bis zur Neuwahl nach 60 Tagen konnte jetzt mit Notverordnungen regiert werden.

Wahlsieg der NSDAP

Die Reichstagswahl vom 14. September 1930, an der sich 82 Prozent der Wähler beteiligten, endete mit einer Katastrophe für die Demokratie. Die NSDAP, noch 1928 mit 2,6 Prozent und zwölf Mandaten eine Splitterpartei, erzielte 18,3 Prozent, konnte die Zahl ihrer Sitze fast verneunfachen und stellte mit 107 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion (hinter der SPD, vor der KPD).

Die SPD verzeichnete erhebliche Verluste, die KPD starke Gewinne; Zentrum und BVP registrierten einen leichten Zuwachs. Auch der Anteil der "Sonstigen", das heißt der Kleinparteien, nahm etwas zu. Demgegenüber mussten DDP und DVP schwere Verluste hinnehmen; der Stimmenanteil der DNVP wurde sogar halbiert. Wenngleich Art und Ausmaß damaliger Wählerwanderungen nicht exakt bestimmbar sind, lässt sich schließen, dass überwiegend protestantische nationalkonservative und liberale Mittel- und auch Oberschichtwähler zur NSDAP gewandert waren. Besonders starken Anklang hatte Hitlers Partei offenbar bei den Mittelschichten ("alter" und "neuer Mittelstand") gefunden. Auch von der um sieben Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung hatte sie stärker als andere Parteien profitiert, das heißt Jungwähler und bisherige Nichtwähler gewonnen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 107

Dem entsprach die soziale Zusammensetzung der Mitgliederschaft der NSDAP: Arbeiter bildeten zwar die stärkste Einzelgruppe, waren jedoch im Vergleich zu ihrem Anteil an den Erwerbstätigen deutlich unterrepräsentiert, während die verschiedenen Mittelschichten einen überproportional hohen Anteil stellten. Ferner zog die NSDAP besonders die jüngere Generation an: Das Durchschnittsalter ihrer 130.000 Mitglieder und Funktionäre lag 1930 beträchtlich unter dem der übrigen Parteien.

Im Wahlergebnis vom 14. September 1930 spiegeln sich die materiellen und psychologischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise wider. Bereits seit Jahresbeginn lag die Arbeitslosenquote über 14 Prozent; hinter dieser Zahl verbargen sich die Schicksale von mehr als drei Millionen schlecht versorgten Arbeitnehmern und ihren Familien. Die Folge war eine politische Polarisierung: Arbeitslose Arbeiter wählten zum Teil erstmals kommunistisch. Der "alte Mittelstand" hingegen, der die sinkende Kaufkraft seiner Kunden zu spüren bekam, sah sich nach 1923 ein weiteres Mal von Verarmung und sozialem Abstieg bedroht. Er reagierte darauf mit einer Radikalisierung nach rechts zur NSDAP. Vergleichbares gilt auch für den "neuen Mittelstand".

Denn Hitlers Partei war als einzige politisch unverbraucht – ihre Glaubwürdigkeit und Kompetenz hatten noch keinen Test bestehen müssen. In Programm und Propaganda ging sie geschickter als jede andere Partei auf die speziellen Nöte und Bedürfnisse der eigentumsorientierten, "standesbewussten" Mittelschichten ein. Entsprechend der doppelten Frontstellung des alten Mittelstandes gegen KPD/SPD/Gewerkschaften einerseits und Banken/Industrie/Warenhäuser andererseits enthielten die politischen Aussagen der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" sowohl antimarxistische als auch antikapitalistische Elemente. Ihr begrenzter Antikapitalismus war – anders als der marxistische – für die Mittelschichten akzeptabel, weil "die NSDAP auf dem Boden des Privateigentums steht", wie Hitler 1928 öffentlich klarstellte. Er richtete sich nicht, wie es in der NS-Ideologie hieß, gegen das "schaffende", sondern nur gegen das "raffende Kapital", das heißt gegen Banken (zu hohe Kredit-, zu niedrige Sparzinsen), Börsen (undurchschaubare Gewinnchancen und Verlustrisiken) und Warenhäuser (bedrohliche Konkurrenz).

Hinter dem "raffenden Kapital" verbargen sich, so behauptete die NS-Propaganda, die Machenschaften eines "internationalen Finanzjudentums". Dadurch wurde der Antikapitalismus in die NS- Rassenideologie integriert und gegen die Juden als Sündenböcke gerichtet. Aber auch "der Marxismus" (das heißt Organisationen und Politik der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterschaft) und die aus dem "Dolchstoß" hervorgegangene Weimarer Repu-blik galten den Nationalsozialisten als schändliche jüdische Machwerke. Wer die inneren und äußeren Bedrohungen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft abwenden wolle, müsse die Juden bekämpfen – so lautete, zusammengefasst, die politische Botschaft der NSDAP. Wegen ihrer Einfachheit und Eingängigkeit fiel sie in Deutschland – einem der Länder mit langer antijudaistischer und antisemitischer Tradition – unter den Bedingungen der unbewältigten Kriegsniederlage und der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf fruchtbaren Boden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 108 Politik der Krisenverschärfung

Dass die KPD jetzt über 77, die NSDAP über 107 Reichstagssitze verfügte, hatte schwerwiegende wirtschaftliche Folgen. Ausländische Kapitalanleger, insbesondere die bereits unter der Krise leidenden amerikanischen und französischen Banken, die um die politische Stabilität der Weimarer Republik fürchteten, begannen mit dem Abzug ihrer kurzfristigen Kredite. Dadurch verschärfte sich die Wirtschaftskrise in Deutschland; die Arbeitslosigkeit nahm weiter zu.

Ein Versuch Brünings, die Nationalsozialisten zur Tolerierung seiner Politik zu bewegen und sich so eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen, scheiterte am Machtwillen Hitlers. Der NSDAP-Führer hatte aber aus seinem fehlgeschlagenen Münchner Putschversuch von 1923 gelernt: Als geladener Zeuge in einem Leipziger Reichsgerichtsprozess, in dem drei junge Offiziere wegen nationalsozialistischer Betätigung in der Reichswehr angeklagt wurden, erklärte er am 25. September 1930 unter Eid, seine Bewegung kämpfe "nicht mit illegalen Mitteln"; aber "noch zwei bis drei Wahlen", dann werde sie "in der Mehrheit sitzen" und "den Staat so gestalten, wie wir ihn haben wollen".

Tolerierungspolitik der SPD

Die oppositionelle SPD geriet durch das Wahlergebnis in ein Dilemma. Bekämpfte sie weiterhin Brünings autoritäre und unsoziale Politik, dann bestand die Gefahr einer erneuten Reichstagsauflösung und -neuwahl. Dabei konnte die NSDAP so stark werden, dass Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernennen würde. Was aber eine NS-Regierung bedeuten musste, hatte bereits das Beispiel des Faschismus in Italien gezeigt: ein schnelles Ende der Demokratie und des Rechtsstaates, der Linksparteien und der Gewerkschaften.

Vor diesem Hintergrund beschloss die SPD, Brüning als das kleinere Übel zu tolerieren. "Sie sagte nicht ja zu seinen Gesetzesvorschlägen und sagte nicht nein , wenn sie deshalb als Notverordnungen erlassen wurden." (Volker Hentschel) In den Augen der Öffentlichkeit galt sie bald als Teil des "Brüning- Blocks", der vom Zentrum bis zum gemäßigten Teil der DNVP reichte, aber keine Mehrheit besaß. Da die SPD weder sozialdemokratische Politik durchzusetzen noch sich als politische Alternative zu profilieren vermochte, wurden ihre Mitglieder und Wähler zunehmend unzufriedener.

Das Ansehen des Parlamentes nahm weiter ab. Denn es verlor nicht nur faktisch seine demokratische Kontrollfunktion gegenüber der Regierung, sondern wurde auch als Zentrum der Gesetzgebung zunehmend funktionslos. Das Präsidialregime griff immer öfter zu Notverordnungen, der Reichstag trat immer seltener zusammen. Diese Aushöhlung des Parlamentarismus hat der NSDAP 1933 die Errichtung der Diktatur wesentlich erleichtert.

Deflationspolitik und Massenarbeitslosigkeit

Die Regierung Brüning erhöhte die direkten Steuern (auf Löhne, Einkommen und Umsätze), besonders aber die indirekten (Massenverbrauchssteuern, unter anderem auf Zucker, Tabak und Bier). Sie baute die staatlichen Sozialausgaben ab und kürzte die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst (mit Ausnahme der Reichswehr). Auf diese Weise wollte Brüning das krisenbedingte Sinken des Steueraufkommens abfangen, Einnahmen und Ausgaben des Staates im Gleichgewicht halten und die im Zuge des Produktionsrückganges überschüssig werdende Kaufkraft abschöpfen. Diese "Deflationspolitik" zielte vor allem auf die Sicherung der Geldwertstabilität, die nicht nur den Vorschriften des Young-Plans, sondern – nach der traumatischen Inflationserfahrung von 1923 – durchaus auch den Interessen der Bevölkerung entsprach.

Die Deflationspolitik war jedoch kein Mittel gegen die Krise, sondern verschärfte diese sogar noch. Denn durch Kürzung der Staatsausgaben und Senkung der privaten Einkommen verringerte sich die kaufkräftige Nachfrage; dadurch ging die Produktion noch weiter zurück, während die Arbeitslosigkeit rapide anstieg. Je länger die Krise anhielt, desto mehr Arbeitslose fielen spätestens nach 26, als über 40-jährige nach 39 Wochen aus der Arbeitslosenversicherung mit ihren bescheidenen, nach

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 109

Lohnklassen gestaffelten Leistungen heraus. Danach erhielten sie bis zu 39 bzw. 52 Wochen deutlich geringere (bedürftigkeitsgebundene) Leistungen der Krisenfürsorge; schließlich noch knappere (rückzahlungspflichtige) Zuwendungen der kommunalen Wohlfahrtsunterstützung. Von den 4,7 Millionen Arbeitslosen im Frühjahr 1931 bezogen 43 Prozent Arbeitslosengeld, 21 Prozent Krisenfürsorge und 23 Prozent Wohlfahrtsunterstützung. Die übrigen 13 Prozent bekamen überhaupt keine Unterstützung. Demgegenüber wurde die ostelbische Großlandwirtschaft auf Wunsch Hindenburgs weiterhin subventioniert.

Im Verlaufe des Jahres 1931 führten zwei einschneidende Ereignisse zu einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Zunächst scheiterte am 18. Mai, vor allem am Einspruch Frankreichs, der Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion, die für beide Länder wirtschaftlich vorteilhaft gewesen wäre. Ausländische Kapitalanleger riefen daraufhin zahlreiche fällige Kredite zurück, statt sie zu verlängern. In beiden Ländern gerieten viele Banken in Schwierigkeiten, zumal viele in Panik versetzte Sparer ihre Einlagen abheben wollten. Am 13. Juli stellte eine renommierte Großbank, die "Darmstädter und Nationalbank", ihre Zahlungen ein.

Die deutschen Banken wurden für zwei Tage geschlossen; das Reich musste sie mit einer Milliarde RM stützen. Bankkunden konnten nur noch eingeschränkt über ihre Guthaben verfügen; die Kapitalknappheit der Unternehmen verschärfte sich. Da die Bankenkrise unabsehbare Gefahren barg, setzte der amerikanische Präsident Herbert Hoover durch, die deutschen Reparationszahlungen an die Siegermächte und ebenso die Rückzahlung der alliierten Kriegsschulden an die USA ab 6. Juli 1931 für ein Jahr zu unterbrechen ("Hoover-Moratorium"), um die betreffenden Länder zu entlasten.

Sodann koppelte Großbritannien am 21. September das Pfund Sterling vom Goldstandard ab und wertete es um 20 Prozent ab. Durch eine entsprechende Verbilligung seiner Waren auf dem Weltmarkt wollte das Land seinen Export fördern und den Arbeitsmarkt beleben. Zahlreiche Länder folgten dem Beispiel; das internationale Währungssystem mit festen Wechselkursen auf der Basis des Goldpreises brach zusammen. Der Wert der Reichsmark stieg; deutsche Produkte verteuerten sich auf dem Weltmarkt; die Auslandsnachfrage ging zurück. Brüning reagierte darauf mit einer weiteren Verschärfung der Deflationspolitik: Per Notverordnung vom 6. Oktober 1931 senkte er den Bezug des Arbeitslosengeldes von 26 auf 20 Wochen. Am 8. Dezember verordnete er allgemeine Lohn-, Miet-, Zins- und Preissenkungen, um die Wettbewerbsnachteile der deutschen Wirtschaft auszugleichen. Diese marktwirtschaftswidrige Maßnahme führte jedoch nur zu einer Verunsicherung von Herstellern und Verbrauchern; die Inlandsnachfrage nahm weiter ab.

Bankenkrise, Pfundabwertung und deflationspolitische Notverordnungen bewirkten einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Im Durchschnitt des Jahres 1932 gab es 5,6 Millionen registrierte Arbeitslose (29,9 Prozent). Ende Februar lag die Zahl der "sichtbaren" Arbeitslosen bei 6,1 Millionen; rechnet man schätzungsweise 1,5 Millionen "unsichtbare" (Menschen, die sich aus Scham über ihre Armut nicht meldeten) hinzu, so ist tatsächlich von 7,6 Millionen Beschäftigungssuchenden auszugehen.

Rolle Brünings

Manche Historiker sehen in Brüning den letzten Reichskanzler, der mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln versuchte, die Weimarer Republik durch die Weltwirtschaftskrise hindurchzusteuern. Brünings Politik lässt jedoch erkennen, dass er die Wirtschafts- und Finanzpolitik seinen außen- und innenpolitischen Plänen (Überwindung des Versailler Vertrages, autoritäre Umgestaltung des Staates, wenn nicht gar Rückkehr zur Monarchie) unterordnete. Sein erstes Etappenziel war die Aufhebung der Reparationsverpflichtungen. Brüning wollte den Siegermächten demonstrieren, dass das Reich trotz größter Anstrengungen die Auflagen des Young-Plans (Zahlung der Jahresraten bei stabiler Währung und ausgeglichenem Staatshaushalt) nicht erfüllen konnte. Neuverhandlungen sollten dann zu einer Abschlussregelung führen. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise und die um sich greifende soziale Verelendung breiter Massen nahm Brüning bewusst in Kauf. Deshalb wies er auch alle

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 110

Expertenvorschläge für eine aktive Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik zurück. Prompt machte sich die NSDAP diese Vorschläge zu eigen und betrieb damit 1932 eine geschickte und wirkungsvolle Wahlpropaganda.

Alternativen zu Brünings Deflationspolitik

Die Deflationspolitik der Jahre 1930 bis 1932 wird in der Geschichtsforschung kontrovers beurteilt.

Der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt vertritt die Ansicht, dass Brüning unter den damaligen Bedingungen keine wesentlich andere Finanz- und Wirtschaftspolitik hätte betreiben können. Er argumentiert im Kern folgendermaßen:

Die deutsche Wirtschaft befand sich schon vor 1929 infolge zu hoher Löhne, Steuern, Rohstoffpreise und Kreditkosten in einer Strukturkrise, die 1930 bis 1932 zunächst (wie von Brüning versucht) bereinigt werden musste, bevor an eine aktive Konjunkturpolitik zu denken war.

Zur Zeit der Kanzlerschaft Brünings war die mit dem Namen des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes verbundene Theorie der "antizyklischen Wirtschaftspolitik" und des "deficit spending" (bei sinkender privater Nachfrage müsse der Staat mit kreditfinanzierten Aufträgen einspringen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln) noch nicht ausreichend entwickelt und bekannt.

Die strengen Vorschriften des Reichsbankgesetzes und des Young-Planes erlaubten weder eine Kreditausweitung noch eine Abwertung der Reichsmark als konjunkturbelebende Maßnahmen.

Für eine Abwertung der Reichsmark und für ein "deficit spending" gab es damals bei Parteien und Verbänden wegen der verbreiteten Inflationsfurcht keine ausreichende Unterstützung.

Demgegenüber hat die Historikerin Ursula Büttner nachgewiesen, dass es sehr wohl Alternativen zur Deflationspolitik gegeben hat. Ihre Einwände gegen Borchardts Argumentation lauten zusammengefasst so:

Die schon vor 1929 entstandenen Strukturprobleme waren in einer wachsenden Wirtschaft sicher leichter zu lösen als in einer schrumpfenden.

Am erforderlichen Know-how für eine aktive Konjunkturpolitik fehlte es durchaus nicht. Keynes erläuterte 1930/32 in Deutschland in einer Reihe von Vorträgen und Zeitungsartikeln seine bereits ausgereifte Theorie der antizyklischen Wirtschaftspolitik und stieß dabei auf großen Widerhall. So legte der Oberregierungsrat im Wirtschafts-ministerium Wilhelm Lautenbach im September 1931 einen an Keynes orientierten Plan zur Ankurbelung der Wirtschaft (ohne inflatorische Auswirkungen) mittels kreditfinanzierter Staatsaufträge in Höhe von drei Milli-arden RM vor. Hans Schäffer, Staatssekretär im Finanzministerium, befürwortete den Lautenbach-Plan in seiner Denkschrift vom September 1931 nachdrücklich. Ernst Wagemann, Leiter des Statistischen Reichsamtesund des Instituts für Konjunkturforschung, veröffentlichte im Januar 1932 in hoher Auflage einen eigenen Plan zur Erhöhung des staatlichen Kreditrahmens um bis zu drei Milliarden RM für die Konjunkturbelebung.

In der Krise des Sommers 1931 verloren das Reichsbankgesetz und der YoungPlan an Bedeutung, da sie ohnehin nicht mehr einzuhalten waren. Die Vertragspartner hätten sich mit einer geringeren Deckung der Reichsmark abgefunden, deren Abwertung nach britischem Vorbild im Ausland allgemein erwartet wurde.

Der Wunsch nach einer Bekämpfung der Wirtschaftskrise mit den Mitteln der Finanz- und Geldpolitik breitete sich seit Herbst 1931 so stark aus, dass entsprechende Maßnahmen der Regierung – trotz der ablehnenden Haltung der Unternehmerverbände und der Parteiführungen – in der Bevölkerung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 111 breite Unterstützung gefunden hätten. Ein klares Indiz dafür ist insbesondere der vom ADGB im April 1932 beschlossene sog. WTB-Plan (benannt nach seinen Verfassern Wladimir Woytinski, Fritz Tarnow und Fritz Baade). Das Konzept sah vor, rund eine Million Arbeitslose mit öffentlichen Arbeiten zu beschäftigen; die dafür erforderlichen zwei Milliarden RM sollte der Staat durch Kredite aufbringen. Weil sich die Ausgaben für die Arbeitslosen entsprechend verringern, die Steuereinnahmen erhöhen würden, veranschlagte man die realen Kosten auf 1,2 Milliarden RM. Der WTB-Plan zielte auf eine Wiederbelebung der Konsumgüterindustrie mit weiteren positiven Beschäftigungseffekten, sodass eine inflatorische Wirkung vermieden würde. Die SPD-Führung lehnte jedoch eine Kreditfinanzie-rung ab, weil sie davon eine Inflation, nach den Erfahrungen von 1923 zumindest eine neuerliche Inflationsfurcht in der Bevölkerung erwartete.

Wie Schäffer am 29. Januar 1932 in seinem Tagebuch festhielt, empörte sich der Kanzler besonders über Wagemann: 1. erwecke Wagemann den Gewerkschaften gegenüber den Eindruck, "als ob es noch andere Mittel gebe als die Deflationspolitik, um unsere Lage zu bessern". 2. könnten Wagemanns Vorschläge "in das Reparationsprogramm hineinhageln". 3. sei zu befürchten, dass die Nationalsozialisten, die "bisher vergeblich nach einem Währungsprogramm gesucht hätten", Wagemanns Plan übernehmen und daraus politische Vorteile ziehen würden.

Zusammenfassung von R. Sturm nach:

Knut Borchardt, "Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen Dreißigerjahre.", in: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion GmbH, Kettwig 2011, S. 318 bis 339. Ursula Büttner, "Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs," in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 37 (1989), H. 2, S. 209-251

Politische Radikalisierung

In dem Maße, wie sich die Talfahrt der Wirtschaft beschleunigte und Millionen Familien verarmten und verelendeten, eskalierten die politischen Auseinandersetzungen und kam es zu Zusammenstößen zwischen den Wehrverbänden der großen rechten und linken Parteien:

• Der "Stahlhelm – Bund der unbesiegt heimgekehrten Frontsoldaten" organisierte schon seit Ende 1918 bis zu eine Million Mitglieder und war der DNVP zuzurechnen.

• Die von der NSDAP 1921 geschaffene "Sturmabteilung" (SA) umfasste Anfang 1932 etwa 420.000 Mitglieder; ihr unterstand (bis 1934) die 1925 gebildete SS ("") mit rund 52.000 Mann.

• Das 1924 gegründete SPD-nahe "Reichsbanner Schwarz Rot Gold – Bund der republikanischen Frontsoldaten" war der einzige verfassungstreue Wehrverband und besaß ca. eine Million Mitglieder.

• Dem ebenfalls 1924 entstandenen "Roten Frontkämpferbund" (RFB) der KPD gehörten 1927 rund 130.000 Mitglieder an.

Alle Verbände waren mehr oder weniger uniformiert, traten militant auf und besaßen geheime Waffenlager. Während "Stahlhelm", SA und SS kooperieren konnten, waren "Reichsbanner" und RFB verfeindet. In den Jahren 1931 und 1932 führten zunehmend blutiger verlaufende Straßenkrawalle und Saalschlachten, vor allem zwischen SA und RFB, in den großen Städten nicht selten zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Auch politische Mordanschläge wurden wieder begangen, sowohl von Nationalsozialisten als auch von Kommunisten. Die Polizei erschien oft zu spät; auch sympathisierten immer mehr Polizisten mit den Rechtsverbänden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 112

Dass in Preußen noch immer der sozialdemokratische Ministerpräsident Otto Braun mit einer Weimarer Koalition regierte, war der politischen Rechten seit langem ein Dorn im Auge. Im Frühjahr 1931 leitete der "Stahlhelm" ein (auch auf Länderebene zulässiges) Volksbegehren für die sofortige Auflösung des Preußischen Landtages ein. Es wurde unterstützt von DNVP, NSDAP und KPD – die Kommunisten schreckten bei ihrem verblendeten Kampf gegen die Sozialdemokraten nicht einmal vor einem Bündnis mit den "Faschisten" zurück. Die Aktion schlug jedoch fehl: Beim Volksbegehren kam die erforderliche Mindestzahl von Unterschriften nur knapp zusammen; beim Volksentscheid am 9. August 1931 fehlten rund 3,4 Millionen Stimmen.

Am 7./9. Oktober 1931 wurden mehrere Minister der Regierung Brüning ausgetauscht. Der Reichskanzler übernahm selbst das Auswärtige Amt, Reichswehrminister Groener erhielt zusätzlich das Innenministerium – eine gefährliche Machtkonzentration. Dieses zweite Kabinett Brüning sollte nach Hindenburgs Wunsch noch unabhängiger von den Parteien und vom Parlament sein; es signalisierte einen weiteren Rechtsruck bei den Machtträgern des Präsidialregimes.

Harzburger Front

Am 11. Oktober 1931 veranstaltete die nationalistische Rechte – NSDAP, DNVP, Stahlhelm, Reichslandbund und Alldeutscher Verband – in Bad Harzburg eine Tagung, verbunden mit einem Aufmarsch ihrer Verbände, um Stärke und Geschlossenheit zu demonstrieren. Prominenteste Gäste waren der Kaiser-Sohn und SA-Gruppenführer August Wilhelm Prinz von Preußen ("Auwi"), der frühere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und General a. D. von Seeckt. Ein Misstrauensvotum von DNVP und NSDAP gegen das zweite Kabinett Brüning, dem sich auch die DVP und die KPD anschlossen, scheiterte am 16. November 1931 knapp – ausschlaggebend waren die Gegenstimmen der SPD. Ende November wurden konkrete Umsturzpläne der hessischen NSDAP ("Boxheimer Dokumente") bekannt. Brüning spielte jedoch den Vorfall herunter, um mögliche Koalitionen des Zentrums mit der NSDAP nicht zu verbauen.

Als Antwort auf die "Harzburger Front" gründeten SPD, ADGB, AfA-Bund, "Reichsbanner" und Arbeitersportorganisationen am 16. Dezember 1931 gemeinsam die "Eiserne Front". Sie veranstaltete unter dem Fahnensymbol der drei Pfeile – als Gegensymbol zum Hakenkreuz – politische Umzüge und Kundgebungen und trat äußerlich militant auf, um Stärke zu demonstrieren und Gegner von Übergriffen abzuschrecken.

Reichspräsidentenwahl 1932

In dieser angespannten Situation ging Anfang 1932 die siebenjährige Amtsperiode des Reichspräsidenten zu Ende. Der mittlerweile 85-jährige Hindenburg stellte sich zur Wiederwahl. Anders als 1925 trat ein aussichtsreicher rechter Gegenkandidat an: Adolf Hitler, dem eine DNVP-NSDAP- Regierung in Braunschweig Ende Februar 1932 zu der für die Kandidatur notwendigen deutschen Staatsbürgerschaft verhalf. Hinzu kamen Theodor Duesterberg ("Stahlhelm"), Ernst Thälmann (KPD) sowie einige Kandidaten von Splitterparteien. Hindenburgs Wiederwahl wurde zunächst von Zentrum und BVP, DDP und DVP unterstützt. Da alles auf eine Entscheidung zwischen Hitler und Hindenburg hindeutete, hielt die SPD an ihrer Politik des kleineren Übels fest: Sie verzichtete auf einen eigenen Kandidaten und gab die Parole aus: "Schlagt Hitler! Darum wählt Hindenburg!" Für ihre Anhänger war das eine irritierende Zumutung, die sie aber überwiegend diszipliniert befolgten.

Im 1. Wahlgang am 13. März 1932 verfehlte Hindenburg mit 49,6 Prozent die erforderliche absolute Mehrheit nur knapp, in weitem Abstand gefolgt von Hitler (30,1 Prozent), Thälmann (13,2 Prozent), Duesterberg (6,8 Prozent) und den übrigen Kandidaten. Duesterberg gab auf und unterstützte Hindenburg. Im 2. Wahlgang am 10. April wurde der amtierende Reichspräsident mit 53 Prozent der Stimmen wieder gewählt. Hitler brachte es auf 36,8 Prozent, Thälmann nur noch auf 10,2 Prozent. Gemessen an der prahlerischen Ankündigung seines Wahlkampfleiters Joseph Goebbels "Hitler wird

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 113 unser Reichspräsident!" hatte sich der NSDAP-Führer blamiert. Gleichwohl zeigte sein Abschneiden, dass das nationalsozialistische Wählerpotenzial seit September 1930 um fünf Millionen Stimmen angewachsen war.

Aber auch der Wahlsieger sah wenig Grund zur Freude. Der Reichspräsident empfand es als Schmach, dass er seine zweite Amtsperiode ausgerechnet seinen Gegnern von 1925, den Sozialdemokraten und den Katholiken, verdankte. Groteskerweise richtete Hindenburg seinen Groll gegen Brüning, der sich wie kein anderer im Wahlkampf für ihn engagiert und dabei auch die NSDAP scharf angegriffen hatte. Brünings Sturz war jetzt nur noch eine Frage der Zeit.

Brünings Entlassung

Im Laufe seiner Kanzlerschaft hatte sich Brüning die Sympathien der Präsidentenberater und der hinter ihnen stehenden autoritär-monarchistisch gesinnten Teile der militärischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Eliten immer mehr verscherzt, weil er sich nicht als Marionette benutzen ließ, sondern seinen eigenen politischen Kurs steuerte, noch dazu toleriert von der SPD, die diesen Eliten besonders verhasst war. Zum entscheidenden Konflikt kam es, als Brüning und Groener auf Wunsch zahlreicher Länder (darunter Bayern ebenso wie Preußen) beim Reichspräsidenten ein Verbot der SA und der SS erwirkten, um die Hauptursache der politischen Gewalt zu bekämpfen; es trat am 13. April 1932 in Kraft.

Der Reichspräsident und seine Berater störten sich daran, dass das (republiktreue) "Reichsbanner" nicht ebenfalls verboten werden sollte. Zudem sah Schleicher seine Planung in Gefahr, Brüning zu stürzen und die NSDAP entweder an der Regierung zu beteiligen oder zumindest für eine Tolerierungspolitik zu gewinnen. Am 7. Mai trafen Schleicher und Hitler eine geheime Absprache: Schleicher würde für Brünings Ablösung, die Wiederzulassung von SA und SS sowie Reichstagsneuwahlen sorgen. Im Gegenzug würde die NSDAP die nächste Präsidialregierung im Reichstag tolerieren.

Auf Betreiben Schleichers musste Groener am 12. Mai zurücktreten. Auch für Brünings Entlassung war bald ein Grund gefunden. Der Reichskanzler wollte im Mai den ostelbischen Gutsbesitzern eine weitere kräftige Finanzhilfe zukommen lassen. Jedoch sollte der Staat Güter, die nicht mehr sanierungsfähig waren, aufkaufen bzw. ersteigern und in Bauernstellen für Arbeitslose aufteilen. Es fiel der "Kamarilla" leicht, den Reichspräsidenten, der selbst Gutsbesitzer war, gegen diesen "Agrarbolschewismus" aufzubringen. Hindenburg entzog Brüning am 29. Mai das Recht auf Anwendung des Artikels 48 WV; daraufhin musste die Reichsregierung am nächsten Tag zurücktreten – nach Ansicht Brünings "hundert Meter vor dem Ziel", wie er schon am 11. Mai im Reichstag geäußert hatte.

Tatsächlich wurde bald darauf das Reparationsproblem in seinem Sinne gelöst. Die vom 16. Juni bis 9. Juli 1932 in Lausanne tagende Konferenz aller betroffenen Staaten einigte sich auf die völlige Streichung der deutschen Reparationsschuld; selbst eine eher symbolisch geforderte Abschlusszahlung wurde nicht mehr geleistet. Doch der Preis für diesen Erfolg war hoch: Er bestand in einer Aushöhlung des Parlamentarismus, einer Verschärfung der Wirtschaftskrise, einer Steigerung des sozialen Elends von Millionen Familien und einer bis dahin nicht gekannten politischen Radikalisierung. Brünings Politik beschleunigte den Aufstieg der rechtsextremen, gewaltbereiten NSDAP zu einer staatsgefährdenden Massenbewegung.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 114 Regierung von Papen

Neuer Reichskanzler wurde überraschend der katholisch-westfälische Adelige, monarchistische Zentrumspolitiker und preußische Landtagsabgeordnete Franz von Papen. Er verfügte als Hauptaktionär und Aufsichtsratsvorsitzender der Zentrumszeitung "Germania" sowie als Mitglied des konservativ-elitären Berliner "Herrenklubs" über gute Kontakte zu Industrie, Großlandwirtschaft, Banken und Bürokratie. Da er gegen den Willen der über Brünings Sturz verärgerten Zentrumsführung die Kanzlerschaft annahm, musste er aus der Partei austreten. Auf den Vorwurf "Der Papen ist doch kein Kopf!" antwortete Schleicher ungerührt: "Das soll er ja auch nicht sein. Aber er ist ein Hut." Papen gewann jedoch rasch das Vertrauen Hindenburgs und entzog sich Schleichers Bevormundung.

Dem am 1. Juni 1932 vereidigten Kabinett gehörten sieben adlige und nur drei bürgerliche, nationalkonservative, aber überwiegend parteilose Minister an. Schleicher trat erstmals selbst als Reichswehrminister ins politische Rampenlicht. Dieses "Kabinett der Barone" unter "Herrenreiter" Papen, wie seine Kritiker spotteten, repräsentierte überwiegend die Interessen der ostelbischen Großagrarier und der militärischen Führungsschicht; die Industrie war nur durch Wirtschaftsminister Warmbold vertreten, Mittelschichten und Arbeitnehmerschaft überhaupt nicht. Die Öffentlichkeit traute der Regierung Papen eine Überwindung der Wirtschaftskrise noch weniger zu als dem Kabinett Brüning; prompt fielen die Aktienkurse.

Parlamentarische Unterstützung erhielt Papen lediglich von der DVP und der DNVP. Die SPD beendete sofort ihre Tolerierungspolitik und plante einen Misstrauensantrag, dem die Regierung jedoch zuvorkam: Am 4. Juni 1932 löste der Reichspräsident – wie zwischen Schleicher und Hitler besprochen – den Reichstag auf, denn dieser entspreche nicht mehr "dem politischen Willen des deutschen Volkes". Damit spielte Hindenburg darauf an, dass die NSDAP am 24. April bei den Landtagswahlen in Preußen, Württemberg, Hamburg und Anhalt stärkste, in Bayern zweitstärkste Partei geworden war.

Im Juni und Juli 1932 fand, nachdem Schleicher die Wiederzulassung von SA und SS durchgesetzt hatte, der blutigste Wahlkampf in der deutschen Geschichte statt. Zwischen rechten und linken Wehrverbänden kam es zu Straßenkrawallen, Schießereien, Saalschlachten und Mordanschlägen, bei denen etwa 300 Menschen starben und über 1100 verletzt wurden. Allein am 17. Juli, dem "Altonaer Blutsonntag", gab es 18 Tote und 68 zum Teil schwer Verletzte, als ein nationalsozialistischer Demonstrationsmarsch durch die kommunistischen Wohnviertel von Altona zu einem stundenlangen Feuergefecht zwischen RFB und SA ausartete.

Unterdessen nahmen die in der Umgebung des Reichspräsidenten gehegten autoritären Verfassungspläne konkrete Gestalt an. Papen entwickelte die Idee eines "Neuen Staates" mit folgenden Prinzipien:

• Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten,

• Unabhängigkeit des Reichskanzlers vom Vertrauen des Reichstages,

• Einrichtung eines dem Parlament übergeordneten, aristokratisch und berufsständisch zusammengesetzten "Oberhauses", dessen Mitglieder vom Reichspräsidenten ernannt wurden.

Die Ähnlichkeit mit den Strukturen des Kaiserreiches ist unübersehbar – am Ende der Entwicklung sollte denn auch die Rückkehr zur Monarchie stehen. Der erste Schritt auf dem Weg zum "Neuen Staat" lag nahe: die Ausschaltung der "roten Festung" Preußen. Denn die Regierung Braun hatte in der Landtagswahl vom 24. April 1932 ihre Mehrheit verloren. Die neue Sitzverteilung im preußischen Landtag (KPD 57, SPD 94, Zentrum 67, DVP 7, DNVP 31, NSDAP 162) ergab eine "negative Mehrheit" der rechts- und linksradikalen Parteien. Da eine Zentrum-NSDAP-Koalition nicht zustande kam, blieb

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 115 das bisherige Kabinett als "geschäftsführende Regierung" mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit im Amt. Braun war überdies gesundheitlich angeschlagen und besaß keinen Kampfgeist mehr.

Absetzung der preußischen Regierung

Als Vorwand diente der "Altonaer Blutsonntag". Am 20. Juli 1932 erließ Hindenburg zwei Notverordnungen "zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" in Preußen. Durch die erste trat Papen als "Reichskommissar" an die Stelle des Ministerpräsidenten; er übertrug dem rechtsstehenden (parteilosen) Essener Oberbürgermeister Franz Bracht die Geschäfte des Innenministers. Durch die zweite Verordnung wurde die vollziehende Gewalt in Groß-Berlin und Brandenburg auf die Reichswehr übertragen.

Die Reichsexekution gegen Preußen war ein reiner Willkürakt und sogar ein "Staatsstreich" (Heinrich August Winkler). Die Regierung Braun protestierte und klagte gegen ihre Absetzung mit Unterstützung der süddeutschen Länder, die den Föderalismus verletzt sahen, vor dem Staatsgerichtshof. Im Oktober 1932 erklärte das Gericht eine vorübergehende Einsetzung von Reichskommissaren für zulässig, deren Beauftragung mit der Vertretung Preußens im hingegen für verfassungswidrig. An der Absetzung der Regierung Braun änderte das Urteil also nichts. Demokraten, insbesondere SPD- Mitglieder, hatte Papen bereits aus allen Führungspositionen des preußischen Staatsapparates entfernen lassen.

Durch den "Preußenschlag", in den man Hitler vorher eingeweiht hatte, erhielt die an die Macht strebende NSDAP starken Auftrieb. Denn die Sozialdemokratie hatte vor einem scheinlegalen Angriff auf ihre letzte Machtbastion im Weimarer Staat quasi kapituliert; SPD und KPD blieben zerstritten. Demnach war auch gegen die Errichtung einer Diktatur, die sich rechtmäßig gab, kein kämpferischer Widerstand der Linken zu erwarten. So schrieb die NSDAP-Zeitung "Völkischer Beobachter" am 21. Juli 1932 auf ihrer Titelseite: "Liquidierung der Novemberherrschaft!" – "Der Anfang ist gemacht, wir werden sie zu Ende führen." In den folgenden Wochen begann Hitler mit der Planung eines "Ermächtigungsgesetzes", das einer von ihm geführten Regierung die allgemeine und die verfassungsändernde Gesetzgebung übertragen sollte.

Wegen dieser strategischen Bedeutung des "Preußenschlages" im Prozess der Demokratiezerstörung stellt sich die Frage, ob am 20. Juli 1932 ein erfolgreicher Widerstand der demokratischen Kräfte – in erster Linie der SPD, der Gewerkschaften und der "Eisernen Front" – möglich gewesen wäre. Sie wird von den Historikern überwiegend verneint. In den Reihen der "Eisernen Front", insbesondere im "Reichsbanner", existierte eine beträchtliche Kampfbereitschaft, doch war sie regional unterschiedlich ausgeprägt. Auch bedeutete Kampfbereitschaft nicht schon Bürgerkriegsfähigkeit. Denn ein Konzept für bewaffnete Aktionen zur Rettung der Demokratie hatten SPD und Gewerkschaften – trotz Gründung des Reichsbanners und der "Eisernen Front" – nie entwickelt. Schon gar nicht besaßen sie die skrupellose Gewaltbereitschaft der NSDAP oder der KPD. Vielmehr hatte die sozialdemokratische Führung aus dem abschreckenden Beispiel der Russischen Revolution und aus ihren eigenen Erfahrungen die Lehre gezogen, ihre Politik an den Prinzipien Legalität, Humanität und Gewaltlosigkeit auszurichten.

Einen Generalstreik, wie ihn vor allem die KPD forderte, lehnten die Gewerkschaften ab. Anders als beim Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 hielten sie ihn diesmal für eine stumpfe Waffe, denn mehr als sechs Millionen Arbeitslose standen bereit, um die Plätze der Streikenden einzunehmen. So beschränkte sich die Sozialdemokratie auf Proteste und konzentrierte sich auf den Reichstagswahlkampf.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 116 Reichstagswahlen 1932

Am 31. Juli 1932 gingen mehr Bürgerinnen und Bürger zur Wahl als je zuvor (84,1 Prozent). Die SPD verlor abermals Stimmen an die KPD. Zwei Jahre Tolerierungspolitik gegenüber Brüning, der Ausschluss prominenter linker Kritiker des Parteikurses (im September 1931), die Mitwahl Hindenburgs und das Stillhalten in Preußen hatten Teile der SPD-Wählerschaft enttäuscht.

Während Zentrum und BVP leichte Gewinne erzielten, wurden die protestantischen bürgerlichen Mittelparteien fast völlig aufgerieben. Auch die DNVP musste erneut – diesmal leichtere – Verluste hinnehmen. Überragender Wahlsieger wurde erwartungsgemäß die NSDAP. Weil sie wohl allen Parteien, außer KPD und Zentrum, in unterschiedlichem Umfang Wähler abspenstig machte, konnte sie ihren Anteil an Stimmen (13,7 Millionen = 37,3 Prozent) und Mandaten (230) mehr als verdoppeln. Damit stellte sie die weitaus stärkste Reichstagsfraktion – und nach parlamentarischem Brauch den Reichstagspräsidenten (Hermann Göring). Die anhaltende krisenbedingte Polarisierung und Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung und ein überaus geschickter, moderner (vorwiegend aus Eigenmitteln, zum Teil auch aus Wirtschaftsspenden finanzierter) Wahlkampf hatten der NSDAP neue Wählermassen zugeführt. Hitler hatte als erster deutscher Politiker ein Flugzeug benutzt, um möglichst viele Wahlreden halten zu können.

Aus taktischen Gründen – man wollte seriöser wirken als bisher – war der Antisemitismus im Wahlkampf in den Hintergrund getreten. Hitlers Partei bildete jetzt "das große Auffangbecken für alle Gegner des demokratischen Systems, für alle Enttäuschten, Verbitterten und Fanatisierten" (Eberhard Kolb), soweit diese nicht der KPD zuneigten. Nach wie vor kamen bei der NSDAP etwa 60 Mittelschichtwähler auf 40 Wähler aus Arbeiterhaushalten (Jürgen W. Falter). Manche Historiker sehen in ihr die erste moderne "Volkspartei" unter den Weimarer Klassen-, Interessen- und Konfessionsparteien; dafür fehlten ihr jedoch wichtige Merkmale wie innerparteiliche Demokratie und konstruktive politische Ziele. Sie blieb eine rechtsextreme "schichtenunspezifische Protestbewegung mit Mittelschichtenschwerpunkt" (Helga Grebing).

Wie im Preußischen Landtag gab es jetzt auch im Reichstag eine "negative Mehrheit" der radikalen Flügelparteien. Gestützt auf seinen Wahlerfolg, widerrief Hitler seine Tolerierungszusage. Schleichers Angebot, die NSDAP an der Regierung Papen zu beteiligen, schlug er aus und verlangte für seine Partei am 13. August 1932 von Hindenburg "die Führung einer Regierung und die Staatsführung in vollem Umfange". Der Reichspräsident erteilte ihm eine öffentliche Abfuhr: Er könne es nicht verantworten, "die gesamte Regierungsgewalt ausschließlich der nationalsozialistischen Bewegung zu übertragen, die diese Macht einseitig anzuwenden gewillt sei".

Da der Regierung ein Misstrauensvotum des neuen Reichstages bevorstand, Papen aber längere Zeit im Amt bleiben sollte, ermächtigte Hindenburg den Kanzler am 30. August 1932 zur Auflösung des Parlamentes ohne fristgemäße Neuwahl. Vor einem derart schweren Verfassungsbruch schreckte Papen jedoch zurück. So sprach ihm der Reichstag in seiner ersten Arbeitssitzung mit 512 gegen 42 Stimmen das Misstrauen aus. Noch während der Abstimmung löste Papen durch eine bereits vorbereitete Order des Reichspräsidenten den Reichstag wieder auf.

Hatte die Regierung Papen anfänglich die Brüningsche Deflationspolitik noch verschärft (weitere Beschneidungen des Arbeitslosengeldes, der Krisen- und der Wohlfahrtsunterstützung), so setzte sie bis zur Neuwahl noch einige kräftige wirtschaftspolitische Akzente. Im Juli gründete sie einen "Freiwilligen Arbeitsdienst", dem Ende 1932 bereits 250000 Arbeitslose angehörten. Am 4. September 1932 stellte sie 135 Millionen RM für staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereit. 700 Millionen RM sollten in Form von beleihbaren Steuergutscheinen in die Unternehmen fließen und der Finanzierung von Investitionen und Neueinstellungen dienen. Mit weiteren Steuergutscheinen im Umfang von 1,5 Milliarden RM sollten die Betriebe in den kommenden Jahren einen Teil ihrer Steuern und Zölle bezahlen können. Unternehmen, die Arbeitslose einstellten, durften die Tariflöhne teilweise um bis zu 20 Prozent unterschreiten. Die staatliche Zwangsschlichtung war bereits am 15. Juni 1932 abgeschafft worden. Insgesamt bedeuteten diese Maßnahmen (die zunächst eher zur

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 117

Längerbeschäftigung von Kurzarbeitern als zu Neueinstellungen führten) den vorsichtigen Übergang zu einer aktiven Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Papens Programm fand große Zustimmung in der Industrie, während die geplanten Tarifunterschreitungen bei Gewerkschaften und Arbeitnehmern auf heftige Kritik stießen.

Vom 3. bis 7. November kam es bei den Berliner Verkehrsbetrieben zu einem "wilden" Streik, der den gesamten öffentlichen Nahverkehr der Hauptstadt lahmlegte. Organisiert wurde er von Kommunisten und Nationalsozialisten (zum Teil gemeinsam!). Auseinandersetzungen mit der Polizei forderten drei Tote.

Aus dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 6. November 1932 schöpften die Demokraten erstmals wieder Hoffnung. Zwar erzielte die KPD wiederum einen beträchtlichen Stimmenzuwachs auf Kosten der SPD und brachte es auf 100 Mandate; auch war die Lage der bürgerlichen Mittelparteien (mit Ausnahme des Zentrums) weiterhin desolat; aber im rechten Lager gab es eine beträchtliche Veränderung. Die "Papen-Parteien" DVP und DNVP verzeichneten leichte Gewinne, während die NSDAP erstmals seit 1928 Verluste hinnehmen musste: Sie verlor gut zwei Millionen Stimmen (4,2 Prozent) bzw. 34 Mandate. Die nationalsozialistische Welle hatte ihren Höhepunkt erreicht und begann wieder abzuflauen – so urteilte die seriöse Presse. In der Tat setzte sich der Abwärtstrend der NSDAP am 4. Dezember bei den Kommunalwahlen in Thüringen fort.

Wo lagen die Ursachen für die Stimmenverluste der NSDAP? Offenbar war ein Teil ihrer Wählerschaft mit Hitlers erfolgloser Alles-oder-nichts-Strategie und mit der punktuellen Zusammenarbeit zwischen NSDAP und KPD unzufrieden. Darüber hinaus hatte Hitlers öffentliche Solidarisierung mit brutalen Mördern auf rechtsstaatlich gesinnte Bürger abstoßend gewirkt. Am 10. August 1932 hatten fünf angetrunkene SA-Leute im oberschlesischen Dorf Potempa einen KPD-nahen Arbeitslosen brutal getötet. Als die Täter am 22. August zum Tode verurteilt wurden, schickte Hitler ihnen ein Telegramm: "Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichen Bluturteils fühle ich mich mit euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre, der Kampf gegen eine Regierung, unter der dieses möglich war, unsere Pflicht!" Papen, der als Reichskommissar in Preußen auch das Begnadigungsrecht ausübte, wandelte am 2. September das Todesurteil in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe um. Im März 1933 wurden die Täter auf freien Fuß gesetzt.

Rücktritt der Regierung Papen

Am 17. November 1932 trat die Regierung Papen zurück, blieb jedoch geschäftsführend im Amt. Ihre politische Lage war aussichtslos geworden. Auch der neue Reichstag würde ihr das Misstrauen aussprechen oder ihre Notverordnungen aufheben. Schließlich wurde im Kabinett ein "Kampfplan" erwogen: Auflösung des Reichstages ohne Neuwahlen, Ausschaltung der Parteien mit Hilfe von Polizei und Reichswehr, autoritärer Umbau der Verfassung und spätere Billigung dieser Maßnahmen durch eine Volksabstimmung oder eine Nationalversammlung. Hindenburg gefiel der Plan; er akzeptierte aber Schleichers Warnung vor einem Bürgerkrieg. Am 21./22. November bot er Hitler die Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung an; der NSDAP-Führer forderte jedoch erneut die Präsidialkanzlerschaft, die ihm Hindenburg abermals verweigerte. In einem Brief an Staatssekretär Meissner vom 23. November 1932 skizzierte Hitler unverblümt seine politischen Absichten: "Es ist daher in der Zukunft die Aufgabe eines Kanzlers, der [...] die Schwerfälligkeit des parlamentarischen Vorgehens als gefährliche Hemmung ansieht, sich eine Mehrheit für ein aufgabenmäßig begrenztes und zeitlich fixiertes Ermächtigungsgesetz zu sichern. Die Aussicht auf den Erfolg eines solchen Versuchs wird umso größer sein, je autoritärer auf der einen Seite die Position dieses Mannes ist und je schwerer auf der anderen die [...] schon in seinen Händen befindliche parlamentarische Macht in die Waage fällt." Am 2. Dezember entließ Hindenburg die Regierung mit großem Bedauern und ernannte Schleicher zum neuen Reichskanzler. Papen blieb aber ein enger Vertrauter des

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 118

Reichspräsidenten.

Reichskanzlerschaft Schleichers

Schleicher behielt auch als Kanzler das Amt des Reichswehrministers und tauschte lediglich zwei Minister aus. Mit der Ernennung eines "Reichskommissars für Arbeitsbeschaffung" setzte er jedoch einen arbeitnehmerfreundlichen Akzent. Dies veranlasste den Reichstag, der vorläufig keine erneute Auflösung befürchten musste, auf ein sofortiges Misstrauensvotum zu verzichten. Vom 6. bis 9. Dezember 1932 beschloss er die Aufhebung der von Papen ermöglichten Tarifunterschreitungen sowie eine dem sozialen Frieden dienliche Amnestie für politische Straftaten, ausgenommen für Tötungsdelikte. Außerdem änderte er Artikel 51 WV dahingehend, dass künftig nicht der Reichskanzler, sondern der Präsident des Reichsgerichts den Reichspräsidenten vertrat. Starb der greise Hindenburg, so sollte Schleicher nicht die drei mächtigsten Staatsämter auf sich vereinigen. Danach vertagte sich das Parlament.

Scheiternde Bündnispläne

Mit seiner Regierungserklärung vom 15. Dezember 1932 sorgte Schleicher für eine Überraschung, indem er sich vom Kapitalismus ebenso distanzierte wie vom Sozialismus. Er sei der "überparteiliche Sachwalter der Interessen aller Bevölkerungsschichten", ein "sozialer General". Er kenne nur ein Ziel: "Arbeit schaffen!" Senkungen der Arbeitseinkommen werde es nicht geben. Im Rahmen einer "Winterhilfe" sollten Fleisch und Kohle billiger werden (was einer Forderung der SPD entsprach). Mit "allen gutwilligen Kräften" im Parlament wolle er zusammenarbeiten. Der Drahtzieher der "Kamarilla" war offenbar zu der Einsicht gelangt, dass die bisherige Regierungsweise mit dem Artikel 48 WV in eine Sackgasse geführt hatte. Stabile autoritäre Verhältnisse hatten sich nicht eingestellt. Die Unzufriedenheit der Bürger mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Präsidialkabinette war bei den in immer kürzeren Abständen abgehaltenen Reichstagswahlen allein der NSDAP und der KPD – zuletzt sogar nur noch den Kommunisten – zugute gekommen.

Deshalb warb Schleicher jetzt bei den Arbeitnehmerflügeln von SPD, Zentrum, DNVP und NSDAP um eine parlamentarische (Tolerierungs-)Basis in Form einer "Querfront". Dafür stellte er eine stärkere Berücksichtigung der Interessen von Arbeitern, Angestellten und Beamten in Aussicht. Hinsichtlich der Nationalsozialisten lief dieser Vorstoß auf eine Abspaltung ihres "linken" Flügels um den Reichsorganisationsleiter und "zweiten Mann" der NSDAP, Gregor Strasser, hinaus. Tatsächlich war Strasser dazu bereit, als Vizekanzler in die Regierung Schleicher einzutreten. Als Hitler jedoch – mit großer Mühe – die Mehrheit der Parteifunktionäre hinter sich brachte, musste Strasser am 8./9. Dezember 1932 von allen Ämtern zurücktreten.

Auch bei den Gewerkschaften aller Richtungen hatte die "Querfront" Interesse geweckt. Aber die SPD, die Schleicher stark misstraute, brachte den ADGB Anfang Januar 1933 von einer Zusammenarbeit mit dem General ab. Dabei vertieften sich die bereits in der Frage der Arbeitsbeschaffungspolitik eingetretenen politischen Spannungen zwischen SPD und Gewerkschaften. Die Linke war jetzt gewissermaßen doppelt gespalten und demzufolge noch mehr geschwächt.

Den großagrarischen Reichslandbund enttäuschte Schleicher, indem er nur die Milchwirtschaft förderte: Per Notverordnung vom 23. Dezember 1932 wurden die Hersteller von Margarine zur Beimischung von Butter gezwungen. Es folgten heftige Proteste: Kritisierten SPD und Gewerkschaften die absehbare Verteuerung des billigen pflanzlichen Grundnahrungsmittels, so bemängelten RDI und DVP die Bevorzugung der Landwirtschaft und fürchteten Lohnforderungen der Gewerkschaften.

Allgemein begrüßt wurde dagegen ein außenpolitischer Fortschritt: Am 11. Dezember 1932 erkannten die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien Deutschlands militärische Gleichberechtigung im Grundsatz an – nach der Lösung des Reparationsproblems zeichnete sich eine weitere Teilrevision des Versailler Vertrages ab.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 119

Den breiten Protesten gegen seine Margarineverordnung zufolge musste Schleicher bei der nächsten Reichstagssitzung Anfang Januar mit einem Misstrauensvotum rechnen. Jetzt wollte er denselben verfassungswidrigen Weg beschreiten, den er Papen noch verbaut hatte. Unter strenger Geheimhaltung ließ Schleicher eine Serie von Notverordnungen für den "Staatsnotstand" vorbereiten: Reichstagsauflösung ohne Neuwahl; Verhängung des Ausnahmezustandes und Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr im Falle eines Generalstreiks; Streikverbot für den öffentlichen Dienst sowie für lebenswichtige Betriebe unter Androhung harter Strafen; Unterdrückung der Gewerkschaften; Verstärkung des Katastrophenschutzverbandes "", einer bewährten Streikbrecherorganisation. Dies alles lief auf eine befristete Militärdiktatur bis zum Abflauen der Wirtschaftskrise und des politischen Extremismus hinaus.

Ob das die letzte Chance der Weimarer Republik war, Hitler zu vermeiden, ist unter Historikern umstritten und wegen der schillernden, politisch fragwürdigen Figur Schleicher zumindest zweifelhaft. Der Reichspräsident lehnte den Staatsnotstandsplan ab, denn er wollte keine Anklage vor dem Staatsgerichtshof wegen Amtsmissbrauchs riskieren. Auch eine Reichstagsauflösung mit verfassungsgemäßer Neuwahl (sie hätte der NSDAP – ohne den Kanzlerbonus – weitere Verluste beschert) genehmigte er nicht. Am 28. Januar 1933 blieb Schleicher nur noch der Rücktritt. Letztlich scheiterte er an den politischen Folgen des Präsidialregimes, das er selbst in hohem Maße mitzuverantworten hatte. Sein Nachfolger stand schon kurz vor der Ernennung: Adolf Hitler, der die "Querfront"-Strategen Schleicher und Strasser 1934 ermorden ließ.

Regierungsübertragung auf die NSDAP

"Das Jahr 1932 war eine ewige Pechsträhne", schrieb Joseph Goebbels am 25. Dezember 1932 in sein (1934 veröffentlichtes) Tagebuch, "man muss es in Scherben schlagen [...]. Die Zukunft ist dunkel und trübe; alle Aussichten vollends entschwunden." Nach drei großen Anläufen – Reichspräsidentenwahl im April, Reichstagswahlen im Juli und November – stand die NSDAP wegen Hitlers Alles-oder-nichts-Politik noch immer vor den Toren der Macht. Ihr Massenanhang hatte abzubröckeln begonnen; die Parteikasse war leer. Schleichers Spaltungsversuch und Gregor Strassers Rücktritt hatten die NSDAP so schwer erschüttert, dass Hitler sich vorübergehend mit Selbstmordgedanken trug. Goebbels besaß also allen Grund zum Pessimismus. Nur fünf Wochen später jedoch, am 30. Januar 1933, notierte er begeistert: "Es ist fast wie ein Traum. Die Wilhelmstraße gehört uns. Der Führer arbeitet bereits in der Reichskanzlei." Diese erstaunliche Wendung lässt sich nur erklären, wenn man die Ziele und Aktivitäten derjenigen Teile der Eliten in Militär, Bürokratie und Wirtschaft in den Blick nimmt, die sich 1932/33 für Hitler einsetzten.

Befürworter Hitlers

Einzelne Schwerindustrielle wie Emil Kirdorf (Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat) und Fritz Thyssen (Vereinigte Stahlwerke) unterstützten bereits seit 1927 bzw. 1929 die NSDAP. Am 27. Januar 1932 hielt Hitler im Düsseldorfer Industrie-Club einen Vortrag, mit dem er die meisten anwesenden Wirtschaftsvertreter stark beeindruckte.

Denn er verglich die auf das Privateigentum gegründete freie Unternehmerinitiative in der Wirtschaft mit dem nationalsozialistischen Führerprinzip in der Politik und führte beide auf das Leistungsprinzip zurück. Den Zuhörern wurde klar, dass die "sozialistischen" Forderungen im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 (Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Großbetrieben, Bodenreform, Kommunalisierung der Warenhäuser) lediglich die Partei auch für Arbeiter und kleine Mittelständler wählbar machen sollten, während Hitler in Wirklichkeit nicht daran dachte, die Stellung der Unternehmer oder gar das Privateigentum an Produktionsmitteln anzutasten. Seither flossen der NSDAP auch von dieser Seite erhebliche Spenden zu.

Hitler und seine Vertrauten Hermann Göring und bemühten sich um gute

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 120

Beziehungen zu Unternehmerkreisen, weil sie wussten, dass die NSDAP ohne Zustimmung zumindest eines Teils der Wirtschaft nicht an die Macht gelangen konnte. Ihre Kontakte führten im Juni 1932 zur Bildung zweier Arbeitsstäbe, in denen einige einflussreiche Bankiers, Industrielle und Großagrarier als wirtschaftspolitische Berater der NSDAP mitarbeiteten: Der ehemalige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht leitete die nach ihm benannte "Arbeitsstelle Dr. Schacht", der Chemie-Industrielle Wilhelm Keppler den "Studienausschuss für Wirtschaftsfragen". Vor allem der "Keppler-Kreis" bildete im Herbst und Winter 1932 die "Keimzelle für wichtige Grundsatzentscheidungen nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik, und zwar im Sinne der Großwirtschaft" (Dirk Stegmann).

Als das Institut für Konjunkturforschung Ende Oktober erste Anzeichen für eine konjunkturelle Besserung meldete und die NSDAP bei der Novemberwahl erhebliche Verluste erlitt, schien eine Regierung Hitler in weite Ferne zu rücken. Dies veranlasste 22 NSDAP-nahe Vertreter von Schwerindustrie, Großlandwirtschaft, Handel, Schifffahrt und Banken (darunter acht Mitglieder des Keppler-Kreises) am 19. November 1932 zu einer Eingabe an den Reichspräsidenten. Darin forderten sie, endlich "dem Führer der größten nationalen Gruppe" die "Leitung eines mit den besten sachlichen und personellen Kräften ausgestatteten Präsidialkabinetts" zu übertragen. Die Eingabe blieb jedoch erfolglos.

Im Dezember 1932 alarmierte Schleichers "Querfront"–Politik vollends diejenigen nationalkonservativen Kreise in Wirtschaft, Militär und Bürokratie, die glaubten, ihre antidemokratisch-monarchistischen Ziele nur noch mit Hilfe der nationalsozialistischen Massenbewegung verwirklichen zu können. Schleicher wirkte auf sie wie ein verkappter "Sozialist in Generalsuniform" (Eberhard Kolb). Dass Hitler keine Monarchie, sondern einen "Führerstaat" anstrebte, und dass auch er sozialpolitische Interessen der Arbeitnehmer nicht gänzlich ignorieren konnte, nahmen sie in Kauf. Sie glaubten, die NSDAP so "einrahmen" und "zähmen" zu können, dass sie im Sinne ihrer konservativen Bündnispartner regieren und sich selbst dabei politisch "abnutzen" musste.

Bündnis zwischen Papen und Hitler

Hitlers Fürsprecher besaßen keinen direkten Zugang zum Reichspräsidenten. Dieses Problem lösten sie mit Hilfe Papens, der als einziger in der Lage war, Hindenburgs Misstrauen gegenüber Hitler zu zerstreuen. Trotz seiner schlechten Erfahrungen mit dem NSDAP-Führer wechselte Papen nach dem Ende seiner Kanzlerschaft in das Lager der Hitler-Befürworter, weil er darin eine Chance sah, in die Regierung zurückzukehren. Umgekehrt überwand Hitler jetzt seine Abneigung gegen Papen, da er erkannte, dass sich die NSDAP in einer desolaten Lage befand und er taktische Kompromisse machen musste, wenn er noch an die Macht gelangen wollte.

Mitte Dezember 1932 bot der Kölner Bankier Kurt Freiherr von Schröder, Mitglied des "Keppler-Kreises" und der "Arbeitsstelle Dr. Schacht", Papen die Vermittlung eines Gesprächs mit Hitler an. Am 4. Januar 1933 trafen sich Papen und Hitler in Schröders Privathaus zu einer Unterredung, die als "Geburtsstunde des Dritten Reiches" () gelten kann. Denn wie Schröder 1947 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess eidesstattlich erklärte, erzielten der NSDAP-Führer und der Hindenburg- Vertraute "ein prinzipielles Abkommen" über Personal und Politik einer Regierung Hitler-Papen- Hugenberg (letzterer musste dafür erst noch gewonnen werden), die möglichst schnell das Kabinett Schleicher ablösen sollte. Als Reichskanzler wollte Hitler unter anderem für "die Entfernung aller Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden von führenden Stellungen" und für die "Wiederherstellung der Ordnung im öffentlichen Leben" sorgen. Papen sollte Vizekanzler werden. Einzelheiten sollten in weiteren Besprechungen geklärt werden.

Folgt man Schröder, so zielten zu diesem Zeitpunkt die "allgemeinen Bestrebungen der Männer der Wirtschaft" auf einen "starken Führer", der dauerhaft regieren, ihnen die "Angst vor dem Bolschewismus" nehmen und eine "beständige politische und wirtschaftliche Grundlage in Deutschland" schaffen sollte. Auch seien von ihm umfangreiche Staatsaufträge erwartet worden. Demgegenüber hat die neuere historische Forschung ergeben, dass Ende 1932/Anfang 1933

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 121 keineswegs die gesamte Wirtschaft hinter Hitler stand. Während sich große Teile der besonders krisengeschüttelten Schwerindustrie an Rhein und Ruhr (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung) der NSDAP zuwandten, stimmten die übrigen Industrien (Maschinenbau, Elektrotechnik, Optik, Chemie, Pharmazie und andere) weitgehend der Politik des Reichskanzlers Papen zu. Auch die Banken nahmen keine einheitliche Haltung ein. Hitlers Ernennung zum Regierungschef erfolgte also "bei gespaltener Industriefront" (Reinhard Neebe).

Sondierungsgespräche

Am 9. Januar 1933 erteilte Hindenburg (hinter dem Rücken des Kanzlers Schleicher) Papen die Genehmigung, Verhandlungen über eine von ihm geführte Regierung unter Beteiligung der NSDAP aufzunehmen. In diversen Sondierungsgesprächen, unter Mitwirkung einiger Industrieller, kam es in dem machtstrategischen Dreieck NSDAP – Papen/Hindenburg/"Kamarilla" – DNVP/Stahlhelm schrittweise zu einer politischen Verständigung. Gleichzeitig wandten sich immer mehr Personen, die Hindenburg persönlich schätzte – darunter der ehemalige Kronprinz Wilhelm, Gutsnachbar Oldenburg- Januschau und der alte Regimentskamerad General Werner von Blomberg – an den Reichspräsidenten und empfahlen ihm die Bildung einer von Hitler geführten Regierung aus Stahlhelm, DNVP und NSDAP.

Strittig zwischen NSDAP und DNVP blieb Hitlers Forderung nach einem nationalsozialistischen Reichskommissar im preußischen Innenministerium (um die preußische Polizei zu kontrollieren) und nach Reichstagsneuwahlen im Anschluss an die Regierungsbildung (um mit dem Kanzlerbonus eine Mehrheit für das geplante "Ermächtigungsgesetz" zu erhalten). Währenddessen wurde Schleichers politische Stellung immer schwächer: Da er im Osten ähnliche Siedlungspläne wie Brüning hegte, geriet er in Konflikt mit Hindenburg und verlor die parlamentarische Unterstützung der DNVP; am 28. Januar musste er zurücktreten. Der Reichspräsident erwog jetzt ernsthaft eine Kanzlerschaft Hitlers; seine Bedingung, Blomberg müsse Reichswehrminister werden, war dem NSDAP-Führer nur recht, denn der General stand (ohne Hindenburgs Wissen) schon seit längerem den Nationalsozialisten nahe.

Hitler wird Reichskanzler

Am Vormittag des 29. Januar 1933 einigten sich Hitler, Göring und Papen darauf, dass Papen Reichskommissar für Preußen, Göring kommissarischer preußischer Innenminister werden sollte. Der frühere thüringische NSDAP-Minister Wilhelm Frick war als Reichsinnenminister vorgesehen. Am Nachmittag sprach Papen mit Hugenberg und den Stahlhelm-Führern Seldte und Duesterberg. Hugenberg war noch immer gegen Neuwahlen; aber das Angebot Hindenburgs, Doppelminister für Wirtschaft und Landwirtschaft im Reich und in Preußen zu werden, fand er verlockend. Seldte wünschte sich das Arbeitsministerium; Duesterberg blieb distanziert. Nachdem auch mehrere Mitglieder des Schleicher-Kabinetts ihre Mitarbeit angeboten hatten, war die Ministerliste fast komplett.

Zwei Ereignisse beschleunigten die Entwicklung. Zum einen wünschte Hindenburg eine rasche Regierungsbeteiligung der Zentrumspartei, damit diese nicht länger im Haushaltsausschuss die Untersuchung des peinlichen "Osthilfe-Skandals" forcierte. Ostelbische Gutsbesitzer, darunter Hindenburgs Freund Oldenburg-Januschau, hatten offenbar mehr wirtschaftliche Subventionen erhalten, als ihnen zustanden, und diese zum Teil für private Zwecke ausgegeben. Mit der Zusicherung, den Eintritt des Zen-trums in eine parlamentarische Mehrheitsregierung Hitler-Papen-Hugenberg (ohne den Artikel 48 WV) anzustreben, kam Papen Hindenburgs Vorstellungen entgegen und zerstreute zugleich dessen letzte Bedenken gegen Hitlers Kanzlerschaft. Für die Zentrumspartei wurde das Justizressort offen gehalten.

Zum anderen führten am Abend des 29. Januar 1933 verbreitete Gerüchte über einen bevorstehenden Militärputsch Schleichers dazu, dass der am nächsten Morgen in Berlin eintreffende designierte Reichswehrminister Blomberg sofort zu Hindenburg gebracht und noch vor dem Reichskanzler vereidigt wurde – ein verfassungswidriger Vorgang.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 122

Die künftigen Regierungsmitglieder waren um 10.45 Uhr zum Reichspräsidenten bestellt. Noch immer wehrte sich Hugenberg gegen eine Reichstagsauflösung. Papen verwies eindringlich auf den (angeblich) drohenden Militärputsch; Hitler versprach, auch nach Neuwahlen keinen Minister zu entlassen. Hugenberg blieb bei seinem Nein, ging aber doch mit den anderen mit, als Meissner drängte, man könne den Reichspräsidenten nicht länger warten lassen. Um 11 Uhr leisteten Hitler, Göring und Frick, Papen, Hugenberg, Seldte und weitere vier (parteilose) konservative Minister den Amtseid auf die Weimarer Verfassung.

Oberflächlich betrachtet waren die drei Nationalsozialisten in der Regierung tatsächlich "eingerahmt": durch den Reichspräsidenten, Vertreter des Stahlhelm (Seldte), der DNVP (Hugenberg) und durch die parteilosen Fachminister. Aber die NSDAP besaß strategisch wichtige Schlüsselstellungen: Reichskanzler Hitler leitete die Kabinettssitzungen und bestimmte die "Richtlinien der Politik" (Art. 56 WV), Innenminister Frick war unter anderem für die Vorbereitung und Durchführung von Gesetzen bzw. Notverordnungen zur inneren Sicherheit (zum Beispiel Zeitungs-, Versammlungs- und Parteienverbote) zuständig. Dem Minister ohne Geschäftsbereich Göring unterstand als Reichskommissar das preußische Innenministerium – und demzufolge die größte deutsche Landespolizei. Hinzu kam die NSDAP-Nähe des Reichswehrministers von Blomberg. Es zeugt daher von einem beträchtlichen Realitätsverlust, wenn Papen gegenüber einem konservativen Kritiker äußerte: "Was wollen Sie denn? Ich habe das Vertrauen Hindenburgs. In zwei Monaten haben wir Hitler so in die Ecke gedrückt, dass er quietscht."

Tatsächlich konnte die NSDAP ihre "Einrahmung" schon am nächsten Tag durchlöchern, als Reichskanzler Hitler die ihm auferlegten Verhandlungen mit dem Zentrumsführer Kaas mit seiner unannehmbaren Forderung nach einer einjährigen Vertagung des Reichstages absichtlich zum Scheitern brachte. Danach bat er Hindenburg um Auflösung des Parlamentes, da er mit dem gegenwärtigen Reichstag nicht regieren könne. Der Präsident möge sich keine Sorgen machen – diese Neuwahlen, so versprach er doppeldeutig, würden "die letzten" sein. Hindenburg stimmte zu und erteilte am 1. Februar 1933 die Auflösungsorder.

Ohnmacht der Hitler-Gegner

Die Gegner der NSDAP waren über Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bestürzt, aber eine gemeinsame Aktion brachten sie nicht zustande. Die KPD rief zum Generalstreik auf und schlug der SPD die Bildung einer "Einheitsfront" vor. Doch die Sozialdemokraten sahen auch jetzt keine Basis für eine Zusammenarbeit – frühere kommunistische Einheitsfrontangebote hatten stets das erklärte Ziel verfolgt, die sozialdemokratischen Arbeiter von ihrer "sozialfaschistischen" Führung zu trennen; auch kämpfte die KPD nach wie vor für ein "Sowjetdeutschland". Die SPD beschränkte sich darauf, ihre Mitglieder und Anhänger zur Bewahrung von "Kaltblütigkeit, Entschlossenheit, Disziplin und Einigkeit" aufzurufen und die neue Regierung vor Verfassungsbrüchen zu warnen.

Für die Gewerkschaften kam ein Generalstreik so wenig infrage wie im Juli 1932. Von der Zentrumspartei, die ja Koalitionen mit der NSDAP durchaus wünschte, war Widerstand nicht zu erwarten. Die bürgerlich-liberalen Parteien spielten aufgrund ihrer Schwäche kaum noch eine Rolle.

Vor allem zahlte sich jetzt Hitlers Legalitätstaktik aus. Die NSDAP hatte die politische Macht nicht erobert, sondern sie war ihr, scheinbar verfassungskonform, in die Hände gelegt worden. Stattgefunden hatte keine "Machtergreifung", wie die NS-Propaganda später prahlte, sondern eine begrenzte Machtübertragung, nämlich die Beauftragung Hitlers mit der Führung einer parlamentarischen Regierung. Wenn es der NSDAP gelang, binnen eineinhalb Jahren ihre Gegner auszuschalten, ihre Koalitionspartner abzuschütteln und einen diktatorischen "Führerstaat" zu errichten, so vor allem deshalb, weil sie – im Sinne der Lehren des "Preußenschlages" – diesen Prozess als eine "legale Revolution" inszenierte: nämlich als "tiefgreifende Änderung aller Dinge", die aber "im Rahmen von Recht und Verfassung" erfolgte – freilich kombiniert mit kaum verhülltem Terror. Das hat "jeden Widerstand rechtlicher, politischer oder auch geistiger Art so schwierig, ja – wie viele meinen – praktisch

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 123 fast unmöglich gemacht" (Karl Dietrich Bracher). Denn wer die Entwicklung zur Diktatur aufhalten wollte, musste sich in die Illegalität begeben – das schreckte ab. Als aber das "Dritte Reich" errichtet war und die Unmenschlichkeit seiner Herrschaftsziele und -methoden alles Dagewesene in den Schatten stellte, war es für einen breiten, erfolgreichen Widerstand zu spät.

Die Weimarer Republik aus der Sicht der Geschichtswissenschaft

[...] Die Historiker sind sich heute zumindest darin einig, dass das Scheitern der Republik und die nationalsozialistische "Machtergreifung" nur durch die Aufhellung eines sehr komplexen Ursachengeflechts plausibel erklärt werden können. Dabei sind vor allem folgende Determinanten zu berücksich-tigen: institutionelle Rahmenbedingungen, etwa die verfassungsmäßigen Rechte und Möglichkeiten des Reichspräsidenten, zumal beim Fehlen klarer parlamentarischer Mehrheiten; die ökonomische Entwicklung mit ihren Auswirkungen auf die politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse; Besonderheiten der politischen Kultur in Deutschland (mitverantwortlich zum Beispiel für die Republikferne der Eliten, die überwiegend der pluralistisch-parteienstaatlichen Demokratie ablehnend gegenüberstanden); Veränderungen im sozialen Gefüge, beispielsweise Umschichtungen im "Mittelstand" mit Konsequenzen, unter anderem für politische Orientierung und Wahlverhalten mittelständischer Kreise; ideologische Faktoren (autoritäre Traditionen in Deutschland; extremer Nationalismus, verstärkt durch Kriegsniederlage, Dolchstoß-Legende und Kriegsunschuldspropaganda; "Führererwartung" und Hoffnung auf den "starken Mann", wodurch einem charismatischen Führertum wie dem Hitlers der Boden bereitet wurde); massenpsychologische Momente, zum Beispiel Erfolgschancen einer massensuggestiven Propaganda infolge kollektiver Entwurzelung und politischer Labilität breiter Bevölkerungssegmente; schließlich die Rolle einzelner Persönlichkeiten an verantwortlicher Stelle, in erster Linie zu nennen sind hier Hindenburg, Schleicher, Papen.

Die Antwort, die auf die Frage nach dem Scheitern der Weimarer Demokratie und der Ermöglichung Hitlers gegeben wird, hängt in ihrer Nuancierung wesentlich davon ab, wie die verschiedenen Komponenten gewichtet und dann zu einem konsistenten Gesamtbild zusammengefügt werden, denn Gewichtung und Verknüpfung sind nicht durch das Quellenmaterial in einer schlechthin zwingenden Weise vorgegeben, sie bilden die eigentliche Interpretationsleistung des Historikers. [...]

Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, Oldenbourg, München 2002, S. 250 f.

[...] Woran ist also Weimar gescheitert? Die Antwort ist nicht mit letzter wissenschaftlicher Präzision zu geben, aber einiges lässt sich doch ausmachen: die wichtigsten Gründe liegen auf dem Feld der Mentalitäten, der Einstellungen und des Denkens. In der Mitte des Ursachenbündels finden sich eine Bevölkerungsmehrheit, die das politische System von Weimar auf die Dauer nicht zu akzeptieren bereit war, sowie Parteien und Verbände, die sich den Anforderungen des Parlamentarismus nicht gewachsen zeigten. Die Ursachen für diese Defekte dürften überwiegend in langfristigen, aus den besonderen Bedingungen der preußisch-deutschen Geschichte zu erklärenden Zusammenhängen zu suchen sein, verstärkt durch die Entstehungsbedingungen des Weimarer Staatswesens und seiner außenpolitischen Belastungen. Die Übertragung dieser ungünstigen Gruppenmentalitäten auf das Weimarer Regierungssystem wurde durch den Wahlrechtsmodus erheblich begünstigt. [...] Die antirepublikanischen Tendenzen in Armee, Bürokratie und Justiz waren grundsätzlich beherrschbar, eine Frage des Machtbewusstseins von Parteien und Regierung. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren hauptsächlich langfristig wirksam, indem sie auf die Mentalitäten von Bevölkerung und einzelnen Gruppen einwirkten; aktuelle ökonomische Krisen verstärkten die destabilisierenden Momente, verursachten sie aber nicht.

Lapidar lässt sich also schließen: Bevölkerung, Gruppen, Parteien und einzelne Verantwortliche haben das Experiment Weimar scheitern lassen, weil sie falsch dachten und deshalb falsch handelten. [...]

Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917-1933, Siedler Verlag /Random House, Berlin 1994, S. 425

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 124

[...] Die Reichstagswahl im Mai 1928 schien die Konsolidierung der Republik zu bestätigen. Allerdings bezahlten alle bürgerlichen Parteien ihre zeitweilige Regierungsbeteiligung mit Wählerverlusten, und in allen kam es daraufhin zu einer Kräfteverschiebung nach rechts. In der DNVP setzte sich der radikale, strikt antiparlamentarische alldeutsche Flügel durch. Auch die Haltung der Unternehmerverbände verhärtete sich wieder.

Doch erst unter dem Druck der beginnenden Weltwirtschaftskrise fielen jene fatalen politischen Entscheidungen, durch die sich die offene Situation immer mehr zu einer schlechten, wenn auch bis zum Ende nie aussichtslosen Zukunftsperspektive für die Republik verengte. Erst jetzt entstand jenes Machtvakuum, das die Verächter der Demokratie in der Umgebung des Reichspräsidenten für ihre Zwecke ausnutzen konnten. Der NSDAP gelang ihr grandioser Aufstieg von der politischen Sekte zur mächtigen "Volkspartei des Protests" vor allem aus zwei Gründen: Die eine Ursache war, daß breite Bevölkerungsschichten den Staat für die Verletzung ihrer elementaren Interessen verantwortlich machten, die soziale Gerechtigkeit grob mißachtet sahen und sich von den etablierten Parteien nicht mehr repräsentiert fühlten. Dazu kam als zweite Ursache, daß die politischen und gesellschaftlichen Eliten die rechtsradikalen Staatsfeinde in Dienst zu stellen hofften, statt sie energisch zu bekämpfen. Bereits in der Agrarkrise der späten zwanziger Jahre zeichnete sich ab, daß die politische Mobilisierung der empörten Landbewohner überwiegend der NSDAP zugute kam. In der Weltwirtschaftskrise bestätigte sich dieser Trend in den Städten. Je mehr sich die sozialen Spannungen verschärften, desto attraktiver wurden die ideologischen Angebote der NSDAP: Wiederherstellung der "Volksgemeinschaft" unter einem starken, gerechten "Führer", Zähmung der Kapitalisten und Vernichtung der "Bolschewisten". Die Widersprüchlichkeit der Parolen bot den verschiedenen Schichten An- knüpfungspunkte für ihren Protest. Angstgeplagten Bürgern machte die bei Demonstrationen und Aufmärschen zur Schau gestellte Durchsetzungskraft der Nationalsozialisten Mut. Junge Menschen wurden durch die Dynamik der "Bewegung" in besonderer Weise angezogen, und dies wiederum schien der NSDAP in den Augen vieler Älterer die Zukunft zu verheißen.

1930, als der schwere Konjunkturrückschlag harte finanz- und sozialpolitische Einschnitte erzwang, sich jedoch noch nicht zu einer fundamentalen Wirtschaftskrise ausgeweitet hatte, kündigte sich die Gefährdung der Republik von rechts bei der Septemberwahl in der sprunghaften, gewaltigen Zunahme der NSDAP-Stimmen an. Aber noch stand weniger als ein Fünftel der Wähler im nationalsozialistischen Lager. Die Bildung einer parlamentarisch verankerten Mehrheitsregierung unter Ausschluß der extremen Flügelparteien NSDAP, DNVP und KPD war weiterhin möglich [...]. Dieser Weg setzte allerdings einen über alle Interessengegensätze hinwegreichenden Konsens voraus, die demokratische Verfassung unbedingt zu erhalten, und diesen Konsens gab es nicht. Vielmehr entschlossen sich die konservativen Machteliten jetzt, dauerhaft gegen die stärkste demokratische Partei, die SPD, zu regieren und vom parlamentarischen zum autoritären System überzugehen. [...]

Die Weimarer Republik mußte in der kurzen Zeit ihres Bestehens mit enormen Schwierigkeiten fertig werden. Wegen ihrer großen strukturellen "Vorbelastungen", der vielfältigen sozialen Spannungen, der Schwächen ihrer Eliten und der überzogenen Erwartungen ihrer Bürger war sie dafür schlecht gerüstet. Den letzten Stoß aber erhielt sie durch den revisionistischen Ehrgeiz einer konservativen politischen Führung, die seit der Ära Brüning inmitten einer dramatischen Wirtschafts- und Staatskrise danach strebte, die außen- und innenpolitische Niederlage von 1918 zu überwinden.

Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933, Klett-Cotta, Stuttgart 2008, S. 507 ff.

Aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 261) - Kampf um die Republik 1919-1923 (2011)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 125

Ursachen des Nationalsozialismus

Von Hans-Ulrich Thamer 6.4.2005 geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.

Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.

"Wie war es möglich?" Diese Frage beschäftigt Historiker, Politiker und Literaten seit Jahrzehnten und ist Gegenstand kontroverser Debatten. Hans-Ulrich Thamer stellt die verschiedenen Ursachen für den Erfolg der Nationalsozialisten dar und erläutert, warum monokausale Erklärungsansätze zu kurz greifen.

Ursachen des Nationalsozialismus

Zum Jahresende 1932 meinte der liberale Publizist und Politiker Gustav Stolper das nahe Ende des Nationalsozialismus prognostizieren zu können: "Das Jahr 1932 hat Hitlers Glück und Ende gebracht. Am 31. Juli hatte sein Aufstieg den Höhepunkt erreicht, am 13. August begann der Niedergang, als der Reichspräsident den Stuhl, den er ihm nicht zum Sitzen anbot, vor die Tür stellte. Seitdem ist das Hitlertum in einem Zusammenbruch, dessen Ausmaß und Tempo dem seines eigenen Aufstiegs vergleichbar ist. Das Hitlertum stirbt an seinem eigenen Lebensgesetz." Beobachter aus fast allen politischen Lagern teilten damals diese optimistische Einschätzung. Auch wenn sie sich einige Wochen später als dramatische Fehlkalkulationen erweisen sollten, waren diese Überlegungen zunächst so abwegig nicht. Denn in der Tat hatte sich die NSDAP wenige Wochen vor der Machtübertragung an ihren Führer Adolf Hitler am 30. Januar 1933 in einer der tiefsten Krisen ihrer kurzen Geschichte befunden.

Nur ein halbes Jahr später berichtete der französische Botschafter in Berlin, André François-Ponçet, seiner Regierung in Paris von einer Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler vom 1. Juli, in der dieser den erfolgreichen Abschluß seiner "nationalen Revolution" und den Übergang zu einer neuen Phase der nationalsozialistischen Herrschaft angekündigt hatte: "In der Tat konnte sich Hitler zum Zeitpunkt seiner Rede rühmen, alles, was in Deutschland außerhalb der nationalsozialistischen Partei existierte, zerstört, zerstreut, aufgelöst, angegliedert oder aufgesaugt zu haben. Einer nach dem anderen mußten sich die Kommunisten, die Juden, die Sozialisten, die Gewerkschaften, die Mitglieder des "Stahlhelms ", die Deutschnationalen, die Frontkämpfer des "Kyffhäuserbundes", die Katholiken in Bayern und im Reich und die evangelischen Kirchen unter sein Gesetz beugen. Er hat alle Polizeikräfte in seiner Hand. [...] Eine unerbittliche Zensur hat die Presse vollständig gezähmt. [...] Hitler beherrscht die einzelnen deutschen Länder durch die Statthalter, die er an ihre Spitze gestellt hat. Die Städte werden von jetzt an verwaltet durch Bürgermeister und Stadträte aus seiner Anhängerschaft. Die Regierungen der Länder und die Landtage sind in den Händen seiner Parteigänger. Alle öffentlichen Verwaltungen wurden gesäubert. Die politischen Parteien sind verschwunden. [...] Wenn man sich die Situation ins Gedächtnis ruft, wie sie am 1. Februar bestand, und die Bedingungen, unter denen Hitler die Kanzlerschaft erlangte sowie die Zusammensetzung der Regierung, die er leitete und in der er eingerahmt war von Männern, die den Auftrag hatten, ihn zu lenken und zu überwachen, wird man zustimmen, daß der Führer erfolgreich ein blitzartiges Manöver durchgeführt hat. Die Zeitungen schreiben zu Recht davon, daß er in fünf Monaten eine Wegstrecke zurückgelegt hat, für die der (italienische) Faschismus fünf Jahre brauchte. [...] Adolf Hitler hat daher gewonnenes Spiel, und er hat diese Partie mit geringem Aufwand gewonnen: Er mußte nur pusten - das Gebäude der deutschen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 126

Politik stürzte zusammen wie ein Kartenhaus."

Was der französische Botschafter hier beschrieben hat, war die erste Phase der nationalsozialistischen Machteroberung, deren Tempo und Dynamik alle Zeitgenossen überrascht und teilweise überrumpelt hatte. Heute wie damals drängt sich die Frage auf, wie in einer so kurzen Zeit ein etabliertes und differenziertes System von politischen Parteien und gesellschaftlichen Verbänden, von Parlamenten und Verwaltungen zusammenbrechen oder sich selbst aufgeben konnte. Auch fragt sich, wie der rasante und scheinbar unaufhaltsame Aufstieg eines politischen Agitators zu erklären ist, der bis zu seinem 30. Lebensjahr ein politisch und sozialer Niemand war und der in den verbleibenden 26 Lebensjahren die Geschichte zutiefst geprägt hat. Diese Zeitspanne wurde geprägt von einem deutschen Diktator, der fast bis zu seinem Ende auf eine gläubige Gefolgschaft und Zustimmungsbereitschaft der großen Mehrheit der Deutschen setzen konnte, der einen Völkermord und einen Krieg anstiftete und damit einen der größten Zivilisationsbrüche der Neuzeit verursachte. Wie konnte er mit seiner Massenbewegung einen hoch entwickelten und modernen Industriestaat mit einer großen kulturellen Tradition unter seine diktatorische Gewalt bringen? Wie war es möglich, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen sich mit diesem Unrechtsregime arrangiert hat? Wie konnten sich in einer solchen Gesellschaft mit ihrer rechtsstaatlichen Tradition und ihrer technisch- wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit derartige kriminelle Verfolgungs- und Vernichtungsenergien entfalten, wo doch die Kriminalitätsrate dieser Gesellschaft bis dahin nicht höher war als die in den anderen europäischen Ländern?

Bedeutung für die Gegenwart

Die Frage "Wie war Hitler möglich?" gehört seit seiner Machtentfaltung bis zur Gegenwart zu den entscheidenden Erkenntnisfragen unserer Zeit. Denn hinter der historischen Erfahrung der Machteroberung durch eine radikalfaschistische Partei und der diktatorischen Machtentfaltung ihres "Führers" steht immer auch die Sorge um die Gefährdung der aktuellen demokratisch-humanitären Verfassung durch extremistische Propaganda und Gewalt. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie von Weimar und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur sind längst zum Musterfall für die Zerstörung einer Demokratie und der Verlockungen einer Diktatur in der Moderne überhaupt geworden. Denn gerade die Verbindung von Faszination und Gewalt, von Loyalität zum Regime und der Eroberungs- bzw. Vernichtungspolitik des Regimes macht das historisch Besondere der nationalsozialistischen Herrschaft aus und erklärt das Erschrecken, das von dieser geschichtlichen Erfahrung ausgeht. Das Wissen um die Mechanik der Machteroberung und die Wirkungsweise bzw. Folgen der nationalsozialistischen Diktatur kann darum beispielhaft die Grundzüge totalitärer Herrschaft erläutern und die Gefährdungen der politischen Freiheit verdeutlichen.

Die Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Machtergreifung haben bis in die Gegenwart das kollektive Gedächtnis der Deutschen und der europäischen Nachbarn, die Opfer der Eroberungs- und Vernichtungspolitik wurden, belastet und die politische Kultur im Nachkriegsdeutschland geprägt. Mehr als 50 Jahre nach dem Untergang des "Dritten Reichs" ist die nationalsozialistische Vergangenheit darum noch immer gegenwärtig und wird es bleiben. Denn zu einzigartig und unvorstellbar sind die Massenverbrechen, die vom nationalsozialistischen Deutschland begangen wurden. Auch wenn die Fakten längst bekannt sind, wird es immer schwer sein, die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik begreiflich zu machen, sie mit unseren sprachlichen und wissenschaftlichen Mitteln zu erklären, ohne sie dabei zu verharmlosen.

Antworten auf die Frage, wie das alles geschehen konnte, lassen sich nur finden, wenn wir die ideologiegeschichtlichen und mentalitätsbedingten Wurzeln des Nationalsozialismus sowie die Bedingungen für die zunehmende Akzeptanz seiner Propagandakampagnen in der damaligen Zeit erklären, wenn wir die krisenhafte Zuspitzung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft der Weimarer Republik als Voraussetzung für den Aufstieg des Nationalsozialismus zur Massenbewegung berücksichtigen und schließlich die schrittweise Entfaltung der nationalsozialistischen Herrschaft beschreiben.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 127

Dabei läßt sich erkennen, daß der Weg Hitlers zur Macht keine Einbahnstraße der deutschen Geschichte darstellte, die notwendigerweise zu seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und zu den weiteren Etappen auf dem Weg in den Krieg und die Vernichtung führte. Vielmehr gab es Knoten- und Wendepunkte, an denen die Entwicklung auch anders hätte verlaufen können, an denen auch andere Entscheidungen möglich gewesen wären. Denn der Nationalsozialismus war weder ein bloßer Betriebsunfall noch kam er mit einer unwiderstehlichen Naturgewalt über die Deutschen. Viele Faktoren und Konstellationen wirkten zusammen, wie innen- und außenpolitische Strukturen und Umstände, Personen und ihre Wahrnehmung bzw. ihr Handeln sowie Fehleinschätzungen und Zufälle. All dies machte Hitler am Ende "möglich" und führte dazu, daß er seine Diktatur festigen konnte, daß sich ideologische Konzepte und Worthülsen der Propaganda in politisches Handeln umsetzten; daß beispielsweise antisemitische Parolen und Einstellungen, die eschon länger und auch anderswo gegeben hatte, zur Rechtfertigung und Richtschnur der grausamen Politik eines millionenfachen Völkermordes wurden.

Keine einfachen Erklärungen

Erklärungen für die Massenwirksamkeit und die Machteroberung Hitlers, für den Weg in den Krieg und nach Auschwitz gab und gibt es in großer Zahl. Keine Epoche der deutschen Geschichte ist so intensiv erforscht worden wie die NS-Zeit. Dennoch gibt es noch immer offene Fragen und vor allem viele und mitunter heftige wissenschaftliche und geschichtspolitische Kontroversen um Hitler und den Nationalsozialismus. Das hat einen Grund in der Vielgesichtigkeit der nationalsozialistischen Politik und Propaganda selbst, die ihre Barbarei hinter den Verlockungen einer scheinbaren zivilisatorischen Normalität verbarg. Ein weiterer Grund ist die singuläre historische Erscheinung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, die bei allen Versuchen einer rationalen Erklärung immer auch zu einer moralischen Wertung zwingt, zum historischen Verstehen und zum Verurteilen zugleich. Gerade das hat aber auch mit dem politisch-kulturellen Standort des Betrachters zu tun.

Einigkeit besteht in der historischen Forschung jedoch darin, daß es keine einfachen Erklärungen für Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus, für die Verlockungen und die Gewalt im Führerstaat gibt. So kann weder die nationalsozialistische Ideologie und Propaganda allein die Massenwirksamkeit des Nationalsozialismus erklären, denn dort wurde nur verkündet, was man auch anderswo hören konnte; noch kann es die vermeintliche politische Genialität oder Suggestivkraft Hitlers, denn selbst wenn diese von der Parteipropaganda unaufhörlich herausgestellt wurde, bedurfte es erst einer entsprechenden Erwartungshaltung beim Publikum, um eine politische Wirkung zu erzielen. Auch der Terror der Sturmabteilung (SA) kann den Aufstieg des Nationalsozialismus allein nicht erklären. Ebensowenig die politischen und sozialen Umstände, die immer wieder genannt werden: der Versailler Vertrag (1919) und die kommunistische Revolutionsdrohung aus Moskau, die Massenarbeitslosigkeit oder die sozio-ökonomischen Interessen der Großindustrie und des Großgrundbesitzes. Keiner dieser Faktoren kann bei einer historischen Erklärung übersehen werden, aber für sich allein reicht weder der eine noch der andere für die Erklärung des nationalsozialistischen Aufstiegs zur Macht noch der Politik des Führerstaates aus. Sie verschränkten sich vielmehr wechselseitig. In einem doppelgleisigen Prozeß des Machtverfalls bzw. -verlustes der Demokratie einerseits und der politisch-sozialen Expansion der nationalsozialistischen Bewegung andererseits wurde der politische Handlungsspielraum zuerst der demokratischen, dann aber auch der konservativ-autoritären Kräfte zunehmend eingeengt. Dieser Prozeß wurde beschleunigt durch politische Fehleinschätzungen, persönliche Machtkämpfe und Intrigen.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Ursachen des Nationalsozialismus

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 128

Der Kampf gegen den Nationalsozialismus vor 1933

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 6.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Während die NSDAP mehr und mehr Erfolge verzeichnete, nahmen Künstler, Wissenschaftler, Journalisten und Intellektuelle den Kampf gegen die Nationalsozialisten auf. Sie hatten erkannt, dass Deutschland unter nationalsozialistischer Führung geradewegs in den Krieg steuerte.

Einleitung

Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) war als kleiner Splitter der völkisch- rechtsradikalen Protestbewegung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in München entstanden. Als Stoßtrupp einer "nationalen Revolution" wollte ihr Führer Adolf Hitler 1923 an der Spitze der NSDAP von München aus die demokratische Reichsregierung in Berlin beseitigen. Nach dem Scheitern des Putsches versank die Hitlerbewegung für einige Jahre in Bedeutungslosigkeit. Die Jahre 1924 bis 1928 benutzte Hitler, der in seiner kurzen Haft in Landsberg sein programmatisches Bekenntnisbuch "Mein Kampf" schrieb, zum Wiederaufbau der Parteiorganisation und zur Erprobung der Propagandatechnik und Massenregie.

Die Parlamentswahlen wurden von der NSDAP nur zu propagandistischen Zwecken und als Erfolgsbarometer benützt. Noch 1928 brachten die Reichstagswahlen der Partei nur 2,6 Prozent der Stimmen und 12 Mandate. Der Aufstieg von der radikalen politischen Sekte zur Massenpartei gelang erst nach dem Bruch der Großen Koalition von SPD, DDP, Zentrum und DVP unter Reichskanzler Hermann Müller im Frühjahr 1930. Mit dem Ende dieses Kabinetts war die Weimarer Republik kein parlamentarisch regierter Staat mehr. Die konservativen Regierungen unter Brüning, Papen und Schleicher stützten sich nur noch auf die Autorität des Reichspräsidenten Hindenburg. Die weltweite Wirtschaftskrise und das krasse Ansteigen der Arbeitslosigkeit bildeten den Hintergrund weiterer Radikalisierung des öffentlichen Lebens: In den Reichstagswahlen und im September 1930 errang die NSDAP mehr als 18 Prozent der Stimmen und war mit 107 Mandaten zweitstärkste Partei geworden. Im Juli 1932 verbesserte sie sich sogar auf 37,3 Prozent und 230 Mandate. Sie war damit stärkste Partei, aber ihre größte Zustimmung bei freien Wahlen hatte sie damit erreicht. Als im November 1932 abermals gewählt wurde, bekam die NSDAP noch 33,1 Prozent und 196 Mandate. Sie blieb aber die stärkste Fraktion im Reichstag.

Viele Wähler und Mitglieder der demokratischen bürgerlichen Parteien waren sich der durch den Nationalsozialismus drohenden Gefahr nicht bewußt. Sie sahen ihn lediglich als radikale Randerscheinung einer Krisenzeit. Im übersteigerten Nationalbewußtsein, in der Überzeugung, daß Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg Unrecht geschehen sei, in der Hoffnung auf die Überwindung des Versailler Friedensvertrages und in der Abneigung gegen das neue und ungewohnte parlamentarisch-demokratische System der 1918/19 errichteten Republik waren sich viele konservative Bürger mit den antidemokratischen Extremisten einig. Während Nationalkonservative auf ein Zweckbündnis mit der NSDAP hofften, das sie nach der gemeinsamen Schaffung eines autoritären Staates wieder auflösen könnten, betrachteten die Nationalsozialisten ihre bürgerlich- deutschnationalen Partner nur als Gehilfen bei der Erringung der absoluten Macht im Staat, den sie dann ganz allein nach ihren Vorstellungen umgestalten wollten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 129

Eine verhängnisvolle und folgenschwere Vorleistung konservativer Gruppierungen zugunsten der Nationalsozialisten war die Entmachtung der preußischen Regierung am 20. Juli 1932 durch den Reichskanzler Franz von Papen, der damit zum "Steigbügelhalter" Hitlers wurde. In einer widerrechtlichen Aktion ("Papenstreich") erklärte Papen die sozialdemokratisch geführte preußische Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun, die mit dem Innenminister Severing als Bollwerk der Demokratie und des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gegolten hatte, für abgesetzt. Der Reichskanzler übernahm selbst als Staatskommissar die Regierungsgeschäfte Preußens und ebnete so im größten deutschen Land den Weg zur Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Frühe Warnungen

Einige Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler warnten frühzeitig vor dem Nationalsozialismus, aber ohne Erfolg. "Daß der Nazi dir einen Totenkranz flicht: Deutschland, siehst du das nicht?" fragte Kurt Tucholsky 1930 in seinem Gedicht "Deutschland, erwache". Zwei Jahre später schrieb er für die berühmte, aber damals nur von einem kleinen Kreis Intellektueller gelesene Zeitschrift "Die Weltbühne" die Satire "Hitler und Goethe", in der ein Schulaufsatz als Form diente, um rechtsradikale Einfalt und Großmäuligkeit vorzuführen. Der Vergleich ging zu Ungunsten Goethes aus ("Hitler dagegen ist Gegner der materialistischen Weltordnung und wird diese bei seiner Machtübergreifung abschaffen sowie auch den verlorenen Krieg, die Arbeitslosigkeit und das schlechte Wetter").

Carl von Ossietzky, der Herausgeber der Zeitschrift "Weltbühne", schrieb Ende 1931, als Hitler an der Schwelle zur Macht schien, ein vernichtendes Urteil über den Nationalsozialismus: "Die gleiche Not, die alle schwächt, ist Hitlers Stärke. Der Nationalsozialismus bringt wenigstens die letzte Hoffnung von Verhungernden: den Kannibalismus. Man kann sich schließlich noch gegenseitig fressen. Das ist die fürchterliche Anziehungskraft dieser Heilslehre. Sie entspricht nicht nur den wachsenden barbarischen Instinkten einer Verelendungszeit, sie entspricht vor allem der Geistessturheit und politischen Ahnungslosigkeit jener versackenden Kleinbürgerklasse, die hinter Hitler marschiert."

Wegen ihres künstlerischen Rangs sind die antifaschistischen Grafiken und Bilder von George Grosz legendär geworden, nicht minder die Fotomontagen von John Heartfield. Beide gehörten der KPD an und verstanden sich als Klassenkämpfer und Streiter gegen Reaktion und Faschismus in der Weimarer Republik. John Heartfields Ausdrucksmittel waren das politische Plakat und die Arbeiter-Illustrierten- Zeitung. Zusammen mit Grosz arbeitete Heartfield auch für den Malik-Verlag seines Bruders Wieland Herzfelde, dem bedeutendsten literarischen und künstlerischen Forum der revolutionären Linken bis 1933.

Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger hat in seinem 1930 erschienenen Zeitroman "Erfolg - Drei Jahre Geschichte einer Provinz" ein scharfes Bild der damaligen politischen Landschaft Bayerns gezeichnet, in dem Hitler als "Rupert Kutzner", als Führer der "Wahrhaft Deutschen" nicht weniger lächerlich als gefährlich geschildert ist. Der Aufstieg Hitlers, der Putschversuch von 1923, Begeisterung und Zustimmung seiner Anhänger erscheinen als bemitleidenswertes wie verabscheuungswürdiges Gemisch aus nationalistischer Aufwallung, Desorientierung, Sehnsucht nach heiler Welt. Kutzner wird geschildert als ein Schmierenkomödiant, dessen Gesten einstudiert sind, ein feiger Maulheld, getrieben von Ehrgeiz und Sendungsbewußtsein: "Reden war der Sinn seiner Existenz".

Mit rechtsradikalen Mördern beschäftigte sich seit Beginn der Weimarer Republik der Wissenschaftler Emil Julius Gumbel, seit 1923 Privatdozent für Statistik an der Universität Heidelberg, bekannt als Anhänger der Friedensbewegung und streitbarer Redner. Als Mitglied der "Deutschen Liga für Menschenrechte", als entschiedener Verteidiger der Republik und Verfechter der Aussöhnung mit Frankreich schrieb er über die Umtriebe der Rechtsextremisten, über den Terror der Hitleranhänger und immer wieder über die Zahl der "Fememorde", die feigen Morde aus dem Hinterhalt gegen politisch Andersdenkende. 1931 stellte er, im Auftrag der "Liga für Menschenrechte", eine Schrift zusammen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 130

"Laßt Köpfe rollen - Faschistische Morde 1924-1931". Der Titel war ein Zitat aus der NS-Propaganda. Auf 23 Seiten waren 63 Morde, die Nationalsozialisten bis 1931 verübt hatten, aufgelistet und beschrieben. Gumbels Schlußfolgerung lautete: "Diese Zahlen verlaufen ungefähr parallel dem Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung, von 1924 bis 1929 sehr langsam, dann sprunghaft rasch. In diesen Bluttaten offenbart der Faschismus sein wahres Gesicht. Er zeigt dem deutschen Volk die Methoden, deren er sich bedienen wird, wenn er zur Macht kommen sollte."

Noch schlimmer als Gumbel, dem 1932 die Lehrbefugnis entzogen wurde, erging es dem Philosophen Theodor Lessing, der bereits 1926 wegen Kritik an Reichspräsident Hindenburg als exponierter Linker, Pazifist und Kämpfer gegen Rechtsradikalismus seine außerordentliche Professur an der Technischen Hochschule Hannover verloren hatte. Lessing floh im Frühjahr 1933 ins Exil nach Prag, wo er Ende August von Nationalsozialisten ermordet wurde. Anhänger der Friedensbewegung wurden von den Nationalsozialisten von vornherein als Gegner klassifiziert, sie fanden sich daher zahlreich auf den Ausbürgerungslisten des zur Macht gekommenen nationalsozialistischen Regimes.

Kritik am Antisemitismus

Heftige Kritik an der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Vorkämpfer gab es in vielfacher Form auch von bürgerlich-linksliberaler Seite. Der prominenteste Vertreter war wohl der spätere Bundespräsident , der wie sein Parteifreund Reinhold Maier (1957-1960 Vorsitzender der FDP) nach der "Machtergreifung" und der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz im März 1933 in der "inneren Emigration" verharrte. Gegen den Antisemitismus der NSDAP hatte Heuss ganz früh Partei ergriffen. Anfang 1932 erschien sein Buch "Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus". Es war die erste von acht Auflagen. Übersetzt wurde das Buch in mehrere Sprachen. Heuss wollte einen bewußt distanziert-kühlen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus leisten. Er wollte lieber argumentativ als polemisch die historischen und psychologischen Voraussetzungen der Hitler-Bewegung diskutieren. Es fehlte dem liberalen politischen Schriftsteller Heuss die Phantasie sich vorzustellen, mit welcher Brutalität und Mordlust das NSDAP-Programm dann ab 1933 in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Immerhin finden sich in seiner Schrift folgende Sätze: "Die Zerstörung jüdischer Friedhöfe muß eine Gemeinschaft tief treffen, in der, im Widerspruch zu allem Geschwätz von der individualistischen Auflösungskraft des Jüdischen, die Familie lebensvolle Bindung auch in die Vergangenheit bedeutet, sie beschmutzt uns alle. Wir tragen einen Fleck an uns herum, seit in Deutschland solches, feig und ehrfurchtslos, möglich wurde."

Über einen anderen Gegner, den Schriftsteller Konrad Heiden, ärgerten sich die Nationalsozialisten noch mehr als über Heuss. Heiden veröffentlichte 1932 ein Buch "Geschichte des Nationalsozialismus, die Karriere einer Idee", die als gut recherchierte Kampfschrift Wirkung hatte. Der Autor, ehemals Korrespondent und Redakteur der Frankfurter Zeitung und Mitarbeiter der Vossischen Zeitung, emigrierte im April 1933. Vom Saarland aus setzte er den Widerstand gegen den Nationalsozialismus fort, mit dem Buch "Geburt des Dritten Reiches" (1934) und den unter dem Pseudonym Klaus Bredow publizierten Schriften "Hitler rast" (1934) und "Sind die Nazis Sozialisten?" (1934). Heiden war auch der Verfasser der ersten großen und kritischen Biographie Hitlers, die 1936/37 in zwei Bänden in Zürich erschien (zugleich mit englischen, amerikanischen und französischen Ausgaben), geschrieben aus dem Geist des Widerstandes.

Ebenfalls im Krisenjahr 1932 veröffentlichte Ernst Niekisch eine Warnung "Hitler - ein deutsches Verhängnis". Er war geistiger Mittelpunkt einer elitären Oppositionsbewegung mit nationalkonservativen und nationalbolschewistischen Elementen. 1939 wurde er, nachdem seine Zeitschrift "Widerstand - Blätter für nationalrevolutionäre Politik" schon 1934 verboten war, wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt. Als Widerstandskämpfer wurde er u. a. angeklagt, weil er das Manuskript "Das Reich der niederen Dämonen" - eine vernichtende Kritik des "Dritten Reiches" - verfaßt hatte, das im Ausland erscheinen sollte. Im "Völkischen Beobachter", der wichtigsten Zeitung der NSDAP, war 1938 über den Niekisch-Prozeß zu lesen: "Schon lange vor 1933 trat er in Gegensatz zum Nationalsozialismus und bekämpfte auch nach der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 131

Machtübernahme bis zu seiner Festnahme die politischen und wirtschaftlichen Ziele des nationalsozialistischen Staates in hetzerischer Weise, wobei er die führenden Persönlichkeiten des Dritten Reiches in übelster Form beschimpfte." Die Rote Armee befreite Niekisch 1945 aus dem Zuchthaus Brandenburg.

Warnungen vor dem Krieg

Die NSDAP stieß auch auf Widerstand von konservativer Seite. Unter den Gegnern des Nationalsozialismus war der Münchner Publizist Fritz Michael Gerlich einer der profiliertesten. Im Ersten Weltkrieg gehörte er der extrem nationalistischen Gruppierung der Alldeutschen an, danach tat er sich als Streiter gegen Marxismus und Kommunismus hervor. Nach 1923 widmete sich der einflußreiche Journalist dem Kampf gegen Hitler und seine Anhänger. Mit Unterstützung katholischer Kreise gab er seit 1930 die Zeitschrift "Der Gerade Weg" heraus, die, gestützt auf einen eigenen Nachrichtendienst, Interna der NS-Bewegung veröffentlichte in der Absicht, deren kriminellen Charakter zu enthüllen. Gerlich wurde im März 1933 von der SA festgenommen, vielfach mißhandelt und schließlich ein Opfer der Mordaktion des 30. Juni 1934. Bereits im Juli 1932 umschrieb er die Ziele Hitlers mit dem Satz: "Nationalsozialismus [...] bedeutet: Feindschaft mit den benachbarten Nationen, Gewaltherrschaft im Innern, Bürgerkrieg, Völkerkrieg. Nationalsozialismus heißt: Lüge, Haß, Brudermord und grenzenlose Not!"

Außerhalb parteipolitischer Bindungen beschwor der Schriftsteller und Bühnenautor Erich Mühsam die Arbeiterparteien SPD und KPD zum gemeinsamen Kampf gegen Hitler. In seiner Zeitschrift "Fanal", die er 1926 als Forum des Kampfes gegen Politik und Justiz einer nach rechts driftenden Republik gegründet hatte, plädierte er für eine Einheitsfront aller antifaschistischen Kräfte: "Die einzige Kraft, die imstande wäre, Hitlers Machtergreifung zu verhindern, ist der verbundene Wille der vom Nationalsozialismus nicht verwirrten deutschen Arbeiterschaft."

Diesem ebenso frühen wie vergeblichen Appell ließ Mühsam 1929 als Warnung an SPD und KPD eine Prophezeiung folgen, die 1933 Realität wurde. Eine schreckliche Zeit werde kommen "wenn der Tanz des Dritten Reiches losgeht [...] wenn die standrechtlichen Erschießungen, die Pogrome, Plünderungen, Massenverhaftungen das Recht in Deutschland darstellen". Schon in der Nacht des Reichstagsbrandes am 28. Februar 1933 wurde Mühsam verhaftet und nach monatelangen Mißhandlungen im KZ Oranienburg ermordet.

Auch mit juristischen Mitteln konnte das Aufkommen des Nationalsozialismus bekämpft werden. Hans Achim Litten, ein junger Rechtsanwalt in Berlin engagierte sich, ohne Mitglied einer Partei zu sein, als Rechtsbeistand im Rahmen der "Roten Hilfe Deutschland" für Arbeiter, die aus politischen Gründen vor Gericht gestellt wurden. Im "Felseneck-Fall" hatten 150 SA-Männer eine Kleingartenkolonie überfallen und dabei zwei Menschen erschlagen. Litten rekonstruierte den Tathergang und brachte wenigstens fünf Nationalsozialisten zur Anklage.

Im November 1930 hatte der berüchtigte Berliner "SA-Sturm 33" ein Arbeiterlokal, den "Edenpalast" überfallen und vier Männer schwer verletzt. Litten vertrat die Überfallenen als Nebenkläger, ließ Hitler als den verantwortlichen Chef der NSDAP in den Zeugenstand laden, wo er ihn in die Enge trieb. Litten beabsichtigte den Nachweis zu erbringen, daß die Gewaltakte der SA nicht Exzesse der unteren Ebene waren, sondern daß die Gewalt vielmehr als Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele von der Führung der NSDAP gebilligt und auch geplant war. Litten zwang Hitler zur öffentlichen Distanzierung vom Berliner Gauleiter Goebbels.

Es war der aufsehenerregendste, aber keineswegs der einzige derartige Fall in Littens Anwaltspraxis. Die Nationalsozialisten rächten sich grausam für das peinliche Kreuzverhör Hitlers. In der Nacht des 28. Februar 1933 wurde Litten verhaftet. Die folgenden fünf Jahre bis zu seinem Tode verbrachte er in Zuchthäusern und Konzentrationslagern.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 132

Parteien - Organisationen

Die ideologische Gegenposition, aber auch parteipolitische Konkurrenz waren die treibenden Kräfte beim Kampf der Arbeiterbewegung gegen Hitlers NSDAP vor deren Machtübernahme. Allerdings waren viele Kräfte der Arbeiterbewegung im Kampf gegeneinander gebunden. Die KPD verunglimpfte die Sozialdemokraten als "Sozialfaschisten" und scheute auch nicht davor zurück, sich gelegentlich mit der NSDAP gegen die SPD und andere Parteien zu verbünden. Die SPD hingegen wollte absolut nichts mit den moskauhörigen Kommunisten zu tun haben. Die NSDAP als gemeinsamer Gegner war der Nutznießer. Die Feindschaft der KPD zum parlamentarisch-demokratischen System schloß die Sozialdemokraten zwangsläufig ein. Diese wiederum waren durch ihren strikten Legalitätskurs auch angesichts regierungsamtlicher Verfassungsbrüche wie dem "Papenstreich" gegen die Preußische Regierung am 20. Juli 1932 an wirksamen Widerstandsaktionen (einem Generalstreik etwa) gehindert. Die Führung der SPD war nicht bereit, den Boden des verfassungsmäßig Erlaubten zu verlassen oder auch nur den Anschein davon zu erwecken, bis es zu spät war, weil die Feinde der Verfassung Recht und Gesetz zerstört hatten.

Der erste nationalsozialistische Wahlerfolg im Herbst 1930 führte zur Wiederbelebung des 1924 als Selbstschutzorganisation der demokratischen Linken gegründeten politischen Kampfverbands "Reichsbanner Schwarz Rot Gold". Ziel des Verbandes war die Verteidigung von Republik und Verfassung durch Propaganda und entschiedenes, organisiertes Auftreten gegenüber rechten Extremisten. Aufmärsche und Kundgebungen bei denen Stärke gezeigt wurde, waren die Mittel, mit denen gekämpft wurde. Offiziell überparteilich war die Organisation fast ganz von der SPD getragen; sie stellte vier Fünftel der rund drei Millionen Mitglieder, die mit der SA, dem Bund der Frontsoldaten "Stahlhelm" und anderen "Parteiarmeen" um die Herrschaft auf der Straße rangen. Gründer und Bundesvorsitzender bis 1932 war der Magdeburger Oberbürgermeister Otto Hörsing, dem Karl Höltermann, ein sozialdemokratischer Journalist folgte. Die eigentliche "Truppe" des Reichsbanners bildeten die eine Woche nach der Reichstagswahl gegründeten "Schutzformationen (Schufo)" mit annähernd 400000 Mitgliedern, die sich aktiv an den bürgerkriegsartigen Kämpfen in der Endphase der Weimarer Republik beteiligten. Sie traten zur Verteidigung der Demokratie gegen Extremisten und Terroristen von rechts und links an.

Nach dem "Papenstreich" verfiel auch das Reichsbanner zunehmend in Resignation. Gegen die Koalition der bürgerlichen Rechten mit Hitler war im Dezember 1931 die "Eiserne Front" als "Wall von Menschenleibern gegen die faschistische Gefahr" gegründet worden. Geführt von Höltermann sollten sich die Kräfte von SPD, Freien Gewerkschaften, Reichsbanner und Arbeitersportlern in einem republikanischen Bündnis vereinigen. Es schlossen sich nur noch Organisationen der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (die sich seit 1930 Staatspartei nannte) an. Den Kern der "Eisernen Front" bildeten die Einheiten der Schufo. Entschlußlosigkeit der Führung verhinderten Aktionen des Reichsbanners bzw. der "Eisernen Front" gegen die Machtübernahme Hitlers. Solche Widerstandsaktionen waren bis ins Frühjahr 1933 hinein von vielen Mitgliedern gefordert worden, die kein Verständnis dafür hatten, daß sie nicht mit einem Generalstreik oder ähnlichen Aktionen für die Republik kämpfen durften. Ihre Führung scheute den Vorwurf ungesetzlicher Handlungen mehr als alles andere. Allerdings zögerte sie nicht nur aus Legalitätsdenken, sondern auch wegen des Blutvergießens, das unvermeidlich gewesen wäre beim Zusammenstoß mit der SA und anderen rechten Bürgerkriegstruppen.

In der SPD gab es eine Gruppe junger Reichstagsabgeordneter, die der Parteiführung kritisch gegenüberstanden und kämpferischer für die Verteidigung der Republik eintraten. Sie wurden "Militante Sozialisten" genannt; zu ihnen gehörten u. a. Carlo Mierendorff, Theodor Haubauch und Kurt Schumacher, der nach 1945 Vorsitzender der Partei wurde. Nach einer Attacke auf Goebbels und die NSDAP in einer Reichstagsrede am 23. Februar 1932 war Schumacher schlagartig bekannt geworden. Er vermehrte aber auch um ein beträchtliches den Zorn der Nationalsozialisten, den er sich schon als württembergischer Reichsbannerführer zugezogen hatte. Fast die ganze Zeit der NS-Herrschaft war er deshalb in KZ-Haft. Im Reichstag hatte er im Februar 1932 der NSDAP entgegengeschleudert, das

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 133 deutsche Volk werde Jahrzehnte brauchen, "um wieder moralisch und intellektuell von den Wunden zu gesunden, die ihm diese Art Agitation geschlagen hat".

Seine vollkommene Verachtung faßte er in den Worten zusammen: "Wenn wir irgend etwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, daß ihm zum erstenmal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist." Aber gleichweit entfernt war seine Position von den Kommunisten. Er hatte sie Ende März 1930 in einem Referat bei der Württembergischen Gaukonferenz des "Reichsbanners Schwarz Rot Gold" "rotlackierte Doppelausgaben der Nationalsozialisten" genannt und verkündet: "Beiden ist gemeinsam der Haß gegen die Demokratie und Vorliebe für die Gewalt."

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Der Kampf gegen den Nationalsozialismus vor 1933

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 134

NS-Staat

6.4.2005

Der Nationalsozialismus war weit mehr als eine Partei - er verstand sich als Weltanschauung, die auch den letzten Winkel des öffentlichen und privaten Lebens gestalten und kontrollieren wollte. Systematisch wurde Deutschland in einen "Führerstaat" umgebaut, andere Parteien verboten, die Gewerkschaften aufgelöst, Regimekritiker verfolgt, die Justiz zu einem Anhängsel der Diktatur gemacht. Partei und Staat waren nicht mehr zu unterscheiden, Hitler faktischer Alleinherrscher. Massenorganisationen und Propaganda sollten den Rückhalt der Nazi-Herrschaft in der Gesellschaft gewähren. Gleichzeitig setzte die Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bürger ein.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 135

Die Zeit des Nationalsozialismus

Von Michael Kißener 15.8.2008 Michael Kißener, Jahrgang 1960, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität in Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind europäische Rechtsgeschichte, Nationalsozialismus und Widerstand, regionale Zeitgeschichte.

Notverordnungen, Abschaffung elementarer Grundrechte, Zerschlagung des Föderalismus: Hitler verwandelte Deutschland in eine menschenverachtende Diktatur. Fassungslos meldete der französische Botschafter im April 1933 nach Paris: "Die deutsche Demokratie hat nichts retten können, nicht einmal ihr Gesicht."

Am 1. September 1948 versammelten sich in Bonn Abgeordnete zum Parlamentarischen Rat, denen die Schrecken der gerade erst überwundenen nationalsozialistischen Diktatur noch deutlich vor Augen standen. Mit Hilfe der neuen Verfassung wollten sie Vorsorge dafür treffen, dass nicht noch einmal wie 1933 ein Rechts- und Verfassungsstaat durch verbrecherische Politiker scheinbar legal in eine Diktatur umgewandelt werden konnte.

Am 30. Januar 1933 war der "Führer" der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP), Adolf Hitler, von dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden. Das war nicht zwingend gewesen, sondern das Werk einer intriganten konservativ- nationalistisch gesinnten Clique, die das Staatsoberhaupt von der Notwendigkeit überzeugen konnte, mit einer autoritären Regierung unter Adolf Hitler eine Lösung der Krise der Weimarer Republik zu versuchen. Sie glaubten, den Führer der NSDAP "einrahmen", ja ihren Zielen dienstbar machen zu können, mussten jedoch bald einsehen, dass sie dem skrupellosen Instinktpolitiker mit gleichsam charismatischer Ausstrahlung nicht gewachsen waren. Denn schon während der Kabinettsbildung forderte Hitler die Auflösung des Reichstages und Neuwahlen. Die deutschnationalen Koalitionspartner akzeptierten widerwillig, um nicht alles in letzter Minute zu gefährden. Hitler hoffte, so eine parlamentarische Mehrheit zu erlangen, die ihm die immer schon angestrebte Zerschlagung der Demokratie erlaubte. Zugleich wusste er, dass ihm die Parlamentsauflösung die Möglichkeit eröffnete, sieben Wochen lang mit Notverordnungen zu regieren.

Die Reichstagswahlen vom März 1933

Die Wahlkampfzeit bis zum 5. März 1933 nutzten seine als Innenminister im Reich und in Preußen amtierenden Gefolgsmänner Wilhelm Frick und Hermann Göring sowie der Propagandaspezialist Joseph Goebbels denn auch, um mit staatlich sanktioniertem Straßenterror die politischen Gegner einzuschüchtern und die Wähler mit der Verheißung einer besseren Zukunft zu verführen. Flankierend dazu wurde bereits am 4. Februar eine "Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes" erlassen. Bereits diese ermöglichte der Regierung unter dem Vorwand, Gefahr abzuwehren, Zeitungen und Versammlungen zu verbieten sowie öffentliche Kritik zu unterdrücken. In der weit verbreiteten Furcht vor einem kommunistischen Umsturzversuch und angesichts so vieler früherer Notverordnungen, fanden viele das nicht einmal anstößig - ja der schockierende Brand des Reichstages am 27. Februar schien die Berechtigung für ein solches Vorgehen geradezu zu belegen. Bis heute ist umstritten, wer der Brandstifter war. Eines ist in jedem Fall sicher: die neuen Machthaber wussten die Lage instinktsicher auszunutzen und versetzten bereits am Folgetag mit der Notverordnung "zum Schutz von Volk und Staat", die gleichsam das "Grundgesetz" des so genannten Dritten Reiches werden sollte, Deutschland in den permanenten Ausnahmezustand. Elementare Grundrechte wurden durch sie bis auf weiteres suspendiert, die Selbstständigkeit der Länder drastisch eingeschränkt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 136

Vor diesem Hintergrund war es fast erstaunlich, dass die Wahlen vom 5. März 1933 nicht die erwartete Mehrheit für die NSDAP brachten: nur 43,9 Prozent der Deutschen stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 88,7 Prozent für die Partei Hitlers. Zusammen mit den konservativen Bündnispartnern reichte das aber für die Fortsetzung der Regierung.

Das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" - Ermächtigungsgesetz

Anfang März verfügte Hitler daher über eine ausgedehnte Exekutivmacht. Zur Errichtung der Diktatur bedurfte es aber vor allem noch des Zugriffsrechts auf die Gesetzgebung. Am 21. März wurde der neu gewählte Reichstag feierlich in der Potsdamer Garnisonskirche eröffnet: Hitler nutzte diese Gelegenheit, um sich in Begleitung des Reichspräsidenten propagandaträchtig als aufrichtiger Staatsmann zu zeigen und in die preußische Tradition zu stellen. Kaum war die Rührkomödie vorbei, forderte er vom Reichstag angesichts der angeblichen Notlage nichts weniger als die Selbstaufgabe. Für vier Jahre wollte er das Recht haben, ohne Hinzuziehung des Parlaments selbst Gesetze erlassen zu können, sogar verfassungswidrige. Allein die Sozialdemokraten lehnten diese Zumutung ab, die bei der Abstimmung wichtige Zentrumspartei zerrieb sich gleichsam in einer Diskussion um den rechten Weg: Sollte man zustimmen oder das Risiko eines andernfalls angekündigten Bürgerkrieges eingehen? Frei waren die Abgeordneten bei dieser Entscheidung ohnehin nicht mehr. Schon auf dem Weg zur Krolloper, dem Ersatz-Plenarsaal, machten drohende SA- und SS-Leute jedem klar, dass sie Gewalt anwenden würden, wenn das Abstimmungsergebnis nicht in ihrem Sinn ausfallen würde. Schließlich stimmte das Zentrum am 23. März 1933 dem "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich", dem so genannten Ermächtigungsgesetz, zu - und manch ein Reichstagsabgeordneter der Oppositionsparteien war froh, dass er lebend den Tagungssaal verlassen konnte.

Ende des Föderalismus und Gleichschaltung

Immerhin hatten die Nationalsozialisten in den meisten Ländern noch keine parlamentarischen Mehrheiten. Doch auch der eher schwache Föderalismus der Weimarer Jahre bot in dieser Situation kaum Schutz für die Freiheit. Kurzerhand wurde nach den Wahlen vom 5. März behauptet, dass in den Ländern die öffentliche Sicherheit nicht mehr gewährleistet sei. Deshalb sandte die Reichsregierung Reichskommissare, die zusammen mit der SA die Landesregierungen zu verdrängen suchten. Rechtsverwahrung und Klage beim Staatsgerichtshof in , wie sie etwa die badische Landesregierung gegen dieses gewaltsame, verfassungswidrige Vorgehen noch am 9. März 1933 beschloss, blieben praktisch ohne Wirkung, zumal das Gericht ohnehin nur mit schwachen Kompetenzen ausgestattet war. Denn bereits am 31. März, eine Woche nach dem "Ermächtigungsgesetz", verlangte schon ein "Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich" die Neubildung der Länder- und Kommunalparlamente entsprechend dem Ergebnis der Wahlen vom 5. März. Weitere gesetzliche Regelungen in den folgenden Monaten erledigten die Länderparlamente und stuften die Länder zu reinen Mittelbehörden des Reiches herab. Mit der offiziellen Auflösung des Reichsrates am 14. Februar 1934 wurde schließlich der zentralistisch organisierte Führerstaat etabliert.

So wenig wie die Verfassungsinstitutionen es vermochten, sich der rücksichtslosen Aktionen der Hitlerregierung zu erwehren, so wenig stellten traditionell starke gesellschaftliche Institutionen wie Gewerkschaften, Unternehmer, Parteien, Militär oder Kirchen jetzt noch einen Damm gegen den Ansturm der braunen Machthaber dar. Die Gewerkschaften etwa wurden am 2. Mai 1933, kurz nach der gemeinsamen Feier des "Tages der Arbeit", durch Überfallkommandos ausgeschaltet und ihre leitenden Funktionäre eingesperrt. Eine Mischung aus Verlockung, Furcht, Gefügigkeit, Resignation und Selbstgleichschaltung, gepaart mit der skrupellos-gewaltsamen Überrumplung durch die Regierung brach in den nächsten Wochen jede potentielle Widerstandskraft. So existierte Ende Juli 1933 nur noch die NSDAP als einzig erlaubte Partei, die Reichswehr hatte sich ebenso wie die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 137

Unternehmer von den politischen Angeboten Hitlers einfangen lassen, die evangelische Kirche war gespalten in Hitleranhänger und Glaubenstreue, die katholische Kirche versuchte durch ein zumindest ihre Rechte im neuen Staat zu sichern.

Was schließlich blieb, war die schwächste der drei Staatsgewalten, die Justiz. Sie wurde gleichsam nebenbei entmachtet, als der Führer der NSDAP daran ging, interne Konkurrenten um die Macht auszuschalten. Rücksichtslos ließ er Ende Juni 1934 seinen Duzfreund Ernst Röhm, den Führer der SA, der eine zweite, soziale Revolution forderte und für seine SA eine angemessene Stellung im neuen Staat verlangte, mitsamt seiner Führungsclique ermorden. In einer langen Reichstagsrede rechtfertigte er seinen Mordauftrag als "Staatsnotwehr", die er sich als "oberster Gerichtsherr" auch in Zukunft vorbehielt.

"Die deutsche Demokratie hat nichts retten können."

Am 2. August 1934 starb Reichspräsident v. Hindenburg. Hitler übernahm auch dessen Funktionen und war nun der unumschränkte Herrscher im "Dritten Reich". Sein gefügiger Reichswehrministers von Blomberg ließ die Truppe sogleich "auf den Führer des Deutschen Reichs und Volkes" persönlich vereidigen. Damit war die Grundlage geschaffen für die Umsetzung der politischen Kernziele des Nationalsozialismus: den Aufbau einer totalitär gleichgeschalteten Volksgemeinschaft, die fähig war, einen modernen, totalen Vernichtungskrieg zu führen, an dessen Ende die völlige Auslöschung der europäischen Juden stehen sollte.

Fassungslos hatten ausländische Beobachter diese rasante "Machtübernahme" der Nationalsozialisten beobachtet. Der französische Botschafter in Berlin, André François-Poncet, etwa meldete am 5. April 1933 nach Paris: " Die Begründung der Diktatur wird weder Helden noch Märtyrer hervorgebracht haben. Deutschland wird sich in die Knechtschaft gestürzt haben, ohne eine Klage zu erheben und ohne einen Protest laut werden zu lassen. Die deutsche Demokratie hat nichts retten können, nicht einmal ihr Gesicht".

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 138

Machteroberung

Von Michael Wildt 25.4.2012 Michael Wildtist gelernter Buchhändler und arbeitete von 1976 bis 1979 im Rowohlt-Verlag. Anschließend studierte er von 1979 bis 1985 Geschichte, Soziologie, Kulturwissenschaften und Theologie an der Universität Hamburg. 1991 schloss er seine Promotion zum Thema „Auf dem Weg in die ‚Konsumgesellschaft‘. Studien über Konsum und Essen in Westdeutschland 1949-1963“ ab und war anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg. Von 1997 bis 2009 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und habilitierte 2001 mit einer Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Seit 2009 ist er Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Nationalsozialismus, Holocaust, Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und soziale wie politische Ordnungsvorstellungen in der Moderne.

Kontakt: (mailto:[email protected])

Peter Krumeich, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Wildt, hat an der inhaltlichen Entwicklung des Heftes mitgewirkt und insbesondere in Abstimmung mit der Redaktion die Bildrecherche für dieses Heft übernommen.

Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 zeigte sich, dass die Nationalsozialisten das Prinzip der parlamentarischen Regierung generell ablehnten. Den Reichstagsbrand nutzten sie, um sich mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 die volle gesetzgebende Gewalt anzueignen.

Einleitung

Hitler wird Reichskanzler

"Es ist fast ein Traum", notierte Joseph Goebbels am 30. Januar 1933 in seinem Tagebuch. "Die Wilhelmstraße [Sitz der Reichskanzlei und verschiedener Ministerien in Berlin – Anm. d. Red.] gehört uns. Der Führer arbeitet bereits in der Reichskanzlei." Nachdem Hindenburg für Papens Plan eines vereinigten rechten Kabinetts unter Hitler gewonnen war, vereidigte der Reichspräsident am Mittag des 30. Januar die neue Regierung und ernannte Hitler zum Reichskanzler.

Formal war die Ernennung Hitlers durchaus legal, aber der Verfassung der ersten deutschen Republik entsprach sie keineswegs. Schon in den Jahren zuvor war die Verfassung durch die Praxis der Präsidialkabinette, die nur mit der Notverordnungsautorität des Reichspräsidenten regierten, unterhöhlt und de facto außer Kraft gesetzt. Das gewählte Parlament war seither von den politischen Entscheidungen ausgeschlossen; die Weimarer Republik hatte sich schon vor der Regierungsübernahme Hitlers von einer parlamentarischen Demokratie immer mehr entfernt.

Auf den ersten Blick sah es in der Tat so aus, als hätte sich gegenüber der bisherigen Politik nicht viel geändert. Der ehemalige Reichskanzler und Vertraute Hindenburgs, Franz von Papen, war Vizekanzler; Reichsaußenminister , Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk und der Reichsjustizminister Franz Gürtner blieben im Amt. Als starker Mann im Kabinett galt Alfred Hugenberg, der sowohl das Wirtschafts- als auch das Landwirtschaftsministerium übernahm. Hinzu kam der Führer des "Stahlhelms", Franz Seldte, als Reichsarbeitsminister und Generalleutnant Werner von Blomberg als neuer Reichswehrminister. Nur wenige Nationalsozialisten gehörten dem neuen Kabinett an. Neben Hitler als Reichskanzler wurden Wilhelm Frick Reichsinnenminister und Hermann Göring kommissarischer preußischer Innenminister und Reichsminister ohne

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 139

Geschäftsbereich.

Doch zeigten die Fackelzüge in Berlin und überall im Reich am Abend des 30. Januar, dass die Nationalsozialisten ernst machen wollten mit der angekündigten "nationalen Erhebung". Nicht die Einbindung der NS-Führung in die Kabinettsdisziplin, sondern die Zurückdrängung der Deutschnationalen in der Reichsregierung und die nationalsozialistische Machteroberung zeichnete die nächsten Monate aus. Einig waren sich Deutschnationale und Nationalsozialisten darin, dass die kommenden Wahlen die letzten sein sollten. Danach sollte unabhängig von der Verfassung mit Hilfe eines Ermächtigungsgesetzes diktatorisch regiert werden. Insofern markiert der 30. Januar 1933 tatsächlich das Ende der Weimarer Republik.

Reaktionen auf Hitlers Machtantritt

Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann und selbst Schriftsteller, Tagebucheintrag vom 30. Januar 1933: „Die Nachricht, dass Hitler Reichskanzler. Schreck. Es nie für möglich gehalten. (Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten).“

Klaus Mann, Tagebücher 1931-1933. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle, Wilfried Schoeller, rororo, Reinbek bei Hamburg (Dt. Erstausgabe München 1989) 1995, S. 113

Sebastian Haffner, demokratischer Publizist: „Ich weiß nicht genau, wie die allgemeine erste Reaktion war. Die meine war etwa eine Minute lang richtig: Eisiger Schreck. [...] Dann schüttelte ich das ab, versuchte zu lächeln, versuchte nachzudenken, und fand in der Tat viel Grund zur Beruhigung. Am Abend diskutierte ich die Aussichten der neuen Regierung mit meinem Vater, und wir waren uns einig darüber, daß sie zwar eine Chance hatte, eine ganze hübsche Menge Unheil anzurichten, aber kaum eine Chance, lange zu regieren.“

Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Deutsche Verlags- Anstalt in der Gruppe Random House, München 2003, S. 104 f.

Luise Solmitz, deutschnationale Lehrerin in Hamburg: „Was für ein Kabinett!!! Wie wir es im Juli nicht zu erträumen wagten. Hitler, Hugenberg, Seldte, Papen!!! An jedem hängt ein großes Stück meiner deutschen Hoffnung. Nationalsozialistischer Schwung, deutschnationale Vernunft, der unpolitische Stahlhelm und der von uns unvergessene Papen. [...] Riesiger Fackelzug vor Hindenburg und Hitler durch Nationalsozialisten und Stahlhelm, die endlich, endlich wieder miteinandergehen. Das ist ein denkwürdiger 30. Januar!“

Tagebuch Luise Solmitz, Eintrag unter dem 30.1.1933, abgedruckt in: Werner Jochmann, Nationalsozialismus und Revolution. Ursprung und Geschichte der NSDAP in Hamburg 1922-1933. Dokumente, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am 1963, S. 421

Victor Klemperer, jüdischer Hochschullehrer in Dresden, Tagebucheintrag vom 21. Februar 1933: "Seit etwa drei Wochen die Depression des reaktionären Regiments. Ich schreibe hier nicht Zeitgeschichte. Aber meine Erbitterung, stärker, als ich mir zugetraut hätte, sie noch empfinden zu können, will ich doch vermerken. Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimmer wird. Und alles ist still und duckt sich, am tiefsten die Judenheit und ihre demokratische Presse. - Eine Woche nach Hitlers

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 140

Ernennung waren wir (am 5.2.) bei Blumenfelds mit Raab zusammen. Raab, Gschaftlhuber, Nationalökonom, Vorsitzender des Humboldtclubs, hielt eine große Rede und erklärte, man müsse die Deutschnationalen wählen, um den rechten Flügel der Koalition zu stärken. Ich trat ihm erbittert entgegen. Interessanter seine Meinung, daß Hitler im religiösen Irrsinn enden werde... Am meisten berührt, wie man den Ereignissen so ganz blind gegenübersteht, wie niemand eine Ahnung von der wahren Machtverteilung hat. Wer wird am 5.3. die Majorität haben? Wird der Terror hingenommen werden, und wie lange? Niemand kann prophezeien."

Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Aufbau Verlag, Berlin 1995, Bd. 1, S. 6 f.

André François-Ponçet, französischer Botschafter in Berlin, in einem Bericht nach Paris im April 1933: „Als am 30. Januar das Kabinett Hitler/Papen an die Macht kam, versicherte man, dass die Regierung der Deutschnationalen […] Hitler und seinen Mitkämpfern Paroli bieten würden, dass die Nationalsozialisten mit der Feindschaft der Arbeiterklasse zu rechnen haben und dass schließlich die Katholiken der Zentrumspartei die Legalität verteidigen würden. Sechs Wochen später muss man feststellen, dass all diese Dämme, die die Flut der Hitler-Regierung zurückhalten sollten, von der ersten Welle hinweggespült wurden.“

Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, hg. von Josef und Ruth Becker, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 217

Hitler vor den Befehlshabern der Wehrmacht am 3. Februar 1933

Wiedergabe des Stichwortprotokolls, das ein anwesender General für sich anfertigte.

Ziel der Gesamtpolitik allein: Wiedergewinnung der politischen Macht. Hierauf muß gesamte Staatsführung eingestellt werden (alle Ressorts!).

1. Im Innern. Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpolitischen Zustände in Deutschland. Keine Duldung der Betätigung irgendeiner Gesinnung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). Wer sich nicht bekehren läßt, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel. Einstellung der Jugend und des ganzen Volkes auf den Gedanken, daß nur der Kampf uns retten kann und diesem Gedanken alles zurückzutreten hat. […] Ertüchtigung der Jugend und Stärkung des Wehrwillens mit allen Mitteln. Todesstrafe für Landes- und Volksverrat. Straffste autoritäre Staatsführung. Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie!

2. Nach außen. Kampf gegen Versailles. Gleichberechtigung in Genf; aber zwecklos, wenn Volk nicht auf Wehrwillen eingestellt. Sorge für Bundesgenossen.

3. Wirtschaft! Der Bauer muß gerettet werden! Siedlungspolitik! Künftig Steigerung der Ausfuhr zwecklos. Aufnahmefähigkeit der Welt ist begrenzt und Produktion ist überall übersteigert. Im Siedeln liegt einzige Möglichkeit, Arbeitslosenheer zum Teil wieder einzuspannen. […]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 141

4. Aufbau der Wehrmacht wichtigste Voraussetzung für Erreichung des Ziels: Wiedererringung der politischen Macht. Allgemeine Wehrpflicht muß wieder kommen. Zuvor aber muß Staatsführung dafür sorgen, daß die Wehrpflichtigen vor Eintritt nicht schon durch Pazifismus, Marxismus, Bolschewismus vergiftet werden oder nach Dienstzeit diesem Gift verfallen.

Wie soll politische Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Möglichkeiten, vielleicht – und wohl besser – Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung. Sicher, daß erst mit politischer Macht und Kampf jetzige wirtschaftliche Zustände geändert werden können. Alles, was jetzt geschehen kann – Siedlung – Aushilfsmittel.

Wehrmacht wichtigste und sozialistischste Einrichtung des Staates. Sie soll unpolitisch und überparteilich bleiben. Der Kampf im Innern nicht ihre Sache, sondern der Nazi -Organisationen. […]

Aus: Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 23 f.

Terror im Wahlkampf

Was in den Wochen nach dem 30. Januar folgte, war die klare Willensbekundung, die errungene Macht niemals mehr aufzugeben und Deutschland radikal umzugestalten. Drei Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler erklärte Hitler vor den Befehlshabern des Heeres und der Marine: "Ziel der Gesamtpolitik allein: Wiedergewinnung der politischen Macht. [...] Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpolitischen Zustände in Deutschland. Keine Duldung der Betätigung irgendeiner Gesinnung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). Wer sich nicht bekehren läßt, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel. […] Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie!"

Am 1. Februar löste Reichspräsident Hindenburg den Reichstag auf und beraumte Neuwahlen für den 5. März an. Sie sollten mit einem demonstrativen Sieg für die Nationalsozialisten enden, dafür wurde alle staatliche Macht eingesetzt. Unter der Wahlparole "Kampf gegen den Marxismus" richtete die NSDAP ihre ganze Kraft gegen die Linksparteien.

Am 2. Februar wurden in Preußen, Thüringen und anderen Ländern kommunistische Demonstrationen verboten. Zwei Tage später erging eine Notverordnung des Reichspräsidenten, mit der die Versammlungs- und Pressefreiheit eingeschränkt wurde. Dennoch versammelten sich in Berlin am 7. Februar rund 200000 Menschen im Lustgarten, um gegen die Einschränkungen der Bürgerrechte zu demonstrieren. Aber auch in anderen Städten wie Frankfurt am Main kam es zu großen Kundgebungen. Zwar gelang aufgrund der festgefahrenen Feindschaft zwischen SPD und KPD kein Bündnis auf der Führungsebene, aber vor Ort kam es durchaus zu gemeinsamen Demonstrationen, Kundgebungen und im württembergischen Mössingen und sächsischen Staßfurt sogar zu lokalen Generalstreiks. Rund tausend Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versammelten sich am 19. Februar in der Berliner Kroll-Oper, um gegen die Knebelung von Kunst, Wissenschaft und Presse zu protestieren; und noch am 24. Februar hielt die KPD in Berlin eine letzte große Kundgebung ab.

Aber die Kräfte waren ungleich verteilt. Gleich nach seinem Amtsantritt entließ der kommissarische preußische Innenminister Hermann Göring neben politischen Spitzenbeamten auch 14 Polizeipräsidenten und besetzte die Posten mit politisch genehmen Kandidaten. Zugleich löste er die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 142 politische Polizeiabteilung aus ihrer bisherigen Verankerung in der preußischen Innen- und Polizeiverwaltung und verselbstständigte sie als Geheime Staatspolizei. Auch in den übrigen deutschen Ländern wurde die politische Polizei als Terrorinstrument ausgebaut. In einer Rede vom 3. März 1933 sagte Göring klar: "Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts! […] Einen solchen Kampf führe ich nicht mit polizeilichen Mitteln. Das mag ein bürgerlicher Staat getan haben. Gewiß, ich werde die staatlichen und polizeilichen Machtmittel bis zum äußersten auch dazu benutzen, meine Herren Kommunisten, damit Sie hier nicht falsche Schlüsse ziehen, aber den Todeskampf, in dem ich Euch die Faust in den Nacken setze, führe ich mit denen da unten, das sind die Braunhemden. In Zukunft […] kommt in diesen Staat nur mehr hinein, wer aus den nationalen Kräften stammt […]."

Am 17. Februar wurde die Parteizentrale der KPD in Berlin von der Polizei besetzt und nach angeblichen Umsturzplänen durchsucht. Am selben Tag wies Göring die Polizei an, die nationale Propaganda mit allen Kräften zu unterstützen, dagegen "dem Treiben staatsfeindlicher Organisationen mit den schärfsten Mitteln entgegenzutreten" und, "wenn nötig, rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen". Wenige Tage zuvor hatten mehrere hundert SA-Leute eine Veranstaltung der kommunistischen Roten Hilfe im sächsischen Eisleben angegriffen und ein Blutbad angerichtet. Insgesamt wurden offiziell 69 Tote und Hunderte von Verletzten in diesem Wahlkampf gezählt.

Sozialdemokratische und kommunistische Zeitungen, die über diese Geschehnisse kritisch berichteten, wurden über mehrere Tage hinweg verboten. Am 23. Februar ordnete Göring zur angeblichen Bekämpfung "zunehmender Ausschreitungen von linksradikaler, insbesondere kommunistischer Seite" die Aufstellung von 50000 "Hilfspolizisten" an, die ausschließlich aus SA, SS und Stahlhelm rekrutiert werden sollten und mit Knüppeln und Pistolen bewaffnet wurden. Nun konnten zehntausende von SA-Schlägern ihren gewalttätigen Terror gegen die Linke als staatliche Polizisten ausüben.

Vor allem ein Ereignis kam den Nationalsozialisten zu Hilfe: der Brand des Reichstages am Abend des 27. Februar. Im brennenden Gebäude wurde ein junger Niederländer, Marinus van der Lubbe, gefunden, der den Brand aus Protest gegen den Nationalsozialismus gelegt hatte. Sowohl in der zeitgenössischen Bewertung als auch lange Zeit in der Geschichtsschreibung war die Alleintäterschaft van der Lubbes umstritten. Lag es nicht näher, dass die Nationalsozialisten, die einwandfrei aus dem Reichstagsbrand politischen Nutzen ziehen konnten, selbst den Reichstag angezündet hatten? Neuere feuerwehrtechnische Erkenntnisse jedoch belegen die Annahme, dass van der Lubbe die Brandstiftung allein begangen hat. Für die NS-Führung stand von vornherein fest, dass der Brandanschlag das Fanal eines kommunistischen Aufstandsversuchs sei. Noch in der Nacht entschieden Hitler, Göring, Goebbels und von Papen in kleiner Runde, eine Notverordnung ausarbeiten zu lassen, die tags darauf dem Reichskabinett als Entwurf vorlag.

Am späten Nachmittag unterschrieb Reichspräsident Hindenburg die "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar 1933, mit der wesentliche Grundrechte der Verfassung wie Freiheit der Person, die Unverletzbarkeit der Wohnung, das Post- und Telefongeheimnis, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Vereinigungsrecht sowie die Gewährleistung des Eigentums außer Kraft gesetzt wurden. Statt wie bisher mit lebenslangem Zuchthaus konnten nun Hochverrat, Brandstiftung, Sprengstoffanschläge, Attentate und selbst die Beschädigung von Eisenbahnanlagen mit dem Tod bestraft werden.

Im Unterschied zu früheren Notstandsverordnungen, die die Exekutivgewalt entweder einem militärischen Befehlshaber oder zivilen Reichskommissar übertragen hatten, ließ die Reichstagsbrandverordnung diese Frage offen und bestärkte damit wiederum die Machtbefugnis der Reichsregierung, die über die "nötigen Maßnahmen" entscheiden konnte. Die Reichstagsbrandverordnung stärkte besonders die Macht der Polizei im NS-Regime und ließ erkennen, wie wenig die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 143 nationalsozialistische Führung in den traditionellen Kategorien eines vorübergehenden Staatsnotstands oder Belagerungszustandes dachte. Vielmehr wollte sie ein Instrument zur dauerhaften Festschreibung nationalsozialistischer Herrschaft mittels Polizei und Konzentrationslager schaffen. Bis zum Ende des NS-Regimes stellte die Reichstagsbrandverordnung die formale Legitimation der Geheimen Staatspolizei für deren Verhaftungen und Verfolgungen von deutschen Staatsbürgern dar. Zugleich verstärkte die antikommunistische Hysterie die Selbstlähmung der Konservativen und Deutschnationalen, die die brutale und außergesetzliche Unterdrückung der Opposition widerstandslos hinnahmen.

Schon in den Morgenstunden des 28. Februar begannen die Verhaftungen nach vorbereiteten Listen; in den folgenden Tagen wurden allein in Preußen rund 5000 Menschen, in erster Linie Kommunisten und Sozialdemokraten, festgenommen und interniert. Die SA verfolgte ihrerseits die "Roten" und verschleppte Angehörige der Arbeiterparteien und Gewerkschaften in Schulen, Kasernen, Keller und Parteilokale, wo sie geschlagen, gefoltert und ermordet wurden.

Trotz des Terrors gelang der NSDAP bei den Wahlen am 5. März 1933 nicht der erwartete Erfolg, sondern sie blieb auf die Stimmen der Deutschnationalen angewiesen. Zwar steigerten die Nationalsozialisten ihren Anteil noch einmal beachtlich und erhielten 43,9 Prozent der Stimmen, aber die erhoffte absolute Mehrheit errangen sie nicht, wohingegen das katholische Zentrum und die Sozialdemokraten trotz Unterdrückung ihren Stimmenanteil halten konnten und selbst die KPD noch 12,3 Prozent der Stimmen bekam.

Dennoch waren die Wahlerfolge der NSDAP in Nord- und Ostdeutschland, wo sie deutlich über 50 Prozent der Stimmen holte, nicht zu übersehen. Und auch im katholischen Bayern war es der NSDAP gelungen, starke Stimmenzuwächse zu erzielen, was bedeutete, dass die katholische Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus eingebrochen war. Die NS-Führung feierte das Wahlergebnis als Sieg und glaubte nun alle Legitimation zu besitzen, die "nationalsozialistische Revolution" voranzutreiben.

Unterdrückung demokratischer Parteien

SPD

Mir sind mehrere Versammlungen gesprengt worden, und ein erheblicher Teil der Versammlungsbesucher mußte schwer verletzt weggeschafft werden. Im Einverständnis mit dem Parteivorstand bitte ich daher, von den mit mir als Redner vorgesehenen Versammlungen abzusehen. Nach Lage der Dinge gibt es offenbar auch keinen polizeilichen Schutz mehr, der ausreichen würde, dem aggressiven Vorgehen der SA und SS in meinen Versammlungen zu begegnen.

In Hindenburg ist Genosse Nölting mit knapper Not dem Totschlag entronnen. Bei mir war es in Langenbielau ähnlich. Einer meiner Begleiter wurde niedergeschlagen. In Breslau ist gestern abend nur durch eine zufällige Verzögerung eingesetzter SA-Formationen namenloses Unglück verhindert worden. Eine große Anzahl von Verwundeten hat es trotzdem gegeben, in einer Stadt, die bisher stets Versammlungssprengungen von Andersgesinnten hat vorbeugend verhindern können.

Ich bedauere selbst am tiefsten, Euch diese Mitteilung machen und diesen Entschluß fassen zu müssen. Es ist auch erst nach reiflicher Überlegung mit Mitgliedern des Parteivorstandes geschehen, und nachdem auch in bezug auf andere Genossen ähnlich entschieden worden ist.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 144

Aus einem Schreiben des ehemaligen preußischen Innenministers und Berliner Polizeipräsidenten (SPD) an die SPD-Parteisekretäre in Dortmund, Frankfurt/M., Altona und Kiel vom 24. Februar 1933

BVP

Diese Regierungserklärung hat in Deutschland eine Kluft aufgerissen und hat alles zerschlagen, was in den 14 Jahren geleistet wurde. Wir hatten die Straßen dem Verkehr zurückerobert, die Parteifahnen von den Amtsgebäuden heruntergeholt, der Presse die Freiheit in Deutschland wieder gegeben, die Sicherheit im Staat wieder hergestellt. Und heute ist das alles wieder gefährdet. Wir erleben heute wieder den Bürgerkrieg auf den Straßen, der Terror ist in den Versammlungen wieder eingerissen, Leute wie Stegerwald [Adam Stegerwald, 1874-1945, Zentrumspolitiker, Reichsarbeitsminister 1930-32 – Anm. d. Red.] werden niedergeschlagen, es werden Feuerüberfälle auf die Bayern- und Pfalzwacht unternommen, die Presse wird wieder geknebelt, die freie Meinung versklavt, es regnet täglich Presseverbote. Die Regierungspresse darf aber schreiben, was sie will, ohne verboten zu werden. So durften die Hamburger Nachrichten kürzlich schreiben: Schmeißt die katholischen Bayern aus dem Reichsverbande hinaus, mit den anderen werden wir schon fertig. Die gleiche Zeitung durfte auch Hindenburg zum Verfassungsbruch auffordern. Die Zeitung wurde nicht verboten, wohl aber die katholische „Germania“, die nichts weiter getan hat, als einen Aufruf der katholischen Verbände abzudrucken, die voller Sorge über die kritische Entwicklung Deutschlands waren. […]

Rede des Vorsitzenden der Bayerischen Volkspartei, Fritz Schäffer, in Würzburg am 23. Februar 1933, in: Becker, S. 96

DDP

Die NSDAP, deren Führer Sie zum höchsten Beamten des Reichs ernannt haben, macht durch ein System von Gesetzwidrigkeiten einem anders denkenden bürgerlichen Politiker den Vortrag seiner politischen Anschauungen unmöglich, schüchtert die ruhige Bürgerschaft ein und leitet den Wahlkampf in einen offenen Bürgerkrieg über. Die ortspolizeilichen Organe leisten das Menschenmögliche. Sie können zwar die Person des Redners schützen, nicht aber die verfassungsmäßig gewährleistete Versammlungs- und Redefreiheit. Durch die Dezemberamnestie ist jede nachhaltige Achtung vor dem Gesetz geschwunden. Das besonnene Bürgertum in Württemberg blickt auf Sie, hochverehrter Herr Reichspräsident, als den letzten Hort für Recht und Ordnung in Deutschland. Wir geben Ihnen davon Kenntnis, wie eine große Regierungspartei vor der Entscheidungswahl des deutschen Volkes das Gesetz mit Füßen tritt, und bitten Sie, darauf einzuwirken, daß die NSDAP die Wahlfreiheit nicht weiter durch Mittel der Gewalt beeinträchtigt.

Beschwerde-Telegramm der württembergischen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) an Reichspräsident Hindenburg vom 22. Februar 1933

Alle in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 91 ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 145

Zur Debatte um den Reichstagsbrand

Ein Dreivierteljahrhundert schon wird über den 27. Februar 1933 gestritten. […] Und trotzdem ist die Lage heute kaum klarer als bald nach der Brandstiftung – als einerseits Wolfgang Stresemann und Harry Graf Kessler wie selbstverständlich davon ausgingen, dass die Nazis die Brandstiftung zu verantworten hätten, andererseits die ermittelnden Kriminalbeamten Helmut Heisig und Walter Zirpins bereits den Eindruck gewonnen hatten, dass sie das Geständnis von Marinus van der Lubbe glauben sollten [...].

Entgegen häufig wiederholter Behauptungen konnte bislang niemand einen Beleg für die Täterschaft der NSDAP an dieser Brandstiftung vorlegen. [...] Neue echte Beweise sind nicht mehr zu erwarten; es gibt keine nennenswerten Quellen, die noch verschollen sind. Auch lebt längst niemand mehr, der 1933 in irgendeiner Form etwas bislang Unbekanntes hätte erfahren können und heute sein Schweigen brechen würde. [...]

Dagegen steht eine in sich schlüssige Darstellung der Brandstiftung durch Marinus van der Lubbe: Der holländische Anarchokommunist hatte mit seiner Tat ein Zeichen setzen wollen – gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten und gegen die Lähmung der radikalen Arbeiterbewegung; für eine Revolution von unten, ja eigentlich für Aufruhr als Selbstzweck. In mehr als 30 Verhören über Monate hinweg blieb van der Lubbe im Kern stets bei seiner Darstellung; wesentliche Widersprüche gibt es in den entsprechenden Akten gerade nicht. [...] [A]lle Ende Februar und Anfang März 1933 im Reichstag gesicherten objektiven Beweise [stützten] van der Lubbes Version [...] oder [widersprachen] ihr jedenfalls nicht [...]. Dagegen gibt es in den Voruntersuchungsakten keinerlei Hinweise auf unterdrückte oder verfälschte Spuren, die für mehrere Beteiligte gesprochen hätten. Das wäre auch seltsam gewesen, denn an der Unterdrückung mutmaßlicher Beweise für weitere Täter hätten die Nazis ja keinerlei Interesse haben können; sie behaupteten ja stets, van der Lubbe hätte Komplizen gehabt. Obwohl auf die Polizisten offensichtlich Druck ausgeübt wurde, Belege zu „finden“, wurden keinerlei Indizien für andere Täter dokumentiert, weder irgendwelche Brandbeschleuniger noch Zündmechanismen, die der „Strohmer“ van der Lubbe nicht hätte haben können. 99 Positionen lang war die Liste der „sichergestellten Beweismittel“ aus dem Reichstag – kein einziges davon wies auf etwas anderes hin als den vom Brandstifter geschilderten Tatverlauf. [...]

Hinzu kommt: Wenn hinter der Brandstiftung tatsächlich ein perfider Plan der SA oder der NSDAP gesteckt hätte, dann wären die offensichtlich skrupellosen Täter wohl schlau genug gewesen, ausreichend „Spuren“ zu legen, um ihr Ziel auch sicher zu erreichen. Eine tatsächliche NS-Provokation sechseinhalb Jahre später, der fingierte Überfall von SS-Leuten in polnischen Uniformen auf den deutschen Sender Gleiwitz am 31. August 1939, zeigt, dass der Einsatz gefälschter Indizien Hitlers Schergen keineswegs fremd war. [...]

[...] Warum wird noch immer über die Täterschaft gestritten? Der wichtigste Grund dürfte sein, dass den Nazis angesichts ihrer zahlreichen anderen und bei weitem schlimmeren Verbrechen auch die Brandstiftung im Parlament ohne weiteres zuzutrauen gewesen wäre. […] Zweitens haben Hitler und Göring ja den Brand tatsächlich geradezu virtuos für ihre Zwecke eingesetzt; die vorsätzlich in Szene gesetzte Explosion der innenpolitischen Gewalt im März 1933 leitete die Eroberung der totalen Macht über Deutschland ein. [...] Ein dritter Grund ist die Feststellung im Urteil des Reichsgerichts, van der Lubbe habe Mittäter haben müssen. Doch dies war wahrscheinlich ein Zugeständnis der Richter an die Reichsregierung, die sie nicht völlig bloßstellen wollten, nachdem sie bereits die vier mitangeklagten Kommunisten aus Mangel an Beweisen freigesprochen hatten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 146

Alles spricht dafür, die zahlreichen Geständnisse Marinus van der Lubbes ernst zu nehmen. Aber warum ist die Frage der Täterschaft überhaupt seit 75 Jahren derartig umkämpft? [...] Woher rührte die Bedeutung für die deutsche Zeitgeschichte? [...] Die Antwort liegt in der grundsätzlichen Einschätzung des Dritten Reichs: Gehörte die Brandstiftung zu einem bis ins Detail vorbereiteten Plan der NSDAP? Oder reagierten der „Führer“ und seine Paladine spontan auf den Reichstagsbrand, setzten sie sich also wegen ihrer Rücksichtslosigkeit gegen die zögernden politischen Gegner durch, die Sozialdemokratie und das Zentrum? Wer schon den Reichstagsbrand für ein inszeniertes Schurkenstück der Hitler-Partei hält, muss zwangsläufig die NS-Herrschaft insgesamt zu präzise durchgeplanter Machtpolitik erklären – einschließlich Auschwitz. Allerdings hat diese Annahme eine unvermeidliche Folge: Automatisch wird damit die Verantwortung der deutschen Gesellschaft insgesamt, hunderttausender, ja Millionen Deutscher an all diesen Verbrechen stark reduziert. [...] Aus der Annahme der NS-Verantwortung folgt letztlich eine Exkulpierung der damaligen deutschen Gesellschaft. [...]

Es bleibt eine letzte Frage: Wie kam es zu dem verheerenden Brand im Plenarsaal, wenn wirklich nur Marinus van der Lubbe mit seinen auf den ersten Blick ungenügenden Mitteln wie Kohlenanzündern, Kleidungsstücken und Tischdecken als Täter in Frage kommt? [...]

[…] Es dürfte am 27. Februar 1933 gegen 21.27 Uhr zu einem heute als „Backdraft“ bekannten und gefürchteten Phänomen gekommen sein, das bei Bränden in geschlossenen Räumen auftritt. Dabei verbraucht zunächst ein offen brennendes Feuer einen Großteil des verfügbaren Sauerstoffs. Verlöschen die Flammen, führen die stark gestiegenen Temperaturen zum chemischen Phänomen der Pyrolyse: Organische Moleküle spalten sich; unoxidierte, das heißt brennbare Gase steigen auf und sammeln sich unter der Decke. Gleichzeitig sinkt durch die nunmehr nur noch schwelenden Brandstellen die Temperatur etwas. Dadurch entsteht ein Unterdruck, der Luft ansaugt, sobald das möglich ist. Kommt in dieser Situation Sauerstoff in den bis dahin abgeschlossenen Raum, lässt sich eine Katastrophe kaum mehr abwenden: Nach dem Öffnen einer Tür scheint die gestaute Hitze zunächst wie ein Schlag hinauszudrängen, doch unmittelbar darauf bildet sich ein starker Luftzug ins Innere des nun geöffneten Brandraums. Der Sauerstoff vermischt sich, je nach Größe des Raums in wenigen Sekunden bis mehr als einer Minute, mit den heißen Rauchgasen. Sobald die Mischung zündfähig ist, kommt es zu einer Rauchgasexplosion, die Temperatur von bis zu 10 00 Grad entwickeln kann und nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist.

Sven Felix Kellerhoff, Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls, be.bra verlag, Berlin- Brandenburg, S. 131 ff.

"Gleichschaltung" der Länder

Gleich nach der Wahl vom 5. März wurden Länder und Kommunen "gleichgeschaltet". Handhabe dazu bot Paragraph 2 der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, der den Reichsinnenminister ermächtigte, in die Souveränität der Länder einzugreifen, falls diese nicht selbst geeignete Schutzvorkehrungen trafen. Innerhalb von nur wenigen Tagen setzte die Hitler-Regierung nationalsozialistische Reichskommissare in Hamburg, Bremen, Hessen, Baden, Württemberg, Sachsen und Bayern ein. Die Machtübernahme erfolgte nach stets gleichem Muster. Die jeweils örtliche SA marschierte vor den Rathäusern und Regierungsgebäuden auf, verlangte, dass die Hakenkreuzfahne gehisst werde, und drohte damit, die Gebäude zu stürmen. Das bot dem nationalsozialistischen Reichsinnenminister Frick den Vorwand, unter Berufung auf Artikel 2 der Reichstagsbrandverordnung einzugreifen und die gewählten Landesregierungen abzusetzen. Die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 147 neuen nationalsozialistischen Machthaber ernannten in der Regel gleich jeweils neue Polizeipräsidenten und bauten den Polizeiapparat massiv aus. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler und der Chef des Sicherheitsdienstes der SS (SD) verstanden es erfolgreich, insbesondere die politische Polizei ihrer Kontrolle zu unterstellen.

Dass diese Machtübernahme so reibungslos funktionierte, ohne auf nennenswerten Widerstand der abgesetzten Landesregierungen zu stoßen, zeigt, wie resigniert mittlerweile viele Demokraten waren. Zudem hatte die NS-Führung gezielt jene Länder ausgewählt, in denen die jeweiligen Landesregierungen keine parlamentarischen Mehrheiten mehr besaßen und nur noch geschäftsführend im Amt waren.

Mit dem Gleichschaltungsgesetz vom 31. März wurden die Landtage (bis auf Preußen), Bürgerschaften und kommunalen Parlamente sämtlich aufgelöst und nach den regionalen bzw. lokalen Stimmenverhältnissen der Reichstagswahl vom 5. März neu zusammengesetzt. Die kommunistischen Stimmen durften nicht gezählt werden, die sozialdemokratischen Sitze wurden einbehalten, so dass bald nur noch nationalsozialistisch dominierte Einheitsorgane übrig blieben. Diese Gebilde galten auf vier Jahre gewählt, es fanden keine Wahlen mehr zu Repräsentativorganen der Bürger statt. Anfang April wurden in allen deutschen Ländern, bis auf Preußen, eingesetzt, die meist identisch mit den jeweiligen Gauleitern der NSDAP waren und die Landesgewalt übernahmen. Terror und Zustimmung

Mit rasanter Dynamik und einem geschickten Spiel mit Gemeinschaftsversprechen und Inklusionsangeboten auf der einen sowie radikaler Exklusion, Terror und Verfolgung auf der anderen Seite gelang es den Nationalsozialisten, die republikanische Verfassungsordnung, auch wenn sie formal erhalten blieb, auszusetzen und eine auf Volk, Rasse und Führer gegründete Diktatur zu errichten, die sich der Zustimmung einer großen Mehrheit der Deutschen sicher sein konnte.

Ohne die Rücksichtslosigkeit, mit der nicht bloß die Nationalsozialisten, sondern auch die Deutschnationalen die Weimarer Verfassungsordnung zu Grabe tragen wollten, aber auch ohne den Terror durch und Konzentrationslager hätte dieser Prozess der Auflösung der verfassungsmäßigen politischen Ordnung nicht diesen Verlauf nehmen können. Aber ebenso unerlässlich war die aktive Mithilfe etlicher gesellschaftlicher Organisationen. Es gab, kommentierte Sebastian Haffner im Rückblick, "ein sehr verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie. Was macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will?"

Hatte die NSDAP im Januar 1933 noch rund 850000 Mitglieder besessen, beantragten nach dem 30. Januar und vor allem nach dem 5. März, also nach den Wahlen, Hunderttausende die Aufnahme in die Partei, so dass schließlich die Parteiführung zum 1. Mai bei einem Stand von 2,5 Millionen Mitgliedern einen Aufnahmestopp verfügte, um der zuströmenden Massen Herr zu werden.

Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig.

Tag von Potsdam

So bemühte sich das Regime unter der Regie von Joseph Goebbels, der zehn Tage zuvor Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda geworden war, die Eröffnung des neuen Reichstages – ohne die sozialdemokratischen und kommunistischen Abgeordneten – am 21. März in der Potsdamer Garnisonskirche als Tag der nationalen Einigung mit Festgottesdienst, Salutschüssen und Aufmarsch von Reichswehr, SA und SS zu zelebrieren. Das Bild des Kanzlers, der sich ehrerbietig vor dem greisen Reichspräsidenten verbeugte, der Handschlag zwischen dem Gefreiten und dem Feldmarschall, sollte den Höhepunkt der Inszenierung bilden – und konnte doch nicht die unterschiedlichen Erwartungen, die an die neue Regierung gerichtet waren, kaschieren. Gerade in der anscheinend demutsvollen, zahmen Art, wie sich Hitler an diesem Tag gab, zeigte sich die Absicht der NS-Führung, die nationalkonservativen Anhänger nicht zu verprellen, sondern weiterhin an sich

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 148 zu binden. Aber die terroristische Dimension verschwand deshalb nicht.

Noch am selben Tag verkündete die Regierung sowohl eine Amnestie für Straftaten, die "im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes" begangen worden waren und unter anderem den Mördern im schlesischen Potempa zugute kam (Sie wurden im März 1933 freigelassen), als auch eine Verordnung zur "Abwehr heimtückischer Angriffe", mit der jedwede Kritik an der Regierung mit Gefängnis bestraft werden konnte.

Ermächtigungsgesetz

Zwei Tage später, am 23. März, verabschiedete der Reichstag – gegen die Stimmen der SPD – das "Ermächtigungsgesetz", das der Regierung zunächst für vier Jahre das Recht verlieh, eigenmächtig Gesetze, sogar verfassungsändernde, zu erlassen, soweit sie nicht die Stellung des Parlaments, der Ländervertretung oder des Reichspräsidenten betrafen. Damit wurde die verfassungsmäßige Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive zerstört und das alleinige Recht des Parlaments, als gewählte Volksvertretung Gesetze zu erlassen, aufgehoben.

Die notwendige Zweidrittelmehrheit konnte nur durch die Zustimmung der katholischen Parteien, des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei, erreicht werden. Die Verhandlungen mit den Nationalsozialisten hatten die Zentrumspartei vor eine schwere Zerreißprobe gestellt. Doch schließlich siegte die Furcht, bei einer Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes wieder wie unter Bismarck als "innerer Reichsfeind" dazustehen, und Hitler versprach ausdrücklich, die Rechte der katholischen Kirche auf ungestörte Religionsausübung und eigenständige Schulen nicht anzutasten. Zudem schien der Reichstagsbrand die angebliche kommunistische Bedrohung und damit die Forderung nach einem starken Staat zu bestätigen, der hart gegen linke Umsturzabsichten durchgreifen müsse.

Außerdem enthielt das Ermächtigungsgesetz die Klausel, dass die Stellung des Reichstages und des Reichspräsidenten nicht angetastet werden dürften. Zusätzlich galt die Laufzeit des Gesetzes vorerst für vier Jahre und musste dann vom Reichstag neu beschlossen werden. Dass der Reichstag 1937 kein frei gewähltes Parlament mehr war, sondern ein ausschließlich mit Nationalsozialisten besetztes willfähriges Instrument der Diktatur, konnten sich die republikanischen Abgeordneten, darunter auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, kaum vorstellen. Mit 444 Ja-Stimmen gegen 94 Nein- Stimmen beschloss der Reichstag seine eigene Entmachtung.

Allein die SPD, deren Fraktion aufgrund von Verhaftungen, Verfolgung und Flucht nicht mehr vollzählig anwesend sein konnte, stimmte gegen das Gesetz. Der Fraktionsvorsitzende Otto Wels begründete in einer mutigen Rede, die immer wieder hasserfüllt von den nationalsozialistischen Abgeordneten unterbrochen wurde, und angesichts im Saal aufmarschierter SA- und SS-Milizen die Stellung seiner Partei. Und Wels schloss mit einem Gruß an die "Verfolgten und Bedrängten", deren Standhaftigkeit Bewunderung verdiene.

Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933

Der Reichstag hat das folgende Gesetz beschlossen, das mit Zustimmung des Reichsrats hiermit verkündet wird, nachdem festgestellt ist, daß die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung erfüllt sind:

Art. 1. Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. […]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 149

Art. 2. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt.

Art. 3. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze werden vom Reichskanzler ausgefertigt und im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nicht anderes bestimmen, mit dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft. […]

Art. 4. Verträge des Reichs mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen nicht der Zustimmung der an der Gesetzgebung beteiligten Körperschaften. Die Reichsregierung erläßt die zur Durchführung dieser Verträge erforderlichen Vorschriften.

Art. 5. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem 1. April 1937 außer Kraft; es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst wird.

Reichsgesetzblatt T. I. (1933), Nr. 25, S. 141. Online abrufbar unter: www.dhm.de (http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/ermaechtigungsgesetz/ index.html)

Aus der Reichstagsdiskussion am 23. März 1933 in der Berliner Krolloper

Rede von Otto Wels (SPD)

[...] Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. [...] Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. [...] Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt. [...]

Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offen steht. Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

[...] Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. [...] Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 150

Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft. www.dhm.de (http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/wels/index.html)

Erwiderung Adolf Hitlers

[...] Sie sind wehleidig, meine Herren, und nicht für die heutige Zeit bestimmt, wenn Sie jetzt schon von Verfolgungen sprechen. [...] Auch Ihre Stunde hat geschlagen, und nur, weil wir Deutschland sehen und seine Not und die Notwendigkeit des nationalen Lebens, appellieren wir in dieser Stunde an den Deutschen Reichstag, uns zu genehmigen, was wir auch ohnedem hätten nehmen können. [...]

Ich glaube, daß Sie (zu den Sozialdemokraten) für dieses Gesetz nicht stimmen, weil Ihnen Ihrer innersten Mentalität nach die Absicht unbegreiflich ist, die uns dabei beseelt. [...] Und ich kann Ihnen nur sagen: Ich will auch gar nicht, daß Sie dafür stimmen! Deutschland soll frei werden, aber nicht durch Sie!

Bayerische Staatsbibliothek:www.reichstagsprotokolle.de (http://www.reichstagsprotokolle.de/ Blatt2_w8_bsb00000141_00038.html)

Misshandlung einer demokratischen Stadträtin

In der Nacht vom 20. zum 21. März dieses Jahres gegen halb 2 Uhr wurde an meiner Wohnungstür heftig geklingelt und geklopft. Im Glauben, daß meine Kinder nach Hause gekommen waren, stand ich sofort auf und fragte „Wer ist da?“ Mit einer barschen Stimme wurde mir darauf geantwortet: „Machen Sie sofort auf, hier ist die Polizei, sonst wird gewaltsam geöffnet.“ […] Mein Mann schloß die Tür auf. Es traten 6 – 8 Mann herein. Verschiedene waren mit Karabinern bewaffnet. Bis auf einen Mann, der ein blaues Jackett und eine blaue Mütze trug, waren alle in SA-Uniform. Die Leute, die in meine Wohnung eintraten, kenne ich vom Sehen alle. Es sind alles junge Leute, die mit meinen Kindern zusammen in die Schule gegangen sind. […] Einer von denen, der sicher der Führer war, forderte mich mit den Worten „Bitte ziehen Sie sich an. Sie kommen mit.“ auf. Ich forderte von diesem Mann einen Ausweis. Er antwortete mir mit flotter Armbewegung: „Ach Quatsch, machen Sie keinen Heckmeck. Sie kommen mit!“. […] Ich mußte nun das Auto (ein Wäscheauto), das vor dem Hause bereit stand, mit den Leuten, die bei mir in der Wohnung waren, besteigen und mitfahren. […]

Die Fahrt ging weiter nach der Elisabethstraße in die SA-Kaserne. […] Dort auf dem Hof mußte ich aussteigen und mit in das Hintergebäude des Hofes (unten Stall, oben sicher Heuboden) mitgehen. Erwähnen will ich noch, daß sich außer mir noch ein gewisser Herr Heber und Herr Flieger im Wagen befanden. Diese Leute mußten ebenfalls mit mir in das Gebäude gehen. […]

Der Führer, der auch in meiner Wohnung mit war, meldete uns dem dort befindlichen Führer. Als der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 151

Führer, der mich aus der Wohnung holte, dem dort befindlichen Führer meinen Namen Jankowski nannte, antwortete der dort anwesende Führer „Ach Jankowski, die alte, fette Sau!“ Wir wurden aufgefordert, uns in eine Ecke zu stellen. Jetzt mußte der junge Mann, Heber […], vortreten, und es wurden ihm die Haare geschnitten. Es wurden jetzt von uns dreien die Personalien aufgenommen. Bei der Aufnahme der Personalien fielen allerlei Bemerkungen, zum Beispiel „Aas, dreckiges Luder “ usw. […] Der Führer richtete nun an mich die Frage, wieviel Gehalt ich von der Stadt beziehe. Ich gab ihm zur Antwort, daß ich nur eine Aufwandsentschädigung von 48,75 RM den Monat beziehe. Der Führer antwortete mir „Du verschwindeltes Aas, du kriegst kein Gehalt, dir werden wir schon“ und gab dann den Leuten, die zum Schlagen bereit standen, die Zahl 20 an. […] Nach Verabfolgung der Schläge mußte ich mich zu Flieger wieder in die Ecke stellen. […] Als ich zum zweiten Mal herankam, beschuldigte der Führer mich, daß ich Listen verbreitet hätte, wonach nationalsozialistische Geschäftsleute boykottiert werden sollten. Ich erklärte ihm, daß ich nichts davon weiß. Er antwortet mir: „Du weißt ja überhaupt nichts“, und ich bekam zum zweiten Mal 20 Schläge. […] Nach einer gewissen Zeit wurde ich wieder in Ruhe gelassen, und es kamen jetzt wieder Heber und Flieger und ich heran, sich auf den Tisch zu legen und zum dritten Male Schläge zu bekommen […]

Wir mußten uns nachdem in eine Reihe stellen und das Deutschlandlied durchsingen. Nach Absingen des Deutschlandliedes erklärte uns der Führer, daß er uns jetzt eine halbe Stunde in Ruhe lassen würde. Er würde jetzt hinuntergehen, und wenn er wiederkäme, würde er an uns bestimmte Fragen richten. Sollten wir die Fragen nicht beantworten, „so wird uns nochmal so eine Wucht verabfolgt [...] und dann werden wir in den Wagen eingeladen und nach Schmöckwitz gefahren, wo wir unsere Kute (Grube) graben können.“ Während der Abwesenheit des Führers sowie einiger anderer SA-Leute, wurden wir von der zurückbleibenden Wache mit allerlei Schimpfworten bedacht. Was für schmutzige Wörter von den Leuten zu uns gesagt wurden, kann ich heute hier nicht mehr wiedergeben.

Nach Rückkehr des Führers bekamen wir der Reihe nach auf dieselbe Art und Weise wie vorher zum 4. Male je 20 Schläge. […]

Mir wurde jetzt erklärt, daß ich jetzt entlassen werde, müßte aber vorher noch ein Revers unterschreiben. Das Revers war schon mit der Maschine vorgeschrieben. Es enthielt, daß ich alle Ämter niederzulegen habe, daß ich aus der Partei austrete und mich politisch nicht mehr betätige. Außerdem solle ich mich von Donnerstag, den 23. März 33 ab in der dort befindlichen SA-Kaserne, wo ich geschlagen wurde, abends von 19 – 20 Uhr täglich melden. Am Donnerstag, den 23. März 33, hätte ich auch die Liste sämtlicher Funktionäre der Partei mitzubringen. […] Da ich nun allein auf der Straße stand und nicht laufen konnte, war es mir nicht möglich, meinen Heimweg anzutreten. […]

Am 31. März wurde ich auf Grund einer Verfügung des Hauptgesundheitsamts aus dem Krankenhaus entlassen. Ich befinde mich heute noch in ärztlicher Behandlung. […]

Aus Furcht, daß mir evtl. nochmals dieses Unglück widerfahren könnte und damit ich nun in Ruhe gelassen werde, stelle ich gegen die Täter keinen Strafantrag.

Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 150 ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 152

Verfolgung der Juden

Nach der Ausschaltung der politischen Opposition richtete sich der nächste Schlag des Regimes gegen die deutschen Juden. Bereits zwei Tage nach den Reichstagswahlen begannen im Ruhrgebiet, namentlich in Essen, Bottrop sowie Mülheim, Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte. Der NS- Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand nutzte die Boykottaktionen, um Juden aus den Mittelstandsvereinigungen zu verdrängen. Rasch breiteten sich die Boykottaktionen, häufig begleitet von gewalttätigen Ausschreitungen, über das gesamte Reich aus, und die nationalsozialistische Provinzpresse berichtete intensiv über die Aktionen, um sie weiter zu forcieren. Die NS-Führung bemühte sich dagegen, die "Einzelaktionen", wie sie in der NS-Terminologie hießen, unter Kontrolle zu bekommen. Doch obwohl Hitler persönlich in einem Aufruf am 10. März im "Völkischen Beobachter" an die Partei- und SA-Mitglieder "höchste Disziplin" beschwor, hielt der Druck von der Parteibasis weiter an.

Die Parteiführung entschloss sich daher Ende März, einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte zu organisieren. Als Begründung dienten die internationalen Proteste, vor allem in den USA, gegen die Verfolgung von Juden in Deutschland, die von den Nationalsozialisten als jüdisch gesteuerte Greuelprogaganda hingestellt wurde. Gegen sie sollte der Boykott eine Gegendemonstration darstellen. Überall in Deutschland standen am Samstag, dem 1. April, SA-Posten vor Geschäften mit jüdischen Inhabern, die aber angesichts der Drohungen ihre Läden an diesem Tag sowieso geschlossen hatten. Obwohl die Regimeführung immer wieder betonte, dass die Boykottaktion mit Ruhe und Disziplin vonstatten gegangen sei, brach die Gewalt an etlichen Orten auf.

Außenpolitisch war der Boykott ein Fehlschlag, weil er den Eindruck von den Judenverfolgungen in Deutschland bestätigte; und auch innenpolitisch erwies er sich als wenig erfolgreich, weil offenkundig zahlreiche Deutsche die Aktion missbilligten, zumal ja auch nicht-jüdische Angestellte in Mitleidenschaft gezogen wurden. So blieb der Boykott offiziell auf einen Tag beschränkt, aber in der Provinz, außerhalb der Großstädte, wurden die Aktionen vehement fortgeführt. Gerade in den kleinen und mittleren Orten stellten die Boykottaktionen ein entscheidendes Politikfeld dar, um soziale Distanzen zwischen Juden und "Volksgenossen" zu schaffen und die jüdischen Nachbarn zu isolieren.

Wenige Tage nach dem Boykott nutzte die Hitler-Regierung die ihr durch das Ermächtigungsgesetz verliehene Kompetenz, um mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April sogenannte Nicht-Arier – es genügte, wenn ein Großelternteil jüdischer Religion war – aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen. Zugleich wurde die Betätigung jüdischer Rechtsanwälte eingeschränkt und zwei Wochen später ein Numerus clausus für jüdische Studenten eingeführt. Waren viele mit den Boykottmethoden und der antisemitischen Gewalt auch nicht einverstanden, so billigten sie doch die Verdrängung von Juden aus Berufen, in denen sie angeblich überproportional vertreten waren – nicht zuletzt profitierten zahlreiche Jungakademiker von den Entlassungen, da sie jetzt die Stellen der vertriebenen jüdischen Kolleginnen und Kollegen erhielten.

Auch wenn die Zahl der Betroffenen durch Ausnahmeregelungen zunächst noch eingeschränkt blieb und diejenigen Juden vorerst von der Entlassung verschonte, die als Soldaten im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, war der Wille des Regimes, von Anfang an eine antisemitische Politik zu verfolgen, unmissverständlich zu erkennen. Rund 37000 Juden flüchteten im ersten Jahr der NS-Herrschaft aus Deutschland, um der Verfolgung zu entgehen. Doch blieben die meisten jüdischen Deutschen in ihrer Heimat, weil sie annahmen, dass der antisemitische Kurs der NS-Regierung wieder abklingen würde und, wenn auch unter deutlich erschwerten Bedingungen, ein normales Leben in Deutschland auch weiterhin möglich sein würde.

Verfolgung der Juden – Boykottaufruf der NSDAP

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 153

Deutsche Volksgenossen!

Die Schuldigen an diesem wahnwitzigen Verbrechen, an dieser niederträchtigen Greuel- und Boykotthetze sind die Juden in Deutschland. Sie haben ihre Rassegenossen im Ausland zum Kampf gegen das deutsche Volk aufgerufen. Sie haben die Lügen und Verleumdungen hinausgemeldet.

Darum hat die Reichsleitung der deutschen Freiheitsbewegung beschlossen, in Abwehr der verbrecherischen Hetze ab Samstag, den 1. April 1933, vormittags 10 Uhr, über alle jüdischen Geschäfte, Warenhäuser, Kanzleien usw. den Boykott zu verhängen. Dieser Boykottierung Folge zu leisten, dazu rufen wir euch, deutsche Frauen und Männer, auf!

Kauft nichts in jüdischen Geschäften und Warenhäusern! Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten! Meidet jüdische Ärzte! Zeigt den Juden, daß sie nicht ungestraft Deutschland in seiner Ehre herabwürdigen und beschmutzen können!

Wer gegen diese Aufforderung handelt, beweist damit, daß er auf Seite der Feinde Deutschlands steht.

Es lebe der ehrwürdige Generalfeldmarschall aus dem großen Kriege, der Reichspräsident Paul von Hindenburg! Es lebe der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler! Es lebe das deutsche Volk und das heilige deutsche Vaterland!

Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 200 ff.

Boykottaktion

...aus Sicht der Betroffenen...

„Auch bei uns machten die Nazibanden die Straßen unsicher. So näherte sich der 1. April, der Tag des Judenboykotts. Bereits am frühen Morgen des Freitag sah man die SA mit ihren Transparenten durch die Stadt ziehen. ‚Die Juden sind unser Unglück‘. […] In den Vormittagsstunden begannen sich die Posten der Nazis vor die jüdischen Geschäfte zu stellen, und jeder Käufer wurde darauf aufmerksam gemacht, nicht bei Juden zu kaufen.

Auch vor unserem Lokal postierten sich zwei junge Nazis und hinderten die Kunden am Eintritt. […] Und für dieses Volk hatten wir jungen Juden einst im Schützengraben gestanden und haben unser Blut vergossen, um das Land vor dem Feind zu beschützen. Gab es keinen Kameraden mehr aus dieser Zeit, den dieses Treiben anekelte? Da sah man sie auf der Straße vorübergehen, darunter gar viele, denen man Gutes erwiesen hatte. Sie hatten ein Lächeln auf dem Gesicht, das ihre heimtückische Freude verriet. […] Ich schämte mich, daß ich einst zu diesem Volk gehörte. Ich schämte mich über das Vertrauen, das ich so vielen geschenkt hatte, die sich nun als meine Feinde demaskierten. Plötzlich erschien mir auch die Straße fremd, ja die ganze Stadt war mir fremd geworden. […]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 154

Trotz alledem kamen auch noch an diesem Tage eine Anzahl Kunden zu mir, besonders Katholiken, und es war so mancher dabei, der mich nur aus Protest gegen das Treiben da draußen besuchte. Auch der Bürodirektor des Landrats kam, um, wie er so schön sagte, mir nur die Hand zu drücken. Als ich ihm dankerfüllt sagte, er möge meinetwegen nicht seine Stellung aufs Spiel setzen und an seine Familie denken, antwortete er voll Stolz: ‚Ich bin Parteimitglied Nr. 20 der Deutschnationalen Volkspartei; was soll mir passieren?‘ Der arme Idealist, er sollte bald gewahr werden, daß auch diese Partei nicht mehr gelten sollte. Aber ich war ihm von Herzen dankbar, denn in mir war es wund. […] Das Personal sah mich traurig an und fragte,ob es am nächsten Tage kommen solle. Ich verneinte […] die Leute gingen weg […].

In der Wohnung rüstete meine Frau zum Sabbat. Ich ging in die Synagoge wie viele andere Juden. Dort sah ich verzweifelte Gesichter […]. Wenig Trost gab mir das Gebet, und ebenso erschüttert ging ich nach Hause zur Frau und zu den Kindern.

Und als ich dort, wie stets, im Kreise meiner Familie den Sabbat einweihte, als ich an die Stelle im Gebet kam, ‚der Du uns erwählt hast von allen anderen Völkern‘ und meine Kinder sah, die mich mit ihren unschuldigen und fragenden Augen anblickten, da war es mit meiner Fassung vorbei; da entlud sich in mir die Schwere des erlebten Tages, und ich brach zusammen, die letzten Worte nur noch stammelnd. Die Kinder wußten oder begriffen nicht, warum ich heftig weinte, aber ich wußte: Das war mein Abschied vom Deutschtum, meine innere Trennung vom gewesenen Vaterland – ein Begräbnis. Ich begrub 43 Jahre meines Lebens. Und wäre es nur der eine und einzige Tag solchen Erlebens gewesen, jetzt konnte ich kein Deutscher mehr sein.“

Monika Richarz (Hg.), Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780-1945, C. H. Beck, München 1989, S. 385 ff.

...und aus Sicht Unbeteiligter

„[…] Man fragte mich, ob ich wüßte, daß das ein jüdisches Geschäft sei. Ich sagte ja, ich hätte aber etwas bestellt, und das wolle ich abholen. Es passierte mir nichts. Allerdings muß ich sagen, es war eine merkwürdige Atmosphäre, wenn man dann in das Geschäft kam. Man wurde so unglaublich zuvorkommend empfangen. Man fühlte eine Verpflichtung, nun unbedingt etwas zu kaufen, ob man etwas fand oder nicht. Es stellte sich eine gewisse Scheu ein, das muß ich bekennen. Ich ging hin, wenn ich glaubte, ich könnte etwas finden. Aber ich hatte Angst hineinzugehen, wenn ich keine konkreten Wünsche hatte; ich fürchtete mich hinauszugehen, ohne etwas zu kaufen. Herr Gräfenberg war so ungeheuer freundlich. Dahinter stand wohl Dankbarkeit, aber diese Dankbarkeit […] Das empfand man als unangemessen. Man wollte nicht als Held dastehen. Es sollte einfach nur eine natürliche Handlung sein. Das war es dann eben nicht mehr.“

Thomas Berger, Lebenssituationen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Hirschgraben- Verlag, Frankfurt a. M. 1985, S. 92

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 155

Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933

§ 1. Zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen aus dem Amt entlassen werden, auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen […]

§ 2. Beamte, die seit dem 9. November 1918 in das Beamtenverhältnis eingetreten sind, ohne die für ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Ausbildung oder sonstige Eignung zu besitzen, sind aus dem Dienst zu entlassen. […]

§ 3. Beamte, die nichtarischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand […] zu versetzen. Soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen.

Absatz 1 gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen können der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem zuständigen Reichsminister oder die obersten Landesbehörden für Beamte im Ausland zulassen.

§ 4. Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. […]

§ 14. Gegen die auf Grund dieses Gesetzes in den Ruhestand versetzten oder entlassenen Beamten ist auch nach ihrer Versetzung in den Ruhestand oder nach ihrer Entlassung die Einleitung eines Dienststrafverfahrens wegen der während des Dienstverhältnisses begangenen Verfehlungen mit dem Ziele der Aberkennung des Ruhegeldes, der Hinterbliebenenversorgung, der Amtsbezeichnung, des Titels […] zulässig. […]

Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 37 ff.

Erklärung über „arische Abstammung“

Ich versichere hiermit pflichtgemäß: Mir sind trotz sorgfältiger Prüfung keine Umstände bekannt, die die Annahme rechtfertigen könnten, daß ich nicht arischer Abstammung sei oder daß einer meiner Eltern- oder Großelternteile zu irgendeiner Zeit der jüdischen Religion angehört habe. Ich bin mir bewußt, daß ich mich dienststrafrechtlicher Verfolgung mit dem Ziele auf Dienstentlassung aussetze, wenn diese Erklärung nicht der Wahrheit entspricht.

Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 156

Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 220

Wirkungen des Berufsbeamtengesetzes auf die Hochschulen

[...] Eine tiefe Zäsur in der Welt der Hochschulen hinterließ das Berufsbeamtengesetz vom April 1933. Denn die unverzüglich anlaufende „Säuberung“ der Professorenschaft von jüdischen und politisch mißliebigen Wissenschaftlern führte bereits bis Ende 1934 dazu, daß 15 Prozent des Lehrkörpers, 11 Prozent aller ordentlichen Professoren, insgesamt 1684 Hochschullehrer entlassen worden waren. Durchweg waren die Universitäten mehr betroffen als die Technischen Hochschulen, die 10,7 Prozent ihres Lehrkörpers verloren. Bis 1939 aber hat diese beispiellose Vertreibungsaktion mehr als ein Drittel, 39 Prozent, aller Professoren erfaßt.

Die Zwangsausschaltung vollzog sich in drei Formen: als abrupte Pensionierung oder als Versetzung in den Ruhestand mit gekürzten Bezügen, meist aber in Gestalt der frist- und entschädigungslosen Entlassung.

Bis zum Kriegsbeginn haben rd. 3000 Wissenschaftler, darunter 756 Professoren, Deutschland verlassen müssen. Längst ehe 1944 die ersten deutschen Flüchtlinge aus dem Osten vertrieben wurden, erlebte Deutschland seine von der eigenen Regierung initiierte Vertreibung stigmatisierter Spitzenkräfte.

[...] Als Ergebnis dieses fatalen Aderlasses und der evidenten Stagnation seither schrumpfte der Lehrkörper aller Hochschulen (Professoren einschließlich der Lektoren und Lehrbeauftragten) von 1932 = 7984 auf 1939 = 7265 Wissenschaftler. Die Anzahl der ordentlichen Professoren (ohne reguläre Emeriti) ging von 2354 auf 2164 zurück. In der Jurisprudenz z.B. fiel ihre Zahl von 200 auf 156, in den Geisteswissenschaften von 402 auf 393, sogar in den Naturwissenschaften von 560 auf 522.

Die protestlose Hinnahme aller Ungeheuerlichkeiten an der Alma Mater enthüllte eine bestürzende Gleichgültigkeit gegenüber dem Willkürschicksal enger Fachgenossen. Nicht selten verband sie sich auch noch mit der inhumanen Entschuldigung „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“. [...] Zu besichtigen ist daher ein grenzenloses moralisches Debakel der Mehrheit, die nicht nur die Vertreibung ihrer Zunftgenossen hinnahm, sondern auch unverzichtbare wissenschaftliche Normen, ethische Prinzipien und den vielbeschworenen Korporationsgeist schnöde verriet. Ein vernichtenderes Urteil über diese politische Mentalität des Schweigens ist kaum denkbar.

Dieselbe Feigheit zeigte sich, wenn es um neue Zumutungen von außen ging. Der bayerische Kultusminister Hans Schemm, ein „alter Kämpfer“, forderte 1933 von den Professoren: „Von jetzt ab kommt es für Sie nicht mehr darauf an, festzustellen, ob etwas wahr ist, sondern ob es im Sinn der nationalsozialistischen Revolution ist.“ Widerspruch wurde nicht laut. [...]

In einer Bilanz, die der Heidelberger Statistikdozent Emil Gumbel zog – einst umstrittener Kritiker der politischen Morde in der Weimarer Republik, jetzt ins Exil vertrieben –, fiel das Urteil bitter, aber treffsicher aus: „Gegenüber diesem gewaltsamen Einbruch in ihr geistiges und materielles Leben haben die deutschen Professoren im Ganzen keinen Charakter gezeigt. Kein Wort des Protests gegen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 157 die Absetzung so vieler verdienter Lehrer wurde laut. Die Würde der akademischen Korporation zerflatterte. Die Idee der Universität zerging vor der Frage nach der Pensionsberechtigung.“[...]

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C. H. Beck, München 2003, S. 824 ff.

Zerschlagung der Gewerkschaften

Obwohl Teile der Gewerkschaftsführung versuchten, ihre Unabhängigkeit im NS-Regime dadurch zu bewahren, dass sie sich von der SPD distanzierten und eine Zusammenarbeit mit der neuen Regierung anboten, standen die traditionsreichen freien Arbeiterorganisationen im Visier der neuen Regierung und wurden mit Hilfe der SA im Mai zerschlagen. Erneut bildeten Inklusion und Gewalt die beiden Seiten nationalsozialistischer "Volksgemeinschaftspolitik".

So wurde einerseits der 1. Mai von der Hitler-Regierung erstmals in der deutschen Geschichte unter der Bezeichnung "Tag der nationalen Arbeit" zum Feiertag erklärt. Unter dem Motto "Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter!" fanden reichsweit große Kundgebungen statt, zu denen auch die Gewerkschaften aufriefen und auf denen Nationalsozialisten Reden hielten. Auf der zentralen Massenversammlung in Berlin verkündete Goebbels: "Am heutigen Abend findet sich über Klassen, Stände und konfessionelle Unterschiede hinweg das ganze deutsche Volk zusammen, um endgültig die Ideologie des Klassenkampfes zu zerstören und der neuen Idee der Verbundenheit und der Volksgemeinschaft die Bahn freizulegen." Die mehrstündige Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld in Berlin wurde im Rundfunk übertragen. Gleichzeitig fanden in vielen Provinzstädten Aufmärsche, oftmals auch der örtlichen Belegschaften samt Lautsprecherübertragung der Berliner Kundgebung statt, so dass die zentrale nationalsozialistische Propagandaveranstaltung simultan im ganzen Reich erlebt werden konnte.

Auf der anderen Seite stürmte tags darauf, am 2. Mai, die SA überall im Reich die Gewerkschaftsbüros, verhaftete die Funktionäre, beschlagnahmte das Eigentum. Die Regierung erklärte die freien Gewerkschaften für aufgelöst und bildete die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Robert Ley als Zwangsvereinigung für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber. Mit rund 20 Millionen Mitgliedern (Stand 1939) stellte die DAF nicht nur die mitgliederstärkste, sondern aufgrund des Raubs des Gewerkschaftseigentums und der millionenfachen Mitgliedsbeiträge auch die reichste angegliederte Organisation der NSDAP dar.

Die Industrieverbände sahen im neuen Regime eine Chance, die Unternehmerinteressen nachhaltig zu festigen, und passten sich geschickt an. Als am 1. April ein SA-Trupp die Geschäftsstelle des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RDI) besetzte, nutzte die NSDAP wie so oft die Gewalt "von unten", um die Verbandsspitze zum Rücktritt zu zwingen, darunter Paul Silverberg, der trotz seines Eintretens für ein Bündnis mit der NSDAP wegen seiner jüdischen Herkunft gehen musste. Nach einem Gespräch zwischen Hitler und führenden Industriellen am 29. Mai verwandelte sich der RDI in eine Zentralorganisation mit Führerprinzip, dem Reichsstand der Deutschen Industrie, geleitet von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der eng mit der NS-Führung kooperierte.

Die Agrarverbände waren schon seit 1929/30 nationalsozialistisch durchsetzt. Gleich im März 1933 drängte Richard Walther Darré, Vorsitzender des Agrarpolitischen Apparates der NSDAP, erfolgreich alle Bauernverbände zum Zusammenschluss und übernahm selbst den Vorsitz. Ebenfalls schlossen sich die landwirtschaftlichen Genossenschaften und die Landwirtschaftskammern an, so dass Darré sich Ende Mai "Reichsbauernführer" nennen durfte und, nachdem er Ende Juni zusätzlich Landwirtschaftsminister wurde, die gesamte Agrarpolitik kontrollierte.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 158

Aus einem Brief Peter Dürrenmatts, eines Schweizer Journalisten, 20. April 1933:

„Eines hätte ich mir ja nie träumen lassen: daß ich noch einmal den ersten Mai feiern würde. Dieser erste Mai ist zum offiziellen Feiertag der deutschen Arbeit erklärt worden, folglich schulfrei! Das ist einer der genialsten Demagogenstreiche von Goebbels, über den sich die Sozialdemokraten schwarz ärgern werden. Denn natürlich wird unter den Nazis eine Maifeier von Stapel gelassen, wie sie während der Herrschaft der Sozialdemokraten nie annähernd zustande kam. Den Deutschnationalen ist diese Maifeier gar nicht recht.“

Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaats 14. Juli 1933, hg. von Josef und Ruth Becker, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 249

Auflösung der Parteien

Im Juni folgte die Auflösung der Parteien, nachdem die KPD durch die Verfolgungen bereits zerschlagen worden war. Die Mehrheit der SPD-Führung ging nach dem Schlag gegen die Gewerkschaften ins Exil nach Prag und rief von dort zum Sturz des Hitler-Regimes auf. Daraufhin erklärte Reichsinnenminister Frick die SPD am 22. Juni zur "volks- und staatsfeindlichen Organisation". Alle sozialdemokratischen Parlamentsmandate wurden aufgehoben, die noch nicht emigrierten Parteiführer verhaftet.

Die bürgerlichen Parteien kamen ihrer absehbaren Abschaffung entgegen und beschlossen eine nach der anderen ihre Selbstauflösung. Die Deutsche Staatspartei, bis 1930 als Deutsche Demokratische Partei der politische Ort des liberalen Bürgertums, löste sich am 27. Juni auf. Die vom langjährigen Außenminister der Weimarer Republik Gustav Stresemann 1919 gegründete rechtsliberale Deutsche Volkspartei folgte einen Tag später.

Selbst die Deutschnationalen, die die Regierung mit der NSDAP bildeten, ergriff der Prozess der Aushöhlung der republikanischen Verfassung, den sie selbst forciert hatten. Am 26. Juni musste der DNVP-Chef Hugenberg nach ungeschicktem Taktieren auf internationalem wie nationalem Parkett zurücktreten; einen Tag später legte ein "Freundschaftsabkommen" fest, dass deutschnationale Abgeordnete als "Hospitanten" in die NSDAP aufgenommen würden. Der Stahlhelm wurde am 21. Juni, nachdem sein Führer Seldte bereits Ende April der NSDAP beigetreten war, in die SA überführt. Diejenigen, die noch im Januar die Nationalsozialisten "zähmen" wollten, waren wenige Monate später deren Mitglieder.

Den Schluss bildete das katholische Zentrum. Mit dem Konkordat vom 20. Juli schloss der Vatikan als erste ausländische Macht mit dem neuen Regime einen Vertrag, der die Konfessionsrechte der katholischen Kirche, insbesondere der katholischen Schulen, weiterhin gewährleistete. Dafür hatte Rom in den Verhandlungen dem Verbot einer politischen Tätigkeit katholischer Geistlicher zugestimmt und damit dem Zentrum als politischer Partei des Katholizismus die Grundlage entzogen. Die Parteiführung gab Anfang Juli resigniert auf, nachdem in Bayern etliche Parteifunktionäre von der politischen Polizei verhaftet worden waren, und löste das Zentrum auf. Am 14. Juli, nur ein halbes Jahr nach der Machtübernahme, erließ die Reichsregierung das "Gesetz gegen die Neubildung von Parteien", das die NSDAP zur einzigen Partei in Deutschland erklärte.

Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 159

§ 1. In Deutschland besteht als einzige politische Partei die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei.

§ 2.Wer es unternimmt, den organisatorischen Zusammenhalt einer anderen politischen Partei aufrechtzuerhalten oder eine neue politische Partei zu bilden, wird […] mit Zuchthaus bis zu drei Jahren oder mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft […]

Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 43

Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933

§ 1. Nach dem Sieg der Nationalsozialistischen Revolution ist die nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staate unlöslich verbunden.

Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts.

§ 2. Zur Gewährleistung engster Zusammenarbeit der Dienststellen der Partei und der SA. mit den öffentlichen Behörden werden der Stellvertreter des Führers und der Chef des Stabes der SA. Mitglied der Reichsregierung.

§ 3. Den Mitgliedern der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und der SA. (einschließlich der ihr unterstellten Gliederungen) als der führenden und bewegenden Kraft des nationalsozialistischen Staates obliegen erhöhte Pflichten gegenüber Führer, Volk und Staat.

Sie unterstehen wegen Verletzung dieser Pflichten einer besonderen Partei- und SA.-Gerichtsbarkeit.

Der Führer kann diese Bestimmungen auf die Mitglieder anderer Organisationen erstrecken.

§ 4. Als Pflichtverletzung gilt jede Handlung oder Unterlassung, die den Bestand, die Organisation, die Tätigkeit oder das Ansehen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angreift oder gefährdet, bei Mitgliedern der SA. (einschließlich der ihr unterstellten Gliederungen) insbesondere jeder Verstoß gegen Zucht und Ordnung. […]

§ 8. Der Reichskanzler erläßt als Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und als Oberster SA.-Führer die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Vorschriften […]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 160

Walther Hofer (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1965, S. 61 f.

Manipulierte Wahlen am 12. November 1933

Karl Dürkefälden, geb. 1902, ein Maschinenbautechniker aus Hämelerwald bei Hannover, beschreibt in seinen Tagebuchaufzeichnungen auch die Auswirkungen der politischen Entwicklung von 1932 bis 1945 auf sein unmittelbares Lebensumfeld. Die letzte Reichstagswahl und den gleichzeitigen Volksentscheid gegen den Young-Plan erlebt er folgendermaßen:

[...] Am 12. November 1933 war die letzte Reichstagswahl und der Volksentscheid. Die Regierung war aus dem Völkerbund ausgetreten und legte dem Volke die Frage vor, ob es diesen Schritt billige. Eine riesige Reklame machte die Regierung und die Partei. Täglich tausende von Wahlversammlungen, schrieb die Zeitung. Die Leute kriegten Propagandazettel ins Haus gebracht, die sollten sie an die Fenster kleben. „Stimme mit Ja“ stand darauf. Man hatte die Fenster tatsächlich ganz bunt gemacht in den Dörfern und Städten am Wahltage, auch Leute, die mit der Partei nicht auf gutem Fuße stehen. Als ich in Peine einkaufte, kriegte ich dieselben Zettel mit eingepackt. [...]

Beim Volksentscheid hieß es: für Ehre, Freiheit und Gleichberechtigung, auch schrieben die Zeitungen: für Freiheit und Brot usw. Es drehte sich um den Austritt aus dem Völkerbund. Einen Krieg zöge das nicht nach, behauptete die Regierung, und die Fragen waren so gestellt, daß nur ein „Ja“ darauf folgen konnte. Trotzdem waren in Hämelerwald zwölf Nein-Stimmen und zwei ungültige.

Auf dem Zettel für den Volksentscheid waren zwei Kreise, ja, nein. Auf dem Zettel für die Reichstagswahl war nur ein Kreis für die Ja-Stimme; es war nur eine Partei zugelassen. Als die Wahl vorüber war, hatte man in Hämelerwald nur zwei ungültige Stimmen; die andern sollten für die Partei gestimmt haben. Dann mußten ja meine Frau und ich die einzigen gewesen sein, die nicht für die Partei gestimmt hatten. Ich kannte aber mehr. Gerda machte mehrere Striche quer über den Zettel und ich einen Strich. Auf einem der Zettel hat aber „Nein“ gestanden, wie mir H. Schwenke, der bei dem Zählausschuß war, erklärte. Einige Tage später erzählte mir Willi Greve, daß vor der Wahl im „Hann[overschen] Anzeiger “ eine Notiz gestanden haben soll, wonach man alle Zettel, auf den[en] überhaupt kein Zeichen stände, nicht als ungültig, sondern als „Ja“ zählen wolle, außerdem alle, die irgendwie ein Zeichen hatte[n]. [Anmerkung: Ha (Hannoverscher Anzeiger)] vom 11. November, Stadtbeilage: „Der Wahlzettel vom 12. November“: „Eine einzige Liste wird ihm [dem Wähler] vorgelegt, und die einzige Entscheidung, die er nunmehr noch zu treffen hat, besteht lediglich darin, ob er gewillt ist, ihr sein Kreuz zu geben. Die klare Frage der Reichsregierung nach der Billigung ihrer Politik heischt auch eine klare Antwort. Sie kann nicht anders lauten als: Ja! Die Einheitsliste zur Reichstagswahl stellt an den Wähler eine gleich klare Frage, ob er den auf dieser offiziellen Liste angegebenen Kandidaten seine Stimme geben will. Auch hier ist die Antwort nicht schwer. Das Kreuz gehört in das offene Feld, das auf gleicher Höhe mit dem Namen Adolf Hitlers steht“.]

Was sollte man da noch mit dem Zettel machen? Werger sagte mir, er wäre mit seiner Frau des morgens zur Wahl gegangen, da hätte man ihm gesagt: „Mal‘ Dein Kreuz man gleich hier hin, das

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 161

Ding dahinten ist für Leute, die nicht zeigen mögen, was sie gewählt haben“. Er mußte also wohl oder übel für die Partei stimmen. A. Grebenstein wählte in Hannover. Er behauptet, da sei der Schutz nur so gewesen, daß er hätte sehen können, was die Leute vor ihm gewählt haben. Zu alten Frauen, die nicht kommen konnten [...] oder wollten, ging man zu Zweien und ließ sich die „Ja“ auf die Zettel machen [...].

Das Peiner Wahlverhältnis war etwa wie in Hämelerwald, mehr Stimmen für die Partei als für den Austritt aus dem Völkerbund. 93 % ungefähr stimmten für die Partei. Wenn die Zählung mit rechten Dingen zugegangen wäre, betrügen die Parteistimmen höchstens 80 % trotz aller Reklame. Es haben sich jetzt wohl schon viele mit der neuen Richtung ausgesöhnt. [...]

Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), „Schreiben, wie es wirklich war ...“. Die Aufzeichnungen Karl Dürkefäldens aus der Zeit des Nationalsozialismus, Hannover 1985, S. 75 ff.

Bücherverbrennung

Doch nicht nur die Parteien passten sich der politischen Entwicklung an. Auch innerhalb der Gesellschaft gab es viele Initiativen, die den "nationalen Aufbruch", den sie mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler zu erkennen glaubten, nach Kräften unterstützten. Am Abend des 10. Mai 1933 organisierten Studenten in allen Universitätsstädten als "Aktion wider den undeutschen Geist" öffentliche Bücherverbrennungen von Autoren wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Erich Kästner, Bert Brecht, Kurt Tucholsky, Erich Maria Remarque, Alfred Döblin, Stefan Zweig oder Heinrich Heine, der schon 1821 geschrieben hatte: "Wo man Bücher verbrennt, dort verbrennt man am Ende auch Menschen". Die Ideen der Aufklärung, der Französischen Revolution und des Humanismus galten der völkischen Rechten als "jüdisch-liberal", die aus dem Gedankengut einer "deutschen Volksgemeinschaft" zu löschen seien. Joseph Goebbels, der die Initiative zu den öffentlichen Bücherverbrennungen förderte, hatte bereits am 1. April im Rundfunk über die nationalsozialistische Revolution verkündet: "Damit wird das Jahr 1789 aus der deutschen Geschichte gestrichen."

Kritische und jüdische Journalisten wurden im vorauseilenden Gehorsam von vielen Zeitungen entlassen, durch ein sogenanntes Schriftleitergesetz wurde die Presse unter staatliche Aufsicht gestellt. Wer sich künstlerisch oder publizistisch betätigen wollte, musste der von Goebbels kontrollierten Reichskulturkammer angehören. Die Mitglieder der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste ließen gehorsam den Ausschluss von Heinrich Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann und anderen geschehen – mit der rühmlichen Ausnahme von Ricarda Huch, die daraufhin ihren Austritt erklärte.

Nicht zuletzt müssen die unzähligen örtlichen Vereine erwähnt werden, ob Sport-, Gesangs-, Schützenverein oder die lokale Feuerwehr, die allesamt im Laufe des Jahres 1933 den "Arierparagraphen" in ihr Vereinsstatut übernahmen, das heißt die jüdischen Mitglieder aus ihren Vereinen ausschlossen. Unter vielen anderen erklärte auch der Vorstand des Deutschen Fußballverbandes am 19. April 1933, dass ein "Angehöriger der jüdischen Rasse ebenso auch Personen, die sich als Mitglieder der marxistischen Bewegung herausgestellt haben, in führenden Stellungen der Landesverbände nicht für tragbar" gehalten werden könnten und die Vereinsvorstände daher aufgefordert würden, die entsprechenden Maßnahmen zu veranlassen. Der bekannte Nationalspieler Julius Hirsch trat daraufhin aus dem Karlsruher Fußballclub aus; Alfred Meyers legte den Vereinsvorsitz in Frankfurt nieder; der Verbandspionier und Herausgeber des "Kickers", Walther Bensemann, emigrierte noch im April in die Schweiz.

Kirchen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 162

Die katholische Kirche, die vor 1933 noch ihren Priestern verboten hatte, Mitglied der NSDAP zu werden, war durch das Konkordat, das sie mit der Hitler-Regierung abgeschlossen hatte, mit dem NS- Regime vertraglich verbunden und hoffte, dadurch ihre bisherige Unabhängigkeit bewahren zu können. Das katholische Milieu, das sich vor allem in Bayern lange Zeit als recht resistent gegenüber dem Nationalsozialismus erwiesen hatte, öffnete sich erkennbar in den Reichstagswahlen im März 1933. Auch unter der katholischen Bevölkerung gewann der Nationalsozialismus an Zustimmung, obwohl zum Beispiel in den katholischen Jugendverbänden nach wie vor der Wille zur Selbstbehauptung stark war.

Demgegenüber hatten zahlreiche protestantische Wähler der NSDAP schon in der Weimarer Republik ihre Stimmen gegeben, evangelische Pastoren hatten für sie geworben. Der bekannte protestantische Berliner Bischof Otto Dibelius, der später Mitglied der Bekennenden Kirche wurde, schrieb zu Ostern 1933 an die Pastoren seiner Provinz in einem vertraulichen Rundbrief, dass für die Motive, aus denen die völkische Bewegung hervorging, "wir alle nicht nur Verständnis, sondern volle Sympathie haben. Ich habe mich trotz des bösen Klanges, den das Wort vielfach angenommen hat, immer als Antisemiten gewusst. Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt."

Doch die Zuversicht der NS-Führung auf rasche "Gleichschaltung" auch der protestantischen Kirchen trog. Der Versuch, den Königsberger Pfarrer Ludwig Müller zum Reichsbischof zu ernennen und damit eine politisch konforme zentrale Leitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche zu installieren, stieß auf das innerkirchliche Beharrungsvermögen zugunsten der traditionellen föderalen Struktur. Als die nationalsozialistischen Eiferer unter den Protestanten, die sich "Deutsche Christen" nannten, im November 1933 auf einer Großkundgebung lauthals die Abschaffung des Alten Testaments und der angeblich jüdischen Theologie des Paulus forderten, gründeten evangelische Pastoren einen Notbund.

Im Mai 1934 versammelten sich Vertreter aus allen evangelischen Glaubensgemeinschaften in Barmen zu einer Bekenntnissynode, auf der an der Heiligen Schrift als unantastbarem Fundament des Glaubens festgehalten wurde. Insbesondere der Theologe Karl Barth trat mit unmissverständlichen Stellungnahmen gegen jeden Versuch, den protestantischen Glauben nationalsozialistisch zu instrumentalisieren, hervor. Die evangelischen Gemeinden, in denen es zahlreiche Anhänger des Nationalsozialismus gab, wurden damit gespalten, mitunter sogar zerrissen, auch wenn sich die große Mehrheit der Kirchenmitglieder weder den Deutschen Christen noch den Bekenntnischristen anschlossen, sondern ihren christlichen Glauben durchaus mit ihrer Zustimmung zum Regime verbinden konnten. Entmachtung der SA

Die einzige tatsächliche Bedrohung des Regimes kam von innen. Die SA, 1933 mit rund zwei Millionen Mitgliedern um etliches größer als die Reichswehr, die laut Versailler Vertrag nicht mehr als 100000 Soldaten umfassen durfte, stellte einen virulenten Unruheherd dar, zumal zahlreiche SA-Angehörige, die sich mit der Machtübernahme auch persönliche Vorteile, vor allem einen Arbeitsplatz im neuen Staat, erhofft hatten, noch leer ausgegangen waren. Darüber hinaus existierte im SA-Führerkorps, dessen Chef Ernst Röhm zu den frühen Förderern und langjährigen Weggefährten Hitlers zählte, die Vorstellung, die SA könne als braune Volksarmee die Reichswehr ablösen. Zwar kursierte das Wort von der zweiten Revolution, aber an einen Putsch dachte in der SA-Führung niemand.

Außerdem kriselte das Regime zu Beginn des Jahres 1934, weil der Schwung der anfänglichen Begeisterung dem nüchternen Alltag wich. Insbesondere im bürgerlich-konservativen Lager kamen, nachdem die Deutschnationalen als Machtfaktor weggebrochen waren, Befürchtungen auf, das NS- Regime könne doch noch zu einer braunen Diktatur der Massen werden. Im Juni 1934 hielt Vizekanzler von Papen eine von Edgar Jung, einem seiner engagiert "jungkonservativen" Mitarbeiter geschriebene Rede, in der er Korruption, Charakterlosigkeit und Anmaßung der neuen NS-Machtelite anprangerte.

Mit einem entschlossenen Zugreifen erhoffte sich Hitler, sowohl die SA als Machtzentrum wie auch

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 163 eine mögliche konservative Opposition zu liquidieren und dabei gleichzeitig das Militär eng an das NS- Regime zu binden. Göring, SS-Chef Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich, der mittlerweile zum Chef der preußischen Geheimen Staatspolizei ernannt worden war, betrieben eifrig die Ausschaltung ihrer Machtkonkurrenten. Am 30. Juni 1934 nahmen SS- und Polizeieinheiten in Anwesenheit von Hitler, der persönlich angereist war, die SA-Führung in Bad Wiessee fest und ermordeten sie. Zugleich wurden anhand vorbereiteter Listen in Berlin und in anderen Städten hohe SA-Führer, aber auch Personen wie Edgar Jung, Papens Privatsekretär Herbert von Bose, der Leiter der Katholischen Aktion , der ehemalige bayerische Generalstaatskommissar und Verbündete beim Putsch im November 1923, Gustav Ritter von Kahr, der ehemalige Reichskanzler und Reichswehrgeneral Kurt von Schleicher sowie dessen Mitarbeiter Generalmajor Ferdinand von Bredow und der einstige innerparteiliche Gegner Gregor Straßer erschossen. Insgesamt fielen etwa 300 Menschen den Morden zum Opfer. Hitler ließ am 3. Juli im Nachhinein per Gesetz die "vollzogenen Maßnahmen als Staatsnotwehr für rechtens" erklären, nicht zuletzt unterstützt vom Staatsrechtler Carl Schmitt, der unter dem Titel "Der Führer schützt das Recht" die staatlichen Morde nachträglich in einem Artikel juristisch rechtfertigte.

Das Bürgertum zeigte sich erleichtert, dass nun anscheinend Ordnung geschaffen wurde, und die Reichswehr war zufrieden, da sie sich in ihrem Anspruch als "einziger Waffenträger der Nation" bestätigt sah. Die Hamburger Lehrerin Luise Solmitz rühmte in ihrem Tagebuch, was Hitler "in München geleistet hat an persönlichem Mut, an Entschluss- und Schlagkraft, das ist einzigartig". Auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg verglich die staatlich angeordneten Morde mit dem Platzen einer Eiterbeule, mit dem endlich klare Verhältnisse geschaffen worden seien. Von keiner Seite, auch nicht von den Kirchen, wurden die Morde missbilligt, obwohl sich Offiziere ebenso wie der katholische Politiker Klausener unter den Opfern befanden.

Als Reichspräsident Hindenburg wenige Wochen später im Alter von 86 Jahren am 2. August starb, entwarf die Reichswehrführung aus eigener Initiative eine neue Eidesformel, mit der alle Soldaten nicht mehr auf die Verfassung oder das Vaterland, sondern auf den "Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler" vereidigt wurden, dem "unbedingter Gehorsam" zu leisten sei. Am 19. August 1934 stimmten nahezu 90 Prozent in einer Volksabstimmung, die allerdings nicht mehr frei und kaum noch geheim war, zu, dass Hitler nunmehr die Ämter des Staatsoberhauptes, Reichskanzlers, Parteiführers und Obersten Befehlshabers in seiner Person vereinigte. Der "Führerstaat" war konstituiert. Aus: INFORMATIONEN ZUR POLITISCHEN BILDUNG NR. 314/2012 (http://www.bpb.de/ izpb/137182/nationalsozialismus-aufstieg-und-herrschaft)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 164

"Volksgemeinschaft"

25.4.2012

Durch Einbindung aller Gesellschaftsgruppen und "Gleichschaltung" von Presse und Rundfunk versucht das Regime, die Bevölkerung zu vereinnahmen. Propaganda, tatsächliche und angebliche Erfolge in Politik und Wirtschaft sowie Gemeinschaftsaktionen sollen Zuversicht und ein Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln. Wer nicht Teil der "Volksgemeinschaft" ist, erlebt Ausgrenzung und Benachteiligung.

Einleitung

Die Umwälzungen der Jahre 1933/34 hatten Staat und Gesellschaft grundlegend verändert. Alle Parteien bis auf die NSDAP waren aufgelöst, die Gewerkschaften zerschlagen, der Rechtsstaat durch die Reichstagsbrandverordnung ausgesetzt, die parlamentarische Demokratie beseitigt. Das Reichskabinett tagte nur noch sporadisch. Stattdessen organisierte der Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, die Gesetze im Umlaufverfahren, indem die beteiligten Ministerien nacheinander ihre Zustimmung gaben, wobei Hitler stets das entscheidende Wort hatte. Ähnlich war auf der Länderebene die politische Gewalt auf die Reichsstatthalter übergegangen, die in Personalunion meistens zugleich die NSDAP-Gauleiter waren. Diese langjährigen Parteikämpfer bildeten den tatsächlichen Machtkern der NSDAP, auf sie stützte sich Hitler in seinen wichtigen politischen Entscheidungen.

Die NSDAP baute eigene politische Strukturen auf, die zum Teil mit den staatlichen verklammert waren, zum Teil neben ihnen her und über sie hinweg existierten. So wurde Heinrich Himmler als Reichsführer SS und damit Führer einer Gliederung der NSDAP 1936 Chef der gesamten deutschen Polizei und sorgte in den kommenden Jahren dafür, dass dieses zentrale Exekutivinstrument ein von der SS gelenktes und durchdrungenes Herrschaftsmedium des NS-Regimes wurde. Joseph Goebbels lenkte als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda sowie als Präsident der Reichskulturkammer den öffentlichen Diskurs, Presse, Rundfunk, Film und Kunst, in einem Ausmaß, das noch wenige Jahre zuvor in der kulturellen Vielfalt der Weimarer Republik kaum denkbar gewesen wäre. Zudem blieb er als Gauleiter von Berlin gerade in der Reichshauptstadt ein zentraler politischer Akteur, der insbesondere die Verfolgung der Juden immer wieder antrieb. Hermann Göring vereinigte in seiner Person nicht nur die Funktion des mächtigen Ministerpräsidenten Preußens als größtem und wichtigstem Land des Deutschen Reiches. Er war zudem Oberbefehlshaber der und Reichsluftfahrtminister und wurde 1936 zunächst zum Rohstoff- und Devisenkommissar, dann zum Beauftragten des Vierjahresplans ernannt. Damit errang er faktisch, obwohl es nach wie vor einen Reichswirtschaftsminister gab, die Rolle eines Wirtschaftsdiktators, der die Wirtschaft auf den Krieg ausrichtete und die Ausplünderung der Juden in Deutschland wie später in den besetzten Gebieten organisierte.

Diese Parallel- und Sonderstrukturen sorgten dafür, dass es innerhalb des Herrschaftsgefüges des NS-Regimes zu Machtrivalitäten, Kompetenzgerangel und Ämterwirrwarr kam. zum Beispiel, den Hitler zu seinem Lieblingsarchitekten erkor und dem er die Zukunftsplanung für die Reichshauptstadt übertrug, stand in einer steten Auseinandersetzung mit der Berliner Verwaltung und dem Oberbürgermeister Julius Lippert, die dieser bezeichnenderweise verlor und die 1940 zu dessen Rücktritt führte.

Ohne die Bereitwilligkeit der alten Eliten, das nationalsozialistische Regime zu stützen, wären die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 165 neuen Herrscher sicher rasch an ihr Ende gelangt. Die Militärs erhofften sich einen starken Ausbau der Rüstung und eine Militarisierung der Gesellschaft, die den "Wehrgedanken" in den Mittelpunkt stellte. Die Unternehmer waren selbstverständlich mit der Zerschlagung der Arbeiterorganisationen einverstanden und erwarteten, dass ihre autoritäre Befehlsgewalt im Betrieb wieder ungehindert zur Geltung kam. Die Bürokratie sah sich zwar mit neuen politischen Strukturen konfrontiert, wurde aber vom NS-Regime von den rechtsstaatlichen Einschränkungen befreit und glaubte, nun endlich nach eigenem Gutdünken walten zu können. Der junge preußische Beamte Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, der sich später zu einem Gegner Hitlers wandelte, am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt war und deswegen hingerichtet wurde, hatte in einer Denkschrift im April 1933 gefordert, dass sich die Beamten der Zukunft als "eine Streitmacht von politischen Kämpfern" verstehen sollten. Noch bestanden formalrechtliche Verwaltungsstrukturen parallel zu den politisch dominierten. Aber insbesondere die Verfolgung der Juden eröffnete selbst Finanzbeamten einen "Ermöglichungsraum", der die bisherige rechtsstaatliche Ordnung, die ihren Bürgern gleiche Rechte und Pflichten einräumt, zerstörte und Juden, aber auch Roma und Sinti, sogenannte Asoziale, kranke und behinderte Menschen zu Bürgern zweiter Klasse herabminderte, die der Verfolgung schutzlos ausgeliefert waren.

Die Herrschaftsstruktur des "Führerstaates" war durchaus vielgestaltig, rivalisierend, auch überschneidend und widersprüchlich. Eine einheitliche, feste und überschaubare Ordnung von Regierung und Verwaltung wurde nie erreicht. Doch bedeutete dies keineswegs zwangsläufig Chaos und Schwäche des Systems. Vielmehr konnte die Einsetzung von "Kommissaren" und "Sonderstäben" immer wieder zu einem Abbau traditioneller Hierarchien, Verkürzung von Verwaltungswegen, Verstärkung von Kooperation unterschiedlicher Institutionen und damit zur Effizienz und Mobilisierung von Ressourcen beitragen. So sehr auch Machtkämpfe innerhalb des nationalsozialistischen Apparates, Kompetenzkonflikte zwischen wirtschaftlichen oder staatlichen Entscheidungsträgern mit der NSDAP die Politik bestimmten, so stark bestand die Fähigkeit des NS-Regimes gerade darin, daraus immer wieder eine Handlungsoption abzuleiten. Der britische Historiker hat die Bereitschaft so vieler verschiedener Institutionen zur Mitarbeit mit dem Willen, "dem Führer entgegen zu arbeiten" begründet. Gerade die "Un"-Ordnung des NS-Regimes öffnete dem Engagement und der Handlungsbereitschaft viele Möglichkeiten, stets im Glauben, mit dem eigenen Tun im System aufzusteigen und zum Gelingen des Ganzen beizutragen.

Zusammengehalten wurde diese polykratische Struktur des NS-Regimes durch den "Führer", der an der Spitze von Staat und Gesellschaft stand und uneingeschränkte Entscheidungsmacht besaß. Kaum einem anderen Politiker des 20. Jahrhunderts ist es wie Hitler gelungen, die Sehnsüchte von Menschen nach sozialer und politischer Ordnung im Glauben an seine Person als "Führer" zu binden, die traditionellen Eliten auf sich zu verpflichten und in den unvermeidlichen Machtkämpfen und Interessenskämpfen als entscheidende Instanz zu fungieren. Auf den "Führerwillen" beriefen sich alle Machtträger des Regimes; auf Hitlers Wort kam es an, wenn Rivalitäten zu klären und Entscheidungskonflikte zu lösen waren. Hitler besaß eine Machtstellung im NS-Regime, die, gerade weil sie von der weitgehenden Zustimmung der Bevölkerung getragen war, sicher einzigartig war.

Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig.

Charismatische Herrschaft oder Terrorsystem?

Von Max Weber, einem Gründervater der Soziologie, stammt die Unterscheidung der drei reinen Typen der legitimen Herrschaft: der traditionalen, der rational-bürokratischen und der charismatischen. Letztere hängt an der Ausstrahlung einer einzelnen Person. Ist der NS-Staat ein Fall charismatischer Herrschaft? Oder hielt ihn Terror zusammen? Die Historiker Hans-Ulrich Wehler, Ludolf Herbst und der Soziologe M. Rainer Lepsius nehmen Stellung.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 166

[...][A]uch 65 Jahre nach dem Untergang des NS-Staates konkurrieren denkbar unterschiedliche Deutungen der Diktatur und ihres „Führers“ miteinander. [...] Zuletzt hat Ian Kershaw in seiner zweibändigen Hitler-Biographie den Weberschen Idealtypus der charismatischen Herrschaft effektiv genutzt, um mit einer schlüssigen Interpretation Hitlers Sonderstellung in einer rational kontrollier-baren Form zu erfassen. [...]

Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft besitzt wie eine Ellipse zwei Brennpunkte. Im ersten Zentrum steht das kriegerische, rhetorische, religiöse, politische Sondertalent des Charismaträgers, der dank einer existentiellen Krise aufsteigt und sich dann als Retter in der Not bewähren muss. Sein Personalcharisma prägt die durch eine „Gesinnungsrevolution“, die Metanoia, zusammengeführte, auf persönlicher Loyalität beruhende charismatische Gemeinschaft seiner gläubigen Anhänger. Die Verwaltungsstäbe werden nicht auf der Grundlage sachlicher Qualifikation, sondern durch das persönliche Vertrauen des Charismatikers gebildet. Der Konkurrenzkampf rivalisierender Machtzentren erzeugt ein polykratisches System, in dem er die letztinstanzliche Entscheidungskompetenz gewinnt oder doch die Schiedsrichterrolle besetzt.

Das zweite Zentrum besteht aus der Zuschreibung charismatischer Fähigkeiten durch die Gesellschaft (jedenfalls wachsender Segmente von ihr), die dank der politischen Kultur des Landes die Neigung gespeichert hat, großen Persönlichkeiten ihr politisches Geschick namentlich in Krisensituationen anzuvertrauen. Diese Zuschreibungsbereitschaft ist mindestens ebenso wirksam wie die Aura des charismatischen Sondertalents. Insofern kommt es bei der Interpretation charismatischer Herrschaft stets darauf an, die erwartungsvolle, durch einen Vertrauensvorschuss gestützte Zuschreibung hoch zu gewichten. Darauf zielt auch Kershaws Schlüsselzitat ab, dem „Führer entgegen zu arbeiten“. [...]

Tatsächlich konnte [...] nur die charismatische Herrschaft Hitlers die Destruktivkräfte der Epoche auf so fatale Weise bündeln – fast bis zum Ende von der Zustimmung einer Mehrheit in der deutschen Gesellschaft getragen. Die These von der Messias-Erfindung durch einige strategisch platzierte Helfershelfer, damit auch von der erfolgreichen manipulatorischen Propaganda verfehlt das Phänomen Hitler und den Nationalsozialismus ganz und gar. Sie lenkt nicht nur von einer begriffsscharfen Analyse der Führerdiktatur ab, sondern auch von der unverändert irritierenden Zustimmungsbereitschaft all jener, die das Charisma beharrlich, ja fanatisch zuzuschreiben bereit waren. Dass so viele Deutsche in erster Linie von einer geschickten Propaganda für den Messias verführt worden seien, läuft daher letztlich auf eine verblüffende Verharmlosung der politischen Antriebskräfte der deutschen Gesellschaft in den fatalen Jahren zwischen 1920 und 1945 hinaus.

Hans-Ulrich Wehler, „Kräfte einer trübseligen Figur. Die Diktatur fand reale Zustimmung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Juli 2011

[…] Für die Historiker stellte sich in Bezug auf die Person Hitlers die Frage, wie ein so durchschnittlich begabter und nach allen bürgerlichen Leistungskriterien zu wenig Hoffnungen berechtigender Mensch eine so große, wenn auch verhängnisvolle Wirkung hatte entfalten können. Die Antwort suchten sie in einer Analyse der komplexen wechselseitigen Beziehungen zwischen der Person Hitlers und den bürokratischen Apparaten, die den totalen Staat, an dessen Spitze Hitler seit 1933 stand, in allen Lebensbereichen prägten und durchdrangen. Im Rahmen der Totalitarismusforschung wurde die Aufmerksamkeit auf den Propaganda- und Terrorapparat gelenkt. Strukturgeschichte wurde mit biographischen Ansätzen verknüpft, denn so viel lässt sich in der Moderne für jedes Gesellschafts- und Staatssystem sagen: Auf sich allein gestellt, bleibt selbst der mächtigste Politiker machtlos. Die Charakterisierung Hitlers als „schier omnipotenter charismatischer Führer“ (Wehler) haben NS-

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 167

Forscher wie Karl Dietrich Bracher, Martin Broszat oder Hans Mommsen aus gutem Grund vermieden. [...]

Die Charakterisierung der Hitler-Diktatur als charismatische Herrschaft geht in die Irre, weil sie die Propagandafassade, die die NSDAP zur Legitimierung ihrer Herrschaft errichtete, für die Wirklichkeit nimmt. Die von der Propaganda be- hauptete und heute vielfältig nachgebetete unmittelbare emotionale Beziehung zwischen Führer und Volk war doch gerade darauf angelegt, die komplexe und mit gravierenden Problemen behaftete gesellschaftliche Wirklichkeit im sogenannten „Dritten Reich“ zu überblenden. Wenn der Historiker diesem Trugbild folgt, entgeht ihm – um das Mindeste zu sagen – der zentrale Aspekt des nationalsozialistischen Herrschaftssystems: die Bürokratisierung und Durchdringung aller Lebensbereiche mit Kommandostrukturen. Sie sollten sicherstellen, dass die politische Führung ihre irrwitzigen, jeder Vernunft und Humanität widersprechenden und weit über die Kraft Deutschlands hinausgehenden Ziele verfolgen konnte.

Dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Leistung zwang die NS-Führung dazu, alle Lebensbereiche mit einem Netz von Lenkungsbehörden zu überziehen. Hitler persönlich spielte in diesem Netzwerk gewiss eine zentrale Rolle – nicht aber als Person und Charismaträger, sondern als Appellationsinstanz. Das Funktionieren eines solchen komplexen Systems ließ sich nur gewährleisten, wenn Hitlers Rolle vollständig entpersönlicht wurde. Der Führer wurde zum Prinzip.

Das „Dritte Reich“ war eine Führer-Diktatur nicht, weil „der“ Führer an ihrer Spitze stand, sondern weil auf allen Ebenen das Führerprinzip galt. Das Gesamtsystem ist daher gerade nicht von dem einen Führer her zu verstehen, sondern von der Vielzahl der Führer und Unterführer her, die an allen Knotenpunkten plaziert waren. Um sich in diesem System zurechtzufinden, benötigte schon der Zeitgenosse ein Führer-Lexikon, das wie ein Telefonbuch in ständig aktualisierter Form für jeden Lebens- und Funktionsbereich herausgegeben wurde. Die wichtigeren dieser Führer-Funktionäre waren in mehrere Hierarchien gleichzeitig eingebunden. So ließ sich, die Konzentrationslager im Rücken, der Einfluss der SS und der Partei auf allen Ebenen sicherstellen.

Das nationalsozialistische Herrschaftssystem mit seiner monolithischen Fassade war ebenso komplex wie labil. Es wäre daher völlig falsch anzunehmen, darin habe nur ein Wille, nämlich der Adolf Hitlers, gegolten und man habe diesem „entgegen gearbeitet“. Vielmehr wies diese Machtstruktur eine Tendenz auf, sich zu einem Diadochensystem zu entwickeln. Wenn man daher vom „Führerstaat“ spricht, ist dies nur gerechtfertigt, wenn man den Plural mitdenkt und den Blick auf das Führer-Prinzip richtet und nicht auf die Person des Führers an der Spitze.[...]

Ludolf Herbst, „Nicht Charisma, sondern Terror. Der Propagandafassade entsprach keine Wirklichkeit “, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Juli 2011

[...] Es empfiehlt sich, Max Weber, der den Begriff der charismatischen Herrschaft vor dem Ersten Weltkrieg prägte, genauer zu konsultieren. Dort wird man lesen können, dass „Charisma“ die „außeralltägliche Eigenschaft“ einer Persönlichkeit heißen soll, die von Kräften ausgeht, die letztlich „gottgesandt“ sind. Ihretwegen wird der Charismatiker als vorbildlicher Führer bewertet. Die Faszination durch die prätendierte Mission verbindet sich mit der Faszination durch die Person. Charisma hat dabei begrifflich keine positive Konnotation. Auch ein so durchschnittlicher und verbrecherischer Mensch wie Adolf Hitler kann Charisma haben.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 168

Der Charismatiker steht im Dienst von „transzendentalen Mächten“, im Falle Hitlers der „Vorsehung“, und hat eine „Mission“, im Falle Hitlers die Erneuerung der Weltgeltung Deutschlands. Die Parole der Kampfzeit hieß dementsprechend: „Deutschland, erwache!“ Für viele Zeitgenossen war Hitler auch ein „Erweckungserlebnis“. Die Anerkennung des Führers ist nicht nur die persönliche Verehrung, sie ist – wie Weber sagt – „Pflicht“, nämlich eine Verpflichtung auf die Ideale, die der Charismatiker zu erfüllen verspricht.

Die charismatische Beziehung ist eine zweiseitige. Derjenige, der Charisma zu haben prätendiert, muss seinen Anspruch bewähren, bei Hitler in der Kampfzeit zunächst durch Erfolge bei Großkundgebungen durch seine Rhetorik, später durch Wahlerfolge [...]. Nach der Machtergreifung bewährten sich der charismatische Anspruch einerseits über den Rückgang der Arbeitslosigkeit (wobei die Kausalität von Hitlers Maßnahmen irrelevant ist) und die außenpolitischen Erfolge, die faktisch die Außerkraftsetzung des Versailler Friedensvertrages bedeuteten.

Diese beruhen auf der von Hitler getragenen Bereitschaft zum Hazard, zum Risiko eines Krieges. Das war weder Rhetorik noch von der Bevölkerung gewollt. Zu Beginn des Krieges dienten die militärischen Siege als Bewährungsproben (wobei es wiede- rum irrelevant ist, ob sie durch Hitlers Entscheidungen erreicht wurden). Ein in diesem Sinne bewährtes Charisma ist nicht die Erfindung manipulativer Propaganda, sosehr diese auch zur Verbreitung des Glaubens an Hitlers Charisma beigetragen haben mag.

Andererseits erheben die Charismageber auch ihrerseits materielle Ansprüche, die der Charismatiker erfüllen soll. Dies erfolgte zunächst für die jungen arbeitslosen Gefolgsmänner innerhalb der wachsenden Parteiorganisation und ihrer Milizen, später durch Pfründen im Staatsapparat und im Reichsarbeitsdienst, schließlich durch die rasche Ausweitung des Militärs, finanziert durch die Verschuldung des Reichshaushaltes. Nach der Machtübernahme blieben die Löhne eingefroren. An die Stelle der Einkommenserhöhung traten symbolische Maßnahmen: Kraft durch Freude, Winterhilfswerk, Mustersiedlungen.[...]

Die charismatische Beziehung muss von der charismatischen Herrschaft unterschieden werden. Letztere wird durch eine weitgehende Entinstitutionalisierung der geltenden Ordnung realisiert. Personalisierung bedeutet immer auch Entinstitutionalisierung der Herrschaft. Wie Max Weber ausführt, kennt der Verwaltungsstab kein Beamtentum, sondern rekrutiert sich aus den „Jüngern“, die das Vertrauen des Führers haben. Es gibt keine feststehenden Behörden. Ad hoc eingesetzte führerunmittelbare Sonderstäbe handeln im direkten Auftrag des Führers. Das dadurch hervorgerufene Verwaltungschaos ist kein Argument gegen die charismatische Herrschaft, sondern gerade ihr Ergebnis: Die Handlungswillkür des Führers soll nicht durch die Zuständigkeiten anderer eingeengt werden. Hitler widersetzte sich rechtsverbindlichen Neuregelungen, etwa einem neuen nationalsozialistischen Strafgesetzbuch oder den Versuchen des Innenministers Frick, eine neue Behördenorganisation durchzusetzen.

Um ein solches Regime zu etablieren, müssen alle ihm entgegenstehenden Institutionen aufgelöst werden. Die Natio-nalsozialisten handelten entsprechend konsequent und rasch. Vier Wochen nach der Machtübernahme wurde die Notverordnung erlassen, die verfassungsmäßige Bürgerrechte aufhob, und nach weiteren drei Wochen erfolgte das Ermächtigungsgesetz, das die Gesetzgebungskompetenz des Reichstages für vier Jahre suspendierte. Schließlich wurden nach dem Tod von Hindenburg die Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten fusioniert. Der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 169

Willkürherrschaft waren keine institutionellen Grenzen gesetzt. Es gab keine Meinungsfreiheit mehr, und die politische Opposition konnte ohne Rechtsschutz sofort kriminalisiert werden. Die charismatische Herrschaft ist mehr als eine bloß emotionale Vergemeinschaftung, sie ist eine Struktur der politischen Herrschaft.

Dabei gilt es zu beachten, dass für die Leitung und die Organisation eines komplexen Industriestaates keineswegs alles nach den Maximen eines charismatischen Herrschaftsverbandes geregelt werden kann. So unterschied schon Ernst Fraenkel zwischen der Regelverwaltung und der Maßnahmeverwaltung. Der Führer musste nicht alles selbst entscheiden, es genügte, dass nichts Wesentliches gegen seine Vetomacht entschieden werden konnte. Er delegierte an die von ihm ausgewählten Vertrauensleute, war deshalb aber kein „schwacher Diktator“. Er behielt die ihm für seine „Mission“, für Kriegsvorbereitung und „Ausmerzung“ der Juden wichtigen Entscheidungen in seiner Hand. Die charismatische Herrschaft beruht keineswegs nur auf dem Charisma des Herrschers oder auf Terror gegen die Opposition.

Der Entscheidungsprozess folgt einem militärischen Modell: hierarchisch gestufte Befehlsgebung mit Gehorsamspflicht durch einen Befehlshaber. Es gibt keine kollektive Willensbildung und Entscheidungsfindung. Schon in der NSDAP gab es keinen Parteirat oder kollegialen Vereinsvorstand. Selbst die von Hitler bestellten Gauleiter durften sich nicht versammeln und beraten. So war es dann auch im Reich: Die Kabinettssitzungen wurden eingestellt, die Willensbildung erfolgte in Einzelgesprächen zwischen Hitler und den jeweiligen Befehlshabern. Die individuellen Zugangschancen zu Hitler und die von ihm häufig nur mündlich gegebenen Einzelanweisungen bestimmten ihr Eigengewicht und das ihrer Verwaltungsstäbe. Insofern gab es auch keine institutionellen Regelungen, um Hitler abzusetzen (wie im Italien Mussolinis). Die Tötung Hitlers war der einzige und illegale Weg, Hitlers Herrschaft zu beenden.[...]

Das Hitler-Regime ist nicht einfach als charismatische Herrschaft zu charakterisieren, das durch einen bedingungslosen Glauben an das persönliche Charisma Hitlers legitimiert wurde. Große Teile der Herrschaftsausübung folgten dem Modell der bürokratischen Herrschaft und dem Legitimitätsglauben an die Gültigkeit der Gesetzmäßigkeit der Anordnungen, ohne auf einen charismatischen Glauben zu rekurrieren.

[...] Wir haben es also zu tun mit einem Mischsystem […]. Die Persönlichkeit von Adolf Hitler besaß bis zum Kriegsende die Fähigkeit, Zweifelnde und Kritiker (etwa Generäle) im Vier-Augen-Gespräch immer wieder von seinem prätendierten Charisma zu überzeugen.

M. Rainer Lepsius, „Max Weber, Charisma und Hitler“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 2011

Ohne Zweifel trug zum "Führermythos" auch die geschickte Propaganda bei, die die wirtschaftlichen, arbeitsmarktpolitischen und außenpolitischen Erfolge des Regimes in erster Linie Hitler zuschrieb. Die Inszenierung der Reichsparteitage stand ganz im Zeichen der Symbiose von "Bewegung" und "Führer". Während der Olympischen Spiele in Garmisch-Partenkirchen und Berlin 1936 präsentierte sich Deutschland als erfolgreiche, wieder erstarkte Nation mit Hitler als international respektiertem Staatsmann an der Spitze. Goebbels und sein Propagandaapparat unternahmen jede Anstrengung, den "Führerkult" zu verstärken und Hitler als nationalen Retter, als Erlöser und Heilsbringer erscheinen zu lassen. Das religiöse Element, wie es in der liturgischen Inszenierung von Parteitagen, nächtlichen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 170

Weihen oder in den Totenehrungen zum Ausdruck kam, war offensichtlich, zumal Hitler diese Dimension zusätzlich verstärkte, indem er sich als von der "Vorsehung geschickt", als "auserwählt" und vom "Schicksal bestimmt" bezeichnete.

Aber die Begeisterung, die so viele Deutsche teilten, war nicht nur ein Werk von Verführung und Propaganda. Mit Hitler verband sich nicht nur die Erwartung, dass er Deutschland aus der Krise, sondern vor allem zu neuer Größe führen werde. Das Zukunfts- und Heilsversprechen, das Hitler verhieß, gepaart mit den realen Erfolgen, die das Regime vorzuweisen hatte, bildete die Basis für die enorme Selbstmobilisierung der deutschen Gesellschaft in den Vorkriegsjahren. Selbst dort, wo Korruption und Misswirtschaft nicht zu übersehen waren, wurde dies nicht dem "Führer" als vielmehr seinen unvollkommenen Gehilfen angelastet. "Wenn der Führer das wüsste" geriet zu einer gängigen Selbsttäuschungsformel, mit der sogar Unrecht und Verbrechen vom Glauben an Hitler abgespalten werden konnten.

Ohne diese Bereitschaft zur Selbstmobilisierung ist der Nationalsozialismus nicht zu verstehen. Die Verheißung einer "Volksgemeinschaft" war nicht bloß eine Propagandaformel, mit der die nach wie vor anhaltenden sozialen Ungleichheiten ideologisch kaschiert werden sollten, sondern sie bildete den Zielpunkt einer künftigen sozialen Ordnung, der sich viele aus durchaus ganz unterschiedlichen Gründen verschrieben. "Wenn ich den Gründen nachforsche, die es mir verlockend machten, in die Hitler-Jugend einzutreten", bekannte nach dem Krieg die ehemalige BDM-Funktionärin Melitta Maschmann, 1918 geboren und seit 1933, gegen den Willen ihrer rechtskonservativen Eltern, BDM- Mitglied, "so stoße ich auch auf diesen: Ich wollte aus meinem kindlichen, engen Leben heraus und wollte mich an etwas binden, das groß und wesentlich war. Dieses Verlangen teilte ich mit unzähligen Altersgenossen."

Das Ziel nationalsozialistischer Politik lag in der Herstellung der "Volksgemeinschaft", einer Gesellschaftsordnung, der nur die "erbbiologisch wertvollen" und "rassereinen" Deutschen angehören und aus der die "Fremdvölkischen" und "Gemeinschaftsfremden", allen voran die Juden, ausgeschlossen werden sollten. Inklusion wie Exklusion sind daher die beiden untrennbar zusammengehörenden Seiten der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft".

Sprache und Sprachlenkung im Nationalsozialismus

[...] Der NS-Staat [...] brachte als totalitäres Regime sämtliche Informationsmedien unter seine Kontrolle – mit dem Ziel der totalen propagandistischen Durchdringung der Bevölkerung, wie es Hitler schon in „Mein Kampf“ gefordert hatte. Abgesehen von den meist von NS-Funktionären verfassten Wörter-büchern, die 1933 in großer Zahl herauskamen (zum Beispiel das ‚Politisches ABC des neuen Reiches‘, ‚Das ABC des Nationalsozialismus‘ oder das ‚Taschenwörterbuch des Nationalsozialismus ‘) wurden daher alle neu erscheinenden, aber auch bestehende Wörterbücher und Enzyklopädien den ideologischen Anforderungen des Dritten Reichs angepasst. [...]

Ein [...] Beispiel: Vergleicht man die Duden-Auflagen vor 1933 mit den Auflagen von 1934 und 1941, so zeigt sich eine markant zunehmende Anzahl neu aufgenommener NS-Vokabeln. In der 11. Auflage von 1934 waren es 180 (wie z. B. Arbeitsfront, Arbeitslager, aufnorden, Deutscher Gruß, ) und in der 12. Auflage von 1941 bereits 883. Viele neue Einträge (wie etwa Rassenschande, Vierteljude, Volljude, Volksgenosse, Volksschädling) wurden bereits in der 1. Nachkriegsauflage von 1948 wieder getilgt. Andere Wörter wie vollelterig oder deutschvölkisch verschwanden erst in der 14. Auflage von 1957, Volksfremd und auswuchern (durch Wucher ausbeuten) erst in der 15. Auflage im Jahr 1961. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 171

Zur Vereinheitlichung der Nachrichtengebung, zur inhaltlichen Kontrolle, aber auch zur Normierung der Nachrichtenformulierung in den verbliebenen Zeitungen gab es die „Anweisungen der Pressekonferenz der Reichsregierung des Dritten Reichs“. Diese wurden auf der täglich stattfindenden Pressekonferenz in Berlin von den Korrespondenten mitgeschrieben und an die Heimatredaktionen weitergegeben. Zeitungen ohne eigenen Korrespondenten erhielten das offizielle Protokoll über die Gaupropagandaämter. Goebbels persönlich überwachte das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB), das als einzige Agentur von Bedeutung übriggeblieben war. Obwohl häufig in verbindlichem Ton formuliert, mussten die Presseanweisungen, auch die über die Einführung oder Zurückziehung von Schlagwörtern und Parolen, über den Gebrauch oder Nichtgebrauch von Ausdrücken, streng beachtet werden. Andernfalls machte sich der verantwortliche Journalist strafbar, und die betreffende Zeitung konnte wegen Landesverrats für einen Tag, eine Woche oder länger, oder auch ganz verboten werden. [...]

Wichtige Hochwertwörter der nationalsozialistischen Weltanschauung durften nicht profaniert werden: [...]

„Es wird gebeten, das Wort Propaganda nicht missbräuchlich zu verwenden. Propaganda ist im Sinne des neuen Staates gewissermaßen ein gesetzlich geschützter Begriff und soll nicht für abfällige Dinge Verwendung finden. Es gibt also keine Greuelpropaganda, keine bolschewistische Propaganda, sondern nur eine Greuelhetze, Greuelagitation, Greuelkampagne usw. Kurzum – Propaganda nur dann, wenn für uns, Hetze, wenn gegen uns.“ (28.7.1937) [...]

Für die umstrittene Bezeichnung Reichskristallnacht gibt es im Übrigen keinen zeitgenössischen schriftlichen Beleg. Sie war offenbar ein Element der inoffiziellen mündlichen Sprache. [...]

In Hitlers „Mein Kampf“ zählt Hermann Hammer allein 2294 Änderungen von der 1. Auflage 1925/27 bis zur 6. Auflage 1930/33 – weitere Änderungen folgten bis zur letzten Auflage. Die Änderungen dienten der stilistischen Glättung, kleinen sachlichen Korrekturen, aber auch der Anpassung von bestimmten Textstellen an den ideologisch definierten NS-Sprachgebrauch. [...]

Es wird erkennbar, dass die nationalsozialistische Sprachlenkung durch die Festlegung der Gebrauchsweisen von Wörtern, Schlagwörtern und Slogans auf eine einzige Bedeutung eine Einheitssprache schaffen wollte, die konkurrierenden Meinungen und Interpretationsweisen (W. Dieckmann) das Wort abschnitt, so dass Gegenmeinungen und Gegenargumente in der Öffentlichkeit nicht mehr vernehmbar waren. [...]

Cornelia Schmitz-Berning, 15.10.2010, http://www.bpb.de/politik/grundfragen/sprache-und-politik/42752/ sprache-zur-ns-zeit

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 172 Integration der Arbeiterschaft

Eine der wichtigsten Gruppen, um deren Integration in die "Volksgemeinschaft" sich die Regimeführung sehr bemühte, war die Arbeiterschaft, von der sie wusste, dass sie dem Nationalsozialismus zu einem großen Teil durchaus noch distanziert gegenüberstand. Bei den Betriebsratswahlen im März und April 1933 hatten die Vertreter der Freien Gewerkschaften noch fast drei Viertel der Stimmen erhalten, wohingegen die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) trotz Machtergreifung nur auf gut elf Prozent der Stimmen kam. Die Hitler-Regierung reagierte auf das für sie schlechte Ergebnis mit einer Aussetzung weiterer Wahlen und einem Gesetz Anfang April, mit dem Betriebsräte, die "in staats- und wirtschaftsfeindlichem Sinne eingestellt" seien, abgelöst und neue "ernannt" werden konnten.

Um nach der Zerschlagung der Gewerkschaften kein Machtvakuum in den Betrieben entstehen zu lassen und die organisierte Arbeitnehmerschaft aufzufangen, wurde gleich im Mai 1933 die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Robert Ley gegründet, die die Millionen Gewerkschaftsmitglieder übernahm und zugleich das Vermögen der Gewerkschaften raubte.

Im selben Monat folgte die Einsetzung von sogenannten Treuhändern der Arbeit, die, angeblich unabhängig, tatsächlich jedoch in der Regel zugunsten der Unternehmer, die Lohn- und Arbeitsbedingungen regelten. Die Tarifautonomie war damit aufgehoben. Am 20. Januar 1934 bestätigte das Gesetz zur "Ordnung der nationalen Arbeit" die Rolle der Treuhänder und bestimmte, dass es künftig in den Betrieben nur eine "Betriebsgemeinschaft" mit "Führer" und "Gefolgschaft" geben dürfe. Statt Betriebsräten gab es nun "Vertrauensräte", statt Mitbestimmung nur "Beratung". Als sich dennoch 1935 bei den betrieblichen Wahlen noch Gegenstimmen abzeichneten, erhielten die Treuhänder auch das Recht, "Vertrauensmänner" zu ernennen. Im selben Jahr wurde zudem das "Arbeitsbuch" wieder eingeführt, das die freie Wahl des Arbeitsplatzes einschränkte und darüber hinaus die Kontrolle der Arbeitenden erlaubte.

Diese einschneidenden Regelungen, die die sozialen Konflikte in den Betrieben unterdrücken sollten, waren begleitet von zahlreichen Anstrengungen des NS-Regimes, die Arbeiterschaft zu integrieren. Ziel der DAF war, wie es in der Verordnung Hitlers vom 24. Oktober 1934 hieß, "die Bildung einer wirklichen Volks- und Leistungsgemeinschaft aller Deutschen". Die DAF solle dafür sorgen, "dass jeder einzelne seinen Platz im wirtschaftlichen Leben der Nation in der geistigen und körperlichen Verfassung einnehmen kann, die ihn zu höchster Leistung befähigt und damit den größten Nutzen für die Volksgemeinschaft gewährleistet".

Schon zum 1. Mai 1933 war viel von der "Ehre der Arbeit" die Rede, DAF-Leiter Ley besuchte in den folgenden Monaten zahlreiche Betriebe und machte es sich zur Gewohnheit, demonstrativ Arbeitern an der Werkbank die Hand zu geben. Diese symbolische Geste, die zeigen sollte, dass der "Führer" auf den "einfachen Mann" zugeht und ihm "von Mann zu Mann" die Hand reicht, setzte selbstredend die autoritäre Betriebsverfassung keineswegs außer Kraft, aber die Wirkungskraft solcher "handgreiflicher Anerkennung" darf dennoch nicht unterschätzt werden.

Offiziell war der DAF eine eigenständige Arbeits- und Sozialpolitik verwehrt, und der verordnete Lohnstopp engte ihren Handlungsspielraum erheblich ein. Gerade deswegen versuchte die Organisation nicht bloß propagandistisch, sondern auch materiell auf die Arbeitsbedingungen in den Betrieben Einfluss zu nehmen. Das DAF-Amt "Schönheit der Arbeit" kümmerte sich um die Modernisierung von Betriebskantinen, den Bau von Sportanlagen oder die Verbesserung der Hygiene in den Betrieben. Das Reichsheimstättenamt drängte die Kommunen, den sozialen Wohnungsbau voranzutreiben, und die Firmen, ihren Arbeitern billige Kredite für den Hausbau zur Verfügung zu stellen. Stammarbeiter sollten bevorzugt werden, allerdings hatten sie politisch zuverlässig und "erbgesund" zu sein. Die DAF kümmerte sich um "deutsche Wohnkultur", ließ Mustereinrichtungen entwerfen und Modellmöbel herstellen, die sich durch Funktionalität und Schlichtheit auszeichnen und, weil in hoher Stückzahl hergestellt, zu erschwinglichen Preisen angeboten werden sollten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 173

Das Amt für Volksgesundheit führte ärztliche Vorsorgeuntersuchungen in den Betrieben durch, deren Daten dann statistisch aufbereitet und rassenbiologisch ausgewertet wurden. Als bei einem beachtlichen Teil der Belegschaften ein besorgniserregender Gesundheitszustand erkennbar wurde, weitete das Regime seit 1936/37 die Zahl der Betriebsärzte erheblich aus und förderte den Betriebssport, jedoch mit keineswegs bloß sozialpolitischen Absichten, sondern vor allem, um die Wehrertüchtigung zu stärken.

Die DAF förderte die betriebliche Aus- und Weiterbildung und veranstaltete seit 1934 alljährliche "Reichsberufswettkämpfe", an denen Millionen, zumeist jugendliche Arbeitnehmer teilnahmen. Das Motto lautete: "Freie Bahn dem Tüchtigen!" und verhieß damit, unabhängig von sozialer Herkunft allein durch persönliche Leistung vorankommen zu können. Mit der "Goldenen Flagge" wurden alljährlich im "Leistungskampf der deutschen Betriebe" nationalsozialistische Musterfirmen ausgezeichnet, die eben den betriebs- und sozialpolitischen DAF-Kriterien in besonderer Weise entsprachen. Die Teilnahme war freiwillig, und doch hatten sich zum Beispiel 1939/40 nicht weniger als 273000 Betriebe gemeldet.

Das bekannteste und zweifellos populärste Amt der DAF war "Kraft durch Freude" (KdF). Im November 1933 nach italienischem, faschistischem Vorbild gegründet, widmete es sich der Freizeitorganisation der Arbeitnehmer, veranstaltete Kulturabende und insbesondere Reisen. Bereits 1935 nahmen über 5,7 Millionen Personen an Kurzfahrten innerhalb Deutschlands teil, über 120000 Menschen kamen im selben Jahr in den Genuss einer Schiffsfahrt mit einem der zehn KdF-Dampfer. Am begehrtesten waren selbstverständlich die Auslandsreisen. 1938 fuhren bereits rund 140000 Deutsche nach Italien, andere reisten nach Norwegen, Griechenland, sogar nach Madeira und auf die Kanarischen Inseln. Dabei ist zusätzlich in Rechnung zu stellen, dass es für Arbeiter erst unter dem NS-Regime einen nennenswerten Urlaub, allerdings differenziert nach Branchen, Lebensalter und der alleinigen Entscheidung der "Betriebsführer", von sechs bis zwölf Tagen gab.

Für die NS-Führung stand die Wehrhaftigkeit im Vordergrund, wie es Hitler bei der Gründung der Organisation unmissverständlich ausdrückte: "Ich will, dass dem deutschen Volk ein ausreichender Urlaub gewährt wird. Ich wünsche dies, weil ich ein nervenstarkes Volk will, denn nur mit einem Volk, das seine Nerven behält, kann man wahrhaft große Politik machen." In der alltäglichen Praxis jedoch bedeutete KdF vielmehr die Erfahrung von Freizeit und Konsum. Millionen Deutsche erlebten reale und nicht nur propagandistische Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat in seiner Gesellschaftsgeschichte Deutschlands unterstrichen, dass mit der Verheißung einer "Volksgemeinschaft" ein "Modernitätsappeal" und ein Mobilisierungsschub verbunden waren, die entscheidend, insbesondere bei den jüngeren Generationen, zur Legitimation des Regimes beitrugen. Das Versprechen, dass jeder Einzelne nach seiner Leistung, nicht nach seiner Herkunft zähle, hat die Klassenschranken in Deutschland keineswegs eingerissen, aber durchaus zu mehr Aufstiegsmobilität und Leistungsbereitschaft geführt. Rüstungskonjunktur

Vor allem konnte das Regime in den ersten Jahren den rapiden Abbau der Arbeitslosigkeit für sich verbuchen. Zwar hatte die Weltkonjunktur schon 1932 die Talsohle durchschritten, und ein neuer Konjunkturaufschwung war in Sicht. Aber Hitler wusste sehr genau, dass an der Fähigkeit, die katastrophal hohe Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen (September 1932) zu verringern, der Erfolg seiner Regierung gemessen werden würde. So drängte er im Kabinett auf rasche, staatlich finanzierte Arbeitsprogramme, die zum größten Teil bereits von der Regierung Schleicher auf den Weg gebracht worden waren, wie den Auftrag zum Bau einer Reichsautobahn unter Leitung des Straßenbauingenieurs . Nachdem Hitler selbst am 23. September mit großem Propagandaaufwand den ersten Spatenstich gesetzt hatte, begann der Bau im Frühjahr 1934 mit 15000 Arbeitern. Die Höchstzahl wurde 1936 mit 125000 Beschäftigten erreicht, als die Arbeitslosigkeit bereits deutlich zurückgegangen war. Volkswirtschaftlich betrachtet ging vom Autobahnbau kein nachhaltiger beschäftigungspolitischer Impuls aus, aber mit ihrem Nimbus aus Dynamik, kühner Planung und Modernität verschafften die Autobahnen dem Regime einen öffentlichen Erfolg.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 174

Zu den staatlichen Arbeitsprogrammen der ersten Jahre gehörte auch der Wohnungsbau, dessen Investitionen sich innerhalb eines Jahres verdreifachten. Bis Ende 1934 nahmen die staatlichen Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine Höhe von über fünf Milliarden Reichsmark an, bis 1935 stiegen sie auf 6,2 Milliarden. Tatsächlich sank die Zahl der Arbeitslosen bereits ein Jahr nach der Machtergreifung auf 2,7 Millionen, lag 1936 bei nur noch 1,6 Millionen und blieb 1937 unter einer Million.

Mittlerweile schufen vor allem die vom Staat mit etlichen Milliarden massiv geförderten Rüstungsinvestitionen neue Arbeitsplätze. So erlebte die Flugzeugproduktion einen beispiellosen Aufschwung von knapp 4000 Beschäftigten im Januar 1933 auf 54000 zwei Jahre später und annähernd 240000 Beschäftigte im Frühjahr 1938. Nicht zuletzt senkten auch die Allgemeine Wehrpflicht im März 1935 und die Einführung eines sechsmonatigen Reichsarbeitsdienstes (RAD), den alle Männer zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr vor ihrem Wehrdienst absolvieren mussten, die Arbeitslosenzahlen. In den Berichten, die sozialdemokratische Vertrauensleute heimlich an den Exilvorstand der SPD in Prag schickten, hieß es 1936 resigniert, "große Teile der Arbeiterschaft" hätten mittlerweile "Freiheit" gegen "Sicherheit" am Arbeitsplatz eingetauscht.

Bezeichnenderweise hielt das NS-Regime trotz Vollbeschäftigung den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung weiterhin bei 6,5 Prozent des Lohnes und steckte diese zusätzlich eingenommenen Milliarden in die Rüstungsproduktion. Das Gesamtvermögen der Sozialversicherungen verdoppelte sich von 4,6 Milliarden Reichsmark 1932 auf 10,5 Milliarden 1939, wobei diese Gelder gleichfalls nicht als Leistungsverbesserungen den Arbeitnehmern zugute kamen, sondern dem Reichshaushalt als Darlehen zur Finanzierung der Rüstungsausgaben dienten.

Die Rüstung war der Hauptgrund für den Abbau der Arbeitslosigkeit. Bis 1939 gab der NS-Staat dafür 62 Milliarden aus, was einem Anteil am Bruttosozialprodukt von 23 Prozent entsprach. 1933 hatte der Anteil noch bei 1,5 Prozent gelegen. Von Anfang an forcierte die neue Regierung die Aufrüstung. 35 Milliarden Reichsmark sollten in den kommenden acht Jahren für die Rüstungsausgaben zur Verfügung gestellt werden – eine immense Summe, wenn man bedenkt, dass das gesamte Volkseinkommen des Deutschen Reiches 1933 ungefähr 43 Milliarden Reichsmark betrug. Dieses Geld wurde weniger durch Steuern oder sonstige Einnahmen, sondern größtenteils durch staatliche Schuldenaufnahme beschafft. Zeitgleich mit dem Aufrüstungsprogramm fiel die Entscheidung im Juni 1933, die ausländischen Schuldenzahlungen vorerst einzustellen. Dieses einseitig verkündete Schuldenmoratorium brachte das Deutsche Reich auf den internationalen Finanzmärkten in Misskredit und zeigte zugleich an, dass die neue deutsche Regierung sich nicht mehr an völkerrechtliche Verträge gebunden fühlte. Stattdessen setzte die NS-Führung auf eine Politik der Autarkie, obwohl das Reich weiterhin auf Importe von Rohstoffen und Lebensmitteln angewiesen war und dringend Devisen auch für die Rüstungsproduktion brauchte. Mit Finanztricks suchte insbesondere Reichsbankchef Hjalmar Schacht Geld zu beschaffen, stieß aber immer wieder an die Grenzen der Kapitalmärkte. Letztlich kalkulierte, wie der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze geschildert hat, die NS-Führung mit dem beabsichtigten Krieg, um dann mittels der Ausplünderung des eroberten Europas die zerrütteten deutschen Staatsfinanzen wieder zu sanieren.

„Wirtschaftswunder?“

Wenige Erfolge haben den Nimbus Hitlers als eines heilbringenden Erlösers, welcher der Misere von mehr als acht Millionen Arbeitslosen ein Ende bereitete, so gesteigert, seine Regierung so mit der Gloriole einer beispiellosen Leistung umgeben, wie [der] „Sieg“ in der „Arbeitsschlacht“. Noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg konzedierten zahlreiche Deutsche bereitwillig das Unheil, das Hitlers Krieg gebracht hatte, bestanden aber weiter darauf: „Er hat doch die Leute von der Straße gebracht.“ Wie konnte das gelingen?

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 175

Mehrere Faktoren sorgten so lange für eine anhaltende Belebung des Arbeitsmarktes, bis er buchstäblich leergefegt war.

1. Die konjunkturpolitischen Maßnahmen der Regierung demonstrierten ihre Handlungsbereitschaft. Außerdem gewann sie zusehends an Stabilität. Beides wußten viele Unternehmer zu schätzen, wenn sie über Neueinstellungen entschieden, [...].

2. Tatsächlich hatte die Depression in Europa 1932 ihren absoluten Tiefpunkt erreicht, und erste Signale der zyklischen Erholung wurden auch von der deutschen Industriewirtschaft 1933, verstärkt seit 1934 aufgenommen. Ein sachte einsetzender wirtschafts- immanenter Aufschwung begann daher, ungeachtet der Staatskonjunktur, belebende Impulse auszusenden.

3. Für die Beschäftigungspolitik der Unternehmen war die Tatsache von grundlegender Bedeutung, daß sie mit keinem Lohnanstieg, keiner gewerkschaftlichen Tarifforderung mehr zu rechnen hatten. Nicht nur herrschte ein faktischer Lohnstopp, sondern die Basisgröße der Lohnquote schrumpfte sogar, wie es die Arbeitgeber seit Jahren gefordert hatten, von 1932 = 68 auf 1938 = 55 Prozent. Schon dieser genau vermerkte Umstand wirkte investitions- und beschäftigungsfördernd, zumal gleichzeitig die Unternehmensprofite bis 1939 jährlich um 36,5 Prozent kräftig anstiegen.

4. Der zügige Aufbau großer Bürokratien durch die NSDAP, die DAF (im Nu kam sie auf 45000 Mitarbeiter), den RAD, zahlreiche Ämter und Stäbe, nicht zuletzt durch die expandierende Wehrmachtsverwaltung entlastete spürbar den Arbeitsmarkt insbesondere von Angestellten und Akademikern. Auch die Wehr- und die Arbeitsdienstpflicht nahmen seit 1935 Hunderttausende aus dem Arbeitsmarkt.

5. Seit 1934/35 ging eine steigende Nachfrage nach Arbeitskräften von der Rüstungswirtschaft aus, da enorme Summen in sie hineingepumpt wurden. [... ] In gewisser Hinsicht war daher die Vollbeschäftigung zum guten Teil eine „Sekundärfolge von Hitlers Entschluß, Deutschland kriegsfähig zu machen“.

6. Dennoch ist es fraglich, ob diese objektivierbare Konstellation sich so schnell und so durchschlagend ausgewirkt hätte, wenn nicht Hitler selber im Verein mit dem Goebbelsschen Propagandaapparat die Rhetorik der „Arbeitsschlacht“, die es so schnell wie nur irgend möglich zu gewinnen gelte, die populistische Beschwörung des nationalen Aufschwungs unentwegt in Gang gehalten hätte. Der modernen Konjunkturpolitik ist längst bewußt, welche bedeutende Rolle die Psychologie der Krisenbekämpfung und die Semantik der Steuerungskompetenz spielt; [...].

[Doch] nirgendwo sonst wurden Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung mit so horrenden Kosten erkauft: mit der Fehlleitung gewaltiger Ressourcen in die Aufrüstung, mit der Vorbereitung eines totalen Krieges, mit der zweiten vollständigen Zerrüttung der Landeswährung. Die Quittung für das fabelhafte „Wunder“ wurde den Deutschen zwischen 1939 und 1948 ohne jede Chance des Entrinnens präsentiert. Insofern handelte es sich um ein äußerst kurzlebiges „Wirtschaftswunder“ mit extrem desaströsen Folgen. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 176

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C. H. Beck, München 2003, S. 644 ff.

Konsumgesellschaft

Für die Arbeiter blieb zwar der vom Regime verordnete Lohnstopp in Kraft. Aber zahlreiche Betriebe gingen aufgrund der guten Konjunktur und des bald spürbar werdenden Facharbeitermangels dazu über, höhere Akkordlöhne oder besondere Zulagen zu zahlen. So erreichten die Nettolöhne 1937, zumindest in den rüstungsrelevanten Wirtschaftsbereichen, wieder das Niveau von 1929, obwohl auch die Preise stiegen und neben den Steuern und Sozialversicherungsabgaben zusätzlich die Beiträge zur DAF vom Lohn automatisch eingezogen wurden. Die sich öffnende Schere zwischen den Tariflöhnen und den ungleich höheren Effektivlöhnen führte zu einer Lohndifferenzierung nach Leistungskriterien, die die bisherige Ordnung gesellschaftlicher Lohnpolitik, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen als sozialen Vertretungsorganen in Flächentarifverträgen ausgehandelt worden war, ablöste.

Im internationalen Vergleich des Pro-Kopf-Volkseinkommens lag Deutschland in den 1930er-Jahren jedoch weiterhin um die Hälfte zurück gegenüber den USA, auch weit hinter Großbritannien und noch hinter den Niederlanden, Frankreich und Dänemark. Während in den USA die Verbindung von Serienproduktion durch Standardisierung und Fließbandmontage einerseits und hohen Löhnen andererseits einen rasch wachsenden Binnenmarkt selbst für teure Massenkonsumgüter wie Automobile schuf, stagnierte die Konsumgüterproduktion in Deutschland durch die ausschließliche Konzentration auf die Rüstung.

Zwar versuchte das Regime durch staatlich subventionierte "Volks"-Produkte Massengüter herzustellen, aber nur der Volksempfänger, der im Sommer 1933 in Serienproduktion ging und mit einem Ratenvertrag erworben werden konnte, wurde ein Erfolgsprodukt. Besaß 1933 ein Viertel aller deutschen Haushalte ein Radio, so waren es 1938 schon etwas über 50 Prozent. Verglichen mit 68 Prozent in England und 84 Prozent in den USA war aber auch das kein Spitzenwert.

Nicht zuletzt stieß das Projekt eines KdF-Wagens – Robert Ley 1938: "In 10 Jahren jedem schaffenden Deutschen einen Volkswagen!" – auf große Zustimmung. 336000 Menschen leisteten wöchentliche Vorauszahlungen, um ihr eigenes Auto zu bekommen. Da der politisch festgelegte Preis von 1000 RM weit unter den Produktionskosten lag, fand sich kein Unternehmen bereit, den Volkswagen zu bauen. Stattdessen übernahm die DAF aus geraubten Gewerkschaftsvermögen die Finanzierung und beauftragte Ferdinand Porsche mit der Entwicklung und dem Bau des KdF-Wagens. Von den Einzahlungen der künftigen VW-Besitzer zog die DAF einen Gewinn von rund 275 Millionen RM; die Sparer selbst verloren ihr Vermögen, denn entgegen den Versprechungen des Regimes zur Massenmotorisierung wurde von dem propagandistisch angekündigten Volkswagen in der NS-Zeit kein einziger ausgeliefert. Vielmehr lieferte Porsche Militärfahrzeuge für die Wehrmacht. Selbst wer ein privates Auto eines anderen Herstellers besaß, wurde vom NS-Regime benachteiligt, denn der Benzinpreis lag in Deutschland Ende der 1930er-Jahre aufgrund hoher Besteuerung mit 39 Pfennig pro Liter doppelt so hoch wie beispielsweise in den USA. Benzin war im NS- Regime Treibstoff für das Militär, nicht für Privatfahrer.

Gewinner und Verlierer

Der Aufschwung galt nicht für alle Branchen und Regionen gleichermaßen, wie der Historiker Frank Bajohr 2009 hervorgehoben hat. Der Rüstungsboom führte zu zahlreichen Ungleichheiten. Zu den großen regionalen Gewinnern gehörte Mitteldeutschland, wo ein neues industrielles Zentrum neben dem Ruhrgebiet entstand. In Städten wie Magdeburg, Halle, Dessau, Halberstadt und Bitterfeld verdoppelte sich binnen weniger Jahre die Zahl der Beschäftigten. Eine Stadt wie Rostock mit Werften

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 177 und dem Flugzeugwerk Heinkel steigerte ihre Einwohnerzahl innerhalb von nur sechs Jahren, von 1933 bis 1939, um ein Drittel von 90000 auf 120000 und stieg damit in die Liga deutscher Großstädte auf.

Die Flugzeugindustrie lockte mit hohen Lohnzuschlägen, modernsten Produktionsanlagen, beachtlichen betrieblichen Leistungen, neu gebauten Wohnungen und einem hohen Sozialprestige als "Hightech"-Industrie. Die Flugzeugbauer seien sehr von sich eingenommen, urteilte 1935 ein sozialdemokratischer Vertrauensmann, sodass sie für die politische Arbeit, sprich gewerkschaftliche Klassenorganisation, nicht mehr zu gebrauchen seien. Für das Gesellschaftsbild der traditionellen Arbeiterbewegung wären diese überwiegend jungen Arbeiter mit ihrer starken individuellen Aufstiegsorientierung nicht mehr anzusprechen gewesen, während sie sich den Integrationsangeboten des NS-Regimes vorbehaltlos öffneten. Die Flugzeugbauer, so äußerte sich 1934 ein Sozialdemokrat über die Belegschaft der Heinkel-Werke, hätten nur ein einziges Interesse: ihre Arbeit zu erhalten und hohen Lohn zu beziehen. Politisch seien sie "absolut uninteressiert und indifferent", "völlig passiv" und kämen für die politische Arbeit, d. h. für die Arbeiterbewegung, "gar nicht in Frage".

Zu den Verlierern zählte die Landwirtschaft. Noch im Februar 1933 verbot die Hitler-Regierung Zwangsversteigerungen bäuerlicher Betriebe und unterband damit in populistischer Weise eine privatwirtschaftlich legale Maßnahme, die in den Jahren zuvor immer wieder für helle Empörung und sogar gewalttätigen Widerstand in der Bauernschaft gesorgt hatte. Mit dem Reichserbhofgesetz vom September 1933 erhielten rund eine Million Bauernhöfe, die rund 37 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschafteten, einen neuen Status: Sie wurden unteilbar, unverkäuflich und allein an den erstgeborenen Sohn vererbbar. Nur diese, durch "Rasse", "Ehrbarkeit" und Wirtschaftsführung ausgewiesenen Besitzer durften sich Bauern nennen, alle anderen hießen Landwirte. Doch wurde mit dem Erbhofgesetz das seit Jahrzehnten anstehende Problem einer Bodenreform, um die Diskrepanz zwischen den wenigen Gutshöfen, die über ein Viertel des Ackerlandes verfügten, und der großen Zahl kleiner Bauernhöfe, die weniger als ein Fünftel der Ackerfläche bewirtschafteten, zu schließen, keineswegs gelöst.

Zusätzlich wurde mit dem "Reichsnährstand" unter Landwirtschaftsminister Darré eine staatlich gelenkte Landwirtschaftsorganisation geschaffen, die Erzeuger wie Verteiler einschloss, die Preise festsetzte und damit den freien Agrarmarkt aufhob. Damit wollte die NS-Führung die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln sichern. Doch wurde trotz aller "Erzeugungsschlachten", die zwar zu beachtlichen Produktionssteigerungen führten, weder die Autarkie in der Lebensmittelversorgung erreicht – nach wie vor blieb Deutschland auf Importe, insbesondere bei Futtermitteln und Fetten, angewiesen – noch konnte bei aller nationalsozialistischer "Blut und Boden"-Rhetorik, dass das Bauerntum die Grundlage der "Volksgemeinschaft" bilde, der moderne Trend zur Landflucht aufgehalten werden.

Jungen Leuten boten sich in der Industrie, die dringend Arbeitskräfte benötigte, die weitaus besseren Arbeitsbedingungen. Im November 1938 musste Darré öffentlich eingestehen, dass der Landwirtschaft seit 1933 rund 500000 Arbeitsplätze verloren gegangen waren, was einem Rückgang von 20 Prozent entsprach. Konsequent wurden Zehntausende von Jugendlichen zum "Ernteeinsatz", die Mädchen anstelle des Wehrdienstes zum landwirtschaftlichen "Pflichtjahr" abkommandiert, während sich zur selben Zeit die Bevölkerungszahlen in den neuen Industriestandorten in Mitteldeutschland verdoppelten.

Auch für den Mittelstand erfüllten sich nicht die Erwartungen, die er in den Nationalsozialismus gesetzt hatte. Die vor 1933 heftigst bekämpften Kaufhäuser wurden nicht geschlossen, sondern bloß höher besteuert. Vielmehr mussten sogar viele kleine Geschäfte schließen, weil ihnen die Arbeitskräfte fehlten oder sie nicht mehr konkurrenzfähig waren. Nur die großen Handelsunternehmen konnten mit der wirtschaftlichen Entwicklung Schritt halten. Zwar konnten auch 1937/38 viele kleine und mittlere Unternehmen von den Enteignungen der jüdischen Betriebe, der "Arisierung", profitieren, aber nur ein kleiner Teil der jüdischen Vermögen geriet in private Hände. Es war insbesondere der nationalsozialistische Staat, der durch Liquidierungen, Abgabenpolitik und drastische Besteuerung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 178 den Hauptanteil einstrich, um die Rüstungspolitik zu finanzieren. Frauen

Nationalsozialistische Frauenpolitik hieß zuerst Familien- und Geburtenpolitik. Die "erbgesunde" und rassenbiologisch "artgerechte" Ehe und Familie stand als "Keimzelle der Volksgemeinschaft" unter besonderem Schutz des NS-Staates. Allerdings wurde aus eben denselben erb- und rassenbiologischen Gründen auch die Ehetrennung gefördert. Der "Schutz der Familie" bedeutete daher keineswegs die Achtung der privaten Sphäre oder ein moralisches Bekenntnis, sondern unterlag einem strikt rassistischen Zweckmäßigkeitsdenken. 1936 wurde erstmals ein Kindergeld von zehn Reichsmark pro Monat ab dem fünften Kind unter 16 Jahren für Familien eingeführt, deren Monatseinkommen 185 Reichsmark nicht überstieg. Diese Einschränkungen wurden im Laufe der nächsten Jahre mehr und mehr zurückgenommen, bis im Dezember 1940 alle Familien ein Kindergeld ab dem dritten Kind erhielten.

Zinsfreie Ehestandsdarlehen bis zu 1000 Reichsmark wurden an jung verheiratete Paare als Zuschuss für den Kauf der Haushaltseinrichtung gezahlt, wobei dieses Darlehen "abgekindert" werden konnte, d. h. mit jedem Kind wurde die Rückzahlung um ein Viertel gekürzt. Bereits 1933 hatten 200000 junge Paare ein Ehestandsdarlehen in Anspruch genommen, 1935 waren es 370000 Darlehen. Den modernen Trend zur Kleinfamilie mit maximal zwei Kindern haben auch die geburtenorientierten Förderungsmaßnahmen des NS-Regimes indes nicht aufhalten können. Da mit den Darlehen zunächst die Auflage verbunden war, dass die Ehefrau zu Hause blieb, stellte diese Maßnahme nicht allein ein familien-, sondern gleichfalls ein arbeitsmarktpolitisches Instrument im nationalsozialistischen Sinn dar. Zudem war die Gewährung der Darlehen von einem erbgesundheitlichen Gutachten des jungen Paares abhängig. Behinderte oder "nicht-arische" Ehepaare hatten keine Chance, in den Genuss eines solchen Ehestandsdarlehens zu kommen.

Das Hilfswerk "Mutter und Kind" der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), die mit 16 Millionen Mitgliedern (1942) nach der DAF die größte nationalsozialistische Massenorganisation war, kümmerte sich ganz im Zeichen einer völkischen Geburtenpolitik um die Mütter, wobei auch die ledigen Mütter betreut wurden, denn "rassisch und erbbiologisch hochwertiger" Nachwuchs durfte in rassistischer Perspektive dem Volk in keinem Fall verloren gehen. Neben Verschickung von Müttern in Erholungsstätten baute das Hilfswerk Kindertagesstätten, bis 1941 annähernd 15000, über deren Größe und Qualität jedoch die Statistik nichts aussagt. Später, vor allem während des Krieges, wurde die sogenannte Kinderlandverschickung eine zentrale Einrichtung des Hilfswerkes.

Entgegen aller offiziellen Rhetorik hat auch die Zahl der erwerbstätigen Frauen im NS-Regime keineswegs abgenommen. 1933 gab es 11,6 Millionen, 1939 14,6 Millionen Frauen, die erwerbstätig waren. Das bedeutete, dass 52 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 60 Jahren in Deutschland einer Lohn- bzw. Gehaltsarbeit nachgingen, wobei die meisten Frauen nach wie vor in der Land- und Hauswirtschaft beschäftigt waren, erst danach im Dienstleistungssektor und die wenigsten in der Industrie. Erwartungsgemäß lag die Erwerbsquote bei ledigen Frauen mit 88 Prozent sehr viel höher als bei den verheirateten Frauen mit nur etwa einem Drittel. Noch 1943, als der Arbeitskräftemangel sehr dringlich war, sprach sich Hitler aus ideologischen Gründen gegen eine verstärkte Einbeziehung von Frauen in die Rüstungsproduktion aus und verweigerte sich auch der Forderung, die Löhne der Frauen denen der Männer gleichzustellen. Dennoch setzten Frauen in einigen Bereichen, wo sie unentbehrlich geworden waren, wie zum Beispiel als Schaffnerinnen in den Verkehrsbetrieben, durch, dass sie in gleicher Höhe wie ihre männlichen Vorgänger bezahlt wurden. Aufgrund des deutlichen Ärztemangels fielen in den Kriegsjahren auch die Beschränkungen des Medizinstudiums für Frauen, so dass sich der Anteil der Ärztinnen an der Ärzteschaft insgesamt, der 1933 bloß 6,5 Prozent betragen hatte, bis 1944 mehr als verdoppelte.

Ohne Zweifel blieb das NS-Regime eine strikt patriarchalische Ordnung, die den Frauen eine ideologisch gleichwertige, aber keine gleichrangige Position zubilligte, sondern innerhalb der "Volksgemeinschaft" eine funktionale Rolle zumaß. Doch reduzierte sich diese Funktion keineswegs

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 179 auf die gehorsame Erfüllung von Mütterlichkeit und der Rolle als Ehefrau. Innerhalb der "volksgemeinschaftlichen" Ordnung eröffneten sich nicht-jüdischen Frauen durchaus Handlungsoptionen und Aufstiegschancen, wie zum Beispiel in den zahlreichen NS-Organisationen, insbesondere im Bund Deutscher Mädel (BDM), der Nationalsozialistischen Frauenschaft oder der NSV. Die steigende Zahl derjenigen Frauen, die in den zahlreichen NS-Verbänden verantwortungsvolle Aufgaben übernahmen, hat auch Eigenständigkeit gefördert. Damit hatten diese Frauen auch aktiven Anteil an rassistischer und antisemitischer Politik, wie jene, vor allem junge Frauen, die in den besetzten Ostgebieten als engagierte Angehörige der Besatzungsverwaltung zu selbstständig handelnden Täterinnen wurden. Jüdische Frauen wurden indes ebenso verfolgt wie jüdische Männer; das KZ Ravensbrück war eigens für Frauen eingerichtet worden. Und ebenso teilten ausländische Zwangsarbeiterinnen das Schicksal von Ausbeutung und Verfolgung wie die Männer. Nicht zuletzt gab es gleichermaßen Frauen im Widerstand, Sophie Scholl ist dafür das hierzulande bekannteste Beispiel. Frauen lassen sich also weder pauschal als Opfer noch als Täterinnen kategorisieren, sondern waren sowohl Täterinnen als auch Opfer, Mitläuferinnen und Zuschauerinnen.

Das NS-Frauenbild

Zwischen den ideologischen Ansprüchen an die Frauen und deren Lebensrealitäten klaffte ein breiter Spalt.

Der Führer an die deutschen Frauen

Das Wort von der Frauen-Emanzipation ist ein nur vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort, und der Inhalt ist von demselben Geist geprägt. Die deutsche Frau brauchte sich in den wirklich guten Zeiten des deutschen Lebens nie zu emanzipieren. Sie hat genau das besessen, was die Natur ihr zwangsläufig als Gut zur Verwaltung und Bewahrung gegeben hat [...]. Wenn man sagt, die Welt des Mannes ist der Staat, die Welt des Mannes ist sein Ringen, die Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft, so könnte man vielleicht sagen, daß die Welt der Frau eine kleinere sei. Denn ihre Welt ist ihr Mann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Haus. [...] Die Vorsehung hat der Frau die Sorgen um diese ihre eigenste Welt zugewiesen, aus der sich dann erst die Welt des Mannes bilden und aufbauen kann. [...] Wir empfinden es nicht als richtig, wenn das Weib in die Welt des Mannes [...] eindringt, sondern wir empfinden es als natürlich, wenn diese beiden Welten geschieden bleiben. In die eine gehört die Kraft des Gemütes, die Kraft der Seele! Zur anderen gehört die Kraft des Sehens, die Kraft der Härte, der Entschlüsse und die Einsatzwilligkeit. [...] Was der Mann an Opfern bringt im Ringen seines Volkes, bringt die Frau an Opfern im Ringen um die Erhaltung dieses Volkes in den einzelnen Zellen. Was der Mann einsetzt an Heldenmut auf dem Schlachtfeld, setzt die Frau ein in ewig geduldiger Hingabe, in ewig geduldigem Leiden und Ertragen. Jedes Kind, das sie zur Welt bringt, ist eine Schlacht, die sie besteht für Sein oder Nichtsein ihres Volkes.

Reden an die deutsche Frau 1934, S. 3f.

Zehn Gebote für die Gattenwahl

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 180

• Gedenke, daß Du ein Deutscher bist. [...]

• Du sollst, wenn Du erbgesund bist, nicht ehelos bleiben. [...]

• Halte Deinen Körper rein! [...]

• Du sollst Geist und Seele rein erhalten. [...]

• Wähle als Deutscher nur einen Gatten gleichen oder nordischen Blutes. [...]

• Bei der Wahl Deines Gatten frage nach seinen Vorfahren. [...]

• Gesundheit ist Voraussetzung auch für äußere Schönheit. [...]

• Heirate nur aus Liebe. [...]

• Suche Dir keinen Gespielen, sondern einen Gefährten für die Ehe. [...]

• Du sollst Dir möglichst viele Kinder wünschen. [...]

Oskar Lukas, Das deutsche Frauenbuch. Ein Buch für Werktag und Feierabend, Karlsbad-Drakowitz und Leipzig 1941, S. 189-191 beides in: Martin Klaus, Mädchen in der Hitlerjugend, Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln 1980, S. 168 f. und S. 177 ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 181 Jugend

Der "Jugend" galt ein besonderes Augenmerk des Regimes, sollte doch mit der Erziehung und Ausbildung der jungen Generation der Grundstein für die rassistische "Volksgemeinschaft" der Zukunft gelegt werden. Die Hitlerjugend (HJ), die seit der Machtergreifung alle übrigen Jugendverbände, bis auf die katholischen, entweder zerschlagen oder angegliedert hatte, wurde 1936 zur Staatsjugend erklärt und organisierte nunmehr alle Jugendlichen – 1939 waren es 8,7 Millionen – im Deutschen Reich: Von zehn bis 14 Jahren gehörten sie als "Pimpfe" dem Jungvolk bzw. als "Jungmädel" dem Jungmädelbund an, von 14 bis 18 Jahren als "Hitlerjungen" der HJ bzw. als "Mädel" dem Bund deutscher Mädel (BDM). Selbstverständlich galten für die Hitlerjugend die rassistischen Vorgaben des Regimes; jüdischen Jugendlichen war, selbst wenn sie es gewollt hätten, die Mitgliedschaft in der HJ verwehrt, was wiederum nichts anderes hieß, als dass sie öffentlich nicht zur "deutschen Jugend" gezählt wurden.

Trotz oder vielleicht gerade wegen der Pflichtmitgliedschaft gelang der HJ die Erfassung aller Jugendlichen nicht hundertprozentig. Die katholischen Jugendverbände versuchten ihre im Konkordat zugebilligte Unabhängigkeit zu bewahren; Eltern bemühten sich, ihre Kinder von der Mitgliedschaft freizustellen; und etliche Jugendliche selbst verweigerten sich dem Zwang oder entzogen sich, indem sie gar nicht oder möglichst wenig zu den HJ-Treffen kamen. Im Krieg bildeten sich später sogar eigene Jugendbanden, die die HJ attackierten. Auf der anderen Seite eröffnete die HJ Jugendlichen neue Handlungsmöglichkeiten. Unter dem Motto "Jugend führt Jugend" bot sich Jugendlichen die Gelegenheit, Leitungsfunktionen zu übernehmen. Auch der BDM offerierte den jungen Mädchen Unabhängigkeit vom Elternhaus und Selbstständigkeit.

Die legendären Zeltlager, die in der Nachkriegserinnerung an die HJ einen so prominenten Raum einnahmen, dienten der Vorbereitung auf den Wehrdienst ebenso wie der Erziehung zur "Volksgemeinschaft". Hier waren keineswegs alle gleich, aber jeder besaß seine Aufgabe und Verantwortung, die ihm – so der ideologische Anspruch – unabhängig von Herkunft, Stand oder Vermögen der Eltern zugeteilt wurden. Melitta Maschmann schilderte ihr Arbeitsdienstlager 1937 in Ostpreußen folgendermaßen: "Unsere Lagergemeinschaft war ein verkleinertes Modell dessen, was ich mir unter Volksgemeinschaft vorstellte. Sie war ein vollkommen gelungenes Modell. Niemals vorher oder nachher habe ich eine so gute Gemeinschaft erlebt, auch dort nicht, wo die Zusammensetzung in jeder Beziehung homogener war. Unter uns gab es Bauernmädchen, Studentinnen, Arbeiterinnen, Verkäuferinnen, Friseusen, Schülerinnen, Büroangestellte usw. Geführt wurde das Lager von einer ostpreußischen Bauerntochter, die nie über ihre engere Heimat hinausgekommen war. [...] Dass ich dieses Modell einer Volksgemeinschaft damals mit so intensivem Glücksgefühl erlebt habe, hat einen Optimismus in mir entstehen lassen, an den ich mich bis 1945 eigensinnig klammerte."

„Diese Jugend lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum erstenmal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler- Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei oder drei Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben...“.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 182

Wahlrede Adolf Hitlers in der sudetendeutschen Stadt Reichenberg am 2.12.1938, in: Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, Band I.2, 4. Aufl., Leonberg 1988, S. 981

Das Lager bildete den zentralen Ort der Erziehung, wo eine formierte soziale Ordnung herrschte, in der Dienst, Disziplin und Kameradschaft obenan standen, aber auch jeder Standes- oder Bildungsdünkel geächtet war. Regionale, konfessionelle oder berufliche Unterschiede sollten mit Absicht in den Hintergrund treten zugunsten der Herstellung einer "Gemeinschaft der Ehre und Treue, des Gehorsams und der Kameradschaft", wie es der Führer des Reichsarbeitsdienstes Konstantin Hierl ausdrückte, in der die (Hand-)Arbeit für das Volksganze den entscheidenden Wert darstellte.

Schon die Lager der Jugendbewegung der 1920er-Jahre waren Ausdruck einer Kritik an der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gewesen und sollten das Erlebnis einer alternativen Gemeinschaft vermitteln. Jene zahlreichen Referendars-, Lehrer-, HJ-, BDM- und Reichsarbeitsdienstlager, die 1933 entstanden, zielten ebenso auf antibürgerliche Vergemeinschaftungsformen, auf Kameradschaft als Gefühl einer neuen, durchaus militarisierten Gemeinschaft. Ebenso wie der Terror gegen "Gemeinschaftsfremde" keinem bürgerlich-staatlichem Reglement unterworfen sein sollte, so auch die neue Kollektivität einer "Volksgemeinschaft" nicht herkömmlichen gesellschaftlichen Gemeinschaftsformen wie Vereinen oder Interessensverbänden. Nationalsozialistische Lager waren nicht bloß Orte eines Gemeinschaftsgefühls, sie dienten zugleich einer gesamtgesellschaftlichen Umgestaltung.

Arbeitsdienst

[...] Arbeitsdienst. Gott im Himmel. [...] Ich bin angekommen am Nachmittag mit sehr vielen anderen zusammen. Das ging immer schubweise. Wir haben dagesessen und uns unterhalten. Die neben mir saß, hat mich ein paar Mal angestoßen und gesagt: „Da hinten sitzt die Führerin.“ Das war also die Führerin, und zwar eine ganz bekannte, Jutta Sowieso, die später ein „großes Tier“ geworden ist. Wir haben uns unterhalten und ich habe gesagt: „Ich mache alles gerne, aber nicht die Waschküche.“ Ich habe sechs Wochen Waschküche gekriegt.

Und das war wirklich schlimm. Wir waren etwa 56 Mädchen und es musste alles von Hand gewaschen werden. Da war nur eine kleine Hütte mit großen Becken, aber nur mit kaltem Wasser. Es gab nur einen einzigen Waschkessel mit Feuer drunter. Die ganze Bettwäsche und alles musste da drin gekocht werden, und dann hatten wir diese Waschbretter. Da stand man dann und mit kaltem Wasser wurde alles geschrubbt. Und es wurde für alle die Privatwäsche gewaschen, und für alle die Bettwäsche, Handtücher und alles, was gewaschen werden musste.

Rund um das Lager war ein hoher Zaun mit einem abgeschlossenen Tor und ein Gitter. [...]

Wir waren [...] in einem großen Schlafraum mit ehemaligen Wehrmachtsbetten. Wir waren zwischen zwölf und sechzehn Mädchen. Statt Matratzen hatten wir Strohsäcke und eine Wolldecke und ein kleines Kissen, und das musste alles exakt gelegt werden. Darauf wurde geguckt und ein Theater gemacht! Ein Tisch und ein kleiner Hocker mit drei Beinen [...], sonst war in dem ganzen Raum nichts.

Draußen im Gang standen Kommoden für die Wäsche. Sie wurden von Backsteinen gestützt und wackelten und wenn man eine Schublade zumachte, fiel die ganze Kommode nach hinten um. Wir

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 183 hatten Waschschüsseln, und das wars. Irgendeinen Rückzug, Privatleben gab es nicht, [...].

Es ging uns allen gleich, da entstand eine Art Gemeinschaft. [...]

Wir kriegten natürlich genau dasselbe Kommissbrot wie die Männer. Dieses Brot schmeckt an und für sich sehr gut und ist wunderbar, wenn es frisch ist. Wenn es aber ein paar Tage gelegen hat, ist es fürchterlich hart, dann ist es abscheulich. Wenn der neue Schub kam, musste er nach hinten hingelegt werden und dieses vertrocknete Zeug von hinten musste nach vorne geschoben werden. Dazu gab es eine wunderbare Erdbeermarmelade aus großen Eimern. In diese Marmelade musste aber ein Eimer Wasser gekippt werden, damit sie nicht zu dick war und diese Wassersoße wurde dann auf das trockene Brot geschmiert. Davon aßen alle wenig. [...]

Es gab Wasserklosetts, aber alles lief in eine riesengroße Zisterne, und die musste alle paar Wochen entleert werden. Dann kriegten wir einen Eimer in die Hand, und eine lange Kette wurde gebildet. Die Hauptführerin stand oben und hatte an einer langen Holzstange vorne einen Eimer dran, und dann wurde es umgeschüttet bis in die letzte Gegend, und so haben wir unseren ganzen großen Garten gedüngt. Das war eine duftige Sache!

Wenn man jung ist, macht man das gerne, dass man anderen Menschen hilft. Aber das Drumherum? Das Unnötige, dieses absolut unnötige Drumherum, dieses Menschenverachtende. Man musste gedämpft und gedrückt werden.

[...] Viele waren auch begeistert. Viele hatten es zu Hause sehr schlecht. Ich kannte ein paar Mädchen, die sagten: „Ich habe es zu Hause so schlecht, hier ist es besser. Hier habe ich zum ersten Mal richtig Ordnung mit dem Essen, ich werde nicht geschlagen, und die Leute sind nett.“ Das alles hat sehr dazu beigetragen, dass keiner gesagt hätte, das war furchtbar. Und so war man vorgeprägt. Da konnten sie wirklich alles mit einem machen. Da hat man nachher alles andere wunderbar gefunden. [...]

Elisabeth Cosmann, geboren 1918 im Hessischen, in: Claudia Seifert, Das Leben war bescheiden schön, dtv, München 2008, S. 139 ff.

"Gefühlte Gleichheit"

Das NS-Regime unternahm viel, um die Einheit und Solidarität der "Volksgemeinschaft" zu inszenieren. Schon im Winter 1933/34 organisierte die NSV das erste Winterhilfswerk unter dem Motto "Ein Volk hilft sich selbst" mit einem spektakulären Erfolg: Über 358 Millionen Reichsmark wurden reichsweit gesammelt. Mit "Eintopfsonntagen", an denen sich auch die NS-Spitze selbst propagandistisch ins Bild setzte, sollte das eingesparte Geld dem Winterhilfswerk gespendet werden; Beamten wurde für das Sammeln von Spenden Urlaub gewährt; bei den Arbeitern und Angestellten wurde eine alljährliche "Spende" für das Winterhilfswerk in Höhe von zehn Prozent der Lohnsteuer gleich mit der Steuer eingezogen. Aber auch die Firmen selbst waren aufgefordert, sich mit größeren Beträgen an der Sammlung zu beteiligen. Über eine Million Helfer zogen mit Sammelbüchsen durch die Straßen und von Haustür zu Haustür; wer spendete, erhielt ein Abzeichen. 1934/35 wurden über 31 Millionen solcher Winterhilfswerk-Abzeichen produziert, 1938/39 waren es nahezu 170 Millionen.

Im September 1939 gehörten der NSDAP über 5,3 Millionen Mitglieder an, mit weiteren knapp zwölf Millionen Angehörigen in den Parteigliederungen wie SA, SS, HJ u. a.. Rechnet man noch die angeschlossenen und betreuten Verbände wie Deutsche Arbeitsfront, Nationalsozialistische

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 184

Volkswohlfahrt, Deutsches Frauenwerk und andere hinzu, so waren insgesamt (Mehrfachmitgliedschaften unberücksichtigt) rund 68 Millionen Mitglieder in der nationalsozialistischen Organisationswelt integriert, also etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung. 1937 war die Zahl der Politischen Leiter der NSDAP auf rund 700000 angestiegen, im Krieg lag die Zahl des Führungskorps der Partei bei zwei Millionen. Kreis- und , Block- und Zellenwarte waren zugleich Teil des Netzes sozialer Kontrolle durch die NSDAP und auch Teilhaber der Macht. Diese Amtsträger konnten auf das Leben ihrer Mitmenschen nachhaltig einwirken, von ihren Berichten hingen das berufliche Weiterkommen und womöglich sogar Leib und Leben ab. Partizipation an der Macht bedeutete zugleich die Erfüllung der nationalsozialistischen Politik.

Die Sozialutopie des Nationalsozialismus war keine offene oder gar wohlfahrtsstaatliche Gesellschaft, sondern blieb stets rassistisch und antisemitisch bestimmt. Ohne Zweifel verlieh die "Verbreitung des Gefühls sozialer Gleichheit", so der Historiker Norbert Frei, dem Nationalsozialismus eine große Attraktivität und ein hohes Maß an Mobilisierungsbereitschaft. Die angestrebte "Volksgemeinschaft" umfasste allerdings eine unmissverständlich erb- wie rassenbiologisch definierte Menschengruppe. Das nationalsozialistische Ziel bestand nicht in einer universell-egalitären Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind, sondern richtete sich stets auf die Leistungssteigerung einer rassistischen "Volksgemeinschaft".

Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig.

Der soziale Alltag der Ausgrenzung

[…] Man übersieht bei der Betrachtung des nationalsozialistischen Systems häufig, dass dieses zwar ein Unrechts- und Willkürsystem gewesen ist, dass die Willkür und das Unrecht aber fast ausschließlich die Nicht-Zugehörigen trafen, während die Mitglieder der Volksgemeinschaft nach wie vor in weiten Bereichen sowohl Rechtssicherheit als auch staatliche Fürsorge genossen.

So zeigt eine retrospektive Befragung mit 3000 Personen, die in den 1990er Jahren durchgeführt wurde, dass nahezu drei Viertel der vor 1928 geborenen Befragten niemanden kannten, der aus politischen Gründen mit der Staatsgewalt in Konflikt geraten und deshalb verhaftet oder verhört worden war. Noch mehr Befragte gaben an, sich selbst niemals bedroht gefühlt zu haben, und das, obwohl in derselben Befragung zu hohen Anteilen angegeben wird, dass man illegale Radiosender gehört oder Witze über Hitler und kritische Äußerungen über die Nazis gemacht habe. Ein höchst bemerkenswertes Ergebnis dieser Studie liegt darin, dass sich im Nachhinein jeweils zwischen einem Drittel und mehr als der Hälfte der Befragten dazu bekennen, an den Nationalsozialismus geglaubt, Hitler bewundert und nationalsozialistische Ideale geteilt zu haben. Ein ähnliches Bild zeichnet eine Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 1985. Die Befragten, die 1945 mindestens 15 Jahre alt gewesen sein mussten, bekennen zu 58 Prozent, an den Nationalsozialismus geglaubt zu haben, 50 Prozent sahen ihre Ideale in ihm verkörpert, und 41 Prozent bewunderten den Führer. Dabei zeigte sich auch, dass die Zustimmung zum NS-System mit dem Niveau des Bildungsabschlusses steigt – was dem gängigen Vorurteil zuwiderläuft, dass Bildung vor gegenmenschlichen Einstellungen schützt. Mit steigender formaler Bildung stieg auch die Zustimmung zu Hitlers Welt […]. Ein Viertel der Befragten betonen noch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des „Dritten Reiches“ das Gemeinschaftsgefühl, das damals geherrscht habe.

[…]Das verbreitete Gefühl, nicht bedroht zu sein und keinerlei Repression zu unterliegen, beruhte auf einem starken Gefühl der Zugehörigkeit, deren Spiegelbild die täglich demonstrierte Nicht- Zugehörigkeit von anderen Gruppen, insbesondere von Juden, war. Unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 setzte eine ungeheuer beschleunigte Praxis der Ausgrenzung der Juden ein, und zwar ohne

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 185 relevanten Widerstand der Mehrheitsbevölkerung – obwohl mancher vielleicht über den „SA- und Nazipöbel“ die Nase rümpfte oder die einsetzende Kaskade der antijüdischen Maßnahmen als unfein, ungehörig, übertrieben oder einfach als inhuman empfand. […]

Während es den einen zunehmend schlechter ging, fühlten sich die anderen immer besser. Das nationalsozialistische Projekt bot ja nicht nur eine glanzvoll ausgemalte Zukunft, sondern auch ganz handfeste Gegenwartsvorteile wie zum Beispiel exzellente Karrierechancen. Der Nationalsozialismus hatte eine extrem junge Führungselite, und nicht wenige gerade der jüngeren Volksgenossinnen und -genossen konnten große persönliche Hoffnungen mit dem Siegeszug der „arischen Rasse“ verbinden. Vor diesem Hintergrund ist die enorme Freisetzung von individueller und kollektiver Energie zu verstehen, die diese Gesellschaft kennzeichnete.

[...]Ausgrenzung, Verfolgung und Beraubung der Anderen wurden kategorial nicht als solche erlebt, weil diese Anderen per definitionem gar nicht mehr dazugehörten und ihre antisoziale Behandlung den Binnenbereich der Moralität und Sozialität der Volksgemeinschaft nicht mehr berührte.

Ein besonders betrübliches Kapitel in diesem Zusammenhang bilden die so genannten Arisierungen jüdischer Geschäfte und Unternehmen sowie die öffentlichen Versteigerungen von Wert- und Einrichtungsgegenständen aus jüdischem Besitz. Während insgesamt etwa 100000 Betriebe im Zuge der „Arisierung“ ihre Besitzer wechselten, lässt sich die Beteiligung an den Versteigerungen kaum noch quantifizieren, aber anhand von Beispielen wenigstens dimensionieren. In Hamburg etwa wurden 1941 die Ladungen von 2 699 Güterwagen und 45 Schiffen mit „Judengut“ versteigert; 100 000 Hamburger ersteigerten Möbel, Kleidungsstücke, Radios und Lampen, die aus etwa 30000 jüdischen Familien stammten. Hinzu kamen der vieltausendfache Besitzerwechsel von Immobilien, Autos und Kunstgegenständen. Gelegentlich wurden die Behörden mit der Bitte nach besonders begehrten Gütern bedrängt, noch bevor ihre rechtmäßigen Besitzer abtransportiert worden waren, und es werden Fälle geschildert, wo bei noch nicht deportierten Juden geklingelt wurde, damit man schon in Augenschein nehmen konnte, was man auf der bereits angesetzten Versteigerung erwerben könne.

Auch hier fallen Wissen und soziale Praxis in eins, und es wird ein Handlungszusammenhang sichtbar, in dem das veränderte Normengefüge nicht von oben nach unten durchgesetzt wird, sondern in dem auf praktische und sich verschärfende Weise das Verhältnis zwischen den Menschen entsolidarisiert wird und eine neue soziale „Normalität“ etabliert wird. In dieser Normalität mag es zwar ein Durchschnittsvolksgenosse noch 1941 für undenkbar halten, dass Juden umstandslos getötet werden, aber nichts Bemerkenswertes darin sehen, dass Ortsschilder verkünden, der entsprechende Ort sei „judenfrei“, dass Parkbänke nicht von Juden benutzt werden dürfen und auch nicht mehr darin, dass die jüdischen Bürger entrechtet und beraubt werden.

Harald Welzer, Die Deutschen und ihr „Drittes Reich“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15/2007 vom 2. April 2007, S. 23 ff. www.bpb.de/apuz/30543/die-deutschen-und-ihr-drittes-reich

Aus: INFORMATIONEN ZUR POLITISCHEN BILDUNG NR. 314/2012 (http://www.bpb.de/ izpb/137182/nationalsozialismus-aufstieg-und-herrschaft)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 186

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 187

Beseitigung des Rechtsstaates

Von Hans-Ulrich Thamer 6.4.2005 geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.

Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.

Im August 1934 ließ sich Hitler in einer inszenierten Volksabstimmung unter dem Titel "Führer und Reichskanzler" seine neue Machtfülle bestätigen. Von nun an war er Staatsoberhaupt, Regierungschef, Oberbefehlshaber der Reichswehr und oberster Gerichtsherr. Trotzdem tobte auf allen Ebenen des Systems ein erbitterter Kampf rivalisierender Interessensgruppen.

Einleitung

Am 20. August 1934 verkündete Hitler das Ende eines fünfzehnjährigen Kampfes "unserer Bewegung um die Macht in Deutschland. [...] Angefangen von der obersten Spitze des Reiches über die gesamte Verwaltung bis zur Führung des letzten Ortes befindet sich das Deutsche Reich in der Hand der Nationalsozialistischen Partei". Tatsächlich hatten Hitler und die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) in knapp eineinhalb Jahren nach der Übernahme der Reichskanzlerschaft nicht nur das politische System völlig verändert, sondern auch die Herrschaft in einem Ausmaß erobert, daß kein Bereich von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur von dem Formierungswillen des Nationalsozialismus unberührt blieb. Durch eine Volksabstimmung vom 19. August 1934, bei der die Wählerinnen und Wähler keine echte Entscheidungsmöglichkeit besaßen, hatte sich Hitler unter dem Titel "Führer und Reichskanzler" seine neue Machtfülle als Staatsoberhaupt, Regierungschef, Oberbefehlshaber der Reichswehr und oberster Gerichtsherr mit 89,9 Prozent der Stimmen (bei einer für solche Abstimmungen noch ungewöhnlich großen Zahl von Nein-Stimmen) absegnen lassen. Wiederum vierzehn Tage später präsentierte der 6. Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP, als "Triumph des Willens" von der Regisseurin Leni Riefenstahl filmisch in Szene gesetzt, Sieg und Herrschaft des Nationalsozialismus und seines Führers, der sein Regime nun auf Dauer einrichtete. Die improvisierte Parteitagskulisse in Nürnberg sollte durch eine kolossale Tempelarchitektur mit Ewigkeitsanspruch ersetzt werden.

Die Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft und die wichtigsten Herrschaftstechniken waren damit ausgebildet. Mit der charakteristischen Doppelstrategie von Unterdrückung und organisierter Verlockung hatten die Nationalsozialisten mit Unterstützung oder Duldung von nicht unbeträchtlichen Teilen der Gesellschaft die parlamentarisch-demokratischen Institutionen im Reich, in den Ländern und Gemeinden völlig ruiniert sowie Parteien und Gewerkschaften gleichgeschaltet. Gleichzeitig hatten die Nationalsozialisten, gestützt auf den staatlichen Herrschaftsapparat wie auf die eigene ungeduldige Massenbewegung, den Verfassungs- und Rechtsstaat schrittweise ausgehöhlt. Dabei bedienten sie sich nicht nur der Notverordnungsmacht des Reichspräsidenten (nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung) und anderer scheinlegaler Begründungen, sondern zogen alle Register moderner Massenmobilisierung bzw. -inszenierungen, die den Schein von politischer Partizipation und Demokratie erwecken sollten.

Die verfassungs- und sozialgeschichtlichen Folgen der nationalsozialistischen Machtübernahme der Jahre 1933/34 hätten kaum einschneidender sein können: Rechtsstaat und parlamentarische Demokratie waren beseitigt, die Gewaltenteilung war aufgehoben. Verschwunden waren auch die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 188

Sicherungen, die noch im März 1933 gegen eine Diktaturgewalt ausdrücklich in das Ermächtigungsgesetz zur Beruhigung der deutschnationalen Bündnispartner eingebaut worden waren (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 42 f.). Die Legislative war zu einem bloßen Akklamationsorgan verkommen. Die Länder waren gleichgeschaltet und damit ohne eigenes Recht; die Regierungsstrukturen sollten sich weiterhin schrittweise verändern. Die Funktionen des Reichskabinetts wurden ausgehöhlt, und im Gegenzug entstanden immer neue Sonderbehörden, die weder dem Staat noch der Partei, sondern ausschließlich dem Führerwillen untergeordnet waren. Überdies beanspruchte Hitler, der nach dem Tode von Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847–1934) nun auch Oberbefehlshaber der Reichswehr war, noch die Rolle des obersten Gerichtsherren.

Rivalisierende Machtträger

Wer nun annahm, daß das Deutsche Reich sich nach den blutigen Säuberungen des 30. Juni 1934 (Verhaftung und Ermordung der gesamten obersten SA-Führung, vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 53 ff.) im Sinne eines repressiven, konservativ- autoritären Regimes unter einer straffen Führerherrschaft stabilisieren würde, sah sich in mehrfacher Hinsicht getäuscht. Er unterschätzte einmal die innere Dynamik des nationalsozialistischen Führerstaates, zum anderen übersah er die Machtkämpfe, Kompetenzkonflikte und Auflösungserscheinungen, die sich hinter der Fassade der Führerherrschaft abspielten. Sie verliehen dem politischen System des "Dritten Reichs" zu keiner Zeit eine feste Form. Weder gab es ein einheitlich gestaltetes Konzept nationalsozialistischer Herrschaft noch ließ sich ein auf Regelhaftigkeit angelegtes Regierungs- und Verwaltungshandeln mit einem Führerwillen vereinbaren, der sich jeder Regel entzog.

Was in der NSDAP politische Praxis war, wurde schrittweise auf das staatliche Handeln übertragen. In der Partei hatte es nie eine geregelte Entscheidungs- und Befehlsstruktur gegeben, vielmehr bestand die "Reichsführung" aus einer Gruppe von Einzelpersonen oder Cliquen, die sich in einem persönlichen Treue- und Gefolgschaftsverhältnis gegenüber ihrem "Führer" befanden. Dieser verteilte umgekehrt seine Gunst willkürlich und lud seine Unterführer nie zu gemeinsamen Sitzungen, sondern nur zu Einzelgesprächen ein. Bald hingen politische Entscheidungen vom Zugang zu Hitler ab und waren nicht länger Sache eines förmlichen Beschlußverfahrens in einem dafür zuständigen Gremium. Das führte zur Verwischung von Kompetenzen und gab Hitler eine immer größere Machtfülle, da er in dem personenorientierten Herrschaftssystem als eine Art Schiedsrichter zwischen den rivalisierenden Machtträgern fungieren konnte (vgl. auch Seite 8).

Die Praxis der Ausnahmeverfügung und Ämtervielfalt, die sich durch die Einrichtung neuer Sonderbehörden und Kommissare immer unübersichtlicher gestaltete, bestimmte die weitere Entwicklung des Regimes und den permanenten, schleichenden Wandel seiner politischen und sozialen Strukturen. Der außerordentliche Führerwille mit seinen delegierten Sondervollmachten wurde die eigentliche politische Triebkraft und überlagerte dabei die formalen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Was als Mittel der Machtsteigerung und durch seine Form des ungeregelten Wettstreites um Macht und Gunst kurzfristig als Faktor der Beschleunigung und Leistungssteigerung durchaus wirkungsvoll war, führte mit zunehmender Dauer jedoch zu immer größeren Reibungsverlusten und zerstörte jede Regelhaftigkeit und Planbarkeit. Die bald gebräuchliche Propagandaformal "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" erweckte zwar nach außen den Eindruck eines starken und von einem einheitlichen Führerwillen beherrschten Staates.

Hinter dieser Fassade entfaltete sich jedoch ein Durcheinander und Gegeneinander von einzelnen Personen und Machtgruppen aus Partei, SS, Wehrmacht und neuen Sonderbehörden, das sich im Rückblick fast als eine autoritäre Anarchie darstellt. Darum sorgte sich auch der "Sekretär" des Führers, der Leiter der Reichskanzlei Martin Bormann (1900–1945), während des Krieges um den inneren Zusammenhalt des Regimes: "War ursprünglich die Gesetzgebung des Reiches zu schwerfällig und an zu viele Formvorschriften gebunden, so hat sie im Laufe der letzten Jahre eine Auflockerung erfahren, deren mögliche Auswirkungen rechtzeitig erkannt werden müssen, wenn für die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 189

Staatsführung ernste Gefahren vermieden werden sollen."

Daß trotz dieser unverkennbaren "Auflockerung", von der Bormann auf Dauer offenbar eine Gefährdung der Machtverhältnisse befürchtete, das NS-Regime bis zu seinem Ende eine immer größere Radikalisierung seiner Herrschaftsziele und -methoden erlebte und eine unvorstellbare Eroberungs- und Vernichtungsenergie entfalten konnte, bedarf der Veranschaulichung und der Erklärung. Zwar wurde Hitler mehr und mehr zum "Herren des Dritten Reiches" (Norman Rich). Doch läßt sich Hitlers Macht weder allein aus seinem Machtwillen und seinen Herrschaftszielen ableiten noch ohne die innere Wirkungsweise des Regimes und ohne die wachsende Bereitschaft von immer größeren Teilen der Bevölkerung zur Unterstützung des Nationalsozialismus erklären.

Radikalisierung und Machtausdehnung

Die Radikalisierung und weitere Machtausdehnung vollzog sich schrittweise, wobei in den Jahren 1934 bis 1938 wichtige Weichenstellungen stattfanden. Stärker als andere Abschnitte in der Geschichte des NS-Regimes sind diese Jahre von einer Diskrepanz zwischen der Außen- und Innenansicht geprägt. Das äußere Bild des Dritten Reiches in den Jahren 1935 und 1938 war von einer vermeintlichen Stabilisierung und scheinbaren politischen Mäßigung im konservativ-autoritären Sinne bestimmt, und so hat es sich in der Wahrnehmung und Erinnerung der Zeitgenossen auch häufig festgesetzt.

Noch längst nicht alle Ministerien waren mit Nationalsozialisten besetzt. Auch erhielt die Reichswehr, nachdem sie sich durch einen persönlichen Eid Hitler unterstellt hatte, eine (zweifelhafte) Garantie ihrer Autonomie. Von der Öffentlichkeit wurde diese Zeit darum sowohl als die normalen, guten (Friedens-)Jahre wahrgenommen als auch als die Phase einer deutlichen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Besserung. Sie galt als die Zeit glanzvoller Inszenierungen einer vermeintlichen Volksgemeinschaft und außenpolitischer Erfolge, die von der "Heimkehr" des Saarlandes über die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, den Einmarsch in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes bis zum "Anschluß Österreichs" reichten.

Fast alle außen- und militärpolitischen Aktionen und Entscheidungen verstießen gegen völkerrechtliche Verträge, aber sie ließen sich mit dem Wunsch nach Revision des als Diktat empfundenen Versailler Vertrages von 1919 scheinbar rechtfertigen (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 261, "Weimarer Republik", S. 18 ff.). Vor allem mehrten sie Hitlers Mythos und trugen zur Entstehung des schönen Scheines eines sicherlich autoritären, aber dafür aufstrebenden Industrie- und Wohlfahrtsstaates bei, der sich des von ihm forcierten Autobahnbaus sowie der populären Freizeitorganisation "Kraft durch Freude" rühmte. Hinter dieser Fassade verbarg sich jedoch das "häßliche Gesicht" der Diktatur in Gestalt der sich radikalisierenden Judenverfolgung und der permanenten Unterdrückung jeder Opposition.

Auch für die Außenpolitik gilt, daß sich die scheinbar friedlichen Jahre einer vermeintlich gemäßigten Revisionspolitik des Deutschen Reichs bis 1937/38 nicht von den Jahren der Aggression und Expansion, die 1938 beginnen, trennen lassen. Vielmehr diente die erste Phase nur der verdeckten Vorbereitung und Absicherung der auf Eroberung und Vernichtung zielenden Lebensraumpolitik. Sie bestimmte als Herrschaftsziel stets Hitlers Denken und muß als Triebkraft seiner Politik ernst genommen werden. Ihre Realisierung rückte in dem Maße näher, indem sich die machtpolitischen Voraussetzungen dafür ergaben. Zu den inneren Voraussetzungen gehörte die wachsende Macht des Diktators gegenüber den Bündnispartnern aus Bürokratie, Wirtschaft und Militär, die zwar ein großdeutsches Reich anstrebten, aber für eine zurückhaltendere Strategie und Politik bei der Aufrüstung und der Durchsetzung der außenpolitischen Ziele eintraten. Zu den äußeren Voraussetzungen gehörten die Schwächen und Krisenherde der internationalen Politik. Sie boten günstige Bedingungen für eine Revision des Versailler Vertragssystems, aber auch für eine Revolutionierung der Außenpolitik. Diese bestand in einer bewußten Außerkraftsetzung der Spielregeln der internationalen Politik, die trotz vielfacher Verstöße noch immer von der Idee der kollektiven Konfliktregelung durch Konferenzen und Verträge sowie von den Prinzipien des Gleichgewichts und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 190 der Beachtung der Integrität der anderen Staaten bestimmt war.

Vor allem galt im wechselseitigen Verkehr der Staaten miteinander ein unausgesprochener Grundsatz europäischer Politik. Danach sollten sich allein aus Gründen der Selbsterhaltung des eigenen Staates und der eigenen Gesellschaft die Mittel der Politik in einem kalkulierbaren und rationalen Verhältnis zu den Zielen der Politik befinden. Um so bedrohlicher für die internationale Ordnung mußte es werden, wenn eine skrupellose politische Spielernatur wie Hitler, der von sich sagte, er habe immer "Vabanque gespielt", die politische, wirtschaftliche und militärische Macht erobern konnte, um die sich aus der Labilität der internationalen Konstellation bietenden Gelegenheiten zur Erpressung und zur Aggression zu nutzen. Genau dies tat die nationalsozialistische Führung ab 1935 schrittweise. Sie erzielte damit zunächst bedeutende nationalpolitische Erfolge, die das Regime auch innenpolitisch immer weiter festigten. Langfristig führte die Außenpolitik des NS-Regimes, die immer mehr von dem Prinzip des Alles oder Nichts bestimmt war, jedoch in eine ungebremste und sich immer weiter beschleunigende Dynamik, die die Grenzen des Möglichen übersah und in Krieg, Vernichtung und Selbstzerstörung endete.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Beseitigung des Rechtsstaates

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 191

Ausbau des Führerstaates

Von Hans-Ulrich Thamer 6.4.2005 geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.

Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.

Verklammerung von Partei und Staat, Instrumentalisierung von Recht und Justiz, Entrechtung und Verfolgung der Juden: Die Jahre 1934-1938 waren gekennzeichnet durch den Umbau Deutschlands zum "Führerstaat". Durch gezielte Propaganda wurde der Personenkult um Hitler intensiviert.

Einleitung

Selten hat in der neueren Geschichte eine Person eine solche Machtfülle auf sich vereinigt wie Adolf Hitler. Nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg am 2. August 1934 gab es verfassungsrechtlich keine Institution mehr, die Hitlers Stellung hätte eingrenzen können. Im Unterschied zum faschistischen Italien, wo der Benito Mussolini (1883–1945) immer mit dem Monarchen und der auf diesen bezogenen Armee und Verwaltung zu rechnen hatte, waren im Führerstaat alle institutionellen Ansatzpunkte für die Entwicklung organisierter Gegenkräfte ausgeschaltet.

Hitlers Macht

Auch innerhalb der NSDAP hatte Hitler nach der Ermordung des SA-Stabschefs Ernst Röhm keinen ernsthaften Widerpart mehr. Seit dieser Zeit galt für das NS-System, "daß es mit Hitler stand und fiel; mit seinen Entscheidungen, seinen ideologischen Fixierungen, seinem politischen Lebensstil und seinem Bedürfnis für die grandiose Alternative Sieg oder Katastrophe" (Karl-Dietrich Bracher).

Dieser "Führerabsolutismus" (Martin Broszat) gründete sich nicht allein auf Hitlers Machtwillen oder besondere persönliche Qualitäten, sondern auch und vor allem auf die Zustimmungs- und Unterordnungsbereitschaft in Verwaltung und Gesellschaft sowie auf die besondere Herrschaftsmechanik im nationalsozialistischen Führerstaat. Der "Führer"-Mythos wurde zum gemeinsamen Nenner der inneren Herrschaftsmechanik sowie der Legitimation durch die Gesellschaft. Bereits während der Aufstiegsphase der NSDAP war Hitler zum machtpolitischen und ideologischen Bezugspunkt der nationalso- zialistischen Bewegung geworden. Er hatte zudem diese Machtstellung durch die "Führer"-Erwartung innerhalb der NSDAP sowie durch den "Führer"-Kult propagandistisch verstärken bzw. überhöhen können (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 21).

Nach der Machtübernahme 1933 übertrug sich dieser Prozeß der wechselseitigen Verstärkung von allgemeiner Erwartung einer charismatischen Erlöser- und Retterfigur und von dem nunmehr staatlichen Kult um den "Führer" auf die gesamte Gesellschaft. Zu den Voraussetzungen für die erfolgreiche Wirkung dieses "Führer"-Mythos gehörte neben der verbreiteten sozialen Erwartung eines nationalen Retters, der mit seinen außergewöhnlichen Qualitäten aus Not und Krise führen sollte, die politisch-propagandistische Verstärkung dieser Erwartung durch die Gefolgschaft. Sie diente als

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 192

Sprachrohr für die außerordentlichen Kräfte des charismatischen Führers. Hinzu kamen die Inszenierungen des "Führer"-Kultes durch die Propagandaapparate des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels (1897–1945). Diese nutzten vor allem die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Erfolge des Regimes bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Belebung der Wirtschaft sowie später die nationalpolitischen Erfolge bei der Wiederherstellung deutscher Großmachtansprüche. Sie wurden allein Hitler gut geschrieben, um damit auch diejenigen in der Zustimmung zum "Führer" zu bestärken, die dem "politischen Niemand" nur wenig Fähigkeiten und politische Erfolge zugetraut hatten.

Daß die politisch-administrativ in der Tat völlig unerfahrene und unvorbereitete Führungsclique der NSDAP gerade die kritische Anfangsphase durchstehen konnte, lag an der Bereitschaft weiter Teile der traditionellen Machteliten in Bürokratie, Reichswehr und Wirtschaft, mit dem nationalsozialistischen Regime auch deshalb zusammenzuarbeiten und es zu stützen, weil sie sich selbst dadurch eigene Vorteile und die Erfüllung der unterschiedlichsten sozialen und materiellen Erwartungen versprachen. Hinzu kam ein unbestreitbares taktisches Geschick Hitlers, der sich in seiner neuen Rolle als Reichskanzler zunächst vorsichtig abwartend verhielt und sich den Anschein eines honorigen Staatsmannes gab, der nicht nur die Parteiuniform, sondern bei passender Gelegenheit auch den bürgerlichen Anzug trug.

In den ersten Wochen und Monaten seiner Regierungszeit gab er sich Mühe, die Amtsgeschäfte des Regierungschefs regelmäßig und normal zu versehen. Dabei wurde bald erkennbar, daß er trotz seiner fehlenden Regierungserfahrungen die Spielregeln des Regierungshandelns rasch erfaßte und damit zur Überraschung derer, die mit einem schnellen Abwirtschaften des "vulgären" Agitators gerechnet hatten, geschickt umgehen konnte. Dabei fanden die Veränderung des Regierungsstils weg von Parlament und Parteien und hin zu einem autoritären Handeln auch die Zustimmung der konservativen Machtgruppen: Denn Hitler schien den Verfassungswandel, der mit den Präsidialregierungen der früheren Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970) und Franz von Papen (1879–1969) begonnen hatte, nur fortzusetzen. Er regierte anfangs vor allem mit der Notverordnungsvollmacht des Reichspräsidenten, und auch die Ausschaltung von Parlament und Kabinett durch das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 43 ff.) erregte in der Reichsbürokratie und in der Armee keinen Argwohn.

Sitzungen des Reichskabinetts fanden immer seltener statt. Daß damit auch die Möglichkeiten einer Kontrolle Hitlers durch die meist noch deutschnationalen Kabinettsmitglieder entfielen, nahmen diese hin. Abstimmungen hatte es im Kabinett Hitler von Anfang an nicht gegeben. Seit dem Ermächtigungsgesetz konnte Hitler als Reichskanzler unabhängig vom Reichspräsidenten Gesetze verkünden. Über Gesetzesvorlagen und Verordnungen aus den Ministerien wurde per Umlaufverfahren entschieden. Verzeichnete das Protokoll von 1933 noch 72 Sitzungen des Kabinetts, so trafen sich die Minister 1935 nur noch zwölfmal, seit 1938 trat das Kabinett überhaupt nicht mehr zusammen. Der prunkvolle Kabinettsaal in Hitlers neuer Reichskanzlei wurde nie benutzt. Die Regierung zerfiel in eine Vielzahl einzelner Ressorts. Sie standen einzig durch den neu ernannten Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers (1879–1962) in Verbindung mit dem "Führer", sofern sie als Angehörige der nationalsozialistischen Führungsclique nicht ohnehin den unmittelbaren Zugang zu Hitler besaßen. Hitler wurde durch dieses Verfahren "Dreh- und Angelpunkt des Regierungsapparates" (Ian Kershaw), andererseits konnte er sich damit aber aus der alltäglichen Beratungs- und Koordinationstätigkeit heraushalten und dies dem Chef der Reichskanzlei oder anderen Führersekretären überlassen. Das verstärkte den Nimbus des über allen Zwistigkeiten stehenden "Führers" ganz erheblich.

Diese Politik des Teilens und Herrschens, die Machtbefugnisse zersplitterte, um sie dann bei einer obersten Schlichtungsinstanz wieder zu bündeln, ging nicht auf ein konkretes Aktionsprogramm von Hitler und seinen Unterführern zurück. Es basierte eher auf einem intuitiven Handeln, das vorsichtiges Abwarten mit der Fähigkeit zum raschen und geschickten Ausnutzen von günstigen Gelegenheiten und einem ausgeprägten Machtinstinkt verband. Dies ließ Hitler immer erst dann handeln, wenn er seine Autorität beeinträchtigt sah, oder wenn er seine Entscheidung als Konsequenz von

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 193

Handlungszwängen darstellen konnte.

Ausgestattet mit der neuen Machtfülle verstärkte sich nach 1934 Hitlers Hang zu einem sprunghaften Lebens- und Arbeitsstil, der nun auch die politischen Entscheidungsprozeduren prägte. Bald hetzte er unaufhörlich zwischen Besprechungen und Kundgebungen, Aufmärschen, ersten Spatenstichen und Einweihungen hin und her. Das verstärkte nach außen das Bild vom rastlos tätigen und omnipräsenten "Führer". Die Mitglieder des Kabinetts oder der Regierungsbehörden mußten ihm oft nachreisen, um eine Entscheidung herbeizuführen. Das stärkte den Einfluß der Führungsgruppen der NSDAP, der Gauleiter und Reichsleiter oder auch der Adjutanten und Sekretäre, die gerade in der Nähe waren. Es bot sich ihnen dadurch vermehrt die Chance, Entscheidungen an den zuständigen Ministerien vorbei durchzusetzen. Gelegentlich führten solche unkoordinierten Verfahren auch zu Entscheidungen, die im Widerspruch zur eigenen Gesetzgebung der Regierung Hitler standen. So hatte beispielsweise Robert Ley die "Verordnung des Führers über die Deutsche Arbeitsfront" Hitler am Rande einer Veranstaltung am 24. Oktober 1934 gleichsam zur Unterschrift untergeschoben und über das Deutsche Nachrichten-Büro schon veröffentlichen lassen, als das Reichswirtschaftsministerium feststellte, daß deren Inhalt eindeutig dem "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 1934 widersprach.

Diese Panne konnte nur mühsam dadurch kaschiert werden, daß man die zur Durchführung der Verordnung notwendigen Ausführungsbestimmungen nie erließ und damit der Vorgang im Sande verlief. Denn der "Führer" durfte sich natürlich nicht irren. Trotz Hitlers erstaunlichen Gedächtnisses und seiner oft verblüffenden Detailkenntnisse ließen sich so die Fäden der Regierung nicht in der Hand halten. Dieser Regierungsstil förderte mit der Zeit viel mehr das unkoordinierte Eigenleben vieler einzelner Ressorts und führerunmittel- barer Sonderapparate.

Jeden Versuch einer förmlichen Festlegung des neuen Herrschaftssystems lehnte Hitler jedoch ab. Vielfach formulierte er Vorgaben so vage, daß sich mehrere Konzepte zur Umsetzung ergaben; oder er hielt die Dinge so lange in der Schwebe, bis sich eine der Machtgruppen oder ein Unterführer aus dem vielverzweigten Herrschaftssystem durchzusetzen schien. Diese Vorgehensweise läßt sich besonders für die Stabilisierungsphase des Regimes zwischen 1934 und 1936/37 beobachten, als nach der Machtdurchsetzung und nach dem Ende der parlamentarisch-rechtsstaatlichen Ordnung die Grundlegung einer neuen politisch-sozialen Ordnung zur Entscheidung stand. Vor allem in der Innen- und Sozialpolitik zeigte sich Hitler zunehmend unwillig, eindeutige Entscheidungen zu treffen. Anders war dies in der Außenpolitik, die immer deutlicher seine Handschrift trug.

Führer-Mythos

Wann immer Zweifel an Hitlers Politik entstanden und in der Bevölkerung Klage über die immer wieder auftretenden Engpässe in der Versorgung mit Lebensmitteln geführt wurden oder Kritik am korrupten Verhalten von Ortsgruppenleitern oder anderen Funktionären der NSDAP aufkam, wurden diese Unmutsäußerungen durch die Wirkungsmacht des Hitler-Mythos oder durch die suggestive Überredungsgabe Hitlers aufgefangen. Das bewirkte weniger die vielzitierte Ausstrahlungskraft Hitlers als die kollektiv-psychologisch bei vielen schon vorbereitete bzw. vorhandene Anpassungsbereitschaft und Selbsttäuschung. Sie sahen in Reichskanzler Adolf Hitler den Retter und sozialen Wohltäter, den sie nach Jahren der politischen und sozialen Struktur- und Identitätskrise erwartet hatten, und machten die vermeintlich radikaleren und unfähigen Unterführer für die Unzuträglichkeiten und Zumutungen im Herrschaftsalltag verantwortlich. "Wenn das der Führer wüßte", war ein geflügeltes Wort, das diese Ablenkung und Selbsttäuschung zum Ausdruck brachte.

Der Mythos des Retters und Führers war ideologisch und massenpsychologisch tief verwurzelt. Er berührte sich mit älteren Mythen und Denkweisen aus der Lebenswelt von Monarchie, Militär und Jugendbewegung. Daher neigten traditionelle Führungsgruppen, bürgerliche Schichten und auch Unterschichten zur Fehleinschätzung der politischen und sozialen Wirklichkeit des Führerstaates; sie nahmen vorzugsweise nur das wahr, was sich mit ihren Einstellungen in Übereinstimmung bringen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 194 ließ. In fast allen Schichten der Gesellschaft finden sich Beispiele für eine Bewußtseinsspaltung, die mit dem Führer-Mythos verbunden war. So hat Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch (1880– 1939), der in ehrverletzender Form von der NS-Führungsclique 1938 aus seinem Amt als Oberbefehlshaber des Heeres verdrängt wurde, ein Jahr später noch immer von dem Erlösungswerk gesprochen, das der "Führer" bewältigen müsse.

Die Frau eines ehemaligen Kommunisten aus Oberbayern bekannte 1935 allen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes gegen Kommunisten zum Trotz: "Alle Tage muß mein Dirndel für den Führer ein Vater Unser beten, weil er uns das tägliche Brot wiedergegeben hat." Der Hitler- Nimbus steigerte sich noch, als das nationalsozialistische Regime nach den Erfolgen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die tatsächlich nur durch die forcierte Aufrüstung möglich wurden, sich seit 1936 auch außenpolitischer Erfolge rühmen konnte, die den verbreiteten Erwartungen auf Wiederherstellung einer deutschen Großmachtposition entsprachen.

Goebbels und sein Propagandaapparat verstärkten den "Führer"-Nimbus und schreckten in der Verehrung des Diktators von keiner heroischen Überhöhung und rhetorischen Entlehnung mehr zurück, um die Identität der Deutschen mit Hitler zu postulieren: "Dieses ganze Volk hängt ihm nicht nur mit Verehrung, sondern mit tiefer, herzlicher Liebe an, weil es das Gefühl hat, daß es zu ihm gehört, Fleisch aus seinem Fleische und Geist aus seinem Geiste ist. [...] Wie wir eng um ihn versammelt stehen, so sagt es zu dieser Stunde der letzte Mann im entferntesten Dorf: Was er war, das ist er, und was er ist, das soll er bleiben, unser Hitler."

Der Propagandaminister enthüllte mit seinen Hymnen auf Hitler, die im krassen Gegensatz zu dessen tatsächlicher Persönlichkeitsstruktur standen, eine tiefere Schicht des Nationalsozialismus, nämlich seinen Charakter als politische Religion. Das bedeutete die Indienstnahme von religiösen Formen, der Liturgie, der Heiligenverehrung und der Heilsverkündung für die Zwecke einer weltlichen politischen Bewegung. Durch den Appell an das Jenseitige und an die Erlösungsbedürfnisse ihrer Anhängerschaft wollte sie eine intensivere, nicht mehr hinterfragbare Sicherung ihres Machtanspruches erreichen. Sichtbar wurden solche Formen des pseudoreligiösen Kultes in den Masseninszenierungen des Regimes mit ihren nächtlichen Kundgebungen und Totenehrungen. Spektakulärer Höhepunkt war etwa die Inszenierung eines bezeichnenderweise sogenannten "Lichtdoms", wobei durch die zusammenfließenden Strahlen von Flakscheinwerfern der Eindruck eines riesigen kuppelähnlichen Raumes entstand.

Wie diese pseudoreligiöse Verehrung auf Hitler zurückwirkte, ist schwer zu bestimmen. Vermutlich verstand er bis zur Mitte der dreißiger Jahre den Kult um seine Person als Inszenierung und Mittel zur Integration von Partei und Volk. Danach mehren sich die Anzeichen dafür, daß er selbst daran glaubte und zum Opfer seines eigenen Mythos wurde. Denn immer häufiger sprach er seither von seiner historischen Mission, zu der er von der "Vorsehung" berufen sei. "Ich gehe mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg, den mich die Vorsehung gehen heißt", äußerte er im März 1935 zum ersten, aber nicht zum letzten Mal voller Selbstgefälligkeit. Diese Überzeugung, von der Vorsehung auserwählt zu sein, gab seinen ideologischen Vorstellungen und dem eigenen politischen Selbstverständnis eine zusätzliche Bestätigung und erklärte die zunehmende Entschlossenheit, seine ideologischen Visionen zu vollstrecken und dabei alle Schranken des politischen Kalküls zu überspringen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 195 Regierung und Verwaltung

Daß Hitler seine dogmatischen Herrschaftsziele in die Tat umsetzen konnte, lag jedoch nicht nur in seinem "missionarischen Vollstreckungswillen" () begründet. Es war auch und vor allem auf die Machtstrukturen des Regimes sowie auf die ideologischen und politischen Dispositionen von Hitlers Helfern zurückzuführen, die zur Verwirklichung der mitunter nur sehr vage formulierten Weltanschauungsformeln bereit waren, sei es aus Gründen der eigenen Machtbehauptung oder sei es aus einem ideologischen Eifer, den sie mit Hitler teilten.

Die Konsequenz und Energie, mit denen das nationalsozialistische Regime seine Macht ausbaute sowie die wirtschaftlichen, rüstungspolitischen und militärischen Vorbereitungen für seine Eroberungspläne vorantrieb und umsetzte, stehen auf den ersten Blick in einem scheinbaren Widerspruch zu den unübersichtlichen Herrschaftsstrukturen. Auch nach der neuerlichen Konzentration der Macht im August 1934 erreichte das Regime bis zu seinem Ende 1945 zu keiner Zeit eine feste und überschaubare Ordnung von Regierung und Verwaltung. Vielmehr befanden sich die verschiedenen Machtgruppen, die 1933 Hitlers Machtübernahme erst ermöglicht hatten und die fortan zu den Trägern des Regimes gehörten, in einem Zustand ständiger Rivalitäten und Kompetenz- bzw. Machtverlagerungen.

Zunächst schienen die Repräsentanten der traditionellen Machteliten, neben der Staatsbürokratie die Reichswehr und die Großwirtschaft, gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung allein schon aus Gründen ihrer administrativen Qualifikation und politischen Erfahrung das größere Gewicht zu besitzen. Dies verschob sich seit 1934 und dann verstärkt seit 1937/38 eindeutig zugunsten der nationalsozialistischen Parteiführer und ihrer Apparate. Sie waren in dem Machtbündnis von Anfang an das dynamischere Element, getrieben von Aufstiegswillen, Machthunger, einer mentalen Abneigung gegen Bürokratie und Justiz mit ihren strengen Normen und Verwaltungsvorschriften sowie von ideologischem Eifer.

Aber auch innerhalb des nationalsozialistischen Machtkomplexes gab es keine politisch organisatorische Geschlossenheit. Kennzeichnend war ein permanenter Machtkampf zwischen der politischen Organisation und der Parteiarmee von SA und SS sowie zwischen den Unterführern der einzelnen Sonder- oder Nebenorganisationen. Die Ursachen für diese ständigen Rivalitäten und Kompetenzkonflikte lagen in den unterschiedlichen Erfolgen der einzelnen Unterführer bei der Verschmelzung ihrer Apparate mit staatlichen Einrichtungen, aber auch in der unterschiedlichen Anerkennung, die sie bei Hitler erfuhren. Alle Versuche, das Verhältnis zwischen dem Staat und seiner Verwaltung einerseits und der Partei mit ihren Untergliederungen andererseits dauerhaft zu klären, scheiterten. Dies wurde durch Formeln überdeckt, die zwar die Unterordnung des Staates unter die Partei ("Die Partei befiehlt dem Staat") proklamierten, tatsächlich aber nur die Unterminierung und Vereinnahmung der staatlichen Verwaltung bedeuteten. Der Dualismus zwischen Partei und Staat, dessen Konfliktlinien noch viel komplizierter verliefen als es diese Formel andeutet, gehörte zum Strukturmerkmal des Regimes. Vor allem sicherte dieses amorphe Gebilde des "Führerstaates" die unangefochtene Autorität Hitlers, der den einzigen Bezugspunkt in dieser polykratischen Ordnung darstellte. Auf seinen vermeintlichen oder tatsächlichen "Führerwillen" konnten sich alle Machtträger berufen, seine Entscheidung war ausschlaggebend in den vielen Rivalitäten. Wer den unmittelbaren Zugang und die Gunst Hitlers besaß, der galt im Machtkomplex mehr als eine noch so große Behörde.

Bündnispartner

Zusammengehalten wurde das permanent von inneren Machtkämpfen bestimmte Regime nicht nur durch die Autorität Hitlers, sondern auch durch eine zumindest teilweise Übereinstimmung der einzelnen Machtträger in ihren Herrschaftszielen. Gewollt war ein starker autoritärer Staat, um politischen Einfluß und sozialen Status gegen die Kräfte von Parlamentarismus und Demokratie zu sichern. Das Gewaltmonopol der Reichswehr sollte nicht nur behauptet, sondern auch durch die Wiederaufrüstung zu einem Instrument der Revisions- und Eroberungspolitik ausgebaut werden. Die Mitsprache der organisierten Arbeiterbewegung sollte ausgeschaltet und die Unternehmer wieder zu

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 196

"Herren in ihrem Hause" gemacht werden. Auch die Nationalsozialisten schienen ähnliche Ziele zu verfolgen oder verbargen hinter solch konservativ-autoritären Rezepten ihre teilweise viel weitergehenden Ziele. Ihre Methoden waren zwar ungleich radikaler, aber darüber wurde zunächst großzügig hinweggesehen. Der Ausschaltung und Verfolgung der politischen Linken und des liberal- demokratischen Verfassungssystems hatten die konservativen Bündnispartner zugestimmt und auch die Zerstörung des Rechtsstaates hingenommen. Auch die Ausgrenzung der rassenpolitisch stigmatisierten Minderheit vollzog sich zunächst mit Zustimmung oder Duldung der konservativen Regierungspartner.

Innerhalb dieses Machtkartells fand eine ständige Bewegung und Verschiebung der Machtverhältnisse statt: Die SS triumphierte 1934 über die SA, die staatliche Bürokratie verlor immer mehr Einfluß an neue nationalsozialistische Sonderbehörden, die vom Straßenbau bis zur Lenkung der Wirtschaft die alleinige Entscheidungsbefugnis beanspruchten und die Ministerien und Verwaltungen zu bloß ausführenden Organen degradierten. Schließlich sahen sich Justiz und Polizei in ihrer institutionellen Eigenständigkeit von der SS eingeschränkt und unterminiert, woran sie selbst durch eine allzu große ideologische Zustimmungs- und Anpassungsbereitschaft kräftig mitgewirkt hatten. Adolf Hitler war nicht der neutrale Schiedsrichter oder gemäßigte Vermittler zwischen den Machtgruppen, sondern die radikalen Impulse gingen von ihm aus oder wurden von ihm gebilligt. Er war, was viele Zeitgenossen nicht begreifen wollten, das radikale Zentrum der nationalsozialistischen Bewegung. Sie richtete nach dem Abschluß der "Machtergreifung" zunächst ihre Energien darauf, die einzelnen Sektoren von Staat und Gesellschaft durch neue Zwangsverbände zu kontrollieren und zu organisieren. Diese sollten nach der Zerstörung oder der Gleichschaltung der alten Interessenverbände den totalitären Herrschaftsansprüchen des Nationalsozialismus unterworfen werden.

So wuchs beispielsweise die von dem Reichsorganisationsleiter der NSDAP Robert Ley (1890–1945) gegründete Deutsche Arbeitsfront (DAF) durch die Übernahme der Mitglieder der zerschlagenen demokratischen Gewerkschaften und die Zwangsmitgliedschaft der Arbeitnehmer in der neuen NS- Organisation rasch zu einer Massenorganisation an (1939 insgesamt 25,3 Millionen) und verfügte über Zehntausende von haupt- und ehrenamtlichen Funktionären (1939: 44500). Entsprechend versuchte Ley, die Kompetenzen der DAF auszuweiten. Mußte sich die DAF anfänglich auf die bloße sozialpolitische Betreuungs- und Propagandaarbeit beschränken, so riß Ley allmählich neue Betätigungsfelder an sich, vor allem im Bereich der Berufserziehung, des Wohnungs- und Siedlungswesens, im Freizeitbereich und Sozialversicherungswesen. Dies geschah immer in dem Bemühen, aus Gründen der Selbstbehauptung und Attraktivität der DAF quasi-gewerkschaftliche Funktionen zu verschaffen. Damit wollte die DAF die traditionelle Praxis der Arbeiterbewegung übernehmen.

In ihrem Organisations- und Expansionsdrang war die DAF anfangs noch auf den Widerstand der Privatwirtschaft und des Reichswirtschaftsministeriums bzw. des Arbeitsministeriums gestoßen, die ihre Macht darauf stützen konnten, daß sie beide zunächst unentbehrlich waren. Die Industrie und das Wirtschaftsministerium für die Rüstungspolitik des Regimes, der deutschnationale Reichsarbeitsminister Franz Seldte (1882–1947) als Gegengewicht gegen den mächtigen DAF-Führer Robert Ley. "Selbstverständlich wäre Ley besser als Seldte", notierte Goebbels 1943 als Antwort Hitlers auf seine Kritik an dem schläfrigen Reichsarbeitsminister, "aber der Führer vertritt [...] den Standpunkt, Seldte könne er jederzeit auswechseln, während das bei Ley dann nicht mehr der Fall sei". Darum blieb Seldte im Amt und bildete ein wenn auch schwaches Gegengewicht gegen Ley, der, gestützt auf das große Gewicht und die vollen Kassen seiner Massenorganisation, über eine eigene Hausmacht und über den direkten Zugang zu Hitler verfügte.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 197 Verklammerung von Partei und Staat

Erfolgreich in ihrer Machteroberung waren einige - und Reichsleiter, die zu ihren Partei- auch entsprechende Staatsämter erreichen konnten: Goebbels als Gauleiter von Berlin und Reichspropagandaleiter der NSDAP erhielt im März 1933 das ersehnte Ministeramt (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 42). Schließlich konnte er als Präsident der Reichskulturkammer im gesamten kulturpolitischen Bereich auch über die gleichgeschalteten Standesverbände von den Schriftstellern und Theaterleuten bis hin zu den Inhabern von Zeitungskiosken verfügen. Eine ähnliche Machtfülle durch Parallelämter eroberte Walter Darré (1895– 1953): Seit 1931 Leiter des (Partei-)Amtes für Agrarpolitik, wurde er 1933 nach dem Rücktritt Alfred Hugenbergs Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und 1934 als Reichsbauernführer schließlich der Leiter des Reichsnährstandes, der Organisation aller Bauern und Agrarproduzenten zur Lenkung des Agrar- und Ernährungsbereichs.

Noch umfangreicher und weiter verzweigt wurde schließlich die Macht- und Ämterfülle von Hermann Göring, der sich bald rühmen konnte, der zweite Mann im Reich Adolf Hitlers zu sein: Seit 1932 Reichstagspräsident, wurde er 1933 kommissarischer preußischer Innenminister und schließlich auch preußischer Ministerpräsident sowie auf Reichsebene Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Hitler. 1934 wurde er ferner Reichtsluftfahrtminister sowie Reichsforst- und Reichsjägermeister. 1935 wurde Göring offiziell zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe ernannt und 1936 zunächst Rohstoff- und Devisenkommissar sowie dann Beauftragter für den Vierjahresplan. Dies brachte ihm de facto die Rolle eines Diktators für die gesamte Wirtschafts- und Arbeitseinsatzpolitik ein, vorbei an dem klassischen Wirtschaftsressort, das weiter bestand.

Über die Vereinnahmung der Polizeipräsidien in den Ländern verlief der Aufstieg des Reichsführers SS Heinrich Himmler (1900–1945) bis hin zum Reichsinnenminister (1943) und zur militärischen Funktion des Befehlshabers des Ersatzheeres (1944).

Das System der Verklammerung von Partei- und Staatsämtern setzte sich bis auf die Ebene der NS- Ortsgruppenleiter und Bürgermeister hinunter fort. Daß die Eroberung von Staatsämtern nicht unbedingt eine Machtsteigerung innerhalb des Regimes bedeuten mußte, zeigte die Rolle der insgesamt dreißig Gauleiter. Fast alle von ihnen – eine Ausnahme war der radikale Antisemit und Gauleiter in Franken Julius Streicher – durften sich zwar mit staatlichen Ämtern schmücken, wobei einige bald feststellen mußten, daß die Parteifunktion wichtiger als der Ministertitel war. Nur zwei von ihnen – Goebbels und (1883–1945) – errangen aber Ministerämter. Nur einige erreichten zusätzlich das Amt eines preußischen Oberpräsidenten bzw. eines bayerischen Landesministers, was ihnen immerhin auf regionaler Ebene eine starke Position sicherte. Umgekehrt hielten sich die Einflußmöglichkeiten derer, die zusätzlich zu Reichsstatthaltern, das heißt zu den unmittelbaren Repräsentanten der Reichsgewalt in den gleichgeschalteten Ländern ernannt worden waren, eher in Grenzen. Das änderte sich erst mit den territorialen Eroberungen des Reiches seit 1938, mit denen sich ein neues zukunftsreiches Betätigungsfeld eröffnete.

Gesellschaftliche Kontrolle und Macht verschaffte sich die NSDAP zudem über ihre zahlreichen Gliederungen und angeschlossenen Verbände. Ein ganzes Netzwerk mit einer teilweise ungeregelten Kompetenz legte sich über die Gesellschaft und sicherte den zahlreichen Unterführern immer größeren Einfluß. (1907–1974) beispielsweise, der sich als Führer der HJ (Hitlerjugend) in der Phase der Machtübernahme behauptet hatte und zum Reichsjugendführer ernannt worden war, beanspruchte nun die Kontrolle über den gesamten Erziehungsbereich. Dies rief den Widerstand des ebenfalls nationalsozialistischen Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Rust sowie den des Wirtschaftsministeriums, das die Interessen der gewerblichen Wirtschaft im Lehrlings- und Ausbildungsbereich vertrat, hervor. 1936 hatte es Schirach dann doch erreicht, die HJ zur Staatsjugend zu machen und damit eine Bresche in den staatlichen Erziehungsanspruch des Schulministeriums zu schlagen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 198

Jugend im NS-Staat

Wenn Hitler über Erziehung spricht, fällt zunächst auf, daß er dazu Begriffe benutzt wie "hineinhämmern", "hineinbrennen" oder "heranzüchten". Auch vom "gegebenen Menschenmaterial" ist die Rede. Die Entwicklung der Persönlichkeit des einzelnen als Maxime jeder aufklärerischen Pädagogik wird hier in aller Deutlichkeit abgelehnt. Hitlers Ideal ist vielmehr der widerspruchslos Gehorchende. Ohne Umschweife erklärt er, was ein Jugendlicher können muß: "Er soll lernen, zu schweigen, nicht nur, wenn er mit Recht getadelt wird, sondern soll auch lernen, wenn nötig, Unrecht schweigend zu ertragen." Was Hitler unter "Erziehung" versteht, skizziert er in einem in sich geschlossenen Abschnitt von "Mein Kampf", dem Abschnitt "Erziehungsgrundsätze des völkischen Staates". Die entscheidende Passage lautet: "Der Völkische Staat hat [...] seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie [...] einzustellen [...] auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung."

Das "Heranzüchten kerngesunder Körper" war für Hitler bei den Jungen Erziehung zum Soldaten. Die Mädchen sollten zu Frauen erzogen werden, die "wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen". "Charakter und Willensbildung" bezog sich in Hitlers "völkischer Erziehung" nicht auf das Individuum, sondern auf das zentral geführte "völkische Ganze". Dies stellt das Gegenteil einer emanzipatorischen Pädagogik dar, die das individuelle Selbstbewußtsein und das individuelle Verantwortungsbewußtsein der Schülerinnen und Schüler stärken will. Die wissenschaftliche Schulung stand dabei an letzter Stelle. Die Volksschüler, die 90 Prozent der Gesamtschülerzahl darstellten, bekamen selbst Grundwissen nur in grob verkürzter Form vermittelt. Die Verachtung der "Bildung" bei Hitler und der NS-Erziehung fand erst da ihre Grenzen, wo die notwendigen Eliten des NS-Staates auf fundiertes Fachwissen nicht verzichten konnten. [...]

Von besonderer Bedeutung ist dabei Hitlers Aussage, daß die Jugendlichen ihr ganzes Leben nicht mehr frei würden, und sein Zusatz, sie seien jedoch glücklich dabei. Die Erzeugung dieses Glücksgefühls, das mit einer völligen Entmündigung der Jugendlichen einherging, war in der Tat ein Schlüssel für den Erfolg bei der Heranzüchtung von Soldaten, die freudig in den Tod gehen sollten.

Benjamin Ortmeyer, Schulzeit unterm Hitlerbild, Frankfurt am Main 1996, S. 20 f.

Konkurrenz um Kompetenzen

Neben den Konkurrenzansprüchen durch die Ämter der NSDAP und Massenorganisationen mit Hoheitsanspruch und Zwangscharakter gab es andere Formen und Techniken der Erosion des an Rechtsnormen gebundenen Staatsapparates vor allem in Gestalt der führerunmittelbaren Sonderverwaltungen, die bald in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung und Daseinsvorsorge geschaffen wurden. Sie hatten ihren Anfang in der scheinbar harmlosen Einrichtung des führerunmittelbaren Amtes des "Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen" genommen, mit dem Fritz Todt (1891–1942) in Konkurrenz zum Reichsverkehrsministerium den populären Straßen- und Autobahnbau forcieren sollte. Bald gab es einen "Führer des Reichsarbeitsdienstes". Er war zwar formal als Staatssekretär dem Reichsinnenminister unterstellt, tatsächlich fungierte er aber als selbständiger Leiter einer Pflichtorganisation des Arbeitseinsatzes sowie einer vormilitärischen Ausbildung. Letztere Funktion war typisch für die Verquickung von Staat und Partei, aber auch für die Konkurrenz von Parteieinrichtungen zur Wehrmacht.

Sehr rasch entstand von der Organisation der Jugend über die Lenkung der Wirtschaft bis zur Verfügung über die staatliche Polizei durch die Parteiorganisation SS ein dichtes und unübersichtliches Netz von Sonderbevollmächtigten, Reichskommissaren, Generalbevollmächtigten und Beauftragten des Führers, das sich ohne genaue Kompetenzabgrenzung in Konkurrenz zu bestehenden

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 199

Verwaltungsorganen ausbreitete. Stets waren es Sonderaufgaben, die bald eine organisatorische Eigendynamik rechtfertigten und immer mehr Kompetenzen an sich banden.

Als die Bauverwaltung der Reichshauptstadt Berlin Hitlers Vorstellungen über den Ausbau seiner Kapitale nicht energisch genug vorantrieb, schuf er für seinen Privatarchitekten Albert Speer (1905– 1981) das Amt des "Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt", das Speer fast diktatorische Vollmachten im Bereich der kommunalen Bau- und Verkehrspolitik verlieh. Auf die Widerstände von Reichsbank, Wirtschaftsministerium und Privatwirtschaft gegen eine aller ökonomischen Vernunft zuwider laufende Aufrüstungspolitik reagierte Hitler 1936 mit einer Forcierung der Autarkiepolitik. Sie sollte die rüstungswirtschaftlich wichtigen Bereiche der deutschen Wirtschaft von den Spielregeln der Marktwirtschaft teilweise abkoppeln und von ausländischen Zulieferungen unabhängig machen. Hitler beauftragte Hermann Göring mit der Durchführung des Vierjahresplanes, einer Art Kommandowirtschaft zur Steuerung von so wichtigen Bereichen wie der Rohstoff-, Arbeitskräfte- und Devisenbeschaffung, der Eisenerzförderung sowie der Produktion von synthetischen Ersatzstoffen. Göring machte aus dem Auftrag quasi ein Überministerium, das quer zu allen anderen Institutionen weite Teile der Wirtschaft steuern konnte und diese kriegsfähig machen sollte. Eine schwierige Aufgabe, so Hitlers Konzept, bedürfe vor allem des richtigen Mannes an der richtigen Stelle, der mit umfassenden Sondervollmachten, eher durch seinen Machtwillen und -ehrgeiz als durch Sachkompetenz ausgezeichnet, sich in einem Konkurrenzkampf mit der staatlichen Verwaltung durchsetzen mußte und zugleich auch im Wettlauf um die Gunst des "Führers" zu überzeugen hatte.

Wie weit die Zersetzung der staatlichen Verwaltungskompetenzen schon fortgeschritten war und welche Radikalisierungen eine solche Entgrenzung von Staat und Partei mit sich bringen konnte, zeigte die Ernennung Himmlers zum "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" am 7. Oktober 1939. Damit wurde dem Reichsführer SS die Zuständigkeit für die brutale Germanisierungs- und Umsetzungspolitik in Osteuropa mit allen Vollmachten bis hin zur gewaltsamen Deportation von Juden und Polen sowie zur Umsiedlung Volksdeutscher übertragen. Die Einrichtung dieser Behörde, die von Himmler selbstherrlich ausgebaut wurde, gründete sich auf einen geheimen Führererlaß, der nur den "obersten Reichsbehörden" bekannt war, nicht aber der allgemeinen Verwaltung. Daß dies einen Bruch mit jeder Rechtsbindung von Verwaltung bedeutete, bestätigte zwar das Reichsverwaltungsgericht, doch an dem Verwaltungschaos und vor allem an der Vernichtungspolitik per Führererlaß änderte das nichts.

Daran war deutlich geworden, wie sich die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaftsziele durch die Einrichtung konkurrierender und führerunmittelbarer Ämter beschleunigen ließ, ohne die Existenz klassischer Ressorts aufzuheben. Sie verloren "nur" ihre zentrale Zuständigkeit, arbeiteten aber weiter und erweckten ein Bild scheinbarer Normalität, obwohl der auf Sondervollmachten beruhende NS- Staat, der sich nicht an die Regeln des Verwaltungsrechtes gebunden fühlte, mit seinem Schlingenwerk sie schon längst eingeschnürt und entmündigt hatte. Was die Männer in diesen neuen, sekundären Parteibürokratien zu ihrem Handeln antrieb, war der Wunsch nach Beschäftigung und Aufstieg, nach materieller Sicherung und sozialer Anerkennung bzw. Einfluß, gepaart mit Anpassungsbereitschaft und einem Bedürfnis nach Organisation und Technokratie. Nicht wenige von ihnen verstanden sich aber auch als Vertreter der völkisch-nationalsozialistischen Ideologie, die sie in die Praxis umsetzen wollten.

Soziale Kontrolle durch die NSDAP

Durch den gewaltigen Zustrom von Mitgliedern und ihre organisatorische Expansion war die NS- Bewegung im Alltag der deutschen Gesellschaft fast überall präsent. Die Mitgliederzahl hatte sich allein zwischen Januar und März 1933 verdreifacht, und insgesamt stieg sie bis 1935 von fast 850000 auf mindestens zweieinhalb Millionen an, um sich dann bis zum Kriegsbeginn auf über fünf Millionen zu erhöhen. Ähnliche dramatische Steigerungen erlebte die SA, die von 450000 Mitgliedern Anfang 1933 auf beinahe drei Millionen zum Zeitpunkt der Röhm-Affäre anstieg, um dann nach ihrem politischen Bedeutungsverlust bis 1938 wieder auf 1,2 Millionen zu schrumpfen. Auch andere

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 200

Parteigliederungen und angeschlossene Verbände expandierten gewaltig, oft durch verdeckte oder offene Formen des Zwanges herbeigeführt. Damit vermochte die NSDAP ihrem neuen Ziel der sozialen Kontrolle und Indoktrinierung gerecht zu werden, nachdem sie mit der erfolgreichen Machtübernahme 1933/34 ihre ursprüngliche Aufgabe erreicht hatte.

Zwar war die NSDAP damit in viele Teilherrschaften zerfallen, aber ihre Möglichkeiten der Kontrolle und der Mobilisierung reichten fast bis in jeden Winkel des Reiches. Zudem bot sie für Hunderttausende, von deren Engagement sie getragen war, Arbeit und Brot und vor allem ein Maß an sozialer Anerkennung und Macht, wovon viele vorher nur geträumt hatten. 1937 war die Zahl der Politischen Leiter schon auf 700000 angestiegen, ohne die Funktionäre der Nebenorganisationen mitzurechnen. Im Krieg lag die Zahl des Führungskorps bei zwei Millionen. Die Tendenz zur Ausweitung des Dienstleistungssektors erhielt mit dem NS-Regime einen gewaltigen Schub und mit ihr die materielle Besserstellung der Bediensteten, vor allem im Bereich der Parteibürokratie, die mit vergleichsweise hohen Gehältern und einem dreizehnten Monatsgehalt lockte.

Die Kreis- und Ortsgruppen mit ihren Block- und Zellenwarten konnten, und das gab vielen von ihnen eine besondere Form der Befriedigung, bis in das Leben des einzelnen Mitmenschen hineinwirken. Die NSDAP hatte beispielsweise politische Leumundszeugnisse für Beamte auszustellen, die befördert werden wollten. Für Anwärter des öffentlichen Dienstes sowie für Personen, die soziale Unterstützung und Ausbildungshilfen beantragten, war ebenfalls das Votum der Ortsgruppe entscheidend. Auch Gewerbegründungen und Empfehlungen für die Stellung als "UK" (unabkömmlich), die vom Kriegsdienst befreite, bedurften der Befürwortung der Partei. Der Blockleiter hatte nicht nur die Mitgliedsbeiträge für die Partei und die "NSV" (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) einzusammeln, sondern trieb mit seinen Helfern bis hin zu den HJ-Pimpfen auch die Spenden für das Winterhilfswerk, das nationalsozialistische Unterstützungswerk für Bedürftige, und die Beiträge für die Eintopfsonntage ein, die die Solidarität mit den ärmeren "Volksgenossen" durch Verzicht auf üppigere Mahlzeiten demonstrieren sollten. Zu Beginn des Krieges wurde den Orts- und Kreisgruppenleitern schließlich die Verteilung der Lebensmittel- und Kleiderkarten im Rahmen der Zwangsbewirtschaftung übertragen. Diese Aufgaben boten nicht wenigen kleinen Parteigenossen die Chance zur symbolischen Statuserhöhung und auch zur Schikane durch die Autorität der Parteiuniform.

Aufstieg der SS

Die Entwicklung der kleinen Schutzstaffel (SS) von einer ursprünglichen Unterabteilung der SA zur mächtigsten Gliederung des Nationalsozialismus und zum alles beherrschenden "SS-Staat" war weder vorhersehbar noch bloßer Zufall. Im Aufstieg der SS fanden die Herrschaftsformen und -ziele des Nationalsozialismus ihren deutlichsten organisatorischen Niederschlag. Die SS war sowohl die reinste Verkörperung der nationalsozialistischen Konzeption einer Weltanschauungsorganisation als auch das vollkommene Instrument der Führergewalt.

Zunächst hatte es so ausgesehen, als sollte der Reichsführer SS Heinrich Himmler mit seiner kleinen Elitegruppe von 56000 "Parteisoldaten" bei der Verteilung von Ämtern und Machtpositionen im Frühjahr 1933 leer ausgehen. Himmler wurde am 9. März 1933 lediglich kommissarischer Polizeipräsident von München und erhielt von dort dann Zugriff auf die politische Polizei in Bayern. Die wichtigste Position bei der Polizei in der Reichshauptstadt und in Preußen hatte schon Göring okkupiert. Zur Machtrivalität der beiden kam ein konzeptioneller Gegensatz. Während Göring mit dem Geheimen Staatspolizeiamt eine organisatorisch von der übrigen Polizei getrennte, aber innerhalb der staatlichen Verwaltung verbleibende politische Polizeieinheit aufbauen wollte, strebte Himmler von Anfang an eine aus dem allgemeinen Polizeiapparat herausgelöste und jeder politisch-administrativen Kontrolle entzogene politische Polizeitruppe an, bei der die gesamte politische Überwachung konzentriert und die Verfolgungsmaßnahmen institutionalisiert werden sollten.

Das entsprach Entstehung und Selbstverständnis der SS, die als "Stabswache" zwischen 1923 und 1925 begründet bzw. als Schutzstaffel umorganisiert worden war. 1929 war sie dann von dem zierlich

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 201 und schüchtern wirkenden Heinrich Himmler, einem gelernten Diplomlandwirt und Tierzüchter als Reichsführer SS übernommen und zu einer ordensähnlichen Organisation ausgebaut worden. Der Aufbau des elitären, führerunmittelbaren Ordens, dessen Personalauswahl nicht nach den Kriterien von Besitz, Bildung oder Herkunft, sondern von Rasse und Weltanschauung erfolgte, entsprang Himmlers rassenbiologischen Vorstellungen sowie seinem Bedürfnis nach einer möglichst engen Bindung an seine neue Vaterfigur Hitler. Zugleich betrieb der Auslesefanatiker und Bürokrat die Errichtung einer Parteipolizei, die er mit dem Aufbau des Sicherheitsdienstes (SD) 1931 als Nachrichten- und Überwachungsorgan der Partei unter Reinhard Heydrich (1904–1942) vorbereitete.

Schon früh hatte Himmler mit der Ausdifferenzierung der SS begonnen. Am 17. März 1933 wurde die "Leibstandarte-SS Adolf Hitler" unter Sepp Dietrich (1892–1966) gebildet, bald darauf die "Politischen Bereitschaften", die im Herbst 1934 nach der Niederschlagung der SA zur "SS-Verfügungstruppe" umgebildet wurden und den Kern der späteren "Waffen-SS" bildeten. Eine weitere Säule des SS- Imperiums war mit den Wachmannschaften der Konzentrationslager, den SS-Totenkopfverbänden, entstanden, die ihren Ausgang im Konzentrationslager Dachau genommen hatten. Am 30. Juni 1934 hatte die SS die Alleinzuständigkeit für sämtliche Konzentrationslager erhalten, die bis dahin noch vielfach unter SA-Kontrolle gestanden hatten. Mit der Ernennung von (1892–1943), bisher Lagerkommandant von Dachau, zum "Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS- Wachverbände", war die Voraussetzung für die Vereinheitlichung und Systematisierung des außerstaatlichen Terrorsystems geschaffen.

Damit übertraf Himmler den entscheidenden Etappenerfolg, den er bei der Kontrolle über die politische Polizei in den Ländern bereits bis zum Frühjahr 1934 in den nichtpreußischen Ländern errungen hatte. Am 20. April 1934 ernannte Göring Himmler auch zum Inspekteur der Preußischen Geheimen Staatspolizei und machte den Reichsführer SS, den er als Verbündeten im inneren Machtkampf suchte, damit zum Herren über die gesamte politische Polizei des Reiches. Wie bei der Übernahme der Polizeigewalt in den übrigen Ländern folgte auch im April 1934 der seinem Chef intellektuell überlegene Heydrich als neuer Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes nach. Er betrieb als Organisator des Terrors die schrittweise Verschmelzung von Gegnerermittlung durch den parteieigenen mit der Gegnerbekämpfung durch die staatliche Politische Partei. Das Gestapogesetz von 1936 entzog deren Tätigkeit nicht nur jeder richterlichen Nachprüfung, sondern schrieb auch ihre Herauslösung aus der allgemeinen Verwaltung fest.

SS-Staat

Mit diesen einzelnen Schritten war der SS-Staat vorgezeichnet, es fehlte noch Himmlers Zugriff auf die allgemeine Polizei, das heißt auf Schutzpolizei, Gendarmerie und Kriminalpolizei. Das vollzog sich mit der Ernennung von Himmler zum "Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern" am 17. Juni 1936. Damit wurde einerseits in Abkehr der vormaligen Länderzuständigkeiten die Zentralisierung der Polizei auf Reichsebene abgeschlossen, andererseits die Polizei endgültig durch die SS vereinnahmt. In der eigentümlichen Amtsbezeichnung Himmlers kam sowohl diese Vereinnahmung zum Ausdruck als auch die weitere Ausdehnung der Kompetenzen von Himmler und seiner SS gegenüber der staatlichen Verwaltung (und bald auch der Wehrmacht). Denn als Staatssekretär im Reichsinnenministerium unterstand Himmler zwar "persönlich und unmittelbar" dem Innenminister, als Reichsführer SS unterstand er jedoch nur dem "Führer". Diese führerunmittelbare Stellung wog allemal schwerer als die Unterstellung als Polizeichef und Staatssekretär unter einen Minister, der zwar auch alter Nationalsozialist war, jedoch über keine Hausmacht verfügte. Himmler war zu diesem Zeitpunkt schon stark genug, daß er nicht mehr ein eigenes staatliches Büro als "Chef der deutschen Polizei im Innenministerium" unterhalten mußte. Vielmehr besorgte diese Aufgabe ein Amt innerhalb der SS-Zentrale. Damit wurde die Polizei aus dem Verwaltungsstaat herausgelöst.

Diesem entscheidenden Schritt ließ Himmler rasch eine organisatorische Umstrukturierung des gesamten SS-Komplexes folgen, die eine Vielzahl neuer, sich ständig umorganisierender Ämter schuf,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 202 die sich "wie eine riesige Krake mit ihren institutionellen Fangarmen in alle Bereiche von Staat, Gesellschaft und Partei hineinfraß" (Bernd Jürgen Wendt). Die Polizei wurde in zwei Hauptämter eingeteilt: die (Schutzpolizei, Gendarmerie) unter SS-Obergruppenführer und Polizeigeneral , und die Sicherheitspolizei (Politische Polizei, Kriminalpolizei und Grenzpolizei) unter SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, der in Personalunion auch weiterhin Chef des Sicherheitsdienstes (SD) blieb.

Der Prozeß der Verschmelzung von staatlichen Ämtern und Parteiapparaten kam zum Abschluß, als am 27. September 1939 die zentralen Ämter der Sicherheitspolizei und des parteieigenen SD zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammengefaßt wurden. Zur stärkeren Integration der verschiedenen Ämter, die mittlerweile entstanden waren, wurde bereits im November 1937 in jedem Wehrkreis, der zugleich einem SS-Oberabschnitt entsprach, ein "Höherer SS- und Polizeiführer" (HSSPF) eingesetzt, der im Mobilmachungsfall die gesamte SS-Polizeimacht in Konkurrenz zur Wehrmacht koordinieren und führen sollte. Mit dem Beginn der kriegerischen Eroberungspolitik sollten die HSSPF eine erweiterte Kompetenz bei der Etablierung der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft und insbesondere bei den "rassischen Säuberungen" im Osten übernehmen.

Als "weltanschaulicher Stoßtrupp und Schutzstaffel der Ideen des Führers", wie Heydrich bereits 1935 die Konzeption der SS beschrieben hatte, sollte sie eine Einrichtung sein, die "den politischen Zustand des deutschen Volkskörpers sorgfältig überwacht, jedes Krankheitssymptom rechtzeitig erkennt und die Zerstörungskeime feststellt und mit jedem Mittel beseitigt". Diese Gegnerbekämpfung müsse mit technisch-polizeilichen und mit geistigen Mitteln "an allen Fronten" geführt werden. Denn, so formulierte Himmler die ideologische Angst des Nationalsozialismus, die nächsten Jahrzehnte würden "den Vernichtungskampf der [...] untermenschlichen Gegner und der gesamten Welt gegen Deutschland" bringen.

Der Geschäftsverteilungsplan der Sicherheitspolizei stellt ein bürokratisches Dokument der globalen ideologischen Feindschaft des Nationalsozialismus dar. In den einzelnen Ämtern sollten "Kommunismus, Marxismus und Nebenorganisationen, Reaktion, Opposition, Legitimismus, Liberalismus", ferner der "politische Katholizismus, der politische Protestantismus, Sekten, sonstige Kirchen und Freimaurerei" überwacht und bekämpft werden. Für "Judenangelegenheiten" war beispielsweise das Referat IV B 4 "Politische Kirchen, Sekten und Juden" zuständig, Referatsleiter war SS-Obersturmbannführer (1906–1962). Gruppe IV C bearbeitete Schutzhaftangelegenheiten, Gruppe IV D ausländische Arbeiter, staatsfeindliche Ausländer und Emigranten. Eng verbunden mit der Gegnerbekämpfung war Amt VII "Weltanschauliche Forschung und Auswertung", gewissermaßen das wissenschaftliche Pendant, das aus dem SD übernommen wurde.

Die lückenlose Diagnose war in diesem totalitären Kontrollkonzept Voraussetzung dafür, daß die nach Meinung der NS-Ideologen eigentliche Aufgabe der SS, das deutsche Volk zu schützen und durch Auslesepolitik zu "heilen", erfüllt würde. Das war auch Aufgabe von Heydrichs SD, der seit 1937 regelmäßig Berichte über Lage und Stimmung der Bevölkerung erstellen ließ, um das Regime durch eine Art von "geheimem Meinungsforschungsinstitut" dauerhaft zu sichern. Alles, was an Organisations- und Kommunikationstechniken aufzubieten war, nutzte die SS. Die SS war die widersprüchlichste und merkwürdigste Synthese des Uralten und der Moderne. Als eine Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie bediente sie sich für damalige Verhältnisse moderner Methoden. Das stand freilich in einem eigentümlichen Gegensatz zu den archaischen Leitbildern von Blut und Boden und der antimodernen Ordensmystik der SS, die sich in verfallenen Burgen die Weihestätten für ihren Ahnen- und Totenkult errichtete. Heinrich Himmler verkörperte in seiner Person die Gegensätze, Widersprüche und damit Abgründe, die sich in einem Menschen auftun können. Der penible Bürokrat und Herr über einen gewaltigen Verfolgungs- und Vernichtungsapparat konnte seinen SS-Männern in Vernichtungs- und Konzentrationslagern rücksichtslose Härte predigen und sich gleichzeitig um den Frieden des Waldes oder die Reinheit der Nahrungsmittel sorgen. Darum lehnte er die Jagd ab und ängstigte sich vor den tödlichen Wirkungen der modernen Zivilisation.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 203

Was jedoch den wegen ihrer Uniformen so genannten schwarzen Orden der SS gesellschaftsfähig machte, waren nicht solche mystischen Elemente, sondern der Anspruch, eine neue Elite zu bilden. Nicht nur, daß Himmler freigiebig die Würde eines SS-Ehrenführers an Minister, Ministerialbeamte und Wirtschaftsführer vergab (um die Reputation der SS zu steigern und den eigenen Einfluß bis in das Auswärtige Amt auszudehnen) oder daß er elitäre Reitervereine in seine Reiter-SS übernahm. Es gab überdies einen auffälligen Zustrom namhafter Vertreter der Aristokratie bereits vor 1933, der sich danach verstärkte. 18,7 Prozent der SS-Obergruppenführer, 9,8 Prozent der SS-Gruppenführer, 14,3 Prozent der SS-Brigadeführer waren Adelige, die von der SS und ihrem ausgeklügelten System der Hierarchie und elitären Rituale die Wiederherstellung von traditionellen Wert- und Sozialmustern erwarteten. Dazu kamen die Söhne des Bürgertums, verabschiedete Reichswehroffiziere, arbeitslose Akademiker, in der Regel mit juristischer Qualifikation, Freiberufler ohne Existenzgrundlage, die im Polizeidienst oder im Reichssicherheitshauptamt auf eine schnelle Karriere hofften.

Sie waren fast alle Männer der Altersgruppen, die sich geprägt vom Kriegserlebnis der Jahre 1914 bis 1918 und dem materiellen Elend der Nachkriegszeit als "verlorene Frontgeneration" bezeichneten. Darunter waren Intellektuelle, von denen einige von der Gefühls- und Ideenwelt der deutschen Jugendbewegung beeinflußt waren und die nun vorwiegend über den SD in das RSHA kamen. Sie waren nicht nur juristisch ausgebildete Technokraten der Macht, sondern zu einem großen Teil auch Ideologen, die in Abgrenzung zur bürgerlich-liberalen Gesellschaft und scharfer Gegnerschaft zu sozialistischen Gesellschaftsentwürfen eine neue Weltanschauungselite gründen wollten und ihr Ziel in der Bekämpfung aller "Fremdvölkischen" bzw. in der Neuordnung Europas nach "biologisch- völkischen" Kriterien sahen.

Instrumentalisierung von Recht und Justiz

Der Ausschaltung und Vernichtung des inneren Feindes hatten nach der nationalsozialistischen Gewaltideologie auch Recht und Justiz zu dienen. Die Instrumentalisierung der Justiz zu politischen Zwecken ist zwar autoritären Verfassungssystemen nicht fremd, doch unterschieden sich davon Aushöhlung und Politisierung der Justiz im Dritten Reich fundamental vor allem durch Ausmaß und Methoden, die zu einer tendenziell unbegrenzten Ausweitung von Willkür und Rechtlosigkeit führten.

Durchlöchert und zerstört wurde die Rechtsordnung auf mehreren Wegen: Durch die Verletzung wichtiger Rechtsprinzipien und -garantien sowie durch zahlreiche rassenideologisch bestimmte gesetzliche Einzelregelungen wie etwa

• die Einführung des sogenannten Arierparagraphen in verschiedene Gesetze;

• die Entwicklung des Strafvollzugs und insbesondere der Schutzhaft, die präventiv und als willkürliche Freiheitsberaubung angeordnet werden konnte und zum Inbegriff der politischen Gegnerbekämpfung unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde;

• die Gleichschaltung der Justiz und die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Richter;

• ferner die umfassende Änderung der Gerichtsverfassung.

Bei der Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit gingen autoritäre Ordnungswünsche und Anpassungsbereitschaft auf Seiten der konservativen Justiz, die die langwierigen Rechtssprechungsverfahren der Weimarer Republik abschaffen wollte, mit Täuschungsmanövern und Gewalt durch die nationalsozialistischen Machthaber Hand in Hand. Auch wenn die Nationalsozialisten zunächst hinter der Fassade des scheinbar Vertrauten und mit propagandistischen Leerformeln agierten, überraschten doch das Tempo und die Zielstrebigkeit, mit denen der Rechtsstaat schon in

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 204 den Jahren 1933/34 außer Kraft gesetzt wurde (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 36 ff.). Weil sie nicht aus der Strafpraxis verdrängt werden wollte, willigte die konservative Justiz ein, daß nach dem Brand des Reichstags einer der fundamentalsten Rechtsgrundsätze "nulla poena sine lege" (keine Strafe ohne Gesetz) aufgehoben und mit einer "Lex van der Lubbe" (nach dem als Brandstifter verurteilten Holländer Marinus van der Lubbe) auch rückwirkend für Brandstiftung die Todesstrafe verhängt werden konnte. Bald wurden Vorgänge für strafbar erklärt, nur weil sie gegen das "gesunde Volksempfinden" verstießen, auch wenn es dafür keine Strafbestimmungen gab.

Auch die Einrichtung von Sondergerichten war eine Vorgabe des Justizministeriums, um der wachsenden nationalsozialistischen Kritik am Justizwesen zu begegnen. Die Sondergerichte wurden bei allen Oberlandesgerichten eingerichtet, gegen ihre Urteile gab es keine weiteren Rechtsmittel mehr. Hier führte eine erhebliche Verkürzung der Verfahren bis hin zu regelrechten Schnellverfahren zu einschneidenden Minderungen der Rechte der Angeklagten.

Recht und Justiz dienten dem Regime nicht nur zur Ausschaltung der politischen Gegner und zur Herrschaftssicherung, sondern wurden auch zu Instrumenten der Rassenpolitik und Judenverfolgung. Das begann mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933. Es verfügte nicht nur die Entlassung von Beamten, die Mitglieder demokratischer Parteien waren, sondern grenzte auch Juden (vorerst noch mit Ausnahme der Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges) aus. Damit hatte zum ersten Mal ein rassenideologisches Element – mit Zustimmung auch der deutschnationalen Regierungspartner – Einzug in ein Reichsgesetz gefunden. Es folgten Verschärfungen der Strafbestimmungen wie etwa gegen "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" sowie die Verfügung, Menschen mit erblichen Krankheiten unfruchtbar zu machen.

Aufgabe rechtsstaatlicher Prinzipien

Auch für die Strafgesetzgebung galt, was in anderen Bereichen von Staat und Gesellschaft zu beobachten war. Die Nationalsozialisten besaßen keine eigene Rechtstheorie, wohl aber eine grundsätzliche und dumpfe Feindschaft gegen alle Prinzipien des Rechtsstaates. Sie wurden von ihnen als "liberalistisch" denunziert und mit den sehr vagen ideologischen Formeln vom "gesunden Volksempfinden" oder "Recht ist, was dem Volke nützt" kontrastiert bzw. aufgehoben. Damit ließ sich kein verläßliches Rechtsgebäude begründen, sondern es entstand eine verworrene Situation, die die Rechtsunsicherheit beförderte.

Es gab ein Nebeneinander einer politisierten Strafgesetzgebung, die rechtsstaatliche Normen außer Kraft setzte und einer autoritären Rechtspraxis gegen Andersdenkende. Es gab aber andererseits auch Bereiche, in denen herkömmliche Grundsätze des bürgerlichen Rechtes weiter die alltägliche Arbeit der Gerichte bestimmten. Vor allem im Zivilrecht herrschte weiterhin der Schein von Normalität und Kontinuität. In Strafverfahren praktizierten die Gerichte, vor allem wenn die Beschuldigten Angehörige der politischen Linken oder Juden waren, eine harte Rechtssprechung, die den politischen Erwartungen des Regimes und auch den eigenen politisch-ideologischen Vorurteilen entsprach. Das galt besonders für die zahlreichen Hochverratsverfahren, die in den dreißiger Jahren an Oberlandesgerichten und am Volksgerichtshof gegen Angehörige der KPD und der SPD stattfanden. In der Regel wurden die gesetzlichen Bestimmungen von den Gerichten sehr weit ausgelegt und damit Delikte wie das Abhören von Radio Moskau oder die Weitergabe antinationalsozialistischer Schriften als Vorbereitung zum Hochverrat bewertet. Rund 16000 Todesurteile sind auf diese Art und Weise bis Ende 1944 von der Justiz verhängt worden.

Auch waren die Gerichte bereit, der Gestapo in ihren Verfolgungs- und Verhörpraktiken gegen angebliche "Staatsfeinde" größte Freiheiten einzuräumen. Sie dienten damit schon vor der Verkündung des Gestapogesetzes vom 10. Februar 1936, mit dem staatspolizeiliche Aktivitäten der gerichtlichen Nachprüfung entzogen wurden, der Willkür und nicht etwa dem Rechtsschutz. Daß diese Anpassungsbereitschaft auch von autoritären bzw. sozial-reaktionären Vorurteilen und Einstellungen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 205 der Gerichte mitbestimmt wurde, zeigt die Tatsache, daß diese Praxis vor allem gegenüber Mitgliedern und Sympathisanten der Linksparteien, generell auch gegenüber Angehörigen von Unterschichten, Randgruppen und religiösen Minderheiten sowie Freikirchen üblich war. Sie war weniger ausgeprägt gegenüber bürgerlich-konservativen Angeklagten, zu denen die Richter eine größere soziale Nähe und Verbundenheit empfanden.

Unsicherheit in der Rechtslage und eine von Vorurteilen bestimmte Anpassungsbereitschaft prägten vielfach auch das Verhalten von Gerichten in der Frage des sogenannten "Rasserechts", wann immer es um Eheprobleme zwischen Juden und Nichtjuden oder nur um das Wohn- und Arbeitsrecht von Juden ging. Noch vor dem berüchtigten Nürnberger "Blutschutzgesetz" (Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre) von 1935 (siehe auch Seite 15) gab es Fälle, in denen Gerichte die Gesetzgeber an "rassepolitischem Eifer" (Ralph Angermund) überbieten wollten. Es verwundert daher nicht, daß die Nürnberger Gesetze dann auch von den Gerichten in einer sehr weiten Auslegungspraxis angewandt wurden.

Zerfall individuellen Rechtsschutzes

Mit dem Gestapogesetz von 1936, das staatspolizeiliche Aktionen grundsätzlich der richterlichen Nachprüfung entzog, war der größte Schritt zum permanenten Ausnahmezustand getan. Als der Gestapo per Gesetz zugestanden wurde, was sie vorher schon längst praktiziert hatte, zerfiel der Rechtsschutz des Individuums vollständig. Nun konnte die Gestapo selbst entscheiden, welcher Tatbestand als politisch galt und wer als gefährlicher Staatsfeind zu verfolgen war. Die Justiz mußte trotz ihrer Anpassungsbereitschaft nun verstärkt den Druck und immer neue Eingriffe durch Himmlers Polizei hinnehmen. Oft wurden Urteile der Justiz dadurch "korrigiert", daß man die "Staatsfeinde" noch im Gerichtssaal verhaftete oder nach der Justizhaft in ein KZ verschleppte. (1893– 1945), Staatssekretär im Justizministerium, rügte die Oberlandesgerichtspräsidenten immer häufiger ob der milden Strafpraxis. Der spätere Präsident des Volksgerichtshofes drohte für den Fall weiteren "Versagens" mit einer "Polizeijustiz", die an die Stelle der bisherigen Justiz treten könnte. Wollte sich die Justiz nicht ständig dieser Vorhaltung und damit der Gefahr einer weiteren Ausschaltung aussetzen, blieb ihr, nachdem sie einmal selbst den Weg der Aushöhlung und Politisierung von Recht und Justiz eingeschlagen hatte, nur die weitere Anpassung und Kapitulation.

Mit Beginn des Krieges im September 1939 sollte sich dieser Weg in die Willkür und die Umwertung aller bisherigen Werte der Rechtssprechung noch beschleunigen. Neue Straftatbestände von der sogenannten "Volksschädlingsverordnung", die die Plünderung und "Ausnutzung der Kriegsumstände" unter schwerste Strafe stellte, bis zur Kriegswirtschaftsverordnung, die das Horten von Lebensmitteln und die Schwarzschlachtung seitens der Bauern ahnden sollte, wurden zum "Schutz der Wirtschaft" eingeführt; ferner wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte erheblich erweitert. Damit konnten Straftatbestände wie Diebstähle aus Metallsammlungen oder das Horten von Lebensmitteln sowie der Umgang mit Kriegsgefangenen mit hohen Gefängnis- oder Zuchthausstrafen, teilweise sogar auch mit Todesstrafe geahndet werden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 206 Entrechtung und Verfolgung der Juden

Die Durchsetzung der rassenpolitischen Ziele folgte demselben Muster wie die übrige Radikalisierung der Politik und des Rechts. Sie war eingebunden in den polykratischen Entscheidungsprozeß und verlief nach den üblichen Techniken der Propagandaaktionen der Partei von unten und den staatlich- gesetzlichen Sanktionierungen des Terrors von oben. Das zeigen alle drei gegen die deutschen Juden gerichteten einschneidenden Verfolgungs- und Ausgrenzungsakte: die Entlassung jüdischer Beamter im April 1933, die Ausgrenzung der Juden zu einer Gruppe minderen Rechtes durch die Nürnberger Gesetze 1935 und schließlich die Verdrängung der Juden aus der deutschen Wirtschaft 1938.

Zugleich deuten diese Daten an, daß der Prozeß der Radikalisierung rassistischer Politik sich stufenförmig vollzog und daß er mit der völligen Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger und den Pogromen vom November 1938 noch nicht an sein Ende gekommen war. Denn einerseits war die Radikalisierung der Rassenpolitik im "Denkansatz des Rassismus angelegt" (Hans Walter Schmuhl). Sie zielte darum über die Ausgrenzung hinaus als letztes Mittel auf die Vernichtung der als "rassisch minderwertig" und als "innerer Feind des Volkskörpers" stigmatisierten Minderheiten. Andererseits lag es in der polykratischen Struktur des NS-Regimes begründet, daß im ständigen und ungeregelten Wettbewerb einzelner Machtgruppen sich innerhalb des Regimes Herrschaftsträger fanden, die im Namen der rassistischen Ideologie jeweils Vorkämpfer einer neuen Aktion waren. Dabei stand die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Zentrum der nationalsozialistischen Genozidpolitik; sie war aber nicht das einzige Element. Es war begleitet von einer Ausgrenzung und Vernichtungspolitik gegen psychisch Kranke, gegen geistig und körperliche Behinderte, gegen "Asoziale" und Homosexuelle sowie gegen Sinti und Roma, die alle als "Gemeinschaftsfremde" stigmatisiert wurden.

Antisemitismus als Staatsdoktrin

Am 30. Januar 1933 kam mit Hitler zum ersten Mal in der modernen Geschichte ein Regierungschef an die Macht, bei dem der Rassenantisemitismus zum Kern seiner Weltanschauung gehörte. Wie sich bald zeigen sollte, wurde damit der Antisemitismus zur offiziellen Staatsdoktrin. Mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" von 1933, das das Gegenteil von dem bezweckte, was es vortäuschte, wurden alle Beamten jüdischer Herkunft – vorerst noch mit Ausnahme der Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs – aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Bald wurde dieser "Arierparagraph" auf berufsständische Vereinigungen, unter anderem Rechtsanwälte, Kassenärzte, Zahnärzte, Steuerberater und andere gesellschaftliche Organisationen übertragen. Damit war aber nur das Tor für weitere gesetzliche Bestimmungen geöffnet. Das "Gesetz gegen die Überfüllung von deutschen Schulen und Hochschulen" vom 25. April 1933 begrenzte die Neuzulassung jüdischer Schüler und Studenten auf 1,5 Prozent.

Für die gebildeten deutschen Juden, die sich zunächst nicht hatten vorstellen können, daß in einem kulturell und industriell hochentwickelten Land wie Deutschland ihre bürgerlichen Rechte und ihre wirtschaftliche Existenz von einer Regierung zerstört werden könnten, lösten die Vorgänge im April 1933 ein erstes tiefes Erschrecken aus, dem dann die Einigung der verschiedenen politischen Richtungen innerhalb des deutschen Judentums unter einem Dachverband und die Errichtung verschiedener jüdischer Selbsthilfeorganisationen im sozialen und kulturellen Bereich folgte.

Auch wenn das Jahr 1934 durch die innenpolitische Krise im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre und auch durch außenpolitische Rücksichtnahmen eine gewisse Atempause brachte, hörte die rassistische Agitation nicht auf. Parallel zu der Ausgrenzung und Verfolgung der deutschen Juden begann die staatliche Zwangspolitik gegen geistig Behinderte, die im Naziorgan als "Erbkranke" entwürdigt und zwangssterilisiert wurden. Betroffen waren Personen, die an angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie und anderen Erbkrankheiten litten. Unter dem Beifall nicht weniger Fachleute wollte das Regime damit eine Hebung der "Volksgesundheit unserer Rasse" und einen Rückgang der Pflegekosten in den Behindertenanstalten erreichen.

Das Jahr 1935 brachte einen weiteren Schub in der Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik, und zwar

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 207 wieder in der charakteristischen Doppelstrategie von Provokation und Aktion durch einzelne Parteigliederungen einerseits und durch eine gesetzgeberische Scheinlegalisierung andererseits. Seit Mitte 1934 hatte der rassenpolitische Fanatiker Julius Streicher überall im Reich Schaukästen aufstellen lassen, in denen sein antisemitisches Hetzblatt "Der Stürmer" ausgehängt wurde. Im Frühjahr 1935 steigerte er seine Aktivitäten und forderte, die Juden unter "Fremdenherrschaft" zu stellen, das heißt ihnen ihre Grundrechte zu entziehen. Zum gleichen Zeitpunkt 1935 kam es zu judenfeindlichen Aktionen, die an die Boykotte gegen jüdische Geschäfte im April 1933 erinnerten. Zusätzlich wurde die Forderung laut, die Eheschließung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Personen zu untersagen.

Verbot von "Mischehen"

Wie groß die Wirkung der antisemitischen Kampagne bereits war, zeigte sich daran, daß Standesbeamte sich weigerten, solche "Mischehen" zu trauen. Auch der Versuch von Betroffenen, im Falle der Weigerung der Standesbeamten diese durch gerichtliche Anordnung zu einer entsprechenden Amtshandlung, die gesetzlich vorgeschrieben war, anzuhalten, scheiterte in nicht wenigen Fällen.

Ein weiteres Signal für die kommende Entwicklung war das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935, mit dem Juden vom Wehrdienst ausgeschlossen wurden. Die antisemitische Kampagne verstärkte sich, als die Ankündigung eines besonderen Staatsangehörigkeitsgesetzes für Juden von Innenminister Wilhelm Frick (1877–1946) nicht umgehend umgesetzt wurde. Der Grund für die Verzögerung lag nicht darin, daß sich die Ministerialbürokratie grundsätzlich gegen ein solches Gesetz sperrte. Er lag vielmehr in einem internen Streit um das freilich nicht unwichtige Detail, ob die Geltung dieses Gesetzes auf "Volljuden", das heißt auf Ehepartner mit zwei jüdischen Eltern beschränkt oder auf "Mischehen", das heißt auf Ehepartner mit einem jüdischen Eltern- oder Großelternteil ausgedehnt werden sollte. In dieser Situation forderte Hitler die Vorlage eines Gesetzes, mit dem die staatsbürgerliche Diskriminierung der Juden verfügt und die Ehe zwischen "Ariern" und "Nichtariern" untersagt werden sollte. Von den vier Entwürfen, die am Rande eines Reichsparteitages mit großer Eile erstellt wurden, entschied sich Hitler für das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" in einer aus seiner Sicht abgemilderten Fassung. Es verbot Eheschließungen und außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen "deutschen und artverwandten Blutes". Das Gesetz sah für die sogenannte "Rassenmischehe" eine Zuchthausstrafe vor, bei außerehelichem Geschlechtsverkehr sollte der beteiligte Mann je nach den Umständen ebenfalls mit einer Gefängnis- oder mit einer Zuchthausstrafe verfolgt werden. Ferner wurde deutschen Juden die Beschäftigung von weiblichen deutschen Hausangestellten untersagt. Das hastig entworfene "Reichsbürgergesetz" gewährte nur "Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" die "vollen politischen Rechte" eines "Reichsbürgers" und würdigte die deutschen Juden zu Bürgern zweiter Klasse herab, deren Status nicht genau definiert wurde.

Die Nürnberger Gesetze machten die Rechtsentwicklung und jüdische Emanzipation seit der Aufklärung und seit dem 19. Jahrhundert rückgängig und bildeten die Grundlage für weitere Diskriminierungen und Verfolgungen. Die entscheidende Frage, wer nun "Jude" war, wurde von beiden Gesetzen nicht beantwortet, sondern weiteren Ausführungsbestimmungen überlassen. Dies schuf neuerliche Unsicherheiten für die Betroffenen, den Parteiaktivisten hingegen bot es die Chance weiterer judenfeindlicher Aktionen und Verschärfungen des Gesetzes. Nach wochenlangen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der Ministerialbürokratie und den Parteidienststellen sowie dem nationalsozialistischen Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner enthielt die "Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz" vom 14. November 1935 folgende Definition: "Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt [...]. Als Jude gilt auch der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende staatsangehörige jüdische Mischling, a) der beim Erlaß des Gesetzes der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder danach in sie aufgenommen wird, b) der beim Erlaß des Gesetzes mit einem Juden verheiratet war oder sich danach mit einem solchen verheiratet, c) der aus einer Ehe mit einem Juden im Sinne des Absatzes 1 stammt." Diejenigen, die von diesen Bestimmungen betroffen waren, galten nur noch als "Staatsangehörige" mit minderem Recht, während

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 208 alle anderen "von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großeltern" abstammenden sogenannten "jüdischen Mischlinge" das "vorläufige Reichsbürgerrecht" erhielten.

Sicherlich bedeutete dieser Kompromiß, daß ein großer Teil der zuletzt genannten Personen zunächst vor weiteren judenfeindlichen Ausgrenzungen bewahrt blieb und ihnen nahezu volle staatsbürgerliche Rechte eingeräumt wurden. So konnten diese Menschen, die zwei jüdische Großeltern besaßen, zunächst noch das Recht auf die freie Schulwahl und den Universitätsbesuch erhalten und waren überdies wehrpflichtig. Gleichwohl hatte das von rassistischen Kriterien bestimmte Denken und Handeln endgültig Justiz und Verwaltung durchdrungen. Bereits der Streit um die erste Ausführungsbestimmung hatte angekündigt, daß weitere Radikalisierungen auf dem Verordnungsweg jederzeit möglich waren. Auch Äußerungen Hitlers im internen Führungskreis, in denen er eine Ghettoisierung und Vertreibung der Juden androhte, ließen ahnen, daß mit den Nürnberger Gesetzen keineswegs eine wirkliche Rechtssicherheit für die deutschen Juden erreicht war. Ihre weitere Ausgrenzung und Isolierung begann mit der sich ständig verschärfenden Praxis bei der Gewährung einer Eheerlaubnis für die nach dem Gesetz als "Mischlinge ersten Grades" bezeichneten Personen und setzte sich mit immer neuen Verordnungen fort. Ihnen wurden bisherige Sonderregelungen wie etwa die Zulassung zum Studium entzogen, bis sie schließlich 1943 zu Zwangsarbeit verpflichtet wurden, die sich kaum noch von einer KZ-Haft unterschied.

Besonders hart traf es bereits seit dem September 1935 die als sogenannte "Volljuden" und "Dreivierteljuden" bezeichneten Personen, die nun endgültig einen minderen Rechtsstatus hatten. Auch diejenigen jüdischen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die 1933 als Träger militärischer Auszeichnungen noch im Amt bleiben konnten, wurden nun entlassen. All das führte zu einer zunehmenden Isolierung der jüdischen Bürger im täglichen Leben, die sich allein schon dadurch ausgestoßen fühlen mußten, daß bereits jeder berufliche oder geschäftliche Kontakt mit ihnen in den Verdacht des Verbotenen geriet und nicht selten übereifrigen Denunzianten Anlaß für eine Strafanzeige bot. Verschärft wurde die Situation der Ausgrenzung und Willkür noch durch Richter, die die rassenantisemitischen Zielsetzungen der Gesetze und Verordnungen teilten und überdies durch eine rigide Auslegung selbst harmlose Gesten zwischenmenschlicher Herzlichkeit erbarmungslos ahndeten. Umgekehrt bezeugen Einzelfälle, daß auch die harten Strafandrohungen des "Blutschutzgesetzes" viele Menschen nicht von Beziehungen zu jüdischen Bürgern abhielten.

Die Nürnberger Gesetze gehörten wie die früheren antijüdischen Maßnahmen auch in den Zusammenhang der übrigen NS-Rassepolitik. So war es kein Zufall, daß am 18. Oktober 1935 das "Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des Deutschen Volkes" erlassen wurde, das ein Eheverbot für erbkranke Menschen vorsah und die Vorlage "eines Ehetauglichkeitszeugnisses" verlangte.

Berufsverbote

Während in der Folgezeit durch mehrere Verordnungen zum "Reichsbürgergesetz" Juden von der Ausübung freier, akademischer Berufe – zuletzt denen des Arztes und des Rechtsanwalts – ausgeschlossen wurden, schien in Handwerk und Gewerbe, in Handel und Banken sowie im Immobilienbesitz noch eine Überlebenschance gegeben. Das sollte sich 1938 ändern, als den deutschen Juden auch ihre materielle Existenzgrundlage genommen wurde. Hatte es 1933 vom Warenhaus und der Privatbank bis hin zum Einzelhandelsgeschäft noch etwa 100000 jüdische Betriebe der verschiedensten Größenordnungen gegeben, so waren es als Folge der unaufhörlichen antisemitischen Kampagnen und Schikanen im April 1938 nur noch 39532. Viele von ihnen befanden sich überdies in einem deutlichen wirtschaftlichen Niedergang. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit von jüdischen Arbeitern und Angestellten, und auch viele der ehemaligen Freiberufler sahen sich bald am Rande des Existenzminimums. Trotz der zunehmenden Verarmung der jüdischen Bevölkerung ging den nationalsozialistischen Aktivisten die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft noch zu langsam. Mit dem zunehmend radikaleren Vorgehen des Regimes im Frühjahr 1938 erhielt auch die antijüdische Verfolgungspolitik einen neuen Schub, zumal die österreichischen Juden im Gefolge der nationalsozialistischen Machtübernahme eine Verfolgungswelle erleiden mußten, die an Radikalität

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 209 alles bisherige übertraf.

Ende April 1938 wurden alle Juden gezwungen, ihre Vermögen zu deklarieren, im Mai wurden sie von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen, im Juli wurde eine Kennkarte für Juden eingeführt und im August wurden sie zur Führung zusätzlicher Vornamen, Sarah bzw. Israel, gezwungen, die sie als Juden stigmatisieren sollten. Zusätzlich wurden ihre Reisepässe mit einem roten "J" abgestempelt. Schließlich wurde Mitte November 1938 jüdischen Kindern der Besuch staatlicher Schulen endgültig untersagt.

Damit war auf dem Verordnungsweg nach fünf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft die Diskriminierung von Juden drastisch ausgeweitet worden, ihre Lebensbedingungen hatten sich extrem verschlechtert. Doch hatte das Regime sich in eine widersprüchliche Situation manövriert: Einerseits stieß die Verletzung des Eigentumsprinzips im In- und Ausland auf Kritik, andererseits wurde durch die bisherige Ausplünderung eine Auswanderung, wie sie die Ministerialbürokratie und der Sicherheitsdienst (SD) betrieben, erschwert. Es bedurfte daher noch eines äußeren, eher zufälligen scheinbaren Anlasses, um eine Konstellation herbeizuführen, die den Machthabern die Chance bot, ihre Verfolgungspolitik mit größerer Brutalität und Geschwindigkeit voranzutreiben. Und wiederum sollte diese als Reaktion auf den angeblich "gesunden Volkswillen" ausgegeben werden.

Pogrom von 1938

Am 7. November 1938 verübte der siebzehnjährige deutsch-polnische Jude Herzel Grynszpan ein Attentat auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris. Es war ein Akt ohnmächtiger Rache, zu dem sich Grynszpan hinreißen ließ, nachdem er von dem bitteren Schicksal seiner Eltern erfahren hatte. Sie waren zusammen mit 17000 anderen Leidensgenossen von der Gestapo auf Verlangen des Auswärtigen Amtes zur deutsch-polnischen Grenze gebracht worden, wo sie sich, von den polnischen Behörden zurückgewiesen, unter erbärmlichen Bedingungen im Niemandsland aufhalten mußten. Das Attentat, dem Ernst vom Rath am Nachmittag des 9. November erlag, war der spektakuläre Vorwand für eine Welle von Pogromen, die schon am 8. November vereinzelt begannen, dann aber am Abend des 9. November mit aller Wucht über die deutschen Städte und Dörfer hereinbrachen. Die Weisungen waren von München ausgegangen, wo die NS-Führung gerade mit alten Kämpfern der NSDAP des Hitler-Putsches am 9. November 1923 gedachte.

Auf Hitlers Veranlassung hatte Goebbels die Stimmung im Saal durch eine wüste antisemitische Hetzrede angeheizt und mit Hinweis auf die bereits am Vorabend initiierten Pogromaktionen weitere Ausbrüche des "Volkszorns" angekündigt. Die Bemerkung von Goebbels, daß die Partei entsprechende Aktionen zwar nicht organisieren, aber dort, wo sie entstünden, auch nicht behindern werde, wurde von den anwesenden Gauleitern verstanden. Sie gaben telefonisch Befehle an ihre Unterführer, die sie an die SA weiterleiteten. In den SA-Trupps erwachte nach Jahren der Zurückdrängung sofort wieder die alte Bürgerkriegsmentalität. Als angeblich spontanen Akt des Volkszornes, an den allerdings niemand glauben wollte, legten sie Brände in jüdischen Synagogen, zerstörten jüdische Geschäfte, demütigten, verhöhnten und mißhandelten jüdische Bürger.

Die Bilanz des , das am 10. November offiziell für beendet erklärt wurde, war erschreckend: Mehrere Hundert Synagogen waren abgebrannt, mindestens 8000 jüdische Geschäfte zerstört sowie zahllose Wohnungen verwüstet. Zwischen 90 und 100 Juden waren erschlagen, niedergestochen oder zu Tode geprügelt worden. Hinzu kamen Millionenschäden an zerstörten Geschäftseinrichtungen und Schaufensterscheiben. Das alles wurde im Volksmund bald mit dem Begriff "Reichskristallnacht" verharmlost. Daß dahinter der organisierte Wille zur Verfolgung und Radikalisierung stand, bewiesen die folgenden Tage. Zunächst wurden im ganzen deutschen Reich etwa 30000 jüdische Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Zwar blieb die Aktion auf wenige Wochen beschränkt, doch bedeutete sie eine Katastrophe für die bürgerliche Existenz und das Bewußtsein vieler Juden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 210

Die Reaktion der Bevölkerung auf die Pogromnacht und das bürokratische Nachspiel war unterschiedlich. Nur eine Minderheit in der Bevölkerung beteiligte sich an den Plünderungen und Brandschatzungen. Die Mehrheit verharrte schweigend, zeigte sich eingeschüchtert und angewidert von den pöbelhaften Gewaltaktionen oder blickte einfach weg. Nur einige Mutige zeigten Mitgefühl und Hilfe für die gepeinigten und drangsalierten jüdischen Mitbürger.

Kritik löste vor allen Dingen die sinnlose Zerstörung materieller Werte in Millionenhöhe aus. Dies hinderte aber umgekehrt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Bürgern nicht daran, im Anschluß an die Kampagne sich an dem Beutezug zu beteiligen und sich sogenannte "arisierte Ware" anzueignen. Ein häufiges Argument der vorsichtigen Kritik war überdies die Sorge um das deutsche Ansehen bzw. um die eigene Situation in einem Regime, das zu solchen Gewalt- und Zerstörungsaktionen fähig war. Die massive antisemitische Propaganda hatte es offenbar nicht vermocht, die Allgemeinheit zur Unterstützung der angeblich "spontanen" Aktionen aufzuhetzen. Das war sicherlich mit der tiefen Abneigung der Mehrzahl der Menschen gegen Gewaltaktionen und körperliche Mißhandlungen zu erklären, aber auch mit einem Auseinanderdriften der Wert- und Verhaltensweisen von Partei und Bevölkerung, die sich bislang zumindest nach der NS-Propaganda im Zeichen der "nationalen Volksgemeinschaft" in Übereinstimmung befanden.

Nun aber schied sich der nationalsozialistische Radikalismus, vor allem der radikale rassenbiologische Antisemitismus, von den in der Bevölkerung verbreiteten traditionellen sozialen Einstellungen und Verhaltensformen. Das galt auch für die traditionelle Judenfeindschaft, die sich aus religiösen Motiven und sozialen Vorurteilen speiste, aber auch immer an bürgerlichen Moralvorstellungen festhielt und darum vor deren offener Verletzung zurückschreckte. Es war der Zeitpunkt, in dem sich die radikalen Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung zu verselbständigen begannen. Das bedeutete für den Bereich der Rassen- und Judenpolitik, daß sich die weiteren Schritte auf dem Wege zur Realisierung der Rassendoktrin noch stärker hinter dem Nebel einer bürokratischen Tarnsprache und der scheinbaren Begründung mit Notwendigkeiten der Kriegführung vollziehen würden. Das konnte zwar dem kritischen Blick der Zeitgenossen nicht verborgen bleiben, doch die meisten beruhigten sich damit, daß sie nicht wissen müßten, was sie nicht wissen wollten.

Verdrängung aus der Wirtschaft

Die definitive Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben, die schon seit dem Frühjahr 1938 vorbereitet worden war, wurde auf einer Konferenz am 12. November 1938 im Reichsluftfahrtministerium in Berlin vollzogen, zu dem Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan alle beteiligten Dienststellen eingeladen hatte. Der Verlauf der Sitzung war von Ausbrüchen ideologischer Verblendung und brutalen Haßgefühlen geprägt. Die Demagogen beriefen sich auf den angeblichen "Volkswillen", zu deren Vollstrecker sie sich machten.

Den deutschen Juden wurde die sofortige Reparatur der von NSDAP und SA-Trupps angerichteten Verwüstungen und – als Vergeltung für das Pariser Attentat – die Zahlung von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Dies war eine gewaltige Summe für eine Bevölkerungsgruppe, die zu diesem Zeitpunkt nur noch rund 250000 Mitglieder zählte (von etwa 500000 im Jahre 1933). Den durch die Terrorwelle angerichteten Schaden wollten zwar aus Gründen ihrer Glaubwürdigkeit die Versicherungsgesellschaften tragen, doch bestand Göring auf der Beschlagnahme der an die Juden zu zahlenden Versicherungsleistungen zu Gunsten des Reiches. Schließlich sollte die vollständige "Arisierung" nach dem Willen Görings "Schlag auf Schlag" erfolgen. Gemeint war damit die Enteignung jüdischer Gewerbebetriebe und Einzelhandelsgeschäfte, die von staatlichen Treuhändern unter Wert geschätzt und dann zu normalem Verkehrswert an "Arier" weiterverkauft wurden.

Begleitet wurde diese wirtschaftliche Ausplünderung durch einen verschärften Druck zur Auswanderung und durch eine Vielzahl von anderen diskriminierenden Maßnahmen. Juden wurde der Besuch von Kinos, Schwimmbädern und Theatern untersagt, und ihnen wurde die Benutzung bestimmter Eisenbahnabteile vorgeschrieben.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 211

Die Juden wurden damit des letzten gesetzlichen Schutzes und auch des menschlichen Rechtes auf Existenz beraubt. Der Rassenantisemitismus hatte sich in einer staatlich exekutierten Verfolgungsaktion durchgesetzt und damit war, entsprechend des nationalsozialistischen Prinzips einer permanenten Radikalisierung der Herrschaftsziele und -praxis, der Weg zur letzten Etappe von der Verfolgung zur physischen Vernichtung frei. Das "Schwarze Korps", das interne Presseorgan der SS, sprach dieses Ziel drei Wochen nach dem Novemberpogrom in einer ihrer Ausgaben unverhohlen aus: "Mit Feuer und Schwert muß man das nun auf sich beschränkte Parasitenvolk auslöschen. Das Ergebnis wäre das tatsächliche und endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung." Den möglichen Zeitpunkt und den Zusammenhang dieser Vernichtung hatte Göring bereits am 12. November 1938 angegeben: "Wenn das deutsche Volk in irgendeiner absehbaren Zeit in außenpolitische Konflikte kommt, so ist es selbstverständlich, daß wir auch in Deutschland in allererster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung mit den Juden zu vollziehen."

Verfolgung der deutschen Juden

Im Herbst 1938, zur Zeit des Novemberpogroms, befanden sich von ehemals rund 100000 jüdischen Betrieben noch 40000 in Händen ihrer rechtmäßigen Besitzer. Am stärksten hatten die "Arisierungen" im Einzelhandel zu Buche geschlagen, von 50000 Geschäfte waren noch 9000 übrig. Die Zahl der jüdischen Arbeitslosen war stetig angestiegen, Berufsverbote und erzwungene Verkäufe hatten zur Verarmung vieler geführt. Die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938 vernichtete die noch verbliebenen Existenzen. Ab dem 1. Januar 1939 war Juden das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften, ebenso das Anbieten von Waren und gewerblichen Leistungen auf Märkten und Festen, das Führen von Handwerksbetrieben untersagt. Die Betriebe wurden, in der Regel zu einem Bruchteil ihres Wertes, in die Hände von nichtjüdischen Besitzern überführt ("arisiert") oder aufgelöst. Für den jüdischen Eigentümer bedeutete das in jedem Falle den Ruin, denn auch über den Erlös konnte er nicht verfügen, er wurde auf Sperrkonten eingezahlt und später zugunsten des Deutschen Reiches konfisziert. Schmuck, Juwelen, Antiquitäten mußten die Juden zwangsweise verkaufen, die Ankäufe erfolgten zu Preisen, die weit unter dem Wert lagen; auch über Wertpapiere und Aktien durften Juden nicht mehr verfügen, sie mußten ins Zwangsdepot gegeben werden. Jüdischer Immobilienbesitz wurde gleichfalls zwangsarisiert. Jüdische Arbeitnehmer wurden gekündigt, die Selbständigen hatten fast ausnahmslos Berufsverbot. Von 3152 Ärzten hatten 709 noch die widerrufliche Erlaubnis, als "Krankenbehandler" ausschließlich jüdische Patienten zu versorgen.

Nach dem Novemberpogrom kam mit dem Verbot jüdischer Zeitungen und Organisationen das öffentliche Leben der Juden zum Erliegen. Ausgeraubt und verelendet, blieb ihnen die private Existenz unter zunehmend kläglichen Umständen, unter immer neuen Schikanen. Am 30. April begannen mit einem "Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden" die Vorbereitungen der Zusammenlegung jüdischer Familien in "Judenhäusern". Absicht war, und sie wurde rasch verwirklicht, das Zusammendrängen von Juden in Wohnungen, die die Überwachung (und später die Deportationen) erleichterten. "Ariern", so die Begründung, sei das Zusammenleben mit Juden im selben Haus nicht zuzumuten.

Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 brachte eine Ausgangsbeschränkung: Juden durften im Sommer ab 21 Uhr und im Winter ab 20 Uhr ihre Behausung nicht mehr verlassen. Ab 20. September war ihnen der Besitz von Rundfunkempfängern verboten, das wurde als kriegsnotwendig erklärt, ebenso das Verbot, Telefone zu besitzen (19. Juli 1940), weil Juden ja als "Feinde des Reiches" galten.

Seit Anfang Dezember 1938 war ihnen Autofahren und der Besitz von Kraftfahrzeugen verboten, ab September 1939 wurden ihnen besondere Lebensmittelgeschäfte zum Einkauf zugewiesen, ab Juli 1940 durften Juden in Berlin nur noch zwischen 16 Uhr und 17 Uhr Lebensmittel einkaufen (die ihnen zugeteilten Rationen waren außerdem erheblich geringer als die der "Arier"). Immer neue Gemeinheiten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 212 dachten sich findige Bürokraten aus, etwa das Verbot, Haustiere zu halten oder Leihbüchereien zu benutzen.

Von Plänen zur "Lösung der Judenfrage" wurde gemunkelt; da gab es das alte Madagaskarprojekt, nach dem alle Juden aus Deutschland auf diese Insel deportiert werden sollten, und dann schien es, als verfolgte das NS-Regime den Plan, irgendwo in Ostpolen ein großes Judenreservat zu errichten. Dabei schienen die noch in Deutschland lebenden Juden ebenso billige wie unentbehrliche Arbeitskräfte. Sie waren nämlich zur Zwangsarbeit verpflichtet und ersetzten in der Rüstungsindustrie vielfach Facharbeiter, die zur Wehrmacht eingezogen waren.

Am 1. September 1941 erging die Polizeiverordnung über die Kennzeichnung von Juden: Vom 15. September an mußte jeder Jude vom sechsten Lebensjahr an einen gelben Stern auf der Kleidung aufgenäht tragen. Damit war die öffentliche Demütigung und Brandmarkung vollkommen, die Überwachung der verfolgten Minderheit perfekt. Seit dem 1. Juli waren die Juden in Deutschland (durch die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz) unter Polizeirecht gestellt, das heißt, für sie gab es keine Rechtsinstanzen mehr. Aber zu diesem Zeitpunkt lebten nicht mehr viele Juden in Deutschland. Offiziell war das Deutsche Reich "judenfrei". Einige wenige hatten sich in die Illegalität geflüchtet, andere lebten im zweifelhaften Schutz, den "Mischehen" mit nichtjüdischen Partnern boten, jederzeit gewärtig, das Schicksal der Mehrheit der deutschen Juden zu teilen. [...]

Im Herbst 1941 begann mit der systematischen, bürokratisch geregelten und bis ins Detail programmierten Deportation der Juden aus Deutschland die letzte Phase nationalsozialistischer Judenpolitik. Sie war nunmehr zielstrebig und ausschließlich darauf gerichtet, die europäische Judenheit auszurotten.

Wolfgang Benz, "Die Juden im Dritten Reich", in: Wolfgang Benz, Werner Bergmann (Hg.), Vorurteil und Völkermord, Freiburg 1997, S. 385 ff.

Propaganda und politischer Kult

Propaganda war für das politische Selbstverständnis und die Herrschaftstechnik der Nationalsozialisten ein zentraler Begriff. Die Massenmobilisierung durch die Propaganda und die wachsende Zustimmung durch immer größere Teile der deutschen Gesellschaft wurden zur wichtigsten Voraussetzung für Hitlers Macht. Doch beruhte die Wirkung der Propaganda nicht auf deren vermeintlicher Originalität oder Raffinesse, sondern auf deren Intensität und Konsequenz im Einsatz aller technischen und inszenatorischen Instrumente, die sich den nationalsozialistischen Propagandisten anboten. Vor allem aber verstanden sie es, mit ihren Kundgebungen, Appellen, ihren Massenaufmärschen und Feierstunden die Bedürfnisse nach Identität und sozialer Gemeinschaft zu erfüllen. Auch gelang es ihnen, die Erwartungen auf soziale Sicherheit und nationale Größe, die in weiten Teilen einer zutiefst krisengeschüttelten Gesellschaft vorhanden waren, scheinbar zu befriedigen und mit ihren Propagandaformeln die Menschen zu mobilisieren. Hinzu kam, daß die Wirkung der Propaganda und ihre Versprechungen sich methodisch kaum von der Wirkung der Gesellschaftspolitik des Regimes trennen ließen. Die Nationalsozialisten beschränkten sich nämlich nicht auf bloße Appelle und Masseninszenierungen, sondern sie verbanden diese mit den sozialpolitisch greifbaren, wenn auch in der Realität sehr bescheidenen Erfolgen und materiellen Leistungen des Regimes zu einer realisierbaren Zukunftsperspektive.

Sicherlich war der Nationalsozialismus mit seinen politischen Ritualen und Symbolen, die um die Begriffe von Nation und Volk, Größe und Macht kreisten, Teil einer gemeineuropäischen Entwicklung, die als "Nationalisierung der Massen" (George Mosse) bezeichnet wurde. Diese bediente sich der Formen einer politischen Liturgie und romantisch-frühzeitlicher Mythen, um das Volk scheinbar an der Politik teilhaben zu lassen. Nicht in der parlamentarischen Rede und im gelehrten Gespräch, sondern in einer symbolischen Kommunikation, durch Zeichen und Rituale, teilten die nationalen Bewegungen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 213 ihre Botschaften mit. Wenn das gesprochene Wort eingesetzt wurde, dann diente es weniger der rationalen Auslegung einer Ideologie, sondern war Teil eines Zeremoniells, das sich meist pseudoreligiöser Formen bediente.

Der Nationalsozialismus war eine besonders ausgeprägte Form des politischen Massenkultes, eine Reaktion auf die extreme Zerrissenheit und mentale Krise der deutschen Gesellschaft. Bereits in seiner Bewegungsphase entfalteten sich Elemente der Selbstinszenierung, die dann auf das Regime übertragen wurden. Aufmärsche, Fackelzüge, Fahnenappelle und Werbefahrten prägten unverwechselbar das Erscheinungsbild der Partei. Ihre Kundgebungen sollten in einer Mischung von gesprochenem Wort, das mehr einer Verkündigung glich, und Inszenierungselementen wie Fahnen, Fackeln, Uniformen und Massenchören ein "sinnliches Gesamterlebnis" (Peter Longerich) verkörpern.

Informationslenkung

Mit der Machteroberung am 30. Januar 1933 bot sich die Möglichkeit, neben dem Gewaltmonopol durch die Lenkung und Kontrolle der Massenmedien Presse, Rundfunk und Film auch das Monopol über Nachrichten und Informationen zu erobern. Damit war es der Bevölkerung nur noch schwer möglich, hinter die Scheinwelt der Propaganda und der Masseninszenierungen zu blicken und sich der Durchdringung des Alltags durch nationalsozialistische Symbole und Phrasen zu entziehen.

Den institutionellen Rahmen für die propagandistische Mobilisierung der Gesellschaft schufen Hitler und Goebbels mit der Neugründung des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda im März 1933. Mit dem Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933 wurden alle im Kulturbereich Tätigen Zwangsmitglieder in ihrer jeweiligen Berufskammer, von denen es unter dem Dach der Reichskulturkammer (deren Präsident ebenfalls Joseph Goebbels war) sieben gab: Presse, Schrifttum, Rundfunk, Theater, Musik, Bildende Kunst und Film. Die Lenkung der Medien erfolgte auf einer institutionellen und personellen Ebene durch die Gleichschaltung der Verbände und die verlegerische Vereinnahmung der Pressehäuser bzw. durch die Zusammenfassung der bereits verstaatlichen Rundfunkanstalten unter einem Dach. Neben den berufsständischen und ökonomisch- organisatorischen Kontrollen fungierte als dritte Säule ein System der direkten Presse- und Informationslenkung durch tägliche Pressekonferenzen und die Verbreitung von Nachrichtenmaterial des Deutschen Nachrichtenbüros, die mit einer Nachzensur verbunden waren.

Die Gefahren einer ermüdenden und abstumpfenden Propagandaroutine waren Goebbels durchaus bewußt. Deshalb genehmigte er in der reglementierten und zunehmend öder werdenden Presselandschaft aus Gründen der scheinpluralistischen Auswirkung noch einige "Farbtupfer", wie die bürgerlich-liberale "Frankfurter Zeitung" oder als Eigenkreation die Zeitung "Das Reich", die anspruchsvollen Journalismus präsentieren sollten. Zudem verband der Großdeutsche Rundfunk mit seinem Einheitsprogramm in einer geschickten Mischung Nachrichten und Kommentare mit populärer musikalischer Unterhaltung ("Wunschkonzerte").

Propaganda durch den Film

Im Film wurde eine allzu plumpe Politisierung vermieden, obwohl auch in diesem Medium die Gleichschaltung bzw. Selbstgleichschaltung, erleichtert durch die ökonomischen Probleme der Filmwirtschaft, rasch erfolgte. Nach der Säuberung von jüdischen, sozialkritischen bzw. linken Regisseuren und Schauspielern betrieb Goebbels, der eine besondere Vorliebe für den Film (und seine Stars) entwickelte eine gezielte und wirkungsvolle Filmpolitik. Dies geschah mit Hilfe der gleichgeschalteten Berufsverbände und der sowie einer gezielten finanziellen Förderung der Filmwirtschaft und der Einstellung eines linientreuen "Reichsfilmdramaturgen". Goebbels Filmpolitik wurde noch durch eine Monopolisierung der Filmproduktion unter seiner Leitung verstärkt. Die Popularität und Wirkungskraft der Filme lag darin, daß Unterhaltungsfilme und Filme mit etablierten nationalpolitischen Themen, die etwa den Mythos Preußens pflegten, den Vorrang vor politischen Filmen einnahmen. Hatten in der Anfangsphase noch Filme mit Themen aus der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 214 nationalsozialistischen Kampfzeit ("Hitlerjunge Quex", "SA-Mann Brand" und "Hans Westmar") die Leinwände zu beherrschen versucht, so verschwanden dezidierte Darstellungen von NS-Größen und NS-Symbolen aus der politischen und vor allem der unpolitischen Unterhaltungsfilmproduktion. Während des Krieges traten rassenpolitische Themen in den Vordergrund (so der antisemitische Spielfilm "Jud Süss" und die "Rothschilds" oder der Propagandafilm "Der ewige Jude").

Große Wirkung erzielten neben den Wochenschauen, die eine sorgfältige Kontrolle durch das Propagandaministerium erfuhren, vor allem Dokumentar- und Kulturfilme, die zum Repertoire aller Kinos gehörten. Herausragend in diesem Genre waren wegen ihres inszenatorischen und finanziellen Aufwandes, aber auch wegen ihrer unbestreitbaren Wirkung der Dokumentar- und Propagandafilm von Leni Riefenstahl über den Nürnberger Reichsparteitag 1934 ("Triumph des Willens") und die zweiteilige Olympiaproduktion von 1936 ("Fest der Völker" und "Fest der Schönheit"), die mit der Monumentalität der Bilder und der Heroisierung des filmischen Gegenstandes Ansätze einer eigenen nationalsozialistischen Filmästhetik entwickelten.

Mit der Lenkung und Instrumentalisierung von Rundfunk und Film knüpften die Nationalsozialisten an die Entwicklungstendenzen der modernen Massenkultur an und perfektionierten sie für ihre Zwecke. Sie waren damit ganz Teilhaber und Nutznießer der Moderne, so wenig sie zugleich darauf verzichten wollten, den traditionellen Kulturbetrieb, das heißt Literatur, Musik, Bildende Kunst und Theater zu durchdringen und ihren ambivalenten Herrschaftstechniken von Verlockung und Zwang unterzuordnen. Gleichwohl war die Autonomie der Kunst etwa im Bereich von Theater und Musik trotz aller personellen Säuberungen und Selbstanpassungen bzw. kulturpolitischen Eingriffe noch eher gewahrt als in den modernen Massenmedien.

Dem nationalsozialistischen Politikverständnis und Politikstil sehr viel eigentümlicher und immanent waren der Feierstil und der nationalsozialistische Festkalender, in denen sich Elemente einer eigenen, pseudo-religiösen Liturgie und einer "Sakralisierung der Führerherrschaft" (Hans Günther Hockerts) fanden. In den Ritualen und Symbolen des politischen Massenkultes, den der Nationalsozialismus in seiner Regimephase schrittweise ausbaute und perfektionierte, zeigte sich auch sein eklektischer Charakter.

Feierstil und Festkalender

Was immer eine emotionale Wirkung versprach, wurde von den verschiedenen Kult- und Feierformen aufgenommen und integriert: vom christlichen Kultus über die vaterländische Feier bis zu den rituellen Formen der Jugendbewegung, daneben aber auch Elemente des politischen Kultes des italienischen Faschismus. Beschränkte sich jedoch der italienische Faschismus auf die pathetische Selbstdarstellung des Staates, so suchte der NS-Kult bis in den Alltag der Menschen hinein zu wirken. Denn die Feiern fanden nicht nur auf nationaler Ebene bei Massenveranstaltungen in Nürnberg, München oder Berlin statt, sondern wurden auf regionaler und lokaler Ebene wiederholt und imitiert. Ein besonderer Rhythmus des nationalsozialistischen Feierjahres wurde verordnet. Nichts demonstriert den totalitären Anspruch des Regimes deutlicher als dieser Versuch, über Alltag und Feste der Bevölkerung zu verfügen und damit den traditionellen Festkalender, wie er vor allem von den Kirchen bestimmt war, zu unterlaufen und letztlich zu ersetzen.

Der nationalsozialistische Jahreslauf begann mit dem 30. Januar, an dem mit Aufmärschen an den "Tag der Machtergreifung" erinnert wurde. Es folgte Ende Februar der Parteifeiertag, mit dem an die Verkündigung des 25-Punkte-Programms der NSDAP erinnert werden sollte. Der "Heldengedenktag" im März übernahm Formen der Erinnerung an die Gefallenen der Kriege und deutete den Kriegstod – ähnlich wie im Denkmalskult – zum Heldentod um. In Anlehnung an die Tradition der Kaisergeburtstage wurde am 20. April "Führers-Geburtstag" mit Aufmärschen und Paraden sowie mit der Aufnahme der 14jährigen in die Hitlerjugend begangen. Der Maifeiertag, seit dem 1. Mai 1933 ein arbeitsfreier Tag, war ein Traditionselement der Arbeiterbewegung, das als Fest der Volksgemeinschaft umgedeutet und regelmäßig begangen wurde. Höhepunkt des Festjahres waren die mehrtägigen Reichsparteitage der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 215

NSDAP im September in Nürnberg, die mit der Monumentalität der Parteitagsarchitektur, der Magie der Fahnen und Fackeln, den Massenzeremonien, Todesverklärungen und Erlösungsritualen ein politisch-ideologisches Gesamtkunstwerk boten, in dessen Mittelpunkt immer der "Führer" stand. Der Parteitag war nicht Diskussionsforum, sondern grandiose Selbstdarstellung eines politischen Kultes, die Emotionen wecken und alle Sinne betäuben sollte.

Auf die monumentale Machtentfaltung von Partei, SA und SS, von Arbeitsdienst sowie HJ in Nürnberg, die durch eine Parade der Wehrmacht einen martialischen Charakter erhielt, folgte Anfang Oktober das Erntedankfest vom Bückeberg, mit dem der nationalsozialistische "Blut und Boden"-Kult gefeiert wurde. Den Jahreslauf schloß die Feier des 9. November in München ab, wo durch Ritus und Dekoration die Niederlage von 1923 (Hitlerputsch in München, vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 18 f.) in einem Akt symbolischer Revision in einen Triumph verwandelt werden sollte.

Über die Wirkung dieser Masseninszenierung haben wir widersprüchliche Berichte. Zwar konnte das im Führerkult gipfelnde Massenspektakel in Nürnberg bei den Beteiligten allemal eine Art Hochstimmung hervorrufen, die jedoch bald wieder durch Alltagsprobleme verdrängt wurde. Sie äußerten sich etwa in der Kritik an Versorgungsengpässen sowie vor allem in der Empörung über das protzige und herrische Auftreten sowie das korrupte Verhalten nicht weniger Politischer Leiter der NSDAP. Es stand im allzu krassen Gegensatz zu dem Anspruch einer neuen politischen Elite.

Während die Partei mit ihren Untergliederungen ihr Image gerade während der Kriegszeit durch die Ausweitung ihres Betreuungsanspruchs zu beheben versuchte, zeigten die Kampagnen gegen die "Miesmacher und Kritikaster", die seit 1934 immer wieder gestartet wurden, daß die NS-Propaganda hinter der schönen Fassade nicht ohne Überrumpelung und Zwang auskam. Da wurde die Bevölkerung zum Ankauf von Hakenkreuzabzeichen, zur Teilnahme an Kundgebungen oder zu Spenden für das Winterhilfswerk und zum Eintopfessen genötigt. Die Propaganda, und die als ihre Erfüllungsgehilfen fungierenden vielen kleinen Unterführer übten einen gewissen Zwang aus, unaufhörlich "öffentliche Bekenntnisse" zum nationalsozialistischen Staat abzulegen. Sie enthüllte damit ihren eigentlichen Zweck, die soziale Kontrolle zu festigen. Dennoch war die Propaganda in der Regel nur dann wirkungsvoll, wenn sie nicht durch Alltagserfahrungen widerlegt wurde, sondern diese verstärkte oder von diesen unberührt blieb, wie das für den Führermythos galt, der sich über das Alltägliche erhob und darum eine größere Stabilität besaß.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Ausbau des Führerstaates

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 216

Wirtschaft und Gesellschaft unterm Hakenkreuz

Von Hans-Ulrich Thamer 6.4.2005 geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.

Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.

Massive Rüstungswirtschaft und vorgeschriebene Arbeitsdienste senkten die Zahl der Erwerbslosen von sechs auf knapp eine Million 1937. Die "totale" Durchdringung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Wirtschaftslenkung und Zwangsorganisation der Arbeiter und Angestellten diente noch einem anderen Zweck: Sie schuf die Voraussetzungen für den geplanten Krieg.

Einleitung

Auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik diente der Mobilisierung und Kontrolle der Gesellschaft. Es galt, die gesellschaftlichen Interessen und Organisationen nach ihrer Gleichschaltung neu zu formieren. Zugleich waren die Konsum- und Lebensansprüche der Bevölkerung zu befriedigen, von deren Erfüllung die Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda abhing. Neben der Stabilitätssicherung der Diktatur sollte die Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammen mit der Rüstungspolitik der Aufstellung und Ausrüstung einer kriegsfähigen Wehrmacht bzw. der Kriegsvorbereitung dienen. Butter und Kanonen sollten darum gleichzeitig produziert werden. Aus dieser Doppelaufgabe entwickelte sich mehr und mehr ein Zielkonflikt. Denn die nationalsozialistische Führung trieb die Aufrüstung weit über das Leistungsvermögen von Wirtschaft und Gesellschaft hinaus. Das führte immer wieder zu Engpässen und Widersprüchen, auf die das Regime nicht etwa mit einer Drosselung des Rüstungstempos, sondern mit dem Ausbau des staatlichen Lenkungssystemes reagierte. Mit der Verlagerung der wirtschaftlichen Prioritäten auf die Rüstungsproduktion wurden die industriewirtschaftlichen Strukturen wie die Lohn- und Beschäftigungssituation verzerrt und die Marktmechanismen zunehmend außer Kraft gesetzt.

Das macht Aussagen über Produktion und Gewinne sowie über Arbeit und Lohn in besonderer Weise branchenabhängig und verbietet Verallgemeinerungen. Zugleich tat sich eine Kluft zwischen den Verheißungen der Propaganda und der sozial-ökonomischen Wirklichkeit auf. Die nationalsozialistischen Ideologen hatten zum Kampf gegen die Herrschaft der Großindustrie und der Großbanken, der Warenhäuser und der großen Gewerkschaften aufgerufen; für die Sicherheit der Kleinhändler, Kleingewerbetreibenden und Bauern wollten der NS-Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand und der Agrarpolitische Apparat der NSDAP eintreten. Doch bis zum Kriegsbeginn stieg der Anteil der Industrie am Sozialprodukt kontinuierlich, die Zahl der selbständigen Handwerker ging hingegen zurück und auch die Frauenerwerbstätigkeit nahm zu. Ebenso ging der Anteil der Landbevölkerung zurück; die Städte wurden nicht kleiner, sondern größer. Es gab kaum eine Großstadt, die nicht Erweiterungs- und Urbanisierungsprogramme entwickelte. Die säkularen Entwicklungslinien von Wirtschaft und Gesellschaft waren nicht gestoppt, sondern hatten sich beschleunigt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 217 Krisenüberwindung und Aufrüstung

Hitler hatte seinen Wählerinnen und Wählern Arbeit und Brot versprochen und sehr wohl gewußt, wie wichtig ein Erfolg der Arbeitsmarktpolitik für die Etablierung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sein würde. Tatsächlich gelang es innerhalb von vier Jahren, die Arbeitslosigkeit fast vollständig zu beseitigen. Betrug die Zahl der Arbeitslosen im Januar – auch saisonbedingt – die Rekordziffer von sechs Millionen, so zeigte die Statistik im Jahresdurchschnitt 1933 noch 4,8 Millionen Erwerbslose, 1934 nur noch 2,7 Millionen, 1936 dann nur noch 1,6 Millionen, und 1937 schließlich lag ihre Zahl unter einer Million. In einigen Erwerbsbereichen gab es 1935 bereits einen Mangel an Facharbeitern.

Der Gewinn an Zustimmung und Legitimation, den Hitler aus dieser Entwicklung von der Massenarbeitslosigkeit zur Vollbeschäftigung ziehen konnte, sollte nicht unterschätzt werden. Er verdeckte in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung auch eine Reihe von Unzuträglichkeiten wie eine sehr ungleichmäßige Lohnentwicklung und häufige Engpässe bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Die Tatsache, daß Wirtschaft und Arbeitsmärkte der übrigen Industrienationen sich längst nicht so schnell von der schweren Depression (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 261, "Weimarer Republik", S. 48 ff.) erholten, wurde vom Regime zusätzlich als Erfolg nationalsozialistischer Sozialpolitik reklamiert.

Tatsächlich hat ein ganzes Bündel von Maßnahmen das nationalsozialistische "Wirtschaftswunder" herbeigeführt. Daran hatten die eigentlichen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Vorkehrungen den geringeren, die rüstungswirtschaftlichen den größeren Anteil. Die Nationalsozialisten hatten bei ihrem Machtantritt ein Erbe vorgefunden, das neben den katastrophalen Rekordziffern von Arbeitslosen auch positive Ansätze erkennen ließ: Die Konjunktur hatte die Talsohle bereits durchschritten und Aufwärtstendenzen waren erkennbar. Die Krise hatte durchaus reinigende und einem Aufschwung förderliche Tendenzen mit sich gebracht, von denen nun die Nationalsozialisten profitieren konnten: Die Produktionskosten hatten sich beispielsweise erheblich verringert, weil vor allem die Löhne in der großen Krise dramatisch gesunken waren. Staatsinterventionistische Maßnahmen im Bereich der Preis- und Beschäftigungspolitik waren schon sehr weit vorgeprägt, genauso wie einige konjunkturpolitische Programme und Instrumente, die in Abkehr von der klassischen liberalen Wirtschaftstheorie auch um den Preis einer zunehmenden Staatsverschuldung auf eine erhöhte Staatsintervention zur Belebung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen setzten.

Diese antizyklische Politik, die von John Maynard Keynes (1883–1946) wirtschaftswissenschaftlich begründet wurde, hatte als Forderung nach einem staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm schon 1932 in das "Sofortprogramm der NSDAP" Eingang gefunden und wurde nun nach der Machtübernahme im September 1933 weitergeführt. Weil die wirtschaftlichen Auftriebstendenzen sich schon ankündigten, gab es unter Fachleuten starke Zweifel, ob noch zusätzliche staatliche Programme notwendig wären. Das Regime setzte jedoch andere politische Prioritäten. Die Beschäftigungspolitik sollte nicht länger primär wirtschaftspolitischen Zwecken dienen, sondern, so Hitler bereits am 8. Februar 1933 im Kabinett, unter dem "Gesichtspunkt der Wiederwehrhaftmachung des deutschen Volkes" behandelt werden. Wollte man diese Funktionsverlagerung rasch verwirklichen, dann mußte jedoch sehr bald die kleine 100000 Mann starke Reichswehr ausgeweitet werden. Noch gab es jedoch Begrenzungen durch die internationale Vertrags- und Machtsituation, die im Interesse der Absicherung der Machtergreifung im Innern vorerst nicht in Frage gestellt werden konnten. Daher wirkte das Bündel an konjunkturfördernden Maßnahmen zunächst in fast allen Wirtschaftssektoren, und die ersten Anzeichen eines Wirtschaftsaufschwungs 1933/34 hatten äußerlich einen zivilen Charakter. Zu nennen sind folgende Maßnahmen, die den Aufschwung begünstigten:

• staatliche Investitionen bei Reichsbahn, Reichspost und beim Autobahnbau,

• Steuererleichterungen für Landwirtschaft, Wohnungsbau und Automobilindustrie,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 218

• staatliche Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten im zunächst noch freiwilligen Arbeitsdienst und bei kommunalen Notstandsarbeiten,

• Ehestandsdarlehen für Arbeitnehmerinnen, die heiraten und ihren Arbeitsplatz aufgeben wollten.

Infrastrukturmaßnahmen

Das Schwergewicht der staatlich finanzierten Ausgaben lag bei den Verkehrsunternehmungen (1,684 Milliarden) sowie im Wohnungsbau (1,28 Milliarden) und in öffentlichen Bauten (1 Milliarde). Der Autobahnbau, in der Weimarer Republik bereits planerisch vorbereitet, war nicht nur der spektakulärste, sondern auch ein besonders charakteristischer Teil der öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen. Es waren vorrangig die technikgläubigen, modernistischen Bestrebungen im Nationalsozialismus, die hinter den propagandistisch ins Gigantische gesteigerten Autobahnplänen standen. Aber auch rüstungspolitische Gesichtspunkte vor allem im Bezug auf die Streckenführung und die Vorbereitung auf den Mobilmachungsfall, wollte Hitler nicht ausschließen, obwohl eine Mitsprache von militärischer Seite bei der Planung nicht vorgesehen war. Zunächst hatte der Autobahnbau jedoch eine eindeutige arbeitsmarktpolitische Bedeutung. Der geringe Einsatz von Baumaschinen hatte die nicht unerwünschte Nebenwirkung, daß bei den stattdessen bevorzugten Gerätschaften von Hacke und Schaufel noch mehr Arbeitskräfte zu beschäftigen waren. Seit 1936 gab es allerdings angesichts der knapper werdenden Rohstoffe und Arbeitskräfte zunehmend Konflikte zwischen Rüstungswirtschaft und Autobahnbau. Nicht minder wichtig für den Rückgang der Arbeitslosigkeit waren Maßnahmen, bei denen die politisch-ideologische Absicht schon unverhüllter hervortrat: Im Juni 1935 wurde die sechsmonatige Arbeitsdienstpflicht eingeführt und mit der Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht die Wehrmacht aufgebaut.

Das Volumen der verschiedenen Arbeitsbeschaffungsprogramme seit 1933 belief sich auf etwa sechs Milliarden Reichsmark. Vergleicht man diese Summe mit den Rüstungsausgaben des NS-Regimes, die von 720 Millionen Reichsmark im Jahre 1933 auf 10,8 Milliarden Reichsmark bereits im Jahre 1937 angestiegen waren, so wird das Übergewicht der Rüstungsförderung deutlich, die entscheidend zu dem raschen Abbau der Arbeitslosigkeit beitrug.

Finanzierung

Finanziert wurden die gewaltigen Ausgaben längst nicht mehr aus dem Steueraufkommen und auch bald nicht mehr aus Mitteln der Arbeitsbeschaffungsprogramme. Die Vorfinanzierung auf Wechselbasis bot sich vielmehr als Verfahren an, um privates Kapital zu mobilisieren. Zunächst arbeitete die Regierung noch mit dem 1932 unter den Regierungen Franz von Papen und Kurt von Schleicher (1882–1934) entwickelten Arbeitsbeschaffungswechseln, die über Vorfinanzierungsinstitute und die Rediskontierung der Wechsel durch die Reichsbank ähnlich funktionierten wie dann später die sogenannten "Mefo-Wechsel". Damit entwickelte der renommierte Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht (1877–1970) ein System der Finanzwechsel, das eine "geräuschlose" und "verdeckte" Form der Finanzierung im Vorgriff erlaubte. Wenn die Wirtschaftskonjunktur wieder auflebte, so Schachts Überlegungen, dann könnten mit den entsprechend sprudelnden Steuereinnahmen die Wechselschulden zurückgezahlt werden.

Auf Veranlassung der Reichsbank und des Reichswehrministeriums gründeten im Mai 1933 vier bedeutende deutsche Unternehmen (Krupp, Siemens, Gutehoffnungshütte und Rheinmetall) eine "Metallurgische Forschungsgemeinschaft" (Mefo), die mit dem Grundkapital von einer Million Reichsmark ausgestattet wurde. Diejenigen Unternehmen, die vom Staat Rüstungsaufträge erhielten, zogen zur Bezahlung der Aufträge auf diese Firma die sogenannten Mefo-Wechsel, für die das Reich die Bürgschaft übernahm, ohne formell als Wechselschuldner zu erscheinen. Die Reichsbank rediskontierte diese Wechsel und gab ihnen damit den Charakter von Zahlungsmitteln. Die Lieferanten konnten ihre auf fünf Jahre laufenden Wechsel sofort bei den Banken einlösen. Zwischen 1934 und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 219

1936 ließen sich auf diese Weise etwa 50 Prozent der Wehrmachtsaufträge decken.

Politisch war dieses Verfahren dem Regime sehr willkommen, ließ sich doch auf diese Weise der wahre Umfang der Aufrüstung verschleiern. Denn die Wechsel galten als Handelswechsel und tauchten darum nicht unter den staatlichen Rüstungsausgaben auf. Die finanzpolitisch bedenkliche Seite war Schacht sehr bewußt, und er hatte darum die Wechsel auf das Jahr 1938 terminiert. Denn mit dem Verfahren der Mefo-Wechsel war die Gefahr einer großen Inflation unausweichlich. Auch schien ein Konflikt mit Hitler für den Fall vorprogrammiert, daß er von seinen rüstungspolitischen Prioritäten nicht ablassen und eine termingerechte Einlösung der Wechsel mit Haushaltsmitteln verweigerte. Genau das trat 1938 ein. Das Regime tat trotz Drängen Schachts nichts, um den Bestand der Wechsel zu begrenzen, sondern ersetzte das Instrument der Wechsel schließlich durch andere Methoden einer noch geräuschloseren Finanzierung: durch Lieferschatzanweisungen, Steuergutscheine, erzwungene Reichsanleihen bei Sparkassen und durch die Abschöpfung von Spar- und Versicherungsgeldern. Dadurch wurden auch die nichtsahnenden Sparer zu mittelbaren Gläubigern des Reiches.

Das Reichsbankgesetz vom Februar 1937 bzw. vom Juni 1939 beseitigte schließlich alle Möglichkeiten der Reichsbank, weiteren Einfluß auf die Geldversorgung des Staates zu nehmen, der seinen Kreditbedarf nun hemmungslos zum alleinigen Maßstab für die Notenausgabe und die Kreditschöpfung machte. Produziert wurden dafür vor allem Rüstungsgüter (zwischen 1933 und 1939 verschlang das die Riesensumme von etwa 90 Milliarden Reichsmark), was vom "Standpunkt der volkswirtschaftlichen Reproduktion her gesehen einen reinen Verlust bedeutete" (Willi A. Boelcke).

Wirtschaftslenkung

Es spricht vieles dafür, daß 1935 ein sich selbst tragender wirtschaftlicher Aufschwung in Gang gekommen war, der eine weitere staatliche Ausgabenpolitik und Verschuldung zum Zwecke der Krisenbekämpfung überflüssig gemacht hätte. Mitte 1935 hatte die Industrieproduktion wieder den Vorkrisenstand von 1928 erreicht und auch der Beschäftigungsstand näherte sich dem Niveau von 1928. Dennoch wurde die staatliche Ausgabenpolitik nun aus eindeutig rüstungspolitischen Motiven weitergeführt und auch die Selbstabkapselung vom Weltmarkt wurde – ebenfalls aus rüstungswirtschaftlichen Gründen – weiter betrieben. Der Devisen- und Rohstoffmangel verhinderte, daß die positive wirtschaftliche Konjunktur sich auch zu einer Stärkung des Massenkonsums entwickelte. Was in dieser Situation wirtschafts- und währungspolitisch notwendig gewesen wäre, stand den militärpolitischen Zielen Hitlers entgegen. Damit war in der Wirtschaftspolitik eine Wegmarke erreicht, an der sich entscheiden mußte, ob die bisherigen Ansätze zu einer staatlichen Reglementierung der Wirtschaft weiter zu einer Autarkiepolitik ausgebaut oder ob wieder eine Rückkehr zu einer liberalen Binnen- und Außenwirtschaft angestrebt werden sollte. Einschneidender Ausdruck dieser Richtungsentscheidung war die Verkündung des Vierjahresplanes im September 1936, der als Folge einer erneuten und verschärften Devisenknappheit den endgültigen Übergang zur Kommandowirtschaft und zur Autarkiepolitik brachte.

Nach einer Phase des Experimentierens und Kampfes widerstreitender Interessen, die noch eine Mehrgleisigkeit verschiedener Wirtschaftsformen erlaubt hatte, wurden nun die Grundzüge der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik erkennbar. Nicht die Formel vom Ständestaat oder dem ständischen Aufbau der Wirtschaft, die die nationalsozialistische Propaganda eifrig verbreitet hatte, wurde zum Maßstab, sondern die staatliche Lenkung nach wie vor privatwirtschaftlicher Unternehmen. Die kapitalistische Wirtschaftsstruktur wurde nicht abgeschafft, sondern auf ein vorrangiges Ziel ausgerichtet, um vor allem eine kurzfristige Leistungssteigerung zu erreichen.

Begonnen hatte der staatliche Interventionismus im landwirtschaftlichen Bereich. Fortgesetzt wurde er mit Maßnahmen zum Aufbau einer Ersatzstoffproduktion seit 1934, um durch die Entwicklung der Benzin- und Kautschuksynthese unabhängig von Importen zu werden. Hermann Görings Vierjahresplanbürokratie realisierte dann in viel stärkerem Umfang die Lenkung von Teilbereichen der Wirtschaft wie etwa der Mineralöl- und Treibstoffproduktion, der Bunaherstellung (synthetischer

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 220

Kautschuk), der Eisen- und Stahlerzeugung, der landwirtschaftlichen Produktion sowie der Preise, des Arbeitskräfteeinsatzes und der Devisenbewirtschaftung.

Vierjahresplan

[...] Deutschland wird wie immer als Brennpunkt der abendländischen Welt gegenüber den bolschewistischen Angriffen anzusehen sein. Ich fasse dies nicht als eine erfreuliche Mission auf, sondern als eine leider durch unsere unglückliche Lage in Europa bedingte Erschwerung und Belastung unseres völkischen Lebens. Wir können uns aber diesem Schicksal nicht entziehen. [...]

Denn ein Sieg des Bolschewismus über Deutschland würde nicht zu einem Versailler Vertrag führen, sondern zu einer endgültigen Vernichtung, ja Ausrottung des deutschen Volkes.

Das Ausmaß einer solchen Katastrophe kann nicht abgesehen werden. [...] Gegenüber der Notwendigkeit der Abwehr dieser Gefahr haben alle anderen Erwägungen als gänzlich belanglos in den Hintergrund zu treten!

[...] Die militärische Auswertung soll durch die neue Armee erfolgen. Das Ausmaß und das Tempo der militärischen Auswertung unserer Kräfte können nicht groß und nicht schnell genug gewählt werden! [...] Wenn es uns nicht gelingt, in kürzester Frist die deutsche Wehrmacht in der Ausbildung, in der Aufstellung der Formationen, in der Ausrüstung und vor allem auch in der geistigen Erziehung zur ersten Armee der Welt zu entwickeln, wird Deutschland verloren sein! [...]

Es haben sich daher dieser Aufgabe alle anderen Wünsche bedingungslos unterzuordnen.

[...] Wir sind übervölkert und können uns auf der eigenen Grundlage nicht ernähren.

[...] Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes. Es ist die Aufgabe der politischen Führung, diese Frage dereinst zu lösen.

[...] Die Erfüllung dieser Aufgaben in der Form eines Mehr-Jahres-Plans der Unabhängigmachung unserer nationalen Wirtschaft vom Ausland wird es aber auch erst ermöglichen, vom deutschen Volk auf wirtschaftlichem Gebiet und dem Gebiete der Ernährung Opfer zu verlangen [...].

Es sind jetzt fast vier kostbare Jahre vergangen. Es gibt keinen Zweifel, daß wir schon heute auf dem Gebiet der Brennstoff-, der Gummi- und zum Teil auch in der Eisenerzversorgung vom Ausland restlos unabhängig sein könnten. [...]

Ich stelle damit folgende Aufgabe: I. Die deutsche Armee muß in vier Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muß in vier Jahren kriegsfähig sein.

Hitlers geheime Denkschrift über den Vierjahresplan, August 1936, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich, Bd. 1, München 1985, S. 188 f.

Staat, Partei und Wirtschaft

Damit hatten sich – und das ist ebenso charakteristisch für die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik – auch die Gewichte zwischen Privatwirtschaft, Wirtschaftsministerium und NS-Regime verschoben. Die Wirtschaftseliten und die staatliche Ministerialbürokratie im Wirtschaftsministerium hatten deutlich an Gestaltungskraft verloren, während Göring als Exponent des NS-Komplexes die Rolle eines

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 221

Wirtschaftsdiktators einnahm. Dies führte schließlich zum Ausscheiden von Schacht als Wirtschaftsminister 1937 und als Reichsbankpräsident 1939. Görings Lenkungspolitik bediente sich einer neuen Bürokratie, in der militärisches und industrielles Führungspersonal mit Exponenten der NS-Bewegung in Gestalt von Gau- und Reichsleitern zusammenwirkten. So wurde etwa das Vorstandsmitglied der IG Farben Carl Krauch zum Generalbevollmächtigten Chemie, hohe Offiziere aus dem Reichsluftfahrtministerium wurden zuständig für die Mineralöl- und Energiewirtschaft und die Gauleiter Walter Köhler und Adolf Wagner standen den Geschäftsgruppen Rohstoffverteilung und Preisbildung vor.

Mit der Ernennung von Carl Krauch erreichte die Verflechtung von NS-Politik und Wirtschaft eine neue Qualität. Durch seinen Einzug in die staatliche Wirtschaftslenkung erhielten nun ältere Konzepte der Chemieindustrie ein bestimmendes Gewicht, die unter Umgehung des Weltmarktes und ohne Rücksicht auf die Kosten synthetische Ersatzstoffe produzieren oder heimische Rohstoffe nutzen wollten. Zugleich war Krauch vom privatwirtschaftlichen Berater des Luftfahrtministeriums zum Vorsitzenden eines Quasi-Monopols mit staatlicher Lenkungs- und Kontrollkompetenz geworden. Dank seiner Tatkraft hatte er es auch geschafft, die Wirtschaftspolitik des Regimes von einer privatwirtschaftlichen Bürokratie organisieren zu lassen und damit ein Stück weit zu privatisieren, ohne daß er damit über die allgemeine Zielsetzung der Rüstungs- und Wirtschaftspolitik bestimmen konnte.

Durch diese personelle Verflechtung wurde die Privatwirtschaft stärker an den NS-Staat gebunden und erlebte in ihren rüstungswirtschaftlich relevanten Sektoren eine starke Zunahme der Unternehmensgewinne. Für andere Unternehmen – vor allem im Konsumsektor – brachte die staatliche Wirtschaftslenkung eine deutliche Beschränkung ihrer Produktion. Denn das Regime besaß sowohl durch die Preis- und Lohnkontrolle sowie durch die Bewirtschaftung der Arbeitskräfte und die Verteilung bzw. Kontingentierung von Rohstoffen und anderen Produktionsmitteln ein dirigistisches Instrumentarium.

Scheitern der Autarkiepolitik

Anspruch und Wirklichkeit des Vierjahresplanes klafften mitunter weit auseinander. Das galt sowohl für die Lenkungsvollmachten, von denen in bestimmten Sektoren nur zögernd Gebrauch gemacht wurde, als auch für die Autarkieziele, die bei Kriegsbeginn auch deshalb nur annähernd erreicht wurden, weil durch die forcierte Aufrüstung der Bedarf sprunghaft anstieg. So sank bei der Mineralölproduktion die Auslandsabhängigkeit zwischen 1936 und 1938 nur geringfügig von 66 auf 60 Prozent, auch die Buna-Produktion deckte trotz großer Anstrengungen bei Kriegsbeginn nur 50 Prozent des Bedarfs an Kautschuk.

Propagandistisch besonders spektakulär und wirtschaftspolitisch umstritten waren die Bemühungen um eine Steigerung der heimischen Eisenerzproduktion. Durch den Abbau und die Verhüttung heimischer minderwertiger Eisenerze sollte die Abhängigkeit von Exporten reduziert werden. Da dieses Verfahren äußerst kostspielig und wenig rentabel erschien, wollte die Schwerindustrie sich daran nicht beteiligen. Der daraus erwachsende Konflikt führte schließlich zur Gründung der "Reichswerke Hermann Göring für Erzbergbau und Eisenhütten", die den Abbau und die Verhüttung übernahmen und die Privatwirtschaft zur Übernahme von Aktien zwangen. Trotz dieser Anstrengungen und trotz der Einverleibung der österreichischen Erzproduktion (sie erreichte allein 23 Prozent des Eisenbedarfs) ergab sich bei Kriegsbeginn ein Selbstversorgungsgrad von nur knapp über 50 Prozent. Noch größer war und blieb die Auslandsabhängigkeit bei hochwertigen Stahlveredlern wie Mangan, Chrom und Wolfram. Auch die Selbstversorgung bei den wichtigsten Nahrungsmitteln, die bereits 1933/34 insgesamt bei etwa 80 Prozent lag, konnte nicht wesentlich gesteigert werden. Besonders bei der Fettversorgung klaffte eine Lücke von 40 bis 50 Prozent, während Grundnahrungsmittel wie Getreide, Kartoffeln, Gemüse und Fleisch mit 90 bis 100 Prozent hinreichend vorhanden waren.

Die ökonomischen und sozialen Folgekosten der Autarkiepolitik waren beträchtlich. Die Verzerrung der ökonomischen Strukturen verschärfte sich, die Handlungsspielräume der Wirtschaft wurden immer

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 222 enger. Es entstanden vielfach unrentable Produktionsstandorte, die an anderen Orten dringend benötigte Arbeitskräfte banden. "Die Decke wurde knapper und der Staat gezwungen, in wachsendem Maße zu entscheiden, wer die knapper werdenden Ressourcen bekommen würde" (Ludolf Herbst). Das verstärkte nicht nur die Tendenz zu Lenkung und Kontrolle, sondern auch zu Manipulation und Propaganda.

So versuchte das Regime mit einigem Erfolg, die Nachfrage der Bevölkerung nach Konsumartikeln auf solche Güter umzulenken, die reichlich vorhanden waren und im Inland produziert wurden. Das bedeutete meist, daß man hochwertige Produkte durch solche von minderer Qualität ersetzen mußte. Nicht Butter und Kanonen, sondern Kanonen und Vierfruchtmarmelade konnte das Regime bieten, keine feinen englischen Tuche, sondern Anzüge mit Zellstoffzusätzen. So kam es, daß die deutschen Ernährungs- und Konsumgewohnheiten trotz des erstaunlichen ökonomischen Aufschwunges eher bescheiden blieben und daß der Fleischverbrauch 1938 noch unter dem Niveau von 1929 lag, während sich der Absatz von Marmelade verdreifachte. Diesen Zustand nahm die Bevölkerung zwar nicht ohne Murren, aber doch ohne größeren Protest nicht zuletzt deswegen hin, weil sie sich noch allzu gut an die entbehrungsreichen Jahre der großen Krise erinnerte und die Propaganda solche Enthaltsamkeit und Sparsamkeit zu "deutschen Tugenden" erklärte. So konnte das Regime seinen riskanten Balanceakt zwischen der Befriedigung des privaten Konsums und der Steigerung der Rüstungsausgaben im großen und ganzen erfolgreich durchstehen.

Arbeiter- und Volksgemeinschaft

Im Jahre 1933 hatten die Nationalsozialisten nur unbestimmte Vorstellungen davon, wie die neue Gesellschaftsordnung unter dem Hakenkreuz beschaffen sein sollte. Eine Volksgemeinschaft wollten sie schaffen. Eine Alternative zur pluralistisch-demokratischen Gesellschaft und zur konfliktreichen sozialen Wirklichkeit der Weimarer Republik sollte entstehen: Nicht der offene und institutionalisierte Konflikt sozialer Interessen, nicht Koalitionsrecht und Tarifvertrag, sondern die Versöhnung von Individuum und Masse, von Kapital und Arbeit in einer klassenübergreifenden Gemeinschaft, die soziale Sicherheit und Integration versprach.

Das waren soziale Verklärungen und Erwartungen, die ihre Wurzeln in den verschiedendsten Gemeinschaftsideologien hatten, die im frühen 20. Jahrhundert in der Lebensreformbewegung und in der Jugendbewegung verkündet wurden, die aber auch in der Agitation von völkisch-nationalistischen Massenverbänden gegen das liberale und demokratische Gesellschaftskonzept der Weimarer Republik ihren Platz hatten. Aber auch im katholischen und sozialistischen Sprachhaushalt fanden sich solche Bilder von Gemeinschaft und sozialer Harmonie, die als Kontrast zu Klassenkampf und sozialer Spaltung eingesetzt wurden. Die Burgfriedensformel von 1914, mit der das kaiserliche Deutschland zur politischen Geschlossenheit jenseits aller Parteigrenzen aufrief, sowie das publizistisch verklärte Erlebnis der "Frontgemeinschaft" des Ersten Weltkrieges hatten den Gemeinschaftsparolen zusätzlichen Auftrieb gegeben. Auch die nationalsozialistische Ideologie von der Gesellschaft als einer Gesinnungs- und Willensgemeinschaft leitete sich aus dem Mythos der Schützengraben-Gemeinschaft ab. Daß diese Utopie durch das Zusammenbrechen der propagandistisch überhöhten "Inneren Front" in der Revolution vom November 1918 zerstört wurde, stellte den traumatischen Schock und das ideologische Gegenbild dar, die die nationalsozialistische Führungsriege umtrieben. Sie glaubte deshalb, sich an denjenigen rächen zu müssen, die sie für die Zerstörung dieser Illusion verantwortlich machte: an den "Novemberverbrechern", "Juden" und "Marxisten". Gleichzeitig galt es, für den Fall eines zukünftigen Krieges alles zu vermeiden, was eine erneute innere soziale Krise heraufbeschwören und die Massenloyalität gefährden könnte. Volksgemeinschaft in diesem Sinne mußte darum das Versprechen auf Integration und die Ausgrenzung von "Gemeinschaftsfremden" zugleich bedeuten.

Der Arbeiter- und Sozialpolitik kam in diesem Denkschema eine besondere Bedeutung zu: Sie sollte die soziale Kontrolle sichern und durch soziale Verlockungen die Massenzustimmung gewinnen. Die Arbeiterschaft, immerhin die größte Gruppe in der Gesellschaft, wurde deshalb von den

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 223

Nationalsozialisten gleichermaßen gefürchtet und umworben. Sie wurde ihrer gewerkschaftlichen Interessenvertretung beraubt und dadurch politisch entmündigt. Das Regime verlangte ihr in den "Arbeitsschlachten" der Kriegswirtschaft immer höhere Produktionsleistungen ab, versuchte sie aber umgekehrt durch Volksgemeinschaftsparolen propagandistisch zu ködern und durch sozialpolitische Fürsorge und Vergünstigungen zu gewinnen. Es charakterisierte einmal mehr das NS-Regime, daß es bei der Vernichtung des politisch-ideologischen Gegners ungleich größere Energien entfaltete als bei der Konzeption einer in sich schlüssigen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Arbeiterpolitik. Diese blieb von ständigen Improvisationen und Widersprüchen begleitet, die durch Phrasen vom "Sozialismus der Tat" und anderen verklärenden Parolen nicht ohne Erfolg verdeckt wurden. Damit wurden die sozialen Spannungen in die Kompetenzkonflikte der vielen nationalsozialistischen Massen- und Sonderorganisationen umgelenkt. Andererseits wurden die für alle Industriegesellschaften typischen sozial-kulturellen Nivellierungstendenzen durch sozialegalitäre und propagandistische Versprechungen sowie durch soziale und materielle Verbesserungen für Arbeiter beschleunigt.

Zwangsorganisation der Arbeiterschaft

Der Zweck aller nationalsozialistischen Massenorganisationen ist der gleiche. Ob man an die Arbeitsfront denkt oder an Kraft durch Freude, an die Hitlerjugend oder an den Arbeitsdank, überall dienen die Organisationen dem gleichen Zweck: die "Volksgenossen" zu "erfassen" oder zu "betreuen", sie nicht sich selbst zu überlassen und sie möglichst überhaupt nicht zur Besinnung kommen zu lassen. Wie jemand sich durch leere Geschäftigkeit um jede Möglichkeit bringt, ernsthaft zu arbeiten, so entfalten die Nationalsozialisten überall eine übereifrige Betriebsamkeit mit der eingestandenen Absicht, keine wirklichen Gemeinsamkeiten, keinerlei freiwillige Zusammenschlüsse aufkommen zu lassen. Ley hat es erst kürzlich in aller Offenheit gestanden: der "Volksgenosse" soll kein Privatleben haben und erst recht soll er seinen privaten Kegelklub aufgeben. Dieses Organisationsmonopol geht darauf aus, den Mann im Volke völlig unselbständig zu machen, jede wie immer geartete Initiative zu den primitivsten freiwilligen Zusammenschlüssen in ihm zu ertöten, ihn von allen Gleichgesinnten oder auch nur Gleichgestimmten fernzuhalten, ihn zu isolieren und zugleich an die staatliche Organisation zu binden. Die Wirkung bleibt nicht aus. Gelegentlich kann man von Arbeitern oder Arbeiterinnen über Kraft durch Freude ein Wort der Anerkennung hören mit dem Zusatz: früher hat sich niemand um uns gekümmert! [...]

Das Wesen faschistischer Massenbeherrschung ist Zwangsorganisierung auf der einen, Atomisierung auf der anderen Seite.

Die Nationalsozialisten wissen sehr gut, daß das Solidaritätsgefühl die Kraftquelle der Arbeiterschaft ist, und infolgedessen gehen alle ihre Maßnahmen für oder gegen die Arbeiter darauf aus, das Gefühl für die Notwendigkeit solidarischen Handelns zu ertöten. Alle Verschlechterungen, die sie den Arbeitern bei den Löhnen, den Steuern, in der Sozialversicherung aufzwingen, werden so eingerichtet, daß sie niemals große Gruppen gleichmäßig treffen. Sonst könnten vielleicht allgemeine Verschlechterungen allgemeine Abwehrbewegungen hervorrufen. Diese Politik der Nationalsozialisten hat bedenkliche Erfolge gezeitigt, nicht zuletzt deshalb, weil die Zerstörung des Solidaritätsgefühls schon in der Wirtschaftskrise begonnen hat. [...]

Deutschlandberichte der Sopade (vom Exilvorstand der SPD organisierte Widerstandsgruppen) über die Gewinnung der Arbeiter durch Zwangsorganisation und soziale Bestechung, November 1935, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich, Bd. 1, München 1985, S. 95 f.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 224 Deutsche Arbeitsfront

Die Nationalsozialisten hatten überraschend schnell die politischen und sozialen Organisationen der Arbeiterbewegung am 1. und 2. Mai 1933 in der für die nationalsozialistische Gleichschaltungstechnik charakteristischen Doppelstrategie eines betäubenden Massenfestes und einer anschließenden Gewaltaktion (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 47 f.) zerschlagen. Die Gründung einer nationalsozialistischen Massenorganisation, die an die Stelle der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterschaft treten und diese kontrollieren sollte, zeigte dementsprechend alle Merkmale der Improvisation und eines internen Machtkompromisses. Der Auftrag der neuen Organisation war rasch bestimmt: Sie sollte die Arbeiter durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche gewinnen und kontrollieren. Die Deutsche Arbeitsfront (DAF), die am 10. Mai 1933 unter der Schirmherrschaft von Adolf Hitler gegründet und durch den bisherigen Reichsorganisationsleiter der NSDAP Robert Ley geführt wurde, erwuchs zwar bald zu einer gigantischen bürokratischen Konstruktion und wurde innerhalb des Regimes zu einem beträchtlichen Machtfaktor. Die Definition der sozial- und tarifpolitischen Kompetenzen der Massenorganisation blieb jedoch lange ebenso ungeklärt wie die Ausbildung arbeits- und sozialpolitischer Konzepte. Als Ziel seiner Massenorganisation verkündete Ley sehr vage die "Bildung einer wirklichen Volks- und Leistungsgemeinschaft, die dem Klassenkampfgedanken abgeschworen hat". Ein "absolutes Chaos von Gedanken", so gestand Ley später, sei ihm bei der Gründung der DAF begegnet. Er umschrieb damit einerseits die Verworrenheit der ständischen Gesellschaftsmodelle, die in den Jahren 1933/34 von Parteiaktivisten aus dem Arsenal der Propagandaformeln hervorgeholt wurden, andererseits aber auch die heftigen Auseinandersetzungen zwischen NSDAP, Reichsministerium und wirtschaftlichen Interessenvertretern über die Aufgaben der Arbeitsfront. Zunächst schien es, als könnten sich die versprengten Reste der NS-Linken, die sich in der nationalsozialistischen Gewerkschaftsbewegung, der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO), zusammengefunden hatten, mit ihrem Traum einer nationalsozialistisch geführten Einheitsgewerkschaft durchsetzen.

Die DAF wurde mit ihren zwei "Säulen", Arbeitern und Angestellten, als ständische Einrichtung aufgebaut. Später sollten als dritte und vierte Säule noch industrielle Unternehmer sowie der gewerbliche und handwerkliche Mittelstand hinzukommen. Die NSBO-Männer, die nach dem 2. Mai 1933 die provisorische Leitung der ehemaligen Gewerkschaftseinrichtungen übernommen hatten, versuchten über ihre formale Zuständigkeit hinaus Informationen über Löhne, Arbeitsplatzkapazitäten und Beschäftigtenzahlen zu bekommen, um arbeits- und tarifpolitische Ansprüche zu formulieren.

Daraufhin kam es bald zu Klagen der Unternehmer über den antikapitalistischen Radikalismus einzelner NSBO- und DAF-Obmänner. Ihnen wurde vorgeworfen, sie beharrten auf der Fortführung kollektiver Tarifverträge und hätten auch mit Gewaltmaßnahmen gedroht. Seit dem Sommer 1933 bemühte sich das Regime daraufhin schrittweise um eine "Entgewerkschaftlichung" der DAF: Im Juni 1933 wurden sogenannte "Treuhänder der Arbeit" eingesetzt, die der Dienstaufsicht des Reichsarbeitsministeriums unterstanden. Sie sollten sowohl über die Tarifordnungen und über Betriebsordnungen entscheiden als auch in Streitfällen schlichten. Die Treuhänder kamen in der Regel aus der privatwirtschaftlichen und staatlichen Arbeits- und Wirtschaftsverwaltung bzw. aus den Industrie- und Handelskammern. Die nationalsozialistische Propaganda feierte diese Einrichtung als "Überwindung des Klassenkampfes". Jedoch gaben allein schon die Herkunft, aber auch die dienstliche Stellung der Treuhänder die Garantie dafür, daß sie meistens den Interessen der Unternehmer bzw. der staatlichen Arbeitsverwaltung näherstanden als denen der Arbeiterschaft.

Im November 1933 mußte Ley sich endgültig der Zähmung der DAF fügen und in einen wohltönenden "Aufruf an alle schaffenden Deutschen" einwilligen, der außerdem von Reichsarbeitsminister Seldte, Reichswirtschaftsminister (1886–1950) sowie dem Parteibeauftragten für Wirtschaftsfragen Wilhelm Keppler (1882–1960) unterzeichnet wurde. Damit wurden endgültig alle Hoffnungen auf eine berufsständische oder gewerkschaftliche Interessenvertretung bzw. Kompetenzen in der Arbeits- und Sozialpolitik durch die DAF begraben. Statt dessen wurde sie auf die Erziehungs- und Betreuungsfunktion verwiesen, und es war kein Zufall, daß die NS- Freizeitorganisation "Kraft durch Freude" (KdF) als Unterorganisation der DAF beinahe zur selben

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 225

Zeit, nämlich am 27. November 1933 gegründet wurde. Damit sollte von dem gesellschaftspolitischen Kompetenzverlust abgelenkt und mit einer umfassenden Betreuung der Arbeiter im Alltag bis in die Freizeit hinein ein neues attraktives und populäres Betätigungsfeld eröffnet werden. Die verschiedenen Ämter der KdF-Organisation boten ein vielfältiges Programm, das Theateraufführungen ebenso umfaßte wie Weiterbildungskurse, Sportveranstaltungen und vor allem die sehr beliebten Wanderfahrten und Fernreisen. Damit knüpften die Freizeitorganisatoren der KdF nicht nur an die Tradition der Arbeiterbildungsvereine an, sondern nutzten und verstärkten auch die kulturellen Bedürfnisse einer modernen Massenzivilisation.

Nachdem der DAF mit dem Abkommen vom November 1933 die letzten gewerkschaftlichen und klassenkämpferischen Ansprüche genommen worden waren, gab auch der "Führer" des "Reichsstandes der deutschen Industrie" Gustav Krupp von Bohlen und Halbach am folgenden Tag seine Zustimmung zum Beitritt der Unternehmer zur DAF. Deren neue Organisationsstruktur vom Frühjahr 1934 und das "Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit" besiegelten die neuen Machtverhältnisse und Kompetenzregelungen. Die DAF wurde innerhalb der vier Säulen nach Branchen und Produktionssparten organisiert. In ihrer Struktur war sie parallel zu den Gliederungen der Politischen Organisation der NSDAP in einem vertikalen und zentralistischen Aufbau auf ein Zentralbüro ausgerichtet. Unter ihm entwickelte sich eine Hierarchie von 40000 haupt- und 1,3 Millionen ehrenamtlichen Funktionären bis hin zu den Betriebszellen-, Straßen- und Blockwarten. Zuständig war die Großorganisation, die zuletzt etwa 25 Millionen Mitglieder zählte, für die soziale und kulturelle Betreuung der Arbeitnehmer, ihre fachliche Berufsausbildung und -förderung einschließlich der jährlichen "Reichsberufswettkämpfe" sowie für die politische Schulung. Auch wenn formal kein Beitrittszwang bestand, war es schwierig, sich dem Verband zu entziehen, zumal der DAF-Beitrag (1,5 Prozent) direkt vom Lohn abgezogen wurde.

Führerprinzip im Betrieb

Die tarifliche Festlegung der Arbeitsbedingungen und -löhne war in die alleinige Zuständigkeit der Treuhänder gefallen. Parallel dazu besiegelte die neue Arbeitsordnung das Ende der betrieblichen Mitbestimmung, die Unternehmer waren (vorerst) wieder Herren im Haus. In einer für das Regime charakteristischen pathetischen Sprache übertrug das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" das Führerprinzip auf die Betriebe. An der Spitze der "Betriebsgemeinschaft" stand der "Betriebsführer", dem die "Gefolgschaft" Treue und Gehorsam zu leisten hatte. Um das "gegenseitige Vertrauen innerhalb der Betriebsgemeinschaft" zu vertiefen, wurden die Mitbestimmung durch die "Beratung", die Betriebsräte durch "Vertrauensräte" ersetzt. Als sich 1935 in den Wahlen zu den Vertrauensräten eine starke Opposition in Gegenstimmen abzeichnete, ging die Berufung der "Vertrauensmänner" auf die "Treuhänder" über. "Soziale Ehrengerichte", denen formal auch die "Betriebsführer" unterstanden, sollten unter Vorsitz eines "Treuhänders" im Streitfall die Harmonie der "Betriebsgemeinschaft" wiederherstellen. Die Rücknahme sozialer Rechte, wie sie der soziale Rechtsstaat der Weimarer Republik gewährt hatte, ging noch einige Schritte weiter. 1935 wurde das "Arbeitsbuch" eingeführt, das die freie Wahl des Arbeitsplatzes einschränkte und den Weg zur staatlichen Kontrolle des "Arbeitseinsatzes" öffnete. Durch weitere Verordnungen war zu Kriegsbeginn die staatliche Lenkung der Arbeitskräfte in allen kriegswichtigen Wirtschaftszweigen eingeführt.

Dieser Verlust an politischen und sozialen Rechten wurde in der mehrheitlichen Wahrnehmung der Arbeiterschaft von dem raschen, wenn auch ungleichmäßigen Abbau der Arbeitslosigkeit und der Sicherung einer auskömmlichen materiellen Existenz aufgewogen. Das allein erklärt aber noch nicht die erstaunlich schnelle und weitgehend widerstandslose Unterordnung der Arbeiter unter den Nationalsozialismus. Hinzu kam nämlich die Auflösung alter Solidaritätsmuster durch die Wirtschaftskrise und die Erfahrung langer Arbeitslosigkeit, die viele Arbeiter von betrieblicher Solidarität und Disziplin ebenso entfremdete wie sie ihnen die Ohnmacht von Arbeiterorganisationen demonstrierte. Dieser Eindruck war in der autoritären Endphase der Weimarer Republik durch die massiven Kampagnen der politischen Rechtsparteien noch verstärkt worden. Durch diese Faktoren wurde die traditionelle Einbindung der Einzelnen in das proletarische Sozialmilieu, das aus Vereinen,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 226

Nachbarschaften und Selbsthilfeorganisationen bestand, zwar nicht völlig aufgelöst. Es verlor aber seine Orientierungskraft und identitätsstiftende Wirkung, als die Organisationen der Arbeiterbewegung in der Gleichschaltungspolitik von 1933 zerschlagen wurden. Die Folge davon war wiederum eine weitgehende Entpolitisierung der Arbeiterschaft. Ihre zunächst nur widerwillige Hinnahme der gewaltsam veränderten Situation verwandelte sich dann zunehmend in Zustimmung und Loyalität, als seit 1935 die Erfahrung eines nunmehr sicheren Arbeitsplatzes und sozialpolitischer Verlockungen auch die materielle und soziale Situation vieler Arbeiter veränderte.

Lebensstandard

Anfänglich hatte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt branchenspezifisch und regional sehr unterschiedlich verbessert: Die Arbeitslosenzahlen sanken in den Produktionszentren von Schwerindustrie und metallverarbeitender Industrie schneller als in der Textilindustrie und im übrigen Konsumgüterbereich; überdies ging die Arbeitslosigkeit bei Facharbeitern rascher zurück als bei Hilfsarbeitern; ältere und ganz junge Arbeitskräfte hatten es schwerer als die Generation der Familienväter.

Als die Rüstungskonjunktur zum Tragen kam, erhöhten sich auch die Einkommen der Arbeiterschaft und erreichten zwischen 1936 und 1939 wieder das Niveau der Jahre 1928/29. Das geschah aber nicht durch eine Anhebung des Stundenlohnes. Vielmehr ging der Lohnzuwachs meist auf die Überstunden zurück, die den Arbeitern bei anziehender Konjunktur aufgezwungen wurden.

Ein Teil von dem Lohnzuwachs wurde gleich wieder von scheinbar "freiwilligen" Abzügen vom Bruttolohn für DAF, Winterhilfswerk und ähnliche Spenden- und Sparaktionen aufgebraucht, so daß die Nettowochenverdienste erst in den Kriegsjahren 1941/42 das Vorkrisenniveau erreichten. Doch solche Berechnungen interessieren mehr die Statistik als die Wahrnehmung der Zeitgenossen, denen noch vor allem die Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit und damit die Vergleichsdaten der Krisenjahre in Erinnerung waren. Auch die Engpässe in der Versorgung und auf dem Wohnungsmarkt konnten den Eindruck greifbarer Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und die davon genährten Erwartungen weiterer, langfristiger Aufwärtsbewegungen nicht trüben. Hinzu kamen Leistungsanreize in Form von ausgeklügelten Staffelungen von Lohngruppen, die ebenso den Leistungswillen anspornten wie die "Reichsberufswettkämpfe".

Landwirtschaft

Zu den Verlierern nationalsozialistischer Politik gehörten die beiden Gruppen, aus denen die NSDAP vor der Machtergreifung die größte Unterstützung bekommen hatte: die Bauern und in noch stärkerem Maße der gewerbliche Mittelstand. Weder konnte der Mittelstand seine protektionistischen Wünsche wirklich realisieren, noch fand eine Reagrarisierung der deutschen Gesellschaft statt. Die industrielle Produktion mit den politisch gesetzten Prioritäten erlangte den absoluten Vorrang vor allen anderen Sektoren der Wirtschaft. Während der "Ackermann" neben dem "Krieger" zu den herausgehobenen Symbolfiguren in der Propaganda des Dritten Reiches wurde und die Landwirtschaft als "Nährstand" zur tragenden Säule neben dem Wehrstand erklärt wurde, litten die Bauern unter den Zwängen der nationalsozialistischen Wirtschaftslenkung und Agrargesetzgebung. Doch sie blieben die Lieblingskinder der NS-Propaganda.

Lautstärkster Propagandist der "Blut- und Bodenideologie" war der Diplomkolonialwirt Walter Darré, der in seinen Büchern pathetisch ein neues "Adelsbauerntum" als "biologischen Kern" der künftigen Geschichte definiert hatte. Das Bauerntum als "Hauptquell des deutschen Volkes" sollte durch seine Verwurzelung im heimatlichen Grund und Boden ein gemeinschaftliches Bollwerk gegen die "Wurzellosigkeit" des großstädtischen Proletariats bilden. Damit wurde der alte Gegensatz zwischen Stadt und Land ideologisch überhöht und in der NS-Propaganda mit scharfen antimodernistischen Ressentiments radikalisiert. Dieses ideologisch-propagandistische Gebräu zusammen mit Verheißungen eines wirkungsvollen Bauernschutzes hatte ausgereicht, um in der Aufstiegsphase der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 227

NSDAP eine große Anhängerschaft unter den Bauern zu sichern.

Aufbau des Reichsnährstandes

Das NS-Regime knüpfte an traditionelle protektionistische Maßnahmen zugunsten der Großlandwirtschaft an und versuchte überdies durch eine ausufernde Propaganda, der Landwirtschaft das Gefühl zu vermitteln, daß ihre Nöte gesehen und ernst genommen würden. Diese auf die Großlandwirtschaft ausgerichtete Agrarpolitik von Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865–1951) bot Darré die Chance, die landwirtschaftlichen Organisationen unter seine Kontrolle zu bringen: die berufsständischen agrarischen Interessenorganisationen, das Genossenschaftswesen und die Landwirtschaftskammern. Nachdem bis Anfang Juni 1933 diese Gleichschaltung der landwirtschaftlichen Verbände abgeschlossen war und Darré zum Reichsbauernführer ernannt worden war, stand nach Hugenbergs Rücktritt Ende Juni 1933 und Darrés Ernennung zum Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft der Gleichschaltung der staatlichen Landwirtschaftspolitik nichts mehr im Wege. Dadurch konnte Darré eine im Vergleich zu anderen NS-Führern scheinbar ungewöhnliche Machtfülle auf sich vereinigen.

Mit der Gleichschaltung der landwirtschaftlichen Organisation war die Möglichkeit zur Steuerung der landwirtschaftlichen Erzeugung gegeben, die nicht nur alle Betriebe, sondern auch alle dort tätigen Personen umfaßte. Sie wurden unter dem Zwangsverband des Reichsnährstandes zusammengefaßt. Dieser zählte Mitte der dreißiger Jahre etwa 17 Millionen Mitglieder und versuchte mit einer strengen hierarchischen Gliederung einen umfassenden Kontrollanspruch durchzusetzen. Die Organisation umfaßte drei Hauptabteilungen, die einen allumfassenden Regulierungsanspruch anmeldeten. Gelenkt werden sollten erstens der Mensch, zweitens der Hof und drittens der Markt. Der Reichsnährstand gab sich nach außen weiterhin als eine Selbstverwaltungskörperschaft des öffentlichen Rechts und eine berufsständische Einheitsorganisation, tatsächlich war er jedoch als Ausführungsorgan der staatlichen Wirtschaftslenkung ein Instrument zur Sicherung der Ernährung und zur Steigerung der Erzeugung.

Hauptbetätigung des Reichsnährstandes und des Reichsbauernführers waren die ideologische, sozialpolitische und kulturelle Betreuung seiner Mitglieder. Auch wurde versucht, das Marktgefüge und die Preisgestaltung für landwirtschaftliche Erzeugnisse durch ein dichtes Geflecht von Vorschriften und Verboten zu regeln. Es entstand ein Mammutsyndikat von Genossenschaften, Wirtschaftsvereinigungen und Fachämtern, die alle ernährungswirtschaftlichen Betriebe erfaßten.

Kaschiert wurde die Überbürokratisierung durch eine völkische Rhetorik, die ihren besonderen Ausdruck im jährlichen Ritual der Reichs-Erntedankfeste auf dem Bückeberg fand. Mit solchen Ereignissen sollte von der ständigen Ausdehnung des Festpreissystems auf Brotherstellung, Getreidewirtschaft, Milchprodukte, Viehhaltung und Viehprodukte abgelenkt werden.

Als Krönung der agrarromantischen Ideologie galt das Reichserbhofgesetz vom September 1933. Es sollte den landwirtschaftlichen Besitz vor dem Ausverkauf an nichtbäuerliche Kapitalbesitzer schützen und umgekehrt den Bauern an seine Scholle binden. Es blieb auf mittelbäuerlichen Landbesitz bis zur Größe von 125 Hektar begrenzt und nahm auch den Großgrundbesitz aus. Der erhielt dadurch zwar weniger Schutz, aber um so mehr ökonomische Freiheiten. Bauer konnte nur sein, wer "deutschen oder stammesgleichen Blutes" war (§ 13). Dies war durch den großen Abstammungsnachweis zu belegen. Der Erbhof durfte nur ungeteilt auf einen Nachkommen vererbt werden. Miterben hatten nur ein Recht auf Berufsausbildung und Aussteuer.

Die Bilanz der Agrarpolitik war widersprüchlich. Der säkulare Trend einer Entagrarisierung wurde auch in der NS-Zeit nicht aufgehalten und hielt unvermindert an: Die dramatische Landflucht, der Rückgang der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer zwischen 1933 und 1939 um 440000 und der auch durch den Wehrdienst bedingte Ausfall an Arbeitskräften ließen sich weder durch HJ-Landdienst noch durch Arbeitsdienst, Erntehilfe oder Pflichtjahr für Mädchen wettmachen. Erst der kriegsbedingte Einsatz

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 228 von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen schaffte eine nennenswerte Abhilfe. Auch konnten die sozialen Spannungen innerhalb des Dorfes und der Bauernschaft nicht überwunden werden. Für das Regime war jedoch das ideologische Moment letztlich weniger entscheidend als das machtpolitische Ziel der Eigenversorgung und Nahrungssicherheit. Darum wurden alle Experimente einer Bodenreform vermieden. Der mittel- und großbäuerliche Hof und der Gutsbesitz blieben das prägende Strukturelement.

Die Bilanz der agrarpolitischen Anstrengungen war teilweise positiv, auch wenn die hochgesteckten Erwartungen nicht erreicht wurden. Der Anteil der Selbstversorgung konnte von 68 Prozent auf 83 Prozent erhöht werden. Steigerungen wurden bei der Produktion von Brot, Getreide, Hülsenfrüchten, Eiern und Kartoffeln erzielt. Die Ernährungsbilanz bei Fetten, Futtermitteln und pflanzlichen Ölen blieb defizitär. Die Abschottung vom Weltmarkt mußten die Verbraucher mit erheblich überhöhten Preisen bezahlen.

Mittelstand

Noch größer waren die Enttäuschungen des alten Mittelstandes. Alle ständestaatlichen Träume waren spätestens 1934 ausgeträumt und auch alle Hoffnungen, sich der verhaßten Konkurrenz der Warenhäuser zu entledigen. Diese wurden zwar höher besteuert, blieben aber unentbehrlich. Statt dessen kam es zur Aufgabe vieler kleingewerblicher Unternehmen, da ihnen die Arbeitskräfte fehlten oder sie vom zunehmenden Wirtschaftsdirigismus wegrationalisiert wurden. Die schon seit Jahrzehnten herrschende relative Konzentrationstendenz blieb ungebrochen. Nur die größeren Geschäfte konnten von der ökonomischen Aufstiegsentwicklung der späten dreißiger Jahre profitieren. Eine Entschädigung für manche Enttäuschung, die der alte Mittelstand in Handwerk und Einzelhandel erleben mußte, sollte die Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz seit 1938 bringen. So manches ehemals jüdische Einzelhandelsgeschäft und Warenhaus wechselte auf dem widerrechtlichen Weg von Erpressung, Ausplünderung und einem scheinlegalen Erwerb den Besitzer.

Die Kriegswirtschaft brachte neue Gefährdungen für den Mittelstand und hier insbesondere für die leistungsschwachen Kleinbetriebe, waren doch nun vermehrt Schließungen von Geschäften und Betrieben an der Tagesordnung. Das Regime verstärkte damit, was es zu bekämpfen versprochen hatte: den gesellschaftlichen Wandel von einer kleingewerblich mittelständischen Ordnung zu einer großwirtschaftlichen Struktur.

Frauen im Nationalsozialismus

Bereits wenige Monate nach der Machtübernahme waren fast alle Frauen aus der Schulbürokratie entlassen und die Zahl der Lehrerinnen im Reich um 15 Prozent reduziert. Professorinnen, Schulleiterinnen (selbst an Mädchenschulen) und Schulrätinnen wurden ihres Amtes enthoben. Keine Frau konnte mehr vor ihrem 35. Lebensjahr einen Lehrstuhl oder eine Dozentur erhalten, was damit begründet wurde, daß sie, solange sie jünger war, Kinder bekommen konnte und dann zuerst ihrer Familie verpflichtet wäre. Ab 1934 kehrten nach und nach wieder "zuverlässige" Frauen in die akademische Lehrtätigkeit zurück. Das Archivmaterial gibt keinen Aufschluß über die Gründe; zwei Überlegungen dürften wohl eine Rolle gespielt haben: Zum einen bedeutete das Prinzip der "getrennten Sphären", daß Tausende gut ausgebildeter Frauen für den rasch wachsenden bürokratischen Apparat und die sozialen Einrichtungen im Frauenbereich gebraucht wurden; zum anderen hatten sich inzwischen so viele Organisationen der "alten" Frauenbewegung zur Kooperation mit den Nazis bereit erklärt, daß qualifizierte Frauen jetzt nicht mehr so bedrohlich waren. Obwohl die Zahl der Frauen an den Universitäten zwischen 1933 und 1935 um 40 Prozent zurückging, pendelte sich der Anteil der Studentinnen dann gegen Ende der dreißiger Jahre bei immerhin zehn Prozent ein. Die ehrgeizigen jungen Frauen, die eine Karriere innerhalb des staatlichen Frauenbereichs anstrebten, zogen vermutlich, ebenso wie die jungen Männer, eine Partei-Schule der Universität vor. Insgesamt fiel die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 229

Zahl der Studentinnen an den Universitäten von knapp 20000 im Jahr 1933 auf 5500 im Jahr 1939. Die Pädagoginnen fragten sich, wie sie den jungen Mädchen "arischen" Stolz einimpfen sollten, wenn sie ihnen gleichzeitig zu vermitteln hatten, daß die Frauen in allen Bereichen außer dem Haushalt grund-sätzlich untergeordnet waren. Der Körper der Frau gehörte dem Volk, aber wer sollte diesen Grundsatz im Bewußtsein verankern? Was sollten die Mädchen lernen? Sollten sie von Männern oder von Frauen unterrichtet werden? [...]

Die Rechte der Frauen, so meinte Erziehungsminister Hans Schemm, bestünden vor allem im "ersten und letzten Anrecht auf das Kind [...], [das sie] von Gott empfangen und dorthin wieder zurückgibt". Nachdem er klargestellt hatte, daß Frauen als untergeordnete Wesen geschaffen worden seien, schloß er die rhetorische Frage an: "Was sind alle modernen Rechte der Frau vom Stimmrecht bis zum Männerberuf gegen das eine, heiligste Recht der Mutter auf Sorge, Arbeit, Opfer und Liebe für das Kind? Das allein ist der Himmel, der auch dem und der Ärmsten auf Erden bereitet ist."

Claudia Koonz, Mütter im Vaterland, Reinbek 1994, S. 250ff.

Rolle der Frauen

Auch in der nationalsozialistischen Frauenpolitik gab es den tiefen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die NS-Führer und Ideologen waren frauenpolitisch extreme Traditionalisten und überdies voller sozialdarwinistischer Vorurteile. Sie förderten die traditionellen Verhaltensmuster, nach denen Frauen sich auf Familie, Kinder und Haushalt zu konzentrieren hätten. Dazu gehörte auch ein energisches Einschreiten gegen die weibliche Erwerbsarbeit. Hinzu kamen spezifische Elemente der nationalsozialistischen Ideologie: Die ideologiebewußte Frau habe sich dem selbstlosen Dienst für Volk und Regime unterzuordnen. "Du gehörst dem Führer", lautete die Parole. Gewollte Kinderlosigkeit galt als eine Art "Fahnenflucht", schrieb man doch der Frau dann die Verantwortung für den angeblich "drohenden Volkstod" zu. Doch bald wurden die Spannungen zwischen der Ideologie und den Anforderungen der Wirtschaft, die im Zeichen der Rüstungskonjunktur zunehmend Arbeitsplätze benötigte, immer größer. Das von den Wirtschaftsbürokratien geforderte Instrument einer allgemeinen Frauendienstpflicht wurde jedoch auch im Krieg nicht überall umgesetzt. Dagegen standen die genannten ideologischen Voreingenommenheiten und die Sorge um eine allzu große Belastung der Familien durch den Krieg, die durch eine allgemeine Frauenarbeit nicht noch erhöht werden sollten.

Trotz verschiedener familien- und arbeitsmarktpolitischer Gesetzgebungsmaßnahmen gelang es den Nationalsozialisten jedoch nicht, den säkularen Trend zur Ein- oder Zweikinder-Familie und zu einer zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit zu stoppen oder umzudrehen. Die Steigerung der Geburtenrate von 14,7 pro 1000 Einwohner im Jahre 1932 auf 18,6 im Jahre 1936 hatte keine familienpolitischen oder ideologischen Gründe, sondern vor allem wirtschaftliche. Es bestand ein gewisser Nachholbedarf im Bereich der Familienplanung seit der schweren ökonomischen Depression, der nun im Zeichen des Wirtschaftsaufschwunges zur Geltung kam. Auch kam es entgegen allen Versprechungen nicht zu einer Verringerung der Frauenerwerbstätigkeit, sondern im Zeichen der Hochkonjunktur zu einer Steigerung um 1,3 Millionen zwischen 1933 und 1939. Die Zahl der weiblichen Beschäftigten stieg von etwa 4,6 Millionen 1932 auf 4,75 Millionen im Jahre 1933 und betrug 1934 5,5 Millionen. Das war trotz der Ehestandsdarlehen, die den Ausstieg aus dem Erwerbsleben fördern sollten, eine Steigerung von knapp zehn Prozent. Tatsächlich war dieser Anstieg auf den vermehrten Einsatz von unqualifizierten weiblichen Arbeitskräften zurückzuführen, die als Billiglohnarbeiterinnen besonders begehrt waren. Dagegen war in qualifizierten Berufsgruppen der Trend gegenläufig. Das zeigt auch die Statistik: Während bei weiblichen Selbständigen und Beamtinnen in den genannten Jahren ein Rückgang um 14 Prozent bzw. 5,5 Prozent zu verzeichnen war, vergrößerte sich der Anteil der Industriearbeiterinnen in derselben Zeit um über 20 Prozent, der Haushaltshilfen um 7,4 Prozent, der weiblichen Angestellten um 18,9 Prozent. Ein deutlicher Rückgang von Frauenbeschäftigung trat vor allem in den akademischen Berufen ein, nachdem Akademikerinnen per Gesetz aus ihren Berufen verdrängt bzw. am Studium gehindert wurden. Frauen durften überdies erst nach dem 35. Lebensjahr

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 230 verbeamtet werden. Sie durften weder Richterinnen noch Anwältinnen werden.

Mit dem kriegsbedingten wachsenden Arbeitskräftebedarf wurde das Beschäftigungsverbot für Ehefrauen aufgehoben und das weibliche Pflichtjahr in Haus- und Landwirtschaft im Jahre 1938 eingeführt. Die "totale Mobilmachung" für Frauen blieb aus. Nur ledige Frauen wurden im Krieg dienstverpflichtet. Es gab jedoch weiterhin über 5,4 Millionen nicht erwerbstätige, aber erwerbsfähige verheiratete Frauen ohne Kinder. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen nahm nach Kriegsbeginn zunächst sogar ab und erreichte erst 1942 wieder den Vorkriegsstand. Das war in der hohen Unterstützungsleistung für die Angehörigen der Soldaten begründet. Der wachsende Bedarf an Arbeitskräften wurde überdies durch millionenfach zwangsverpflichtete ausländische Arbeitskräfte, sogenannte Fremdarbeiter gedeckt. Auch die sozialen Trennlinien wurden bei der Frauenarbeit trotz des schließlich verstärkten Kriegseinsatzes eingehalten: Die Dienstverpflichtung traf vor allem Frauen aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu, was zu einer wachsenden öffentlichen Kritik an der Privilegierung der bürgerlichen Frauen führte. Nach der Wende des Krieges 1943 wurden nur etwa 900000 Frauen zusätzlich zur Arbeit verpflichtet. Aufgrund des Männermangels ließ man in den Hochschulen Frauen wieder verstärkt zum Studium zu, ebenso wie sie auch im Schulbereich nun als Lückenbüßerinnen dienen durften.

Frauen aus höheren sozialen Schichten wurden nicht selten von der allgemeinen Dienstverpflichtung freigestellt. Die Ressentiments gegen diesen Personenkreis, der sich durch Scheinarbeitsverhältnisse, Atteste und gute Beziehungen Vergünstigungen verschaffte, nahmen bei den weniger Priviliegierten zu. Auch die verstärkten Kampagnen der nationalsozialistischen Frauenorganisationen gegen diese Zwei-Klassen-Behandlung führten allenfalls zu der resignierten Feststellung, daß die nationalsozialistische Frauenpolitik wenig Einfluß in NS-Partei und -Staat hatte.

Trotz ihrer 3,3 Millionen Mitglieder im Jahre 1939 blieben die NS-Frauenorganisationen unter der "Reichsführerin" Gertrud Scholtz-Klink, die an der Spitze der "Nationalsozialistischen Frauenschaft" sowie des "Deutschen Frauenwerkes" stand, ein kleines Häuflein von Ideologinnen, deren Kompetenz auf soziale Betreuung und Propaganda beschränkt blieb. Das lag in dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen dem traditionellen Frauenbild begründet, das vom Nationalsozialismus vertreten wurde, und den auch für eine Frauenorganisation geltenden Mobilisierungs- und Organisationsgesetzen, wollte sie sich politisch-organisatorisch behaupten. Denn es war kaum miteinander vereinbar, daß nach der NS-Ideologie einerseits die eigentliche Berufung von Frauen in der Erziehung von Kindern und im Haushalt lag, daß andererseits aber die eigene Frauenorganisation öffentlich und politisch wirksam werden sollte. Hinzu kamen die schweren Belastungen für die Frauen bei der Bewältigung der alltäglichen häuslichen und familiären Probleme und Sorgen während des Krieges, die kaum Raum für politische und soziale Aktivitäten ließen. Schließlich erwuchs noch ein weiterer Widerspruch aus einer bürgerlichen Sexualmoral als Grundmuster der Familienpolitik und des sozialen Verhaltens einerseits und dem vor allem in der SS propagierten rassistischen NS-Züchtungsdenken andererseits, das zwischen ehelicher und nicht-ehelicher Mutterschaft keinen Unterschied mehr machte.

Die nationalsozialistische Frauenpolitik zeigt noch einmal die ganze Widersprüchlichkeit der nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik: den Widerspruch zwischen der Propaganda von der Volksgemeinschaft und dem Fortbestand sozialer Barrieren und Ungleichheit; den Widerspruch zwischen bürgerlich-traditionellen Leitbildern und rassistischen Ideologien; schließlich den Widerspruch zwischen den frauenpolitischen Vorurteilen bzw. Vorgaben und der sich verändernden sozialen Wirklichkeit. Denn nicht nur die Tatsache der politisch-organisatorischen Aktivitäten von Repräsentantinnen der NS-Frauenorganisation war allen ideologischen Aussagen zum Trotz ein kleines Stück sozialer und öffentlicher Existenzerweiterung und Mobilität. Auch die Kriegswirtschaft und der Zusammenbruch brachten entgegen den ideologischen Prämissen des Regimes vor allem im Bereich von Dienstleistungsberufen, in denen Frauen immer unentbehrlicher wurden, ein weiteres Stück von sozialer Mobilität. Das gilt trotz der Tatsache, daß viele der Frauen Arbeit und Anerkennung nur als Lückenbüßerinnen fanden und daß sie zunächst nur auf Zeit diese sozialen Rollen übernehmen konnten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 231

Das heißt aber nicht, daß die eindeutig rückwärtsgewandten frauen- und familienpolitischen Maßnahmen des Regimes, die einen Rückschritt für die Frauen bedeuteten, übersehen werden können. Das novellierte Ehe- und Scheidungsrecht, das 1938 eine eindeutige Verschlechterung des Rechtsstatus der Frau bedeutete, ist nur ein Beispiel unter vielen für die rechtliche Entmündigung und tatsächliche Schlechterstellung der Frauen. Hier kamen traditionelle Verhaltensmuster und Vorurteile, die die Rolle des Mannes stärken sollten, zusammen mit bevölkerungspolitischen Ideologien des Regimes, die zutiefst menschenverachtend und von einem rassistischen Materialismus geprägt waren.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Wirtschaft und Gesellschaft unterm Hakenkreuz

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 232

Verfolgung und Widerstand

9.4.2005

Es war der größte Zivilisationsbruch in der Geschichte: Das nationalsozialistische Regime tötete Millionen europäischer Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere Bevölkerungsgruppen. Mit den Konzentrationslagern wurde der Massenmord industrialisiert. Aber es gab auch Widerstand gegen die Verbrechen der Nazis. Er reichte vom bloßen Versuch, im KZ ein Stück der eigenen Kultur zu erhalten, bis zu gewaltsamen Anschlägen gegen die Führung.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 233

Massenmord und Holocaust

Von Michael Wildt 18.12.2012 Michael Wildtist gelernter Buchhändler und arbeitete von 1976 bis 1979 im Rowohlt-Verlag. Anschließend studierte er von 1979 bis 1985 Geschichte, Soziologie, Kulturwissenschaften und Theologie an der Universität Hamburg. 1991 schloss er seine Promotion zum Thema „Auf dem Weg in die ‚Konsumgesellschaft‘. Studien über Konsum und Essen in Westdeutschland 1949-1963“ ab und war anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg. Von 1997 bis 2009 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und habilitierte 2001 mit einer Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Seit 2009 ist er Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Nationalsozialismus, Holocaust, Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und soziale wie politische Ordnungsvorstellungen in der Moderne.

Kontakt: (mailto:[email protected])

Peter Krumeich, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Wildt, hat an der inhaltlichen Entwicklung des Heftes mitgewirkt und insbesondere in Abstimmung mit der Redaktion die Bildrecherche für dieses Heft übernommen.

Mit Kriegsausbruch radikalisiert sich die Gewalt. Tausende kranke und behinderte Menschen werden ermordet, und die Deportation und Tötung der Juden Europas wird auf der Wannsee- Konferenz koordiniert. Bei "Aktionen“ der von SS, SD und Polizei sowie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern fallen Millionen Menschen dem NS-Terror zum Opfer.

Krankenmord

Die Entscheidung zum Mord an sogenanntem lebensunwertem Leben war bereits zu Kriegsbeginn mit der Tötung von kranken und behinderten Menschen gefallen. Forderungen nach Einführung erbbiologischer Personalbögen, nach einem Eheverbot für unerwünschte Paare bis hin zur Asylierung von Epileptikern, psychisch Kranken und Kriminellen sowie zur Sterilisation "Minderwertiger" waren schon in der eugenischen Diskussion der Weimarer Republik laut geworden. 1920 hatten der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche eine einflussreiche Broschüre mit dem Titel "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" veröffentlicht, in der die jüdisch-christliche Achtung vor der Unantastbarkeit des Lebens mit Hinweisen auf antike Gesellschaften wie Sparta angegriffen wurde. Gleich zu Beginn der NS-Herrschaft erließ die Hitler-Regierung im Juli 1933 ein " Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", das erstmals in Deutschland die Zwangssterilisation erlaubte. Nun wurden die Stimmen immer lauter, die auch die Tötung von behinderten und psychisch kranken Menschen forderten.

Immer wieder erreichten die "Kanzlei des Führers der NSDAP", eine eher marginale Institution, die Hitlers Privatangelegenheiten und persönliche Eingaben an ihn regelte, Gesuche, in denen um die Genehmigung zur Sterbehilfe gebeten wurde. Darunter befand sich 1939 auch ein Schreiben, in dem ein Vater darum bat, sein behindertes Kind töten zu lassen. Hitler, der sich stets öffentlich über die " moderne Humanitätsduselei" zugunsten der Kranken und Schwachen mokiert hatte, nahm sich des Falles an und ermächtigte den Leiter der "Führerkanzlei", Philipp Bouhler, und seinen persönlichen Arzt, Dr. , das Kind zu töten und in ähnlichen Fällen analog zu verfahren. Als die beiden im Laufe der organisatorischen Vorbereitungen der "Euthanasie"-Morde um eine schriftliche Ermächtigung baten, erteilte Hitler im Oktober 1939 den Mordbefehl, bezeichnenderweise rückdatiert auf den 1. September, um den Zusammenhang mit dem Krieg deutlich zu machen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 234

Im kleinen Kreis bereiteten die Funktionäre der "Führerkanzlei" zusammen mit Ärzten die Morde an Kranken und Behinderten vor und gründeten zur Tarnung des Unternehmens einen "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", der seinen Sitz in Berlin, Tiergarten 4, hatte, weswegen die "Euthanasie"-Morde unter der Chiffre "T4" geplant wurden. Bereits am 18. August 1939 erging ein streng vertraulicher Runderlass des Reichsministeriums des Innern an alle Landesregierungen, dass Hebammen und Ärzte missgebildete und behinderte Neugeborene unverzüglich den Amtsärzten melden müssten, die wiederum die Meldungen zu prüfen und an den "Reichsausschuß" weiterzuleiten hätten. Später wurden insbesondere die Leitungen von Krankenanstalten und psychiatrischen Kliniken aufgefordert, auch erwachsene Patienten zu melden.

In Berlin wurden die Meldebögen durch drei ärztliche Gutachter geprüft. Diejenigen Menschen, die ermordet werden sollten, erhielten ein "+"-Zeichen auf dem Bogen. Mit unauffällig erscheinenden, grau angestrichenen Bussen wurden dann die Opfer in besondere Krankenanstalten, nach Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein, verlegt, um sie dort zu töten.

Da die Täter für ihre Morde Giftmittel brauchten, wandten sie sich an Himmler, der sie an das Kriminaltechnische Institut des Reichskriminalpolizeiamtes verwies. Der zuständige Referent, Dr. Albert Widmann, kam auf die Idee, die Kranken durch Kohlenmonoxid zu töten. Während Widmann daran dachte, das Gas nachts, wenn die Kranken schliefen, in die Schlafsäle zu leiten, entschieden die Verantwortlichen der T4-Aktion anders. Die Patienten sollten in eigens eingerichteten Gaskammern umgebracht werden. Der erste Versuch mit Menschen fand im Dezember 1939 oder Januar 1940 im alten Zuchthaus Brandenburg statt. An ihm nahm als Beobachter neben den "Euthanasie"-Beauftragen Hitlers, Dr. Karl Brandt und Philipp Bouhler, dem für Gesundheitsfragen zuständigen Staatssekretär im Reichsinnenministerium, , etlichen Bürokraten und Ärzten auch Albert Widmann teil, der die Ärzte instruierte, wie man das Gas in die Kammer leitete. Die versammelten Teilnehmer verfolgten das qualvolle Ersticken der Opfer durch ein Guckloch in der Tür. Widmann beschaffte in der Folgezeit das notwendige Kohlenmonoxidgas für die "Euthanasie"-Morde vom Ludwigshafener Werk der IG Farben, der heutigen BASF. Bis zum Kriegsende wurden in Deutschland und in den besetzten Gebieten etwa 275 000 kranke und behinderte Menschen ermordet.

Geheimhalten konnten die Täter diese Morde nicht. Verwandte erkundigten sich, wohin ihre kranken Familienangehörigen gebracht worden seien, und erhielten nur ausweichende, fadenscheinige Antworten, schließlich Formschreiben mit der Todesnachricht. In den Orten der Tötungsanstalten wie in Grafeneck im Kreis Münsingen auf der Schwäbischen Alb wurde rasch bekannt, dass es in den Krankenanstalten zu ungewöhnlich zahlreichen Todesfällen kam. Etliche Patienten selbst ahnten das Schicksal, das ihnen bevorstand, wehrten sich und schrien um Hilfe beim Abtransport. Bei den Kirchenstellen häuften sich die Meldungen von Pfarrämtern über den unerwarteten Tod von Kranken und die sofortige Einäscherung ihrer Leichen. Im Juli 1940 wandte sich der Vormundschaftsrichter Dr. Lothar Kreyssig aus Brandenburg/Havel empört an das Reichsjustizministerium und verlangte Aufklärung über das Schicksal der ihm anvertrauten Menschen. Auch aus anderen Orten erreichten Justizminister Franz Gürtner Berichte über umlaufende beunruhigende Gerüchte. Der württembergische evangelische Landesbischof Theophil Wurm schrieb am 19. Juli 1940 persönlich an Reichsinnenminister Frick, um gegen die "Lebensvernichtung" zu protestieren. Im August nahm auch die katholische Bischofskonferenz intern Stellung und verlangte ein Ende der Tötungen. Der mutige Amtsrichter Kreyssig hatte mittlerweile Anzeige wegen Mordes erstattet. Als sich die Nachrichten über die "Euthanasie"-Morde innerhalb der Bevölkerung immer mehr ausbreiteten, Familienangehörige sich Hilfe suchend sogar an die Polizei wandten und schließlich der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen Anfang August 1941 öffentlich gegen die Morde predigte, machte die Regimeführung einen Rückzieher. Auf Weisung Hitlers wurde die "Euthanasie" an Erwachsenen im Deutschen Reich offiziell gestoppt – und heimlich an Kindern, in den Konzentrationslagern und in den besetzten Gebieten fortgeführt. Etliche "Mordexperten" aus den Tötungsanstalten wie , oder fanden nach wenigen Monaten wieder Anstellung in den Vernichtungslagern im von Deutschland besetzten Polen, wo ihre Kenntnis, Menschen mit Gas zu

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 235 töten, erneut zum Einsatz kam.

Nach dem Überfall auf Polen töteten SS-Einheiten auch dort kranke und behinderte Menschen, nicht zuletzt, um die Heime, in denen diese Menschen untergebracht waren, als Unterkünfte für sich selbst und für volksdeutsche Siedler zu nutzen. Das SS-Kommando Lange, das sich bei diesen Morden besonders hervortat, entwickelte dazu eine neue Methode: Die Opfer wurden in einen Kastenwagen gepfercht und dort mit CO aus Gasflaschen erstickt. 1941 ließ das Reichssicherheitshauptamt 30 solcher Wagen so umbauen, dass durch einen Schlauch die Motorabgase hineingeleitet werden konnten, sodass die Menschen unter furchtbaren Qualen starben. Diese Gaswagen setzte die SS in der Vernichtungsstätte Kulmhof/Chełmno bei Łódz´, im Lager Sajmište bei Belgrad und in Maly Trostenez bei Minsk ein und lieferte sie an die Einsatzgruppen als mobile Tötungsinstrumente.

Das Schicksal der Emilie R.

Emilie R., geb. 1891 in Alsfeld, heiratete 1912 den Polizeisekretär Christian R. Sie bekam vier Kinder und war geistig gesund, bis 1931 Verwirrungszustände und Depressionen auftauchten. Zu dieser Zeit war ihr Mann wegen eines Hüftleidens krankgeschrieben – was zu größten Ängsten um den Arbeitsplatz und das Ansehen der Familie bei ihr führte. Am 30. November 1931 brachte ihr Mann sie erstmals in die Universitätsnervenklinik Frankfurt, wo als Diagnose „ängstliche Beziehungspsychose“ festgehalten wurde. Im Dezember konnte sie auf Wunsch ihres Mannes wieder entlassen werden, galt aber nicht als geheilt. Im April 1936 wurde Emilie R. wieder in die Frankfurter Nervenklinik aufgenommen und ihr dieses Mal „paranoide Demenz“ diagnostiziert – Emilie R. litt unter „Wahnvorstellungen“. Sofort wurde von der Klinik auch ein Antrag auf Sterilisation gestellt, obwohl ähnliche Krankheiten in der Familie nicht bekannt waren und alle Kinder sich bester Gesundheit erfreuten. Schon am 12. Mai 1936 wurde Emilie R. als ungeheilt in die Landesheilanstalt Hadamar entlassen, wo sie jedoch nur fünf Monate blieb. Ihr Mann stellte den Antrag, sie in das konfessionelle St. Valentinushaus in Kiedrich verlegen zu lassen. In einer der letzten Eintragungen in ihre Krankengeschichte in Hadamar hieß es: „7.8.36. Steht nach wie vor unter dem Einfluß ihrer Sinnestäuschungen. Ist zu keiner Arbeit zu bewegen.“ Damit erklärt sich auch, warum die Anstalt gegen eine Verlegung nichts einzuwenden hatte, denn Emilie R. konnte nicht mehr zur Arbeit eingesetzt werden. In dem konfessionellen Pflegeheim wurden ihren Verwandten meist die Besuche verwehrt, auch der Ehemann musste sich intensiv um Besuchserlaubnis bemühen. Ein Spaziergang am Tage der Silberhochzeit in den Ort Eltville wurde ihnen verwehrt, da Emilie R. unter das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ fiel und nicht sterilisiert war. Im August 1939 wurde sie aus dem St. Valentinushaus in die Anstalt Eichberg verlegt und kam am 21. Februar 1941 mit einem Sammeltransport in die Tötungsanstalt Hadamar. Dort ist sie am selben Tag ermordet worden. Anschließend wurde ihre Krankenakte an die T4-Anstalt Sonnenstein bei Pirna versandt und ihr Tod mit dem Datum 1. März 1941 in Sonnenstein beurkundet.

Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Bettina Winter (Bearb.), „Verlegt nach Hadamar“. Zur Geschichte einer NS-„Euthanasie“-Anstalt. Begleitband für eine Ausstellung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Kataloge Bd. 2. 1991, S. 103

Eine Predigt gegen das Morden

Predigt des Bischofs von Münster Clemens August von Galen vom 3. August 1941:

„Andächtige Christen! In dem am 6. Juli dieses Jahres in allen katholischen Kirchen Deutschlands verlesenen gemeinsamen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 26. Juni 1941 heisst es unter anderem: ‚Gewiss gibt es nach der katholischen Sittenlehre positive Gebote, die nicht mehr verpflichten, wenn ihre Erfüllung mit allzu großen Schwierigkeiten verbunden wäre. Es gibt aber auch heilige

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 236

Gewissensverpflichtungen, von denen niemand uns befreien kann, die wir erfüllen müssen, koste es, was es wolle, koste es uns selbst das Leben. Nie, unter keinen Umständen darf der Mensch außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.‘ Ich hatte schon am 6. Juli Veranlassung, diesen Worten des gemeinsamen Hirtenbriefes folgende Erläuterung hinzuzufügen:

‚Seit einigen Monaten hören wir Berichte, dass aus Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke auf Anordnung von Berlin Pfleglinge, die schon länger krank sind und vielleicht unheilbar erscheinen, zwangsweise abgeführt werden. Regelmäßig erhalten dann die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung, der Kranke sei verstorben, die Leiche sei verbrannt, die Asche könne abgeliefert werden. Allgemein herrscht der an Sicherheit grenzende Verdacht, dass diese zahlreichen unerwarteten Todesfälle von Geisteskranken nicht von selbst eintreten, sondern absichtlich herbeigeführt werden, dass man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe so genannt lebensunwertes Leben vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt.‘

Wie ich zuverlässig erfahren habe, werden jetzt auch in den Heil- und Pflegeanstalten der Provinz Westfalen Listen aufgestellt von solchen Pfleglingen, die als so genannt unproduktive Volksgenossen abtransportiert und in kurzer Zeit ums Leben gebracht werden sollen. Aus der Anstalt Marienthal bei Münster ist im Laufe dieser Woche der erste Transport abgegangen. [...] Nachricht über ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft oder der Polizei ist mir nicht zugegangen. Ich hatte bereits am 26. Juli bei der Provinzialverwaltung der Provinz Westfalen, der die Anstalten unterstehen, der die Kranken zur Pflege und Heilung anvertraut sind, schriftlich ernstestens Einspruch erhoben. Es hat nichts genützt. Der erste Transport der schuldlos zum Tode Verurteilten ist von Marienthal abgegangen. Und aus der Heil- und Pflegeanstalt Warstein sind, wie ich höre, bereits 800 Kranke abtransportiert worden. So müssen wir damit rechnen, dass die armen, wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden.

Warum? Nicht, weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben! Nicht etwa, weil sie ihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben, so dass diesem nichts anderes übrig blieb, als dass er zur Erhaltung des eigenen Lebens in gerechter Notwehr dem Angreifer mit Gewalt entgegentrat. Das sind Fälle, in denen neben der Tötung des bewaffneten Landesfeindes im gerechten Kriege Gewaltanwendung bis zur Tötung erlaubt und nicht selten geboten ist.

Nein, nicht aus solchen Gründen müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sondern darum, weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission lebensunwert geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den unproduktiven Volksgenossen gehören. [...]

Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozess ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als schwer Kriegsverletzte, als Krüppel, als Invalide in die Heimat zurückkehren.

Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, unproduktive Mitmenschen zu töten, und wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben. [...]

Wehe den Menschen, wehe unserem deutschen Volk, wenn das heilige Gottesgebot: Du sollst nicht töten!, das der Herr unter Donner und Blitz auf Sinai verkündet hat, das Gott unser Schöpfer von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern wenn

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 237 diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird!“

Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933-1946, Band II, bearb. v. Peter Löffler (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Quellen; Bd 42), 2., erw. Aufl., Schöningh Verlag Paderborn 1996, S. 875 ff.

Deportationen

Im Deutschen Reich wurden die Juden mit dem Kriegsbeginn verschärften Drangsalierungen ausgesetzt. Am 10. September 1939 ordnete Himmler an, dass die jüdischen Gemeinden sich selbst um ihren Schutz vor Bombardierungen zu sorgen und eigene Luftschutzräume zu bauen hätten. Lokale Parteigruppen und kommunale Ämter hatten bereits ihrerseits damit begonnen, Ausgehverbote für Juden zu verhängen oder die Radioapparate zu beschlagnahmen. Zwar verbot die NS-Führung derlei Initiativen von unten, Himmler erließ aber seinerseits ebenfalls am 10. September ein Ausgehverbot für Juden ab 22 Uhr. Wenige Tage später folgte eine Verordnung, die Juden untersagte, ein Radiogerät zu besitzen. Am 23. September sollte die Gestapo "schlagartig" im ganzen Reich die Radioapparate von Juden einziehen. Lebensmittelkarten für Juden wurden von Januar 1940 an generell mit einem " J" gekennzeichnet, die Rationen immer weiter eingeschränkt und Zulagen gestrichen.

Konsequent in ihren Bemühungen, die Juden vollständig sozial zu isolieren, machten sich die Nationalsozialisten 1939 daran, auch in Deutschland die jüdische Bevölkerung zu "gettoisieren". Das hieß, die bestehenden Mietverhältnisse wurden aufgelöst und "Judenhäuser" eingerichtet, in denen die jüdischen Deutschen von nun an, oftmals auf engstem Raum mit mehreren Familien in einer Wohnung, leben mussten. Darüber hinaus forcierte die NS-Führung Pläne, die noch im Reich lebenden Juden zur Zwangsarbeit heranzuziehen, nachdem schon zuvor arbeitslose Juden arbeitsverpflichtet worden waren. Jetzt wurden Männer und Frauen, die als arbeitsfähig eingestuft wurden – das waren im Sommer 1941 etwa 59 000 Menschen – zur Erntearbeit in der Landwirtschaft, in Industriebetrieben, zum Räumen von Bombardierungsschäden oder Bauen von Straßen und Eisenbahngleisen eingesetzt, oftmals ohne Lohn und Versicherungsschutz. Zudem galt ein Sonderarbeitsrecht für Juden, die keine Zulagen oder sonstigen Vergünstigungen, die den nichtjüdischen Arbeitern zustanden, erhalten sollten. Auf die "Wahrung des sozialen Abstandes" der Volksgenossen zu den jüdischen und polnischen Arbeitern legte das Arbeitsministerium größten Wert.

1940 wurde ein alter antisemitischer Plan zu neuem Leben erweckt: die Deportation der europäischen Juden nach Afrika. Antisemiten wie der deutsche Kulturphilosoph Paul de Lagarde hatten diese Idee seit Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet. Auch andere europäische Staaten wie Polen oder Frankreich zogen in den 1930er-Jahren die Deportation ihrer jüdischen Staatsbürger nach Madagaskar ernsthaft in Erwägung. Die polnische Regierung entsandte gar 1937 eine Kommission dorthin, um die Bedingungen für eine Deportation polnischer Juden zu prüfen.

Heydrich ließ im August 1940 drei Exemplare einer vierzehnseitigen Broschüre mit Karte, Lexikon- Auszügen und Organigramm zum "Madagaskar-Projekt" an das Auswärtige Amt schicken. Detailliert war in diesem RSHA-Plan entwickelt, wie vier Millionen europäische Juden nach Madagaskar deportiert und dort in einem Polizeistaat unter der Leitung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD dahinvegetieren sollten. Mit 120 Schiffen – so die Broschüre – könnten täglich etwa 3000 Juden verschifft werden, sodass nach Rechnung des RSHA innerhalb von vier Jahren das "Judenproblem " gelöst sein sollte. Heydrich selbst sprach im Juni in einem Brief an Reichsaußenminister von einer "territorialen Endlösung", die jetzt notwendig sei. Auch das Auswärtige Amt arbeitete an einem Madagaskar-Plan.

Überleben in Wien 1941 bis 1943

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 238

Lotte Freiberger ist 1923 in Wien geboren. Ihr jüdischer Vater war Großkaufmann in der Garnbranche. Ihre Mutter war geborene Katholikin, aber bei ihrer Heirat zum Judentum konvertiert. Um die Familie zu schützen, trat die Mutter in der NS-Zeit wieder zum katholischen Glauben über.

Der Text wurde im Rahmen eines 1982 begonnenen „Oral-History“-Projektes erhoben.

[...] „Um diese Zeit [1941] verschickten die Nazi junge Mädchen nach Stendal in Norddeutschland zum Spargelstechen. Wir ahnten zu Recht nichts Gutes. Durch einen ‚arischen‘ Geschäftsfreund meines Vaters bekamen wir die Adresse einer Frau Ostermann, die eine Schneiderwerkstätte hatte und jüdische Arbeiterinnen aufnehmen durfte, als Zwangsdienstverpflichtete. Sie war eine sehr brave, anständige Frau. Die Werkstatt war in der Alserstraße. Ich trat am 26. Mai 1941 dort ein und blieb bis Kriegsende. Die Firma lieferte ins ‚Altreich‘, wie man Deutschland damals nannte, das war quasi ein ‚Export‘, und ich war dadurch vor dem Spargelstechen in Stendal geschützt. Ich möchte noch erwähnen, dass keine meiner Freundinnen Stendal überlebte. Ich hörte nie mehr etwas von ihnen. Später hat man erfahren, dass sie nach getaner Arbeit direkt in die Vernichtungslager geschickt wurden.

Eine ‚arische‘ Firma wie Ostermann durfte jüdische Arbeiterinnen – gegen lächerliche Bezahlung – anstellen, wenn folgende Voraussetzungen gegeben waren: strengste Isolation von den ‚arischen ‘ Mitarbeitern der Werkstatt, extra Klosett, keine Küchenbenützung. Wir stellten unsere Reindeln [Dosen] aufs Fensterbrett, woanders war kein Platz. Die Arbeiterinnen der ‚arischen‘ Werkstatt spuckten darauf. [...]

Es war bereits die Zeit der Deportationen. Wenn ich in die Werkstatt kam, fehlte täglich die eine oder andere. Sie kamen nie mehr wieder, sie waren deportiert worden. Wir wurden immer weniger, manchmal fehlten gleich vier oder fünf von uns, man wagte sich kaum mehr in die Firma – aus Angst, wer morgen fehlen würde. So passierte es, dass ich eines Tages allein dort war. Alle waren bereits ‚ausgehoben ‘ worden, wie man die Abholung durch die SS nannte, und nach Polen deportiert worden. Niemand von den Frauen hat überlebt.

Zu Anfang der Deportationen kam die SS alleine, später mit ‚Aushebern‘, das waren jüdische Männer, die gezwungen wurden – teilweise vielleicht auch freiwillig dabei waren –, diesen Dienst zu machen. Sie waren sehr unangenehm und brutal, aus Selbsterhaltungstrieb, sie dachten damit ihr Leben retten zu können. Dem war aber nicht so. Mit dem letzten Polentransport gingen alle ‚Ausheber‘ mit ihren Familien mit.

Nach der ersten ‚Aushebung‘, bei der meine Tante geholt wurde, kamen sie noch dreimal zu uns, bei Tag und bei Nacht. Immer dieselbe Situation. Nachdem sie unsere Dokumente gesehen hatten, sagten sie zu meinem Vater: ‚Sie können bleiben, die Tochter packt. Wir lassen die Papiere im Lager überprüfen und kommen wieder.‘ Das erste Mal rannte ich zum offenen Fenster, mein Vater zog mich noch an meinen Füßen zurück, der SS-Mann schrie: ‚Soll sie springen!‘ Dann wurde gepackt. Meine Mutter sagte: ‚Du gehst nicht alleine. Entweder wir alle oder keiner.‘ So packten wir drei Koffer, nähten Geld in Mäntel ein und warteten. Nach Stunden kam der SS-Mann mit meinen Papieren und sagte: ‚Sie kann bleiben.‘ Einige Tage später wurde wieder an unsere Tür geklopft. Vor der Tür stand ein wütender SS-Mann. Alles wiederholte sich: Packen, Dokumente, Warten – und nach Stunden die Mitteilung, dass ich bleiben kann. Noch ein drittes Mal wiederholte sich diese Szene, da rannte ich zum Gashahn, und wieder drehte mein Vater im letzten Moment ab.

Die Transporte gingen Ende 1942 fast täglich. Es kamen auch die Alten und Kranken aus dem Spital dran, alle, die früher zurückgestellt worden waren. Es passierte mitunter, dass ein Auto nicht vollbesetzt war, da holte man ganz einfach von der Straße Juden, sie trugen ja alle den Stern und waren dadurch als Juden kenntlich. Sie wurden auf die Lastwagen verladen – so, wie sie waren – und direkt zum Bahnhof geführt. Wenn ich also in der Früh in die Arbeit ging, wusste ich nie, ob ich abends wieder nach Hause kam. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 239

Die wenigen jüdischen Jugendlichen, die es in Wien noch gab, trafen sich zum Wochenende am jüdischen Friedhof beim vierten Tor. Dort gab es eine große Fläche ohne Grabsteine, wo Gemüse und Kartoffeln für das jüdische Spital angebaut wurden. Dort spielten wir Ball und andere Spiele und konnten ein wenig die Sorgen vergessen. Leider wurde auch diese Gruppe von Sonntag zu Sonntag immer kleiner, immer wieder fehlte wer, weil er schon am Transport war. [...] Wien war 1943/44 schon fast ‚judenrein‘.“ [...]

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (Hg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, Wien 1992, S. 199 ff.

Zit. nach Steffens/Lange (s. Lit.), Bd. 2, S. 174 ff.

Faktisch war das Madagaskar-Projekt bereits im Ansatz gescheitert, weil nur dann deutsche Deportationsschiffe auf den Weltmeeren nach Afrika fahren konnten, wenn die Seemacht Großbritannien besiegt war. Trotz seiner mehr als fragwürdigen Umsetzbarkeit wurde der Plan innerhalb der NS-Führung ernsthaft erwogen. Mitte August, als der Luftkrieg gegen England noch im vollen Gang war, vermerkte Goebbels nach einem Gespräch mit Hitler, dass die Juden "später mal nach Madagaskar verfrachtet" werden sollten.

Und noch etwas anderes machte der Madagaskar-Plan deutlich. Allen Beteiligten, ob im Reichssicherheitshauptamt oder im Auswärtigen Amt, war klar, dass auf dieser Insel, die nur teilweise landwirtschaftlich zu nutzen war, keinesfalls Millionen Menschen würden überleben können. Der Madagaskar-Plan besaß bereits eine völkermörderische Dimension, auch wenn noch von einer " territorialen Endlösung" die Rede war.

Tatsächlich wurde im Frühjahr 1940 eine andere Gruppe aus Deutschland deportiert: Roma und Sinti. Schon im 19. Jahrhundert waren "Zigeuner", wie sie abfällig genannt wurden, Opfer polizeilicher Drangsalierung und gesellschaftlicher Vorurteile gewesen. Kommunen hatten ihnen den Aufenthalt verboten, sie waren als Diebe und Spione verdächtigt und vertrieben worden. Das NS-Regime systematisierte die Verfolgung von Roma und Sinti und gründete bei der Kriminalpolizei eine eigene " Reichsstelle für die Bekämpfung des Zigeunerunwesens". Ebenfalls unterstützte die Kriminalpolizei die sogenannte Rassenhygienische Forschungsstelle unter Dr. Robert Ritter, die in einem groß angelegten Projekt die in Deutschland lebenden "Zigeuner" rassistisch erfasste. Tausende von Menschen mussten sich vermessen lassen und Auskunft über ihre Familie geben. 1936 begannen die Internierung von Roma und Sinti in eigenen Lagern an den Stadträndern und ihr Einsatz zur Zwangsarbeit.

Verfolgung von Sinti und Roma

Jakob Müller, 1928 geboren, heute in .

„Als wir aus Worms abgeholt wurden, wurde uns keine Begründung dafür gegeben. Wir lebten in einem großen Gebiet, wo viele Sinti wohnten. Die haben dann das Areal umstellt und kamen morgens an, in unsere Wohnung in der Kleinen Fischerweide 50, direkt neben der Nibelungenschule. Sie riefen ‚Raus, raus, raus‘, und wir konnten nur das Nötigste mitnehmen. Dann sind wir mit den Lastwagen von Worms direkt nach Frankfurt gekommen. Mein Vater war gar nicht mehr zuhause, er war bei der Deutschen Luftwaffe.

Der ist dann 1941 ‚aus rassischen Gründen‘ unehrenhaft aus der Armee entlassen worden und kam dann auch ins Frankfurter Lager. Reingekommen in das Lager in der Dieselstraße in Frankfurt sind wir am 10. September 1940 und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 240 sind bis zum 13. März 1943, bis wir nach Auschwitz deportiert wurden, dort geblieben. Von da aus sind wir in das Konzentrationslager nach Auschwitz gekommen und danach weiter in verschiedene Lager.

Das Lager in Frankfurt in der Dieselstraße hatte eine Länge von circa 80 Metern und eine Breite von etwa 20 Metern. Wir hatten keine Wohnungen, sondern mußten in ausrangierten Möbelwagen wohnen. Da waren etwa 25 Möbelwagen drin, und am Anfang so ungefähr 150 bis 180 Personen. Manche Familien, mit acht bis zwölf Personen, mußten auf einem Raum von circa sieben Meter Länge und zwei Meter Breite wohnen. Die mußten also auf circa 14 Quadratmetern hausen, waren auf engstem Raum zusammengepfercht.

Morgens war immer ‚der Appell‘, da sind wir gezählt worden – wir waren ja eingezäunt, vorne dran am Ausgang war eine Wachstube, da war turnusmäßig immer ein Polizist. Insgesamt waren es vier. [...]

Wir durften ein Jahr zur Schule gehen, und zwar in die Riederwaldschule, dann hat sich die Bevölkerung darüber mokiert, zuletzt mußten wir alle ganz hinten in einem Block sitzen. Dann kam der Frankfurter Erlaß, und da durften wir Kinder nicht mehr die Schule besuchen.

Die Familien waren unter sich. Sie konnten kochen und haben sich die Verpflegung selbst gekauft. Die Kinder haben später überhaupt keinen Ausgang gehabt, die Frauen konnten wenigstens morgens einkaufen gehen. Wir konnten das Lager nicht verlassen, wie wir wollten. Nur die arbeitsfähigen Personen, die in der Rüstungsindustrie tätig waren, sind morgens zur Arbeit gegangen, und abends war wieder Appell.[...]

Das Lager wurde dann im März 1943 zu fünfzig Prozent aufgelöst, die Hälfte von uns kam nach Auschwitz, die andere Hälfte ist im Frankfurter Lager geblieben. [...]

Mein Vater starb 1943 im KZ-Lager von Auschwitz, was man dort so sterben nannte. Von Auschwitz sind wir dann 1944 in ein Lager nach Ravensbrück gekommen. Erst dort haben wir mit den Sterilisationen zu tun bekommen. Wir waren dort mit 191 Männern und 34 Kindern, der jüngste war da fünfeinhalb. Dort wurde dann gesagt, daß, wenn man sich sterilisieren ließe, die Verwandten freikämen. Da mußte man dann Fragebögen ausfüllen, für welchen Angehörigen man das machen ließe, die Mutter, den Bruder oder so. Nur zwei Jungen, darunter ich, wurden nicht sterilisiert. Aber statt der versprochenen Freiheit kamen wir dann ins nächste Lager, nach Oranienburg. Dort wurde dann gesagt: Eure Familienangehörigen kommen frei, wenn ihr Euch zur Waffen-SS meldet. Tatsächlich haben sich etliche gemeldet, aber keiner der Verwandten kam frei.“

Eva von Hase-Mihalik / Doris Kreuzkamp, „Du kriegst auch einen schönen Wohnwagen“. Zwangslager für Sinti und Roma, während des Nationalsozialismus in Frankfurt am Main, Brandes & Apsel Verlag Frankfurt 1990, S. 23 ff.

Ende April 1940 ordnete Himmler die Deportation von insgesamt 2500 "Zigeunern" aus Norddeutschland und dem Rheinland sowie aus Frankfurt und Stuttgart ins Generalgouvernement an. Im Mai nahm daraufhin die Kriminalpolizei im Reich Hunderte von Roma und Sinti fest, internierte sie in provisorischen Lagern und deportierte sie ins besetzte Polen. Dort mussten sie schwere Zwangsarbeit leisten und waren nur notdürftig untergebracht. Im Verlaufe des Winters 1940/41 wurden die Roma und Sinti weitgehend sich selbst überlassen; viele starben an Kälte, Unterernährung und Krankheiten. Etliche versuchten, sich zurück zu ihren Familien nach Deutschland durchzuschlagen, wenige blieben in Polen zurück, um dort auf irgendeine Weise im Untergrund zu überleben.

Mittlerweile drängten zahlreiche Instanzen des NS-Regimes darauf, sich der Juden zu entledigen. Nachdem Reinhard Heydrich offenkundig seit längerem mit einem Plan zur "Endlösung der Judenfrage " beauftragt worden war, dessen Einzelheiten jedoch nicht überliefert sind, erhielt er von Göring am 31. Juli 1941 die Ermächtigung, "alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 241 und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa."

Im April 1941 hatte der ehemalige Stellvertreter Heydrichs, , der nun als Verwaltungschef der deutschen Besatzung in Paris fungierte, für eine Besprechung mit dem sogenannten Judenkommissar der Vichy-Regierung, Xavier Vallet, die allgemeine Maxime formuliert, dass das deutsche Interesse "in einer progressiven Entlastung aller Länder Europas vom Judentum mit dem Ziel der vollständigen Entjudung Europas" bestehe, was die Dimension der Planungen innerhalb der SS-Führung markierte. Der "Judenreferent" in der Deutschen Botschaft in Paris unterbreitete Botschafter Otto Abetz diverse Vorschläge, darunter die Zwangssterilisation sämtlicher französischer Juden, die Abetz bei nächster Gelegenheit mit Ribbentrop und Göring besprechen wollte.

Auch die NSDAP-Gauleiter in Deutschland drängten auf eine rasche Deportation der Juden vor allem aus den Städten, damit die frei werdenden Wohnungen ausgebombten "Volksgenossen" zur Verfügung gestellt werden könnten. "In der Judenfrage", so schrieb Goebbels über eine Unterredung mit Hitler am 19. August 1941, "kann ich mich beim Führer vollkommen durchsetzen. Er ist damit einverstanden, daß wir für alle Juden im Reich ein großes sichtbares Judenabzeichen einführen, das von den Juden in der Öffentlichkeit getragen werden muß […]. Im übrigen sagt der Führer mir zu, die Berliner Juden so schnell wie möglich, sobald sich die erste Transportmöglichkeit bietet, von Berlin in den Osten abzuschieben. Dort werden sie dann unter einem härteren Klima in die Mache genommen." Die Behörde von Albert Speer als Generalbauinspektor für Berlin ging zur selben Zeit davon aus, dass demnächst Tausende von Juden bewohnte Wohnungen geräumt würden, um die "Volksgenossen" mit Wohnungen zu versorgen, und stellte aus seiner Gesamtkartei entsprechende Listen zusammen, die der Berliner Gestapo übergeben wurden.

Im September wurde die Drohung Wirklichkeit: Deutsche Juden mussten von nun an in der Öffentlichkeit einen Stern tragen. Die Polizeiverordnung vom 1. September 1941 legte detailgenau fest: "Der Judenstern besteht aus einem handtellergroßen, schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit der schwarzen Aufschrift ‚Jude’. Er ist sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks fest aufgenäht zu tragen."

Victor Klemperer beschreibt die Einführung des „Judensterns“ …

Victor Klemperer (1881-1960), Romanist, Hochschullehrer, stammte aus einer jüdischen Familie und war 1912 zum Protestantismus übergetreten. Dennoch verfolgten ihn die Nationalsozialisten als „rassischen Juden“. 1935 wurde er als Professor an der Technischen Hochschule Dresden entlassen und konnte nur aufgrund der Ehe mit seiner nichtjüdischen Frau Eva überleben. Nach 1945 war er wieder als Professor an den Universitäten Halle, Greifswald und Berlin tätig.

Tagebucheintrag am 8. September 1941: „Heute morgen brachte Frau Kreidl (die Witwe) aufgelöst und blaß die Nachricht, im Reichsverordnungsblatt stehe die Einführung der gelben Judenbinde. Das bedeutet für uns Umwälzung und Katastrophe. Eva hofft noch immer, die Maßregel werde gestoppt werden, und so will ich noch nichts weiter darüber schreiben.“

Tagebucheintrag am 15. September: „Die Judenbinde, als Davidsstern wahr geworden, tritt am 19.9. in Kraft. Dazu das Verbot, das Weichbild der Stadt zu verlassen, Frau Kreidl sen. war in Tränen, Frau Voß hatte Herzanfall. Friedheim sagte, dies sei der bisher schlimmste Schlag, schlimmer als die Vermögensabgabe. Ich selber fühle mich zerschlagen, finde keine Fassung. Eva, jetzt gut zu Fuß, will mir alle Besorgungen abnehmen, ich will das Haus nur bei Dunkelheit auf ein paar Minuten verlassen.“

Tagebucheintrag am 19. September: „Heute der Judenstern. Frau Voß hat ihn schon aufgenäht, will

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 242 den Mantel darüber zurückschlagen. Erlaubt? Ich werfe mir Feigheit vor. Eva hat sich gestern auf Pflasterweg den Fuß übermüdet und soll nun jetzt auf Stadteinkauf und hinterher kochen. Warum? Weil ich mich schäme. Wovor? Ich will von Montag an wieder auf Einkauf. Da wird man schon gehört haben, wie es wirkt.“

Tagebucheintrag am 20. September: „Gestern, als Eva den Judenstern annähte, tobsüchtiger Verzweiflungsanfall bei mir. Auch Evas Nerven zu Ende.“

Victor Klemperer. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, 2 Bände Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1995, Bd. I: 1933-1941, S. 663, 671

... und erlebt die Deportation seiner Bekannten

Tagebucheintrag am 25. Oktober 1941: „Immer wieder erschütternde Nachrichten über Judenverschickungen nach Polen. Sie müssen fast buchstäblich nackt und bloß hinaus. Tausende aus Berlin nach Lodz (‚Litzmannstadt‘).“

Tagebucheintrag am 27. Oktober: „Am Sonnabend abend Ida und Paul Kreidl bei uns. Sie haben eine Tochter vel Schwester in Prag, die für Polen registriert ist. Sie waren Sonnabend gefaßter als die Tage vorher. Es lägen relativ günstige Nachrichten aus Lodz vor: saubere Baracken, gute Heizung und Verpflegung, anständige Behandlung in den Munitionsfabriken“.

Tagebucheintrag 9. November: „Die Verschickungen nach Polen nehmen ihren Fortgang, überall unter den Juden tiefste Depression. Ich traf am Lehrerseminar in der Teplitzer Straße Neumanns, die sonst tapfer optimistischen Leute waren ganz am Boden, erwogen Selbstmord. Ihnen hatte sich eben die Möglichkeit aufgetan, nach Kuba zu kommen, da trat die absolute Emigrationssperre ein. In Berlin beging der Onkel Frau Neumanns, Atchen Finks älterer Bruder, ein tiefer Sechziger, mit seiner Frau Selbstmord, als sie abtransportiert werden sollten. Er möchte lieber tot sein und seine Frau tot wissen, sagte mir Neumann, ehe er sie ‚verlaust beim Aufbau von Minsk‘ sehe. Frau Neumann, in Tränen: ‚Wir besprachen gerade, wo man sich Veronal beschaffen könnte‘ ... Ich rüttelte an ihnen mit so schönen Worten, daß ich selber davon ganz erbaut war. Fünf Minuten vor zwölf ... unsere besondere Tapferkeit ... Minsk aufzubauen könne nicht uninteressant sein, etc.“

Tagebucheintrag 13. Januar: „Paul Kreidl erzählt – Gerücht, aber von verschiedenen Seiten sehr glaubhaft mitgeteilt –, es seien evakuierte Juden bei reihenweis, wie sie den Zug verließen, erschossen worden.“

Tagebucheintrag 20. Januar: „Gestern bis Mitternacht bei Kreidls unten. Eva half Gurte für Paul Kreidl nähen, an denen er seinen Koffer auf dem Rücken schleppt. Dann wurde ein Bettsack gestopft, den man aufgibt (und nicht immer wiedersehen soll). Ihn karrte Paul Kreidl heute auf einem Handwägelchen zum vorgeschriebenen Spediteur.“

Tagebucheintrag 21. Januar: „Vor dem Weggehen des Deportierten versiegelt Gestapo seine ganze Hinterlassenschaft. Alles verfällt. Paul Kreidl brachte mir gestern abend ein Paar Schuhe, die mir genau passen und bei dem furchtbaren Zustand der meinigen höchst willkommen sind. Auch ein bißchen Tabak, den Eva mit Brombeertee mischt und in Zigaretten stopft. Ich bin schon seit vielen Wochen bei purem Brombeertee. – Heute vormittag Art Kondolenzbesuch bei der Mutter.“

[Paul Kreidl verließ Deutschland am 21. Januar 1942 mit dem Transport nach Riga und wurde dort

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 243 vermutlich gleich am Tag seiner Ankunft erschossen – Anm. d. Red.].

In: Ders., Bd. I, S. 681 f., 685, Bd. II: 1942-1945, S. 9, 14

Am 14. September 1941 übersandte Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, Hitler ein Memorandum, dass das Deutsche Reich als Vergeltungsmaßnahme, falls die Sowjetunion ihre Ankündigung wahr mache, 400 000 Wolgadeutsche umzusiedeln, seinerseits die Deportation aller Juden Zentraleuropas in den Osten in Angriff nehmen sollte. Zwei Tage später traf Botschafter Abetz mit den Vorschlägen seines "Judenreferenten" aus Paris in Hitlers Hauptquartier ein. Noch am selben Tag hatte er eine Unterredung mit Hitler, der, laut Abetz’ Aufzeichnungen, von "Vernichtungsphantasien " gegenüber "Bolschewisten und Asiaten" erfüllt war. Am 17. September schließlich trug Außenminister Ribbentrop persönlich seine Stellungnahme zu Rosenbergs Vorschlag bei Hitler vor.

In diesen Septembertagen fiel die Entscheidung Hitlers, mit der Deportation aller deutschen, österreichischen und tschechischen Juden zu beginnen, noch bevor der Krieg zu Ende sei. Am 18. September teilte Himmler dem Gauleiter des Warthelandes, , mit, der "Führer" wünsche, dass "möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit" werde. Möglichst noch im Jahr 1941 sollten die Juden des Altreichs und des Protektorats vorübergehend in das Getto Litzmannstadt deportiert werden, um sie dann im Frühjahr 1942 "weiter nach dem Osten abzuschieben". Am 15., 16. und 18. Oktober verließen die ersten Deportationszüge Wien, Prag und Berlin in Richtung Łódz´, später auch nach Riga, Minsk und Kaunas.

In den dortigen Gettos, die unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion errichtet worden waren, gab es nicht genügend Räume für die Neuankömmlinge. Die SS erschoss deswegen Tausende von einheimischen Juden, um Platz für die deutschen Juden zu schaffen.

Aus dem Erinnerungsbericht von Chaim Baram

(Heinz Behrendt), geboren 1919, der mit seiner Frau am 14. November 1941 von Berlin nach Minsk deportiert worden war:

„Wir bekommen unsere Behausung zugeteilt. Sieben Leute sind in unserem Zimmer, das eine Bodenfläche von 5 x 5 mtr hat. [...] Die Kälte ist in diesem Winter besonders grausam. Der abends gekochte Tee in einer Kanne ist am Morgen vollkommen zu Eis erstarrt. [...] Im Ghetto gab man uns als Tagesration 200 gr Brot und eine Schöpfkelle, ca. ½ l Wassersuppe. Die sanitären Verhältnisse spotteten aller Beschreibung. Es gab noch keine Latrine. Die erste Arbeit im Berliner Ghetto war daher das Ausgraben von kleinen Gruben. [...] So blieb es nicht aus, dass im Ghetto ungenannte Epidemien ausbrachen. Todesfälle waren jetzt an der Tagesordnung. [...] Im Laufe der kalten Monate konnte man die Toten nicht begraben, die Erde war zu hart gefroren. Unser Schuppen nebenan diente als Sammelstelle für Tote, die aufgeschichtet einer über dem anderen den Raum füllten.“

Ungedruckte Quelle aus dem Archiv von Yad Vashem

Obwohl damit noch nicht ihre Ermordung beschlossen war, so war doch eine entscheidende Grenze überschritten. Denn bislang hatte Hitlers politische Linie gegolten, alle Mittel auf die Erringung des Sieges zu konzentrieren und die "Judenfrage" nach dem Ende des Krieges gegen die Sowjetunion zu "lösen". Dass er in diesen Septembertagen die bisherigen Einwände beiseite schob und den Forderungen nach Deportation der deutschen und westeuropäischen Juden in den Osten zustimmte, obwohl der Krieg gegen die Sowjetunion noch nicht gewonnen war, durchbrach die letzte immanente Schranke in der Radikalisierung der Politik. Von diesem Punkt an waren alle Schritte möglich – auch die systematische Vernichtung.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 244 Mord an den polnischen Juden

Seitdem die Juden auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz vom Sommer 1941 an systematisch ermordet wurden, waren auch die polnischen Juden vom Massenmord bedroht. Nachdem sich Generalgouverneur Hans Frank erfolgreich dagegen gesperrt hatte, die Juden aus den besetzten westpolnischen Gebieten in das Generalgouvernement zu deportieren, waren sich die deutschen Besatzungsbehörden unschlüssig, was nun mit den überfüllten Gettos geschehen solle. So waren beispielsweise 140 000 Menschen im Getto Litzmannstadt in Łódz´ zusammengepfercht. Die Enge, die katastrophale Ernährung und mangelhafte Hygiene ließen Epidemien ausbrechen, die den Deutschen wiederum das Schreckensbild und den Vorwand lieferten, dass die Gettos Seuchenherde seien, die rücksichtslos gesäubert werden müssten. Dass die Täter wie selbstverständlich Mord als " Lösung" betrachteten und die vorsätzliche Tötung sogar als "human" gegenüber dem Sterben im Getto, zeigt jenes berüchtigte Telegramm, das der regionale SD-Chef Rolf-Heinz Höppner am 16. Juli 1941 an Eichmann als Zusammenfassung verschiedener Besprechungen zur "Lösung der Judenfrage" im Warthegau schrieb: Es bestehe im kommenden Winter die Gefahr, "daß die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist daher ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen."

Im Oktober 1941 bat Gauleiter Greiser Himmler um die Genehmigung, 100 000 als arbeitsunfähig eingestufte Juden töten zu lassen. Daraufhin wurde im nahegelegenen Kulmhof/Chełmno eine Vernichtungsstätte mit Gaswagen errichtet, in denen ab Anfang Dezember systematisch Menschen ermordet wurden. Unter den ersten Opfern waren Roma, die aus dem österreichischen Burgenland nach Łódz´ deportiert worden waren. In Kulmhof/Chełmno starben insgesamt mindestens 152 000 Menschen.

Mitte Oktober 1941 hatte Himmler dem SS- und Polizeiführer in Lublin, Odilo Globocnik, allem Anschein nach den Auftrag erteilt, ein regionales Vernichtungslager in Bełz˙ec für die polnischen Juden im Generalgouvernement zu errichten. Zugleich wurde das T4-Expertenpersonal aus der Mordaktion gegen behinderte und kranke Menschen nach Lublin versetzt, um dort die neuen Vernichtungslager, in denen mit Gas getötet werden sollte, aufzubauen. Im Unterschied zu Kulmhof/Chełmno errichtete man in Bełz˙ec erstmals Gaskammern, an die große Panzermotoren angeschlossen wurden, um die Menschen mit den Abgasen zu töten. Nach diesem Modell entstanden weitere Vernichtungsstätten im Bezirk Lublin: Sobibór und Treblinka.

Die Entscheidung, die deutschen und westeuropäischen Juden in den Osten zu deportieren, warf für die Täter eine Reihe von Fragen auf, die von den verschiedenen mit der Deportation befassten Instanzen des NS-Regimes gemeinsam abgestimmt werden mussten. Zudem war noch nicht geklärt, ob die – im Warthegau und im Reichskommissariat Ostland bereits gefällten – Entscheidungen, die in den Gettos zusammengepferchten Menschen nach Arbeitsfähigkeit zu selektieren und die angeblich Arbeitsunfähigen mit neuen Tötungsmitteln massenweise und systematisch zu ermorden, von den anderen NS-Institutionen geteilt wurden.

Als dringliches Problem für die NS-Führung erwies sich die Behandlung der deutschen und österreichischen Juden, also der Menschen, die aus dem eigenen Land kamen. Von den etwa 20 000 Juden aus Deutschland, die zwischen dem 15. Oktober und 4. November 1941 nach Łódz´ deportiert worden waren, starben etliche an Hunger, Krankheiten und Entbehrung, aber noch wurde keiner von ihnen in Kulmhof/Chełmno ermordet. Die 12 000 deutschen, österreichischen und tschechischen Juden, die im November nach Minsk verschleppt worden waren, kamen ins Getto und blieben vorerst am Leben, wohingegen mehr als 6600 weißrussische Juden wenige Tage zuvor erschossen worden waren. Andererseits tötete das SS-Einsatzkommando 3 sämtliche 4934 Juden aus Deutschland und Österreich, die am 25. und 29. November 1941 in Kaunas/Kowno angekommen waren. Gleichfalls ermordeten SS-Einheiten unter dem Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln am 30. November in Riga 1000 Berliner Juden unmittelbar nach ihrer Ankunft.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 245 Wannsee-Konferenz

Am 20. Januar 1942 fand in der einstigen Villa des Industriellen Ernst Marlier, nun Gästehaus des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, jenes Treffen statt, das als Wannsee-Konferenz in die Geschichte eingehen sollte. Neben Reinhard Heydrich, dem Chef der Gestapo Heinrich Müller und Adolf Eichmann vom Reichssicherheitshauptamt nahmen Staatssekretär Dr. aus dem Reichsinnenministerium, der Leiter der Deutschland-Abteilung im Auswärtigen Amt und Unterstaatssekretär Martin Luther, der Staatssekretär im Justizministerium Dr. Roland Freisler, Erich Neumann, Staatssekretär im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan, und andere hochrangige Vertreter aus dem Staats- und Parteiapparat an dem Treffen teil.

Auf der Wannsee-Konferenz wurde nicht, wie früher angenommen, die "Endlösung der Judenfrage " beschlossen, sondern vielmehr, wie die nachträgliche Niederschrift es ausdrückte, die " Parallelisierung der Linienführung" vereinbart, das heißt, man verständigte sich auf Mord. An die Stelle der Auswanderung sei nunmehr "als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten". Deren Zahl gab Heydrich, nach den überhöhten statistischen Vorlagen Eichmanns, mit elf Millionen an. Europa sollte "vom Westen nach Osten durchgekämmt" werden, wobei das Deutsche Reich und das Protektorat Böhmen und Mähren "allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial- politischen Notwendigkeiten" vorweggenommen werden müssten. Über elf Millionen Juden sollten im Zuge der "Endlösung der europäischen Judenfrage" getötet werden. Die detaillierte Länderliste führte auch Staaten wie Irland, Portugal, Spanien, England, Schweden, Finnland, die Schweiz und die Türkei auf, die gar nicht unter deutscher Gewalt standen, was zeigt, wie systematisch, umfassend und unerbittlich diese Täter planten.

Ein weiterer, wichtiger Besprechungspunkt war die "Mischlingsfrage". Die Bestimmungen der Nürnberger Gesetze waren dem Reichssicherheitshauptamt, aber auch der Parteikanzlei und dem Rassepolitischen Amt der NSDAP zu eng gefasst. Sie wollten die "Halbjuden" den Juden gleichstellen. Für die besetzten Gebiete hatten die Nürnberger Gesetze und deren nachfolgende Durchführungsverordnungen, in denen bürokratisch festgelegt wurde, wer als "Jude" zu gelten habe, sowieso keine Gültigkeit, aber auch innerhalb des Reichsgebietes wollten die SS und die Polizei Zugriff auf die "Mischlinge" haben. Das Reichsinnenministerium wie auch Göring lehnten eine Ausweitung der Definition, soweit sie deutsche und österreichische Juden betraf, jedoch ab. Sie fürchteten eine mögliche Unruhe in der Bevölkerung, wenn zum Beispiel Juden, die mit nichtjüdischen Deutschen verheiratet waren, in die Deportationen und Morde einbezogen wurden. Die Wannsee-Konferenz sollte hier Klarheit bringen, aber Heydrich konnte sich nicht gegen Stuckart durchsetzen. Die "Mischlingsfrage " blieb offen.

Dennoch war Heydrich mit dem Ergebnis der Konferenz offensichtlich zufrieden, hatten doch die übrigen Staats- und Parteiinstanzen seine Führung in der "Endlösung der Judenfrage" anerkannt und den Massenmord als Instrument akzeptiert. Insofern bildet die Wannsee-Konferenz zweifellos einen wichtigen Markstein im Prozess der Radikalisierung der Gewalt (Unter http://www.ghwk.de/wannsee- konferenz/dokumente-zur-wannsee-konferenz/ (http://www.ghwk.de/wannsee-konferenz/dokumente- zur-wannsee-konferenz/) sind Protokolle der Konferenz als PDF-Dokumente eingestellt, zuletzt abgerufen am 05.03.2018).

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 246 "Aktion Reinhardt"

Im März 1942 setzten dann die "Räumungen" der jüdischen Gettos im von Deutschland besetzten Polen ein, zunächst in Lemberg und Lublin, deren jüdische Bewohner in Bełz˙ec ermordet wurden. Anfang Mai 1942 kam Sobibór hinzu und in der zweiten Julihälfte Treblinka, wohin die Menschen des Warschauer Gettos gebracht wurden, um dort sofort in den Gaskammern ermordet zu werden.

Seit dem Frühjahr 1941 hatte der geschäftsführende Ernährungsminister Herbert Backe bei Hitler immer wieder auf die Lebensmittelkrise im Deutschen Reich aufmerksam gemacht; für den April mussten spürbare Kürzungen der Rationen angeordnet werden, die zu deutlichem Unmut in der Bevölkerung führten – eine gefährliche Situation, in der die NS-Führung stets den Ersten Weltkrieg, in dem die Loyalität der Bevölkerung aufgrund der schlechten Versorgung eingebrochen war, als Warnung vor Augen hatte. Aus dem Generalgouvernement sollten mehr Nahrungsmittel als bisher ins Reich geschafft werden, indem dort die Rationen noch weiter gesenkt würden. Als die deutsche Besatzungsverwaltung einwandte, dass die Rationen für die Polen schon viel zu gering seien, erwiderte Backe, dass es doch im Generalgouvernement noch 3,5 Millionen Juden gebe. Anfang Juli 1942 besprach Backe seine Mordpläne mit Hitler und Göring, zur gleichen Zeit fanden Unterredungen Hitlers mit Himmler statt.

Nach einem Besuch des Vernichtungslagers Auschwitz ordnete Himmler am 19. Juli 1942 an, dass es bis zum Jahresende keine Juden mehr im Generalgouvernement geben dürfe. In nur wenigen Monaten, zwischen Juli und November 1942, fielen so weit über zwei Millionen Menschen dem systematischen Völkermord zum Opfer. Unter der Leitung deutscher Polizei trieben meist einheimische Kräfte die Juden in den Gettos aus ihren Häusern. Kranke und behinderte Menschen wurden gleich an Ort und Stelle erschossen. Die übrigen Opfer mussten sich auf einem zentralen Platz sammeln, auf dem anschließend Selektionen stattfanden und entschieden wurde, wer noch "arbeitsfähig" sei und deshalb vorerst von der Deportation in den Tod ausgenommen werden sollte. Alle anderen wurden zum Bahnhof gebracht und mit Zügen in die Vernichtungsstätten gebracht. Allein in den drei Lagern der "Aktion Reinhardt" wurden über 1,4 Millionen Menschen mit Gas ermordet. In Bełz˙ec starben etwa 435 000 Menschen, in Sobibór zwischen 160 000 und 200 000. Im Vernichtungslager Treblinka, in das die Juden aus dem Getto Warschau gebracht wurden, wurden etwa 850 000 Menschen getötet.

Das Todesurteil für das Warschauer Getto

Marcel Reich-Ranicki erinnert sich:

[...] 1938 war ich aus Berlin nach Polen deportiert worden. Bis 1940 machten die Nationalsozialisten aus einem Warschauer Stadtteil den von ihnen später sogenannten „jüdischen Wohnbezirk“. [...]

Seit dem Frühjahr 1942 hatten sich Vor-fälle, Maßnahmen und Gerüchte gehäuft, die von einer geplanten generellen Veränderung der Verhältnisse im Getto zeugten. [...]

Am 22. Juli fuhren vor das Hauptgebäude des „Judenrates“ einige Personenautos vor und zwei Lastwagen mit Soldaten. Das Haus wurde umstellt. Den Personenwagen entstiegen etwa fünfzehn SS-Männer, darunter einige höhere Offiziere. Einige blieben unten, die anderen begaben sich forsch und zügig ins erste Stockwerk zum Amtszimmer des Obmanns, Adam Czerniaków.

[...] Auf der einen Seite des langen, rechteckigen Tisches [im Konferenzzimmer] nahmen acht SS- Offiziere Platz, unter ihnen Höfle*, der den Vorsitz hatte. Auf der anderen saßen die Juden: neben Czerniaków [...] fünf oder sechs Mitglieder des „Judenrates“, ferner der Kommandant des Jüdischen Ordnungsdienstes, der Generalsekretär des „Judenrates“ und ich als Protokollant.[...]

Höfle eröffnete die Sitzung mit den Worten: „Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 247

Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zu viel Juden gibt. Euch, den ,‘, beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben.“ Er zeigte mit der Hand auf den Kinderspielplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. [...]

So schnoddrig und sadistisch Höfle die Sitzung eingeleitet hatte, so sachlich diktierte er einen mitgebrachten Text, betitelt „Eröffnungen und Auflagen für den ,Judenrat‘“. [...] [I]ch schrieb, dass „alle jüdischen Personen“, die in Warschau wohnten, „gleichgültig welchen Alters und Geschlechts“, nach Osten umgesiedelt würden. Was bedeutete hier das Wort „Umsiedlung“? Was war mit dem Wort „Osten “ gemeint, zu welchem Zweck sollten die Warschauer Juden dorthin gebracht werden? Darüber war in Höfles „Eröffnungen und Auflagen für den ,Judenrat‘“ nichts gesagt. [...]

Höfle diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, dass die „Umsiedler“ fünfzehn Kilogramm als Reisegepäck mitnehmen dürften sowie „sämtliche Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold usw.“. Mitnehmen durften oder mitnehmen sollten? – fiel mir ein. Noch am selben Tag, am 22. Juli 1942, sollte der Jüdische Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter Aufsicht des „Judenrates “ durchführen musste, 6000 Juden zu einem an einer Bahnlinie gelegenen Platz bringen, dem . Von dort fuhren die Züge in Richtung Osten ab. Aber noch wusste niemand, wohin die Transporte gingen, was den „Umsiedlern“ bevorstand.

Im letzten Abschnitt der „Eröffnungen und Auflagen“ wurde mitgeteilt, was jenen drohte, die etwa versuchen sollten, „die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören“. Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: „ ... wird erschossen“.

Wenige Augenblicke später verließen die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus. Kaum waren sie verschwunden, da verwandelte sich die tödliche Stille nahezu blitzartig in Lärm und Tumult: Noch kannten die vielen Angestellten des „Judenrates“ und die zahlreichen wartenden Bittsteller die neuen Anordnungen nicht. Doch schien es, als wüssten oder spürten sie schon, was sich eben ereignet hatte – dass über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil.

Ich begab mich schleunigst in mein Büro, denn ein Teil der von Höfle diktierten „Eröffnungen und Auflagen“ sollte innerhalb von wenigen Stunden im ganzen Getto plakatiert werden. Ich musste mich sofort um die polnische Übersetzung kümmern. Langsam diktierte ich den deutschen Text, den meine Mitarbeiterin Gustawa Jarecka sofort polnisch in die Maschine schrieb.

Ihr also, Gustawa Jarecka, diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte. [...]

Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die „Umsiedlung“ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.

* SS-Sturmbannführer und Leiter der allgemein „Ausrottungskommando“ genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer Marcel Reich-Ranicki, „Ein Tag in meinem Leben“. Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2012, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Januar 2012, S. 29 und unter www.bpb.de/ apuz/141894/ein-tag-in-meinem-leben

Mord in Bełz´ec

Kurt Gerstein berichtet über den Tötungsprozess:

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 248

Kurt Gerstein war ein engagierter Christ, der, um den Verbrechen des NS-Regimes auf die Spur zu kommen, in die SS eintrat und wegen seines Medizinstudiums der Abteilung Hygiene im Sanitätswesen der Waffen-SS zugeordnet wurde. Mehrmals versuchte er, vergeblich, sein Wissen über die Vernichtung der Juden der Vertretung des Vatikans in Deutschland mitzuteilen. Seinen Bericht schrieb er im Mai 1945 in französischer Gefangenschaft und beging kurze Zeit danach im Militärgefängnis in Paris Selbstmord.

„Dicht bei dem kleinen zweigleisigen Bahnhof war eine große Baracke, die so genannte Garderobe, mit einem großen Wertsachenschalter. Dann folgte ein Zimmer mit etwa 100 Stühlen, der Friseurraum. Dann eine kleine Allee im Freien unter Birken, rechts und links von doppeltem Stacheldraht umsäumt, mit Inschriften: Zu den Inhalier- und Baderäumen! – Vor uns eine Art Badehaus mit Geranien, dann ein Treppchen, und dann rechts und links je 3 Räume 5x5 Meter, 1,90 Meter hoch, mit Holztüren wie Garagen. An der Rückwand, in der Dunkelheit nicht recht sichtbar, große hölzerne Rampentüren. Auf dem Dach als ‚sinniger kleiner Scherz’ der Davidstern!! […] Nach einigen Minuten kam der erste Zug von Lemberg aus an. 45 Waggons mit 6700 Menschen, von denen 1450 schon tot waren bei ihrer Ankunft. Hinter den vergitterten Luken schauten, entsetzlich bleich und ängstlich, Kinder durch, die Augen voll Todesangst, ferner Männer und Frauen. Der Zug fährt ein: 200 Ukrainer reißen die Türen auf und peitschen die Leute mit ihren Lederpeitschen aus den Waggons heraus. Ein großer Lautsprecher gibt die weiteren Anweisungen: Sich ganz ausziehen, auch Prothesen, Brillen usw. Die Wertsachen am Schalter abgeben, ohne Bons oder Quittung. Die Schuhe sorgfältig zusammenbinden […]. Dann die Frauen und Mädchen zum Friseur, der mit zwei, drei Scherenschlägen die ganzen Haare abschneidet und sie in Kartoffelsäcken verschwinden läßt. ‚Das ist für irgendwelche Spezialzwecke für die U-Boote bestimmt, für Dichtungen oder dergleichen!’ sagt mir der SS-Unterscharführer, der dort Dienst tut.

Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Voran ein bildhübsches junges Mädchen, so gehen sie die Allee entlang, alle nackt, Männer, Frauen, Kinder, ohne Prothesen. Ich selbst stehe mit dem Hauptmann Wirth oben auf der Rampe zwischen den Kammern. Mütter mit ihren Säuglingen an der Brust, sie kommen herauf, zögern, treten ein in die Todeskammern! — An der Ecke steht ein starker SS-Mann, der mit pastoraler Stimme zu den Armen sagt: Es passiert Euch nicht das Geringste! Ihr müßt nur in den Kammern tief Atem holen, das weitet die Lungen, diese Inhalation ist notwendig wegen der Krankheiten und Seuchen. […] Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken – so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700-800 auf 25 Quadratmetern, in 45 Kubikmetern! Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt geht. – Die Türen schließen sich. […] Aber der Diesel funktioniert nicht! Der Hauptmann Wirth kommt. Man sieht, es ist ihm peinlich, dass das gerade heute passieren muss, wo ich hier bin. Jawohl, ich sehe alles! Und ich warte. Meine Stoppuhr hat alles brav registriert. 50 Minuten, 70 Minuten – der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern. Vergeblich.

Man hört sie weinen, schluchzen. [...] Der Hauptmann Wirth schlägt mit seiner Reitpeitsche dem Ukrainer, der dem Unterscharführer Heckenholt beim Diesel helfen soll, 12, 13mal ins Gesicht. Nach 2 Stunden 49 Minuten – die Stoppuhr hat alles wohl registriert – springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen 4 Kammern, viermal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmetern! – Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammer einen Augenblick beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich, nach 32 Minuten ist alles tot!“

Auszug aus dem Augenzeugenbericht von Kurt Gerstein (1905-1945) über seinen Besuch im Vernichtungslager Bełz´ec 1942 in: Hans Rothfels, „Augenzeugenberichte zu den Massenvergasungen“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 177 ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 249

Auschwitz

Insbesondere Auschwitz steht als Name für das schrecklichste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte. 1939 zunächst als Lager für polnische politische Häftlinge eingerichtet, wurde es 1941 für Tausende sowjetische Kriegsgefangene ausgebaut. Morde an Häftlingen hatte es in diesen Jahren stets gegeben, aber in der Planung des neuen Lagers in Auschwitz-Birkenau ab September 1941 waren auch zwei Krematorien vorgesehen. Erste Morde mit wurden an sowjetischen Kriegsgefangenen im September 1941 verübt. Ab Juli 1942 liefen dann regelmäßig Züge mit deportierten Juden aus ganz Westeuropa ein. An der Rampe in Birkenau selektierten SS-Ärzte die Menschen in "arbeitsfähig" und "arbeitsunfähig", wobei die "Arbeitsunfähigen", in erster Linie alte Menschen und Mütter mit ihren Kindern, in zwei umgebauten Bauernhäusern, deren Räume als Gaskammern dienten, sogleich ermordet wurden. Später, im Frühjahr 1943, wurden zwei neue große Krematorien, die jeweils über eigene Gaskammern verfügten, fertiggestellt. Ein drittes Lager, Monowitz, entstand in Auschwitz, als der Chemiekonzern I. G. Farben einen Produktionsstandort für ein neues Werksgelände suchte, das kriegswichtiges synthetisches Gummi herstellen sollte. Zwar wurde in Auschwitz kein einziges Kilogramm synthetischer Kautschuk produziert, aber es wurden Pläne für eine deutsche Musterstadt mit einem gigantischem Zwangsarbeitslager entwickelt. Siedlungsvisionen und Vernichtungspolitik gingen stets Hand in Hand.

Die wohl am wenigsten zutreffende Metapher für die Vernichtungslager ist die der "Todesfabrik". So industriell das Verfahren des Tötens in den Gaskammern erscheinen mag, so wenig griff hier ein Rädchen ins andere. Weder in Auschwitz noch in Bełz˙ec, Sobibór oder Treblinka funktionierte eine " saubere", anonyme Vernichtungsmaschinerie; vor und in den Gaskammern spielten sich grauenvolle Szenen ab. Das Ermorden der Menschen, das Lüften der Gaskammern, das Verbrennen der Leichen, das Sortieren der Habseligkeiten dauerte mehrere Stunden. Hunderte von jüdischen Zwangsarbeitern wurden für diese "Arbeit" eingesetzt. Die Vorstellung einer "Todesfabrik", des reibungslosen Ineinandergreifens vieler Teile einer großen Maschine, verschleiert das tatsächliche, brutale Geschehen und entlastet die Phantasie, sich das Unvorstellbare vor Augen zu führen. Die Ordnung, die das Bild von der Vernichtungsmaschinerie suggeriert, hat es jedenfalls nie gegeben.

Vernichtung durch Arbeit

Julius Bendorf überlebt Auschwitz-Monowitz:

Julius Bendorf wird am 4. Januar 1915 in Ober-Ramstadt im Odenwald geboren. Bis zu deren Schließung 1938 arbeitet er als Angestellter einer jüdischen Privatbank in . Versuche, mit der Familie in die USA auszuwandern, schlagen fehl. Ab April 1938 wird Julius Bendorf zur Zwangsarbeit herangezogen, zunächst in Darmstadt, dann – gemeinsam mit seinem Bruder Manfred – in Paderborn und Bielefeld. Vor dort werden die beiden Brüder im März 1943 nach Auschwitz deportiert. Julius Bendorf überlebt Lager und Todesmarsch. 1948 wandert er in die USA aus. – Sein Bericht wird 1985 in Ober-Ramstadt aufgezeichnet.

„Wir kamen in Auschwitz mitten in der Nacht an: Scheinwerfer machten die Gegend taghell, dann scharfe Kommandos, Türen auf, aussteigen. Die schrien: sofort raus, sofort raus, raus. Man hat die Koffer gar nicht mehr mitnehmen können. In der Nacht haben die Ärzte schon entschieden, wer in welche Richtung zu gehen hatte. Wir mussten uns alle ausziehen und bekamen so eine Art Häftlingsuniform. Sie haben alte Leute und Kinder aussortiert. Also, wir sind dann herausgestiegen und sofort in Viererreihen losmarschiert und dann an diesen Ärzten vorbei, und die haben dann immer gebrüllt: nach links, nach rechts, nach links, nach rechts. Es war die erste Selektion, und ich stand zusammen mit meinem Bruder Manfred, und die rechte Seite kam nach Monowitz. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 250

Das Lager Monowitz, das für die IG-Farben Buna erzeugen sollte, bestand noch nicht lange. Die Häftlinge mussten es in Handarbeit aufbauen. [...] Das Lager diente vorwiegend den Produktionsaufgaben der IG-Farben. Was mich da erwartete, war nun wirklich entsetzlich, etwas ganz anderes, als ich vorher erlebt hatte. Ich sah also z. B. auch Hinrichtungen hier, dem sogenannten Lager IV, in dem weitgehend die IG-Farben für ihre Produktion Menschen durch Arbeit vernichtete.

Der Arbeitstag sah so aus, dass man um 4.00 Uhr morgens geweckt wurde, dann musste man zum Appellplatz gehen. Insassen der einzelnen Wohnblocks wurden abgezählt. Dann kam der Kommandant, und der Stubenälteste meldete, so und so viele Häftlinge angetreten. Das musste übereinstimmen mit der Liste. [...] Dann ging es zur Arbeit mit SS-Begleitung. Wenn die Arbeit so gegen 17.00 oder 18.00 Uhr beendet war, marschierten wir wieder geschlossen herein, mussten dort antreten im Lager, und es wurde wieder gemeldet, wieviele Häftlinge zurückgekommen sind, und dann wurde gezählt und wieder gezählt. Die Toten mussten mitgeschleppt werden; sie wurden dann mitgezählt. Manchmal haben die sich verzählt, und dann musste alles von vorne anfangen. [...]

Auf die Dauer konnte es in Monowitz nicht gelingen, seine Arbeitskraft zu erhalten, denn man konnte sich der Antreiberei nicht entziehen. Dafür sorgten schon die unmenschlichen Bewacher, die zusätzliche Ängste verursachten durch Bestrafungen oder Drohungen, nach Auschwitz-Birkenau – und das hieß Gaskammer, was jeder wusste – verladen zu werden. Die Bestrafungen, die von uns allen mitangesehen werden mussten, waren Prügel oder Hinrichtungen durch den Strick. [...] An einem einzigen Abend haben sie in Monowitz vier Leute aufgehängt. [...]

Im Laufe der Zeit erlosch bei sehr vielen Häftlingen der Überlebenswille, und ich habe gesehen, wie einige Mithäftlinge aus meiner Bielefelder Zeit an die elektrisch geladenen Zäune sprangen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.

In meinen Unterlagen steht, dass ich im Häftlingskrankenhaus in Monowitz behandelt worden bin, und zwar vom 28. August 1943 bis 20. Oktober 1943. Ich hatte in dieser Zeit eine Reihe von Geschwüren. Meine Behandlung bestand darin, dass auf diese Geschwüre Salz gepackt wurde und ein paar Papierbinden darüber kamen. Um diese Zeit waren für Häftlinge keinerlei Verbandsstoffe mehr zu haben. Hätte ich etwas Ernsteres gehabt, wäre ich also wirklich ins Krankenhaus gekommen, dann wäre das mein Ende gewesen. Ich wäre sofort mit einem Lastwagen ins Todeslager Auschwitz-Birkenau überführt worden und dort vergast worden. Meinem Bruder ist es so ergangen. Manfred hatte eine Verletzung am Bein, und die war nicht richtig behandelt worden. So konnte er seinen Fuß überhaupt nicht mehr belasten. Er konnte also nicht mehr laufen. Sein Schicksal hat sich dann in Auschwitz vollendet, er ist dort vergast worden. Ich habe das, als er abgeholt wurde, nicht sicher gewusst, weil ich immer noch einen Funken Hoffnung hatte, dass er vielleicht zurückkommen würde, um hier weiterarbeiten zu können. Da jeder in Monowitz wusste, was in Auschwitz passiert, gab es nur eine einzige Parole: Gehe nicht ins Krankenlager! Und so haben die Menschen, die erkrankt waren, bis zuletzt versucht, ihre Krankheit zu vertuschen, nur um nicht auf diesen Weg geschickt zu werden. Meine Krankenbehandlung hatte mich nicht arbeitsunfähig gemacht, und so blieb mir dieser Weg erspart. [...]“

Helmut Beier, Ober-Ramstadt und seine Juden. Dokumente und Berichte. Hg. vom Magistrat der Stadt Ober-Ramstadt 1988, S. 255 ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 251 Holocaust in West- und Südeuropa

Der erste Deportationszug aus Westeuropa verließ am 27. März 1942 mit über tausend jüdischen Menschen das Lager Compiègne bei Paris in Richtung Auschwitz. Die französische Polizei beteiligte sich an der Verhaftung von Juden. In Frankreich hielten sich 1940 etwa 300 000 Juden auf, zu einem großen Teil Menschen aus Deutschland und anderen Ländern Europas, die vor den Nationalsozialisten dorthin geflüchtet waren. Annähernd 75 000 von ihnen wurden deportiert und ermordet. Viele wurden noch ergriffen, als Deutschland im November 1942 nach der Landung der Alliierten in Westafrika auch in die bislang unbesetzte Zone einmarschierte.

In den Niederlanden war es das Lager Westerbork, aus dem die holländischen Juden nach Auschwitz in den Tod deportiert wurden. Von den 140 000 Anfang 1941 in den Niederlanden lebenden Juden betraf dieses Schicksal 107 000 Menschen, von denen nicht mehr als 5200 überlebten. Aus Belgien, wo zahlreiche Juden untertauchen konnten, wurden etwa 25 000 Menschen deportiert; in Norwegen gelang es vielen, rechtzeitig ins neutrale Schweden zu flüchten, sodass dort nur ein Bruchteil der jüdischen Gemeinde den Nationalsozialisten in die Hände fiel. Und in Dänemark konnten die Juden auf die Solidarität und den Widerstandswillen ihrer nichtjüdischen Nachbarn bauen, denn kurz vor der geplanten Deportation im Oktober 1943 gelang es den meisten, mit Booten nach Schweden zu entkommen. Nur 500 der knapp 8000 jüdischen Dänen gerieten in deutsche Hände und wurden nach Theresienstadt deportiert, wo der größte Teil von ihnen überlebte.

Im besetzten Serbien begegneten die Militärs dem aufflammenden Partisanenkampf mit dem Befehl, für jeden getöteten Deutschen 100 Juden zu ermorden. Bis zum Jahresende 1941 lebte fast keiner der 6000 jüdischen Männer mehr, die etwa 8500 Frauen und Kinder wurden in das Lager Sajmište in Belgrad verschleppt und dort im Frühjahr 1942 von SS und Polizei in Gaswagen qualvoll umgebracht. Der kroatische Ustascha-Staat, der gleichermaßen mörderisch gegen die serbische Minderheit im Land wie gegen die Roma vorging, raubte die kroatischen Juden gnadenlos aus und tötete sie dann im Lager Jasenovac. War der Süden Kroatiens zunächst noch von italienischen Truppen besetzt, die sich weigerten, Juden an die deutschen Behörden auszuliefern, so fiel auch dieser Schutz weg, als das faschistische Regime Italiens im September 1943 zusammenbrach. Auch die Juden, die dort bislang überlebt hatten, wurden nun von den Deutschen in den Tod deportiert.

Griechenland geriet mit dem Balkanfeldzug im Frühjahr 1941 ebenfalls unter deutsche und italienische Gewalt. Hier agierte die Militärbesatzung mit äußerster Härte gegen Widerstandsaktionen. Als zum Beispiel in der Region Kalavryta im Dezember 1943 kommunistische Partisanen eine deutsche Kompanie angriffen und dabei etwa 80 deutsche Soldaten erschossen, befahl der kommandierende Wehrmachtsgeneral, Kalavryta sowie all diejenigen Orte, die angeblich die Partisanen unterstützt hätten, "dem Erdboden gleichzumachen". Innerhalb weniger Tage wurden 24 Ortschaften und drei Klöster niedergebrannt und deren Bewohner erschossen. Insgesamt wurden während der deutschen Besatzungszeit 180 000 Griechen getötet; von den etwa 71 000 griechischen Juden wurden 55 000, nachdem sie systematisch ausgeraubt worden waren, nach Auschwitz und Treblinka deportiert, zunächst aus den von Deutschland besetzten Westteilen Griechenlands, später, nach Mussolinis Sturz im September 1943, auch aus den übrigen, vordem italienisch besetzten Landesteilen.

Bulgarien und Rumänien als verbündete Mächte erließen harte antisemitische Gesetze, lieferten aber ihre jüdischen Minderheiten, soweit sie die jeweilige Staatsbürgerschaft besaßen, nicht aus – im Unterschied zur Slowakei, die ihre Juden in die Gewalt der Deutschen übergab. Gegenüber den Juden in den eroberten und besetzten Gebieten dagegen verhielten sich die Rumänen äußerst brutal. Zehntausende wurden aus Czernowitz und der Bukowina nach Transnistrien verschleppt und dort entweder erschossen oder dem Tod durch Hunger, Kälte und Seuchen preisgegeben. Über 211 000 jüdische Menschen fielen der Verfolgung zum Opfer.

Von den 3,3 Millionen polnischen Juden wurden mehr als zwei Millionen in den Vernichtungslagern Chełmno, Sobibór, Bełz˙ec, Treblinka, Auschwitz und Majdanek ermordet. Weitere etwa 700 000 Menschen starben in Gettos, Arbeitslagern und durch Erschießungen. Aber in Polen und der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 252

Sowjetunion gab es auch Widerstand durch Partisanen, und der jüdische Aufstand im Getto Warschau im Mai 1943 zeigte, obwohl er brutal niedergeschlagen wurde, dass die Macht der Deutschen nicht uneingeschränkt und unverwundbar war.

Im März 1944 marschierte die Wehrmacht in Ungarn ein, weil die NS-Führung zum einen befürchtete, Ungarn könne wegen der militärisch aussichtslosen Lage aus dem Bündnis mit Deutschland ausscheren. Zum anderen war die deutsche Kriegswirtschaft dringend auf die dortigen Rohstoffe, Nahrungsmittel und vor allem Arbeitskräfte angewiesen. Ein unter Adolf Eichmann organisierte zusammen mit der ungarischen Polizei die Deportation von über 430 000 ungarischen Juden nach Deutschland, nachdem sie all ihrer Habe beraubt worden waren. Etwa 100 000 wurden zur Sklavenarbeit auf die wichtigsten Rüstungsbetriebe verteilt, während alle anderen in Auschwitz ermordet wurden. Als im Oktober sowjetische Truppen auf Budapest vorrückten, unterstützten die deutschen Besatzer einen Putsch der faschistischen "Pfeilkreuzler" gegen den ungarischen Diktator Miklós Horthy und trieben mit ihren ungarischen Helfershelfern, da Züge nicht mehr fahren konnten, über 75 000 Menschen auf Todesmärschen zum Arbeitseinsatz in Richtung Deutsches Reich. Von den über 700 000 Juden, die im März 1944 in Groß-Ungarn gelebt hatten, überlebten nur 293 000.

Die „Auschwitzlüge“

Das Ausmaß des nationalsozialistischen Völkermords, die Massenerschießungen von Juden zu Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 und die spätere fabrikmäßige Tötung mit Giftgas haben die Vernichtung der europäischen Juden zu einem einzigartigen Phänomen in der Geschichte Europas gemacht, mit dem es sich nach Kriegsende auseinanderzusetzen galt. Gerichtsprozesse, wissenschaftliche Forschungen und Erinnerungsberichte führten zu immer differenzierteren und umfangreicheren Kenntnissen über den Holocaust bzw. die Shoah. Die Öffnung der Archive in den ehemaligen Ostblockstaaten gab der Forschung neue Impulse und brachte insbesondere auf dem Gebiet der Täterforschung weitere und detailliertere Erkenntnisse über die Vernichtungsmaschinerie.

Obgleich eine unglaubliche Fülle von wissenschaftlichen Publikationen, autobiografischen Zeugnissen und Zeitungsartikeln zum Thema erschienen ist und es selbst vor bundesdeutschen Gerichten seit einigen Jahren eines Nachweises über die Zahl der jüdischen Opfer – zwischen 5,1 und 6 Millionen – nicht mehr bedarf, funktionieren in Teilen der deutschen Bevölkerung noch immer Verharmlosungs- und Verdrängungsmechanismen, die zugunsten eines Schlussstriches eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ausblenden wollen. Eine Minderheit allerdings gibt sich damit nicht zufrieden, sie verharmlost nicht nur durch Aufrechnung mit anderen Verbrechen, sondern stellt den Genozid an den Juden insgesamt in Frage. In der Öffentlichkeit vertreten wird diese Methode durch ein Netzwerk von Publizisten, die behaupten, die historischen Erkenntnisse über den Holocaust müssten einer grundlegenden Revision („Revisionisten“) unterzogen werden, deren Ergebnis sei, dass der Holocaust nicht stattgefunden habe, sondern von jüdischer Seite als der Betrug des 20. Jahrhunderts lanciert worden sei. Dieses Phänomen allerdings beschränkt sich nicht nur auf Deutschland, sondern es ist längst über seine Grenzen hinaus zu beobachten und insbesondere im internationalen Rechtsextremismus zum einigenden ideologischen Faktor geworden. [...]

Die Holocaust-Leugnung hatte vor allem in den 70er- und 80er-Jahren Konjunktur, blieb jedoch weitgehend auf einen kleineren Kreis von Alt- und Neonazis beschränkt. [...] Erst der Erfolg des World Wide Web verhalf den Revisionisten zu neuen, bisher unbekannten Möglichkeiten, ungehindert ihre Propaganda international zu verbreiten und mit den technischen Errungenschaften attraktiv insbesondere für junge Leute zu werden.

Die meisten rechtsextremen Internet-Pages beschäftigen sich mit dem Versuch, den Holocaust zu leugnen, Zahlenspiele zu betreiben, deren Ergebnis entweder ein Bruchteil der tatsächlichen Opferzahl wiedergibt oder durch unterschiedliche Angaben seriöser Institutionen oder abweichender

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 253

Forschungsresultate den Genozid an den Juden überhaupt bezweifelt, wobei die angebliche Nichtexistenz von Gaskammern eine zentrale Rolle spielt. Die Vorgehensweise entspricht der bekannten Taktik der Holocaust-Leugner, vermeintliche Spezialisten und Pseudowissenschaftler ins Feld zu führen, diese immer wieder wechselweise zu zitieren, sodass sich ein Zirkelschluss ergibt, der angeblich wissenschaftlich fundierte Tatsachen vermitteln soll. Die vordergründig naive Frage, ob es schon Antisemitismus sei, wenn man die Geschichte des Holocaust hinterfragt, will auf Wissenschaftlichkeit abheben. [...]

Die Revisionisten vermitteln den Anschein, wissenschaftlich zu arbeiten, einige unter ihnen bedienen sich des wissenschaftlichen Umfelds, aus dem sie kommen, um auf ihre vermeintliche Seriosität abzuheben. [...] Das Negieren von Quellen und ihre selektive Auswahl als Beleg für eine vorab intendierte These, die Verfälschung von Dokumenten, die Diskreditierung von Zeugenaussagen der Täter (etwa des Kommandanten von Auschwitz Rudolf Höß) wie der Opfer und der wissenschaftlichen Forschung zum Nationalsozialismus, das Stützen auf unseriöse Gutachten, all dies hat mit Wissenschaft nichts gemein, es sind vielmehr Methoden einer politischen Propaganda, der jeglicher Wille einer wissenschaftlichen Erkenntnis fehlt und deren alleiniger Zweck die Verbreitung antisemitischer Stereotypen ist. [...]

Durch bewusste Entstellungen der historischen Tatsachen werden scheinbare Widersprüche in den Forschungen und Darstellungen der seriösen Historiografie produziert. Die Revisionisten bezweifeln: die Zahl der Ermordeten; die Techniken der Ermordung; die Existenz der Gaskammern – ein Thema, das in den letzten Jahren den zentralen Platz im revisionistischen Umfeld einnimmt; einzelne Dokumente und Abbildungen; die Orte der Vernichtung; den Holocaust überhaupt; die Verantwortung Hitlers (Hitler habe nichts gewusst, es gebe schließlich keinen Befehl).

Der Genozid wird in revisionistischen Veröffentlichungen zum Nationalsozialismus nicht erwähnt oder nur als eines von vielen Kriegsereignissen eingestuft und gegen die angeblichen „Kriegsverbrechen der Alliierten“ aufgerechnet. [...] Ähnliche Ziele verfolgen die Revisionisten auch mit dem Hinweis auf die „Vertreibungsopfer“. Die Verbrechen an den Juden werden zwar zugegeben, aber als Kriegsfolge eingestuft, als legitime Abwehrmaßnahme gegen die Angriffe des „Internationalen Judentums“, die schließlich Deutschland den Krieg erklärt hätten. Wenn Revisionisten den Judenmord und den Einsatz der Vernichtungsmaschinerie als Fakten anerkennen, dann geben sie zumindest die Zahl der Opfer deutlich geringer an. [...]

Im europäischen Rechtsextremismus nimmt die Holocaust-Leugnung eine zentrale Rolle ein, hier wird unterstellt, der Holocaust habe nie stattgefunden, die „Auschwitzlüge“ werde aber von jüdischer Seite benutzt, um mit Hilfe ihres Opferstatus moralischen Druck vor allem auf europäische Regierungen auszuüben (Restitution, Unterstützung der israelischen Politik), aber auch Einfluss auf die Israelpolitik der USA zu nehmen. Zudem negiert die These von der „Auschwitzlüge“ natürlich auch die Behauptung, die Gründung des Staates Israel sei historisch notwendig gewesen, um den Überlebenden des Holocaust und Juden generell eine sichere Heimstätte zu schaffen. [...]

In Deutschland [...] ist die gewalttätige Umsetzung antisemitischer, verschwörungstheoretischer Indoktrination, also dessen, was rechtsextreme Parteien und Druckerzeugnisse des Spektrums regelmäßig thematisieren, noch immer im Wesentlichen auf die rechtsextreme Szene begrenzt. Angriffe auf Mahnmale und Gedenkstätten sind Versuche, die deutsche Geschichte reinzuwaschen und die Erinnerung an die Vergangenheit auszulöschen. Dies gilt ebenso für die Schändung jüdischer Friedhöfe, Ersatzhandlungen also, die besonders perfide anmuten, weil sie sich gegen die Toten richten, obwohl die Lebenden gemeint sind.

Juliane Wetzel, „Die Auschwitzlüge“, in: Wolfgang Benz / Peter Reif-Spirek (Hg.), Geschichtsmythen. Legenden über den Nationalsozialismus, 2. Aufl., Metropol-Verlag Berlin 2005, S. 27 ff.

Aus: INFORMATIONEN ZUR POLITISCHEN BILDUNG NR. 314/2012 (http://www.bpb.de/

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 254 izpb/151922/nationalsozialismus-krieg-und-holocaust)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 255

Shoa und Antisemitismus

Von Deutsche Geschichten 11.4.2005 http://www.deutschegeschichten.de(http://www.deutschegeschichten.de) Ein Internet-Angebot der Cine Plus Media Service GmbH & Co KG in Co-Produktion mit der Bundeszentrale für politsche Bildung/ bpb. Stand April 2005.

Die kalt geplante und industriell betriebene Ermordung der europäischen Juden ist der größte Zivilisationsbruch der Geschichte. Der Antisemitismus weist auf eine lange Tradition in Deutschland und Europa zurück. Christliche Feindbilder prägten tiefe kollektive Vorurteile – einige halten sich bis heute.

Wannseekonferenz – "Endlösung der Judenfrage"

Hitler hatte schon in seinem Bekenntnisbuch "Mein Kampf" seine Absicht kundgetan, im Falle einer Machtübernahme eines Tages das Judentum aus dem deutschen Volksleben "auszumerzen". Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte er wiederholt diesen Plan als unverrückbares Ziel bezeichnet. Infolge der ständigen Diffamierungen und Demütigungen nach Erlass der Nürnberger Gesetze und schließlich nach dem Judenpogrom des 9. November 1938, der so genannten Reichskristallnacht, war die Zahl der jüdischen Bürger in Deutschland und nach dem Anschluss auch in Österreich schon vor dem Krieg durch Auswanderung, die sich zur Massenflucht ausweitete, um mehr als die Hälfte vermindert worden. Mit Kriegsbeginn steigerten sich die Drangsalierungen jüdischer Menschen zu brutalen Terrormaßnahmen - besonders in den besetzten Ostgebieten, wo Himmlers berüchtigte Einsatzgruppen die jüdische Bevölkerung in Ghettos zusammentrieben und durch Massenexekutionen dezimierten. Die letzte und höchste Steigerung der unmenschlichen Barbarisierung begann mit dem Russlandfeldzug, den Hitler zum "Weltanschauungskrieg" gegen das " jüdisch-bolschewistische Untermenschentum" erklärt hatte. Jetzt wurde auch der ursprüngliche Plan, die europäischen Juden geschlossen nach Madagaskar umzusiedeln, zugunsten der Deportation in den Ostraum aufgegeben.

Am 31. Juli 1941 wies Göring im Auftrage Hitlers den SS-Gruppenführer und Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), die rechte Hand Himmlers, Reinhard Heydrich, an, eine Gesamtplanung für die "Endlösung der Judenfrage" zu erstellen. Heydrich erläuterte seinen Plan am 20. Januar 1942 den Vertretern derjenigen Reichsministerien und obersten Parteidienststellen, die in irgendeiner Form mit dieser Aktion befasst waren. Das Protokoll dieser Wannseekonferenz entstammt den Aufzeichnungen des SS-Sturmbannführers Eichmann. Heydrich entwickelte in bürokratischer Tarnsprache sein Vorhaben. Die im Herrschaftsbereich der SS liegenden europäischen Länder sollten systematisch "gesäubert" werden, die Juden "in geeigneter Weise im Osten zum Einsatz kommen", wobei schon einkalkuliert wurde, dass dabei "zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird". Der übrig bleibende Teil "wird entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist". Mit dieser grausam nüchternen Amtssprache war eindeutig die Ausrottung, auch die der Kinder, vorprogrammiert. Schwerbeschädigte und Weltkriegsteilnehmer mit Auszeichnungen sollten von diesen Deportationen ausgenommen und in Altersghettos eingewiesen werden. Diese scheinheilige Maßnahme sollte nach Heydrichs Worten "mit einem Schlage die vielen Interventionen " ausschalten. Eichmann erhielt den Auftrag, die bürokratisch-technischen Vorarbeiten zu leisten. Niemand von den anwesenden Behördenvertretern erhob Widerspruch. Auf der Wannseekonferenz

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 256 waren damit die organisatorisch-technischen Voraussetzungen für den größten Völkermord der Weltgeschichte geschaffen worden.

Massenvernichtung

Bereits in den ersten Wochen nach der Machtübernahme waren von der SA und der SS politische Gegner in so genannte »wilde« Konzentrationslager eingewiesen worden. Eines der ersten war das von dem Münchener SS-Führer Heinrich Himmler eingerichtete KZ Dachau, im Bereich der Berliner SA entstand das Lager Oranienburg. Kommunistische Funktionäre und Abgeordnete, auch Sozialdemokraten und Publizisten waren die ersten Opfer, die »in Schutzhaft« genommen wurden, wie es amtlich hieß. Konzentrationslager waren keine Erfindung der Deutschen, aber sie wurden von den Nationalsozialisten zu einem mit höchster Perfektion funktionierenden System zur Ausschaltung der Regimegegner und aller sonst wie unliebsamen Personen entwickelt – bis zur Vernichtung ganzer Völker.

Karte: Orte des Terrors und der Vernichtung (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/ ohne_405LAGER_12_bpb_vers5_150dpi.pdf) Nach der Liquidierung der SA-Führerschaft im angeblichen »Röhmputsch« wurden die Konzentrationslager geschlossen, bald aber wieder unter der Regie der SS neu eingerichtet und ausgebaut. Jetzt wurden neben den politischen Gegnern auch andere Personengruppen eingewiesen: Angehörige religiöser Sekten, Ordensgeistliche, Pfarrer beider Konfessionen, Juden, Polen, Sinti und Roma, Homosexuelle sowie »Arbeitsscheue«, und »Gewohnheitsverbrecher«. Mit Beginn des 2. Weltkrieges wurde das KZ-System erheblich ausgebaut, zahlreiche neue Lager entstanden in den eroberten polnischen Gebieten. Unter ihnen ist das im Juni 1940 eingerichtete KZ Auschwitz in seiner räumlichen Ausdehnung wie in seiner Vernichtungskapazität das größte Todeslager der Weltgeschichte geworden. Die Zahl der KZ wuchs während des Krieges auf 22 an mit 165 Außenstellen (= Arbeitslagern). In den Lagern waren die Häftlinge hilflos der brutalen Willkür der Wachmannschaften ausgesetzt. Durch die rücksichtslose Ausbeutung der Häftlinge in den den Lagern zugeordneten Wirtschaftsbetrieben und Rüstungswerken mit elfstündiger Arbeitszeit bei völlig unzureichender Ernährung, unter fortwährenden Schikanen, stundenlangen Ordnungsappellen und durch Seuchen war die Sterblichkeit unter den Lagerinsassen außerordentlich hoch.

Seit Beginn des Krieges bestand die Mehrzahl der Inhaftierten aus Angehörigen der unterworfenen Völker, der Anteil der deutschen Häftlinge betrug bei Kriegsende nur noch 5-10 %. Die Gesamtzahl der KZ-Insassen stieg jetzt sprunghaft an, bis März 1942 waren es bereits 100.000, bis Januar 1945 sogar über 700.000, nicht mitgerechnet die unregistriert in den KZ Vergasten. In verstärktem Maße wurden seit Beginn des Russlandfeldzuges in Konzentrationslagern Massenerschießungen durchgeführt. Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 wurde die Vernichtung des europäischen Judentums organisatorisch festgelegt. Die dort beschlossenen Transporte der europäischen Juden in den Osten gingen ausschließlich in die Vernichtungslager Belzec, Chelmno, Lublin-Majdanek, Sobibor, Treblinka und Auschwitz-Birkenau. Tausende von Häftlingen sind durch die an ihnen vorgenommenen medizinischen und nahrungsmittelchemischen Experimente ums Leben gekommen. Als sich die Front den osteuropäischen KZ näherte, befahl Himmler den Abtransport der Häftlinge in Richtung Westen, ließ die Vergasungen einstellen und ordnete zudem an, die bei früheren Massenerschießungen verscharrten Leichen auszugraben und zu verbrennen. Auf den Rücktransporten sind in den letzten Monaten noch einmal unzählige Häftlinge durch völlige Erschöpfung und um sich greifende Seuchen gestorben. Man schätzt die Zahl der von den Nationalsozialisten insgesamt in den KZ Inhaftierten auf 7,2 Millionen, von denen nur etwa 500.000 überlebten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 257 Antisemitismus

Als die Überlebenden des Holocaust aus den Lagern oder den Verstecken kamen, glaubten viele, dass das Ausmaß der Verbrechen jedem Antisemitismus den Boden entziehen und sich, wie Heinz Galinski, bis 1992 Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, es formulierte, "eine Welt auftun (würde), in der Menschenliebe und Verständnis unter den Völkern herrschen werde". Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, wenngleich heute in den europäischen Ländern und in den USA im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Antisemitismus in der Bevölkerung deutlich abgenommen hat und es auch keine Diskriminierungen von staatlicher Seite mehr gibt. Dennoch sehen sich Juden in vielen Ländern Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt. In Deutschland haben antisemitische Straftaten in den neunziger Jahren im Vergleich zu den Jahrzehnten davor erheblich zugenommen.

Woher kommen die Vorurteile gegen Juden? Weshalb halten sich antijüdische Stereotype so hartnäckig, obwohl man ihnen nun jahrzehntelang in der Schule und der Öffentlichkeit entgegengetreten ist und in vielen europäischen Ländern nur noch wenige Juden leben? Welche Rolle spielt dabei, dass negative Äußerungen über Juden in der Öffentlichkeit tabuisiert sind, dass das Thema "Juden" von vielen wegen des Holocaust als belastet und heikel empfunden und häufig gemieden wird? Gerade in Deutschland, wo Schuld- und Schamgefühle begreiflicherweise einem normalen, gelassenen Verhältnis zwischen Deutschen und Juden entgegenstehen, eignen sich antijüdische Bemerkungen, Witze oder gar Übergriffe besonders treffsicher als Mittel der Tabuverletzung und Provokation. Insofern gibt es in Deutschland und Österreich auch einen spezifischen "Antisemitismus wegen Auschwitz", der sich gegen die Juden wendet, weil sie als diejenigen gesehen werden, die die Deutschen permanent schmerzlich an die NS-Verbrechen erinnern. Dieser "sekundäre Antisemitismus" greift auf alte antijüdische Vorurteile und Stereotypen zurück und aktualisiert sie. Deshalb muss man, um den heutigen Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zu verstehen, auf die Geschichte der Judenfeindschaft zurückkommen, in der ein negatives Bild des Juden geprägt wurde, das ein zäher Bestandteil unserer kulturellen Überlieferung geworden ist. Hier liegt die große Gefahr bei der Weitergabe von Stereotypen, denn auch wenn man sie nicht teilt, kennt man die negativen Urteile über die Juden. Die Judenfeindschaft besitzt mehrere historische Schichten, wobei die älteren Vorurteilsschichten in der nächsten Phase nicht "vergessen ", sondern nur von neuen überlagert wurden.

Christlicher Antijudaismus

Die erste Schicht ist die religiös motivierte Ablehnung der Juden durch die Christen, die als abgespaltene jüdische Sekte seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. in Konkurrenz zum Judentum standen, das in seiner Mehrheit die christliche Lehre ablehnte. Aus dieser Situation von Nachfolge und Konkurrenz entstand eine bereits im Neuen Testament spürbare antijüdische Tradition, die die Juden als "Volk des alten Bundes" aus dem neuen Gottesbund ausschloss. Im Zentrum der judenfeindlichen Vorwürfe stand die Überbetonung des Anteils der Juden an der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien (Matthäus 27,25: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder"; Markus 15,6–15; Lukas 23,13–25), die im Vorwurf des Christusmordes gipfelte: "Welche auch den Herrn Jesum getötet haben, und ihre eigenen Propheten, und haben uns verfolgt" (1 Thessalonicher 2,15). Weiter findet sich eine negative Zeichnung der jüdischen Pharisäer und Schriftgelehrten als Heuchler (Matthäus 23,13–29) und Verfechter einer nur äußerlichen Frömmigkeit (Lukas 16,15). Im Johannes-Evangelium werden die Juden schlechthin zu Feinden der Christen erklärt und beschuldigt, sie hätten "den Teufel zum Vater " (8,23 und 8,40–44). Damit haben wir zentrale Bestandteile des religiösen Vorurteils beisammen: Verwerfung der Juden durch Gott, Vorwurf des Christusmordes und der Christenfeindlichkeit. Negative Stereotype aus dem neuen Testament reichen bis in den heutigen Sprachgebrauch hinein: Wir nennen einen Heuchler immer noch "Pharisäer". Judas ist bis heute die Symbolfigur des Verräters, und Juden wurden in der Geschichte häufig des Verrats an ihren "Gastvölkern" bezichtigt.

Der Abschluss der Christianisierung Europas, die innerkirchlichen Reformbewegungen, insbesondere die Missionsbestrebungen der Bettelorden und die Wendung gegen abweichende christliche "Irrlehren

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 258

" (so genannte Ketzer) und Feinde des Christentums (Kreuzzüge), verbreiteten die Judenfeindschaft über den Kreis der Theologen hinaus unter den Laien, sodass Vorurteile gegen Juden zum festen Bestandteil der erstarkenden Volksfrömmigkeit wurden. Im 13. Jahrhundert gewannen mit der Verkündigung der Transsubstantiationslehre, die annahm, dass sich beim Abendmahl Brot und Wein real in den Leib und das Blut Christi verwandelten, die geweihte Hostie und das Blut zentrale religiöse Bedeutung. Christen fürchteten nun, Juden würden als "Feinde Christi" die Hostie durchbohren, um damit den Leib Jesu erneut zu verletzen. Dieser Vorwurf der Hostienschändung hat häufig zu antijüdischer Gewalt geführt. Damals kam auch die Befürchtung auf, die Juden würden das Blut von Christen zu rituellen Zwecken benötigen und deshalb Christenknaben rauben oder kaufen, um sie dann zu ermorden. Obwohl diese Vorstellung im Widerspruch zur ausgeprägten Abneigung gegen den Genuss von Blut im Judentum stand (Das Schächtungsgebot sieht beispielsweise das völlige Ausbluten des geschlachteten Tieres vor. Blutig wird das Fleisch als unrein angesehen.) und auch die Kirchenführer ihr widersprachen, verbreitete sich diese so genannte Ritualmordlegende in ganz Europa und hat bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein immer wieder Anlass zu antijüdischen Übergriffen gegeben. Die Vorstellung, dass Andersgläubige Kinder misshandeln und zu rituellen Zwecken opfern, ist historisch und geographisch weit verbreitet. Diese Bedrohungsängste, zu denen – etwa angesichts der sich rasch ausbreitenden Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts – auch die Angst vor Brunnenvergiftungen gehört, machten die Juden zu einer dämonisierten Minderheit, die sich angeblich gegen die Christen verschworen hatte.

Soziale Stereotype

Die geschilderte Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert führte zu einer deutlichen Verschlechterung der gesellschaftlichen Stellung der Juden. Kirchlicherseits wurden sie durch die Bestimmungen des IV. Laterankonzils von 1215 zu einer sozial ausgegrenzten Gruppe (Kennzeichnung der Kleidung, Ausschluss von öffentlichen Ämtern). Ihnen wurde die Zulassung zu den sich als christliche Bruderschaften verstehenden Zünften versperrt. Dies zwang die Juden zu einer ökonomischen Spezialisierung auf Handel und Geldleihe, die den Christen aus religiösen Gründen verboten war. Als Finanziers der Feudalherren und der Städte und als Großkaufleute galten sie als "reiche Wucherer", was sie zu einer lohnenden Beute in politischen Konflikten und zum Ziel von Übergriffen machte. Vor allem ihre Schuldner hatten ein Interesse, mit den Juden auch zugleich ihre Schulden loszuwerden. Mit der Lockerung des kirchlichen Wucherverbots (das heißt für die Bereitstellung von Kapital Zinsen zu erheben) wurden Juden durch ihre christlichen Konkurrenten auf die Geldleihe für die ärmeren Schichten und die Hehlerei abgedrängt und damit selbst zu verarmten und verfemten Außenseitern. Auch wenn keineswegs alle Juden zur reichen Schicht der Finanziers gehörten und die Juden später überwiegend eine verarmte Gruppe darstellten, blieb das Bild des "reichen Juden" als Stereotyp haften. Die berufliche Spezialisierung hielt sich teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein, so dass sich das Vorurteil festigte, das die Juden mit Geld(-gier), Kapitalismus und Ausbeutung verband. Man sprach Ende des 19. Jahrhunderts von der "Goldenen Internationale" und verknüpfte dabei die Vorstellung einer großen Finanzmacht der Juden mit dem altbekannten Vorwurf der Weltverschwörung. Bis ins 19. Jahrhundert hinein bildeten die Juden eine von der Mehrheitsgesellschaft verachtete, randständig lebende Gruppe mit einem hohen Grad an Selbstverwaltung und einer sehr kleinen und reichen Oberschicht von Hofjuden, die primär mit wirtschaftlichen Aufgaben betraut waren (zum Beispiel Hofbankiers).

Im Laufe der Judenemanzipation, das heißt ihrer allmählichen rechtlichen und sozialen Integration in die christliche Gesellschaft im Zuge der Aufklärungsbewegung, engagierten sich Juden besonders in den politisch fortschrittlichen Bewegungen und Parteien (Liberalismus, später Sozialismus und Kommunismus), die sich für die Gleichstellung der Juden einsetzten und weniger antijüdisch waren als christlich-konservative und völkisch-nationalistische Parteien und Organisationen. Aus diesem politischen Engagement einer intellektuellen Minderheit entwickelte sich das Stereotyp des zu Radikalismus und Umsturz neigenden Juden. Dieser Vorwurf traf besonders die linken und liberalen Parteien der Weimarer Republik, die von ihren Gegnern als "Judenrepublik" verunglimpft wurde. Die Nationalsozialisten sprachen dann vom "jüdischen Bolschewismus", um damit nach der russischen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 259

Oktoberrevolution die in der deutschen Bevölkerung verbreitete Furcht vor einem kommunistischen Umsturz für ihren Antisemitismus zu instrumentalisieren.

Rassebegriff

Der Begriff "Rasse" wurde in der Anthropologie seit Ende des 17. Jahrhunderts beschreibend als naturgeschichtlicher Begriff verwendet, um Gruppen von Tieren und Menschen mit gemeinsamen äußeren Merkmalen zu kategorisieren; doch stuften bereits die frühen Klassifikationsschemata Menschen in höhere und niedere Arten ein. An diese Rassentypologien knüpfte der französische Graf Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) in seinem geschichtsphilosophischen "Essai sur l'inégalité des races humaines" (1853/55) an, in dem er die Ungleichheit von Menschenrassen postulierte und soziale Schichtung auf Rassenunterschiede und den angeblichen neuzeitlichen "Kulturverfall"" auf die fortschreitende Rassenmischung zurückführte. Die "arische weiße Rasse" verkörperte für ihn den Gipfel kultureller und moralischer Entwicklung, doch sah er ihre Überlegenheit durch Rassenmischung bedroht. Mit diesem Ariermythos, der Betonung des Blutes und der Unterscheidung in niedere und edlere Rassen hatte Gobineau ein Denkmodell für den rassistischen Antisemitismus vorgegeben. Einen neuen Gedanken führte der Sozialdarwinismus, eine im Anschluss an Charles Darwin (1809– 1882) entstandene sozialphilosophische Strömung ein, indem er dessen Entwicklungstheorie der natürlichen Zuchtwahl von der Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft übertrug. Die Darwinsche Anpassungstheorie vom "survival of the fittest" wurde zum "Kampf ums Dasein" zwischen " höheren" und "niederen" Rassen umgedeutet.

Houston Stewart Chamberlain verband in seinem weit verbreiteten Buch "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) den Mythos vom reinrassigen "Arier" als Kulturträger mit dem Gedanken des Rassenkampfes, wonach die "Arier" der minderwertigen "Mischlingsrasse" der Juden in einem historischen Endkampf gegenüberstünden, in dem es nur Sieg oder Vernichtung geben könnte. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde so der vorher religiös oder ökonomisch begründete Antisemitismus zur "Rassenfrage" erklärt, wobei der vage Rassenbegriff eine Reihe anderer Begriffe wie Volk, Nation, Arier, Deutsch- und Germanentum umschloß. Die nationalsozialistische Rassentheorie setzte diese Tradition fort. Sie lehnte eine Vermischung der Rassen ab. Entsprechend wurden sexuelle Kontakte von "Ariern" und Juden ab 1935 als "Blutschande" strafrechtlich verfolgt. Das vulgärantisemitische NS-Blatt "Der Stürmer" charakterisierte die Juden als zersetzende Elemente und als sexuelle Bedrohung und stufte sie rassentypologisch als "niedere Rasse" ein. Andererseits galten die Juden als gefährlichster Gegner im weltgeschichtlichen Endkampf ("Gegenrasse"), wurden sie doch – unlogischerweise – als die "Drahtzieher" sowohl hinter dem amerikanischen Kapitalismus ("Wall Street") wie auch hinter dem sowjetischen Kommunismus ("jüdischer Bolschewismus") vermutet.

In der Geschichte sind also negative Einstellungen zu Juden aus ganz unterschiedlichen Gründen entstanden und weiter vermittelt worden: Die früheste Schicht bildet die religiöse Feindschaft des Christentums gegenüber dem Judentum. Die (von der christlichen Gesellschaft erzwungene) besondere Berufsstruktur der Juden seit dem Mittelalter führt auf eine zweite Schicht: Die ökonomisch begründete Judenfeindschaft, in der die Juden als Wucherer, Betrüger, später als ausbeuterische Kapitalisten und Spekulanten gebrandmarkt wurden. Damit eng verbunden ist eine weitere Dimension, nämlich die Vorstellung von den Juden als einer mächtigen Gruppe, die mit ihrem Geld weltweit die Politik bestimmt. Hierher gehört das Stereotyp des "Drahtziehers", der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung und Pressemacht. Eine weitere Schicht bilden rassistische Vorstellungen über den jüdischen Körper, also die vom schwachen, unsoldatischen (Stereotyp des "Drückebergers"), hässlichen, gebückten und hakennasigen Juden (was die jüdischen Frauen angeht, so dominierte das exotische Bild der "schönen Jüdin"), zum anderen die Fantasien vom sexuell bedrohlichen Juden. Alle diese Dimensionen des antijüdischen Vorurteils sind bis in die Gegenwart mehr oder weniger wirksam geblieben und finden sich heute in aktualisierter Form wieder.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 260 Wandel des Judenbildes

Trotz des Holocaust änderte sich das antijüdische Stereotyp zunächst wenig. Als im Jahre 1951 Studenten der Freien Universität Berlin in einer Studie zu "Nationalen Vorurteilen" Völkern Eigenschaften aus einer Liste von über 300 Merkmalen zuordnen sollten, fanden sich die genannten Stereotype wieder: Es dominierten abwertende Kennzeichnungen des ökonomischen und sozialethischen Verhaltens (Handelsvolk, materiell eingestellt, Schacherer, scheut körperliche Arbeit, raffgierig, Ausbeuter), gefolgt von Begabungen (gute Ärzte, Wissenschaftler, intelligent, redegewandt, sprachbegabt, musikalisch). Diese positiven Stereotype sind allerdings als ambivalent anzusehen, da positive Eigenschaften bei einem "Feind" natürlich gefährlich sind: Dies ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass Juden einerseits als intelligent (wie die Deutschen sich selbst sehen), andererseits als raffiniert und schlau charakterisiert wurden. Das rassistische Körperbild lebte in dieser Zeit ebenfalls fort (krumme Nase, unsoldatisch), ebenso wie die Vorstellung eines engen Zusammenhalts der Gruppe ("rassebewusst, Zusammengehörigkeitsgefühl, familiengebunden"). Vom historisch überlieferten Bild fehlten die Dimensionen des religiösen Konflikts und der Politik (radikal, kommunistisch). Eigenschaften, die exklusiv nur einem Volk zugeschrieben werden, spiegeln besonders gut das Stereotyp dieser Gruppe. Demnach werden die Juden als "krummnasig, raffiniert, schlau, raffgierig und heimatlos" bezeichnet, als "Schacherer und Ausbeuter mit einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl ". Es wird damit ein deutlich negativ akzentuiertes Bild einer Gruppe entworfen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft dazugehört (heimatlos), aber untereinander eng zusammenhält, und die andere Nationen ausbeutet. Zur Einschätzung der Beziehung zwischen zwei Gruppen ist der Vergleich zwischen dem Selbst- und dem Fremdbild aufschlussreich. Die deutschen Studenten des Jahres 1951 schrieben Deutschen und Juden zwar bestimmte Begabungen ("Intelligenz, sprachbegabt, Wissenschaftler") gleichermaßen zu, aber wesentliche Züge des deutschen Selbstbildes (" pflichtbewusst, sauber, fleißig, gründlich, zuverlässig, anständig, gemütlich, aber auch tapfer, guter Soldat") fehlten bei den Angaben zu den Juden, manche Eigenschaften, die beide Gruppen charakterisieren sollten, standen sogar in Opposition: "heimatliebend – heimatlos; militaristisch/der beste Soldat – unsoldatisch; Idealist – materiell eingestellt; Arbeitstier – scheut körperliche Arbeit".

Vergleichen wir nun diese frühen Ergebnisse mit der Eigenschaftsliste einer repräsentativen Meinungsumfrage aus dem Jahre 1987 (wiederholt 1993; ermittelt mit dem Verfahren der Faktorenanalyse), zeigen sich gegenüber 1951 sowohl Konstanz wie Veränderungen, die sich in sechs Dimensionen zusammenfassen lassen.

• In dem Vorstellungskomplex der "jüdischen Weltverschwörung" werden die Juden als " machthungrig, verschwörerisch, unheimlich, rücksichtslos, hinterhältig und politisch radikal " betrachtet. Im Durchschnitt schreiben allerdings nur circa 15 Prozent der Befragten den Juden diese Eigenschaften zu. Diese Verschwörungstheorie ist heute vor allem in der arabischen Welt verbreitet. Die Antisemiten in Deutschland machen "jüdischen Einfluss" dafür verantwortlich, dass es nicht gelingt, "einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen". Hier werden gesellschaftlich nicht zu steuernde Prozesse öffentlicher Diskussion und Erinnerung auf die vermeintliche (Presse-)Macht einer Gruppe zurückgeführt. Diese Personalisierung von sozialen Prozessen ist typisch für vorurteilshaftes Denken.

• In der deutschen Bevölkerung werden die Juden am häufigsten als fest zusammenhaltende religiöse Gruppe gesehen (70 Prozent). Ähnlich wie 1951 wird dieses Festhalten an Tradition und Religion nicht (mehr) negativ bewertet, der alte christlich-jüdische Gegensatz scheint an Bedeutung verloren zu haben. Dies liegt an dem relativen Bedeutungsverlust von Religion (Säkularisierung), an der veränderten Haltung der Kirchen zum Judentum sowie daran, dass mit dem Islam (in seiner fundamentalistischen Variante) ein neues Feindbild entstanden ist.

• Sozialethische Verhaltensstandards wie "Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Treue" und so genannte Sekundärtugenden wie "Ordnung, Sauberkeit, Fleiß" bewerten im Durchschnitt nur 20 Prozent

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 261

der Deutschen als typische Eigenschaften von Juden. Vor allem Ehrlichkeit und Treue werden mit elf Prozent nur selten zugeschrieben.

• Das traditionelle Bild vom "hässlichen und feigen" Juden, der "schwächlich und unsoldatisch" ist, hat sich fast völlig verloren: Nur vier Prozent schreiben Juden diese Eigenschaften zu. Dies zeigt, dass es durchaus Veränderungen in der Vorurteilsstruktur gibt, wenn Zuschreibungen keinerlei empirischen Anhaltspunkt mehr haben und das Urteil der Wahrnehmung zu krass widerspricht. Das Bild der israelischen Kibbuzim und der erfolgreichen israelischen Armee dürfte das alte Bild überlagert haben. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass die mittelalterliche religiöse Dämonisierung des Juden, dessen Bosheit sich in einem abstoßenden Äußeren zeigen musste, in der modernen Welt ihre Funktion verloren hat.

• Das traditionell dominante ökonomische Stereotyp des geschäftstüchtigen Juden bildet bis heute den Kern des antijüdischen Vorurteils: 43 Prozent der befragten Deutschen stimmen diesem negativen Bild zu. Der Grund dürfte darin liegen, dass gerade in den deutsch-jüdischen Beziehungen nach 1945 die Frage der Entschädigung für verfolgungsbedingte gesundheitliche Schäden und materielle Verluste (so genannte Wiedergutmachung) eine zentrale Rolle gespielt hat. Dies hat bei nicht wenigen Deutschen das Vorurteil "bestätigt", es ginge "den Juden" bei der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust vorrangig um ökonomische Vorteile.

• Neu gegenüber 1951 hinzugekommen ist das Vorurteil vom nachtragenden Juden. Es spiegelt eine wichtige Facette im deutsch-jüdischen Verhältnis wider, nämlich die Tatsache, dass die Juden als Mahner an die Verbrechen der NS-Vergangenheit gesehen werden, die angeblich nicht vergessen und vergeben wollen. Fast ein Drittel der befragten Deutschen (29 Prozent) hielt die Juden für "empfindlich, nachtragend und unversöhnlich". Dieses neue Bild kann allerdings auf einem älteren und immer noch wirksamen religiösen Stereotyp aufbauen, nämlich dem des " rachsüchtigen" jüdischen Gottes ("Rache bis ins siebte Glied"), dem der christliche Gott der Liebe und Vergebung entgegengesetzt wird.

Antisemitismus heute

Wie ist es nun zu erklären, dass bestimmte Dimensionen des antijüdischen Vorurteils noch von vielen Deutschen geteilt werden und andere nicht mehr, obwohl nichtjüdische Deutsche mit Juden im Alltagsleben kaum je zusammentreffen? Die Erklärung liegt darin, dass sich vor allem die Vorurteile gehalten haben, die sich mit neuen Inhalten haben füllen lassen, die also die alten Vorurteile scheinbar "bestätigen". Diese Inhalte ergeben sich primär aus den Problemen, die die Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit haben. Anders als bei den Vorbehalten gegen Ausländer gibt es gegenüber den Juden in Deutschland kaum Gefühle einer ökonomischen Konkurrenz oder einer kulturellen Bedrohung durch eine große Zahl von Zuwanderern; auch Rassismus ist hier ohne Bedeutung. Umfragen zeigen, dass die soziale Distanz zu Juden heute sehr gering ist. Auch der religiöse Gegensatz zwischen Judentum und Christentum spielt weder in den Kirchen noch in der Bevölkerung eine wesentliche Rolle. Die Motive des Antisemitismus liegen vorwiegend in dem Schuldgefühl gegenüber den Juden, das in verschiedener Weise abgewehrt wird:

• Man schreibt den Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung zu: Dies tun seit fünf Jahrzehnten circa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die glauben, "dass die Juden mitschuldig sind, wenn sie gehasst und verfolgt werden". Hier haben wir es mit der Denkweise "Wo Rauch ist, ist auch Feuer" zu tun, die aus der Tatsache, dass Juden in der europäischen Geschichte häufig verfolgt wurden, schließt, dafür müsse es Gründe im Verhalten der Juden gegeben haben. Es ist deshalb für die Entkräftung von Vorurteilen wichtig, sich historisch die gesamte Breite der christlich- jüdischen Beziehungen zu vergegenwärtigen und diese nicht auf eine reine Konflikt- und Verfolgungsgeschichte zu reduzieren.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 262

• Man unterstellt den Juden, dass sie ihre Leiden unter der NS-Verfolgung heute dazu benutzen, um möglichst hohe Summen an "Wiedergutmachungs"-Geldern zu kassieren. Dieses Vorurteil verbindet sich mit dem traditionellen Bild des "geldgierigen, betrügerischen und ausbeuterischen Juden". Eng verbunden damit ist die Vorstellung vom großen Einfluss, den Juden ausüben, um die Deutschen zu weiteren Zahlungen zu zwingen. Auch hier kann sich das neue Motiv mit dem alten Vorurteil von der "jüdischen Weltmacht" verbinden, das heute ebenfalls noch von vielen Deutschen vertreten wird. Der Vorwurf, die Juden würden ihren Einfluss geltend machen, um die Deutschen auszubeuten, ist ein klassisches Beispiel für die im Antisemitismus generell zu beobachtende Täter-Opfer-Umkehr.

• Die Juden werden als "Störenfriede" gesehen, die durch ihr Beharren auf der Erinnerung an den Holocaust – der Schriftsteller Martin Walser sprach 1998 öffentlich von der "Moralkeule Auschwitz " – permanent an eine Periode deutscher Geschichte gemahnen, die viele gern vergessen würden: Jeweils zwei Drittel der Deutschen würden am liebsten "einen Schlussstrich unter die NS- Vergangenheit" ziehen. Auch hier verbindet sich ein aktuelles Unbehagen mit alten, aus dem Antijudaismus stammenden Negativurteilen über die "alttestamentarische Vergeltungssucht" der Juden.

• Durch die Gründung des jüdischen Staates ist eine neue Vorurteilsdimension hinzugekommen, indem man nun die einheimischen Juden, die deutsche Staatsbürger sind, für die Politik Israels verantwortlich macht. Hier treffen wir auf ein weiteres wichtiges Motiv des heutigen Antisemitismus unter Deutschen: Die eigene Schuld an der Verfolgung der Juden soll verkleinert werden, indem man sie gegen Menschenrechtsverletzungen der Israelis im Nahostkonflikt aufrechnet. 17 Prozent waren 1987 der Meinung, dass das, "was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, im Prinzip auch nichts anderes ist als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben" (33 Prozent unentschieden, 50 Prozent stimmten nicht zu).

• Mit der Zuwanderung von Aussiedlern, Osteuropäern und Muslimen kommen allerdings auch andere "Spielarten" des Antisemitismus nach Deutschland, sodass auch religiöse Formen des Vorurteils (Antijudaismus) und vor allem ein antizionistisches Feindbild, gespeist durch den arabisch-israelischen Konflikt, anzutreffen sind.

"Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945

Die Nachkriegsliteratur hat nur wenige "Zigeuner"- und Judenfiguren hervorgebracht; erkennbar sind sie an ihren meist stereotypen und grob vereinfachenden Charakterisierungen. Der "Zigeuner " und der Jude sind gängige Projektionsfiguren für das "Andere" oder das unverstandene "Fremde " einer Gesellschaft, wobei die ihnen zugeschriebenen Merkmale zu den typischen Eigenschaften ihres ganzen Volkes stilisiert werden. Ungleich dem Bild des "Zigeuners", dessen Legendenvorrat in der Literatur nach 1945 unverändert geblieben ist, existieren nach dem Holocaust neben den alten Stereotypen der "schönen Jüdin" und dem "gewissenlosen und geizigen Juden" auch neue. Neu an den zunächst wenigen literarischen Judenbildern seit 1945 ist die Reduktion des Juden auf ein schutz- und wehrloses Opfer, wofür Bruno Apitz' erfolgreicher Roman "Nackt unter Wölfen " (1958) steht. Im Mittelpunkt des Romans steht ein kleiner jüdischer Junge, der von Auschwitz nach Buchenwald geschmuggelt und dort von kommunistischen Häftlingen versteckt und gerettet wird. Die Konzentration auf ein Kinderschicksal ist ein beliebter Kunstgriff, bei dem, weil das Grauen "verkleinert" wird, die Sympathie und die Identifikation der Lesenden gewiss scheint. Nicht das Ausmaß der Vernichtung ist zentral und drängt ins Bewusstsein, sondern die Tatsache, dass ein Kind leiden muss. Schwieriger ist das Werk von Alfred Andersch zu bewerten, der wie kein anderer Nachkriegsautor Judenfiguren zum Thema gemacht hat. In seinem Roman "Efraim" (1967) führt er einen deutsch-jüdischen Intellektuellen als Ich-Erzähler ein, der – vom frühen Exil und der Ermordung der Eltern in Auschwitz geprägt – nach Berlin kommt, um nach seiner Kinderfreundin Esther zu suchen. Während Efraim zu Beginn von Esthers Tod nahezu überzeugt ist, hat er am Ende Grund zur Annahme, dass sie bei Nonnen überlebt hat. Einerseits zeigt sich in Anderschs

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 263

jüdischer Figur ein Hang zur Bagatellisierung der Ereignisse – als jüdische Figur darf Efraim ungestraft über die Zufälligkeit des Holocaust räsonieren –; auch lässt sein Buch eine Faszination an der fragwürdigen Verbindung von "Kitsch und Tod" (Saul Friedländer) erkennen. Andererseits beschwört er die antisemitische Legendenfigur des "ewigen Juden", um dessen mythisches Schicksal als unzeitgemäßes Gegenmodell zu seinem differenziert dargestellten und sehr lebendigen Ich-Erzähler darzustellen.

Assoziative Wirkungen

Im Hinblick auf Stereotype in der Literatur ist zu unterscheiden zwischen der Intention des Autors und dem von ihm ungewollt zum Ausdruck kommenden Vorrat unreflektierter Bilder. Durch die blinde Übernahme von Legenden und Vorurteilen hat die Belletristik mit dazu beigetragen, dass aus Sinti und Roma "Zigeuner" und dass Juden holzschnittartig dargestellt wurden. Stereotype " Zigeuner" bilder treten in zwei mitunter auch zusammenwirkenden Varianten auf: 1. Das negative Klischee, das dem "Zigeuner", wie in Schnurres Erzählung "Jenö war mein Freund ", in der Kriminalisierung eine fundamentale Andersartigkeit unterstellt. Das traditionelle Bild des zwanghaft stehlenden Zigeuners ohne Unrechtsbewusstsein löst die Assoziationskette aggressiv, dreckig, asozial, arbeitsscheu, betrügerisch, gefährlich, kriminell aus. 2. Das überwiegend in Schauerromanen und Abenteuergeschichten, aber auch in Jugendbüchern nach 1945 ("Mond, Mond, Mond" von Ursula Wölfel) greifende positive Klischee, das romantisch- verklärend mit der Vorurteilsstruktur der "Zigeuner" als freien, stolzen, wilden, lebensfrohen, sinnlichen Genüssen ergebenen Menschen operiert. Die "positive" Kennzeichnung ist ebenso wie die negative ein Indiz für das Fehlen jeder Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Figuren und birgt durch den Abbau an Komplexität die Gefahr einer Verklärung der Umstände zum Sozial- oder Milieukitsch.

Obwohl "Zigeuner-" und Judenbildern unterschiedliche Feindvorstellungen zugrunde liegen – der " Zigeuner" hat in der Personifikation von "Natur" keinen Anteil am Prozess der Zivilisation, während der Jude eben diesen Prozess, Modernität und Modernisierung, verkörpert – gilt das negative wie das positive Klischee vom Zigeuner gleichermaßen für stereotype Judenfiguren.

Jenseits von Typisierungen

Eine wichtige Voraussetzung zur Vermeidung von Stereotypen ist die Einsicht, dass von außen herangetragene Typisierungen sehr viel mehr über die Mehrheitsgesellschaft als über leibhaftige " Zigeuner" und Juden aussagen. Bei Autoren wie Johannes Bobrowski ("Levins Mühle", 1964), Erich Hackl ("Abschied von Sidonie", 1989) und Winfried Georg Sebald ("Die Ausgewanderten", 1992) bildet diese Einsicht einen Teil ihres Selbstverständnisses. In ihrer literarischen Annäherung an "Zigeuner" und Juden hinterfragen sie das Arsenal der Mythen und Stereotype, indem sie der heiklen Tradition an Vorurteilen den Spiegel vorhalten. Diese Beispiele erschöpfen sich nicht in der Aufhebung eines Informationsdefizits im Hinblick auf Sinti, Roma und Juden, sondern bieten in ihrer Darstellung und Bewertung von Problemen, Konflikten und Auswegen auch eine Form der Informationsverarbeitung jenseits traditioneller Stereotype an. Daneben können literarische Selbstentwürfe der Betroffenen hartnäckige Legenden korrigieren. Erinnerungen wie Ceija Stojkas "Wir leben im Verborgenen: Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin" (1988) und Marcel Reich- Ranickis "Mein Leben" (1999) halten dem Stereotyp die Vielfalt individueller Erfahrungen entgegen und verhindern, indem die eigene Geschichte selbst erzählt wird, die Degradierung zum Objekt. Eine Vorstellung darüber, was eine jüdische Familie zur Zeit des dritten Reiches mitmachen musste und wie ihre Mitglieder systematisch dezimiert wurden, zeigt das Beispiel der Familie Chotzen http://www.chotzen.de (http://www.chotzen.de)

Quelle: Deutsche Geschichten http://www.deutschegeschichten.de (http://www.deutschegeschichten.de) Ein Internet-Angebot der Cine Plus Media Service GmbH & Co KG in Co-Produktion mit der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 264

Bundeszentrale für politsche Bildung/bpb.

Stand April 2005.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 265

Ein Tag in meinem Leben

Von Marcel Reich-Ranicki 12.9.2013

Geb. 1920; Literaturkritiker.

Am 27. Januar 2012 hielt Marcel Reich-Ranicki eine Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker sprach er, sondern als ein Zeitzeuge: als Überlebender des Warschauer Gettos.

Marcel Reich-Ranicki (© picture-alliance/dpa) Ich soll heute hier die Rede halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern als ein Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des Warschauer Gettos. 1938 war ich aus Berlin nach Polen deportiert worden. Bis 1940 machten die Nationalsozialisten aus einem Warschauer Stadtteil den von ihnen später sogenannten "jüdischen Wohnbezirk". Dort lebten meine Eltern, mein Bruder und schließlich ich selbst. Dort habe ich meine Frau kennengelernt.

Seit dem Frühjahr 1942 hatten sich Vorfälle, Maßnahmen und Gerüchte gehäuft, die von einer geplanten generellen Veränderung der Verhältnisse im Getto zeugten. Am 20. und 21. Juli war dann für jedermann klar, dass dem Getto Schlimmstes bevorstand: Zahlreiche Menschen wurden auf der Straße erschossen, viele als Geiseln verhaftet, darunter mehrere Mitglieder und Abteilungsleiter des " Judenrates". Beliebt waren die Mitglieder des "Judenrates", also die höchsten Amtspersonen im Getto, keineswegs. Gleichwohl war die Bevölkerung erschüttert: Die brutale Verhaftung hat man als ein düsteres Zeichen verstanden, das für alle galt, die hinter den Mauern lebten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 266

Am 22. Juli fuhren vor das Hauptgebäude des "Judenrates" einige Personenautos vor und zwei Lastwagen mit Soldaten. Das Haus wurde umstellt. Den Personenwagen entstiegen etwa fünfzehn SS-Männer, darunter einige höhere Offiziere. Einige blieben unten, die anderen begaben sich forsch und zügig ins erste Stockwerk zum Amtszimmer des Obmanns, Adam Czerniaków.

Im ganzen Gebäude wurde es schlagartig still, beklemmend still. Es sollten wohl, vermuteten wir, weitere Geiseln verhaftet werden. In der Tat erschien auch gleich Czerniakóws Adjutant, der von Zimmer zu Zimmer lief und dessen Anordnung mitteilte: Alle anwesenden Mitglieder des "Judenrates " hätten sofort zum Obmann zu kommen. Wenig später kehrte der Adjutant wieder: Auch alle Abteilungsleiter sollten sich im Amtszimmer des Obmanns melden. Wir nahmen an, dass für die offenbar geforderte Zahl von Geiseln nicht mehr genug Mitglieder des "Judenrates" (die meisten waren ja schon am Vortag verhaftet worden) im Haus waren.

Kurz darauf kam der Adjutant zum dritten Mal: Jetzt wurde ich zum Obmann gerufen, jetzt bin wohl ich an der Reihe, dachte ich mir, die Zahl der Geiseln zu vervollständigen. Aber ich hatte mich geirrt. Auf jeden Fall nahm ich, wie üblich, wenn ich zu Czerniaków ging, einen Schreibblock mit und zwei Bleistifte. In den Korridoren sah ich starkbewaffnete Posten. Die Tür zum Amtszimmer Czerniakóws war, anders als sonst, offen.

Er stand, umgeben von einigen höheren SS-Offizieren, hinter seinem Schreibtisch. War er etwa verhaftet? Als er mich sah, wandte er sich an einen der SS-Offiziere, einen wohlbeleibten, glatzköpfigen Mann – es war der Leiter der allgemein "Ausrottungskommando" genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer, der SS-Sturmbannführer Höfle. Ihm wurde ich von Czerniaków vorgestellt, und zwar mit den Worten: "Das ist mein bester Korrespondent, mein bester Übersetzer." Also war ich nicht als Geisel gerufen.

Höfle wollte wissen, ob ich stenographieren könne. Da ich verneinte, fragte er mich, ob ich imstande sei, schnell genug zu schreiben, um die Sitzung, die gleich stattfinden werde, zu protokollieren. Ich bejahte knapp. Daraufhin befahl er, das benachbarte Konferenzzimmer vorzubereiten. Auf der einen Seite des langen, rechteckigen Tisches nahmen acht SS-Offiziere Platz, unter ihnen Höfle, der den Vorsitz hatte. Auf der anderen saßen die Juden: neben Czerniaków die noch nicht verhafteten fünf oder sechs Mitglieder des "Judenrates", ferner der Kommandant des Jüdischen Ordnungsdienstes, der Generalsekretär des "Judenrates" und ich als Protokollant.

An den beiden zum Konferenzraum führenden Türen waren Wachtposten aufgestellt. Sie hatten, glaube ich, nur eine einzige Aufgabe: Furcht und Schrecken zu verbreiten. Die auf die Straße hinausgehenden Fenster standen an diesem warmen und besonders schönen Tag weit offen.

So konnte ich genau hören, womit sich die vor dem Haus in ihren Autos wartenden SS-Männer die Zeit vertrieben: Sie hatten wohl ein Grammophon im Wagen, einen Kofferapparat wahrscheinlich, und hörten Musik und nicht einmal schlechte. Es waren Walzer von Johann Strauß, der freilich auch kein richtiger Arier war. Das konnten die SS-Leute nicht wissen, weil Goebbels die nicht ganz rassereine Herkunft des von ihm geschätzten Komponisten verheimlichen ließ.

Höfle eröffnete die Sitzung mit den Worten: "Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zu viel Juden gibt. Euch, den 'Judenrat', beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben." Er zeigte mit der Hand auf den Kinderspielplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Es war eine für die Verhältnisse im Getto recht hübsche Anlage, die erst vor wenigen Wochen feierlich eingeweiht worden war: Eine Kapelle hatte aufgespielt, Kinder hatten getanzt und geturnt, es waren, wie üblich, Reden gehalten worden.

Jetzt also drohte Höfle, den ganzen "Judenrat" und die im Konferenzraum anwesenden Juden auf

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 267 diesem Kinderspielplatz aufzuhängen. Wir spürten, dass der vierschrötige Mann, dessen Alter ich auf mindestens vierzig schätzte – in Wirklichkeit war er erst 31 Jahre alt –, nicht die geringsten Bedenken hätte, uns sofort erschießen oder eben "aufknüpfen" zu lassen.

Schon das (übrigens unverkennbar österreichisch gefärbte) Deutsch zeugte von der Primitivität und Vulgarität dieses SS-Offiziers.

So schnoddrig und sadistisch Höfle die Sitzung eingeleitet hatte, so sachlich diktierte er einen mitgebrachten Text, betitelt "Eröffnungen und Auflagen für den 'Judenrat'". Freilich verlas er ihn etwas mühselig und schwerfällig, mitunter stockend: Er hatte dieses Dokument weder geschrieben noch redigiert, er kannte es nur flüchtig. Die Stille im Raum war unheimlich, und sie wurde noch intensiver durch die fortwährenden Geräusche: das Klappern meiner alten Schreibmaschine, das Klicken der Kameras einiger SS-Führer, die immer wieder fotografierten, und die aus der Ferne kommende, leise und sanfte Weise von der schönen, blauen Donau. Haben diese eifrig fotografierenden SS-Führer gewusst, dass sie an einem historischen Vorgang teilnahmen?

Von Zeit zu Zeit warf mir Höfle einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ich auch mitkäme. Ja, ich kam schon mit, ich schrieb, dass "alle jüdischen Personen", die in Warschau wohnten, "gleichgültig welchen Alters und Geschlechts", nach Osten umgesiedelt würden. Was bedeutete hier das Wort " Umsiedlung"? Was war mit dem Wort "Osten" gemeint, zu welchem Zweck sollten die Warschauer Juden dorthin gebracht werden? Darüber war in Höfles "Eröffnungen und Auflagen für den 'Judenrat' " nichts gesagt.

Wohl aber wurden sechs Personenkreise aufgezählt, die von der Umsiedlung ausgenommen seien – darunter alle arbeitsfähigen Juden, die kaserniert werden sollten, alle Personen, die bei deutschen Behörden oder Betriebsstellen beschäftigt waren oder die zum Personal des "" und der jüdischen Krankenhäuser gehörten. Ein Satz ließ mich plötzlich aufhorchen: Die Ehefrauen und Kinder dieser Personen würden ebenfalls nicht "umgesiedelt".

Unten hatte man inzwischen eine andere Platte aufgelegt: Nicht laut zwar, doch ganz deutlich konnte man den frohen Walzer hören, der von "Wein, Weib und Gesang" erzählte. Ich dachte mir: Das Leben geht weiter, das Leben der Nichtjuden. Und ich dachte an sie, die jetzt in der kleinen Wohnung mit einer graphischen Arbeit beschäftigt war, ich dachte an Tosia, die nirgends angestellt und also von der "Umsiedlung" nicht ausgenommen war.

Höfle diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, dass die "Umsiedler" fünfzehn Kilogramm als Reisegepäck mitnehmen dürften sowie "sämtliche Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold usw.". Mitnehmen durften oder mitnehmen sollten? – fiel mir ein. Noch am selben Tag, am 22. Juli 1942, sollte der Jüdische Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter Aufsicht des "Judenrates " durchführen musste, 6000 Juden zu einem an einer Bahnlinie gelegenen Platz bringen, dem Umschlagplatz. Von dort fuhren die Züge in Richtung Osten ab. Aber noch wusste niemand, wohin die Transporte gingen, was den "Umsiedlern" bevorstand.

Im letzten Abschnitt der "Eröffnungen und Auflagen" wurde mitgeteilt, was jenen drohte, die etwa versuchen sollten, "die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören". Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: "… wird erschossen".

Wenige Augenblicke später verließen die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus. Kaum waren sie verschwunden, da verwandelte sich die tödliche Stille nahezu blitzartig in Lärm und Tumult: Noch kannten die vielen Angestellten des "Judenrates" und die zahlreichen wartenden Bittsteller die neuen Anordnungen nicht. Doch schien es, als wüssten oder spürten sie schon, was sich eben ereignet hatte – dass über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil.

Ich begab mich schleunigst in mein Büro, denn ein Teil der von Höfle diktierten "Eröffnungen und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 268

Auflagen" sollte innerhalb von wenigen Stunden im ganzen Getto plakatiert werden. Ich musste mich sofort um die polnische Übersetzung kümmern. Langsam diktierte ich den deutschen Text, den meine Mitarbeiterin Gustawa Jarecka sofort polnisch in die Maschine schrieb.

Ihr also, Gustawa Jarecka, diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte.

Als ich bei der Aufzählung der Personengruppen angelangt war, die von der "Umsiedlung " ausgenommen sein sollten, und dann der Satz folgte, dass sich diese Regelung auch auf die Ehefrauen beziehe, unterbrach Gustawa das Tippen des polnischen Textes und sagte, ohne von der Maschine aufzusehen, schnell und leise: "Du solltest Tosia noch heute heiraten."

Sofort nach diesem Diktat schickte ich einen Boten zu Tosia: Ich bat sie, gleich zu mir zu kommen und ihr Geburtszeugnis mitzubringen. Sie kam auch sofort und war ziemlich aufgeregt, denn die Panik in den Straßen wirkte ansteckend. Ich ging mit ihr schnell ins Erdgeschoss, wo in der Historischen Abteilung des "Judenrates" ein Theologe arbeitete, mit dem ich die Sache schon besprochen hatte. Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur mäßig überrascht und nickte zustimmend.

Der Theologe, der berechtigt war, die Pflichten eines Rabbiners auszuüben, machte keine Schwierigkeiten, zwei Beamte, die im benachbarten Zimmer tätig waren, fungierten als Zeugen, die Zeremonie dauerte nur kurz, und bald hatten wir eine Bescheinigung in Händen, der zufolge wir bereits am 7. März getraut worden waren. Ob ich in der Eile und Aufregung Tosia geküsst habe, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, welches Gefühl uns überkam: Angst – Angst vor dem, was sich in den nächsten Tagen ereignen werde. Und ich kann mich noch an das Shakespeare-Wort erinnern, das mir damals einfiel: "Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?"

Am selben Tag, am 22. Juli, habe ich Adam Czerniaków zum letzten Mal gesehen: Ich war in sein Arbeitszimmer gekommen, um ihm den polnischen Text der Bekanntmachung vorzulegen, die im Sinne der deutschen Anordnung die Bevölkerung des Gettos über die vor wenigen Stunden begonnene " Umsiedlung" informieren sollte. Auch jetzt war er ernst und beherrscht wie immer.

Nachdem er den Text überflogen hatte, tat er etwas ganz Ungewöhnliches: Er korrigierte die Unterschrift. Wie üblich hatte sie gelautet: "Der Obmann des Judenrates in Warschau – Dipl. Ing. A. Czerniaków". Er strich sie durch und schrieb stattdessen: "Der Judenrat in Warschau". Er wollte nicht allein die Verantwortung für das auf dem Plakat übermittelte Todesurteil tragen.

Schon am ersten Tag der "Umsiedlung" war es für Czerniaków klar, dass er buchstäblich nichts mehr zu sagen hatte. In den frühen Nachmittagsstunden sah man, dass die Miliz, so eifrig sie sich darum bemühte, nicht imstande war, die von der SS für diesen Tag geforderte Zahl von Juden zum " Umschlagplatz" zu bringen. Daher drangen ins Getto schwerbewaffnete Kampfgruppen in SS- Uniformen – keine Deutschen, vielmehr Letten, Litauer und Ukrainer. Sie eröffneten sogleich das Feuer aus Maschinengewehren und trieben ausnahmslos alle Bewohner der in der Nähe des " Umschlagplatzes" gelegenen Mietskasernen zusammen.

In den späteren Nachmittagsstunden des 23. Juli war die Zahl der für diesen Tag vom Stab "Einsatz Reinhard" für den "Umschlagplatz" angeforderten 6000 Juden erreicht. Gleichwohl erschienen kurz nach 18 Uhr im Haus des "Judenrates" zwei Offiziere von diesem "Einsatz Reinhard". Sie wollten Czerniaków sprechen. Er war nicht anwesend, er war schon in seiner Wohnung. Enttäuscht schlugen sie den diensttuenden Angestellten des "Judenrates" mit einer Reitpeitsche, die sie stets zur Hand hatten. Sie brüllten, der Obmann habe sofort zu kommen. Czerniaków war bald zur Stelle.

Das Gespräch mit den beiden SS-Offizieren war kurz, es dauerte nur einige Minuten. Sein Inhalt ist einer Notiz zu entnehmen, die auf Czerniakóws Schreibtisch gefunden wurde: Die SS verlangte von ihm, dass die Zahl der zum "Umschlagplatz" zu bringenden Juden für den nächsten Tag auf 10000

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 269 erhöht werde – und dann auf 7000 täglich. Es handelte sich hierbei keineswegs um willkürlich genannte Ziffern. Vielmehr hingen sie allem Anschein nach von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons ab; sie sollten unbedingt ganz gefüllt werden.

Kurz nachdem die beiden SS-Offiziere sein Zimmer verlassen hatten, rief Czerniaków eine Bürodienerin: Er bat sie, ihm ein Glas Wasser zu bringen.

Wenig später hörte der Kassierer des "Judenrates", der sich zufällig in der Nähe von Czerniakóws Amtszimmer aufhielt, dass dort wiederholt das Telefon läutete und niemand den Hörer abnahm. Er öffnete die Tür und sah die Leiche des Obmanns des "Judenrates" in Warschau. Auf seinem Schreibtisch standen: ein leeres Zyankali-Fläschchen und ein halbvolles Glas Wasser.

Auf dem Tisch fanden sich auch zwei kurze Briefe. Der eine, für Czerniakóws Frau bestimmt, lautet: " Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben." Der andere Brief ist an den Judenrat in Warschau gerichtet. In ihm heißt es: "Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet dies nicht als einen Akt der Feigheit oder eine Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht ertragen. Meine Tat wird alle die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des Handelns bringen …".

Von Czerniakóws Selbstmord erfuhr das Getto am nächsten Tag – schon am frühen Morgen. Alle waren erschüttert, auch seine Kritiker, seine Gegner und Feinde. Man verstand seine Tat, wie sie von ihm gemeint war: als Zeichen, als Signal, dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei.

Still und schlicht war er abgetreten. Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen, weigerte er sich, ihr Werkzeug zu sein. Er war ein Mann mit Grundsätzen, ein Intellektueller, der an hohe Ideale glaubte. Diesen Grundsätzen und Idealen wollte er auch noch in unmenschlicher Zeit und unter kaum vorstellbaren Umständen treu bleiben.

Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die "Umsiedlung" der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.

Ungekürzte Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2012, wie abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Januar 2012, S. 29.

Aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 32–34/2012)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 270

Selbstbehauptung und Gegenwehr von Verfolgten

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 10.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Trotz der Todesgefahr oder Todesgewissheit leisteten selbst KZ-Häftlinge Widerstand: Sie wahrten die eigenen religiösen Feiertage, verbargen andere Häftlinge oder versuchten Nachrichten aus den Lagern zu schmuggeln. 1943 kam es im Warschauer Ghetto sogar zu einem bewaffneten Aufstand.

Einleitung

Auch die Menschen, die wegen ihrer religiösen Überzeugung oder wegen ihrer Abstammung verfolgt waren, die in der Illegalität leben mußten oder in Haftanstalten und Konzentrationslagern verschleppt waren, haben Widerstand geleistet. Für Juden und Zeugen Jehovas, Sinti und Roma und andere gejagte Minderheiten bedeuteten "Widerstand" etwas anderes als für konservative Beamte und adelige Offiziere, die nicht von vornherein als Gruppe bedroht waren. Selbstbehauptung und Solidarität waren in der Situation der Verfolgten schon Leistungen des Widerstandes gegen ein System, das erst Selbstbewußtsein und Kameradschaft seiner Gegner zerstörte, um sie schließlich physisch zu vernichten.

Wer im Konzentrationslager saß, hatte wenig Möglichkeit, die Nationalsozialisten an der Ausübung und Ausbreitung ihrer Macht zu hindern. Die Zwangsarbeiter im Konzentrationslager konnten allenfalls - unter großer Lebensgefahr - die Rüstungsfabrikation durch Sabotage und Produktionsverzögerungen ein wenig stören. Durch kulturelle Aktivitäten wie Theaterspielen, Vorträge oder Musizieren konnten Häftlinge ihre Selbstachtung bewahren, durch heimliche Gottesdienste die Moral stärken, durch den Austausch von Informationen den Durchhaltewillen am Leben erhalten. Dazu dienten, immer unter Anführung der aus politischen und religiösen Gründen Inhaftierten, Veranstaltungen in den Lagern, die von der SS genehmigt waren. Es kam darauf an, nicht merken zu lassen, daß mit den klassischen Theaterstükken Botschaften vermittelt wurden, die nur die Häftlinge verstanden und ermutigten.

In fast allen Konzentrationslagern gab es irgendwo ein verborgenes Radio, mit dem Nachrichten aus der Außenwelt aufgefangen wurden. Es gab geheime Informationsnetze von Häftlingen, die sich für den Tag der Befreiung vorbereiteten und deshalb, wie in Dachau, Buchenwald und Mauthausen, unmittelbar nach der Flucht der SS die Organisation des Lagers in die Hand nehmen konnten. Am Anfang stand immer die Solidarität mit schwächeren Mitgefangenen: ein Stück Brot, ein organisiertes Kleidungsstück oder ein Versteck im Krankenbau halfen dem bedürftigen Häftling nicht nur unmittelbar, sondern stärkte auch seinen Durchhaltewillen und zeigte ihm, daß die SS nicht allmächtig war. Die " Funktionshäftlinge" in der Lagerschreibstube, die "Kapos" (Häftlinge, die den Befehl über die Arbeitskommandos hatten) konnten, wenn sie sich nicht von der SS korrumpieren ließen, für die Organisation von Widerstand im Lager hilfreich sein. Rückschläge waren unvermeidlich. Im KZ Sachsenhausen wurde eine Hilfsaktion im Lager verraten. 27 Häftlinge wurden erschossen.

Aufstände in Konzentrationslagern waren wegen der scharfen Bewachung und wegen des von Entkräftung, Hunger und Krankheit bestimmten physischen Zustands der Häftlinge kaum denkbar. Trotzdem hat es im Warschauer Ghetto 1943 einen fast vierwöchigen Aufstand, im August 1943 im

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 271

Ghetto Bialystok und im Vernichtungslager Treblinka Revolten gegeben, eine weitere im Oktober 1943 in Sobibor. Sie wurden rasch niedergeschlagen, immerhin glückte einigen wenigen dabei die Flucht. In Auschwitz existierte seit 1943 eine "Kampfgruppe Auschwitz", die Verbindung zu polnischen Widerstandskämpfern außerhalb des Lagers hatte und die Flucht einzelner Häftlinge organisieren sowie Nachrichten und Medikamente ins KZ einschmuggeln konnte. Der bewaffnete Aufstand des " " der Häftlinge, die an den Krematorien arbeiteten, wurde rasch niedergeschlagen und hatte den Tod aller zur Folge. Zum Widerstand im KZ gehörten auch die Versuche, Nachrichten aus dem Lager über die Verwirklichung des Völkermords hinauszuschmuggeln, um die Weltöffentlichkeit aufzurütteln. In Auschwitz gelang dies im Sommer 1944 mit Hilfe der polnischen Widerstandsbewegung.

Alltägliches Widerstehen

Das alltägliche Widerstehen im KZ, die Behauptung von Humanität und Menschenwürde, hat nicht nur Leben gerettet, sondern auch dem psychologischen Vernichtungswillen des Nationalsozialismus Grenzen gesetzt. Werner Krumme in Auschwitz und Karl Wagner in Dachau sind dafür zwei Beispiele.

Werner Krumme war nach Auschwitz eingeliefert worden, weil er sich von seiner jüdischen Frau nicht trennen wollte. Das Ehepaar wurde 1942 von der Gestapo verhaftet, weil es vergeblich versucht hatte, zwei jüdischen Mädchen aus Breslau zur Flucht zu verhelfen. Ruth Krumme wurde bald nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau ermordet. Werner Krumme wurde Funktionshäftling beim "SS- Arbeitsdienstführer" im Stammlager Auschwitz. Dort hatte er die Möglichkeit, Häftlinge für bestimmte Arbeitskommandos auszusuchen. Eine solche Funktion konnte lebensrettend sein, nicht nur wegen möglicher Verbesserungen der Essensrationen; die Überlebenschancen waren für Facharbeiter größer. Werner Krumme gehörte zu denen, die ihre Stellung nutzten, um anderen zu helfen. Ihre Zahl ist unbekannt, sie gab es in allen Lagern, ihnen verdanken weniger Privilegierte ihr Leben.

Die Solidarität mit Mithäftlingen war im Rahmen der geringen Möglichkeiten der Verfolgten ein Akt bewußten Widerstehens. Werner Krumme erinnert sich stellvertretend für viele: "Es gab in Auschwitz in meiner Position viele Möglichkeiten zu helfen und den Mithäftlingen Chancen zu bieten, das Lager doch noch zu überleben. Natürlich war es immer nur eine begrenzte Anzahl von Menschen, auf die sich meine Hilfeleistungen erstrecken konnten. Das System an sich konnte ich nicht ändern. Ich konnte es nur im Rahmen meiner Möglichkeiten an einigen Stellen unterhöhlen."

Der Stuttgarter Arbeitersohn Karl Wagner (1909-1983) hatte sich als überzeugter Gegner der Nationalsozialisten der KPD angeschlossen. Nach mehrfacher Verhaftung wurde er kurz vor Weihnachten 1936 in das KZ Dachau eingeliefert. Wagner kam zunächst in die Strafkompanie, bemühte sich dann erfolgreich um eine Funktion in der "Häftlingsselbstverwaltung". So nannte die SS ihr System, KZ- Häftlinge als Hilfskräfte im Lageralltag zu verwenden. Die Arbeitskommandos wurden (unter Befehl und Aufsicht der SS) von "Kapos" geführt. Wagner war zunächst "Baukapo" und stieg auf bis zum " Lagerkapo". Er erstrebte und nützte das "Amt", um Mithäftlingen zu helfen. Im April 1943 wurde Wagner Lagerältester (das war die höchste Häftlingsfunktion) im Außenlager . Im Juli desselben Jahres demonstrierte er in einem beispiellosen Akt des Widerstandes Solidarität mit den Mitgefangenen. Sein Verhalten stärkte ebenso das Selbstbewußtsein der Häftlinge, wie es die Autorität des SS-Personals untergrub. Der Lagerführer, SS-Untersturmführer Jarolin, hatte nach Feierabend alle Arbeitskommmandos auf dem Appellplatz versammelt. Ein sowjetischer Gefangener sollte ausgepeitscht werden. Jarolin hatte, um das Selbstwertgefühl der Häftlinge zu zerstören, den Lagerältesten Karl Wagner ausersehen, die Prügelstrafe zu vollziehen.

Wagner berichtet über seine Reaktion: "Jarolin gab mir den Befehl: 'Schlagen!' Ich antwortete: 'Ich schlage nicht!' Jarolin: 'Warum schlägst Du nicht?' Meine Antwort: 'Ich kann nicht schlagen!' Nun probierte es Jarolin mit dem Zuckerbrot: 'Versuch's,' befahl er. Meine Antwort: 'Ich schlage nicht!'' Jetzt spielte Jarolin den wilden Mann, zog die Pistole und brüllte: 'Du Kommunistenschwein, das habe ich doch gewußt!' In diesem Moment rechnete ich damit, abgeknallt zu werden. Ich riß meine

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 272

Lagerältestenbinde vom Arm und warf sie auf den Bock. Jarolin aber drückte nicht ab, er gab lediglich den Befehl, mich abzuführen. Ich wurde in den Arrestbau gebracht. Fünf Tage lang saß ich im Allacher Bunker. Danach wurde ich nach Dachau gebracht und mit sechs Wochen Dunkelarrest bestraft. Anschließend erhielt ich 25 Stockhiebe."

Im KZ ist auch ein Programm zur demokratischen Neugestaltung Deutschlands nach Hitler entstanden. Das "Buchenwalder Manifest", niedergeschrieben im April 1945, war hervorgegangen aus Diskussionen politischer Häftlinge sozialistischer, kommunistischer und christlicher Gesinnung im KZ Buchenwald, unter ihnen der Sozialdemokrat Hermann Brill und der spätere hessische CDU- Vorsitzende Werner Hilpert.

Widerstand durch Solidarität leisteten auch Gruppen junger Menschen im Untergrund und in der Illegalität, wie in Berlin der Chug Chaluzi (Kreis der Pioniere) bestehend aus elf jungen Juden, die sich Ende Februar 1943 um den Lehrer Jizchak Schwersenz und um Edith Wolf geschart hatten. Sie wollten sich vor der Deportation retten und hofften auf ein Leben in Palästina nach der NS-Zeit.

Kontakt bestand über Edith Wolf zu einer anderen Gruppe - ebenfalls in Berlin - um Franz Kaufmann, der als getaufter Jude seine Stellung als Beamter verloren hatte. Er war mit einer Nichtjüdin verheiratet und in der Bekennenden Kirche engagiert. Seit Herbst 1941 bemühte er sich, die Deportation von Juden zu verhindern, indem er ihnen Arbeitsplätze, gefälschte Papiere, Lebensmittel verschaffte, was ihnen die Existenz in der Illegalität ermöglichte. Durch Denunziation wurde die Kaufmann-Gruppe im August 1943 entdeckt und mehr als 50 Personen verhaftet. Die jüdischen Mitglieder kamen ins KZ, andere wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt, Franz Kaufmann wurde im Februar 1944 im KZ Sachsenhausen ermordet.

Aus dem gleichen Grund hatte sich im Herbst 1943 eine Gruppe von Juden und Nichtjuden in der Umgebung Berlins zusammengefunden, die bis Oktober 1944 aktiv war. Hans Winkler, Justizangestellter in Luckenwalde und sein jüdischer Freund, der Elektrotechniker Werner Scharff, wollten sich aber noch stärker engagieren als "nur" durch die Hilfe für Juden. Sie gründeten die " Gemeinschaft für Frieden und Aufbau", die etwa 30 Mitglieder hatte. Sie verbreitete u. a. drei Flugblätter (in Form von Kettenbriefen) in einer Größenordnung von insgesamt 3500 Stück, in denen die Bevölkerung gegen den Krieg aufgerufen wurde. 1944 wurden die meisten Mitglieder der Gruppe verhaftet. Werner Scharff wurde im März 1945 erschossen; die meisten nichtjüdischen Angehörigen überlebten in Haft.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Selbstbehauptung und Gegenwehr von Verfolgten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 273

Jugend- und Studentenopposition

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 9.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Jugendlicher Widerstand kam vor allem aus kirchlichen oder politischen Gruppen. Die katholischen oder kommunistischen Jugendverbände wehrten sich gegen ihre Zwangsauflösung in der Hitlerjugend. Nicht so in der Studentenschaft: Widerstandsgruppen wie die "Weiße Rose" in München waren hier die Ausnahme.

Einleitung

Nach der Machtübernahme der NSDAP wurde die Hitlerjugend (HJ), unter deren Dach auch der Bund Deutscher Mädel (BDM) organisiert war, zum alleinigen Staatsjugendverband ausgebaut. Dazu mußten zunächst alle anderen Jugendverbände, von den Pfadfindern und der Sozialistischen Arbeiterjugend über die Bündischen Organisationen in der Tradition des "Wandervogel" bis zu Sportverbänden und christlichen Jugendbünden (wie z. B. "Neudeutschland"), verboten, aufgelöst und "gleichgeschaltet" werden. Das bedeutete, die Jugendlichen wurden zum Übertritt gezwungen. Dies erfolgte bis Sommer 1933, zum Teil gegen heftiges Widerstreben der Betroffenen. Aus den Reihen der katholischen Jugendverbände (etwa 1,5 Millionen Mitglieder) war der nachdrücklichste Protest zu vernehmen.

Der kommunistische Jugendverband mit 55000 Mitgliedern (1932) leistete analog der Taktik der KPD politisch motivierten Widerstand. So erschienen in Berlin und Essen kommunistische Jugendliche, die als erste in die Illegalität gedrängt waren, auf öffentlichen Plätzen zu "Blitzdemonstrationen". Sie warfen Flugblätter von Dächern in belebte Einkaufsstraßen, malten nachts antinationalsozialistische Parolen an Wände. Überzeugt von der Überlegenheit der eigenen Ideologie, getrieben von einer offensiv taktierenden Parteileitung und von jugendlichem Heroismus, wollten die Jungkommunisten demonstrieren, daß sie sich nicht unterkriegen lassen wollten. Die Verluste waren beträchtlich. Die Gestapo brauchte kaum zwei Jahre, um diese Aktionen zu unterbinden. Soweit sie nicht ins Ausland fliehen konnten, kamen die jungen Widerständler in Gefängnis und KZ. Das gleiche galt für Mitglieder sozialistischer Jugendorganisationen, wie die Sozialistische Arbeiterjugend oder die Naturfreunde, soweit sie sich radikalisierten und Widerstand zu leisten versuchten. Die Mehrheit zog sich zurück und beschränkte sich darauf, das politische Milieu unauffällig zu bewahren.

Konfessionelle Selbstbehauptung

Die oppositionelle Haltung der konfessionellen Jugendorganisationen entsprang dem Willen zur Selbstbehauptung. Die 400000 Mitglieder des Katholischen Jungmännerverbandes hatten sich zwar im März 1933 demonstrativ für die Zentrumspartei und gegen die NSDAP engagiert. Weiteren politischen Bekenntnissen dieser Art war durch den Vertrag zwischen der Katholischen Kirche und dem Deutschen Reich (Konkordat vom 20. Juli 1933) der Boden entzogen. Immerhin blieben die katholischen Vereine und Verbände von der Auflösung verschont. In der Praxis wurden allerdings die Bestimmungen, daß sie nur rein religiösen, kulturellen und karitativen Zwecken dienen dürften, immer enger und schikanöser ausgelegt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 274

Die Behinderungen der kirchlichen Jugendarbeit und des Gruppenlebens stärkten den Selbstbehauptungswillen der jungen Katholiken. Es kam häufig zu Zusammenstößen zwischen katholischen Jugendlichen und der HJ. Kirchliche Proteste gegen die Übergriffe wurden regelmäßig erhoben, blieben aber wirkungslos. Ab Juli 1935 waren alle nicht-religiösen und nicht-kirchlichen Aktivitäten verboten. Oppositionelle Haltung demonstrierten viele durch die Teilnahme an religiösen Anlässen wie Fronleichnamsprozessionen, Festgottesdiensten oder Wallfahrten. Ostern 1935 brachen die Katholischen Sturmscharen mit 50 Omnibussen zu einer Wallfahrt nach Rom auf. Ihr Erscheinen auf dem Petersplatz zur Papstaudienz war eine regimekritische Demonstration.

Die HJ hatte ab Ende 1936 endgültig die Stellung einer Staatsjugendorganisation mit dem Zweck, die gesamte Erziehung der Jugend außerhalb des (und im Zweifelsfall gegen) Elternhauses und der Schule zu lenken. Im Frühjahr 1939 wurde der Zwangscharakter der HJ durch die Einführung einer " Jugenddienstpflicht" noch deutlicher. Die Teilnahme an den Veranstaltungen der HJ konnte durch die Polizei erzwungen werden. Das galt für die gesamte deutsche Jugend zwischen 10 und 18 Jahren, Jungen wie Mädchen. Neben Geländespielen und Sport stand vor allem "Weltanschauliche Schulung " auf dem Dienstplan der HJ; militärischer Drill, Befehl und Gehorsam bildeten Rahmen wie Inhalt des Dienstes.

Für viele Jugendliche war das Grund genug zur stillen Verweigerung bis zur offenen Auflehnung gegen das totale Erfaßtwerden durch den Staat. Die Formen des Jugendprotestes waren so vielfältig wie die Anlässe und Motive. Wenn sich Berliner sozialdemokratische Jugendliche aus dem verbotenen Sozialistischen Jugendverband (SJV) als "Freie Faltbootfahrer" neu gruppierten, so wollten sie damit auch ihre politische Tradition in Opposition zum Regime fortsetzen. Wenn der Leiter der evangelischen Schülerbibelkreise Udo Schmidt 1934 die Selbstauflösung des Bundes durchführte, so tat er es mit dem Auftrag an die jungen Christen, "daß Ihr in Schule und Elternhaus den heimlichen Kampf um Wahrheit und Reinheit zu kämpfen habt". Andere blieben ihren Pfadfinderidealen treu oder versuchten im Freundeskreis Ideen und Formen der bündischen Jugendbewegung - jugendgemäße Lebensform, Kritik der Erwachsenenwelt, Unabhängigkeit in Kleidung und Freizeitverhalten - zu bewahren. Das alles brachte die Jugendlichen in Gegensatz zur offiziellen HJ, dem autoritären und militant- bürokratischen Werkzeug des NS-Staats.

So vielfältig die Formen des Jugendprotestes waren, so wenig lassen sich Zahlen nennen. Aus Gestapoberichten geht allerdings hervor, daß die Opposition von Jugendlichen - durch Verweigerung oder durch Auflehnung bis hin zu Widerstandsformen, in denen mit Flugblättern oder Wandparolen der Sturz des Regimes verlangt wurde - insgesamt eine beträchtliche Größenordnung hatte.

Verweigerung und Auflehnung

Drei Grundformen und zwei zeitliche Phasen (die erste 1933 bis 1939, die zweite in den Kriegsjahren) sind zu unterscheiden. Es gab erstens Gruppen, die unter politischen, religiösen oder anderen weltanschaulichen Vorzeichen schon vor 1933 existiert hatten und die versuchten, ihre Traditionen im NS-Staat weiterzuleben. Es entstanden zweitens neue Gruppierungen, deren Motiv die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bildete. Dazu gehörte z. B. der Freundeskreis um Walter Klingenbeck, eine Gruppe katholischer Jugendlicher in München, die 1941/42 mit selbstgebauten Rundfunksendern regimefeindliche Nachrichten verbreitete und zum Kampf gegen Hitler aufrief. Klingenbeck wurde im August 1943 von der NS-Justiz hingerichtet, zwei Freunde wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt. Eine andere Gruppe scharte sich um Hanno Günther in Berlin; die Mitglieder kamen aus der Rütli-Schule in Neukölln und verteilten ab 1939 Zettel und selbstgefertigte Flugschriften gegen den Krieg und den NS-Staat. Wieder andere junge Menschen machten das gleiche in Hamburg. Sie bildeten den Freundeskreis von Helmuth Hübener und gehörten der Religionsgemeinschaft der Mormonen an.

Drittens bildeten sich, vor allem in den Kriegsjahren, an vielen Orten Cliquen und Banden, deren Opposition zunächst in der Ablehnung der HJ bestand. Sie wurden bekannt unter Namen wie " Edelweißpiraten", "Swing-Jugend", "Meuten". Durch ihre bloße Existenz bereiteten sie den Behörden

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 275 viel Verdruß. Im Herbst 1944 gab der "Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei", Heinrich Himmler, einen Erlaß heraus, in dem es hieß: "In allen Teilen des Reiches, insbesondere in größeren Städten haben sich seit einigen Jahren - und in letzter Zeit in verstärktem Maße - Zusammenschlüsse Jugendlicher (Cliquen) gebildet. Diese zeigen z. T. kriminell-asoziale oder politisch-oppositionelle Bestrebungen und bedürfen deshalb, vor allem in Hinblick auf die kriegsbedingte Abwesenheit vieler Väter, Hitler-Jugend-Führer und Erzieher, einer verstärkten Überwachung."

Der pauschale Vorwurf "asozialen Verhaltens" war im NS-Staat gegen unangepaßte Personen und Gruppen schnell zur Hand. Er brauchte auch nicht bewiesen zu werden, wenn man als "Asozialer" ins KZ eingeliefert wurde. Bei den einige tausend Jugendliche umfassenden Gruppen, die unter dem Sammelnamen "Edelweißpiraten" verfolgt wurden, waren die Grenzen zwischen provokativ zur Schau getragenem selbstbestimmten Jugendleben ("Herumlungern", Ablehnung bürgerlicher Ordnungsvorstellungen) und tatsächlicher Kriminalität fließend. Außer wegen Prügeleien mit HJ-Streifen wurden " Edelweißpiraten" auch wegen strafrechtlicher Delikte wie Schwarzhandel oder Einbruch verurteilt. Entwurzelung und Großstadtkriminalität unter extremen Lebensumständen am Ende des Krieges waren in der Regel stärkere Bewegkräfte als politische Motive. Die Verfolgung jugendlicher Cliquen förderte wiederum deren Abneigung gegen den Staat. So mischten sich auch die Beweggründe im berühmtesten Fall: In Köln Ehrenfeld versuchten Jugendliche nach einer Reihe von Gewalttaten das Gestapo-Gebäude in die Luft zu sprengen. Nach einer anschließenden Schießerei wurden die Mitglieder einer Gruppe von "Edelweißpiraten" ohne Gerichtsurteil öffentlich erhängt.

Im Rheinland und im Ruhrgebiet, namentlich in Großstädten wie Köln, Düsseldorf und Essen, gab es etliche dieser nach ihrem Erkennungszeichen "Edelweißpiraten" genannten Jugendliche. Sie demonstrierten in Auftreten und Kleidung einen Lebensstil, der mit bündischen und proletarischen Elementen deutlich von der Staatslinie abwich. Ähnliches nonkonformes Verhalten zeigten "die Schlurfs " in Wien und Gruppen in anderen Regionen, wie in Sachsen oder in Frankfurt am Main. Ebenso der oppositionellen jugendlichen Subkultur zuzurechnen sind die Leipziger oder Erfurter "Meuten", die " Proletengefolgschaften" in Halle und andere Gruppen. Gemeinsam war ihnen die Herkunft aus dem Arbeitermilieu.

Aus anderer Wurzel, nämlich der großstädtisch-bürgerlichen Kultur, entstand etwa ab 1939 eine eigene jugendliche Subkultur, die "Swing-Jugend" mit Schwerpunkt in Hamburg. Durch betont lässiges Auftreten, langes Haar und unmilitärische Kleidung, durch forciert angelsächsisches Gehabe und die Bevorzugung ausländischer, in Deutschland verpönter Musikstile (Swing und Jazz), provozierten diese Jugendlichen die NS-Behörden. Die Reaktion war Verfolgung und Einweisung von "Swing- Jugendlichen" ins KZ. Ohne daß eine ausdrückliche politische Betätigung vorlag, betrachtete das Regime diese Art der Verweigerung als Widerstand und reagierte entsprechend.

Aus der Ablehnung der Staatsjugend entstand (insbesondere nach staatlichen Repressalien) vielfach grundsätzliche Opposition gegen den NS-Staat. Die Jugendlichen wollten sich der Bevormundung und Indoktrination durch die Nationalsozialisten entziehen, ohne daß sie deshalb politische Konzepte entwickelten. Viele wollten einfach ihre oppositionelle Haltung zur Schau tragen. Unter den Historikern ist umstritten, ob sie zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu rechnen sind.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 276 Anpassung und Protest von Studenten

Als Widerstand der jungen Generation wurde nach 1945 lange Zeit fast ausschließlich das Engagement der Studenten der Weißen Rose in München oder der Kampf der jungen Arbeiter um Herbert Baum in Berlin wahrgenommen. Beide Gruppen gehörten, weil es sich um junge Erwachsene handelte, wohl weniger zum Jugendprotest. Beide Gruppen hatten weit über die Verweigerung hinausgehende politische Absichten.

An den Universitäten gab es nur wenig Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Studentenschaft hatte die Hitler-Bewegung weithin begeistert begrüßt und ihr schon vor 1933 die Wege in den Universitäten geebnet. Gegen die Reglementierung des studentischen Lebens und die weltanschauliche Schulung äußerten später dann viele Widerwillen, der aber nicht grundsätzliche Ablehnung des NS-Staats bedeutete. Neben individueller Verweigerung aus ethischen Gründen gab es eine andere Form der Abwehr. Sie nährte sich aus Gefühlen der Überlegenheit sowohl im gesellschaftlichen als auch im Bildungsbereich und drückte sich in Kritik am proletenhaften Auftreten der NS-Führer und in der Ablehnung des gleichmacherischen Anspruchs der Volksgemeinschafts- Ideologie aus. Man hielt die Nazis für primitiv und blieb unter sich, ohne diese sozial motivierte oppositionelle Haltung nach außen zu demonstrieren.

Grundsätzliche, weltanschaulich oder politisch begründete Ablehnung zeigten in den Jahren 1933 bis 1939 christlich engagierte (insbesondere in den theologischen Fakultäten) und linke Studenten, die bis 1933 in Organisationen der KPD oder in sozialistischen Vereinigungen agiert hatten ("Rote Studentengruppen"). Weitgehend isoliert und zahlenmäßig äußerst gering waren die "Zellen" eher Diskussionszirkel, die von vornherein auf oppositionelle Aktivitäten verzichteten. Der Medizinstudent Wolf Zuelzer war im Frühjahr 1933 kurze Zeit Mitglied einer solchen Gruppe in Berlin: "Wir waren zu fünft, kannten einander nur beim Vornamen und trafen uns in abgelegenen Stadtteilen. Aber statt praktische Möglichkeiten aktiven Widerstands zu besprechen, drehte sich die Diskussion um marxistische Dialektik: War der Nationalsozialismus eine notwendige Phase der Weltgeschichte? War es richtig gewesen, daß die Kommunisten den Nazis im Reichstag Hilfestellung geleistet hatten bei der Zerstörung der Weimarer Republik? War das kapitalistische System am Ende seiner Kräfte?... und so weiter. Für derlei Spekulationen wollte ich meine Haut nicht zu Markte tragen. Nach etwa drei Monaten trat ich aus."

Versuche, organisierten Widerstand zu leisten - durch Verteilung von Flugblättern vor allem -, gab es an wenigen Hochschulen, z. B. in Berlin, Hamburg, Marburg und Leipzig. Zu den spektakulären Aktionen gehörte die Papierbombe, die am 1. August 1934 im Lesesaal der Berliner Universitätsbibliothek explodierte und kleine Zettel mit der Botschaft "Brandstifter am Werk" streute. Solche Manifestationen dienten allerdings mehr der Selbstbetätigung als der Werbung von Regimegegnern. Immerhin machten solche Aktionen die Behörden so nervös, daß die Fahndung nach den Regimegegnern mit äußerster Kraft und entsprechendem Erfolg betrieben wurde.

Die Weiße Rose

Im Zweiten Weltkrieg regte sich ebenfalls studentischer Protest. Es waren andere Motive als in den Jahren bis 1939 und auch eine andere Studentengeneration, die den Protest formulierte. Die wichtigste Widerstandsgruppe, die am meisten beachtet wurde, war die Weiße Rose in München. Den Kern dieser Gruppe bildeten fünf Studenten, zwischen 21 und 25 Jahren alt: Hans und Sophie Scholl, Willi Graf, Christoph Probst und Alexander Schmorell. Ihr Mentor war Professor Kurt Huber, der schon vorher mit den Nationalsozialisten in Konflikt geraten war. Zur Weißen Rose gehörten noch etwa ein Dutzend Studenten, Intellektuelle, Künstler, es war ein nicht organisierter Freundeskreis.

Im Juni und Juli 1942 tauchten in München insgesamt vier Flugblätter auf, verfaßt im wesentlichen von den beiden Medizinstudenten Hans Scholl und Alexander Schmorell. Diese Flugblätter richteten sich an das gebildete Bürgertum, aus dem die Verfasser stammten. In pathetischer Sprache, mit vielen Zitaten aus der klassischen Literatur und christlich-moralischen Appellen wurde zum passiven

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 277

Widerstand gegen den verbrecherischen Krieg des Hitler-Regimes aufgerufen. Die christlich-humane Prägung der Studenten aus konservativem Elternhaus war unverkennbar. Ebenso der aus der bündischen Jugendbewegung stammende moralische Rigorismus. Ihr Idealismus und ihr unbedingtes Bekenntnis zur Humanität machten den Widerstand der Münchner Studenten überzeugend. Gespräche mit den katholischen Publizisten Carl Muth und Theodor Haecker und vor allem der Einfluß ihres akademischen Lehrers, Professor Kurt Huber, legten den Grund für die oppositionelle Haltung der Studenten. Kriegsdienst in einer Studentenkompanie an der Ostfront führten Willi Graf, Alexander Schmorell und Hans Scholl im Sommer 1942 die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges vor Augen und bestärkten sie in der Absicht, nach ihrer Rückkehr im November 1942 Widerstand durch politische Aufklärung der Öffentlichkeit zu leisten.

Die beiden letzten Flugblätter der Weißen Rose unterschieden sich stilistisch und im Inhalt deutlich von den schöngeistigen und literarischen ersten vier Botschaften. Präzise und politisch unmißverständlich verwiesen die Verfasser im Januar und im Februar 1943 auf die aussichtlose Kriegslage nach der Katastrophe von Stalingrad und riefen zum aktiven Kampf gegen den NS-Staat auf, dessen Verbrechen sie beim Namen nannten.

Beim Verteilen von Flugblättern im Lichthof der Münchener Universität wurden die Geschwister Scholl von einem Hausmeister festgehalten und einer Gestapo-Sonderkommission übergeben. Vier Tage später standen sie zusammen mit Christoph Probst vor dem Volksgerichtshof. Die Todesurteile wurden noch am gleichen Tag vollstreckt. Im April 1943 gab es einen zweiten Prozeß gegen vierzehn weitere Mitglieder der Weißen Rose. Willi Graf, Kurt Huber und Alexander Schmorell wurden zum Tode verurteilt, die anderen zu Haftstrafen.

In etwas anderer Form lebte die Weiße Rose an der Hamburger Universität weiter. Die Medizinstudentin Traute Lafrenz hatte Ende 1942 Flugblätter aus München nach Hamburg mitgebracht. Ihr Schulfreund Heinz Kucharski, Student der Philosophie und Orientalistik, verteilte sie mit Hilfe einer Gruppe oppositioneller Studenten. Die Gestapo kam ihnen Ende 1944 auf die Spur. Am 17. April 1945 standen Mitglieder der Hamburger Weißen Rose vor dem Volksgerichtshof. Heinz Kucharski wurde zum Tode verurteilt, konnte aber auf dem Weg zur Hinrichtung fliehen. Die anderen Mitglieder starben während der Haft entweder im Gefängnis oder im KZ.

Die Herbert-Baum-Gruppe

Von ganz anderer Herkunft waren die Mitglieder des Widerstandskreises, den der gelernte Elektriker Herbert Baum zusammen mit seinem Freund Martin Kochmann (er war gelernter Kaufmann, aber als Arbeiter beschäftigt) und ihren Frauen Sala und Marianne in Berlin um sich geschart hatten. Diese vier führenden Personen kannten sich seit der Schulzeit, sie waren gleichaltrig, 1912 geboren und damit etwas älter als die Studenten der Weißen Rose. Aber die anderen Mitglieder der Herbert-Baum- Gruppe, etwa einhundert Menschen überwiegend jüdischer Herkunft, waren erheblich jünger. Sie kamen meist aus der jüdischen Jugendbewegung. Bemerkenswert war auch, daß in dieser Berliner Widerstandsgruppe des Arbeiter- und Kleinbürgermilieus, die durch ihre ideologische Nähe zu Sozialisten und Kommunisten eine besondere Stellung hatte, der Anteil von Mädchen und Frauen groß war.

Das Ehepaar Baum und die Kochmanns hatten bis 1933 offiziell im kommunistischen Jugendverband Deutschlands gearbeitet. Die illegale Fortsetzung dieser Tätigkeit und ihr Engagement in der jüdischen Jugendbewegung leitete über zu den Widerstandsaktivitäten, die sie mit doppelter Motivation als linke politische Gegner der Nationalsozialisten und als diskriminierte und verfolgte Juden betrieben. Nach außen betätigte sich die Gruppe durch das Malen von regimefeindlichen Parolen, durch Streuzettel und Flugschriften, von denen sich manche an ganz bestimmte Berufsgruppen (z. B. Ärzte) richteten. Innerhalb der Gruppe wurden kulturelle Arbeit und politische Diskussionen gepflegt. Der ganz auf sich gestellte Freundeskreis suchte Verbindung zu anderen oppositionellen Gruppen, blieb aber schon durch die jüdische Identität vieler Mitglieder weitgehend auf sich selbst angewiesen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 278

Mit der Einführung des Judensterns im September 1941 zur öffentlichen Kennzeichnung der Juden veränderte sich für die Herbert-Baum-Gruppe die Situation noch einmal. Zum Kampf gegen den Nationalsozialismus kam die Notwendigkeit, sich auf ein Leben in der Illegalität vorzubereiten, um den Deportationen in die Vernichtungslager zu entgehen. Anfang 1941 hatte sich die Gruppe vergrößert, etwa zehn Jugendliche, die als jüdische Zwangsarbeiter in den Elektromotorenwerken bei Siemens- Schuckert eingesetzt waren, stießen zu Herbert Baum.

Brandanschlag

Höhepunkt und Ende des Widerstandes der Herbert-Baum-Gruppe war ein Brandanschlag auf die von den Nationalsozialisten inszenierte antikommunistische Propagandaausstellung "Das Sowjetparadies". Sie war am 8. Mai 1942 am Berliner Lustgarten eröffnet worden. Zehn Tage später versuchten Herbert Baum und seine Freunde, die Ausstellung, die rassistische, kulturelle und politische Vorurteile zu einem primitiven Bild der Sowjetunion zusammenfügte, in Brand zu setzen. Eine gleichzeitige Flugblattaktion, an der auch Mitglieder anderer Widerstandsgruppen (Rote Kapelle) beteiligt waren, sollte zusammen mit dem Brand ein Zeichen setzen, daß es Widerstand gegen den Nationalsozialismus gab. Auf den Zetteln stand: "Ständige Ausstellung - das NAZI-PARADIES - Krieg. Hunger. Lüge. Gestapo. Wie lange noch?" Der Brand richtete nur geringen Schaden an und war rasch gelöscht, gegen die Täter schlug die Gestapo wenige Tage später zu. Möglicherweise wurden Baum und andere Beteiligte denunziert. In mehreren Prozessen wurden über zwanzig Mitglieder der Gruppe zum Tode verurteilt. Herbert Baum kam nach schweren Folterungen in der Haft ums Leben, wahrscheinlich durch Freitod.

Die Nationalsozialisten hielten die Widerstandsaktionen geheim, was zeigte, wie verunsichert sie dadurch waren. Zu den Wirkungen des Brandanschlags gehörte auch das Gerücht, die Nazis hätten aus Rache spontan fünfhundert Berliner Juden festgenommen und 250 sofort erschossen. Diese Nachricht verbreitete sich auch im Ausland. Damit war, auch wenn es so nicht den Tatsachen entsprach, eine Wirkung erzielt, die von der Baum-Gruppe erhofft war, nämlich die Verbreitung der Kunde, daß es Widerstand in Deutschland gab. Die Ermordung der 250 Juden war eine Repressalie auf das etwa zeitgleiche Attentat gegen Reinhard Heydrich, den Stellvertreter des "Reichsprotektors" in Prag gewesen.

Der Nachruhm der Gruppe Herbert Baum war gering, gemessen an der Anteilnahme, die der akademische Protest der Weißen Rose schon früher gefunden hatte. Die Motive der jungen Arbeiter in Berlin waren jedoch in dem entscheidenden Punkt dieselben wie die der Studenten in München und Hamburg: Es ging ihnen um die Überwindung eines verbrecherischen Systems, das die Welt mit Krieg überzog im Namen einer Ideologie, die Rassenhaß und Herrenmenschentum zum Dogma erhob.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Jugend- und Studentenopposition

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 279

Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 9.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Seit 1934 erlaubte das "Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat und zum Schutz der Parteiuniformen" der NS-Justiz jegliche Systemkritik mit harten Strafen zu ahnden. Dennoch regte sich sowohl ziviler als auch militärischer Widerstand, wovon alleine 35000 Verurteilungen wegen Fahnenflucht während des Krieges zeugen.

Greta Kuckoff (rechts im Bild als Zuschauerin beim Globke-Prozess in der DDR 1963) war während des Nationalsozialismus Mitglied der Widerstandgruppe "Rote Kapelle". Als Gefangene im Zuchthaus Waldheim konnte sie von der Roten Armee befreit werden. 1945 trat sie in die KPD, lebte in der DDR und war Vizepräsidentin des Friedensrates der DDR. Lizenz: cc by-sa/3.0/de (Bundesarchiv, 183-B0708-0014-004, Foto: Brüggmann, Eva; Stöhr)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 280 Einleitung

Die nationalsozialistische Herrschaft gründete sich auf Zustimmung, Verführung und Gewalt, auf völkische Gemeinschaftsideologie, betreuende Gleichmacherei und große außenpolitische Erfolge bis 1940. Die Zustimmung der Bevölkerung wurde zudem durch Propaganda und Inszenierungen des Hitler-Kultes aufrecht-erhalten und immer wieder neu angefacht. Zum Herrschaftssystem gehörte aber auch der Druck der Massenorganisationen auf jeden einzelnen; damit wurde die Illusion der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" erzeugt und am Leben gehalten. Für diejenigen, bei denen diese Mischung aus Propaganda, Lockung und Zwang nicht ausreichte, gab es ein weiteres System von Verboten, Strafen und Terror, das bis zum Ende der NS-Herrschaft immer wieder erweitert wurde. Kritik am Regime, öffentliche Verweigerung und ziviler Ungehorsam waren Straftatbestände, gegen die der NS-Staat mit unerbittlicher Härte vorging. Zu den Instrumenten gehörte das "Heimtückegesetz " vom Dezember 1934 ("Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat und zum Schutz der Parteiuniformen"). Diente gegen politische Gegner die Einweisung ins KZ (wo sie der Willkür der SS preisgegeben waren, ohne daß die Justiz sich darum kümmerte), so war das "Heimtückegesetz " der Maulkorb gegen damals so genannte "Meckerer" und "Miesmacher". Von diesem Gesetz machte die NS-Justiz reichlichen Gebrauch.

Wer sich durch Verstoß gegen diese Gesetze und Verordnungen als Unzufriedener, als Regimekritiker, Oppositioneller oder Widerständler zu erkennen gab, fand sich nicht vor den Schranken der ordentlichen Justiz wieder. Schon im März 1933 waren Sondergerichte eingerichtet worden (als besondere Strafgerichte bei den Oberlandesgerichten), für die die normale Prozeßordnung nicht galt. Es waren auch keine Rechtsmittel zulässig. Die Sondergerichte verurteilten insgesamt etwa 11000 Menschen zum Tode. Auch wenn man berücksichtigt, daß die Sondergerichte ab Herbst 1939 auch für bestimmte Eigentums-, Gewalt- und Wirtschaftsvergehen zuständig waren (sie reichten von Schwarzschlachtung über Lebensmittelkartenbetrug bis zu Diebstahl "unter Ausnutzung des Kriegszustandes"), so übertraf die Zahl der Verurteilungen bei weitem die des berüchtigten " Volksgerichtshofs", der seit 1934 für Hoch- und Landesverrat zuständig war. Die Beschreibung eines Rechtsanwalts aus dem Jahre 1938 traf vollkommen zu: "Seine Aufgabe ist nicht die, Recht zu sprechen, sondern die, die Gegner des Nationalsozialismus zu vernichten." Die insgesamt 5000 Todesurteile des Volksgerichtshofs trafen Widerstand Leistende aus allen Kreisen und Schichten.

Mit Kriegsbeginn wurden Verbote erlassen, die neue Straftatbestände schufen und damit Zehntausende von Deutschen zu "Straftätern" machten. Die "Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen" stellte das Hören ausländischer Rundfunksender unter hohe Strafen, sogar Todesurteile waren möglich. Trotzdem haben während des Krieges etwa zwei Millionen Deutsche mehr oder weniger regelmäßig "Feindsender" gehört, darunter die Ansprachen des Schriftstellers Thomas Mann, in dem er "Deutsche Hörer" beschwor, der Welt ein Zeichen des Widerstandes und damit der Existenz des besseren Deutschlands zu geben. Ab 1939 war auch "" ein Delikt. Bestraft wurden Äußerungen, die geeignet waren, die "Wehrkraft des deutschen Volkes" zu schwächen. Dazu gehörten auch Zweifel am häufig propagierten siegreichen Ausgang des Krieges. Verboten waren persönliche Kontakte mit Kriegsgefangenen und "Fremdarbeitern". Wer also Angehörigen dieser elend behandelten Gruppen von Ausländern Mitleid und Barmherzigkeit erwies, ihnen z. B. Brot schenkte, machte sich strafbar.

Die Handlungsmöglichkeiten der Opposition gegen das Regime ohne das Risiko unverhältnismäßiger Strafen waren im nationalsozialistischen Deutschland also sehr beschränkt. Es blieb die stille Verweigerung, das Festhalten an religiösen oder politischen Überzeugungen, die im geschlossenen Kreis gepflegt wurden. Man konnte seinem Unmut durch Witze über das Regime und die "Bonzen " Luft machen, solange man nicht denunziert wurde. Man konnte statt "Heil Hitler" mit "Grüß Gott " grüßen; das war in katholischen Gegenden beliebt. Dies waren verbreitete Gesten der Abwehr und der Behauptung gegenüber dem Verfügungsanspruch von Staat und NSDAP.

Hilfe und Solidarität für Verfolgte waren dagegen weitaus gefährlicher. Sie wurden trotzdem vielfach geleistet, insbesondere ab 1941, als es darum ging, Juden vor der Deportation und Vernichtung zu

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 281 bewahren. Das konnte durch Hilfe zur Flucht ins Ausland geschehen oder durch die Gewährung von Verstecken, Arbeitsplätzen oder das Beschaffen einer neuen Identität für Untergetauchte, die in die Illegalität geflüchtet waren.

Mindestens 10000 Juden lebten in vielfach bedrohter Existenz im Untergrund, vor allem in Berlin und anderen großen Städten. Das Organisieren von Essen, der Diebstahl von Lebensmittelkarten, der Handel mit gefälschten Dokumenten, das Erschleichen von Bescheinigungen gehörten zum Alltag der Helfer, die damit Widerstand gegen den NS-Staat leisteten. Sie riskierten tagtäglich ihren Kopf, indem sie das rettende Netz für die Illegalen immer wieder neu zuknüpften.

Wieder eine andere Form von Widerstand bildeten die Versuche, mit alltäglichen Mitteln den Opfern des Krieges - ausländischen Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen oder Verfolgten - zu helfen. Das höchste Risiko gingen diejenigen ein, die durch schleppende Arbeit in der Rüstungsindustrie (Sabotage) oder durch die Übermittlung von Nachrichten an die Kriegsgegner ein Ende des Krieges erzwingen wollten. Für die Nationalsozialisten waren das Straftaten wie "Feindbegünstigung" oder Hochverrat.

Die Rote Kapelle

Der Name dieses Widerstandsnetzes, dem über 150 Menschen unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Herkunft angehörten, stammt von der deutschen militärischen Abwehr. Er wurde ursprünglich für verschiedene Gruppen gebraucht, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Westeuropa für den sowjetischen Nachrichtendienst arbeiteten, dann auch als Pauschalbezeichnung für vorwiegend linksintellektuelle Widerstandsgruppen in Berlin. Sie wurden wegen ihrer Kontaktaufnahme mit der Sowjetunion von den Nationalsozialisten dem westeuropäischen Netz der Roten Kapelle zugeordnet.

Nach jüngsten Forschungsergebnissen handelte es sich ursprünglich um mehrere Gesprächskreise, die sich zum Teil schon seit 1933 in der Opposition gegen den Nationalsozialismus zusammengefunden hatten. Bei Arvid Harnack (er war Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium) und seiner Frau Mildred trafen sich Intellektuelle und Wissenschaftler. Um Harro Schulze-Boysen, der seit 1934 als Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium arbeitete, scharte sich ein Freundeskreis sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft, zu dem der Bildhauer Kurt Schumacher ebenso gehörte wie der Schriftsteller Günther Weisenborn, die Tänzerin Oda Schottmüller oder der nichtparteigebundene Kommunist Walter Küchenmeister. Seit 1940 standen Schulze-Boysen und Harnack in Verbindung. Hinzu kamen ein Kreis junger Kommunisten, dessen Mittelpunkt der Arbeiter Hans Coppi bildete, eine Gruppe um den Schweizer Psychoanalytiker John Rittmeister und andere, die sich in Diskussionen um Kunst, Kultur und Politik zu Gegnern der nationalsozialistischen Diktatur entwickelt hatten.

Ab Herbst 1940 hatte Arvid Harnack Kontakt zu einem Mitarbeiter des sowjetischen Nachrichtendienstes in Berlin, ab März 1941 nahm auch Schulze-Boysen an den Treffen teil. Sie beabsichtigten, mit der sowjetischen Seite eine Gesprächs- und Vertrauensbasis zu schaffen, die eine Beendigung des Krieges und dann die außenpolitische Verständigung mit Ost und West ermöglichen sollte. Es gelang der Harnack/Schulze-Boysen-Gruppe jedoch nur in Ansätzen, eine Kommunikation mit Moskau aufzubauen. Sie hatte wohl nicht die Möglichkeit, umfassende militärische Pläne der Wehrmacht an die Sowjetunion zu übermitteln. Was und wieviel der sowjetischen Seite berichtet wurde, ist bislang unter Historikern umstritten. Allerdings wurde schon im Sommer 1942 der sowjetische Versuch, über Fallschirmspringer Nachrichtenverbindungen zu deutschen Widerstandskreisen herzustellen, der Roten Kapelle zum Verhängnis.

Mehr als 150 Personen waren beteiligt an der Widerstandsorganisation, die sich vor allem durch Flugschriften und Klebezettel in Berlin bemerkbar gemacht hatte. 126 von ihnen wurden zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1943 verhaftet und wegen "Spionage", "Vorbereitung zum Hochverrat" oder "

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 282

Feindbegünstigung" vom Reichskriegsgericht oder dem Volksgerichtshof zu Todes- und Zuchthausstrafen verurteilt. Einige wurden ohne Verfahren ermordet.

Aus ganz verschiedenen gesellschaftlichen Schichten kommend, mit unterschiedlicher Bildung und von ganz abweichenden politischen Überzeugungen hatten die Träger dieses Widerstandes die Beendigung des Krieges erstrebt. Sie hofften auf eine Vertrauensbasis mit der Sowjetunion, die eine außenpolitische Verständigung mit Mos-kau ermöglicht hätte. Dadurch sollte Deutschland eine Mittlerrolle zwischen Ost- und Westeuropa in einer neuen Friedensordnung zufallen. Grundgedanken im Konzept der Roten Kapelle war die Sicherung der Eigenständigkeit Deutschlands als Nationalstaat. Die Rote Kapelle war weder die straff organisierte kommunistische Kadergruppe, die Moskaus Befehle ausführte (so lautete die offizielle Version der DDR-Geschichtsschreibung), noch die landesverräterische Spionageorganisation im Dienste des Feindes (als die sie viele westdeutsche Historiker lange Zeit einordneten). Daher sind Rolle und Bedeutung der Roten Kapelle in und für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Geschichtswissenschaft bis heute umstritten.

Das Nationalkomitee "Freies Deutschland"

Unter dem Makel des Verrats standen auch die deutschen Soldaten, die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zur Opposition gegen den NS-Staat entschlossen. In Krasnogorsk bei Moskau war im Juli 1943 von deutschen Kriegsgefangenen der bei Stalingrad vernichteten 6. Armee und von kommunistischen Emigranten ein "Nationalkomitee" mit dem programmatischen Titel "Freies Deutschland" (NKFD) gegründet worden. An der Gründungsversammlung nahmen etwa 300 Personen teil. Der Schriftsteller Erich Weinert hielt das Grundsatzreferat, in dem er die Rettung des deutschen Vaterlandes durch den Sturz Hitlers propagierte und an die deutsch-russische Waffenbrüderschaft in den Befreiungskriegen gegen Napoleon erinnerte. Er appellierte zudem an den Patriotismus der Deutschen im Zeichen der schwarz-weiß-roten Fahnen des Kaiserreichs, mit denen auch der Saal geschmückt war.

Das Gründungsmanifest wurde in der ersten Nummer der Zeitung "Freies Deutschland" publiziert, die ebenfalls durch schwarz-weiß-rote Aufmachung deutschnationale Gefühle bei Offizieren und Soldaten der Wehrmacht anrühren wollte. Zu den Unterzeichnern des Manifests gehörten u. a. der Schriftsteller und spätere Kulturminister der DDR Johannes R. Becher, Willi Bredel sowie die nach Moskau emigrierten ehemaligen Reichstagsabgeordneten der KPD Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Die beiden machten nach dem Krieg Karriere als Staatspräsident der DDR und als Generalsekretär der SED.

Das Manifest "An die Wehrmacht und an das deutsche Volk" enthielt das politische Programm des NKFD. Ausgehend von der Einsicht in das Unrecht und die Aussichtslosigkeit des Krieges wurde zum Sturz des Hitlerregimes aufgerufen, um Deutschland als Staat und in seinem territorialen Bestand zu retten. Da niemand mit Hitler Frieden schließen werde, müsse eine neue Regierung, gestützt auf antinationalsozialistische Truppen, sofort den Krieg beenden, die Wehrmacht an Deutschlands Grenzen zurückführen und Friedensverhandlungen unter Verzicht auf alle Eroberungen beginnen. Die Verurteilung aller Kriegsverbrecher und führenden Nationalsozialisten sollte am Beginn eines freien Deutschlands stehen, in dem die demokratischen Rechte garantiert werden sollten.

Der Aufruf gipfelte in der Forderung, bewaffnet "den Weg zur Heimat, zum Frieden" zu suchen: "Die Opfer im Kampf um Deutschlands Befreiung werden tausendfach geringer sein als die sinnlosen Opfer, die eine Fortsetzung des Krieges erfordert." Die Idee zur Gründung einer Sammlungsbewegung, in der kommunistische Emigranten Arm in Arm mit gefangenen nationalbewußten Wehrmachtsoffizieren und Soldaten gegen den Natonalsozialismus agieren sollten, war in der politischen Abteilung der Roten Armee entstanden.

Die Voraussetzungen schienen in der Niederlage von Stalingrad und weiteren militärischen Erfolgen der Sowjetunion gegeben; die Politik der Kommunistischen Internationale (Komintern) stand längst im

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 283

Zeichen der Volksfronttaktik, die anstelle der Klassenkampfparolen nationales Bewußtsein propagierte, um alle politischen Richtungen im Kampf gegen Hitlerdeutschland zu vereinigen. Stalin selbst setzte Hoffnungen auf die Sammlung aller "antifaschistischen Deutschen", um den Krieg schneller beenden zu können.

"Bund deutscher Offiziere"

Sowjetische Offiziere und deutsche kommunistische Emigranten warben im Sommer 1943 unter den gefangenen deutschen Offizieren für die Ziele des NKFD. Die Offiziere hatten gezögert, sich der kommunistisch dominierten Organisation anzuschließen. Sie fühlten sich aber auch von Hitler verraten, der durch sinnlose Durchhaltebefehle den Tod von mindestens 100000 Soldaten bei Stalingrad verursacht hatte. Im September 1943 fanden sich schließlich einige deutsche Generale bereit, aus der Gefangenschaft heraus sich gegen Hitler zu wenden. Auf sowjetischen Vorschlag gründeten sie den "Bund Deutscher Offiziere". Die Mitglieder waren u. a. mit dem Versprechen geködert worden, die Sowjetunion setze sich für den territorialen Fortbestand Deutschlands in den Grenzen von 1937 ein, wenn der Offiziersbund einen Staatsstreich gegen Hitler bewirken könne. Generale, aber auch niedrigere Ränge, ließen sich für den Offiziersbund (der gleich nach der Gründung mit dem NKFD zusammengeschlossen wurde) gewinnen, sahen aber ihre Erwartungen in zweifacher Hinsicht enttäuscht: Zum einen blieben die Appelle des NKFD, durch Flugblätter und über Lautsprecherdurchsagen an die deutschen Truppen der Ostfront, durch den in Moskau stationierten Rundfunksender "Freies Deutschland" (der in ganz Deutschland zu empfangen war) und durch eine Wochenzeitung (Auflage 50000 Stück) verbreitet, wirkungslos. Zum anderen gingen die Hoffnungen des NKFD auf die Überwindung der Kluft zwischen der kommunistischen Ideologie und dem bürgerlichen Nationalbewußtsein der Soldaten nicht in Erfüllung. Die antifaschistische Schulung in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern erwies sich weithin als marxistisch-leninistische Indoktrination.

Aus diesem Grunde, aber auch wegen des Vorwurfs, Landesverrat begangen zu haben, wurde das NKFD in Westdeutschland lange Zeit nicht als Widerstandsorganisation anerkannt. In Ostdeutschland hingegen ist es als Inbegriff des "klassenübergreifenden" Widerstandes gegen den "Hitlerfaschismus " verherrlicht worden.

Beide Wertungen werden der Wirklichkeit wohl nicht gerecht. Die Propagandatätigkeit des NKFD hatte nicht den politischen und sozialen Stellenwert, den ihr Historiker und Politiker in der DDR zumaßen, weil sie praktisch kaum etwas bewirkte und das NKFD im Dienste der sowjetischen Kriegsführung schon 1944 kaum noch eine Rolle spielte. Es war aber wohl auch nicht nur als Landesverrat zu bewerten, aus der Kriegsgefangenschaft heraus für den Sturz des NS-Regimes zu arbeiten, um weiteren Hunderttausenden das sinnlose Hingeschlachtetwerden wie in Stalingrad zu ersparen.

Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht

In der historischen und politischen Diskussion um Verweigerung und Widerstand gegen das NS- Regime sind Bedeutung und Einordnung von Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht bis heute umstritten. Während sie einerseits als Zeichen von Angst, Feigheit und Verrat gewertet werden, spricht die andere Seite von einer Schwächung des Regimes durch individuelle Unterlassung, von Verweigerung der Unterstützung eines Eroberungskrieges und von einem individuellen Akt des Widerstandes.

Die Motive für diese höchst risikoreichen, individuellen Entscheidungen lassen sich sicher nicht bis ins einzelne und bei jedem einzelnen ausloten und entziehen sich einem pauschalen Zugriff ebenso wie einer detaillierten Darstellung. Man wird wohl in den meisten Fällen von einem Motivbündel ausgehen müssen, das sich von Außenstehenden kaum entwirren läßt. Insofern sind eindeutige Urteile über diese Gewissensentscheidungen nur schwer möglich. Auf jeden Fall aber wurden Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht vom nationalsozialistischen Regime als Auflehnung und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 284 verbrecherische Widerstandshandlungen empfunden. Entsprechend waren die Strafen.

Motivbündel

Tausende von Soldaten haben im Zweiten Weltkrieg durch Kriegsdienstverweigerung versucht, sich dem Dienst mit der Waffe zu entziehen. Dafür gab es zum einen religiöse und ethische Gründe, wie etwa bei den Zeugen Jehovas, aber auch bei evangelischen und katholischen Christen, die nicht an kriegerischem Unrecht beteiligt sein wollten. Seit August 1939 war im Deutschen Reich die " Kriegssonderstrafrechtsverordnung" in Kraft, mit der jede Art von "Wehrkraftzersetzung" unterbunden werden sollte. Defätistische Äußerungen, Anstiftung zur Fahnenflucht, alle Arten von Wehrdienstentziehung standen unter Strafandrohung. Etwa 30000mal waren Kriegsgerichte, Sondergerichte und der Volksgerichtshof deswegen tätig. 5000 Todesurteile wurden gefällt.

Wegen Fahnenflucht ergingen im Laufe des Krieges 35000 Urteile der Militärgerichtsbarkeit, darunter 22000 Todesurteile, von denen 15000 vollstreckt wurden. Selbstverständlich waren viele Fälle von Fahnenflucht keine Akte des Widerstandes oder der Demonstration gegen den Nationalsozialismus. Zu den Motiven gehörten sicher auch Heimweh oder Feigheit und Verrat, ebenso wie das Entsetzen über den Krieg, über die Verbrechen an der Zivilbevölkerung und über die Judenmorde, deren unfreiwillige Zeugen viele Wehrmachtsoldaten im Osten wurden. Psychische Probleme konnten Fahnenflucht auslösen oder ein Übermaß an Schikanen durch Vorgesetzte.

Bei vielen Deserteuren hat aber wohl das politische Motiv eine wichtige Rolle gespielt: Zu ihnen kann man auch die rechnen, die schließlich von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugt waren und ihn nicht mehr verlängern wollten. Sie legten es darauf an, in Gefangenschaft zu geraten. In der letzten Phase des Krieges geschah dies mit steigender Tendenz. Andere, insbesondere Angehörige von Straf- oder " Bewährungs"-Einheiten, liefen in Kompaniestärke zum Gegner über oder schlossen sich dem Widerstandskampf nationaler Befreiungsbewegungen an.

So machte es etwa Ludwig Gehm, der als Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) ab 1933 vier Jahre lang politischen Widerstand geleistet hatte. Deshalb kam er ins Zuchthaus und dann ins KZ. 1943 wurde er von Buchenwald aus für das berüchtigte Strafbataillon 999 rekrutiert. In Griechenland desertierte er - wie viele seiner Kameraden - und schloß sich griechischen Partisanen an, mit denen er gegen die Wehrmacht kämpfte. Britische Kriegsgefangenschaft bis 1947 blieb ihm deswegen nicht erspart.

Ludwig Gehm, Arbeitersohn aus Frankfurt und gelernter Dreher, war politisch aktiv von Jugend an. Später, von 1958 bis 1972, war er Stadtrat in seiner Heimatstadt. Er hat sich nicht nur dem Unrechtsregime verweigert, sondern ihm allen Widerstand entgegengesetzt, der ihm möglich war. Er hat versucht in die Tat umzusetzen, was Thomas Mann von den Deutschen in seinen Rundfunkansprachen immer wieder verlangte: "Wenn ihr es nicht im letzten Augenblick fertigbringt, euch des Gesindels zu entledigen, das euch und der Menschheit so Schandbares angetan hat, so ist alles verloren, Leben und Ehre." (27. Juli 1943)

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 285

Der militärische Widerstand

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 11.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Das missglückte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ist heute der wohl bekannteste Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus dem Militär. Mit einer Bombe hofften Claus Graf Stauffenberg und andere den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Der Umsturzversuch endete noch in derselben Nacht mit ihrer Hinrichtung.

Einleitung

Die Reichswehr hatte die Machtübernahme Hitlers mehrheitlich begrüßt. Die Militärs hofften auf die Überwindung der Hemmnisse des Versailler Vertrags, auf Wiedereinführung der Wehrpflicht und bessere Karrierechancen durch die Vergrößerung der Streitkräfte. Viele begrüßten die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und standen der angekündigten autoritären Staatsordnung überwiegend erwartungsvoll gegenüber. Die Militärs hatten nichts dagegen, daß die Hitlerregierung die politische Linke ausschaltete, verfolgte und die NSDAP ein Einparteien-Regime errichtete. Die Reichswehr unterstützte die Mordaktion des 30. Juni 1934 ("Röhmputsch"), bei der die Spitze der SA liquidiert wurde, weil damit eine gefährliche und zugleich verachtete Konkurrenz ausgeschaltet wurde. Im August 1934 gab es auch keine Einwände seitens der militärischen Führung dagegen, daß Hitler nach dem Tod des Reichspräsidenten von Hindenburg die Ämter des Reichskanzlers und des Staatsoberhaupts vereinigte und damit auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte wurde. Reichswehrminister von Blomberg führte sogar eine neue Eidesformel ein, mit der die Soldaten Hitler persönlich Treue gelobten.

Empörung über die Morde des 30. Juni 1934, denen auch zwei ehemalige Generale (unter ihnen Kurt von Schleicher, Hitlers Vorgänger als Reichskanzler) zum Opfer fielen, war Sache weniger Offiziere. Zu ihnen gehörte der damalige Major von der Abwehrabteilung des Reichswehrministeriums. Er und einige Gleichgesinnte mißbilligten die Zerstörung des Rechtsstaates und verabscheuten die Methoden des NS-Regimes, dessen Antisemitismus und Kirchenfeindschaft.

Aber Opposition im Militär regte sich erst um die Jahreswende 1937/38, als manche Offiziere die Gefahren der aggressiven Außenpolitik Hitlers zu erkennen begannen. Zu ihnen gehörte auch der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch, der Hitlers Annexionsabsichten gegen die Tschechoslowakei und Österreich kritisch gegenüberstand. Eine Intrige, die von der SS angezettelt war, um ihn und andere konservative Generale loszuwerden, drängte ihn Anfang 1938 aus dem Amt. Diese Intrige, die auch Kriegsminister von Blomberg zu Fall brachte, machte es Hitler möglich, die Spitze der militärischen Organisation so umzubauen, daß er nicht nur formell, sondern auch tatsächlich Oberbefehlshaber der Wehrmacht wurde. Die Armee war nunmehr praktisch gleichgeschaltet und nicht mehr in der Lage, Einfluß auf den politischen Entscheidungsprozeß zu nehmen.

Hitler hatte im November 1937 den Wehrmachtsspitzen mitgeteilt, daß er Österreich und die Tschechoslowakei annektieren wolle, als erste Etappen zur Erweiterung des deutschen " Lebensraumes" durch Krieg. Der Chef des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 286 versuchte, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen. Nach der Annexion Österreichs im März 1938 hoffte Beck, erst mit Denkschriften den Gang der Dinge zu beeinflussen und suchte dann vergeblich die Generale zur Gehorsamsverweigerung zu bewegen. Im August 1938 trat er zurück.

Ähnlich wie Beck dachten andere hochrangige Offiziere, etwa der Leiter der militärischen Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, und dessen Stabschef Oster sowie Becks Nachfolger Franz Halder. Auch der Kommandierende General des III. Armeekorps, , gehörte zu den Militärs, die Überlegungen anstellten, wie man Hitler an der Fortsetzung seiner aggressiven Politik hindern könnte. Zwei Strömungen standen bei den zum Staatsstreich bereiten Offizieren einander gegenüber. Die eine, vertreten durch die Männer der Abwehr, zielte dahin, Hitler festzunehmen und zu töten; die andere beabsichtigte lediglich, den "Führer" zu zwingen, seine Kriegspläne aufzugeben. Zu letzteren gehörten der Generalstabschef des Heeres Halder und der Oberbefehlshaber Walther von Brauchitsch.

Der verschobene Putsch

Als Hitler im September 1938 die Tschechoslowakei durch Kriegsandrohung zur Abtretung des Sudetengebietes zu zwingen suchte, war der Kreis um Oberstleutnant Hans Oster zu einer gewaltsamen Aktion gegen die Reichskanzlei entschlossen. Hitler sollte getötet werden, um den Frieden zu retten. Absicht der oppositionellen Offiziere um Beck und den Goerdeler-Kreis war es hingegen, unmittelbar nach der Kriegserklärung, mit der Hitler die Zerstörung der Tschechoslowakei beginnen würde, ihn durch einen Staatsstreich zu stürzen. Diese Absicht war auch in London bekannt. Goerdeler hatte über einen Mittelsmann das Foreign Office ins Bild gesetzt. Der Gutsbesitzer Ewald von Kleist-Schmenzin war im August 1938 auf Wunsch Osters und mit Billigung Becks nach London gereist, wo er die Pläne sogar vortragen konnte. Mit dem "Münchener Abkommen ", das mit britischer und französischer Billigung zustande kam, in dem am 29./30. September 1938 Prag der Annexion der Sudetengebiete durch das Deutsche Reich zustimmen mußte, entfielen die Voraussetzungen für den geplanten Putsch.

Die Militäropposition resignierte für längere Zeit und blieb auch nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 passiv. Skeptisch beurteilten die Führer der Wehrmacht den Ausgang des Krieges gegen Frankreich und Großbritannien, weil die Wehrmacht noch nicht hinlänglich gerüstet und ausgebildet sei. Die Mißachtung der Neutralität Belgiens, Hollands und Luxemburgs mißbilligten viele. Die Nachrichten von dem Schreckensregiment in Polen taten ein übriges, um das Offizierskorps an der Westfront gegen Hitler einzunehmen. Alle Vorbereitungen zu einem Staatsstreich wurden jedoch Anfang November 1939 von General Halder abgebrochen, weil er glaubte, Hitler sei über diese Aktivitäten informiert. Oster, einem der engagiertesten Regimegegner, blieb nichts anderes übrig als der Versuch, Holland, Dänemark und Norwegen vor dem deutschen Überfall zu warnen.

Mit dem "Blitzkrieg" gegen Frankreich und der Besetzung großer Teile Westeuropas 1940 wuchs das Ansehen Hitlers noch einmal. Die Begeisterung erfaßte Soldaten und Zivilisten in gleicher Weise. Zustimmung fand auch noch auf die Sowjetunion im Juni 1941 und hielt mindestens bis zur Niederlage in Stalingrad Anfang 1943 an. Die Mehrheit der Deutschen ließ sich von Hitlers Erfolgen blenden und glaubte allzulange daran, für eine gute Sache, für ein größeres und besseres Deutschland und gegen den Bolschewismus zu kämpfen. Viele hohe Militärs sahen, wie von Goebbels propagiert, den Überfall auf die Sowjetunion als berechtigten und notwendigen "Kreuzzug" gegen den Bolschewismus.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 287 Kontakte zu zivilen Kreisen

Die Männer der Militäropposition hielten Distanz zum NS-Regime. Ludwig Beck stand schon vor seinem Rücktritt in Kontakt mit Goerdeler. Offiziere wie die Generale Halder, von Witzleben oder Georg Thomas hatten ebenfalls Verbindung zum zivilen Widerstandskreis um den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister aufgenommen. Die engagiertesten Hitlergegner im militärischen Bereich waren immer noch die Männer im "Amt Ausland/Abwehr" des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) unter Admiral Canaris. Bis April 1943 war die Dienststelle ein Zentrum des Widerstandes mit engen Kontakten zum Kreisauer Kreis. Versuche, im Ausland für einen Frieden zu wirken (u. a. durch Kontakte zum Vatikan) und die Westoffensive im Frühjahr zum Scheitern zu bringen, blieben erfolglos. 1943 wurde nach der Verhaftung einiger Mitarbeiter (Dohnanyi, Bonhoeffer) und der Kaltstellung Osters das "Amt Abwehr" als Ort des Widerstandes lahmgelegt. Im Februar 1944 wurde auch Canaris abgelöst, etwas später unter Hausarrest gestellt, dann ins KZ eingeliefert und im April 1945 hingerichtet.

In drei wichtigen militärischen Dienststellen entstanden ab Ende 1941 oppositionelle Gruppen, die auch Verbindung untereinander aufnahmen: Im "Allgemeinen Heeresamt beim Befehlshaber des Ersatzheeres", geleitet von General Friedrich Olbricht, beim Militärbefehlshaber in Frankreich (General Carl-Heinrich von Stülpnagel) und an der Ostfront in der Heeresgruppe Mitte, dessen Erster Generalstabsoffizier Henning von Tresckow Mittelpunkt einer Gruppe von Regimegegnern war. Die Greuel der deutschen Besatzungspolitik im Osten und der Massenmord an den Juden durch die Einsatzgruppen der SS und ab Ende 1941 in den Vernichtungslagern blieben den Soldaten der Wehrmacht nicht verborgen. Offiziere, die Rechtsempfinden und Moral über soldatisch-militärische Pflichterfüllung stellten, waren in der Minderheit; aber es gab sie, wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der nach schwerer Verwundung in Afrika 1944 Chef des Stabes beim Oberbefehlshaber des Ersatzheeres in Berlin wurde. Graf Stauffenberg drängte seit Frühjahr 1942 auf einen Staatsstreich, um Hitler auszuschalten und die Verbrechen des Regimes zu beenden.

Es war schwer, einen populären Frontgeneral zu finden, der sich an die Spitze der Erhebung stellen würde. Unterdessen scheiterten auf geradezu groteske Weise alle Attentatsversuche gegen Hitler. Nachdem schon etliche Pläne fehlgeschlagen waren, sollte Hitler bei einem Besuch der Heeresgruppe Mitte in Smolensk erschossen werden. Aus Rücksicht auf unbeteiligte Offiziere unterblieb der Anschlag jedoch; Oberst Tresckow ließ dann im Flugzeug Hitlers eine Bombe verstecken, die ihn auf dem Rückflug in die Luft sprengen sollte. Aber der Zünder versagte.

Im März 1944 schmuggelte der Abwehroffizier Oberst Rudolf-Christoph von Gersdorff eine Bombe ins Berliner Zeughaus, wo Hitler erbeutetes Kriegsmaterial besichtigen wollte, aber - wie beim Bürgerbräuattentat Georg Elsers 1939 - verließ Hitler die Ausstellung unerwartet früh. Zwei junge Offiziere, Axel von dem Bussche und Ewald von Kleist, wollten Anfang 1944 anläßlich der Vorführung neuer Uniformen Hitler beseitigen. Da er nicht erschien, war auch dieser Plan gescheitert. Auch die Absicht des Rittmeisters Breitenbuch, als Ordonnanzoffizier des Generalfeldmarschalls Busch Zu- gang zu Hitler zu finden und ihn bei einer Besprechung am 11. März 1944 zu erschießen, schlug fehl, weil die SS-Wachen den Ordonnanzen den Zutritt verweigerten.

Im Sommer 1944 war die militärische Lage längst aussichtslos. In der Normandie waren die Alliierten gelandet, die Ostfront war in der Mitte zusammengebrochen, die deutsche Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit. Die oppositionellen Offiziere standen vor der Frage, ob ein gewaltsamer Umsturz noch Sinn habe, da absehbar war, daß die Geschicke der Deutschen nach Kriegsende von den Siegern bestimmt würden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 288 20. Juli 1944

Oberst von Stauffenberg, der entschlossen war, das Attentat auf Hitler unter allen Umständen zu begehen, um wenigstens ein moralisches Zeichen zu setzen, wurde dazu auch ermuntert von Generalmajor Henning von Tresckow, der die Meinung vertrat, es komme gar nicht mehr auf einen praktischen Zweck an, "sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat".

Der Umsturz war längst vorbereitet. Der Entwurf einer Regierungserklärung, die von Beck als provisorischem Oberhaupt und Goerdeler als Kanzler unterzeichnet werden sollte, war bereits ausgearbeitet. Sie sollte gleich nach dem gewaltsamen Sturz des Hitler-Regimes veröffentlicht werden. Um das Land unter Kontrolle zu bekommen, entwarfen General Olbricht mit Stauffenberg und dessen Freund Mertz von Quirnheim den Operationsplan "Walküre". Er basierte auf einem bereits vorhandenen Plan zur Niederwerfung eines etwaigen Aufstandes ausländischer Zwangsarbeiter. Ein Netz aus vertrauenswürdigen Offizieren in den wichtigen militärischen Schaltstellen wurde geknüpft.

Das Attentat auf Hitler wurde dreimal verschoben, weil Himmler und Göring bei den Lagebesprechungen auf dem Berghof bei Berchtesgaden am 6., 11. und 15. Juli nicht anwesend waren; sie sollten als gefährlichste und wichtigste Gefolgsleute Hitlers und als Inhaber der höchsten Ämter im Staat zusammen mit Hitler beseitigt werden. Obwohl sie auch am 20. Juli nicht dabei waren, zögerten Stauffenberg und sein Adjutant Oberleutnant Werner von Haeften nicht länger. Sie waren frühmorgens vom Flugplatz Rangsdorf bei Berlin zum Führerhauptquartier "Wolfsschanze" bei Rastenburg in Ostpreußen geflogen.

Kurz vor 12.30 Uhr setzte Stauffenberg den Zeitzünder der Bombe in Gang und begab sich zu der Baracke, in der Hitler die Lagebesprechung abhielt. Stauffenberg stellte seine Aktentasche mit der Bombe in der Nähe Hitlers ab und verließ unter einem Vorwand den Raum. Gegen 12.45 Uhr explodierte die Bombe, fünf der vierundzwanzig Anwesenden wurden getötet. Hitler wurde nur leicht verletzt. Stauffenberg, der die Detonation beobachtet hatte, war überzeugt vom Erfolg des Attentats und flog nach Berlin zurück. Dort hatten die Mitverschwörer in den Diensträumen des Oberkommandos des Heeres (OKH) in der Bendlerstraße stundenlang gewartet, ehe sie den Alarm nach dem Plan "Walküre " auslösten, um die Wehrkreise zu verständigen. Generaloberst Fromm, der Befehlshaber des Ersatzheeres, war nicht zu bewegen, sich auf die Seite des Widerstandes zu stellen. Stauffenberg verhaftete ihn. An seine Stelle trat Generaloberst Hoepner, den Hitler 1942 entlassen hatte. Das Zögern der Wehrkreisbefehlshaber, sich den Verschwörern anzuschließen, und die schnelle Rundfunkmeldung von Hitlers Überleben ließen den Staatsstreich scheitern.

In Prag, Paris und Wien waren die Gesinnungsgenossen der Verschwörer für kurze Zeit erfolgreicher. Sie waren Herren der Lage und setzten SS-Führer fest. In Berlin brach der Widerstand [Zentrum waren die Diensträume des Oberkommandos der Wehrmacht (OKH) im ] noch am Abend des 20. Juli zusammen. Kurz vor Mitternacht verhaftete Generaloberst Fromm, den hitlertreue Offiziere inzwischen wieder befreit hatten, die Spitzen des Widerstandes. Den Generälen Beck und Hoepner gab er die Möglichkeit zum Freitod (Hoepner lehnte ab), Olbricht, Stauffenberg, Mertz von Quirnheim und von Haeften wurden nach Mitternacht im Hof des OKH-Gebäudes erschossen.

Die Gestapo nahm in den folgenden Tagen in einer großen Verhaftungsaktion Tausende von Regimegegnern fest, Anfang August begannen die Prozesse vor dem "Volksgerichtshof". Sie dauerten bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai 1945. Die genaue Zahl der Verurteilten ist nicht bekannt, Hunderte wurden Opfer der Rache Hitlers, sie sind auf grausame Weise hingerichtet worden. Viele ihrer Angehörigen, die nichts mit dem Umsturzversuch zu tun hatten, wurden in "Sippenhaft " genommen und kamen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Der militärische Widerstand

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 289

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 290

Stille Helden

Von Beate Kosmala 23.3.2007 Dr. phil., geb. 1949; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstraße 13-14, 10785 Berlin.

E-Mail: [email protected]

Auch während der Zeit des Nationalsozialismus gab es Handlungsalternativen. Sie waren zwar riskant, verlangten aber nicht von vornherein todesbereiten Widerstand. Welche Möglichkeiten hatten Helfer und Verfolgte der NS-Dikatur?

Einleitung

Erst in den vergangenen Jahren ist das öffentliche Interesse an Lebensgeschichten von Menschen gewachsen, die während der nationalsozialistischen Diktatur verfolgten Juden halfen. Auch die wissenschaftliche Erforschung dieses Themas begann spät: Zwischen 1997 und 2002 gab es am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin ein Forschungsprojekt zur " Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933 - 1945".[1] Kurz darauf setzte um den Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette die Erforschung einzelner Rettungsaktionen von Wehrmachtsangehörigen und anderen Deutschen in den besetzten Ländern ein.

Die Frage nach der Rettung ist untrennbar mit der Dimension der Vernichtung verbunden. Um das Phänomen von Hilfe und Rettung in seiner historischen Bedeutung rekonstruieren zu können, bedurfte es der Holocaustforschung, die erst in den 1980er Jahren zu einer historischen Teildisziplin wurde. Erst die Forschung der vergangenen Jahre vermittelt ein vollständigeres Bild von den Deportationen aus Deutschland,[2] eine deutlichere Vorstellung von der Wahrnehmung der Deportationen in der deutschen Bevölkerung und ihren Reaktionen, vom Wissen über den Genozid. Diese Bereiche der NS- und Holocaustforschung stehen in engem Zusammenhang mit der Frage, ob und wie sich die Gruppe der Helfer von der Bevölkerungsmehrheit unterschied und was die spezifische Qualität ihres Handelns ausmacht.

Die Forschung über die Rettung von Juden kann sich nicht auf das Verhalten der deutschen Bevölkerung bzw. der Gruppe der Helfer beschränken, sondern muss die Deutung des Geschehens durch die Betroffenen einbeziehen. Die 164 000 als Juden Verfolgten, die Anfang Oktober 1941 noch in Deutschland lebten, waren eine isolierte und statistisch gesehen verarmte und überalterte Gruppe; ein großer Teil stand im Zwangsarbeitseinsatz.[3] Als am 15. Oktober 1941 die "Evakuierungen " begannen, waren deren tödliche Folgen für die Betroffenen nicht absehbar. Dass sich viele schon im Herbst und Winter 1941 verzweifelt bemühten, der Deportation zu entkommen, zeigen zahlreiche Versuche, über bezahlte "Mittler" die Zurückstellung von der "Evakuierung" zu erreichen.[4] Im Folgenden wird die Darstellung der Hilfeleistungen für Juden auf den Zeitraum vom Oktober 1941 bis 1945 fokussiert.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 291 Die Verfolgten

Zeitgenössische Quellen - Tagebücher bzw. Briefe - stehen kaum zur Verfügung, da die Untergetauchten jeglichen Hinweis auf ihre Identität vermeiden mussten. Doch auch Nachkriegsberichte lassen Rückschlüsse auf die Reaktionen der Opfer zu.[5] Anna Drach, als Krankenpflegerin im Jüdischen Krankenhaus in Berlin an den Deportationsvorbereitungen beteiligt, schreibt über die frühen Transporte: "Damals glaubten noch alle an die Umsiedlung'."[6] Dies galt auch für den Anwalt Alfred Cassierer: "Wir dachten, es wird in Polen nicht so gemütlich sein, aber man wird leben können."[7] Die Tatsache, dass die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zur Mitwirkung an den Deportationen gezwungen wurde, machte es für die jüdische Bevölkerung noch schwerer, frühzeitig einen Ausweg zu suchen.[8] Nach einigen Monaten zogen die Zurückgebliebenen Schlussfolgerungen aus dem Verschwinden ihrer Angehörigen. Lotte Themal, die sich Ende Februar 1943 in Berlin versteckte, musste feststellen, dass von ihrer im November 1941 nach Lodz deportierten Schwester seit April 1942 kein Lebenszeichen mehr kam.[9]

Im Sommer 1942 zeichnete sich für viele die Absicht der Deportation immer deutlicher ab. Ruth Abraham äußert über den Abschied von ihren Eltern: "Sie wussten, dass es ihr Ende war, sie trösteten mich und prophezeiten, das Kind, das ich unter meinem Herzen trage, wird mich vor dem Untergang retten."[10] Andere glaubten den Informationen nicht, etwa Ruth Abrahams Angehörige: "Mein Schwager (...) hatte die Illusion, dass er im KZ weiter arbeiten werde, wie er das bisher getan hatte und es so überleben werde, und meine Schwester und die Kinder mussten sich ihm fügen."[11] Selly Dyck, die am 8. Januar 1943 ihren Eltern vor der Deportation beim Packen half, berichtet: "Während sich die Gestapoleute und ihre jüdischen Begleiter zum Essen setzten, verschwand ich aus der Wohnung. Diesen Schritt hatte ich mit meiner Mutter verabredet (...). Wie uns allen dabei ums Herz war, kann man sich schwer vorstellen."[12]

1942 waren die Massenverbrechen an den Juden in Osteuropa ein "offenes Geheimnis".[13] Soldaten, die von der Ostfront Briefe schrieben oder während ihres Heimaturlaubs über ihre Erlebnisse sprachen, waren eine wichtige Quelle. Die Juden lebten nicht abgeschottet von Kontakten zur nichtjüdischen Bevölkerung.[14] "Bei dem verbotenen Besuch von Bars, Theatern usw. geschah es nun manchmal, dass man mit Soldaten oder Zivilpersonen zusammentraf, die ohne zu wissen, wen sie vor sich hatten, berichteten, dass sie bei Reisen durch besetzte Gebiete im Osten gesehen hatten, wie deportierte Juden auf teils grausame, teils raffinierte Weise ermordet worden waren", schreibt der junge Kurt Lindenberg. Er habe sich gesagt, es sei besser, im Tiergarten zu erfrieren, "als in Polen an Cholera oder Flecktyphus zu krepieren oder dort abgeschlachtet zu werden".[15] In manchen Zeitzeugenberichten wird darauf hingewiesen, dass die Verfolgten von nichtjüdischen Deutschen vor der Deportation gewarnt worden seien. Im November 1942 appellierte die Berliner Wäschereiinhaberin Emma Gumz an Ella und Inge Deutschkron, sich nicht deportieren zu lassen. Sie habe vom Nachbarssohn, einem Soldaten, erfahren, was er gesehen habe.[16]

Das neu bearbeitete Gedenkbuch enthält die Namen aller Deportierten, informiert aber nicht über untergetauchte Juden.[17] Die bei der Arbeit am Berliner Gedenkbuch[18] entstandene Datenbank enthält Angaben zu rund 3 500 jüdischen Personen, die "illegal" gelebt haben, auch solchen, die schließlich doch verhaftet und deportiert wurden. Bis zu 12 000 als Juden Verfolgte tauchten im Deutschen Reich unter,[19] davon bis zu 7 000 in Berlin. Wie viele in der "Illegalität" überlebten, ist allenfalls für die Reichshauptstadt annähernd feststellbar. Die Liste der Alliierten über in Berlin registrierte Juden vom August 1945 enthält die Namen von 1 314 Personen.[20] Durch die Bearbeitung neuer Aktenbestände wird die Zahl von mehr als 1 500 Berliner Untergetauchten nach oben korrigiert werden können.[21]

Zwischen der zunehmenden Gewissheit der Betroffenen über die geplante Ermordung und der allmählich steigenden Zahl derer, die in den Untergrund flüchteten, besteht ein deutlicher Zusammenhang. Von rund 1 000 registrierten Fällen, in denen der genaue Zeitpunkt des Untertauchens bekannt ist, flüchteten 52 Prozent erst 1943 in den Untergrund, die meisten im Zusammenhang mit der so genannten Fabrik-Aktion.[22] Trotz dieser reichsweiten Großrazzia auf jüdische Zwangsarbeiter

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 292 und ihre Angehörigen am 27. Februar 1943 konnten in Berlin mindestens 4 000 Zwangsarbeiter untertauchen, weil sie zufällig dem Arbeitsplatz fern geblieben waren, in letzter Sekunde hatten flüchten können oder gewarnt worden waren: Die Razzia war den Firmen vorher bekannt gewesen. Anfang März wurden fast 8 000 Berliner Juden nach Auschwitz deportiert, etwa zwei Drittel der Opfer der Fabrik-Aktion.[23] Geht man von 73 000 Juden aus, die vor Beginn der Deportationen noch in Berlin lebten, und nimmt einen Mittelwert von 6 000 Untergetauchten an, haben etwa acht Prozent versucht, sich durch die Flucht zu entziehen. Nur etwa ein Viertel von ihnen hat die Befreiung erlebt. Eine unbekannte Zahl kam durch die Bombardierungen ums Leben, andere fielen Straßenkontrollen zum Opfer oder wurden verraten. Eine besondere Gefahr waren die etwa 30 jüdischen Fahnder ("Greifer "), die von der Gestapo angesetzt wurden, "Illegale" aufzuspüren.[24]

Schlussfolgerungen aus eigenen Beobachtungen aus dem nichtjüdischen Umfeld zu ziehen, war fast nur Berliner Juden möglich. In anderen Großstädten war die Deportation der "Volljuden" im Herbst 1942 nahezu abgeschlossen.[25] Allerdings waren 1944 und 1945 auch zahlreiche jüdische Partner und Kinder aus "Mischehen" von Deportation bedroht und verbargen sich bei "arischen" Verwandten oder anderen Helfern.[26] Die Unterstützung von Nichtjuden war unabdingbar.[27]

Die Helfer

In der Inlandspropaganda wurde zu den Deportationen geschwiegen; die Zeitungsleser erhielten nach dem 15. Oktober 1941 zumindest Hinweise auf das Schicksal der Juden.[28] Auch gingen die Deportationen "vor aller Augen" vor sich. Da in Teilen der Bevölkerung Bedenken spürbar wurden (Goebbels: "Humanitätsgefühl der intellektuellen und gesellschaftlichen Schichten"), brach der Propagandaminister Ende Oktober 1941 eine antisemitische Kampagne vom Zaun, die den Juden die Schuld am Krieg aufbürdete: Man werde diejenigen, die sich zu Juden freundlich verhielten, wie Juden behandeln.[29] Vielerorts machte die Gestapo ernst: Frauen, die jüdischen Bekannten Lebensmittel brachten, wurden mit der Begründung in "Schutzhaft" genommen, sie hätten "die Maßnahmen der Reichsregierung zur Ausschaltung der Juden aus der Volksgemeinschaft" sabotiert.[30]

Gehen wir von 6 000 Untergetauchten in der Vier-Millionen-Metropole Berlin aus und veranschlagen durchschnittlich sieben helfende Personen für einen Verfolgten, kann man eine Zahl von über 30 000 Helfern annehmen. Sie gehören zu dem kleinen Teil der deutschen Bevölkerung, der sich nicht in die Triade aktiver Zustimmung, Zurückhaltung und kritischer Distanz einfügten. Die Frage nach den Motiven derer, die sich über die Einschüchterungsversuche des Regimes hinwegsetzten, ist schwierig zu beantworten. Nur wenige schriftliche Selbstzeugnisse liegen vor.[31] Da ihr Durchschnittsalter zur Zeit der Hilfeleistung zwischen 40 und 50 Jahren lag, lebten 1990 nur noch wenige. Ein Glücksfall für die Forschung ist die Ehrungsinitiative "Unbesungene Helden" von 1958 bis 1966, die Innensenator Joachim Lippschitz ins Leben rief, um (West-) Berliner Bürger, die Verfolgte (in den meisten Fällen Juden) unterstützt und versteckt hatten, zu würdigen. In rund 1 500 Akten finden sich Personalien und Äußerungen von Helfern und Verfolgten, welche die Rekonstruktion von Rettungsgeschichten ermöglichen.[32] Dies gilt auch für die rund 250 einschlägigen Bundesverdienstkreuz-Akten und die Files der "Gerechten unter den Völkern" der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem.

Anders, als es sich Goebbels vorgestellt hatte, kamen die Helfer aus allen sozialen Schichten, gehörten unterschiedlichen Konfessionen und politischen Richtungen an oder waren nichtreligiös und unpolitisch. Viele verfügten weder über bedeutende finanzielle Mittel oder große Wohnungen, noch waren sie besonders gebildet oder hatten wichtige Kontakte. Die meisten waren wohl das, was man als "gewöhnliche" Deutsche bezeichnet. Nicht alle handelten uneigennützig. Einige nutzten die Notlage der Verfolgten aus, indem sie Gegenleistungen forderten, auch sexuelle. Herbert Strauss, der in Berlin " illegal" lebte: "Wer daher die Motive erforscht`, die diese Menschen dazu bewegen, uns gejagten Juden zu helfen, wird allzu leicht ein liebenswertes, aber arg vereinfachtes Bild von ihnen zeichnen (...)."[33] Drei der wichtigsten Motive sollen im Folgenden skizziert werden.

Solidarisches Handeln: Ein kleinerer, aber herausragender Teil der Helfer hegte von Anfang an keine

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 293

Zweifel am verbrecherischen Charakter des Regimes. Oft konnten sie aufgrund ihrer beruflichen und sozialen Situation Hilfe leisten. Meist agierten sie in Netzwerken, die sich entweder auf frühere Zusammenhänge stützten (Kirchen, Sozialdemokraten, Kommunisten, Nationalkonservative) oder die sie neu zu knüpfen wussten.[34] Gertrud Luckner, Fürsorgerin beim Deutschen Caritasverband Freiburg, setzte sich 1940 für die aus Wien in den Distrikt Lublin Deportierten ebenso ein wie für die aus Baden nach Gurs verschleppten Juden. In ihrer Position als Beauftragte des Freiburger Erzbischofs suchte sie Kontakte zur Bekennenden Kirche, den Quäkern und zu katholischen Kreisen; sie ließ Pässe fälschen und verhalf Verfolgten zur Flucht. Zunächst setzte sie sich für katholische "Nichtarier ", ab 1942 auch für untergetauchte "Glaubensjuden" ein, bis sie im März 1943 verhaftet und wegen " projüdischer Betätigung und Verbindung mit staatsfeindlichen Kreisen" ins KZ Ravensbrück eingewiesen wurde.

Harald Poelchau, Gefängnispfarrer in Berlin-Tegel, gehört als Mitglied des Kreisauer Kreises zu den herausragenden Gestalten des deutschen Widerstands. Lange Zeit kaum bekannt war sein Einsatz zur Rettung von Juden. Auch Poelchau schuf sich ein Netz von Helfern.[35] Er stand mit der Dahlemer Bekenntnisgemeinde in Verbindung und arbeitete mit der Widerstandsgruppe "Onkel Emil" um Ruth Andreas Friedrich zusammen, deren Mitglieder aus ethisch-humanitären Motiven Verfolgte unterstützten. Poelchaus Verbindungen reichten weit über Berlin hinaus.[36] Weniger bekannt ist Elisabeth Abegg mit ihrem Helfernetz, das Verstecke in Berlin, Brandenburg, Ostpreußen und im Elsass vermittelte. Auch sie war sozial engagiert und rettete zahlreiche Untergetauchte, ohne dass die Hilfe entdeckt wurde. Ihr Netz bestand aus NS-Gegnern verschiedener konfessioneller und politischer Orientierung. Die 1933 zwangspensionierte Studienrätin stand der Sozialdemokratie und der Frauenbewegung nahe und trat 1940 den Quäkern bei.[37] Eine Studie rekonstruiert die Struktur des Berliner Retternetzes um Helene Jacobs und den "Nichtarier" Franz Kaufmann mit vier Helferbündnissen, die in der Bekennenden Kirche verwurzelt waren.[38] Eine Verbindung von politischem Widerstand gegen das Regime und Hilfe für Juden stellt die aus Juden und Nichtjuden bestehende Gemeinschaft für Frieden und Aufbau in Berlin und in Luckenwalde dar. Der als Jude Verfolgte Werner Scharff und der "arische" Justizangestellte Hans Winkler mobilisierten Ressourcen für die Unterbringung von Juden und verteilten Flugblätter. Zur Gruppe gehörten NSDAP-Mitglieder, Kommunisten, Soldaten und Unpolitische.[39]

Hilfsangebote in bestimmten Situationen: Personen, die vor und nach ihren Hilfeleistungen nie öffentlich in Erscheinung traten, ergriffen in einer bestimmten Situation die Initiative. Der Berliner Herrenschneider Richard Gustke gehörte dazu. Der jüdische Zwangsarbeiter Fritz Pagel kannte ihn aus der Vorkriegszeit und beschreibt ihn als Nazi-Gegner, der sich durch ausländische Rundfunksendungen über den Kriegsverlauf informierte. Gustke bot Pagel Ende 1942 an, die vierköpfige Familie in seinem Wochenendhaus in Brandenburg unterzubringen. Im Januar 1943 kam der Familienvater auf das Angebot zurück. Nach einem halben Jahr wurden Nachbarn auf die unbekannten Bewohner aufmerksam. Die Polizei verlangte von Gustke, die Arbeitsbücher seines "Mieters" und dessen 18- jährigen Sohnes vorzulegen. Die Untergetauchten mussten fliehen, wurden bei einer Straßenkontrolle aufgegriffen und deportiert. Nur Fritz Pagel überlebte Auschwitz.

Maria Nickel, Ehefrau eines Lkw-Fahrers und Mutter von zwei kleinen Kindern, gehört zu den zahlreichen "einfachen" Berlinerinnen, die Leben retteten. Im November 1942 beobachtete die katholische Hausfrau in ihrer Nachbarschaft jüdische Zwangsarbeiterinnen auf dem Weg zur Fabrik in und beschloss, einer von ihnen, einer schwangeren Frau, zu helfen. Im Januar 1943 ließ sie für Ruth Abraham einen Postausweis auf ihren Namen ausstellen und überließ Walter Abraham den Führerschein ihres Mannes. Mit diesen Ausweisen tauchten die Abrahams nach der Geburt ihrer Tochter unter. Bei einer Polizeikontrolle wurden die Dokumente eingezogen, die Abrahams konnten jedoch entkommen. Die Gestapo drohte Nickel, ihr die Kinder wegzunehmen und sie in ein Arbeitserziehungslager einzuweisen, wenn man ihr "Judenbegünstigung" nachweisen könne. Die Frau ließ sich nicht beirren und unterstützte die Verfolgten weiter.[40]

Reaktives Handeln: Ein Großteil der Hilfeleistungen kam zustande, weil zum Untertauchen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 294 entschlossene Juden nichtjüdische Bekannte, ehemalige Patienten, Kunden, Kollegen oder sogar Unbekannte direkt um Hilfe baten. Alice Löwenthal: "Tagelang bat ich abwechselnd bei verschiedenen christlichen Freunden um eine Unterkunft wenigstens für eine Nacht. Ich habe sie bei Menschen gefunden, an deren Hilfsbereitschaft ich früher nie gedacht hatte. Ich habe aber auch Ablehnung jeder nur kleinsten Hilfe erfahren bei Menschen, die sich früher in guten Zeiten als meine besten Freunde bezeichnet hatten."[41] Wanda Feuerherm, eine Näherin aus Berlin-Lichtenberg, gehört zu denen, die eine solche Bitte nicht abschlug. Als sie Ende 1942 von Erna Segal, der Frau eines ihr bekannten jüdischen Pelzhändlers, gebeten wurde, die 18-jährige Tochter zu verstecken, willigte sie ein.[42] An diesem Beispiel lassen sich zentrale Aspekte der Hilfe zeigen: Helferin und Verfolgte kannten sich schon vor dem Krieg; die Initiative ging von den Verfolgten aus; Feuerherm gehört zu den zahlreichen Frauen, die Juden versteckten, während der Ehemann als Soldat an der Front war. Weit mehr als die Hälfte der bekannt gewordenen Hilfeleistenden waren Frauen.

Die Untersuchung missglückter Hilfeleistungen vermittelt den Eindruck, dass das Risiko kaum kalkulierbar war: Einweisung in ein Konzentrationslager (in einigen Fällen mit Todesfolge), Gefängnis- und Zuchthausstrafen, relativ kurze Haft im Gestapo-Gefängnis, Verwarnungen und Einschüchterungen oder auch nur geringfügige Geldbußen. Zuweilen geschah es, dass untergetauchte Juden aus der Wohnung ihrer Helfer heraus verhaftet wurden, ohne dass die Helfer belangt wurden.

Die Gedenkstätte "Stille Helden"

Durch den Aufbau der Gedenkstätte "Stille Helden" in der Rosenthaler Straße in Berlin entsteht in enger räumlicher und inhaltlicher Nähe zum Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt ein Gedächtnisort für die jahrzehntelang sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der Widerstandsgeschichte kaum beachteten Helfer[43] wie für die Verfolgten. Dies geschieht im Auftrag des Bundesbeauftragen für Kultur und Medien und wird gefördert mit Mitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE). Ziel der Dauerausstellung ist es, die Hilfe für Juden in der NS-Zeit möglichst in allen Ausprägungen darzustellen, auch mit ihren problematischen Seiten. Natürlich gibt es wichtige Parallelen zwischen den Hilfeleistungen für Juden und denen für andere verfolgte Gruppen, doch hat die Hilfe für Juden paradigmatischen Charakter: Sie standen in der NS-Ideologie auf der untersten Stufe der "Rassenhierarchie", und seit 1939, verstärkt seit 1941, wurden sie als die Schuldigen am Krieg und als Feinde des deutschen Volkes par excellence gebrandmarkt.

Die Bezeichnung "Stille Helden" entspricht dem Wunsch ehemaliger Verfolgter, die dank mutiger Helfer die "Illegalität" überstanden haben. Inzwischen wird dieser Ausdruck in der Literatur und den Medien verwendet, löst aber auch Abwehr aus, oft gerade bei den so bezeichneten Helfern, die sich nicht als Helden stilisiert sehen wollen. Auf jeden Fall fordert diese Bezeichnung zur Diskussion heraus.

Von der Gedenkstätte könnte man erwarten, insbesondere jugendlichen Besuchern Identifikationsmöglichkeiten oder gar Vorbilder anbieten zu können, doch in einer direkten Übertragung wird dies nicht funktionieren. Die Geschichten der Verfolgten und ihrer Helfer können aber wichtige Erkenntnisse zur NS-Diktatur vermitteln: Die Helfer, eine kleine Minderheit, die ihr Handeln meist nicht als Widerstand, sondern als selbstverständlich und "normal" definierten, widerlegen die Entschuldigung vieler Deutscher nach dem Krieg, gegen den Terror habe man nichts tun können. Ihre Geschichten zeigen, dass es Handlungsalternativen gab, die zwar riskant waren, aber nicht von vornherein todesbereiten Widerstand verlangten. Es gilt, die Handlungsmöglichkeiten und Zwangslagen von Helfern und Verfolgten in der Diktatur auszuloten.

Die Auseinandersetzung mit dem Handeln der Helfer, das immer wieder als Zivilcourage charakterisiert wird, wirft Fragen auf: Werden die Hilfeleistungen für Juden in der NS-Zeit mit der Bezeichnung " zivilcouragiertes Handeln", das eher ein Element demokratischer Alltagspraxis ist, hinreichend erfasst? Solche Überlegungen können zum Überdenken des eigenen Handelns im sozialen und politischen Alltag der Gegenwart und zu Solidarität und Zivilcourage in der Demokratie ermutigen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 295

Text aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 14-15/2007) (http://www.bpb.de/apuz/30545/stille- helden)

Fußnoten

1. Die Forschung des TU-Projektes bezog sich auf das Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937. Es entstand eine Datenbank mit 3 000 Datensätzen von Helfern bzw. 2 600 von Verfolgten. Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003; Beate Kosmala/Claudia Schoppmann, Überleben im Untergrund. Hilfe für Juden in Deutschland 1941 - 1945, Berlin 2002. Seit 2005 wird diese Datenbank an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand auf der Basis neuer Aktenbestände ergänzt. Dort wird eine ständige Ausstellung für die zentrale Gedenkstätte "Stille Helden" vorbereitet; die Eröffnung ist für 2008 geplant. Künftig werden auch Rettungsaktionen von Deutschen in den besetzten Ländern einbezogen. Vgl. Wolfram Wette (Hrsg.), Retter in Uniform, Frankfurt/M. 2002; ders. (Hrsg.), Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS, Frankfurt/M. 2004. 2. Vgl. Alfred Gottwald/Diana Schulle, Die "Judendeportationen" aus dem Deutschen Reich 1941 - 1945, Wiesbaden 2005; Wolf Gruner, Von der Kollektivausweisung zur Deportation der Juden aus Deutschland (1938 - 1939), in: Birthe Kundrus/Beate Meyer, Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne-Praxis-Reaktionen 1938 - 1945, Göttingen 2004, S. 21 - 62. 3. Vgl. Wolf Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden, Berlin 1997. 4. Vgl. Susanne Willems, Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau, Berlin 2002, S. 327 - 355. 5. Vgl. Beate Kosmala, Zwischen Ahnen und Wissen. Die Flucht vor der Deportation (1941 - 1945), in: B.Kundrus/B. Meyer (Anm. 2), S. 135 - 159. Die Zeitzeugenberichte stammen aus der Wiener Library, der Sammlung von Dr. Ball-Kaduri und dem Archiv des Leo Baeck Instituts (LBI) New York; Signaturen nach Yad Vashem Archives (YVA), Jerusalem. 6. YVA 02/417, S. 1. 7. YVA 01/198, S. 1. 8. Vgl. Beate Meyer, Das unausweichliche Dilemma: Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, die Deportationen und die untergetauchten Juden, in: B.Kosmala/C. Schoppmann (Anm. 1), S. 273 - 298. 9. YVA 02/346, S. 2. 10. LBI New York, M.E. 564, S. 6. Siehe auch: Reha und Al Sokolow, Ruth und Maria. Eine Freundschaft auf Leben und Tod, Berlin 2006. 11. LBI New York, M.E. 564, S. 8. 12. YVA 02/754, S. 5. 13. Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006; vgl. auch Peter Longerich, "Davon haben wir nichts gewusst! " Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 - 1945, München 2006. 14. Vgl. Marion Kaplan, Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland, Berlin 2003, S. 207. 15. YVA 02/33, S. 5. 16. Vgl. Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, München 2001(18), S. 193f. 17. Vgl. Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 - 1945, Bde. I-IV, hrsg. vom Bundesarchiv, Koblenz 2006. 18. Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, FU Berlin 1995. 19. Bei Wolfgang Benz, Überleben im Untergrund 1943 - 1945, in: ders. (Hrsg.), Die Juden in Deutschland1933 - 1945, München 1988(2), S. 660: "annähernd 10.000"; Konrad Kwiet/Helmut Eschwege, Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um die Existenz und Menschenwürde 1933 - 1945, Hamburg 1984, S. 150, nennen 10 000 bis 12 000 (inkl. besetzte Gebiete); Gerald Reitlinger, Die Endlösung, Berlin 1961(4), S. 180 nennt für Berlin (Mitte 1943)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 296

etwa 9 000 Untergetauchte. 20. Vgl. Verzeichnis der nach der Befreiung durch die Alliierten in Berlin registrierten Juden, August 1945, in: Jüdische Gemeinde zu Berlin (Bibliothek). Das Mitgliederverzeichnis der Jüdischen Gemeinde vom Juli 1947 bestätigt diese Größenordnung in etwa mit der Zahl 1 379. 21. Die systematische Erhebung der OdF-Akten im Landesarchiv Berlin und im Archiv des Centrums Judaicum Berlin; Bestände in der Behörde der BStU über Juden in der DDR. 22. Vgl. Claudia Schoppmann, Die "Fabrikaktion" in Berlin: Hilfe für untergetauchte Juden als Form humanitären Widerstands, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, (2005) 2, S. 138 - 148, hier S. 141f. 23. Vgl. Wolf Gruner, Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der " Mischehen" 1943, Frankfurt/M. 2005. 24. Zum "jüdischen Fahndungsdienst" vgl. Doris Tausenfreund, Erzwungener Verrat. Jüdische "Greifer " im Dienst der Gestapo 1943 - 1945, Berlin 2006. 25. Dies gilt für Frankfurt/M., Hamburg und München. Beate Meyer weist für Hamburg nach, dass nur wenig mehr als 50 Verfolgte, die überwiegend nach den Luftangriffen im Sommer 1943 flüchteten, unter falscher Identität überlebten: "A conto Zukunft". Hilfe und Rettung für untergetauchte Hamburger Juden, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 88 (2002), S. 205 - 233. In Frankfurt/M. konnten bis zu 20 als "Volljuden" klassifizierte Personen ermittelt werden, die vor der Deportation flüchteten. Vgl. dazu Monica Kingreen, Verfolgung und Rettung in Frankfurt am Main und der Rhein-Main-Region, in: B. Kosmala/C. Schoppmann (Anm. 1), S. 167 - 190. 26. Vgl. Wolfram Wette (Hrsg.), Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkriegs, Freiburg 2005. 27. Vgl. Wolfgang Benz, Juden im Untergrund und ihre Helfer, in: ders. (Anm. 1), S. 11 - 48. 28. Vgl. P. Longerich (Anm. 13), S. 182ff. 29. Vgl. ebd., S. 193. 30. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 518, Nr. 6713. Vgl. Beate Kosmala, Missglückte Hilfe und ihre Folgen, in: dies./C. Schoppmann (Anm. 1), S. 205 - 222. 31. Vgl. Ruth-Andreas Friedrich, Der Schattenmann, Frankfurt/M. 1947; Harald Poelchau, Die Ordnung der Bedrängten, Berlin 1963; Maria Gräfin von Maltzan, Schlage die Trommel und fürchte dich nicht, Frankfurt/M.-Berlin 1988. 32. Vgl. Dennis Riffel, Unbesungene Helden. Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966, Berlin 2007. 33. Herbert A. Strauss, Über dem Abgrund. Eine jüdische Jugend in Deutschland 1918 - 1943, Berlin 1999, S. 294. 34. Die Gruppen werden ausführlicher dargestellt in: Beate Kosmala, Zivilcourage in extremer Situation. Retterinnen und Retter von Juden im "Dritten Reich", in: Zivilcourage lernen, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004, S. 106 - 116. 35. Vgl. Beate Kosmala, Zuflucht in Potsdam bei Christen der Bekennenden Kirche, in: W. Benz (Anm. 1), S. 113 - 130. 36. Vgl. Klaus Harpprecht/Harald Poelchau, Ein Leben im Widerstand, Reinbek 2004; Henriette Schuppener, "Nichts war umsonst" - Harald Poelchau und der deutsche Widerstand, hrsg. von Joachim Scholtyseck und Fritz Delp, Berlin 2006. 37. Vgl. Martina Voigt, Grüße von "Ferdinand". Elisabeth Abeggs vielfältiger Einsatz für Verfolgte, in: Beate Kosmala/Claudia Schoppmann (Hrsg.) für den Förderverein Blindes Vertrauen e.V. des Museums Blindenwerkstatt Otto Weidt, Sie blieben unsichtbar. Zeugnisse aus den Jahren 1941 bis 1945, Berlin 2006, S. 104 - 116. 38. Vgl. Katrin Rudolph, Hilfe beim Sprung ins Nichts, Berlin 2005. 39. Vgl. Barbara Schieb, Die Gemeinschaft Frieden und Aufbau, in: Johannes Tuchel (Hrsg.), Der vergessene Widerstand, Göttingen 2005, S. 97 - 113. 40. Sokolow, Ruth und Maria; Landesarchiv Berlin, Akte Unbesungene Helden, Nr. 599. 41. YVA 02/622, S.4. 42. Yad Vashem Jerusalem, Department of the Righteous Among the Nations, ger 3782. 43. Vgl. Peter Steinbach, "Unbesungene Helden", in: Günther B. Ginzel (Hrsg.), Mut zur Menschlichkeit, Köln-Bonn 1993, S. 183 - 203.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 297

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 298

Kommunen und NS-Verfolgungspolitik

Von Rüdiger Fleiter 30.3.2007

Dr. phil., geb. 1974; Redakteur beim Ernst Klett Schulbuchverlag Leipzig, Braunstraße 12, 04347 Leipzig.

Lange Zeit wurde die Rolle der Kommunen bei der Verfolgungspolitik unterschätzt. Dabei führten die Rathäuser nicht nur Weisungen aus, sondern gingen immer wieder über zentrale Vorgaben hinaus.

Einleitung

Die Städte und Gemeinden spielten im Dritten Reich eine wichtige Rolle, hatten sie doch als untere Verwaltungsbehörden die NS-Politik auf kommunaler Ebene umzusetzen. Die Kommunalverwaltungen standen in engem Kontakt mit der Bevölkerung und erfuhren deren Reaktionen - zustimmender wie ablehnender Art - unmittelbarer als jede andere Behörde. Aus Sicht des Regimes erfüllten sie eine wichtige Funktion: Für den Durchhaltewillen und die Moral der Bevölkerung ist zum Beispiel die Bedeutung des kommunalen Krisenmanagements nach Bombenangriffen kaum zu überschätzen.

Aufgrund ihrer integrativen Funktion waren die Kommunen auch in die NS-Verfolgungspolitik involviert - sonst wäre diese nicht so "effektiv" durchzusetzen gewesen. Es gibt wohl kaum eine Verfolgungsmaßnahme, bei der kommunale Stellen nicht einbezogen oder wenigstens darüber unterrichtet gewesen wären. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass die Mitwirkung der Kommunen an der NS-Verfolgungspolitik lange Zeit wenig beachtet wurde. Lokalgeschichtliche Abhandlungen beschränken sich häufig auf die "Gleichschaltung" der Rathäuser und brechen danach ab. Im vergangenen Jahr ist die erste Untersuchung erschienen, die am Beispiel Hannovers die Beteiligung einer Kommune an der NS-Verfolgungspolitik von 1933 bis 1945 umfassend untersucht.[1] Die Studie wird gestützt durch eine Reihe neuer Arbeiten aus anderen Städten, die ebenfalls die systemstabilisierenden Dimensionen kommunaler Herrschaft betonen.[2]

Die Ergebnisse zeigen: Die Städte und Gemeinden waren stärker in die Verfolgungspolitik einbezogen als bislang angenommen. Sie entließen Mitarbeiter aus rassischen und politischen Gründen. Sie wirkten an der Judenverfolgung und an Deportationen mit, "arisierten" Kunstgegenstände, private Bibliotheken, Gold- und Silbergegenstände sowie Immobilien. Die kommunalen Gesundheitsämter sorgten für die massenhafte Sterilisierung von "Erbkranken". Die Stadtverwaltungen vertrieben Sinti und Roma aus ihren Wohnungen und verfolgten sie. Die städtischen Bauämter beschäftigten in großer Zahl Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Besonders bemerkenswert ist, dass die kommunalen Beamten und Angestellten ihre Handlungsspielräume häufig nicht im Sinne der Opfer nutzten, sondern immer wieder über Direktiven "von oben" hinausgingen bzw. sogar Verfolgungsmaßnahmen aus eigenem Antrieb ersannen. Auf dem Gebiet der Verfolgungspolitik lassen sich keine nennenswerten Gegensätze zwischen den Kommunen und den örtlichen Parteistellen ausmachen, die sich ansonsten heftige Konflikte lieferten. Daher muss das Bild von einem Gegensatz zwischen der "alten Bürokratie " und der neuen NSDAP-Bürokratie, wie es in der älteren Literatur entwickelt wurde, in Frage gestellt werden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 299 Gegensatz von Staat und Partei?

Die Rolle der Beamtenschaft im Dritten Reich wurde Mitte der 1960er Jahre von Hans Mommsen erstmals systematisch untersucht. Mommsen zeigte in seinem Standardwerk, dass es sich beim NS- Staat um "kein monolithisch strukturiertes, von einheitlichem politischen Wollen durchströmtes Herrschaftsgebilde" handelte.[3] Aus diesen Überlegungen wurde später von Mommsen und anderen Historikern die Polykratie-Theorie entwickelt, nach der der NS-Staat eine "Herrschaft der Vielen " gewesen sei. Mommsen lenkte die Aufmerksamkeit weg vom vermeintlich starken, alle Geschicke bestimmenden Führer auf andere gesellschaftliche Akteure, in diesem Fall das Berufsbeamtentum. Das war ein wichtiger Schritt für die historische Forschung, denn es gab in den 1950er und 1960er Jahren in Justiz und Gesellschaft der Bundesrepublik die Tendenz, die Verantwortung für die NS- Verbrechen auf einen engen Kreis hoher Parteifunktionäre zu beschränken, um von der Mitwirkung der Funktionseliten und breiter Teile der Bevölkerung abzulenken.[4]

Mommsen wies nach, dass der Beamtenapparat - trotz Durchführung des Berufsbeamtengesetzes - im Kern unangetastet geblieben war, und verwies auf die gemeinsamen Interessen, die Hitler und das traditionelle Beamtentum verbunden hatten.[5] Im Zentrum seiner Analyse stand die innere Struktur des NS-Systems, die er durch einen Dualismus zwischen Partei und Staat bestimmt sah. Hitler habe das Verhältnis zwischen Partei und Staat nie grundsätzlich geklärt, sondern in der Schwebe gehalten. Obwohl sich das Regime nach der Machtübertragung grundsätzlich zum Berufsbeamtentum bekannt habe, sei parallel zum traditionellen Verwaltungsapparat eine Parteibürokratie aufgebaut worden. Das konkurrierende Nebeneinander von Partei- und Staatsstellen habe während der gesamten Zeit des Dritten Reichs zu schweren inneren Spannungen geführt und sei von "tiefe(r) Gegensätzlichkeit " geprägt gewesen. Die NSDAP habe gegenüber den Beamten ein "ausgeprägt feindseliges, politisch motiviertes Misstrauen" an den Tag gelegt, wie umgekehrt die Fachbeamten die Arbeit der oft dilettantisch vorgehenden Parteifunktionäre gering geschätzt hätten.[6]

Die Fokussierung auf die Auseinandersetzungen zwischen Partei und Staat brachte jedoch das Problem mit sich, dass die traditionelle Bürokratie stets als gemäßigteres Element gegenüber einer vermeintlich radikaleren Parteibürokratie erschien. Die Beamtenschaft wurde bei Mommsen als passives Element beschrieben, dessen Kompetenzen durch den Parteiapparat "ausgehöhlt" worden seien und das sich einer "fortschreitenden Zersetzung des Staatsapparates" ausgesetzt gesehen habe. So erschien das Beamtentum ganz überwiegend als Opfer der Nationalsozialisten. Indem Mommsen die Geschichte des Beamtentums im Dritten Reich als "Geschichte seiner inneren und äußeren Selbstbehauptung" charakterisierte, reproduzierte er letztlich die Selbstsicht der Beamtenschaft auf das Regime.[7]

Unbeachtet blieb das eigentliche Handeln von Verwaltungsbeamten, die bei der Durchführung zahlreicher Verbrechen mitgewirkt hatten. Zwar war nach dem damaligen Forschungsstand die Beteiligung der Beamtenschaft noch nicht im vollen Ausmaß bekannt, doch erste Untersuchungen waren bereits veröffentlicht.[8] Zu Recht ist in der neueren Forschung darauf verwiesen worden, dass " die Verfolgungsmaßnahmen auch und gerade von denjenigen Behörden formuliert und exekutiert wurden, die lange im Gegensatz zur NSDAP und als konservative Beharrungskräfte galten".[9] Analysiert man die Rolle der Beamtenschaft im Nationalsozialismus daher auf der Handlungsebene, erscheint die Beamtenschaft neben anderen (Partei-)Akteuren als Vollstreckerin der NS-Politik - von einem Gegensatz zwischen Partei und Staat kann unter diesem Gesichtspunkt keine Rede sein.

Die Studien zur Kommunalverwaltung im Dritten Reich orientierten sich fortan in Anlehnung an Mommsens Beamtenstudie am Dualismus-Paradigma. Horst Matzerath ging 1970 der Frage nach, ob die kommunale Selbstverwaltung im Nationalsozialismus Bestand gehabt habe.[10] Aus dieser Perspektive erschienen die Vorgänge nach 1933 als "Zerstörungsprozess" der kommunalen Selbstverwaltung: "Die Gemeinde als örtliche politische Ebene war in der Hand der Partei."[11] Matzerath schlussfolgerte, Mommsen zitierend: "Die kommunale Selbstverwaltung war eines der traditionellen Elemente, die der Nationalsozialismus parasitär ausnutzte und zersetzte`."[12] Abermals erschien die staatliche bzw. kommunale Verwaltung durch ihre Gegenüberstellung mit der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 300

Parteibürokratie als gemäßigteres Element. So untersuchte Matzerath das Verhältnis der beiden kommunalpolitischen Institutionen von Staat und Partei, dem Deutschen Gemeindetag (Staat) und dem Hauptamt für Kommunalpolitik (Partei). Durch den Ämter-Dualismus habe sich eine "immer stärkere Zuordnung von Politik einerseits [Hauptamt für Kommunalpolitik, R.F.] und sachgebundener Aufgabenerfüllung andererseits [Deutscher Gemeindetag, R.F.]" vollzogen.[13]

Nach dem heutigen Forschungsstand erscheint diese Gegenüberstellung als zu stark, denn zur " sachgebundenen Aufgabenerfüllung" des Deutschen Gemeindetages gehörte unter anderem die Koordinierung des staatlichen Raubes von Schmuck, Gold und Silber aus jüdischem Eigentum im Frühjahr 1939.[14] Einmal mehr muss - von der Handlungsebene aus betrachtet - die These vom Dualismus zwischen Staat und Partei relativiert werden.

Radikalisierung von unten: das Beispiel Hannover

Neue Anstöße für die Forschung hat Wolf Gruner Ende der 1990er Jahre gegeben.[15] Während große Arbeiten wie Raul Hilbergs "Vernichtung der europäischen Juden" die Judenverfolgung eher als zentral initiierten Prozess darstellten, hat Gruner erstmals die lokale Ebene als Faktor im Verfolgungsprozess in den Blick genommen.[16] Für den Aspekt der Judenverfolgung nahm er 1998 einen entscheidenden Paradigmenwechsel vor, indem er von einer "wechselseitigen Dynamisierung" der lokalen und zentralen Politik sprach.[17] Gruner wies nach, dass die Dynamik der NS-Politik nicht nur von oben nach unten verlief, sondern Anstöße zur Radikalisierung der Judendiskriminierung in bestimmten Phasen des Dritten Reiches von der lokalen Ebene ausgingen. Immer wieder hat er Vorstöße der örtlichen Partei- und Kommunalverwaltungen beobachtet, die nicht auf Reichsgesetze warteten, sondern aus eigenem Antrieb auf eine Radikalisierung der Judenverfolgung drängten.

Die Fallstudie aus Hannover bestätigt Gruners Thesen auf ganzer Linie. Bei dieser Stadtverwaltung handelte es sich um eine traditionelle Verwaltung, in der bis 1937 der konservative Oberbürgermeister Arthur Menge das Selbstverständnis der meisten Beamten prägte. Er war seit 1925 im Amt und trat nie in die NSDAP ein. Während in den meisten Kommunen die Oberbürgermeister rasch ausgetauscht wurden, stand Menge in Hannover - ähnlich wie Carl Friedrich Goerdeler in Leipzig - auch nach 1933 für Kontinuität. Das Verhältnis der Kommunalverwaltung zur NSDAP war denkbar schlecht, so dass Menge 1937 als Oberbürgermeister nicht wieder antreten durfte. Doch auch mit seinem Nachfolger, einem Parteimitglied, war die NSDAP unzufrieden, so dass er vorzeitig gehen musste. Im November 1941 schrieb die Gauleitung an das Hauptamt für Kommunalpolitik: "Ich hoffe zuversichtlich, dass die vom Gauleiter eingeleiteten Schritte eine Erneuerung der Stadtverwaltung an Haupt und Gliedern und damit auch die Schaffung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Partei und Stadtverwaltung zur Folge haben werden, das hier leider noch niemals bestanden hat."[18]

Trotz habitueller Distanz zur NSDAP und konservativem Selbstverständnis - auf dem Feld der Verfolgungspolitik war die Stadtverwaltung Hannover kein Sonderfall. Sie gleicht einem Mikrokosmos des Regimes, in dem beobachtet werden kann, wie sich das Deutsche Reich nach 1933 vom Rechtsstaat zu einem "Doppelstaat" (Ernst Fraenkel) veränderte.[19] Grundsätzlich handelten die städtischen Mitarbeiter nach 1933 auf der Basis des überkommenen Normenstaates weiter: Sie führten Grundbücher, erhoben Steuern, schlossen Verträge ab und beachteten das gültige Verwaltungsregelwerk. Daneben setzten sie aber auch Maßnahmen um, die das traditionelle Regelwerk und den Gleichheitssatz der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft setzten. Dazu drei Beispiele.

Erb- und Rassenpflege: Auf der Basis der zentralen, reichsweit gültigen Erb- und Rassengesetzgebung gründete die Stadtverwaltung Hannover 1935 ein Gesundheitsamt und eröffnete dort eine Abteilung Erb- und Rassenpflege.[20] Das Gesundheitsamt richtete seine Tätigkeit nach erb- und rassepflegerischen Gesichtspunkten aus, stellte über 2 100 Sterilisationsanträge, nahm tausende von Ehegesundheitsuntersuchungen vor und erfasste über ein Viertel der Stadtbevölkerung in einer Erbkartei. Das Amt setzte die vorgegebenen Unrechtsnormen unnachgiebig um. Der verantwortliche "

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 301

Erbarzt" ging dabei so radikal vor, dass er vom Regierungspräsidenten strafversetzt wurde. Die NSDAP-Gauleitung erwog sogar, die Geheime Staatspolizei auf den Mediziner anzusetzen - wohlgemerkt: nicht wegen regimekritischen Verhaltens, sondern wegen Übererfüllung auf dem Gebiet der Eugenik. Dabei stand das Personal der Abteilung Erb- und Rassenpflege mit wenigen Ausnahmen der NSDAP mit formaler Distanz gegenüber. Trotzdem wurde die Erb- und Rassengesetzgebung in Hannover von allen Beteiligten im einvernehmlichen Handeln umgesetzt. Auf der Handlungsebene gab es keine dualistischen Tendenzen zwischen Parteimitgliedern und Nicht-Nationalsozialisten. Der Großteil der Sterilisierungen wurde während der Amtszeit des nicht-nationalsozialistischen Oberbürgermeisters Menge vorgenommen - es gibt keine Hinweise, dass Menge den eugenischen Maßnahmen kritisch gegenüberstand.

Judenverfolgung: In allen Phasen des Dritten Reichs spielte die Stadtverwaltung Hannover bei der Judenverfolgung eine aktive Rolle.[21] Die Diskriminierungen betrafen immer weitere Lebensbereiche der jüdischen Einwohner und reichten vom Verbot des Betretens der Markthalle bis hin zu separaten Öffnungszeiten für Juden in städtischen Ämtern. Bereits kurz nach der Machtübertragung stieß die Kommune Aktionen an, die durch keine zentralen Vorgaben gedeckt waren: Sie änderte Straßennamen, verbannte Bücher jüdischer Autoren aus der Stadtbibliothek und verlieh jüdischen Unternehmern keine öffentlichen Aufträge mehr. Um jüdische Händler von Märkten und jüdische Sportler aus den Vereinen auszuschließen, nahm die Kommune sogar Konflikte mit den Aufsichtsbehörden in Kauf, die eine Radikalisierung untersagten. Oft genügten einzelne Beschwerden aus der Bevölkerung, um eine neue Diskriminierungsmaßnahme anzustoßen. Zunehmend koordinierte der Deutsche Gemeindetag die Judenpolitik in allen Kommunen des Reiches.[22]

Nach dem Judenpogrom im November 1938 separierten die Kommunen die Juden in der Fürsorge und im Wohnbereich von der übrigen Bevölkerung. Außerdem wurden sie zur Abgabe sämtlicher Gold- und Silbergegenstände gezwungen. Wie überall im Reich war es auch in Hannover die Stadtverwaltung, die die Juden dazu ins städtische Leihamt bestellte. Doch sie beließ es nicht bei der Durchführung des staatlichen Raubes, sondern versuchte darüber hinaus, zu profitieren: Oberbürgermeister Henricus Haltenhoff, Menges Nachfolger, kaufte 1940 zu günstigen Preisen Gegenstände aus dem beschlagnahmten Gut an, um das Ratssilber um 142 Stücke zu ergänzen. Die Kommune betrieb eine eigenständige "Arisierungspolitik": Sie erwarb zwischen 1933 und 1945 zu unlauteren Bedingungen über hundert bebaute und unbebaute Grundstücke von Juden, wofür sie knapp drei Millionen RM ausgab. Sie nutzte die Notlage wohlhabender jüdischer Einwohner aus, um Kunstsammlungen in städtische Museen zu überführen und eine Privatbibliothek in das Magazin der Stadtbibliothek einzugliedern. Mit den freiwilligen Kaufgeschäften dokumentierte sie indirekt ihre zustimmende Haltung zur Verfolgungspolitik. Die spektakulärste Radikalisierung durch die Stadtverwaltung geschah im September 1941, als die Kommune auf Druck der NSDAP-Gauleitung die noch nicht zusammengefassten Juden gewaltsam aus ihren Häusern trieb und in "Judenhäusern" einquartierte: Ohne rechtstechnische Grundlage "verwertete" die Stadtverwaltung das beschlagnahmte Mobiliar und wurde dafür von der zuständigen Oberfinanzdirektion gerügt.

Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene: Zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur während des Bombenkrieges nutzten die Stadtverwaltungen die Möglichkeit, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene einzusetzen. Allein die Stadtverwaltung Hannover betrieb zeitweise 22 Lager und beschäftigte zu Spitzenzeiten bis zu 9 000 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.[23] Annette Schäfer kommt zu dem Ergebnis, dass die Kommunen bei der Zwangsarbeiterbeschäftigung "in der Regel nüchternem Interessenkalkül" folgten, auch wenn Entscheidungen "im Einzelfall auf der Grundlage rassenideologischer Kriterien" gefällt wurden.[24] Das gilt auch für Hannover: Der Wunsch nach Beschäftigung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern entsprang dem städtischen Interesse, die umfangreichen Arbeiten trotz Personalmangels zu bewältigen. Aus diesem Grund drang die Stadtverwaltung bei übergeordneten Stellen auf die Zuweisung neuer Arbeiter und verschärfte dadurch das System der Zwangsarbeit. Die Kommunen wirkten als dynamisierende Kraft bei der Zwangsarbeiterbeschäftigung und befürworteten von Anfang an den Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener, obwohl er innerhalb der NS-Führung aus ideologischen Erwägungen umstritten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 302 war.[25]

Für das Funktionieren des lokalen Systems der Zwangsarbeit waren die Stadtverwaltungen unverzichtbar: Sie beschäftigten nicht nur eigene Zwangsarbeiter, sondern die kommunalen Wirtschafts- und Ernährungsämter und die Gesundheitsämter waren für alle Arbeiter und Gefangenen im Stadtgebiet zuständig, also auch für die in der Industrie eingesetzten Kräfte. Die städtischen Desinfektionsanstalten entlausten in großer Zahl Gefangene, die sich "auf Transport" befanden. Die Stadtbauräte waren als "Leiter der Sofortmaßnahmen" nach Bombenangriffen zentrale Figuren beim Kriegsgefangeneneinsatz, ihre Kompetenzen reichten weit über den Bereich der Stadtverwaltungen hinaus. Solange ihre Interessen gewahrt blieben, übernahmen die Stadtverwaltungen diese Tätigkeiten ohne Protest. Allerdings zeigten sie kein Interesse an Maßnahmen, die sich für sie nicht auszahlten. So wehrte sich die Stadtverwaltung Hannover dagegen, tausende von Gefangenen aus den Durchgangslagern zu entlausen, die nicht im Stadtgebiet verblieben. Sie hatte auch kein Interesse daran, zur langfristigen Eindämmung "volksbiologischer Gefahren" Bordelle für Ausländer einzurichten. Die Behandlung der Ausländer folgte einem rassenideologisch ausgerichteten Regelwerk, das von unterschiedlichen Verpflegungs- und Versorgungssätzenbis zur Separierung von Kranken nach Rassenzugehörigkeit reichte. Die städtischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter wurden zu gefährlichen Arbeiten, etwa zur Entschärfung von Bomben, eingeteilt. Stadtverwaltungen wie Köln kooperierten zu diesem Zweck sogar mit der SS, um KZ-Häftlinge dafür zu rekrutieren.[26]

Bilanz und Forschungsdesiderate

Die Ergebnisse der Fallstudie bestätigen Gruners These von der "wechselseitigen Dynamisierung von zentraler und lokaler Ebene". Dass sein Befund am Beispiel von Hannover verifiziert werden konnte, ist besonders aussagekräftig, weil die dortige Kommunalverwaltung im Vergleich mit anderen Städten weniger nazifiziert war. Doch selbst diese Verwaltung mit konservativem Selbstverständnis und mit Distanz zur NSDAP radikalisierte die Politik der NS-Regierung, auch wenn Städte wie Frankfurt am Main oder München etwa bei der "Arisierung" noch schärfer vorgingen.[27]

Die NS-Verfolgungspolitik durch die Kommunen ist noch immer nur unzureichend erforscht. Für die Lokalgeschichtsschreibung tut sich hier ein weites Forschungsfeld auf, wie allein am Beispiel der Edelmetallabgabe für Juden gezeigt werden kann: Diese zentrale, organisatorisch aufwändige Verfolgungsmaßnahme wurde nicht von der Partei oder der Gestapo, sondern von den Kommunen ausgeführt. In rund 60 kommunalen Pfandleihanstalten im Reich wurden so genannte öffentliche Ankaufstellen eingerichtet, in denen Verwaltungsmitarbeiter die abgegebenen Gegenstände registrierten, ihren Wert abschätzten, den Juden eine geringe Entschädigung dafür auszahlten, die Gegenstände einschmelzen ließen, versteigerten oder an eine zentrale Stelle nach Berlin weiterleiteten. Die Leihämter schickten insgesamt 135 Tonnen Silber und 1,3 Tonnen Gold an die Schmelzanstalten.[28] Die Gesamteinnahmen der öffentlichen Ankaufstellen für Wertsachen von Juden beziffert Stefan Mehl reichsweit mit rund 54 Millionen RM.[29] Trotz dieser Dimensionen fehlt die Aktion insämtlichen bisher vorliegenden Stadtgeschichten. Außer in Hannover ist sie lediglich in Frankfurt am Main näher untersucht.[30]

Auch andere Verfolgungsfelder fehlen in vielen lokalgeschichtlichen Darstellungen. Letztlich ließe sich über die erwähnten Beispiele hinaus anhand jedes beliebigen kommunalen Amtes die Mitwirkung der Städte an der NS-Verfolgungspolitik dokumentieren:

• Die Personalämter entließen nach dem Berufsbeamtengesetz Mitarbeiter aus politischen und rassischen Gründen.

• Die Sportämter beschlagnahmten die Sportanlagen von jüdischen Vereinen und der Arbeiterbewegung.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 303

• Die Gartenverwaltungen vertrieben Juden aus den öffentlichen Grünanlagen.

• Die Statistischen Ämter ermittelten die Anzahl von Juden und "Mischlingen" im Stadtgebiet in Zusammenarbeit mit der Geheimen Staatspolizei.

• Die Einwohnerämter führten Suchkarten des Gesundheitsamtes für Geschlechtskranke.

• Die Wohlfahrtsämter lieferten Informationen in Sterilisations- sowie Ehegesetzgebungsverfahren und waren an der Verfolgung von "Asozialen" beteiligt.

• Die Standesämter arbeiteten bei der Umsetzung der Ehegesetzgebung mit den Gesundheitsämtern Hand in Hand.

• Die Stadtarchive lieferten Material zur "Sippenforschung".

• Die Schulämter gaben Beurteilungen von Hilfsschülern zur Verwendung in Sterilisationsverfahren weiter und schlossen jüdische Kinder vom Unterricht aus.

• Die Wohnungsämter vertrieben Juden, Sinti und Roma aus ihren Wohnungen und bereiteten Deportationen vor.

• Die Fürsorgebehörden schlossen Juden von Sozialleistungen aus.

• Die Oberbürgermeister genehmigten in vielen Kommunen die "Arisierungen" von Einzelhandelsgeschäften.

• Die Grundstücksämter kauften Immobilien von jüdischen Eigentümern, die auswandern mussten oder deportiert wurden.

• Die Kämmereien verbuchten das "arisierte" Vermögen in den städtischen Haushalten.

• Die Bauämter organisierten die städtischen Kriegsgefangeneneinsätze.

• Die Wirtschafts- und Ernährungsämter waren für die Lebensmittelrationierung für sämtliche Einwohner zuständig - inklusive der Juden sowie der Insassen in Gefängnissen, Gefangenen- und Konzentrationslagern. Kaum eine Behörde verfügte über einen solch umfassenden Überblick über das NS-Lagersystem.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Den Kommunen bleibt viel Arbeit, wenn sie ihre Mitwirkung an der NS- Verfolgungspolitik aufarbeiten wollen.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 14-15/2007) - Kommunen und NS-Verfolgungspolitik (http://www.bpb.de/apuz/30547/kommunen-und-ns-verfolgungspolitik)

Fußnoten

1. Vgl. Rüdiger Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich. Verfolgungspolitik auf kommunaler Ebene am Beispiel Hannovers, 2., korr. Aufl., Hannover 2007.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 304

2. Vgl. Sabine Mecking/Andreas Wirsching (Hrsg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn 2005; Bernhard Gotto, Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933 - 1945, München 2006; Detlef Schmiechen-Ackermann/ Steffie Kaltenborn (Hrsg.), Stadtgeschichte in der NS-Zeit. Fallstudien aus Sachsen-Anhalt und vergleichende Perspektiven, Münster 2005. 3. Vgl. Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966, S. 18. 4. Vgl. dazu z.B. Rüdiger Fleiter, Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen und ihr gesellschaftliches und justizielles Umfeld, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU), 53 (2002), S. 32 - 50. 5. Vgl. H. Mommsen (Anm. 3), S. 14. 6. Vgl. ebd., S. 23. 7. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. die Kritik von Mommsens Ansatz bei Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2004(3), S. 564. 8. Vgl. Léon Poliakov/Josef Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener. Dokumente, Berlin 1956. Zur Nicht-Rezeption dieses Werks durch die westdeutschen Historiker vgl. N. Berg (Anm. 7), S. 337 - 370. 9. Wolf Gruner/Armin Nolzen (Hrsg.), "Bürokratien". Initiative und Effizienz, Berlin 2001, S. 7 - 15. 10. Vgl. Horst Matzerath, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970. 11. Ebd., S. 434. 12. Ebd. Vgl. auch H. Mommsen (Anm. 3), S. 18. 13. Ebd., S. 227. 14. Vgl. Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933 - 1942), München 2002, bes.S. 291 - 293; ders., Der Deutsche Gemeindetag und die Koordinierung antijüdischer Kommunalpolitik. Zum Marktverbot für jüdische Händler und zur "Verwertung" jüdischen Eigentums, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, 37 (1998), S. 261 - 291. 15. Vgl. Wolf Gruner, Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen: Zur wechselseitigen Dynamisierung von zentraler und lokaler Politik 1933 - 1941, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ), 48 (2000), S. 75 - 126. 16. Die Radikalisierung durch die lokale Ebene wird auch thematisiert bei Michael Wildt, Gewaltpolitik. Volksgemeinschaft und Judenverfolgung in der deutschen Provinz 1932 bis 1935, in: Werkstatt Geschichte, 35 (2004), S. 23 - 43; Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998. 17. Vgl. W. Gruner (Anm. 15). 18. Stellv. Gauleiter an Hauptamt für Kommunalpolitik, 24.11. 1941, Bundesarchiv Berlin, NS 25/798. 19. Ernst Fraenkel, The Dual State, A Contribution to the Theory of , New York 1941. 20. Vgl. R. Fleiter (Anm. 1), S. 57 - 121. 21. Vgl. ebd., S. 123 - 276. 22. Vgl. W. Gruner, Der Deutsche Gemeindetag (Anm. 14), S. 261 - 291. 23. Vgl. R. Fleiter (Anm. 1), S. 301 - 339. 24. Vgl. Annette Schäfer, Zwangsarbeit in den Kommunen. "Ausländereinsatz" in Württemberg 1939 - 1945, in: VfZ, 49 (2001), S. 70. 25. Vgl. ebd., S. 55. 26. Vgl. Karola Fings, Messelager Köln. Ein KZ-Außenlager im Zentrum der Stadt, Köln 1996. 27. Vgl. Doris Eizenhöfer, Die Stadtverwaltung Frankfurt am Main und die "Arisierung" von Grundbesitz, in: S. Mecking/A. Wirsching (Anm. 2), S. 299 - 324; Ulrike Haerendel, Kommunale Wohnungspolitik im Dritten Reich. Siedlungsideologie, Kleinhausbau und "Wohnraumarisierung " am Beispiel Münchens, München 1999. 28. Vgl. Ralf Banken, Der Edelmetallsektor und die Verwertung konfiszierten jüdischen Vermögens im "Dritten Reich". Ein Werkstattbericht über das Untersuchungsprojekt "Degussa AG" aus dem Forschungsinstitut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität zu Köln, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, (1999) 1, S. 171, Fn. 246. 29. Vgl. Stefan Mehl, Das Reichsfinanzministerium und die Verfolgung der deutschen Juden 1933 -

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 305

1943, Berlin 1990, S. 85. 30. Vgl. Monica Kingreen, Raubzüge einer Stadtverwaltung. Frankfurt am Main und die Aneignung " jüdischen Besitzes", in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 17 (2001), S. 17 - 50.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 306

Auf dem Weg zum 20. Juli 1944

Von Gerd R. Ueberschär 9.4.2005 Dr. phil., geb. 1943; 1976-1996 wiss. Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg i. Br. und Potsdam; seit 1996 Historiker am Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg und Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg.

Anschrift: Haierweg 21, 79114 Freiburg i. Br. E-Mail: [email protected] Veröffentlichungen u.a.:(Hrsg.) Hitlers militärische Elite. 2Bde., Darmstadt 1998; Die Deutsche Reichspost 1939-1945, Berlin 1999; (Hrsg.) Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Wahrnehmung und Wertung in Europa und den USA, Darmstadt 2002; Stauffenberg. Der 20. Juli 1944, Frankfurt/M. 2004.

Bereits 1938, nachdem die Forderung Hitlers nach dem zur außenpolitischen Krise geführt hatte, gab es erste konkrete Umsturzpläne der militärischen Opposition. Doch erst die Schrecken des Krieges, die Verbrechen in Polen und der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, beeinflussten die Militärs in ihrer Entscheidung maßgeblich.

Einleitung

Sowohl unmittelbar nach dem gescheiterten Attentatsversuch auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 als auch nach Kriegsende im Mai 1945 war die Frage nach den Motiven der Verschwörer gegen den Diktator umstritten. Viele Deutsche hatten nach dem 20. Juli angesichts der schwierigen militärischen Situation Deutschlands ihr Unverständnis über den Anschlag auf den "Führer" geäußert, da sich das Reich in ihren Augen in einem erbitterten Kampf befand und sie noch immer ein siegreiches Kriegsende erhofften, wie verschiedene Berichte überliefern.[1] Für die NS-Propagandisten waren die Erklärungen Hitlers und Goebbels' zum Attentat verbindlich; demnach waren die Attentäter "vom Ehrgeiz zerfressene, ehrlose, feige Verräter", wie es der Präsident des "Volksgerichtshofs", Roland Freisler, mehrfach in den Urteilen der auf Weisung Hitlers veranstalteten Prozesse gegen die Verschwörer formulierte.[2] Erklärungen der Verurteilten fanden sich in der gleichgeschalteten und zensierten Presse des NS-Staates nicht. In den Schauprozessen war es ihnen fast unmöglich, ihre Motive darzulegen. Nur selten gelang es den Angeklagten, diese kurz zur Sprache zu bringen, wie beispielsweise Ulrich- Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, als er während der Verhandlung trotz Gebrüll und Unterbrechung durch Freisler auf die "vielen Morde" an den Juden im besetzten Polen 1939 hinwies, die für ihn besonderer Anstoß zum Widerstand gegen Hitler gewesen seien.[3]

Nach dem Ende des Krieges und dem Untergang des NS-Regimes bestimmten zunächst alliierte Erklärungen die Sichtweise über den Widerstand gegen Hitler. Danach habe es sich bei dem Umsturzplan "Walküre" am 20. Juli 1944 um einen späten Versuch militärisch-konservativer Kreise gehandelt, durch die Ausschaltung des Diktators das Deutsche Reich vor der militärischen Niederlage zu bewahren. Die Verschwörer galten als preußische Militaristen und Junker, deren Vorstellungen man beim Aufbau einer politischen Nachkriegsordnung in Deutschland auf keinen Fall berücksichtigen wollte.

In der deutschen Zeitgeschichtsforschung nach 1945 bemühte man sich um eine Rehabilitierung des Widerstandes gegen Hitler als das "andere, bessere Deutschland". Um diese Intention zu erreichen, haben viele Studien die breite Motivlage der Hitlergegner untersucht und das weite gesellschaftliche Spektrum der Opposition dargelegt.[4] Undokumentiert ist allerdings die dem britischen Premierminister Winston Churchill zugeschriebene Ehrenerklärung für den deutschen Widerstand aus dem Jahr 1946, mit der eine Wende der alliierten Betrachtung konstatiert wird: Die deutschen NS-

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 307

Gegner seien "allein angetrieben von ihren Gewissensnöten zu dem Kampf gegen Hitler bewogen worden; ihr Widerstandskampf zähle deshalb zu den größten und vornehmsten Taten der Weltgeschichte"[5].

Mehrere Untersuchungen nach 1945 haben ein Motivbündel der militärischen Verschwörer erkennen lassen,[6] das schon vor dem Krieg bestand und schließlich am 20. Juli 1944 zur Tat Graf Stauffenbergs führte. Nicht selten kamen Motive hinzu oder bestehende wurden verstärkt, wenn das Regime seine politischen Ziele durch rücksichtslose Kriegführung und Vernichtungspolitik zu erreichen suchte.

Frühe militärische Widerstandspläne

Bereits während der außenpolitischen Krise um den Anspruch auf das Sudetenland im Sommer und Herbst 1938 hatten militärisch-konservative Widerstandskreise einen Staatsstreich in Form eines konkreten Umsturzplanes entworfen, dessen Erörterung bis in die höchsten Stellen im Oberkommando des Heeres (OKH) reichte. In ihm waren unterschiedliche Gruppierungen mit verschiedenen Zielen, Motiven und Methoden zusammengeführt.[7] Bei diesen frühen militärischen Widerstandsplänen muss sowohl die innenpolitische Situation in der Zeit der Gleichschaltung staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen bei der Errichtung des NS-Herrschaftssystems ab 1933 als auch jenes in der historischen Forschung als "Bündnis" oder "Entente" bezeichnete besondere Verhältnis zwischen Wehrmacht und Nationalsozialismus ab 1933/34 berücksichtigt werden. Dieses "Bündnis der Eliten" war Ursache jener " seltsamen, oft tragisch anmutenden Zwiespältigkeit der Haltung der deutschen Generalität und weiter Kreise des Offizierkorps" gegenüber Hitlers Kriegspolitik,[8] welche die Bildung einer entschlossenen Opposition unter Offizieren erheblich erschwerte.

Für die militärische Elite hatte die Zeit nach dem Regierungsantritt Hitlers im Januar 1933 einen beeindruckenden Machtzuwachs gebracht. Schon Jahre zuvor insgeheim entworfene Pläne für eine Aufrüstung wurden nun in die Tat umgesetzt; sie eröffneten den Offizieren durch personelle Vergrößerung des bisherigen 100 000-Mann-Heeres große Aufstiegschancen. Die Heeresführung suchte einen herausgehobenen Platz im Gefüge des NS-Staates zu erlangen und gegenüber Bestrebungen von SA und SS zu wahren. Vereinzelte distanzierte Stimmen über "Auswüchse" und erste Verbrechen fanden nur ein geringes Echo. Während der "Blomberg-Fritsch-Affäre" 1938 zeichnete sich allerdings eine kritische Haltung mehrerer höherer Offiziere ab, welche die nationalsozialistischen Machenschaften gegenüber der bisherigen Wehrmacht- und Heeresführung ablehnten.[9] Einige waren über den Umgang der Staatsführung mit Generaloberst Freiherr von Fritsch als Oberbefehlshaber des Heeres entsetzt; sie fanden sich schließlich in einer oppositionellen Gruppe zusammen, die den Bruch mit der NS-Politik vollzog.

Nur wenige Offiziere erkannten damals die verbrecherischen Ziele des Diktators. Es kam zu Kontakten zwischen dem Chef des Generalstabes des Heeres, General Ludwig Beck, dem ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, Reichsminister Hjalmar Schacht, Admiral Wilhelm Canaris und Oberstleutnant Hans Oster aus der Abwehrabteilung im Oberkommando der Wehrmacht (OKW). Vergeblich forderte Beck im Juli 1938 die Generalität auf, mit ihm gemeinsam den Rücktritt für den Fall anzudrohen, dass Hitler nicht von seinen Kriegsplänen lasse; Ziel war es, ein "finis Germaniae " zu verhindern.[10] Für Beck standen "letzte Entscheidungen für den Bestand der Nation auf dem Spiel"; die militärischen Führer hätten in dieser Situation "das Recht und die Pflicht vor dem Volk und vor der Geschichte, von ihren Ämtern abzutreten".[11] Beck musste jedoch erkennen, dass man ihm auf dem Weg des kollektiven Rücktritts nicht folgte, so dass er am 18. August 1938 seine Dienstentlassung beantragte.

Als im September 1938 die Gefahr eines Krieges um das Sudetenland wuchs, plante Becks Nachfolger General Franz Halder[12] mit dem im April neu ernannten Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst Freiherr von Weizsäcker, dem Befehlshaber des Berliner Wehrkreises, General Erwin von Witzleben, dem Oberquartiermeister I im Generalstab, General Carl-Heinrich von Stülpnagel, sowie mit Admiral Canaris und Oberstleutnant Oster einen Staatsstreich, um den befürchteten "großen Krieg

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 308

" abzuwenden.[13] Halder wollte den Putsch auslösen, sobald Hitler den Krieg beginnen würde, um ihn so als Bankrotteur deutscher Außenpolitik entlarven zu können. Bei Kontakten mit der britischen Regierung gelang es jedoch nicht, die Briten unter von der Ernsthaftigkeit der Oppositionsbemühungen zu überzeugen.[14] London vereinbarte stattdessen mit Hitler am 29. September 1938 politische Regelungen, um durch Überlassung der Sudetengebiete an das "Dritte Reich" die von Hitler provozierte Kriegsgefahr zu beseitigen. Der Staatsstreichplan vom September 1938 kam nicht zur Ausführung, da die von den Verschwörern gesetzte Prämisse, Hitler der Bevölkerung als Kriegstreiber präsentieren zu können, aufgrund des Münchener Abkommens und des dadurch unterbliebenen Angriffsbefehls gegen die Tschechoslowakei nicht eingetreten war.

Einerseits hat man nachträglich in Literatur und Forschung die Feststellung getroffen, der Putschversuch vom September 1938 sei ein Erfolg versprechender Plan gewesen.[15] Andererseits mussten mancherlei Unsicherheitsfaktoren in der Umsturzplanung konstatiert werden. So wurden selbst im Lager der Verschwörer skeptische Überlegungen darüber angestellt, ob es gelingen könne, Hitler gegenüber den Soldaten und vor allem dem jüngeren Offizierkorps als Verbrecher und Zerstörer des Reiches darzustellen.[16] Zu einer vorbehaltlos bejahenden Antwort ist man innerhalb der Militäropposition nicht gelangt.

Unterschiedlich waren Motive und politische Ziele. Für Halder stellte der Coup d'Etat ein letztes Mittel dar, um den Krieg abzuwenden. Für Oster dagegen war bereits die Hitler'sche Kriegspolitik ein ausreichender Anlass zum Sturz des NS-Systems. In der Abwehrabteilung gab es zudem eine Gruppe von Offizieren, die vom verbrecherischen Charakter des nationalsozialistischen Staates moralisch betroffen waren und deshalb die sofortige Tötung Hitlers bei einem Staatsstreich im Zuge eines Stoßtruppunternehmens in der Reichskanzlei beabsichtigten.[17] Nach dem Münchener Abkommen kam es angesichts der unbestreitbaren außenpolitischen Erfolge Hitlers zur Resignation in militärischen Widerstandskreisen.[18] Es schien fraglich zu sein, ob es gelingen würde, im Falle eines Umsturzes große Teile der Bevölkerung gegen Hitler zu mobilisieren. Folglich wurden dann weder der Juden- vom 9./10. November 1938 noch die vertragswidrige militärische Besetzung der "Rest- Tschechei" am 15. März 1939 als psychologisch günstige Ausgangspunkte neuer Staatsstreichversuche angesehen.

Eingeschränkte Möglichkeiten nach Kriegsbeginn

Die Erfahrungen des Jahres 1938 behinderten im Sommer 1939 vereinzelte Bemühungen, die von Hitler erneut heraufbeschworene Kriegsgefahr gegenüber Polen für eine Aktion gegen den Diktator zu nutzen.[19] Man wollte erst einen Prestigeverlust Hitlers in Form einer schweren militärischen Niederlage abwarten. Den Kriegsbeginn sah man deshalb nicht mehr als unmittelbaren Anlass für einen Umsturzversuch an. Die "Kraftprobe auf Biegen und Brechen" gegen Hitler - wie es von Weizsäcker rückblickend formulierte - ist im Sommer 1939 nicht gewagt worden.[20]

Es darf nicht übersehen werden, dass der Angriff auf Polen auch in oppositionellen Kreisen prinzipielle Zustimmung fand. Die Lösung der Danzig-, Korridor- und Polenfrage, wie sie durch die Grenzziehung des Versailler Friedensvertrages von 1919 entstanden waren, wurde in der militärischen Führungselite für richtig gehalten. Wie Halder waren auch andere Generale der Ansicht, dass die Grenzziehung im Osten mit dem "Danzig-" und "Nord-Ost-Problem" Polen korrigiert werden müsse.[21] Allerdings gab es auch einzelne Offiziere, die - wie beispielsweise Admiral Canaris - über Hitlers Kriegsabsichten empört waren und "jede sittliche Grundlage"[22] dafür vermissten. Eine übergreifende grundsätzliche Gegenposition zur Politik des Diktators kam jedoch nicht zustande.

Nach Kriegsbeginn waren die oppositionellen Möglichkeiten von Offizieren erheblich eingeschränkt, da man es nun als patriotische Pflicht ansah, sich für den Sieg der eigenen Waffen einzusetzen und Zweifel an Hitlers Politik zurückzustellen. Doch schon bald nach dem militärischen Erfolg in Polen sahen sich die Hitler gegenüber kritisch eingestellten führenden Militärs im OKW und OKH vor die Frage gestellt, wie sie sich gegenüber einer Ausdehnung des Krieges verhalten sollten. Hitler plante

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 309 nach dem Sieg über Polen eine rasche Offensive gegen Frankreich und scheute kein militärisches Risiko. Unter Halders Führung vertrat der Generalstab des Heeres die Auffassung, "im Westen noch auf Jahre hinaus den Krieg nur verteidigungsweise führen zu können".[23] Die militärisch begründete Ablehnung eines Angriffs auf Frankreich und die neutralen Staaten Niederlande, Belgien und Luxemburg bot einen neuen Ansatzpunkt für Staatsstreichüberlegungen der Militäropposition.

Ab Mitte Oktober 1939 kam es unter Beteiligung des Leiters der so genannten Verbindungsgruppe zwischen Abwehr und OKH, Oberstleutnant i. G. Helmuth Groscurth, und des seit Anfang Oktober eingesetzten Verbindungsmannes zwischen Halder und von Weizsäcker, Legationsrat Hasso von Etzdorf, zur Bildung eines engeren Widerstandskreises um den Generalstabschef. Die Planungen zielten darauf ab, den Staatsstreich auszulösen, sobald Hitler den Angriffsbefehl zur Westoffensive geben würde.[24] Dafür sollte auch die Mitarbeit von Truppenbefehlshabern im Westen gewonnen werden, an deren fachlich-kritische Einwände gegen eine zu frühe Offensive angeknüpft werden konnte. Eine für die Aktivierung der Staatsstreichplanungen am 19. Oktober 1939 entworfene Denkschrift von Erich Kordt, von Etzdorf und Groscurth über "Das drohende Unheil" rief dazu auf, Hitler "rechtzeitig" zu stürzen, da die üblichen "Argumente, Proteste oder Rücktrittserklärungen der militärischen Führung allein (...) erfahrungsgemäß weder ein Einlenken noch Nachgeben [Hitlers, G. U.] bewirken" würden.[25] Halder ließ die Pläne von 1938 rekonstruieren und ergänzen.

Als Hitler nach mehrmaligen Terminverschiebungen den 12. November zum Angriffstag für die Offensive im Westen bestimmte, wollten Halder und Brauchitsch am 5. November einen letzten Versuch unternehmen, den Diktator von dem Angriff abzubringen, um dann gegebenenfalls den Staatsstreich vor der nötigen Anlaufzeit für die Operationen einzuleiten. Als Hitler Brauchitsch jedoch mit schweren Vorwürfen gegen den im OKH-Hauptquartier vorherrschenden, angeblich destruktiven "Geist von Zossen" überschüttete und dessen Vernichtung androhte, befürchtete Halder, dass die Pläne verraten worden seien.[26] Er befahl sofort, alle Unterlagen zu vernichten und die Widerstandspläne einzustellen. Nachdem der Angriffstermin feststand, sah Halder keine Möglichkeit mehr, sich dem Befehl Hitlers entgegenzustellen. Die dann im weiteren Verlauf parallel zu den mehrmaligen Verschiebungen des Angriffstermins für die Westoffensive bis zum Frühjahr 1940 stattfindenden Versuche, den Generalstabschef doch noch für einen Staatsstreich zu gewinnen, waren nur noch ein vergebliches "Nachspiel".[27] Die damals im Kreis um Halder geäußerte Vermutung, dass die Mehrheit der Offiziere weiterhin fest hinter Hitler stehe, kann nicht leichtfertig außer Acht gelassen werden, zumal verschiedene Kommandeure später überzeugend erklärten, die Truppe wäre ihnen 1939/40 im Falle eines Staatsstreiches gegen Hitler nicht gefolgt.

Trotz dieser Resignation in der Militäropposition bemühten sich einige Mitarbeiter von Oster und Canaris in der Abwehr, der weiteren Eskalation zum "großen Krieg" entgegenzuwirken. So suchte der seit Kriegsbeginn in der Abwehr tätige und zum Widerstandskreis um Oster zählende Kriegsverwaltungsrat Helmuth James Graf von Moltke als Bearbeiter für den Wirtschaftskrieg mit Hilfe völkerrechtlicher Bedenken gegen die Verschärfung des See- und Handelskrieges durch das Oberkommando der zu kämpfen.[28]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 310 Verbrechen in Polen

Neben fachbezogenem Widerspruch gegen die von Hitler geplante Westoffensive und die dabei beabsichtigten Neutralitätsverletzungen sowie die weitere Ausweitung des Krieges führten auch die ab November 1939 bekannt gewordenen Verbrechen der SS- und SD-Einsatzgruppen im besetzten Polen zur Bereitschaft mehrerer Offiziere, gegen das NS-Regime zu opponieren.[29] Die dortigen Mordaktionen erfolgten unter dem Deckmantel der Militärverwaltung des Heeres, ohne dass sie vom OKH in alleiniger Verantwortung abgestellt werden konnten. Die systematischen Verbrechen und Massenmorde wirkten auf Generalstabsoffiziere wie Groscurth und Oberstleutnant Hellmuth Stieff in höchstem Maße schockierend.[30] Einzelne Truppenbefehlshaber in Polen - wie die Generale Blaskowitz, Petzel und Ulex - prangerten in Denkschriften die "Greuelhandlungen der Sicherheitspolizei " sowie das "Abschlachten" von einigen 10 000 Juden und Polen an und verlangten die Einstellung der verbrecherischen "Gewaltakte".[31]

Generaloberst von Brauchitsch entzog diesen Protesten jedoch als Oberbefehlshaber des Heeres den Boden. In einer grundsätzlichen Stellungnahme zu "Heer und SS" vom 7. Februar 1940 zeigte er Verständnis für die "notwendige und vom Führer angeordnete Lösung volkspolitischer Aufgaben", die " zwangsläufig zu sonst ungewöhnlichen, harten Maßnahmen gegenüber der polnischen Bevölkerung führen" müssten.[32] An dieser Einstellung änderte auch ein Brief von Generalfeldmarschall Eberhard von Mackensen, dem Doyen des alten Offizierskorps, vom 14. Februar 1940 nichts mehr. In dem von Generaloberst a. D. Beck angeregten Schreiben wies Mackensen mit Sorge auf die "Befleckung" des Ansehens und der Ehre der Armee durch die ihm bekannt gewordenen Ausschreitungen hin. Seine Mühe war vergeblich, da Brauchitsch einen Streit mit Reichsführer SS Heinrich Himmler vermeiden wollte.[33] Durch Brauchitschs Haltung war den Verschwörern um Oster und Groscurth die Möglichkeit genommen, bei anderen Offizieren durch Bekanntgabe der SS-Verbrechen Abscheu zu entfachen und dadurch eine politisch-moralisch begründete Widerstandshaltung in größerem Ausmaß zu fördern.

Es bleibt die Frage offen, warum man sich im OKH bei der Planung des Staatsstreiches nicht auf die in einzelnen Stäben vorhandene Gegenposition zu Hitlers verbrecherischer Rassen- und Besatzungspolitik gestützt hat. Es ist nicht auszuschließen, dass man im Widerstandskreis um Halder, Canaris und Oster Zweifel hatte, ob die Empörung über die rassenideologischen Exzesse und Verbrechen tatsächlich Widerhall finden würde und ob sie ein sicheres, tragendes Fundament für grundsätzlichen Widerstand gegen Hitler bot. Denn immerhin hatte das Propagandaministerium mit der Herausgabe des deutschen "Weißbuches" über polnische Greueltaten gegen die Volksdeutschen den Hass und die Ablehnung gegenüber Polen in der deutschen Bevölkerung und der Wehrmacht angeheizt. Auch in Kreisen jüngerer Generalstabsoffiziere gab es nicht nur Äußerungen von Abscheu, sondern auch propagandistische Kommentare antisemitischen Inhalts,[34] so dass berechtigte Zweifel bestehen, ob es letztlich mehr als nur sehr wenige Offiziere waren, die an den Mordaktionen in Polen Anstoß nahmen.

Enttäuschend verliefen weitere Bemühungen, General Halder für eine aktive Rolle im Widerstand zu gewinnen. Dadurch blieben die Informationen über die gelungene Kontaktaufnahme des Münchner Rechtsanwaltes und Abwehrmitarbeiters Josef Müller mit dem britischen Botschafter beim Vatikan und weitere Erfolg versprechende Sondierungen im Ausland ohne Echo auf Seiten der Widerstandsgruppe. Sie führten ebenso wie das als "X-Bericht" zusammengestellte Papier über diese Kontakte zu keinem Umschwung in der Haltung Halders und Brauchitschs.[35]

Letztlich waren es ganz unterschiedliche innere und äußere Ursachen, die einen Staatsstreich gegen das NS-Regime 1939/40 verhinderten. Anstoß und Motiv für eine verschwörerische Aktivität gegen das System bildeten sowohl abweichende Auffassungen über den außen- und machtpolitischen Weg des Reiches, die auch als ressortspezifische Gründe zu kennzeichnen sind, als auch prinzipielle moralische Beweggründe, diestärker ethisch motiviert waren und aus der Ablehnung der verbrecherischen NS-Taten resultierten. Die Furcht vor Hitlers falscher Kriegspolitik allein reichte nicht aus, eine konsequente und fest entschlossene Opposition gegen ihn zu begründen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 311

Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion

Die militärische Haltung gegenüber dem von Hitler Ende Juli 1940 gefassten Entschluss, den bisherigen Vertragspartner Sowjetunion zu überfallen und sein "Ostprogramm" zu verwirklichen,[36] muss vor dem Hintergrund der Siegeseuphorie im Sommer 1940 gesehen werden. Obwohl dem OKH auch noch später der "Sinn" dieses neuen, mit Weisung Nr. 21 vom 18. Dezember 1940 befohlenen Krieges gegen die UdSSR "nicht klar" war,[37] hat es sich an die routinemäßige Umsetzung der Hitler'schen Entscheidung in eine umfangreiche Planung gemacht. Dabei bestand Übereinstimmung hinsichtlich der gering einzuschätzenden militärischen Stärke der UdSSR und ein weitgehender Gleichklang mit der NS-Propaganda in Bezug auf die Einschätzung des Kommunismus, der für den Niedergang der deutschen Großmachtstellung mit verantwortlich gemacht wurde. Mahnungen vor dem neuen Krieg im Osten fanden kein Gehör und waren auch kein Motiv für neue Staatsstreichpläne gegen das Regime. Stattdessen wurde der "anti-bolschewistische Kampf" gegen die UdSSR von vielen Offizieren als Krieg gegen den "richtigen" Gegner akzeptiert.

Bezeichnenderweise kam es gegen Hitlers Befehle für einen rassenideologischen Vernichtungskrieg gegen die UdSSR nur vereinzelt zu mündlichen Protesten im OKH. Im Rahmen dieser Proteste ist das Bemühen der im Stab der Heeresgruppe Mitte tätigen Generalstabsoffiziere Henning von Tresckow und Rudolf-Christoph von Gersdorff als grundsätzliche Gegenposition gegen die geplante, verbrecherische Kriegführung zu werten. Beiden gelang es zwar, ihren Oberbefehlshaber, Generalfeldmarschall Fedor von Bock, zu einem Protest beim OKH in Berlin noch vor Kriegsbeginn zu mobilisieren, sie erreichten jedoch nicht, dass die "Mordbefehle" zurückgenommen wurden.[38] Das Ausbleiben eines unerbittlichen Protestes auf der einen Seite sowie die geschäftsmäßige Beteiligung der Führungsstäbe bei der Ausarbeitung und Umsetzung der Hitler'schen Ostkriegsvorstellungen in Befehle für die eigene Truppe auf der anderen offenbaren das hohe Maß an Mitverantwortung und Beteiligung der - und Heeresführung beim Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.[39]

Erst die nach dem Überfall am 22. Juni 1941 einzelnen, jüngeren Stabsoffizieren angesichts der Mordaktionen bewusst werdende Verstrickung der Wehrmacht in die grausamen Verbrechen des Regimes, die insbesondere aus der Übereinkunft des OKH mit Reichsführer SS Himmler am 26. März 1941 über das Wirken der SD-Einsatzgruppen im Osten resultierte, führte im Stab der Heeresgruppe Mitte zur Bildung eines neuen Widerstandskreises um von Tresckow.[40] Er erkannte recht früh die moralische Mitverantwortung und betrachtete zudem den Krieg gegen die Sowjetunion als Beginn des drohenden militärischen Zusammenbruchs des Deutschen Reiches. Von Tresckow wollte die Katastrophe abwenden und bemühte sich ab Herbst 1941 darum, die Militäropposition zu festigen, um neuen Staatsstreichplänen eine breitere Basis und größere Aussicht auf Erfolg zu verschaffen.

Ähnlich wie von Tresckow empfand auch Oberstleutnant Stieff das Dilemma, mit dem Kampf an der Ostfront zugleich der Ausrottungspolitik der Nationalsozialisten gegenüber der dortigen Bevölkerung zu dienen. Stieff fühlte sich "als Werkzeug eines despotischen Vernichtungswillens, der alle Regeln der Menschlichkeit und des einfachsten Anstandes außer acht läßt"[41]. Dass die von der NS-Führung organisierten Genozid-Aktionen an der Bevölkerung der besetzten sowjetischen Gebiete trotz Geheimhaltungspraxis in weitem Umfang im Offizierkorps bekannt waren und abgelehnt wurden, konnte der Generalstabsoffizier im Stab der Heeresgruppe Mitte, von Gersdorff, bei einer Frontreise Anfang Dezember 1941 in Erfahrung bringen.[42]

Zweifellos wurden Generalstabsoffiziere wie von Tresckow und von Gersdorff zu Mitwissern der Mordaktionen an der jüdischen und slawischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten der UdSSR. Denn mit den Einsatzkommandos und Einsatzgruppen des SD sowie mit besonderen SS- Infanteriebrigaden und SS-Kavallerieregimentern, die im Auftrag Himmlers Teile der einheimischen Bevölkerung einschließlich der Juden systematisch umzubringen hatten, bestanden von Seiten des Stabes der Heeresgruppe Mitte einerseits logistische Absprachen und eine taktische Zusammenarbeit, andererseits waren die SS-Kommandos bei der Ausführung ihres Mordauftrages unabhängig.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 312

Tresckow verstand den harten Kampf gegen die sowjetische Partisanentätigkeit, der sich allerdings auch gegen die jüdische Bevölkerung richtete, als selbstverständliche militärische und antibolschewistische Aktion. Größere Widerstände gegen die undifferenzierten Methoden des Partisanenkampfes, denen auch Frauen, Kinder und Greise zum Opfer fielen, blieben im Bereich der Heeresgruppe Mitte aus. Von den Mordaktionen der SS und des SD im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte erfuhr auch Tresckow. Mehrfach nahm er die Berichte der zugeordneten SD-Einsatzgruppe B zur Kenntnis und zeichnete sie als 1. Generalstabsoffizier (Ia) ab.[43] Eine Zustimmung oder Teilhabe an den grausamen Mordaktionen resultierte daraus nach Zeugenaussagen jedoch nicht; es lag zudem nicht in seiner Macht als Generalstabsoffizier im Stab der Heeresgruppe, diese abzustellen.

Staatsstreich während des Krieges

Die Kenntnis dieser Ereignisse hat Tresckow in seinem Kampf gegen das NS-Regime bestärkt, noch während des Krieges den Staatsstreich gegen Hitler zu wagen. Ebenso führte sie zum persönlich belastenden Wissen um die Verbrechen. Es gelang ihm, mit mehreren Offizieren, die zum Teil zu Zeugen von massenhaften und willkürlichen Judenerschießungen im Osten geworden waren, den Stab der Heeresgruppe Mitte zu einem Zentrum des Widerstandes im Offizierskorps des Heeres auszubauen.

In Berlin hatten sich mit dem Dienstantritt von General der Infanterie Olbricht als Chef des Allgemeinen Heeresamtes ab Mai 1940 neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den Hitlergegnern im OKW und OKH sowie des Stabes der Heeresgruppe Mitte ergeben. Obwohl die Niederlage der 6. Armee bei Stalingrad als Katastrophe empfunden wurde, blieb die Chance, diese als Anstoß für den Staatsstreich zu nehmen, ungenutzt. Einerseits hielt man einen solchen Versuch für zu spät angesichts der alliierten Kriegszielpolitik, die seit dem 24. Januar 1943 gemäß den Verabredungen auf der Konferenz von Casablanca zur Beendigung des Krieges die bedingungslose Kapitulation (" unconditional surrender") des Reiches verlangte. Andererseits musste man registrieren, dass es der NS-Führung gelang, die "Schockwirkung von Stalingrad" - wie Goebbels formulierte - propagandistisch aufzufangen. Nach Stalingrad war es deshalb vorrangiges Ziel der Militäropposition, die Widerstandszentren in Berlin, Paris und im Stab der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront enger miteinander zu verknüpfen.[44]

Sowohl die abscheulichen NS-Verbrechen als auch die katastrophale militärische Situation waren für mehrere Offiziere Motive für ihre Bereitschaft zum Widerstand. So hatte Claus Schenk Graf von Stauffenberg schon in seiner Dienststellung bei der Organisationsabteilung des OKH in den Jahren ab 1941 die NS-Verbrechen in den besetzten Ostgebieten verabscheut. Im April und August 1942 waren weitere Erkenntnisse über Massaker und den Judenmord sowie Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen für ihn das ausschlaggebende Motiv, um zwei mitverschworenen Generalstabsoffizieren zu verdeutlichen, dass Hitler beseitigt werden müsse, da sonst die Verbrechen kein Ende nehmen würden.[45] Wiederholt bemühte sich von Stauffenberg, auch anderen Offizieren den verbrecherischen Charakter des Regimes vor Augen zu führen, um sie für die Widerstandssache zu gewinnen.

Nach mehreren Rückschlägen bei Attentatsvorbereitungen und -plänen im Frühjahr und Sommer 1943 fanden sich schließlich mit Oberstleutnant von Stauffenberg, Oberst von Tresckow und deren Mitverschwörern in ihren Stäben energische Hitlergegner zusammen, die ab Herbst 1943 den Anschlag auf den Diktator anstrebten und vorbereiteten. Stauffenberg und Tresckow[46] waren in dieser Zeit die wichtigsten Antriebskräfte für die Vorbereitung des Attentats auf Hitler, das schließlich am 20. Juli 1944 im "Führerhauptquartier" im ostpreußischen Rastenburg ausgeführt wurde. Es scheiterte, weil Hitler den Sprengstoffanschlag überlebte. Dadurch blieben gerade jene Motive, die zeigten, dass Stauffenberg und seine Mitverschwörer für Deutschland eine rechtsstaatliche Ordnung wiederherstellen wollten, nur als Proklamationen, Denkschriften und Absichtserklärungen überliefert, ohne dass sie aufgrund des gescheiterten Attentats in die Praxis umgesetzt werden konnten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 313

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 27/2004) - Auf dem Weg zum 20. Juli 1944 (http://www.bpb. de/apuz/28241/auf-dem-weg-zum-20-juli-1944)

Fußnoten

1. Bundesarchiv (BA) Berlin, R 55/614, Bericht des Hauptreferates Pro PA im Reichspropagandaministerium vom 27. 7. 1944 betr.: Stimmungsmäßige Auswirkungen des 20. Juli 1944, S. 3 (Bl. 83). Zur Einschätzung und zum Ablauf des 20. Juli 1944 siehe Gerd R. Ueberschär, Stauffenberg - Der 20. Juli 1944. Frankfurt/M. 2004; Peter Hoffmann, Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, München 19793. 2. Vgl. Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München (Hrsg.), Widerstand als "Hochverrat" 1933 - 1945. Die Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht. Mikrofiche-Edition und Erschließungsband. Bearb. von Jürgen Zarusky und Hartmut Mehringer, München 1997 - 1998. 3. Vgl. Gerd R. Ueberschär, Der militärische Widerstand, die antijüdischen Maßnahmen, " Polenmorde" und NS-Kriegsverbrechen in der ersten Kriegsjahren (1939 - 1941), in: ders. (Hrsg.), NS-Verbrechen und der militärische Widerstand gegen Hitler, Darmstadt 2000, S. 31. 4. Vgl. die Beiträge in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln 1994; Neuauflage: Der 20. Juli. in der Vergangenheitspolitik nach 1945, Berlin 1998; vgl. auch Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, Paderborn 1994. 5. Lothar Kettenacker, Die Haltung der Westalliierten gegenüber Hitlerattentat und Widerstand nach dem 20. Juli, in: G. R. Ueberschär, Der 20. Juli 1944 (Anm. 4), S. 29. 6. Vgl. Manfred Messerschmidt, Motive der militärischen Verschwörer gegen Hitler, in: ebd., S. 107ff. 7. Vgl. Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933 - 1940, Stuttgart 1969; zu den verschiedenen Stufen des Widerstandes siehe Dieter Ehlers, Technik und Moral einer Verschwörung. Der Aufstand am 20. Juli 1944, Bonn 1964; Peter Hüttenberger, Vorüberlegungen zum "Widerstandsbegriff", in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion, Göttingen 1977, S. 117 - 134. 8. Vgl. Fritz Fischer, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871 - 1945, Düsseldorf 1979; Zitat bei Walter Görlitz, Die deutsche Militäropposition 1939 - 1945, in: Frankfurter Hefte, (1949) 4, S. 230. 9. Vgl. Karl-Heinz Janssen/Fritz Tobias, Der Sturz der Generäle. Hitler und die Blomberg-Fritsch- Krise 1938, München 1994; Harold C. Deutsch, Das Komplott oder Die Entmachtung der Generale. Blomberg- und Fritsch-Krise. Hitlers Weg zum Krieg, München 1974; Jürgen Schmädeke, Die Blomberg-Fritsch-Krise. Vom Widerspruch zum Widerstand, in: ders./Peter Steinbach (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 1985, S. 368 - 382. 10. Vgl. Klaus-Jürgen Müller, General Ludwig Beck. Studien und Dokumente zur politisch-militärischen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933 - 1938, Boppard 1980, S. 551ff.; dagegen Peter Hoffmann, Generaloberst Ludwig Becks militärisches Denken, in: Historische Zeitschrift, 234 (1982), S. 101 - 121. 11. K.-J. Müller, ebd., S. 555. 12. Vgl. Gerd R. Ueberschär, Generaloberst Halder. Generalstabschef, Gegner und Gefangener Hitlers, Göttingen 1991; Christian Hartmann, Halder. Generalstabschef Hitlers 1938 - 1942, Paderborn 1991. 13. Vgl. Rainer A. Blasius, Für Großdeutschland, gegen den großen Krieg. Staatssekretär Ernst Frhr. von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen 1938/39, Köln 1981; Marion

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 314

Thielenhaus, Zwischen Anpassung und Widerstand. Deutsche Diplomaten 1938 - 1941. Die politischen Aktivitäten der Beamtengruppe um Ernst von Weizsäcker im Auswärtigen Amt, Paderborn 1984. 14. Vgl. Archiv IfZ München, ZS 633: Mitteilungen von Boehm-Tettelbach vom 1. 7. 1955 und vom 6. 7. 1955; Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, N 124/3; Erich Kordt, Nicht aus den Akten... Die Wilhelmstraße in Frieden und Krieg, Stuttgart 1950, S. 252, 279. 15. Vgl. Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1956, Neuausgabe München 1964, Stuttgart 19844, S. 202ff.; Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung, neue Ausgabe Frankfurt/M.-Hamburg 1958, 1986, S. 67. 16. Vgl. die Aussage von in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (International Military Tribunal/IMT), Nürnberg, 14. Nov. 1945 - 1. Okt. 1946, Nürnberg 1947 - 1949, Bd. 12, S. 234. 17. Vgl. Susanne Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler, Berlin 2000. 18. Vgl. Ulrich von Hassell, Vom andern Deutschland. Aus den nachgelassenen Tagebüchern 1938 - 1944, Zürich 1946, Frankfurt/M. 1964, S. 59; Neuausgabe: Die Hassell-Tagebücher 1938 - 1944. Aufzeichnungen vom Andern Deutschland, hrsg. von Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen unter Mitarbeit von Klaus Peter Reiß, Berlin 1988. 19. Vgl. Georg Thomas, Gedanken und Ereignisse, in: Schweizerische Monatshefte für Politik, Wirtschaft und Kultur, 25 (1945), S. 537ff. 20. Vgl. R. A. Blasius (Anm. 13), S. 140. 21. Vgl. Hans B. Gisevius, Bis zum bitteren Ende, Frankfurt/M. 1964, S. 395; Heinrich Bücheler, Hoepner. Ein deutsches Soldatenschicksal des 20. Jahrhunderts, Herford 1980, S. 80; Eduard Wagner, Der Generalquartiermeister. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Generalquartiermeisters des Heeres General der Artillerie Eduard Wagner, hrsg. von Elisabeth Wagner, München 1963, S. 109. 22. Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938 - 1940. Mit weiteren Dokumenten zur Militäropposition gegen Hitler, hrsg. von Helmut Krausnick und Harold C. Deutsch unter Mitarbeit von Hildegard von Kotze, Stuttgart 1970, S. 179. 23. Walter Warlimont, Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht 1939 - 1945, Frankfurt/M. 1964, S. 51; Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab) 1940 - 1945. Geführt von Helmuth Greiner und Percy E. Schramm, hrsg. von Percy E. Schramm. Bd. 1 - 4, Frankfurt/M. 1961 - 1979, hier Bd. 1, S. 950. 24. Vgl. H. Groscurth (Anm. 22), S. 51ff., 217ff.; Erich Kosthorst, Die deutsche Opposition gegen Hitler zwischen Polen- und Frankreichfeldzug (1939/40), Bonn 1954, 19573, S. 56; Kurt Sendtner, Die deutsche Militäropposition im ersten Kriegsjahr, in: Vollmacht des Gewissens. Der militärische Widerstand gegen Hitler im Kriege, Bd. 1, München 1960, S. 395, 405, 426; Archiv IfZ München, ZS/A29, Bd. 1 - 6. 25. H. Groscurth (Anm. 22), S. 219, 498 - 503; U. v. Hassell, (Anm. 18), S. 85f.; E. Kordt (Anm. 14), S. 359 - 366; Gerd R. Ueberschär, Das Dilemma der deutschen Militäropposition, Berlin 1988, S. 33ff.; BA-MA Freiburg, Nachlass Groscurth, N 104/2, S. 72ff. 26. Vgl. H. Groscurth (Anm. 22), S. 224. 27. G. R. Ueberschär (Anm. 12), S. 43. 28. Vgl. IMT (Anm. 16), Bd. 34, Dok. 157-C, S. 608ff.; ferner: BA-MA Freiburg, RW 19/1488, RW 19/1547, RW 19/548 und RW 19/1557; Ger van Roon, Graf Moltke als Völkerrechtler im OKW, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZG), 18 (1970), S. 12 - 61, hier S. 28ff.; Helmuth James Graf von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen, hrsg. v. Ger van Roon, Berlin 1986, S. 174ff., 214ff.; Rolf-Dieter Müller, Kriegsrecht oder Willkür?, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 42 (1987), S. 125 - 151. 29. Siehe dazu Hellmuth Stieff. Briefe, hrsg. von Horst Mühleisen, Berlin 1991; Helmut Krausnick, Hitler und die Morde in Polen, in: VfZG, 11 (1963), S. 196 - 209. 30. Vgl. Ausgewählte Briefe von Generalmajor Helmuth Stieff (hingerichtet am 8. August 1944), hrsg. von Hans Rothfels, in: VfZG, 2 (1954), S. 291 - 305, hier S. 300. Vgl. ferner H. Stieff, Briefe (Anm. 29), S. 108; Horst Mühleisen, Helmuth Stieff und der militärische Widerstand, in: VfZG, 39 (1991), S. 339 - 377, hier S. 343.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 315

31. Vgl. BA-MA Freiburg, RH 1/ 58, RH 53 - 23/23 und N 104/3; H. Groscurth (Anm. 22), S. 426f., und G. R. Ueberschär (Anm. 25), S. 39ff. 32. BA-MA Freiburg, Alliierte Prozesse 9/NOKW-1799: Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres Nr. 231/40 von 7. 2. 1940. 33. Vgl. Klaus-Jürgen Müller, Zu Vorgeschichte und Inhalt der Rede Himmlers vor der höheren Generalität am 13. März 1940 in Koblenz, in: VfZG, 18 (1970), S. 95 - 120; G. R. Ueberschär (Anm. 25), S. 43ff. 34. Vgl. Johann Adolf Graf von Kielmansegg, Panzer zwischen Warschau und Atlantik, Berlin 1941, S. 61. 35. Vgl. Josef Müller, Bis zur letzten Konsequenz, München 1975; Friedrich H. Hettler, Josef Müller ("Ochsensepp"). Mann des Widerstandes und erster CSU-Vorsitzender, München 1991; Archiv IfZ München, ZS 659, Bd. II; Harold C.Deutsch, Verschwörung gegen den Krieg. Der Widerstandin den Jahren 1939 - 1940, München 1969, S. 107 - 157, 159ff. 36. Literaturhinweise bei Rolf-Dieter Müller/Gerd R. Ueberschär, Hitlers Krieg im Osten 1941 - 1945. Ein Forschungsbericht, Darmstadt 2000. 37. Franz Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres, 1939 - 1942, bearb. von Hans-Adolf Jacobsen, 3 Bde., Stuttgart 1962 - 64, Bd. II, S. 261. 38. So U. v. Hassell (Anm. 18), S. 189; vgl. ferner Heinrich Uhlig, Der verbrecherische Befehl. Eine Diskussion und ihre historisch-dokumentarischen Grundlagen, in: Vollmacht des Gewissens (Anm. 24), Bd. 2, S. 289ff.; Helmut Krausnick, Kommissarbefehl und "Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa " in neuer Sicht, in: VfZG, 25 (1977), S. 682 - 738. 39. Vgl. die Hinweise bei R.-D. Müller/G. R. Ueberschär (Anm. 36); ferner: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944, Hamburg 1995; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944, Hamburg 2002. 40. Vgl. Bodo Scheurig, Henning von Tresckow, Oldenburg 1973, überarb. Neuausgabe Frankfurt/M. 1987, S. 98ff.; Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler. Zürich 1946, Frankfurt/M. 1962, Neuausgabe nach der Edition von Gero von Gaevernitz, Berlin 1984, S. 54ff.; Rudolf-Christoph Frhr. von Gersdorff, Soldat im Untergang, Frankfurt/M. 1977, S. 94ff.; P. Hoffmann (Anm. 1), S. 309ff. 41. H. Stieff, Ausgewählte Briefe (Anm. 30), S. 303 (24. 11. 1941); Hellmuth Stieff, Briefe (Anm. 29), S. 137f.; H.Mühleisen (Anm. 30) , S. 344. 42. Bericht des Ic-Offiziers der Heeresgruppe Mitte von 5.-8. 12. 1941, abgedruckt in: G. R. Ueberschär (Anm. 25), S. 44; siehe auch R.-C. v. Gersdorff (Anm. 40), S. 99. 43. Siehe BA-MA Freiburg, RH 19 II/153, S. 47ff., 69ff.; Christian Gerlach, Männer des 20. Juli und der Krieg gegen die Sowjetunion, in: H. Heer/K. Naumann (Anm. 39), S. 427 - 446; ders., Hitlergegner bei der Heeresgruppe Mitte und die "verbrecherischen Befehle", in: G. R. Ueberschär (Hrsg.) (Anm. 3), S. 62 - 76; StA Nürnberg, G-36: Aussage von Gersdorff vom 4. 3. 1948. 44. Zu den drei Zentren vgl. Peter Hoffmann, Militärischer Widerstand in der zweiten Kriegshälfte 1942 - 1944/1945, in: Heinrich Walle (Hrsg.), Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933 - 1945, Herford 19944, S. 400ff. 45. Vgl. Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992, S. 249ff.; siehe auch die Aussage von Major i. G. Kuhn vom 2. 9. 1944 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, in: Bengt von zur Mühlen/Andreas von Klewitz (Hrsg.), Die Angeklagten des 20. Juli vor dem Volksgerichtshof, Berlin-Kleinmachnow 2001, S. 355ff.; ferner in: BA-MA Freiburg, MSg 126. 46. Vgl. dazu die Biographie von P. Hoffmann (Anm. 45); zur weiteren biografischen Literatur siehe G. R. Ueberschär, (Anm. 1).

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 316

Literatur und Presse

Von J.W. Aust, Thomas Aust 17.3.2008 ist Diplom-Lehrer für Geschichte und Deutsch und war in der DDR als Lehrer tätig. Forschungsschwerpunkt ist die Zeit des Nationalsozialismus mit besonderem Blick auf den kirchlichen Widerstand.

studiert Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg.

Vertreibung, Exil und Ausbürgerung: Zu keiner anderen Zeit in der deutschen Geschichte war die Literatur in einem solchen Maße politischen Repressionen ausgesetzt wie zwischen 1933 und 1945.

Vertreibung, Exil und Ausbürgerung: Zu keiner anderen Zeit in der deutschen Geschichte war die Literatur in einem solchen Maße politischen Repressionen ausgesetzt wie zwischen 1933 und 1945. Bezieht man politische, soziale und kulturelle Entwicklungen mit ein, lassen sich in dieser Zeit drei Richtungen in der deutschen Nationalliteratur ausmachen:

• die antifaschistische- und Exilliteratur

• die Literatur der "Inneren Emigration"

• die faschistische und profaschistische Literatur

Doch sind auch hier die Übergänge fließend, standen doch die Schriftsteller in- und außerhalb Deutschlands unter dem Druck brutalster Maßnahmen des NS-Regimes. Auf der Grundlage von Ausnahmegesetzen wie dem so genannten "Ermächtigungsgesetz" vom 23. / 24.03.1933, schufen die Naziführer formalrechtliche Möglichkeiten, um Schriftsteller, die im Exil weiterhin im antifaschistischen Sinne wirkten, mit Ausbürgerungen und Einziehung ihres – erreichbaren – Eigentums (Gesetz vom 14.07.1933) in ihrer Existenz zu bedrohen bzw. in ihrem Wirken einzuschränken. Exilanten, deren die Nazis habhaft wurden, wurden nach NS-"Rechtsprechung " abgeurteilt, nicht wenige starben in den Konzentrationslagern. Werke jener Dichter, die von den NS-Machthabern für ihre Ziele missbraucht wurden, wobei die Schriftsteller, wie Ernst Jünger [1], sich dem System verweigerten bzw. entsprechend ihren Möglichkeiten Widerstand leisteten, aber auch Schriften "angepasster" Dichter, deren Werkaussage nicht der NS-Ideologie und -Weltanschauung entsprachen, werden deshalb in der angehangenen Aufstellung unter "sonstige Literatur" geführt.

Massenaufmärsche, protzig gestaltete, vorgeblich "kultisch" und historisch ausgeführte Umzüge, , "Sonnwendfeiern", "Große Kunstausstellungen", Theateraufführungen, Kinofilme und der massenhafte Druck von Büchern: Die Einseitigkeit künstlerischer Gestaltung im "Dritten Reich" zeigte sich in vielen Erscheinungen. Kultur und Literatur fanden nur dann die Akzeptanz des Systems, wenn sie der Verbreitung und Realisierung der Ideologie und Weltanschauung der NSDAP nutzten. Kunst und Kultur sollten erhaben und heroisch sein, "im nordischen und germanischen Streben, Suchen und Kämpfen" sollte "eine dem deutschen Volk gemäße Kunst" geschaffen werden [2]. Adolf Wagner, späterer bayerischer Gauleiter formulierte gar: "Die Kunst hat die Aufgabe, den Ausdruck des aus Blut und Boden geformten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 317

Gesichts der Seele darzustellen."[3] Und Joseph Goebbels deklarierte die Erfüllung der NS- Forderungen gar zur Voraussetzung für die Existenz der deutschen Kunst: "Die deutsche Kunst der nächsten Jahrzehnte wird heroisch, wird stählern romantisch, wird sentimentalitätslos, sachlich, wird national mit großem Pathos, sie wird gemeinsam verpflichtend und bindend sein oder sie wird nicht sein."[4]

Diese von den NS-Führern politisch gewollte Ausrichtung der Kunst, die Ablehnung und Bekämpfung dem nicht entsprechender anderer künstlerischer Stilrichtungen als "Entartete-" bzw. "Verfallskunst "[5], verbunden mit der Ersetzung des "Einzelindividuums" durch die "Volksgemeinschaft", mit der Maßgabe, das Volk in den "Mittelpunkt der öffentlichen, privaten, geistigen und politischen Betätigung " zu stellen [6], machten es – verbunden mit mangelnder Begabung – den NS-Schriftstellern schwer, historische Prozesse und Schicksale literarisch zu verarbeiten.[7] Die NS-Führer erhofften sich – vielfach vergeblich – hier Besserung von einer kommenden, jungen Generation von NS-Dichtern.[8]

Bereits in den ersten Veröffentlichungen des 1929 gegründeten NS-"Kampfbundes für deutsche Kultur " (KfdK), dessen "Führer" der NS-Ideologe Alfred Rosenberg war, sind die "völkischen" und rassischen Ideen klar formuliert, nach denen der "Aufbau eines neuen deutschen Kulturlebens" und "Schutz unserer Kulturgüter vor dem Kulturbolschewismus mit allen seinen gefährlichen Zersetzungserscheinungen "[9] gefordert wird. Auch das Auftreten der SA als "Ordner- und Schutzdienst" bei KfdK-Veranstaltungen [10], mehr noch, die massiven, aggressiven und diffamierenden Ausfälle gegen Künstler und Schriftsteller in den Zeitungen des KfdK ließen keinen Zweifel daran, dass die Nationalsozialisten auch Kunst und Kultur besetzen und beherrschen wollten. Die "Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur" (1929-1931) und "Deutsche Kulturwacht Reichsorgan des Kampfbundes für deutsche Kultur " (ab 1932) [11] ließen schon vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Schlimmes für Kunst und Künstler erahnen. Hinzu kamen Erfahrungen aus den Jahren 1930 / 1931, als in Thüringen Wilhelm Frick Innen- und Volksbildungsminister war und durch seine rigorose Personalpolitik gegenüber den NS verhassten Künstlern und Wissenschaftlern auffiel (Fricks Erlass "Wider die Negerkultur - für deutsches ", seine "Säuberung" der Kunstsammlungen des Weimarer Schloßmuseums, mit der Begründung, wie er es formulierte, damit etwas tun zu wollen gegen die Darstellung des "ostischen oder sonst minderrassigen Untermenschentums" in der Kunst [12]). Triumphierend drohten NS-Schriftsteller wie Will Vesper mit "Vollstreckung" und Abrechnung: "Um die Seele des Volkes geht es uns und um nichts anderes, und Hundsfötte wären wir, wenn wir jetzt, da die Brunnenvergifter in der Klemme sitzen, uns weichmachen und unseren gerechten Kampf bagatellisieren ließen."[13]

Zu den Opfern der Massenverhaftungen zählten deshalb auch Dichter und andere Geistesschaffende, Mitglieder des KPD-nahen "Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" sowie Literaten, die aus christlich-humanistischer, pazifistischer und demokratischer Gesinnung in ihren Werken gegen den Faschismus Stellung bezogen hatten: Carl von Ossietzky, Ludwig Renn, Willi Bredel, Klaus Neukrantz, Erich Mühsam, Kurt Hiller, Erich Baron und wurden in Konzentrationslagern (KZ) gequält. Erich Mühsam wurde dort ermordet, Erich Baron in den Selbstmord getrieben. Carl von Ossietzky wurden in fünf Jahren KZ-Haft so schwere gesundheitliche Schäden zugefügt, dass er daran starb. Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Anna Seghers und viele andere, die den dichterischen Weltruhm Deutschlands in dieser Zeit repräsentierten, mussten vor drohender Verhaftung ins Ausland fliehen. Andere, die vor dem Schicksal gewarnt worden waren, das sie in ihrem Vaterland erwartete, kehrten von Vortragsreisen nicht mehr zurück.

Dabei waren die Angriffe der Nazis nicht nur gegen einzelne Künstler gerichtet. Das Ziel der Nationalsozialisten war es, das gesamte öffentliche Leben – und damit auch die Dichtkunst – mit ihren Ideen gleichzuschalten. KfdK-Führer Rosenberg erklärte dazu im Jahre 1934, rückblickend: "Trotz allem waren wir uns aber vom ersten Tage an bewußt, dass diese großen Frontalangriffe gegen die alte Welt nicht nur auf politischem Boden geführt wurden, sondern einen weltanschaulichen Charakter trugen. Wir hatten die feste Überzeugung, die genannten Gegner seien nicht nur mit Hilfe der Staatsmacht zu überwinden, sondern dass vor allen Dingen eine innerliche Zertrümmerung aller Ideen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 318 und Gedanken der marxistisch-demokratischen Bewegung die Voraussetzung für einen dauernden Sieg des Nationalsozialismus bilden musste."[14]

Diese Zertrümmerung erfolgte, wie dargestellt, zunächst durch Mord und Terror gegen die politischen Feinde des Regimes. Gleichzeitig ging es den Nazis um die Umwandlung und Nutzung vorhandener Strukturen für ihre Ideen sowie die Gewinnung der politisch bisher wenig hervorgetretenen Dichter für die Mitarbeit im NS-Staat, was Gleichschaltung und Überläufer einschloss. Unter rücksichtslosen Einsatz der gewonnenen Machtmittel erfolgte zunächst die Übernahme der Schriftstellerverbände. Wesentlichen Anteil daran hatte anfangs Bernhard Rust, KfdK-Mitglied und seit 4.2.1933 amtierender preußischer Kultusminister.

Viele der in Deutschland verbliebenen Dichter gingen den Weg der "Inneren Emigration", einige, wie Gottfried Benn, waren aber auch bemüht, auf die Seite des NS-Regimes überzutreten, was, nachdem die Nazis diese Überläufer zunächst für ihre Politik und die Machtübernahme in den Schriftstellerverbänden ausnutzten, jedoch, wie bei Benn, in Isolierung und Berufsverbot enden konnte.[15] Als erste der Schriftstellerorganisationen fiel nach dem 10.3. und 15.3.1933 der "Schutzverband Deutscher Schriftsteller" (SDS), bei direkter Einflussnahme Goebbels, an die Nazis: Ein Teil der Vorstandsmitglieder wurde zum Rücktritt gezwungen, danach alle kommunistischen oder ihnen nahestehenden Mitglieder ausgeschlossen (von denen die meisten nicht mehr in Freiheit oder in Deutschland waren), dann alle so frei gewordenen Plätze im Vorstand durch KfdK-Mitglieder besetzt und schließlich, auf der "Generalversammlung" des SDS der NS-Schriftsteller Götz Otto von Stoffregen zum neuen SDS-Vorsitzenden gewählt. Dabei wurde ebenso beschlossen, dass die Mitgliedschaft im SDS von der Loyalität zum NS-Staat und der Zugehörigkeit zur "arischen Rasse" abhängig sei. Am 9.6.1933 folgte die Umwandlung des SDS in den "Reichsverband deutscher Schriftsteller" mit einem " Reichsführer" Stoffregen an der Spitze. Ende Dezember 1933 wurde der alte SDS dann auch formal als aufgelöst erklärt.[16]

Am 13. März 1933 wurde, durch Erlass des Reichspräsidenten, das "Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda" gegründet.[17] Reichsminister wurde der Reichspropagandaleiter der NSDAP und Gauleiter von Groß-Berlin, Dr. Joseph Goebbels. Laut Gesetzestext war der Zweck der "Errichtung" des neuen Ministeriums die "Aufklärung und Propaganda unter der Bevölkerung über die Politik der Reichsregierung und den nationalen Wiederaufbau des deutschen Vaterlandes". Die konkreten Aufgaben des Ministeriums sollte der Reichskanzler bestimmen.[18]

In seiner ersten Pressekonferenz erklärte Goebbels: `Erste Aufgabe des Ministeriums sei, eine Gleichschaltung zwischen der Regierung und dem ganzen Volke herzustellen, um das ganze Volk auf die Seite der Regierung zu ziehen´ sowie `alle propagandistischen Unternehmungen, alle volksaufklärerischen Institutionen des Reiches und der Länder in einer zentralen Hand zu vereinigen und diesen Einrichtungen einen modernen Impuls einzuhauchen.[19]

Noch konkreter wurde der neue Minister in einem Interview, das er am gleichen Tage der NSDAP- Zeitung "Der Angriff" gab: "Jawohl, wir werden die öffentliche Meinung gestalten. Die nationale Regierung braucht ... das ganze Volk! - Wir werden weiterhin bemüht sein, den kulturellen Geist der nationalen Revolution stilecht und folgerichtig zum Ausdruck zu bringen! ... So werden wir schließlich über Deutschland auch erkenntnismäßig die Kuppel aufrichten, zu der das ganze deutsche Volk in gläubigem Vertrauen aufschauen kann."[20] Das bedeutete als Hauptaufgabe und Ziel aller Aktivitäten des neuen Ministeriums die Kontrolle des gesamten geistig-kulturellen Lebens in Deutschland und die "Gleichschaltung" von Kunst, Kultur, Presse, Bildung und Erziehung mit der NS-Ideologie und -Weltanschauung sowie die damit zu erwartende Umsetzung des NSDAP-Parteiprogramms, u. a. mit den dort genannten Forderungen nach Unterdrückung von dem NS abweichender Äußerungen in der öffentlichen Meinung, in Kunst und Kultur durch Zeitungsverbote (was insbesondere gegen "Nichtdeutsche" gerichtet war) und den " gesetzlichen Kampf gegen eine Kunst- und Literaturrichtung, die einen zersetzenden Einfluß auf unser

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 319

Volksleben ausübt" sowie Veranstaltungsverbote und die "Bekämpfung des jüdisch-materialistischen Geistes".[21]

Entsprechend der Aufgabenstellung des Ministeriums, die von Hitler jederzeit erweitert oder revidiert werden konnte (was in der Praxis auch geschah), unterlag dessen Organisationsstruktur ständigen Veränderungen. Nach zum Teil heftigen Auseinandersetzungen mit Frick, Göring, Rosenbergs KfdK und Rust [22], welche Kompetenzen das Goebbels-Ministerium zu Lasten anderer Ministerien des Reiches und der Länder erhalten solle, brachte Hitlers "Verordnung über die Aufgaben des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda" vom 30.6.1933 eine erste Klärung zugunsten des Reichspropagandaministers, dem bisherige Aufgaben und Geschäftsbereiche aus dem Auswärtigen Amt, dem Reichsministerium des Innern, dem Reichspostministerium und dem Reichsverkehrsministerium, dem Reichswirtschaftsministerium und dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft in sein Ministerium übertragen wurden. Dazu zählten u. a. das "Film- und Sportwesen im Auslande", Ausstellungen, Werbung, Rundfunk, Presse, "Musikpflege", "Theaterangelegenheiten" und " Lichtspielwesen", die Kunst (mit gesetzgeberischen und rechtspflegerischen Einschränkungen), die Hochschule für Politik und die Deutsche Bücherei in Leipzig. Zuständig war Goebbels mit dieser Verordnung auch für die "Einführung und Begehung von nationalen Feiertagen und Staatsfeiern unter Beteiligung des Reichsministers des Innern".[23] (Nationale Feiertage waren, laut "Gesetz über die Feiertage" vom 27.2.1934, der 1. Mai, der "Heldengedenktag" – der "5. Sonntag vor Ostern" – und der "Erntedanktag", der "1. Sonntag nach Michaelis" [24], womit der NS-Staat sowohl kirchliche- als auch Traditionen der Arbeiterbewegung für sich beanspruchte und mit dem "Heldengedenktag" sich sowohl an der NS-Weltanschauung – hier besonders dem Blut-und-Boden-Mythos und der Rassentheorie – als auch der damit verbundenen und beabsichtigten ideologischen Vorbereitung eines neuen Krieges orientierte.) Hinsichtlich der Übernahme von Kompetenzen der Deutschen Länder erhielt Goebbels von Hitler am 24.8.1933 Zusagen für die Zeit nach der Auflösung der Länder. Goebbels dazu, nach dem Gespräch mit Hitler: "Mein Amt bekommt alles, was Inspiration verlangt... Auch Theater hinein."[25] (Die Auflösung der Länder wurde vom gleichgeschalteten Reichstag am 30.01.1934 beschlossen.[26]) Letztendlich hatte das Reichspropagandaministerium zwölf Abteilungen. Zu ihnen gehörten II a, "Überwachung der kulturellen Betätigung der Nichtarier", VI. "Theater"und VIII. " Schrifttum".[27] Die wachsenden Aufgaben des neuen Ministeriums erforderten zunehmend mehr Mitarbeiter. Gemäß den Absichten, welche die NS-Führer mit seiner Gründung verfolgten, wurde von Beginn an bei den Einstellungen Wert darauf gelegt, "die besten Kräfte und Mitarbeiter ... heranzuziehen" [28], was in erster Linie bedeutete, darauf zu achten, "daß das Gros der Beamten, Angestellten und Arbeiter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda aus altbewährten nationalsozialistischen Kämpfern besteht, von denen fast hundert das goldene Ehrenzeichen der NSDAP tragen."[29]

Auch bei der Umwandlung der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste wurde deutlich, in welchem Maße die NS-Führer gewonnene staatliche Machtpositionen, unter Einsatz von Gliederungen der NSDAP – hier dem KfdK – nutzten, um die Übernahme der Schriftstellerorganisationen zu erzwingen. Dabei ging es Ihnen sowohl um die Diskreditierung und Vertreibung ihrer Gegner als auch um die Beseitigung der von diesen repräsentierten politischen und kulturellen Positionen, an deren Stelle die des Nationalsozialismus treten sollten. Als Angriffsziele nannten die NS-Führer und ihre Schriftsteller, Kulturpolitiker und Künstler den "Kulturliberalismus" mit dessen "einseitig-nur-ästhetischen (und daneben parteipolitischen) Gesichtspunkten", "Erzeugnisse artfremden Denkens"und die "Novembergeistigkeit", an deren Stelle ein "übergeordneter völkischer Maßstab" die "Begriffe Blut und Ehre wieder in ihre ewigen Rechte " einsetzen sollte.[30] Ein formales Anerkennen dieser Ziele allerdings war den Nazis nicht genug, weshalb Goebbels, Ende März 1933, auch formulierte: "Die Idee der nationalen Revolution verlangt offene Gefolgschaft."[31] Und so vollzog sich dann auch die Gleichschaltung der "Preußischen Dichterakademie" [32]: Unter Einwirkung Rusts setzten die Nazis durch, dass der Vorstand eine Erklärung seiner Loyalität

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 320 zum "Neuen Staat" abgab. Diese Erklärung wurde dann, verbunden mit der Frage, ob sie damit einverstanden seien, den Mitgliedern der Sektion zugesandt, wobei deren Beantwortung ausschlaggebend für die weitere Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft wurde. Am 17. März 1933 folgten dann Briefe mit der Forderung, die Akademiemitglieder sollten angeben, welcher Rasse sie angehörten.

Unter dem Einfluss Rusts wurden daraufhin am 5. Mai 1933 die Gegner des NS-Regimes und die " Nichtarier", die Schriftsteller Franz Werfel, Jakob Wassermann, René Schickele, Fritz von Unruh, Leonhard Frank, Alfons Paqeut, Georg Kaiser, Ludwig Fulda, Bernhard Kellermann, Alfred Mombert, Rudolf Pannwitz, Thomas Mann und Alfred Döblin aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.[33] (Die beiden letztgenannten Dichter sowie Ricarda Huch waren allerdings schon vorher ausgetreten.) Bereits am 04.04.1933 hatte – mehr oder weniger freiwillig – der Präsident der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, Oskar Loerke, sein Amt niedergelegt. Auf "Vorschlag der Abteilung III der Akademie der Künste" und – wie R. Schlösser schrieb – als Repräsentanten dessen, "was ein Nationalsozialist unter echtem deutschen Dichtertum versteht: Die Einheit von gesinnungsmäßiger und leistungsmäßiger Hochwertigkeit" [34] berief Rust nun 14 NS- bzw. NS-nahe Schriftsteller in die "Dichterakademie": Hans Friedrich Blunck, Friedrich Griese, Emil Strauß, Hans Grimm, Will Vespers, Hanns Johst, Paul Ernst, Erwin Guido Kolbenheyer, Börries von Münchhausen, Peter Dörfler, Wilhelm Schäfer, Hans Carossa, Agnes Miegel und Werner Beumelburg.[35] Damit hatten die NS-Vertreter dort die Mehrheit und wählten Hanns Johst zum neuen Präsidenten der Sektion Dichtkunst.

Gleichzeitig forderten die Nazis, weitere ihnen genehme Dichter in die Akademie aufzunehmen: Otto Erler, Rudolf Paulsen, Richard Euringer, Gertrud von Lefort, Karl Benno von Mechow, Josef Magnus Wehner und den berühmten Lyriker Stefan George.[36] Aber George (u. a. "Das neue Reich", 1928) verweigerte sich den Nazis und ging ins Exil.[37] Erneut unter dem Einfluss Rusts wurde dann, am 9.6.1933, aus der "Preußischen Dichterakademie" [38]die "Deutsche Akademie für Dichtkunst". In ähnlicher Weise gleichgeschaltet wurden der PEN-Club in Deutschland sowie Zeitungen, Theater, Büchereien, Buchhandel, Verlage, die entsprechenden Vereine und Verbände.[39] (Zur Gleichschaltung der Verbände der Buchhändler und Verleger siehe S. 14ff. dieser Arbeit!)

Presse

Wie weit Gleichschaltung, Überlaufen zu den und Anbiederung an die Nazis in nur wenigen Wochen " gediehen" waren, aber auch in welchem Maße viele Menschen vor dem Druck des Terrors und politischen sowie wirtschaftlichen Repressionen bzw. den Drohungen damit zurückwichen, wurde nun sichtbar, u.a. in der Leitung von Verlagen, bei Buchhändlern, aber auch unter der studentischen Jugend: Bereits in seiner Rede vor Vertretern der Presse am 15.3.1933 hatte Reichspropagandaminister Goebbels erklärt, welche Rolle die NS-Führer (Goebbels gebrauchte häufig das Personalpronomen " wir"!) der Presse in Deutschland in Zukunft zugedacht hatten: Sie sollte nicht mehr nur informieren, sondern auch für "den kleinsten Mann auf der Straße" einfach und verständlich die Bevölkerung über die Regierungspolitik "instruieren". Dazu gäbe es täglich Pressekonferenzen, in denen die Journalisten erfahren würden "was geschieht, ... wie die Regierung darüber denkt und wie Sie das am zweckmäßigsten dem Volke klarmachen können" – im Übrigen: "Es gibt auch keine absolute Objektivität."Die Regierung dürfe kritisiert werden, aber nur so, dass es ihren Feinden nicht nutze oder gar das Volk sich dadurch gegen die Regierung stelle. "Gegen solche Versuche wird die Regierung mit allen Mitteln vorgehen." Goebbels erklärte zum "Idealzustand ..., dass die Presse so fein organisiert ist, dass sie in der Hand der Regierung sozusagen ein Klavier ist, auf dem die Regierung spielen kann ..." Für die unter den Anwesenden, die ihn immer noch nicht verstanden, gebrauchte er mehrfach die Drohung von "Zeitungsverboten", warnte vor "täglichem Krieg" und bekundete, wenn die Presse sich " mit diesen Dingen" nicht "abfinde" hätte die Regierung "nötigenfalls Mittel und Wege ..., um mit der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 321

Presse fertig zu werden. "Wenn die Presse diesen Forderungen der NS aber nachkäme, versprach er, dass er "das Recht der Presse überall und immer vertreten werde, aber nur unter der Bedingung, daß die Presse nicht nur das Recht der Regierung, sondern auch das Recht des deutschen Volkes vertritt."[40]

Die Zeitungsverleger hatten verstanden. Als die NS-Führer mit der Begründung einer angeblichen Greuelhetze von Auslandsjuden gegen den NS-Staat für den 1. April 1933 zu einer "Abwehraktion " gegen die "ausländische Greuelpropaganda" genannten Boykott gegen die Juden aufriefen, war die (noch nicht vom Verbot, wie die kommunistischen, die pazifistischen, die antifaschistisch- demokratischen Zeitungen, betroffene) Presse in der propagandistischen Vorbereitung mit dabei und erhielt dafür Goebbels´ Dank. (Allerdings war das Ziel der Propaganda des "Zeitungs-Verlags" die Warnung an die Leser vor Lügenpropaganda – verbunden mit der Belehrung über den Hindenburgerlass "zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung"und die ausländische " Hetz- und Lügenoffensive" sowie deren Vertreter –, nicht der Boykott der deutschen Juden.)[41] Vierzehn Tage später erfolgte die Meldung, dass der "Ausschuß der Reichspressekonferenz... neu gebildet" werde, dass in dem 9-köpfigen Ausschuss nun 4 Vertreter von NS- und 5 von "nationalen " Zeitungen seien, der Posten des stellvertretenden Vorsitzenden nun vom Chef des NSDAP- Pressedienstes bekleidet würde.[42]

Dass die Gleichschaltung der Presse und der Zeitungsverlage in der Folgezeit zunehmend repressiv erfolgte, wird deutlich in der eidesstattlichen Erklärung des ehemaligen Reichsleiters für die Presse, Max Amann, vor dem IMT am 19.11.1945: "Nachdem die Partei im Jahre 1933 zur Macht gekommen war, wurde die Sozialdemokratische und Marxistische Presse sofort beseitigt und unterdrückt und zwar gemäß den von Hitler erteilten Befehlen. Dementsprechend wurden Verordnungen erlassen, einschließlich der Rassengesetze und Anordnungen, die anderen Verlags-Konzerne ungünstig beeinflussten. Viele dieser Konzerne, die wie der Ullstein-Verlag, der unter jüdischem Eigentum und Kontrolle stand, oder die aus politischen oder religiösen Interessen heraus der NSDAP feindlich gegenüber standen, fanden es für angebracht, ihre Zeitungen und Guthaben an den Eher-Konzern zu verkaufen. Es gab keinen freien Markt für den Verkauf solcher Objekte und der Franz Eher Verlag war ganz allgemein der alleinige Bieter. Auf diese Art dehnte sich das Parteiverlagswesen, das ist der Franz Eher Verlag zusammen mit allen zu ihm gehörigen oder durch ihn kontrollierten Konzernen, in ein Monopol des Deutschen Zeitungswesens aus."[43] Insbesondere durch das "Schriftleitergesetz" vom 4.10.1933 [44] und dessen Festlegungen, wonach jeder, der in Deutschland "an der Gestaltung des geistigen Inhalts der Zeitungen und politischen Zeitschriften durch Wort, Nachricht oder Bild" mitwirkte, auf die Treue zum NS-Staat festgelegt wurde, Arier und "Reichsangehöriger"und zur Berufsausübung in eine, dem Einspruch des Reichspropagandaministers unterliegende, "Berufsliste der Schriftleiter"eingetragen sein musste, und "Berufsvergehen", die bis hin zur "Löschung in der Berufsliste" geahndet werden konnten, vor " Berufsgerichten" verhandelt werden mussten, deren Mitglieder vom Reichspropagandaminister ernannt wurden, erlangte Goebbels gegenüber der Presse eine solche Gewalt, dass diese sehr bald zum "Klavier" wurde, auf dem er spielen konnte. Diese Dominanz setzte er, in Abhängigkeit von Aufträgen und Weisungen Hitlers, zur Machtausübung und Stabilisierung der NS-Diktatur, aber auch in Vorbereitung und Durchführung der Aggressionen des faschistischen Deutschland gegen benachbarte Staaten ein. Am 20.2.1939 wies Hitler an, dass andere Reichsbehörden nur nach vorheriger Einschaltung des Reichspropagandaministeriums "mit der Presse verkehren" durften.[45])

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 322 Presse, Buchhandel und Verlage. Die Bücherverbrennung.

Da die NS-Führer mit dem Parteiprogramm der NSDAP bereits 1920 ihren Antisemitismus und ihren Willen zur Enteignung jüdischer Betriebe deutlich gemacht hatten, gab es bei manchen Buchhändlern neben nationalistischen, antisemitischen und völkischen Positionen auch sehr eigene, ökonomische Interessen, sich der – wie die Nazis es nannten – "Nationalen Revolution" (auch: "Deutsche Revolution ") zur Verfügung zu stellen. Andere erhofften in dem von Hitler versprochenen wirtschaftlichen Aufschwung und der Sanierung des Staates die Konsolidierung ihrer durch die Weltwirtschaftskrise angeschlagenen Unternehmen. Damit waren für die Nazis (zunächst) günstige Bedingungen für die Gleichschaltung gegeben.

Am 12.04.1933 beschloss der Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler ein zehn Punkte umfassendes "Sofortprogramm", das eine Solidarisierung mit dem NS-Staat enthielt. Weiterhin wurde die Loyalität zum Regime zur Bedingung der Mitgliedschaft im Börsenverein erhoben. Nach der Nennung wirtschaftlicher Forderungen sicherte – nur wenige Tage nach dem ersten Judenboykott – der Vorstand des Börsenvereins der Reichsregierung zu, deren Anordnungen bzgl. der "Judenfrage [...] ohne Vorbehalt durchzuführen".[46] Am 11.05.1933 erließ der Vorstand des Börsenvereins der deutschen Buchhändler, in Abstimmung mit der Reichsleitung des KfdK und der "Zentralstelle des deutschen Bibliothekswesen", eine Bekanntmachung, nach der zwölf namentlich genannte antifaschistische Schriftsteller, u. a. Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und Arnold Zweig, "für das deutsche Ansehen als schädigend anzusehen sind und die Werke dieser Schriftsteller im Buchhandel "[...] nicht weiter verbreitet [...]" würden.[47] (Allerdings war nicht jeder der Verleger künftig bereit, die Anweisungen der Nazis bedingungslos umzusetzen oder auch sich umfassend an der beginnenden Indizierung der Werke aus Deutschland vertriebener oder auch jüdischer Schriftsteller zu beteiligen, selbst wenn das für den einzelnen Verleger – von Goebbels verordnet – schwerste Folgen haben konnte.[48] So wurde am 30.05.1938 der Verleger Rowohlt aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und damit mit Berufsverbot belegt.[49] Ein anderer, der Verleger Peter Suhrkamp, wurde 1944 sogar ins KZ verschleppt.[50])

Parallel zur Entwicklung im Börsenverein begann mit Unterstützung des KfdK [51] eine Gleichschaltungs-"Aktion" des Dachverbandes der studentischen Vereine in Deutschland, der "Deutschen Studentenschaft" (nicht des "Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes"!), die sich auf die deutschen Hochschulen, deren Lehr- und Bildungskonzeptionen, aber auch auf die deutsche Sprache und Literatur bezog. Die "Aktion" war überschrieben mit "Wider den undeutschen Geist!". Sie richtete sich gegen den "Juden" und den, "der ihm hörig ist", forderte Aufhebung des "Widerspruchs zwischen Schrifttum und deutschem Volkstum", "Reinheit von Sprache und Schrifttum", eine "Auslese von Studenten und Professoren nach der Sicherheit des Denkens, im deutschen Geiste" sowie "die deutsche Hochschule als Hort des deutschen Volkstums und als Kampfstätte aus der Kraft des deutschen Geistes".[52]

Es folgte, Anfang Mai 1933, eine Sammlung von so genannter "zersetzender Literatur", erfasst in einer gemeinsamen Liste des NS-Bibliothekars Wolfgang Herrmann und des KfdK (genannt: "Schwarze Liste I") aus privaten und öffentlichen Büchereien, als "Säuberung" bezeichnet.[53] (Eine ähnliche, bezeichnet als "Braune Liste von verbrennungswürdiger Literatur" hatte am 26.4.1933 die zum Konzern des DNVP-Chefs Alfred Hugenberg gehörende "Nachtausgabe" abgedruckt.)[54] Die so zusammengetragene Literatur wurde, wie auf dem Opernplatz in Berlin, in den deutschen Hochschulstädten am 10.5.1933 im Rahmen propagandistischer Großveranstaltungen verbrannt. "Feuersprüche" nannten die Namen der Verfemten, deren Werke verbrannt wurden, und verunglimpften politische und künstlerische Geisteshaltungen, die mit der NS-Machtübernahme in Deutschland verboten waren und wegen der Menschen nun verfolgt, terrorisiert und ermordet wurden.

Als Hauptredner der Berliner Bücherverbrennung vereinnahmte Reichspropagandaminister Goebbels diese in die "deutsche Revolution": "Es darf kein Gebiet unberührt bleiben. So wie sie die Menschen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 323 revolutioniert, so revolutioniert sie die Dinge. Deshalb tut ihr gut daran, in dieser mitternächtlichen Stunde den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen. Hier sinkt die geistige Grundlage der Novemberrepublik zu Boden. Aber aus den Trümmern wird sich siegreich erheben der Phönix eines neuen Geistes, den wir tragen, den wir fördern, und dem wir das entscheidende Gewicht geben... Das Alte liegt in Flammen, das Neue wird aus der Flamme unseres eigenen Herzens wieder emporsteigen."[55] (Am 10.5.1958, in seiner Rede vor dem PEN-Club in Hamburg, verwies Erich Kästner auf Heinrich Heines Worte: "Dort, wo man die Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen."[56] Worte, die nur wenige Jahre nach den Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 in Nazideutschland zu entsetzlicher Realität wurden.) Dass damit die Verfolgung der demokratischen, antifaschistischen und jüdischen Dichter erst begonnen hatte, ließ der Bericht der NS-Zeitung "Der Angriff" vom Folgetag über die Bücherverbrennung in Berlin deutlich sichtbar werden: "Mit dieser Kundgebung ist symbolisch der Kampf wider den undeutschen Geist, der nun seinen Weg nimmt, eingeleitet worden. Dieser Kampf wird nicht aufhören, bevor alle Deutschen wieder deutschen Geistes sind."[57] Damit war nun auch jedem Deutschen gesagt, welche Literatur in seinen Bücherschrank zu stehen hatte und welche Literatur er in Büchereien und Buchhandlungen erwarten, ausleihen oder kaufen sollte bzw. durfte, wollte er nicht den Zorn der neuen Machthaber und ihren Terror auf sich ziehen.

Presse, Buchhandel und Verlage: Verbotene Bücher und verfolgte Dichter

Unter dem "wohlwollenden Interesse des Kampfbundes für Deutsche Kultur wie des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller" veröffentlichte NS-Bibliothekar Herrmann am 16.5.1933 eine "erste amtliche Schwarze Liste für Preußen" mit den Namen von nun bereits 132 Autoren, deren Werke vollständig bzw. einzeln im "Dritten Reich" als unerwünscht galten. Weiterhin gab er, unter Bezug auf eine entsprechende Positionierung des Preußischen Kultusministeriums, Anleitungen "zur Säuberung der öffentlichen Büchereien" von den "Zersetzungserscheinungen unserer artgebundenen Denk- und Lebensform", wollte "erotischen Schmutz und Schund aus dem deutschen Buchhandel grundsätzlich ferngehalten" wissen und orientierte auf die Schaffung von "Weißen Listen" NS-genehmer Literatur sowie, unter Einbeziehung der "buchhändlerischen Organisationen", auf eine "Reichsliste" mit Namen und Werken verfemter Autoren, "die für Verlag und Sortiment gleichermaßen verbindlich sein muß." [58] (Die von Herrmann gewünschte "Reichsliste" erschien 1936 als "Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums". Sie enthielt 3601 Einzeltitel- und 524 Verbote des gesamten Werks der verfolgten Schriftsteller. Diese Liste wurde 1939 erweitert und umfasste nun 4175 Einzeltitel- und 565 Gesamtverbote. 1940 erschien, zusätzlich, eine Liste indizierter "Werke voll- oder halbjüdischer Verfasser."[59] Dem Wunsch Herrmanns nach einer "Weißen Liste" dürften wohl die "Empfehlungen der `Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums" vom September 1934 zur Bildung nationalsozialistischer "Kernbibliotheken" [60] nahe kommen.

Die Indizierung erotischer Literatur wurde 1936 durch Reichspropagandaminister Goebbels relativiert. Bemerkenswert ist seine Begründung für diesen Schritt: "Problem Buchverbote. Etwas erotische Literatur muß da sein. Sonst haben wir am Ende nur 175er."[61]) An die Stelle der studentischen- traten nun umfassende, staatlich sanktionierte "Säuberungsaktionen" in Büchereien und Buchhandel, bei denen Reichspropagandaministerium, Kultusministerien der Länder und Organisationen bzw. Dienststellen der NSDAP – unter Einbeziehung des "Börsenvereins der Deutschen Buchhändler" – federführend waren.[62] Das Ausmaß der Beschlagnahme und Vernichtung von Büchern und anderem Schriftgut aus Büchereien sowie aus dem Besitz verbotener Parteien, Gewerkschaften und anderer Organisationen in den ersten Monaten der NS-Herrschaft in Deutschland sowie Maßnahmen gegen deren Verlage lässt ein Bericht des "Völkischen Beobachters" vom 21. / 22. 5.1933 über die Beschlagnahme von Büchern und anderem Schriftgut bei der verbotenen KPD erahnen: "In Berlin hat die Politische Polizei schätzungsweise etwa 10.000 Zentner Bücher und Zeitschriften beschlagnahmt... Sie werden, wenn die Sichtung durchgeführt ist, eingestampft. Planmäßig wurden ... alle Verlage und Druckereien, die kommunistische Bücher und Zeitschriften herstellten und vertrieben, geschlossen und das gesamte

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 324

Druckschriftenmaterial beschlagnahmt, selbstverständlich aber auch die Büchereien der Zentralstellen der KPD..."[63]

Verstärkt und immer umfangreicher wurde nach den Bücherverbrennungen die Diffamierung der als "undeutsch" bzw. "entartet" verfemten Autoren und der Gesinnung, die sie vertraten, unter ihnen Thomas und Heinrich Mann, Stefan und Arnold Zweig und Bertolt Brecht.[64] Unter dem verstärkten Verfolgungsdruck sowie angesichts der mit "Ermächtigungsgesetz", Auflösung bzw. Verbot aller anderen Parteien und damit Ein-Parteien-Herrschaft der NSDAP, Gleichschaltung und Aufbau des NS-staatlichen Terrorapparats sich vollziehenden Konsolidierung der NS-Diktatur gingen weitere deutsche Schriftsteller ins Exil. (Insgesamt mehr als 2.000 deutsche Dichter mussten in jenen Jahren infolge von Terror und Verfolgung ihr Vaterland verlassen.[65])

Einem Widerstand der so Vertriebenen aus dem Ausland nach Deutschland hinein versuchten die NS-Führer mit der Androhung des Verlustes der deutschen Staatsbürgerschaft sowie der Enteignung des Vermögens der Exilanten – soweit es in Deutschland und damit für sie erreichbar war – zu begegnen. Dies geschah mit dem "Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Vom 14. Juli 1933."[66] Soweit die Bedrohten sich dennoch weiterhin öffentlich gegen das NS-Regime äußerten, dessen Verbrechen offenbarten und anprangerten, gar sich gegen die Nazis neu organisierten oder mit Ausstellungen im Gastland eine Massenwirksamkeit ihrer antifaschistischen Propaganda erreichten, setzten die NS-Führer, allen voran Goebbels, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel der Diffamierung, von Kampagnen der gleichgeschalteten Presse gegen die Exilanten und den sie aufnehmenden Staat bis hin zu diplomatischen Protesten gegenüber den Botschaftern des jeweiligen Gastlandes und diplomatischen Aktivitäten der deutschen Botschafter dagegen ein.[67]

Presse, Buchhandel und Verlage. Terror und Reichsschrifttumskammer.

Deutschen Künstlern war der Kontakt zu ihren emigrierten Kollegen nicht gestattet. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo), Terrorinstrument der Nazis zur Unterdrückung ihrer Gegner, überwachte auch diesbezüglich den Briefverkehr aus Deutschland ins Ausland. Als 1935 der Komponist und Dirigent Richard Strauß, Präsident der Reichsmusikkammer, einen Brief an den im Exil lebenden Schriftsteller Stefan Zweig schrieb, wurde der Brief von der Gestapo abgefangen. Goebbels, davon in Kenntnis gesetzt, reagierte – vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass der Adressat Jude war – brutal: "Jetzt muß Strauß auch weg. ... Diese Künstler sind doch alle politisch charakterlos. Von Goethe bis Strauß. Weg damit!"[68]

Bis September 1933 führten Abstimmungen zwischen den auf kulturellem Gebiet in Deutschland aktiven NS-Führern (unter häufiger Anrufung Hitlers, der dann zugunsten des einen oder anderen entschied) zu ersten Festlegungen der Kompetenzen: Die Göring unterstellte Gestapo trug die alleinige Verantwortung für die polizeilichen Unterdrückungsmaßnahmen gegen "undeutsche" Künstler, während Goebbels als Präsident der per Gesetz vom 22.9.1933 geschaffenen Reichskulturkammer [69] (RKK), der Standesorganisation aller im deutschen Kulturbereich Tätigen, die mit diesem Gesetz geschaffene Reichsschrifttumskammer kontrollierte. Mit der "Ersten Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes. Vom 1. November 1933"[70] wurde der Zwangscharakter dieser Organisation manifestiert: Wer der Reichskulturkammer nicht angehörte oder ausgeschlossen wurde, durfte, laut §§ 3, 4 und 10 dieser Verordnung [71] in Deutschland keinen künstlerischen Beruf ausüben. Die Festlegung des § 10 dieser Verordnung: "Die Aufnahme in eine Einzelkammer kann abgelehnt oder ein Mitglied ausgeschlossen werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, daß die in Frage kommende Person die für die Ausübung ihrer Tätigkeit erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung nicht besitzt" [72] ließ ihrem Präsidenten, dem durch RKK-Gesetz und vorgenannte Verordnung mit diktatorischer Macht in der RKK ausgestatteten Reichspropagandaminister Goebbels damit alle Möglichkeiten, Juden und "undeutsche" Künstler als ungeeignet einzustufen und – auf

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 325 diesem Wege – mit Berufsverbot zu belegen oder auch die Drohung damit im Sinne der "Gleichschaltung" einzusetzen. (Was in der Folge auch geschah: Goebbels schrieb in seinen "Tagebüchern" häufig über seine Aktivitäten zur "Entjudung", wie er es nannte, der RKK [73], ging gegen die nichtfaschistische, moderne, für die Nazi-Führer "entartete" Kunst vor [74], gegen den Dichter Ernst Wiechert, der gegen die Verfolgung des Leiters der Bekennenden Kirche, Martin Niemöller, durch die Nazis protestiert hatte [75], wie auch gegen die Mitglieder des Berliner Kabaretts "Die Komiker", weil sie politische Witze gemacht hatten.[76]) Der Leiter des KfdK, Alfred Rosenberg, der bisher ohne staatliches Amt geblieben war, wurde am 24.1.1934 von Hitler zum "Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung der NSDAP" sowie am 17.4.1934 zum Chef einer "Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums" ernannt. Dies war verbunden mit der Aufgabe, alle "Druckwerke" auf die Einhaltung "nationalsozialistischer Grundsätze" zu überprüfen. Dass diese keine wirkliche Machtstellung bedeutete, musste Rosenberg erleben, als er versuchte, dies gegenüber Göring und Goebbels um- und durchzusetzen.

Angesichts der von den NS-Führern betriebenen Kriegsvorbereitung und erster Annexionen bis 1939, angesichts der weiter verfolgten Gleichschaltungspolitik und des Ausbaus der NS- Diktatur, aber auch angesichts der seit 1934 wegen der Landflucht vieler in der Weltwirtschaftskrise seit 1929 völlig verarmter Bauern ausgelösten erheblichen Versorgungsengpässe, wobei wegen der gewaltigen Kosten der Aufrüstung kaum Devisen für Nahrungsmittelimporte zur Verfügung standen, sowie angesichts der – weltanschaulich motivierten – Verfolgung der Juden und der christlichen Kirchen in Deutschland, gewannen Kunst und Kultur zum Transport von NS- Gedankengut, aber auch zur Aufrechterhaltung eines "schönen Scheins" einer "heilen (NS-) Welt" zunehmende Bedeutung. Im Ergebnis nahmen Gewalt und Terror gegen andersdenkende Künstler zu, versuchten immer mehr NS-Führer, sich auf diesem Gebiet – meist in der Auseinandersetzung mit anderen NS-"Größen" – zu profilieren (u. a. Ley, Bouhler, Heß, Bormann, Himmler), wurden mit staatlichen Mitteln, eine die Finanznot und Verschuldung des Staates verstärkende Politik von Bauten, Massenmanifestationen und "künstlerischen" Umzügen durchgeführt.

Künstler, die sich dem System unterordneten und auch in ihrer Tätigkeit erfolgreich waren, konnten mit "Belohnung" rechnen: Vortragshonorare aus "Dichterlesungen", u. a. im Rahmen der NS- Organisation "Kraft durch Freude", vom NS-Staat finanzierte Studien und Auslandsreisen, Honorare für Massenauflagen ihrer Bücher, soziale Absicherung (u. a. durch die "Schillerstiftung" für notleidende Schriftsteller [77]) sowie, nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, die Freistellung vom Fronteinsatz waren der Dank des NS-Regimes an faschistische und profaschistische Schriftsteller, an Angepasste und Mitläufer der braunen Literatur. Mancher von ihnen konnte später, nach dem 8.5.1945, sich nur mit großen Gedächtnislücken an sein Wirken während der NS-Zeit erinnern.

Fußnoten

1. Vgl. Helmut Kaiser "Mythos Rausch und Reaktion. Der Weg Gottfried Benns und Ernst Jüngers", Aufbauverlag Berlin, 1962, S. 186ff. 2. Hans Schemm, bayerischer Kultusminister, im "Völkischen Beobachter", Ausgabe A, Süddeutsche Ausgabe, vom 15.10.1933, S. 1. 3. zitiert nach ebenda. 4. "Völkischer Beobachter. Norddeutsche Ausgabe", Zweites Beiblatt/130. Ausgabe, 10.5.1933. 5. Vgl. dazu Rede Hitlers am 19.7.1937 zur Eröffnung des "Hauses der deutschen Kunst" in München, so zitiert in "Große Geschichte des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs. Der Staat Adolf Hitlers", Naturalist Verlag, München/Köln 1989, S. 108ff. 6. Vgl. Goebbels "Der neue Geist im Rundfunk", in "Völkischer Beobachter. Norddeutsche Ausgabe",

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 326

28.3.1933. 7. Vgl. dazu u. a. Notizen von Goebbels in seinen Tagebüchern, in: "Die Tagebücher des Joseph Goebbels”, herausgegeben von Elke Fröhlich, K. G. Saur München, 1998 - 2006, hier Bd. 3/I, S. 146, 172, 328, 361. 8. Vgl. dazu u. a. Goebbels in seinen Tagebüchern Bd. 3/I, S. 230, 299, Bd. 3/II, S. 62; Dr. Rainer Schlösser "Das neue Antlitz der Dichterakademie", in "Völkischer Beobachter. Norddeutsche Ausgabe", Zweites Beiblatt, vom 9.5.1933. 9. Vgl. dazu u. a. Dieter Fricke, "Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945). In vier Bänden", VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1985, Bd. 3, S. 169ff. und Jürgen Gimmel, "Die politische Organisation kulturellen Ressentiments. Der "Kampfbund für deutsche Kultur" und das bildungsbürgerliche Unbehagen an der Moderne", LIT Verlag Münster - Hamburg - London, 2001, S. 19ff. 10. S. dazu auch: Gimmel, Jürgen, a. a. O., S. 52. 11. Vgl. Fricke, Dieter, a. a. O., S. 169ff. und Gimmel, Jürgen, a. a. O., S. 26ff. 12. S. Fricke, Dieter, a. a. O., Gimmel, Jürgen, a. a. O., S. 47ff. 13. Will Vesper: "Gemeinschaft der geistig Schaffenden?", in: "Völkischer Beobachter. Norddeutsche Ausgabe", Zweites Beiblatt, vom 26./27.3.1933. 14. zitiert nach: "Der Schulungsbrief. Herausgeber: Reichsleiter Dr. Ley, Zentrales Monatsorgan der NSDAP und der DAF, 1. Jahrgang, 1934" in: "Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg. 14. November 1945 - 1. Oktober 1946" (IMT), Fotomechanischer Nachdruck, Delphin Verlag GmbH, München, 1989, hier: Band XXXI, Dokument 3531-PS, Bd. 4, S. 353. 15. Zum Schicksal Gottfried Benns in der NS-Zeit siehe "Die Ästhetisierung der Politik: Gottfried Benn ", in Hans Dieter Zimmermann: "Der Wahnsinn des Jahrhunderts. Die Verantwortung der Schriftsteller in der Politik", Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln, S. 43ff. sowie Helmut Kaiser: "Mythos, Rausch und Reaktion", a. a. O., S. 162ff. 16. Vgl. dazu: "Frankfurter Zeitung" vom 17.3.1933, "Deutsche Allgemeine Zeitung. Ausgabe Groß- Berlin" vom 6.5.1933, "Der Schriftsteller", Berlin 21 (1933), 6/7. 17. Reichsgesetzblatt (RGBL) I vom 17.3.1933, S. 104. 18. Ebd. 19. "Goebbels über sein Arbeitsprogramm", in: "Mecklenburgische Zeitung" Nr. 62 vom 15. März 1933, S. 3. 20. "Ein Interview mit Reichsminister Pg. Dr. Goebbels", in: "Der Angriff", Nr. 63, 1. Beilage, vom 15.3.1933. 21. Vgl. dazu: "Das Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei", in: " Nationalsozialistisches Jahrbuch, 1941, Herausgeber: Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP Dr. Robert Ley, 15. Jahrgang, Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf., München, 2. Auflage, ... Seiten 153 - 155", so zitiert in IMT, a. a. O., Bd. XXVI, Dokument 1708-PS, fotomechanischer Nachdruck: Delphin-Verlag, a. a. O., S. 477ff. 22. Vgl. dazu Goebbels Tagebücher, Bd. 2/III, a. a. O., S. 152, 166, 176, 183, 184, 210. 23. Vgl. dazu: RGBL I, 1933, S. 449, vom 5.7.1933. 24. RGBL I, 1934, vom 28.2.1934, S. 129. 25. Vgl. Goebbels Tagebücher, Bd. 2/III, a. a. O., S. 253. 26. RGBL I, 1934, vom 30.1.1934, S. 75. 27. Vgl. dazu: "Große Geschichte des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs", a. a. O., S. 82. 28. Ebd. 29. "Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Von Georg Wilhelm Müller, Ministerialrat im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda", 1940, Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin, S. 10, so zitiert in IMT, a. a. O., Bd. XXIX, Dokument 2434-PS, fotomechanischer Nachdruck: Delphin-Verlag, a. a. O., S. 483. 30. Dr. Rainer Schlösser: "Das neue Antlitz der preußischen Dichterakademie", in: "Völkischer Beobachter. Norddeutsche Ausgabe" vom 9.5.1933, Zweites Beiblatt. 31. "Der neue Geist im Rundfunk. Minister Goebbels vor den Leitern der deutschen Rundfunk-

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 327

gesellschaften", in: "Völkischer Beobachter. Norddeutsche Ausgabe" vom 28.3.1933. 32. Dr. Rainer Schlösser: "Das neue Antlitz ...", a. a. O. 33. Ebd. 34. Ebd. 35. Ebd. 36. Ebd. 37. Vgl. dazu, u. a.: "Deutsches Schriftstellerlexikon. Von den Anfängen bis zur Gegenwart", Volksverlag Weimar, 1962, S. 161f. 38. Dr. Schlösser: "Das neue Antlitz ...", a. a. O. 39. Zum Verlauf dieser Gleichschaltungen siehe u. a., die Dokumentation "In jenen Tagen ...", Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig und Weimar, 1983; Jan-Pieter Barbian: "Literaturpolitk im "Dritten Reich", Buchhändler-Vereinigung GmbH, Frankfurt am Main, 1993; Goebbels-Tagebücher, a. a. O.; "Deutsche Literatur in Schlaglichtern", Meyers Lexikonverlag Mannheim/Wien/Zürich, 1990, S. 404ff. 40. "Reichsminister Dr. Goebbels über die Aufgaben der Presse", in: "Zeitungs-Verlag. Eigentum und Verlag des Vereins deutscher Zeitungsverleger (Herausgeber der deutschen Tageszeitungen) e. V.", 34. Jahrgang, Nr. 11, vom 18.3.1933, S. 1 (Leitartikel!). 41. "Die Vertreter des Vereins Deutscher Zeitungs-Verleger beim Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda", "Der Verein Deutscher Zeitungs-Verleger gegen die Greuelhetzer" und "Die moralische Gegenoffensive", alle in: "Zeitungs-Verlag", a. a. O., S. 1 (letztgenannter Artikel: S. 1f.), 34. Jahrgang, Nr. 13, vom 1.4.1933. 42. "Neuwahlen im Ausschuß der Reichspressekonferenz", in: "Zeitungs-Verlag", a. a. O., 34. Jahrgang, Nr. 15, vom 15.4.1933, S. 2. 43. "Eidesstattliche Erklärung Max Amanns vom 19. November 1945: Seine Tätigkeit als Reichsleiter für die Presse und Präsident der Reichspressekammer; Zweck und Aufgaben des von ihm geleiteten Parteiverlages Franz Eher Nachfolger (Beweisstück US-757)", in: IMT, a. a. O., Bd. XXXI, Dokument 3016-PS, fotomechanischer Nachdruck: Delphin-Verlag, a. a. O., S. 496. 44. RGBL I, 1933, vom 7.10.1933, S. 713. 45. S. Goebbels-Tagebücher, a. a. O., Bd. 6, S. 263. 46. "Börsenblatt für den deutschen Buchhandel", Nr. 101 vom 03.05.1933, S. 321f. 47. "Börsenblatt für den deutschen Buchhandel", Nr. 110 vom 13.05.1933, Sonderabdruck. 48. S. dazu "In jenen Tagen ...", a. a. O., S. 321ff., Auszug aus "Der Schriftsteller" (1934). 49. Goebbels - Tagebücher, a. a. O., Bd. 5, S. 327. 50. "Eidesstattliche Versicherung von Dr. Hans Carossa", in: IMT, a. a. O., Bd. XXVI, Dokument Schirach - 3a, Fotomechanischer Nachdruck: Delphin Verlag, a. a. O. Bd. 9, S. 319. 51. S. dazu, u. a., "Deutsche Kulturwacht. Blätter des Kampfbundes für deutsche Kultur", 1933, Heft 9. 52. Zitiert aus: "Plakat der deutschen Studentenschaft `Wider den undeutschen Geist !´ vom 13. April 1933", nachgedruckt in: "Deutsche Literatur in Schlaglichtern", Meyers Lexikonverlag. Mannheim/ Wien/Zürich, 1990, S. 406. 53. S. dazu: "In jenen Tagen ...", a. a. O., S. 265ff. 54. Vgl.: ebenda, S. 270f. 55. "Der Vollzug des Volkswillens: Undeutsches Schrifttum auf dem Scheiterhaufen. Nächtliche Kundgebung der deutschen Studentenschaft", in: "Der Angriff", 11.5.1933. 56. Vgl. dazu "In jenen Tagen ...", a. a. O., S. 527. 57. "Der Vollzug des Volkswillens ...", a. a. O. 58. "Börsenblatt ...", a. a. O., vom 16.5.1933. 59. Vgl. dazu, u. a. Jan-Pieter Barbian: "Literaturpolitik ...", a. a. O., S. 222ff. 60. S. dazu: "Dokumente zur deutschen Geschichte 1933 - 1935", herausgegeben von Wolfgang Ruge und Wolfgang Schumann, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin, 1977, S. 97. 61. Goebbels-Tagebücher, a. a. O., Bd. 3/II, S. 226. 62. S. dazu Jan-Pieter Barbian: "Literaturpolitik ...", a. a. O., S. 60ff. 63. So zitiert in: "Dokumente des Verbrechens", Bd. 2, Dietz Verlag Berlin, 1993, S. 54f. 64. S. dazu "Der gestürzte Olymp", in: "Literaturblatt der Berliner Börsenzeitung" vom 25.6.1933, so

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 328

zitiert in "In jenen Tagen ...", a. a. O., S. 386ff. 65. S. dazu auch: "Deutsche Literatur in Schlaglichtern", a. a. O., S. 407. 66. RGBL I, 1933, vom 15.7.1933, S. 480. 67. Vgl. dazu, u. a., Goebbels-Tagebücher, a. a. O., Bd. 5, S. 130, 132, 134,141, 146, 151, 155, 158, 170 bezüglich Goebbels´ Aktivitäten gegen ein "Emigrantenausstellung" in Paris. 68. Goebbels-Tagebücher, Bd. 3/I, S. 257. 69. RGBL I, 1933, vom 26.9.1933, S. 661f. 70. RGBL I, 1933, vom 3.11.1933, S. 797ff. 71. Ebd. 72. Ebd. 73. Vgl., u. a., Goebbels-Tagebebücher, a. a. O., Bd. 3/II, S. 71. 74. Vgl., u. a., Goebbels-Tagebücher, a. a. O., Bd. 4, S. 232, 236, 244, 246. 75. Goebbels-Tagebücher, a. a. O., Bd. 6, S. 32, 64, 82. 76. Vgl., u. a., ebenda, S. 163. 77. Vgl., u. a., Goebbels-Tagebücher, a. a. O., Bd. 7, S. 222.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 329

Literatur im Nationalsozialismus: Überblick Werke und Autoren

Von J.W. Aust, Thomas Aust 17.3.2008 ist Diplom-Lehrer für Geschichte und Deutsch und war in der DDR als Lehrer tätig. Forschungsschwerpunkt ist die Zeit des Nationalsozialismus mit besonderem Blick auf den kirchlichen Widerstand.

studiert Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg.

Viele der nichtfaschistischen, in Deutschland verbliebenen Schriftsteller waren nicht bereit, sich auf die verordnete literarische Linie des Regimes festlegen zu lassen. Ihnen blieb nur der Weg in die "Innere Migration".

Faschistische und profaschistische Literatur

Im Mittelpunkt dieser Literatur standen, wie auf der im "Dritten Reich" alljährlich stattfindenden und in Weimar eröffneten "Woche des deutschen Buches" von Goebbels wiederholt verkündet, "Buch und Schwert". Diese Schriftsteller propagierten in ihren Werken die NS-Ideologie, wollten mit Führerkult, Rassenhass, insbesondere gegen Juden, der Vermittlung nationaler Überheblichkeit, der Idee einer "Volksgemeinschaft", Blut-und-Boden-Mystik und Antikommunismus durch ihre Literatur das deutsche Volk bereit machen für den kommenden Angriffskrieg. Wie von den NS-Führern für die Propaganda gefordert, sollte auch der Inhalt ihrer Werke und die dort verwendete Sprache einfach und unkompliziert, einprägsam und verständlich sein. Der "heroische", "heldische" Mensch stand als positiver Held, als Vorbild, im Mittelpunkt. Der Leser sollte sich an ihm begeistern, sich mit diesem identifizieren. Und der Held musste ein deutscher oder ein germanischer Typ sein. Hanns Johst, der führende dieser Schriftsteller, kam dem in seinem Schauspiel "Schlageter" nach, ebenso Eberhard Wolfgang Möller mit seinem "Frankenburger Würfelspiel".

Gleiches, dann auch in einer "völkischen" Bearbeitung historischer Stoffe, ist für die epischen Werke von Ernst Guido Kolbenheyer ("Deutsches Bekenntnis. Unser Leben"), Hans Friedrich Blunck ("Wolter von Plettenberg"), Otto Gmelin ("Konradin reitet"), Hjalmar Kutzleb ("Der erste Deutsche") und Mirko Jelusich ("Der Traum vom Reich") zu sagen. Neben mehr oder weniger offener Glorifizierung Hitlers und seines Aufstiegs, eingearbeitet in die literarischen Stoffe, wie bei Hanns Johst mit der Widmung zu seinem Schauspiel "Schlageter", standen Werke mit einem primitiven Antisemitismus wie Friedrich Sieburg in "Es werde Deutschland".

Das bäuerliche Leben im Sinne der NS-Mystik sowie in Verbindung mit der Forderung nach der Eroberung neuen Landes, entsprechend der "Volk-ohne-Raum"-Theorie, gestalteten mit Romanen und Erzählungen Hermann Stehr ("Das Geschlecht der Maechler"), Emil Strauß ("Lebenstanz") und Hans Grimm ("Lüderitzland"). Grimm war es auch, der 1926 den Roman "Volk ohne Raum" geschrieben hatte.

Romane, Erzählungen, Novellen und Kurzgeschichten zur Verherrlichung des Krieges und des "Heldentodes" schufen z. B. Edwin Erich Dwinger ("Panzerführer"), Hans Zöberlein ("Stoßtrupp 1917") und Heinrich Zerkaulen ("Jugend von Langemarck"). Solchen Forderungen schlossen sich auch einige auslandsdeutsche Schriftsteller an. Als einer ihrer Vertreter soll hier der sudetendeutsche Schriftsteller Gottfried Rothacker ("Das Dorf an

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 330 der Grenze") genannt werden. Andere Autoren, wie Hanns Johst ("Die Begegnung", gemeinsam veröffentlicht mit "Mutter ohne Tod") waren bemüht mit Novellen und Erzählungen die Idee von der Volksgemeinschaft, Rassentheorie und Blut-und-Boden-Mystik ihren Lesern zu vermitteln.

Die NS-Lyrik sollte zum einen Grundlage der Lieder der NS-"Bewegung" sein, war ansonsten von der "Einfachheit" (Goebbels über HJ-Lieder: "etwas flach".[1]), von der Brutalität der dort verwendeten Sprache, aber auch von romantisierender Hitler-Verehrung geprägt. Vertreter dieser NS-Lyriker waren unter anderem Heinrich Anacker ("Die Trommel") und ("Deutschland heiliges Deutschland").

Einige deutsche Schriftsteller, die nicht der NS-Bewegung angehörten, wurden von den Machthabern gefördert. Dies geschah, weil sie, wie Frank Thieß, öffentlich der NS-Idee gehuldigt und sich mit ihr solidarisiert hatten (im Vorwort zur Sonderausgabe seines Romans "Der Leibhaftige", 1933) oder weil man ihre Literatur für die Durchsetzung der faschistischen Ideen für ungefährlich hielt, wie bei Gertrud Freiin von Le Fort, die Faschismus und Krieg als göttliche Schickung und damit als unvermeidlich bekundete. Wenn, wie bei Hanns Johsts "Propheten", dessen frühe Werke dem von den NS bekämpften Expressionismus zugerechnet werden mussten, doch einmal ein Buch oder Drama eines NS- bzw. NS-nahen Schriftstellers verboten bzw. ein Drama abgesetzt wurde (wie Johsts "Einsamer"), hatte das für die schriftstellerische (bei Johst auch für die politische) Betätigung des Betroffenen zumeist keine weiteren Folgen. Er durfte weiter schreiben und veröffentlichen.

Widerstand

Gegen die Terrormaßnahmen des NS-Regimes, gegen seine Kunst- und Kulturfeindlichkeit, gegen seine Kriegsvorbereitungen und Kriege regte sich von Beginn an heftiger Widerstand der antifaschistischen Schriftsteller. Sie waren nicht davon überzeugt, dass die Nazis die errungene Macht, wenn sie abgewirtschaftet hatten, wieder hergeben würden. Eine wesentliche Erkenntnis bereits ihrer ersten Kämpfe gegen das NS-Regime war, dass nur durch das einheitliche, solidarische Handeln aller Hitlergegner eine Chance bestand, die Nazidiktatur zu beseitigen. In diesem Sinne handelten Dichter, wie Heinrich Mann, der sich im Februar 1933 öffentlich für eine antifaschistische Einheitsfront einsetzte.

In Deutschland verleumdet von den Führern und Gefolgsleuten des Regimes, die ihnen neben Besitz und Geld, Verträgen mit Verlagen und Buchhonoraren auch die deutsche Staatsbürgerschaft nahmen, organisierten die Exilierten den Widerstand, sowohl über illegal verbreitete Schriften nach Deutschland hinein, als auch in der Mobilisierung der Weltöffentlichkeit. Unterstützt von Schriftstellerkollegen aus anderen Ländern, wie Romain Rolland und H. G. Wells, erhoben sie ihre Anklagen auf den Sitzungen des internationalen PEN-Clubs, wie auf der 11. Jahreshauptversammlung, am 27. Mai 1933 in Dubrovnik.

In Deutschland verbotene Zeitschriften, wie die "AIZ" und die "Weltbühne" wurden im Ausland, in Prag beziehungsweise in Paris, bereits 1933 neu gegründet. Ihre Bücher wurden verlegt in Verlagen, die sich wieder-, wie der Malik-Verlag in Prag, oder neu gründeten. Neue Zeitschriften zur Verbreitung ihrer Werke entstanden. Als Beispiele seien genannt: am 1. September 1933 in Amsterdam die Monatszeitschrift "Die Sammlung", herausgegeben von Klaus Mann, unter Mitarbeit von Heinrich Mann und am 15. September 1933 in Prag die Monatszeitschrift "Neue deutsche Blätter" durch Wieland Herzfelde, Oskar Maria Graf, Anna Seghers und Jan Petersen. Schriftsteller, die in Deutschland verblieben waren, sich der Verhaftung entziehen konnten, organisierten sich im in der Illegalität neugegründeten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS). Vorsitzender der Berliner Gruppe des BPRS war Hans Schwalm, der unter seinem Decknamen "Jan Petersen" 1934 das von ihm in Deutschland geschriebene Buch über die Jahre 1933-1934 in ihrer Auswirkung auf die einfachen Menschen unter dem Titel "Unsere Straße" im Ausland veröffentlichte. Sein Nachfolger als Leiter der Berliner Gruppe des Bundes, ab 1935, wurde Kurt Steffen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 331

Als die Nazis die antifaschistischen Schriftsteller 1936 durch die Gestapo verhaften konnten, wurden am 7.Oktober 1936 Kurt Steffen, Willi Specht und Hans Eckel zu jeweils fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.

Auf Grund der Überwachungs- und Terrormaßnahmen des Regimes war es den Schriftstellern nur zeitlich begrenzt möglich, erfolgreich in Deutschland selbst im Sinne ihrer antifaschistischen Überzeugung zu wirken. Neben Flugblättern geschah dies durch die am 1. August 1933 erstmals von Jan Petersen, Günther Weisenborn und anderen illegal in Berlin herausgegebene Zeitschrift des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, "Stich und Hieb".

Gegen die von den Nazis betriebene Politik der "Entchristlichung Deutschlands" kämpften katholische und evangelische Christen wie Werner Bergengruen, Ernst Wiechert und Dietrich Bonhoeffer, letztere in der Widerstand leistenden "Bekennenden Kirche".

Bedeutung für die Wirksamkeit der antifaschistischen deutschen Schriftsteller im Ausland hatten auch die von deutschen Literaten mit organisierten "Internationalen Schriftstellerkongresse zur Verteidigung der Kultur", die 1935 und 1938 in Paris sowie 1937 in Madrid stattfanden. Dichter, wie Bertolt Brecht, stellten dort mit ihren Reden ihre antifaschistisch-humanistische Gesinnung klar, warnten vor dem neuen Weltkrieg als der Folge der Innen- und Außenpolitik Hitlers, verurteilten die Verfolgung der Juden und Hitlergegner in Deutschland, riefen zur Solidarität mit den in den KZs gequälten Antifaschisten auf, mobilisierten die Weltöffentlichkeit, vor allem durch die Zeitungs- und Rundfunkberichte von diesen Veranstaltungen. Die Bedeutung ihres Kampfes, auch in ihrer Wirkung nach Deutschland hinein, zeigte u. a. Hitlers wütende Drohung an die Adresse der antifaschistischen Künstler und Schriftsteller bei seiner Rede zur Eröffnung des "Hauses der Deutschen Kunst" am 19.7.1937 in München: "Wir werden von jetzt ab einen unerbittlichen Säuberungskrieg führen gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung ..."[2]

Der antifaschistische Kampf deutscher Schriftsteller ging aber weit über das geschriebene Wort hinaus: Durch ihr Auftreten mit Bücherlesung, Reden und Rezitationen in Massenveranstaltungen im Saarland versuchten sie, dessen Anschluss an Deutschland zu verhindern und so der faschistischen Kriegsvorbereitung zu begegnen. Schriftsteller wie Erich Weinert kämpften im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschismus. Einer von ihnen, Ludwig Renn, deutscher Offizier des I .Weltkrieges, war einer der militärischen Führer der 11. Internationalen Brigade.

Um das Pariser Tagungshotel "Lutetia" organisierte sich unter der Führung Heinrich Manns eine überparteiliche Gruppe deutscher Exilanten. Ziel des "Lutetia-Kreises" war die Schaffung einer "Volksfront" zur Vernichtung des NS-Regimes. Die Mehrheit der Emigranten waren Parteilose und Mitglieder von bürgerlichen Parteien. Die "Volksfront" sollte eine überparteiliche Alternative zum NS- Regierungssystem in Deutschland entwickeln.

Durch die Machtpolitik des deutschen Faschismus und seine Entfesselung des Zweiten Weltkrieges mussten die antifaschistischen deutschen Schriftsteller immer wieder ein neues, ihnen Schutz gebendes Exilland suchen. Nach der Zerstörung der CSR und dem "Anschluss" Österreichs gingen viele Schriftsteller nach Paris, und dann, nach der faschistischen Besetzung Frankreichs, führte sie ihr Fluchtweg in die USA, nach England, in die Sowjetunion und nach Mexiko, das sehr viele der Verfolgten aufnahm. Dadurch wurde die Arbeit der Schriftsteller wochenlang unterbrochen und nicht jeder schaffte es, das neue Asyl zu erreichen. Und nicht jeder konnte die Bedrückung, die er angesichts der scheinbaren Stabilität des NS-Regimes empfand, aber auch die täglichen Sorgen und Nöte des Existenzkampfes in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache und ohne Verbindung zu seinen Lesern, manchmal auch ohne Kontakt zu anderen Exilierten und deren Verständnis und Solidarität durchstehen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 332

So nannte der Schriftsteller Günther Weisenborn, selbst ein Verfolgter der NS-Diktatur, in seiner Dokumentation "Der lautlose Aufstand" neben 36 Schriftstellern, die dem NS-Regime in Deutschland zum Opfer fielen (unter ihnen Erich Knauf, der Textdichter von "Heimat, Deine Sterne") auch die Namen von 42 ins Exil vertriebenen deutschen Dichtern, die dort starben oder durch Freitod aus dem Leben schieden. Aber nicht wenigen unter den Vertriebenen gelang es, wieder Verbindung zu Gleichgesinnten herzustellen und den Kampf gegen Hitler fortzusetzen.

Literatur im Widerstand und im Exil

Die antifaschistische Literatur setzte das kulturelle Erbe der humanistischen deutschen Literatur fort. Krieg und Faschismus wurden bekämpft, aus christlich-humanistischer Überzeugung, wie bei Franz Werfel, der in seinem Roman, "Die 40 Tage des Musa Dagh" schilderte, wie die Menschlichkeit trotz unsäglicher Leiden der Helden über die Unmenschlichkeit siegt und so eine ethnische Säuberung verhindert wird.

Andere, wie Stefan Zweig, bekämpften Krieg und Gewalt mit ihren Werken, setzten sich, wie er das in seiner Schrift "Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers" darstellte, für eine humanistische Gesellschaftsordnung ein. Ähnliche Positionen vertraten Alfred Döblin, Joseph Roth, Albrecht Schaeffer und Annette Kolb. Dichter, wie Robert Neumann setzten sich mit den entsetzlichen Folgen des Antisemitismus auseinander, bei gleichzeitiger Würdigung der jüdischen Kultur. Rene Schickele und Fritz von Unruh sollen hier beispielhaft genannt sein für die Schriftsteller, die aus pazifistischer, demokratisch-humanistischer Gesinnung mit ihren Werken sich der nazistischen Ideologie und Kriegsverherrlichung widersetzten ("Europa erwache!" von Fritz von Unruh aus dem Jahre 1936).

Eine sozialistische Alternative zum Faschismus wollten Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, Paul Zech und Oskar Maria Graf mit ihren Werken deutlich machen. Brecht schrieb in diesen Jahren Dramen, wie "Das Verhör des Lukullus", "Mutter Courage", "Leben des Gallilei" sowie "Die Gewehre der Frau Carrar" (In letzterem begründete er am Beispiel einer Episode aus dem Spanischen Bürgerkrieg die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes gegen den Faschismus). Die großen Humanisten Thomas Mann und Heinrich Mann gestalteten ihre Ideale in Romanen, wie "Lotte in Weimar" sowie den beiden Romanen über den König "Henri Quatre", dabei in ihrer humanistisch-realistischen Umsetzung im offenen Gegensatz zu den "Übermenschen" wie sie in der NS-Literatur vorkamen.

Friedrich Wolf schuf mit dem Drama "Proffessor Mamlock" ein Werk, mit dem er seine Überzeugung darstellte, dass es sich beim Kampf gegen den Faschismus nicht um eine Rassen- sondern um eine politische Auseinandersetzung handele und dass der Faschismus unbedingt in der Einheit aller Hitlergegner bekämpft werden muss. Anna Seghers Roman "Das siebte Kreuz" ist die Geschichte eines erfolgreichen KZ-Ausbruchs. Erfolgreich vor allem deshalb, weil der Held, Georg Heisler, die Solidarität vieler Unpolitischer erfährt, die in der Bewährung sich zur Hilfe und damit für humanistisches Handeln entscheiden. Dieser Roman erlangte nach seiner Übersetzung ins Englische schon vor 1945 vor allem in den USA große Verbreitung.

Erich Weinert und Johannes R. Becher setzten sich mit satirisch-kritischen und realistischen Gedichten mit der NS-Wirklichkeit auseinander. Sie gingen dabei auf politische Ereignisse, wie den Reichstagsbrand, Morde an Antifaschisten und die Verbrechen der Nazis ein (z. B. "Die Bänkelballade vom Kaiser Nero" von Erich Weinert sowie "Kinderschuhe aus Lublin" von Johannes R. Becher). Aus humanistischer Gesinnung erwuchs die Feindschaft zum Faschismus und dessen Unmenschlichkeit, die Carl Zuckmayer in seinen Werken, wie "Des Teufels General", mit großem Realismus umsetzte.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 333 Literatur der "Inneren Emigration"

Viele der nichtfaschistischen, in Deutschland verbliebenen Schriftsteller waren nicht bereit, sich auf die verordnete literarische Linie des Regimes festlegen zu lassen. Sie zogen sich in ihrer Literatur auf die Gestaltung der "ewigen Werte", die Schönheit in Natur und Landschaft, aber auch auf eine realistische Darstellung des Alltagslebens der einfachen Menschen (wie z. B. Hans Fallada in seinen sozialkritischen Romanen) zurück.

Dies kam in den Werken zum Beispiel der Schriftsteller Georg Britting ("Die kleine Welt am Strom"), Hermann Claudius ("Jeden Morgen geht die Sonne auf"), Hermann Kasack ("Der Strom der Welt") und Wilhelm Lehmann ("Der grüne Gott") zum Ausdruck. Werner Bergengruen (der aus der "Inneren Emigration" zum christlichen Widerstand fand) wurde nach seinem 1936 erfolgten Übertritt zum Katholizismus im Jahre 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, da er konsequent seine christlichen Überzeugungen gegen die verordnete faschistische Ideologie setzte.

Seine "dies irae" (übersetzt: Tage des Zorns) wurden 1945 illegal vertrieben. Ebenso wie er setzten Mitglieder der "Bekennenden Kirche", wie Manfred Hausmann ("Einer muß wachen"), Rudolf Alexander Schröder ("Ein Lobgesang") und Otto Freiherr von Taube ("Reformation und Revolution") das von ihnen vertretene christliche Menschenbild in ihren Aufsätzen, Erzählungen, Novellen und Gedichten gegen das faschistische Bild vom Menschen. Andere schrieben ausschließlich von der Natur, wie Hans Leifhelm ("Gesänge der Erde") und Oskar Loerke ("Der Silberdistelwald").

Fußnoten

1. "Die Tagebücher des Joseph Goebbels”, herausgegeben von Elke Fröhlich, K. G. Saur München, 1998 - 2006, hier Bd. 3/II, S. 181. 2. Rede Hitlers vom 19.7.1937, auszugsweise abgedruckt in: "Große Geschichte des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs. Der Staat Adolf Hitlers", Naturalis Verlag, München/Köln, 1989, S. 108ff. (So auch zitiert in: "Schweriner Volkszeitung" vom 19.7.2007.)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 334

Krieg, Flucht und Vertreibung

6.4.2005

Am 3. Februar 1933, gerade vier Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler, sprach Hitler vor Militärs über die Eroberung von "Lebensraum im Osten". Trotz massiver politischer Zugeständnisse anderer Länder steuerte er Deutschland unaufhaltsam in einen Weltkrieg. Wie nie zuvor wurde die Zivilbevölkerung Ziel und Opfer der Militärmaschinerie. Am Ende des Krieges waren 60 Millionen Menschen umgekommen, Städte und Landschaften zerbombt. Millionen Menschen hatten ihre Heimat verloren.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 335

Der Weg in den Krieg

Von Hans-Ulrich Thamer 6.4.2005 geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.

Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.

Die westlichen Nationen deuteten die aggressive Außenpolitik Hitlers lange nur als Auflehnung gegen den Versailler Vertrag. Man baute auf "appeasement". So konnten die Nationalsozialisten die Jahre bis 1938 nutzen und den nächsten Krieg vorbereiten.

Einleitung

Auch in der nationalsozialistischen Außenpolitik waren Tradition und Revolution ebenso wie das Vertraute und das Unvorstellbare ineinander verzahnt. Zunächst trat das Revolutionäre, das die internationale Ordnung sprengen sollte, allerdings kaum hervor. Es verbarg sich vielmehr hinter dem Anspruch auf Revision des Versailler Vertragssystems von 1919, wie er scheinbar einstimmig von allen Parteien der Weimarer Republik vertreten worden war. Alle nationalen Vorstellungen, von der Veränderung der deutschen Grenzen über die Wiederherstellung deutscher Großmachtpositionen bis hin zu Plänen einer mitteleuropäischen Hegemonie und kolonialer Rückeroberung, die viele nationale Gruppierungen propagiert hatten, waren für Hitler und den harten Kern der nationalsozialistischen Bewegung nur Instrument. Sie waren die Maske, hinter der Hitler seine Expansions- und Lebensraumpläne versteckte, und umgekehrt gab deren schrittweise Erfüllung dem Führermythos immer neue Nahrung und festeren Bestand.

Das Eroberungsprogramm im Osten und der Gedanke eines Lebensraumkrieges waren nur die Träume einer Minderheit. Daß sie binnen kurzer Zeit zum bestimmenden Faktor der deutschen Außenpolitik und der Weltpolitik wurden, hatte viel mit der Person und Politik Hitlers, aber auch mit den innen- und außenpolitischen Bedingungen, Interessen und Wahrnehmungen zu tun, die Hitler vorfand und die er beeinflußte.

Voraussetzung dafür war einmal Hitlers Aufstieg vom Propagandisten einer völkisch-nationalistischen Protestbewegung zum Reichskanzler und charismatischen Führer, der die verschiedenen Ziele und Interessen der konservativ-nationalsozialistischen Koalition auch in der Außenpolitik in seiner Person integrierte. Voraussetzung war zum anderen die Konsequenz, mit der der Ideologe Hitler an seinem Traum vom Ostimperium festhielt. Zugleich besaß er die taktische Fähigkeit, die nationalen Ziele und Emotionen seiner Partner für seine Zwecke einzusetzen. Keiner seiner Gefolgsleute besaß die Entschlossenheit, die Hitler immer wieder zu einer Politik des Alles oder Nichts trieb. Mehr noch, die Sorge vor den immer größeren Risiken einer Politik der Vertragsbrüche und Aggressionsakte schreckte zunehmend auch die engsten Gefolgsleute einschließlich des bedenkenlosen Machtpolitikers Göring. Aber das ständige Spiel mit dem Feuer war weder der Treue der Gefolgschaft noch dem Führerkult der Massen abträglich. Jedes Mal, wenn das Regime seine Politik des Risikos und der Vertragsverletzung ohne nennenswerte internationale Gegenwehr durchsetzen konnte, ging zu Hause die Erleichterung in eine noch größere Bewunderung der scheinbaren politischen Genialität Hitlers über. Das brachte, sofern sie nicht schon vorhanden war, die Zustimmung der alten Machteliten und des nationalen Bürgertums. Für Hitler war das jeweils nur die Plattform für den nächsten Schritt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 336

Denn die dogmatische Fixierung auf einen Krieg, der in der Terminologie Hitlers der Eroberung von " Lebensraum" und der Vernichtung von angeblichen "Rassefeinden" dienen sollte, hatte wenig mit den Emotionen und Zielen des allgemein verbreiteten deutschen Nationalismus zu tun, auch wenn Hitler und seine Führungsgehilfen sich scheinbar zu dessen glühendsten Verfechtern und erfolgreichen Exekutoren machten. Während sich das Denken und Handeln vieler seiner Gefolgsleute zunächst in den Bahnen des überkommenen Nationalismus und wilhelminischen Imperialismus bewegte, waren für Hitler solche Konzepte und ihre Träger nur Mittel zum Zweck. Daß er seine Herrschaftsziele und außenpolitischen Absichten Schritt für Schritt zu einem großen Teil verwirklichen konnte, war nicht nur seinem taktischen Geschick und seinem dogmatischen Willen zuzuschreiben. Es lag auch an der Kooperationsbereitschaft und der Loyalität der traditionellen Führungsgruppen in Militär, Bürokratie und Wirtschaft sowie zu einem nicht geringen Teil an den ungewöhnlich günstigen internationalen Konstellationen und Entwicklungen, die Hitler für sich zu nutzen verstand.

Als mit dem Ende der Reparationsverpflichtungen und der Anerkennung militärischer Gleichberechtigung im Sommer 1932 zwei Bestimmungen des Versailler Vertrages gefallen waren, hatte das Deutsche Reich bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme einen größeren außenpolitischen Handlungsspielraum erhalten. Hinzu kam als Folge der Weltwirtschaftskrise eine zunehmende Destabilisierung des internationalen Systems, indem die kollektiven Konfliktregelungsmechanismen immer brüchiger wurden und jeder Staat nur noch auf sein eigenes ökonomisches Überleben fixiert war. Diese Labilität mußte die "politischen Habenichtse" im Kreis der Mächte, die sich bislang von der internationalen Ordnung zurückgesetzt fühlten, zur Verwirklichung ihrer machtpolitischen Begehrlichkeiten geradezu einladen.

Das Prinzip der kollektiven Sicherheit war bereits geschwächt durch den Einfall der Japaner in die Mandschurei und ihren Austritt aus dem Völkerbund im März 1933, der keine nachteiligen Folgen für Japan gehabt hatte. Das nationalsozialistische Deutschland verstärkte nun den Druck der revisionistischen Mächte und trug damit zur weiteren Gefährdung der internationalen Stabilität bei.

Programmatische Ziele

Diesen günstigen Ausgangsbedingungen für Hitlers Außenpolitik standen weniger günstige gegenüber. Zunächst herrschte nach Hitlers Regierungsübernahme in aller Welt Beunruhigung. Sie resultierte weniger aus seinem Antisemitismus oder aufgrund der inneren Maßnahmen gegen die Kommunisten und andere politische Parteien, sondern vielmehr daraus, daß eine Partei an die Macht gekommen war, die als Speerspitze des deutschen Revisionismus galt. Hitler werde die internationalen Verträge zerreißen, Deutschland aufrüsten und Österreich an das Deutsche Reich anschließen wollen, so befürchteten die europäischen Nachbarn. Allerdings hofften auch einige ausländische Politiker und Diplomaten, daß die Regierungsverantwortung Hitler zur Mäßigung veranlassen würde.

Es kam also für die Regierung Hitler alles darauf an, in der ersten kritischen Phase der Außenpolitik die tatsächlichen Ziele zu verschleiern. Es sollte der Eindruck erweckt werden, daß es überhaupt keine spezifische nationalsozialistische Außenpolitik gäbe, sondern nur die Fortsetzung der herkömmlichen Weimarer Revisionspolitik. Der Verschleierungsstrategie Hitlers kam entgegen, daß auch von deutschnationaler Seite Vorkehrungen getroffen waren, um die Kontinuität in der Außenpolitik zu wahren. Nicht nur Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath (1873–1956) und sein Staatssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow blieben im Amt, auch der außenpolitische Apparat sollte freie Hand behalten.

Staatssekretär von Bülow, der sich sicher gab, daß "die außenpolitische Tragweite des Regierungswechsels" gering war, formulierte in einer Denkschrift noch einmal die außenpolitischen Ziele, wie sie die Präsidialkabinette seit 1930 verfolgt hatten. Es war das Programm einer Revisionspolitik mit dem Ziel einer baldigen Wiederherstellung deutscher Großmacht, die im Unterschied zur Politik von Außenminister Gustav Stresemann (1878–1929) in der Weimarer Republik zwar einen aggressiveren Stil wählte, sich dabei aber weiterhin an internationale Verträge und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 337

Konventionen gebunden fühlte. Der Weg zurück zur Großmacht sollte über eine möglichst rasche wirtschaftliche und militärische Stärkung des Deutschen Reiches führen. Es sollte dadurch in die Lage versetzt werden, seine territorialen Ziele, nämlich den Anschluß Österreichs und die Wiedergewinnung der verlorenen Kolonien, zu erreichen und somit die politische Stellung wiederzugewinnen, die es vor 1914 besessen hatte.

Hitler hatte seine außenpolitischen Vorstellungen nach der Machtübernahme erstmals am 3. Februar 1933 in seiner Ansprache vor Generälen der Reichswehr formuliert. Darin gab er nicht nur der Armeeführung mit verblüffendem Freimut zu erkennen, daß er Politik mit hohem Risiko zu betreiben gewillt war. Er kündigte vielmehr an, in mehreren Stufen die "Eroberung neuen Lebensraumes im Osten" und dessen "rücksichtslose Germanisierung" vorbereiten und durchführen zu wollen. Zunächst sei eine vollständige innenpolitische Umgestaltung Deutschlands mit dem Ziel einer "Ausrottung des Marxismus" und einer "Stärkung des Wehrwillens" erforderlich. Alle anderen außen-, wirtschafts- und wehrpolitischen Maßnahmen müßten diesem einen Ziel untergeordnet werden. Deswegen müsse auch die Revisionspolitik einschließlich der Beteiligung an der Abrüstungspolitik des Völkerbundes vorläufig fortgeführt werden, um die Abschirmung der eigentlichen Aufrüstungs- und Eroberungspolitik zu gewährleisten.

Hitlers Postulat der "Wiedererreichung der politischen Macht" interessierte die Militärs vor allem deswegen, weil es mit dem "Aufbau der Wehrmacht" verbunden war, und das entsprach den eigenen Interessen und Planungen. Denn sowohl 1928/29 als auch 1932 hatte die Reichswehrführung schon geheime Aufrüstungsprogramme aufgestellt. Sie entwickelten trotz des Planungsstadiums, indem sie sich noch befanden, eine eigene militärpolitische Dynamik und hätten über kurz oder lang eine neue Regierung weitgehend binden und außenpolitisch zu einer Revision der Militärartikel des Versailler Vertrages führen müssen.

In seiner Ansprache entwickelte Hitler in Grundzügen das, was er in seinen Reden und vor allem in seiner Programmschrift "Mein Kampf" seit der Mitte der zwanziger Jahre vorgetragen hatte. Allerdings deutete er vor den Offizieren seine eigentlichen Fernziele, nämlich die Eroberung der Sowjetunion und die Errichtung einer rassistisch begründeten Weltherrschaft, nur sehr vage an. Über die Formulierung dieser programmatischen Kernelemente hinaus besaß Hitler wenig Vorstellungen davon, wie diese Ziele tatsächlich zu erreichen wären. Allenfalls die taktischen Regeln und die entsprechende Flexibilität in der Verfolgung der Ziele wurden deutlich und ließen die Überlegenheit des politischen Propagandisten und Taktikers Hitler gegenüber den Generälen erkennen, die relativ starr an der Durchsetzung ihrer Aufrüstungspolitik festhielten.

Erste Schritte

Das taktische Geschick Hitlers, das ihn von seinen politischen Bündnispartnern unterschied, wurde erkennbar, als sein Wirtschaftsminister Hugenberg aus seinen Forderungen nach deutschem Siedlungsraum im Osten und auf Kolonien in Übersee selbst auf der Londoner Weltwirtschaftskonferenz keinen Hehl machte. Damit nährte er in England für lange Zeit die Vorstellung, daß die konservativen "Preußen" in der neuen Regierung mehr zu fürchten seien als der gemäßigtere und verbindlichere "Österreicher" Hitler, der sich allerdings nur mit der öffentlichen Formulierung seiner außenpolitischen Ziele zurückhielt.

Darüber hinaus stellte er in seiner ersten großen außenpolitischen Rede vor dem Reichstag am 17. Mai 1933 den Nationalsozialismus sogar als eine Bewegung dar, die einzig auf den Frieden verpflichtet sei. Er wolle die bestehenden Verträge achten und nur auf dem Verhandlungswege eine Revision des Versailler Vertrages anstreben. Im Kabinett hatte Hitler schon im April das taktische Prinzip vertreten, Deutschland müsse überall da eine politische Stütze suchen, wo sie sich fände. Ein erster Schritt in diese Richtung war die überraschende Entscheidung, die bisherige deutsch-sowjetische Zusammenarbeit auf allen Gebieten fortzusetzen. Zwischen der Verfolgung der Kommunisten im Inneren und den Beziehungen zur UdSSR nach außen wollte Hitler einen deutlichen Unterschied

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 338 machen. Auf die Unterzeichnung eines deutsch-sowjetischen Kreditabkommens am 25. Februar 1933 folgte darum die Verlängerung des Freundschafts- und Nichtangriffsvertrages mit der UdSSR am 4. April 1933.

Wandel der Polenpolitik

Noch überraschender war die veränderte Politik gegenüber Polen, das in der Weimarer Republik nach Meinung aller Parteien Zielpunkt der Revisionsbemühungen gewesen war. Nach einer anfänglich propagandistischen Eskalation der Konflikte zwischen Polen und der Regierung Hitler verstärkten sich seit dem Frühsommer 1933 die Anzeichen für eine Wende im deutsch-polnischen Verhältnis, die von Hitler ausging. Wieder waren es taktische Motive, die ein vorübergehendes "Einfrieren der Revisionsforderungen gegenüber Polen" (Ludolf Herbst) angeraten sein ließen. Darum konnte Hitler in einem Gespräch mit dem polnischen Gesandten auch durchaus auf die gemeinsame Gegnerschaft gegenüber der Sowjetunion hinweisen und daran die Zusage anschließen, die Existenzberechtigung Polens anzuerkennen.

Zwar erkannte die polnische Seite durchaus die taktischen Hintergedanken der deutschen Regierung, doch fühlte man sich in Warschau von Frankreich im Stich gelassen und ergriff deswegen nach einigem Zögern die Chance eines Nichtangriffspaktes mit dem Deutschen Reich, der am 26. Januar 1934 in Berlin unterzeichnet wurde. Darin verpflichteten sich beide Seiten, "sich in den ihre gegenseitigen Beziehungen betreffenden Fragen, welcher Art sie auch sein mögen, unmittelbar zu verständigen" und auf "jede Anwendung von Gewalt zu verzichten". Eine Revision war damit freilich nicht ausgeschlossen, und Hitler stellte gegenüber dem polnischen Gesandten einen Tag nach der Unterzeichnung des Vertrages fest, daß darin nach seinem Verständnis auch eine "mögliche Grenzverschiebung " eingeschlossen sei.

Austritt aus dem Völkerbund

Der spektakuläre Vertragsabschluß bedeutete außenpolitisch eine Abkehr von der bisherigen Linie der konservativen Revisionspolitik, die im Bündnis mit der Sowjetunion zu Veränderungen im internationalen System kommen wollte. Innenpolitisch leitete der Polen-Pakt die schrittweise Entmachtung des Auswärtigen Amtes ein. In der deutschen Propaganda feierte man den Überraschungscoup als Beleg für Hitlers Beteuerung, an Stelle einer kollektiven Sicherheitspolitik eine bilaterale Ausgleichspolitik mit den Nachbarn treiben zu wollen. Das war die neue Linie der nationalsozialistischen Außenpolitik, die zuvor mit dem Austritt aus dem Völkerbund am 14. Oktober 1933 zum ersten Mal ihr wahres Gesicht gezeigt hatte. Denn das war nicht nur eine Politik mit hohem Risiko, sondern eine Absage an das System kollektiver Vertrags- und Konfliktregelungen.

Gerechtfertigt wurde diese Abkehr von der Außenpolitik der Weimarer Republik mit der Haltung der Westmächte bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen. Unter dem Eindruck der illegalen militärischen und halbmilitärischen Aktivitäten bzw. des politischen Terrors durch SA und SS hatte vor allem Frankreich in Genf hinhaltend reagiert, als es um die Frage der konkreten Ausgestaltung der bereits 1932 grundsätzlich gewährten deutschen Gleichberechtigung ging. Sie hätte nämlich sowohl eine Abrüstung der anderen Mächte als eine moderate Aufrüstung Deutschlands mit dem Ziel des Rüstungsgleichstandes umfassen können.

Nach langen Verhandlungen schwenkte England schließlich auf die Linie Frankreichs ein und gestand eine internationale Abrüstung erst nach einer vierjährigen deutschen Bewährungsphase unter internationaler Kontrolle zu (was die bisherige Tarnung der deutschen Aufrüstungsprogramme aufgedeckt hätte). Dies lieferte der deutschen Delegation den Vorwand für einen Abbruch der Verhandlungen, den sie schon lange gesucht hatte. Seine auch von den deutschnationalen Regierungspartnern unterstützte Entscheidung vom 14. Oktober 1933, mit der Abrüstungskonferenz auch gleich den Völkerbund zu verlassen, bescherte Hitler nicht nur einen propagandistischen Erfolg.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 339

Er fand auch den gewünschten Anlaß, um die Aufrüstung voranzutreiben.

Dem neuen Stil nationalsozialistischer Außenpolitik entsprach es, daß nach dem Austritt aus dem in Deutschland ohnehin unpopulären Völkerbund sofort die Auflösung des Reichstages und die Ausschreibung von Neuwahlen zum 12. November beschlossen wurde. Das sollte dem nationalsozialistischen Regime zusätzlich eine plebiszitäre Legitimation verschaffen.

Durch Massenappelle wurde das Land in eine nationale Hochstimmung versetzt, und Hitler konnte sich nun als die entscheidende Figur in der deutschen Außenpolitik darstellen. Die Abstimmung war ein Sieg der nationalen Tradition, die sich Gleichberechtigung nur als militärische Gleichberechtigung vorstellen konnte. Sie war aber auch ein Ausdruck der wachsenden innenpolitischen Einschüchterung durch Terror und Propaganda, was die Wahl zur Farce machte. Bei der Reichstagswahl stimmten von 45 Millionen Wahlberechtigten 39 Millionen der nationalsozialistischen Einheitsliste zu. 95 Prozent der abgegebenen Stimmen votierten mit Ja für die Entscheidung der Regierung. Was von der nationalsozialistischen Propaganda als "Wunder der deutschen Volkswerdung" gefeiert wurde, bedeutete außenpolitisch zunächst eine stärkere Isolierung des NS-Regimes.

Putsch in Österreich

Noch unmittelbarer brach das nationalsozialistische Moment in den Beziehungen zu Österreich durch. Entsprechend drastisch und risikoreich waren die Folgen der Politik. Der Traum von einem vereinten und starken "Großdeutschland" gehörte zu den frühesten Vorstellungen Adolf Hitlers und war wesentlicher Bestandteil aller deutschen Revisionserwartungen. Für Hitler und die NSDAP konnte die nationalsozialistische Revolution in Österreich nur auf demselben Wege wie in Deutschland und unter Ausnutzung der im Reich errungenen Machtpositionen zum Sieg gebracht werden, um dann die populäre Idee des Anschlusses zu verwirklichen. Auch in Österreich war in den verschiedensten politischen Lagern der Anschlußgedanke verbreitet. Aber die Vorstellung, daß dieser nun als Anschluß an ein nationalsozialistisches diktatorisches Regime durchgeführt werden könnte, weckte in sozialistischen wie in national-klerikalen Kreisen Österreichs eher Ablehnung als Zustimmung.

Seit 1933 wurden die österreichischen Nationalsozialisten propagandistisch und finanziell massiv aus dem Reich unterstützt. Die österreichische Regierung reagierte mit Protesten auf diese Einmischung in die Innenpolitik eines Nachbarstaates. Diesen Protesten schlossen sich Frankreich, England und auch das faschistische Italien an. Das NS-Regime antwortete darauf bereits im Mai 1933 mit einer Reisesperre gegen das Touristenland Österreich, indem jede Ausreise mit einer Gebühr von Tausend Reichsmark belegt wurde. Österreich reagierte wiederum mit der Einführung eines Visumzwangs und traf damit vor allem den kleinen Grenzverkehr österreichischer und deutscher Nationalsozialisten. Diese antworteten mit einer Attentatswelle, deren Urheber immer wieder nach Bayern flüchteten.

Die österreichischen Nationalsozialisten standen vor einem ähnlichen Dilemma wie Hitler am 9. November 1923. Vorerst widersetzten sich konservativ-nationale Kräfte dem nationalsozialistischen Aufstieg zur Macht. Als der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892–1934) seit dem Februar 1934 den Ausbau seines autoritären Ständestaates durch die blutige Unterdrückung der politischen Linken fortsetzte, fühlten sich in der spannungsgeladenen innenpolitischen Atmosphäre die Nationalsozialisten herausgefordert. Am 25. Juli 1934 ermordeten sie den Bundeskanzler. Doch ihr Putsch scheiterte an der drohenden Haltung Mussolinis, die Hitler schließlich statt einer unterstützenden Intervention zugunsten der österreichischen Nationalsozialisten einen sofortigen Rückzug ratsam erscheinen ließ. Die deutsche Beteiligung war unverkennbar, doch nun zog sich Hitler ganz auf die Staatspolitik zurück und bestritt jede Verbindung mit der Parteiaktion. Die Mehrgleisigkeit nationalsozialistischer Politik hatte sich als politisches Instrument in dieser Aktion nicht bewährt, und das Verhältnis zum faschistischen Italien war vorerst gestört. Damit wurde deutlich, daß weniger die Ideologie als das machtpolitische Kalkül das Verhältnis der beiden Staaten bestimmte.

Herausgeholfen aus der mißglückten Affäre hat Hitler ein Vermittler, der sich schon in anderen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 340

Situationen als Helfer angeboten hatte: der frühere Reichskanzler Franz von Papen. Selbst der Umstand, daß wenige Wochen zuvor sein engster Mitarbeiter einer staatlichen Mordaktion zum Opfer gefallen war und er seine Vizekanzlerschaft verloren hatte, hinderte ihn nicht daran, als Sonderbotschafter Hitlers nach Wien zu reisen, um dort, wie in Rom, beschwichtigend zu wirken. Der Sommer 1934 brachte das nationalsozialistische Regime sowohl aus innenpolitischen als auch aus außenpolitischen Gründen insgesamt in eine labile Situation. Die blutige Mordaktion vom 30. Juni 1934 (Röhm-Affäre) und die außenpolitische Isolierung zwangen Deutschland zum vorsichtigen Taktieren, was bei nicht wenigen Akteuren die Illusion einer Mäßigung des NS-Regimes entstehen ließ. Hitlers Handlungsspielraum zwischen politischer Abschirmung einerseits und einer weiteren Machtausdehnung bzw. Aufrüstung andererseits war vorerst sehr eng.

Der französische Versuch, unter dem Eindruck der Ereignisse des Sommers 1934 mit diplomatischen Mitteln zu einer gemeinsamen Haltung der Westmächte und der östlichen Nachbarn Deutschlands gegenüber der nationalsozialistischen Herausforderung zu kommen, setzte auf die Wiederherstellung und Erweiterung der alten Bündnisbeziehungen zu den Ländern Südost- und Ostmitteleuropas. Auch die UdSSR wurde in die diplomatische Offensive einbezogen, was Moskau mit dem Eintritt in den Völkerbund und mit der Unterzeichnung des französisch-sowjetischen Beistandspaktes am 2. Mai 1935 beantwortete. Doch die machtpolitischen und ideologischen Interessengegensätze sowie die inneren Schwächen dieser Mächtekonstellation waren unüberbrückbar und führten dazu, daß der Gedanke einer großen Koalition gegen den Nationalsozialismus, die in der kommunistischen Propaganda bald als antifaschistische Koalition bezeichnet wurde, bloße politische Rhetorik blieb.

Ausbruch aus der Isolierung

Bis zum Beginn des Jahres 1936 sollte sich an der internationalen Isolierung des nationalsozialistischen Deutschland nichts ändern. Den Weg zurück zur außenpolitischen Handlungsfreiheit fand nicht Hitler, er wurde ihm durch die Manöver der Gegenseite eröffnet. Der einzige außenpolitische Erfolg dieser Phase des Wartens und der erzwungenen Zurückhaltung fiel Hitler in den Schoß, als die Westmächte in Erfüllung einer Bestimmung des Versailler Vertrags eine Volksabstimmung über das künftige Schicksal der Saar zuließen. Am 13. Januar 1935 sprachen sich 91 Prozent der Bevölkerung dabei für die Wiedervereinigung mit Deutschland aus. Trotz der verzweifelten antifaschistischen Kampagnen der politischen Linken, die sich an der Saar noch frei betätigen konnten, zählte für eine übergroße Mehrheit der Saarländer das nationale Bekenntnis mehr als der Verlust der politischen Freiheit, der sie im nationalsozialistischen Reich erwartete. Dem Regime brachte das den ersehnten Popularitätsgewinn, und Hitler zögerte nicht, die Abstimmung als persönlichen Erfolg im Kampf gegen den Versailler "Schandvertrag" auszugeben.

Die nationalpolitische Zustimmung gab auch die Rückendeckung für einen ersten politischen Überraschungs-Coup, dem weitere folgen sollten. Am 16. März 1935 führte das NS-Regime unter Verletzung internationaler Verträge die allgemeine Wehrpflicht ein und gab das offizielle Startzeichen für den bis dahin verschwiegenen Ausbau der Luftwaffe. Die neue Wehrmacht sollte eine Friedensstärke von 36 Divisionen und 550000 Mann besitzen. Dieser Schritt lag in der Logik der Aufrüstungsplanungen, die von der Reichswehr längst vorangetrieben worden waren. Der Tatbestand des Vertragsbruchs wurde propagandistisch mit einem glanzvollen militärischen Zeremoniell am 17. März, dem "Heldengedenktag", überspielt, bei dem die preußische Tradition in einem Festakt in der Staatsoper Berlin beschworen wurde.

Hitlers Vertragsbruch verstärkte zunächst die westeuropäischen Bemühungen um eine gemeinsame Front zur Eindämmung der deutschen Herausforderung, an der seit dem Februar 1934 vor allem der französische Außenminister gearbeitet hatte. Die drei Mächte England, Frankreich und Italien bekannten sich am 14. April 1935 mit der Erklärung von Stresa (aus Anlaß der Verletzungen des Versailler Vertrags durch das nationalsozialistische Deutschland) zur Erhaltung des internationalen Status quo und drohten Deutschland mit Interventionen, die der Vertrag von Locarno (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 261, "Weimarer Republik") bot. Doch sowohl Mussolinis

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 341

Expansionsgelüste in Äthiopien als auch die britische Politik, die sich mit dem Gedanken trug, Hitler durch Zugeständnisse zu zügeln, sorgten dafür, daß die Stresa-Front schon bröckelte, bevor sie überhaupt besiegelt worden war.

In dieser Absicht, Hitler durch Zugeständnisse zu zügeln, kamen der britische Außenminister John Allsebrook Simon und Lordsiegelbewahrer Anthony Eden nach Berlin, wo ihnen Hitler den Abschluß eines Flottenpaktes vorschlug, der nur die Vorstufe für ein weitergehendes globales Bündnis sein sollte. Hitlers Hinweis auf die weit vorangeschrittene Luftrüstung des Reiches, die zu diesem Zeitpunkt nur ein Bluff war, ließ die Besucher in Verhandlungen über einen Flottenpakt einwilligen. Hitler ernannte seinen treuen Parteigänger Joachim von Ribbentrop (1893-1946) zum Sonderbotschafter in London.

Vertrag mit England

Er sollte das "Bündnis mit England" vorbereiten und entsprechend starr und undiplomatisch gab sich Ribbentrop bei seinen ersten Gesprächen in London. Keinen konkreten Plan, sondern ein Angebot mit "welthistorischer Bedeutung" wollte er den irritierten britischen Gesprächspartnern unterbreiten: Eine weltpolitische Aufgabenteilung von Land- und Seemacht, ein Bündnis mit England, um gegenüber der Sowjetunion "freie Hand" für eine deutsche Expansion und für einen Kreuzzug gegen den Bolschewismus zu bekommen. Doch Ribbentrop war nicht nur die Stimme Hitlers. In der Unnachgiebigkeit seines Auftretens schwangen auch eigene antibritische Ressentiments mit, die sich eigentlich mit Hitlers Bündnisvorstellungen schwer vertrugen. Nach der anfänglichen britischen Drohung, die Verhandlungen abzubrechen, war diesen dann doch Erfolg beschieden. Man einigte sich darauf, daß die britische und die deutsche Überwasserflotte ein Stärkeverhältnis von 100 zu 35 besitzen sollte und Deutschland auch dann an diese Vereinbarung gebunden wäre, wenn dritte Mächte auf See aufrüsten würden.

Hitler bezeichnete den Vertragsabschluß vom 18. Juni 1935 als den "glücklichsten Tag seines Lebens ", schließlich hatte er damit von einer der Siegermächte des Ersten Weltkriegs die Zustimmung für eine Aufrüstung erhalten, die weit über die im Versailler Vertrag vorgesehenen Rüstungsbeschränkungen ging. Dafür nahm er in Kauf, daß man in London meinte, mit der Festlegung der Rüstungsparitäten ein Modell gefunden zu haben, das zur Grundlage für eine sehr viel umfassendere internationale Regelung werden und das die deutsche Aufrüstung kalkulierbarer machen könnte. Hitler hingegen dachte nur an eine bilaterale Vereinbarung.

Auch wenn man in London weit davon entfernt war, auf Hitlers Angebote einer deutsch-britischen Herrschaft über Europa einzugehen, sah man in einer Rüstungskontrolle, wie sie das Flottenabkommen vorsah, eine Entlastung in einem potentiellen Konfliktbereich. Das war für die britische Politik angesichts der Belastungen, die der ostasiatische Schauplatz mit dem aggressiven Japan bereitete, nicht unwichtig und schien im Augenblick eine vernünftige Alternative gegenüber einer Politik der Konfrontation zu sein. Dahinter stand ein nüchternes Kalkül, das auch die spätere Appeasement-Politik bestimmen sollte. Man wußte um die eigenen Schwächen in der Rüstung und um die öffentliche Meinung, die Arbeit und Brot verlangte anstelle weiterer militärpolitischer Belastungen. Darum suchte die britische Regierung Zeit zu gewinnen, freilich um den hohen Preis eines Bruches der europäischen Solidarität und der Sanktionierung skrupelloser Vertragsbrüche durch Deutschland.

Abessinien-Krieg Mussolinis

Während London testen wollte, ob sich das nationalsozialistische Deutschland nach diesem ersten Vertragsabschluß in eine kollektive Ordnung einfügen lassen wollte, war es Mussolini, der im Herbst 1935 die antinationalsozialistische Front von Stresa weiter zerstörte. Im Windschatten der politischen Spannungen, die von Hitlers aggressiver Politik der Vertragsrevision ausgingen, betrieb Mussolini Eroberungspolitik auf eigene Faust, indem er am 2. Oktober 1935 auf einer sorgfältig inszenierten Massenkundgebung Äthiopien den Krieg erklärte. Nicht nur die schrillen nationalistisch- imperialistischen Töne, die bei dieser gelenkten Massenmobilisierung erklangen, sondern auch die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 342 rassistischen Elemente in der Kriegsführung Italiens machten den Feldzug zu einem faschistischen Krieg.

Der Handlungsspielraum, den die Diktatur Mussolinis durch einen wachsenden politischen Konsens im Innern besaß, wurde dadurch vergrößert, daß die Widersprüche und Interessengegensätze Europas nur zu einer sehr halbherzigen internationalen Reaktion auf den Angriff gegen das Völkerbundmitglied Äthiopien (Abessinien) führten. Die mangelnde Entschlossenheit, mit der die Westmächte auf die Verletzung des internationalen Ordnungssystems reagierten, mußte auch für Hitler aufschlußreich sein. Konnte Mussolini indirekt darauf setzen, daß die Existenz Hitlers Franzosen wie Engländer zum nachsichtigen Umgang mit dem faschistischen Italien veranlaßte, so fand Hitler endlich einen Weg aus der außenpolitischen Isolierung. Er konnte die Schwächen des internationalen Systems und der westlichen Demokratien noch schonungsloser ausnutzen, als dies Mussolini getan hatte.

Rheinland-Besetzung

Während sich alle Aufmerksamkeit auf den Abessinien-Konflikt richtete, ließ Hitler am 7. März 1936 die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes besetzen. Obwohl die Regierungen in Europas Hauptstädten davon nicht überrascht sein konnten, schauten sie lediglich zu. Die starken Worte, die aus Paris und aus dem Völkerbund kamen, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß Hitler die internationale Situation zu einem Vertragsbruch genutzt hatte, ohne auf entschiedene Gegenwehr zu stoßen.

Die deutsche Regierung hatte die Besetzung der entmilitarisierten Zone des Rheinlands offenbar schon seit dem Frühjahr 1935 als nächste Etappe ihrer Außenpolitik anvisiert. Angesichts der voranschreitenden Aufrüstung und der strategischen Planungen der Militärs erschien den Nationalsozialisten ein solcher Schritt unausweichlich, wenn Hindernisse für den militärischen Konfliktfall abgebaut werden sollten. Vor dem Hintergrund der nach wie vor bestehenden militärischen Schwäche des Deutschen Reiches war ein solcher Schritt nach Meinung führender Militärs und Diplomaten im Auswärtigen Amt nur auf dem Verhandlungswege zu erreichen. Denn das Risiko einer militärischen Aktion war ihnen zu hoch.

Doch hatte sich im Laufe des Jahres 1935 die internationale politische Situation so entwickelt, daß Hitler im Februar 1936 den "psychologischen Augenblick" für eine deutsche Aktion gegen diese als Einschränkung der deutschen "Wehrhoheit" empfundenen Regelungen des Versailler Vertrages und des Locarno-Paktes gekommen sah. Die Unterzeichnung des sowjetisch-französischen Beistandspaktes vom 2. Mai 1935 hatte die deutsche Propaganda bereits als "Bruch" des Locarno- Paktes bezeichnet. Die Entwicklung des Abessinien-Krieges inspirierte die nationalsozialistische Führung zu weiteren außenpolitischen Plänen: "Nur ordentlich streiten", notierte Goebbels am 6. September 1935 in sein Tagebuch. "Unterdeß streifen wir die Ketten ab." Inzwischen hatte Hitler in Rom sondieren lassen, ob Mussolini nicht auch bereit sei, den sowjetisch-französischen Beistandspakt zum Anlaß zu nehmen, seinerseits Locarno zu kündigen, "worauf dann Deutschland folgen würde". Zwar war Mussolini nicht bereit, den Vorreiter zu spielen, doch er versicherte der deutschen Seite, daß "jede politische oder diplomatische Opposition Italiens" im Falle einer deutschen Kündigung des Locarno-Paktes ausgeschlossen sei. Als am 27. Februar 1936 die französische Nationalversammlung den Pakt mit Moskau ratifizierte, wollte Hitler nicht länger warten.

Am 2. März erhielten die Oberbefehlshaber der Wehrmacht den Befehl zum Einmarsch, doch sollte nur eine bescheidene Streitmacht von insgesamt drei Bataillonen in das linksrheinische Gebiet vorstoßen und die Städte Aachen, Trier und Saarbrücken erreichen, während das Gros der Truppen rechts des Rheins verblieb. Zu groß war noch die Unsicherheit über die Reaktion der beiden Westmächte. Generäle und Politiker waren sich des Risikos des politischen und militärischen Vertragsbruchs bewußt. Sie wußten um die militärische Überlegenheit der französischen Seite, und auch Hitler war an diesem Wochenende, das er zu seinem Überraschungsschlag nutzen wollte, sehr nervös. Die deutschen Truppen hatten zwar keinen ausdrücklichen Rückzugsbefehl für den Fall eines militärischen Eingreifens Frankreichs, aber Reichskriegsminister Werner von Blomberg (1878–1946)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 343 hatte sich für "jede militärische Gegenmaßnahme", die von deutscher Seite erforderlich werden sollte, die Entscheidung vorbehalten. Die ersten Reaktionen aus Paris und London ließen in der Tat solche Maßnahmen befürchten, und Hitler schien für einen Augenblick geneigt, den Rückzugsbefehl zu geben. Es war ausgerechnet Außenminister von Neurath, der das Unternehmen von Anfang an skeptisch beurteilt hatte, der nun beruhigte. "Jetzt sind mer drinne und bleibet drinne".

Daß Hitler mit seinem riskanten Spiel "durchkam", lag wieder einmal an der mangelnden Geschlossenheit der westlichen Mächte. Schon am Vorabend der Rheinland-Besetzung war zu erkennen, daß weder London noch Paris zu einer militärischen Reaktion bereit sein würden. In Frankreich fand ein heftiger Wahlkampf statt, bei dem ein Sieg der Volksfrontkoalition zu erwarten war. Die Übergangsregierung von Albert Sarraut wollte daher keine einschneidenden Beschlüsse mehr fassen, und der Ministerpräsident beschränkte sich darum auf starke Worte. Das britische Kabinett hatte schon 1935 festgelegt, daß eine Militarisierung des Rheinlandes kein vitales Interesse Großbritanniens berührte.

Zudem lockte Hitler in seiner Reichstagserklärung vom 7. März, die ganz auf Beschwichtigung angelegt war, mit einem scheinbar ganz auf die Interessen und Erwartungen Großbritanniens angelegten neuen Plan einer kollektiven Sicherheitsordnung in Europa. Schließlich versprach Hitler: Er wolle in Zukunft auf territoriale Forderungen in Europa verzichten. Am 9. März erklärte Anthony Eden im Unterhaus, der deutsche Schritt habe die internationale Lage zwar belastet, aber es liege kein Anlaß vor, in ihm eine Bedrohung zu sehen. Nur der Oppositionspolitiker Winston Churchill (1874–1965), der schon damals vor einem Zurückweichen vor der deutschen Aggression warnte, hat die Haltung der beiden Westmächte zutreffend beschrieben und kritisiert: "Wenn die Franzosen zögerten, etwas zu unternehmen, dann würden ihre britischen Verbündeten nicht zögern, davon abzuraten."

So verlief alles nach dem Muster der letzten Krise, auf den Coup folgten starke Worte und Drohungen, eine Kette von Konsultationen und Konferenzen, aber sonst nichts. Und auch die deutschen Angebote blieben ein Stück Papier, denn die Aufrüstung ging nun unter Einbeziehung der Grenzlande im Westen energisch weiter.

Volksabstimmung

Der Beifall und die Blumen, mit denen die junge Wehrmacht bei ihrem Einmarsch in die Rheinlande von der Bevölkerung überschüttet wurden, deuteten auf die Zustimmung zu der risikoreichen Aktion hin. Nichts war populärer als ein Erfolg in der Revision des Versailler Systems, und nichts war besser geeignet, den "Führer"-Mythos und die Stabilität des Regimes zu steigern. Darum verkündete Hitler mit dem Einmarsch in das Rheinland zugleich die Auflösung des Reichstages und Neuwahlen für den 29. März 1936, um sich sein Vorgehen als "Wiederherstellung der nationalen Ehre und Souveränität des Reiches" bestätigen zu lassen. Weiterhin wollte er der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit vorgaukeln, daß diese Politik von dem "aufrichtigen Bestreben nach einer wahren Völkerversöhnung und Verständigung auf der Grundlage gleicher Rechte und gleicher Pflichten " bestimmt sei.

Das nationalsozialistische Regime hatte eine solche Popularitätssteigerung dringend nötig, denn alle offiziellen Lageberichte signalisierten, daß zu dem Unmut über die Versorgungsengpässe als Auswirkung der einseitigen Rüstungsförderung auch der Unmut über die nationalsozialistische Kirchenpolitik hinzugekommen war. Die Welle nationaler Euphorie, die nun nach dem erfolgreichen Rheinlandcoup ausbrach, machte alle Kritik am Alltag vorübergehend vergessen. In die nationale Begeisterung und Bewunderung für die "geniale Leistung" des Führers mischte sich Erleichterung über den glücklichen Ausgang des Abenteuers. Ein minuziös geplanter Propagandaeinsatz verstärkte diese Stimmung, denn es ging weniger um eine Wahl als um ein demonstratives Bekenntnis zu Hitler und seiner Politik sowie um die Festigung seiner Herrschaft. Das offizielle Ergebnis war wie das in allen Diktaturen: 98,8 Prozent stimmten für die Liste des Führers. Auch wenn man Zwang und Manipulation, Angst und die Alternativlosigkeit bei der Wahl bedenkt, so schien das Ergebnis doch zu

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 344 bestätigen, was die Propaganda unaufhörlich behauptete: Hitler sei der "Vollstrecker des Volkswillens ". Eine erfolgreiche Außenpolitik erwies sich mehr und mehr als suggestives Instrument zur Integration der Bevölkerung jenseits aller Interessengegensätze und inneren Spannungen, die damit wenigstens für eine Weile überbrückt waren.

Neben den begeisterten Massen wurde Hitler selbst zum Opfer seines Mythos. Alles deutet darauf hin, daß der 7. März 1936 in diesem Prozeß ein entscheidendes Datum war. Hitler genoß nun jene mythischen und messianischen Phrasen, die Goebbels und seine Propaganda schon seit einiger Zeit vorbereiteten, wenn es um die Verklärung des "Führers" ging. Nun beschwor Hitler in seinen Reden die Vorsehung, und der Glaube an die eigene Mission und Unfehlbarkeit gehörte nicht nur zum festen Bestandteil seiner Selbstdarstellung, sondern auch seines Selbstbewußtseins. Umgekehrt hatten die konservativen Bündnispartner in Militär und Diplomatie erleben müssen, daß ihren Zweifeln und ihrer Skepsis zum Trotz Hitler wieder einmal Erfolg gehabt hatte. Das schwächte die Position von Neurath, Blomberg und Fritsch.

Spanischer Bürgerkrieg

Mit dem Rheinland-Coup hatte das Deutsche Reich sich nicht nur eine Sicherheits- und Aufmarschzone erobert und die außenpolitischen Fesseln für eine verstärkte Aufrüstung abgelegt. Die Aktion hatte überdies den beiden faschistischen Mächten, Deutschland und Italien, die Erfahrung vermittelt, daß sie sich in ihrem Streben nach Veränderung der internationalen Konstellationen gegenseitig unterstützen könnten. Hitlers Erfolg gab nun auch Mussolini den Mut zur endgültigen Annexion von Abessinien, ohne daß der Völkerbund seine Sanktionsdrohungen ernsthaft in die Tat umgesetzt hätte. Die gemeinsame Front gegen den Völkerbund führte die beiden ideologisch verwandten Diktaturen zusammen und legte nahe, auch den Streitfall Österreich, der zwischen den beiden noch bestand, vorerst durch eine politische Verständigung zu entschärfen. Mussolini gab zu verstehen, daß er einer innenpolitischen Veränderung in Österreich nicht mehr im Wege stehen werde und strich die finanzielle Hilfe für die befreundeten österreichischen Heimwehren, die in Konkurrenz zur österreichischen NSDAP standen. In einem deutsch-österreichischen Abkommen im Juli 1936 erkannte Deutschland die Unabhängigkeit Österreichs an. Dafür ließ Wien sich außenpolitisch gleichschalten und versprach, sich stets daran zu erinnern, daß Österreich ein deutscher Staat sei.

Bald zeichnete sich ein neues Feld der gemeinsamen Betätigung ab: Spanien. Der spektakuläre Erfolg der Volksfront aus Sozialisten, Radikalsozialisten und Kommunisten, der im Juni 1936 in Frankreich die Regierung unter Premierminister Léon Blum an die Macht gebracht hatte, hatte sich schon vier Monate zuvor in Spanien mit einem knappen Wahlsieg der vereinigten Linksparteien vollzogen und das bürgerliche Europa beunruhigt.

Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs am 17. Juli 1936 bot die Chance zu einer gemeinsamen politischen und militärischen Aktion der beiden faschistischen Diktaturen. Zunächst setzten sie alles daran, in ihrer Propaganda alle Anhänger der spanischen Republik unterschiedslos zu "Marxisten " und "Bolschewisten" zu machen. Umgekehrt gerieten die innenpolitischen Auseinandersetzungen in Madrid (und auch in Paris) mehr und mehr in den Sog der internationalen ideologischen Gegensätze von Faschismus und Antifaschismus. Der Spanische Bürgerkrieg wurde zum Kampf der beiden ideologischen Lager stilisiert. Die französische Volksfrontregierung unterstützte zusammen mit der UdSSR die republikanische Seite im Spanischen Bürgerkrieg, während das faschistische Italien sich sowohl aus ideologischen als auch machtpolitischen Gründen auf der Seite der Putschisten unter Führung von General (1892–1975) engagierte. In der Nacht des 25. Juli 1936 entschied Hitler nach einer improvisierten Besprechung mit Göring und von Blomberg, ebenfalls Franco zu unterstützen und damit auch zum Bündnispartner Italiens zu werden.

Über Hitlers Motive ist viel gestritten worden. Ganz sicher war sein Entschluß, den putschenden General mit der raschen Entsendung von Transportflugzeugen bzw. Jagdflugzeugen und Flakgeschützen zu unterstützen, nicht von langer Hand vorbereitet und auch nicht Ausdruck eines faschistischen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 345

Komplotts, das später darin vermutet wurde. Sehr wahrscheinlich war das Interesse der deutschen Rüstungswirtschaft an hochwertigen Rohstoffen aus Spanien von einiger Bedeutung, was durch die späteren wirtschaftlichen Abkommen mit der national-spanischen Seite deutlich wurde. Auch die Möglichkeit zur Erprobung der neuen deutschen Waffen, und hier vor allem der Luftwaffe, auf dem spanischen Kriegsschauplatz dürfte eine Rolle gespielt haben.

Ausschlaggebend für Hitlers Entscheidung zur Intervention waren jedoch politisch-taktische Überlegungen. Er nutzte die Gelegenheit, sich in eine neue internationale politische Krise einzumischen, um damit die europäischen Krisenherde zu erweitern und die eigenen machtpolitischen Handlungsmöglichkeiten zu vergrößern. Hinzu kam der ideologisch-propagandistische Faktor: Die Verbindung der beiden Volksfrontregierungen weckte bei dem nationalsozialistischen Diktator die Furcht vor einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus in Europa. Zudem ließ sich international die Intervention in Spanien als Akt der "Rettung" vor dem Bolschewismus darstellen.

Pakt Berlin – Rom – Tokio

Mit dem gemeinsamen Engagement Mussolinis und Hitlers auf der Seite Francos verstärkte sich die politische Kooperation zwischen Deutschland und Italien, in der Hitler für den Fall, daß sein Wunschbündnis mit England nicht zustande käme, eine mögliche Alternative sah. Die beiden Außenminister verständigten sich am 23. Oktober 1936 auf ein künftiges koordiniertes Vorgehen in allen, beide Länder interessierenden Fragen. Einen Tag später empfing Hitler Außenminister Galeazzo Ciano in Berchtesgaden, um diesem den Vorschlag eines Offensivbündnisses zu unterbreiten, das England entweder zum Einlenken bewegen könne oder es niederschlagen müsse. Deutschland sei in drei bis spätestens fünf Jahren einsatzbereit. Einen Interessenkonflikt zwischen den beiden Regimen schloß Hitler aus: Der italienische Lebensraum läge im Mittelmeer, der deutsche hingegen im Osten und im Ostseeraum. Eine Woche später, am 1. November, sprach Mussolini auf dem Domplatz in Mailand von einer "Achse Berlin–Rom", um die sich alle anderen europäischen Staaten, die mit dem neuen Machtzentrum zusammenarbeiten wollten, bewegen könnten.

Zur selben Zeit setzten in Berlin der japanische Botschafter und Ribbentrop ihre Paraphe unter ein deutsch-japanisches Abkommen, das unter dem Namen "Antikominternpakt" gegen die Kommunistische Internationale gerichtet war und ein weltpolitisches Bündnis der drei einstigen " politischen Habenichtse" ankündigte, das sich jedoch mehr in ideologischen Formeln bewegte als sich zu einer wirklichen Bündnispolitik zu entwickeln. Für Ribbentrop schien sich damit seine Konzeption von einem "weltpolitischen Dreieck Rom–Berlin–Tokio" zu erfüllen, mit dem er England politisch zu isolieren hoffte. Für Hitler paßte dieses Konzept aus anderen Gründen in seine Außenpolitik. Es sollte das Werben um England noch einmal intensivieren und dabei den Elementen der Drohung ein größeres Gewicht einräumen.

Der internationale Faschismus schien sich ganz im Sinne der zunehmenden Ideologisierung der Politik zu einem Machtblock zu verfestigen. Doch ebenso wie eine internationale extrem nationalistische Bewegung ein Widerspruch in sich bleiben mußte, so begegneten auch die beiden Achsenmächte einander mit Vorbehalten und taktischen Reserven. Die Widersprüche und Störanfälligkeiten der Achse mußten immer wieder mit Schönfärbereien und propagandistischem Pomp verhüllt werden. Sicherlich gab es eine persönliche Sympathie der beiden Diktatoren füreinander. In Hitlers Arbeitszimmer im Braunen Haus stand eine Bronzebüste des Duce, und auch während des Krieges sollte der deutsche Diktator Mussolini einen "Mann von säkularem Ausmaß" nennen und bekennen: "Diese tatkräftige Erscheinung, ich habe ihn persönlich lieb." Das war zwar damals ein verbreiteter Topos der allgemeinen Mussolini-Bewunderung, doch bei Hitler stand dahinter sowohl die Erinnerung an das einstige politische Vorbild als auch das Bewußtsein von der Gemeinsamkeit des politischen Stils und der antimarxistischen Ideologie. Das vor allem zählte für Hitler.

Unter machtpolitischen Gesichtspunkten favorisierte er jedoch das sehr lange erträumte Bündnis mit

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 346

England und der italienische Bündnispartner stellte im Verständnis Hitlers nur die zweitbeste Lösung dar. Italien mußte daher trotz aller Propagandaaktionen, mit denen das enge deutsch-italienische Verhältnis im Jahre 1937 zur Schau gestellt wurde, gelegentlich diplomatische Demütigungen hinnehmen.

Wirtschaftliche Probleme

Die Ereignisse des Jahres 1936 brachten von der Rheinland-Besetzung bis zur Intervention im Spanischen Bürgerkrieg außenpolitisch eine Erweiterung des deutschen Handlungsspielraumes. Gleichzeitig spitzten sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Sachzwänge, die sich aus der forcierten Aufrüstung ergaben und ihrer Fortsetzung möglicherweise entgegenstanden, weiter zu. Eine Entscheidung über den zukünftigen Weg der Wirtschaftspolitik und der Rüstungswirtschaft wurde immer unausweichlicher. Trotz aller Versuche im "Neuen Plan" von 1934 den Mangel an Rohstoffen und Devisen abzumildern, verschärfte sich mit der Beschleunigung der Aufrüstung die Rohstoffknappheit. Immerhin hatten sich die Rüstungsausgaben von 3,3 Milliarden Reichsmark auf neun Milliarden Reichsmark im Jahre 1936 verdreifacht.

Angesichts der chronischen Devisenknappheit war eine Steigerung der Einfuhr kaum möglich, so daß die Rüstungswirtschaft bis 1935 noch gerade soeben aus Lagerbeständen betrieben werden konnte. Ein Mangel an Kupfer, Blei, Zink und Kautschuk zeichnete sich für 1936 immer deutlicher ab. Der äußerst schmale Bestand an Devisen und die Erhöhung der Preise für Importgüter um etwa neun Prozent zwischen 1933 und 1936 führten bei einem gleichzeitigen Sinken der Erlöse für Exportgüter zu einem Rückgang der Importe.

Damit stellte sich verschärft die Alternative "Butter oder Kanonen", denn die angesichts schlechter einheimischer Ernteerträge gestiegenen Nahrungsmittelimporte verringerten zusätzlich den Devisenbestand. Das Gleichgewicht zwischen Rohstoffimporten für die Rüstungsproduktion und Nahrungsmittelimporten drohte zu schwinden, so daß bei steigendem Rüstungsbedarf und steigenden Konsumwünschen eine ernste Wirtschaftskrise zu befürchten war.

Angesichts der überhitzten Rüstungskonjunktur empfahl der Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler, der später zum führenden Kopf des bürgerlich-konservativen Widerstandes werden sollte und 1934/35 der nationalsozialistischen Regierung als Reichskommissar gedient hatte, die Rückkehr zu einem freien Außenhandel sowie zu einer Einschränkung der Rüstungsproduktion zugunsten einer Umsteuerung der Konjunktur in den zivilen Bereich. Die Ablehnung dieser Vorschläge durch die nationalsozialistische Regierung und vor allem durch Hitler war Ausdruck einer politischen Festlegung, die alles auf eine Fortsetzung oder gar Steigerung des Rüstungskurses setzte. Es ließ sich absehen, daß damit die wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten des Regimes immer enger würden und schließlich in eine Art "Flucht nach vorn" einmünden könnten.

Das starre Festhalten am Aufrüstungskurs und die daher drohende allgemeine ökonomische Krise gaben den Ausschlag für eine Konzeption, die auf die Nutzung heimischer Rohstoffe bzw. deren Substitution durch synthetische Produkte setzte, unabhängig von den jeweiligen Kosten einer solchen Autarkiepolitik. Die gewaltigen organisatorischen Anstrengungen und die hohen Kosten, die eine derartige Regulierung der Wirtschaft erforderten, hielt Hitler angesichts der zu erwartenden politischen Erfolge und territorialen Eroberungen für geringfügig bzw. überwindbar. "Ich halte es für notwendig", formulierte er im August 1936 in seiner geheimen Denkschrift zum Vierjahresplan, "daß nunmehr mit eisener Entschlossenheit auf all den Gebieten eine hundertprozentige Selbstversorgung eintritt, auf denen diese möglich ist." Der politische Wille sollte die ökonomische Vernunft ersetzen und ließ den Eroberungskrieg, der mit seiner zu erwartenden Beute alle entstandenen Kosten kompensieren würde, in unmittelbare Nähe rücken.

Die geheime Denkschrift Hitlers bedeutete nicht nur eine entscheidende Weichenstellung für die Wirtschaftsverfassung und -politik des Dritten Reiches, sondern auch für den Weg in den Krieg. Hitler

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 347 erhoffte sich von der Autarkie eine "vorübergehende Entlastung", die sicherstellen sollte, daß die deutsche Wirtschaft "in vier Jahren kriegsfähig" und die deutsche Armee in vier Jahren einsatzfähig sei. Eine "endgültige Lösung" sei nur dann zu erreichen, wenn am Ende einer Folge von einzelnen, kurzen Kriegen eine "Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoff- und Ernährungsbasis" des deutschen Volkes möglich sei.

Kriegsplanungen

In der Folgezeit erfolgte eine "Umpolung der Wirtschaftspolitik von Rentabilitätserwägungen und verantwortlicher Haushalts- und Finanzpolitik zu wehrwirtschaftlichen Orientierungsmustern" (Ludolf Herbst). Die Weichenstellungen zur offenen Aggression sollten 1937 erfolgen. In der Englandpolitik hatten sich die Standpunkte geklärt und neue Entwicklungen angekündigt. Hitler mußte seit dem Sommer einsehen, daß die britische Regierung den deutschen Wünschen nach freier Hand auf dem Kontinent enge Grenzen zu setzen gewillt war. Außenminister Anthony Eden bestand darauf, daß eine Veränderung des Status von Österreich nur mit Einwilligung der Bevölkerung geschehen könne und warnte vor einer gewaltsamen Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei. Dasselbe sollte für Danzig gelten, wo eine Veränderung des Status der Stadt nur auf der Grundlage einer diplomatischen Übereinkunft möglich wäre.

Einem Bündnis gegen die Sowjetunion wollte sich London nicht anschließen. Dies bekräftigte auch der Lordsiegelbewahrer und spätere Außenminister Lord Edward Halifax bei einem Besuch am 19. November 1937 auf dem , wo er auf einem britischen Mitspracherecht in allen kontinentalen Angelegenheiten bestand und jede Änderung des Status Quo in Mitteleuropa von einer friedlichen Verfahrensweise abhängig machte. Hitler reagierte verstimmt; er wollte sich nicht in eine solche allgemeine Lösung am Verhandlungstisch hineinziehen lassen. Mittlerweile war die Führung des "Dritten Reiches" politisch selbstbewußt geworden und konnte öffentlich erklären, Deutschland sei nun wieder eine Weltmacht geworden. Zudem war mit dem faschistischen Italien ein Bündnispartner gefunden worden, auch wenn dieser längst nicht das Gewicht besaß, das man sich von England versprochen hatte.

Während im Auswärtigen Amt von der neuen Phase der auswärtigen Politik noch erwartet wurde, daß diese "auf den Weg der Evolution" an ihr Ziel gelange und die Diplomaten sich allenfalls eine schrittweise territoriale Revision vorstellen wollten, die die Schwelle zum Krieg möglichst hoch halten sollte, sprach Hitler immer unverhohlener von Gewalt und dem Willen zur militärischen Eroberung. Die Zeiteinteilung des Vierjahresplanes hatte er 1937 bereits verworfen: Die Anwendung militärischer Gewalt sollte zum nächsten günstigen Zeitpunkt erfolgen, möglicherweise schon 1938. Voller Ungeduld nannte er auch als Zeitpunkt, bis zu dem die "deutsche Raumfrage zu lösen" sei, "spätestens 1943/45".

Dieser Zeitdruck und die erstmals ins Auge gefaßte militärische Auseinandersetzung mit Frankreich und England waren die Neuigkeit, die Hitler am 5. November 1937 den Teilnehmern einer Geheimkonferenz in der Reichskanzlei eröffnete. Sie fand im engsten Kreis in Anwesenheit von Reichsaußenminister von Neurath und Reichskriegsminister von Blomberg, dem Oberbefehlshaber des Heeres Werner Freiherr von Fritsch, dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Erich Raeder und dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe Göring statt. Vor diesem Kreis entwickelte Hitler in einer vierstündigen ununterbrochenen Rede "seine grundlegenden Gedanken über die Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten unserer außenpolitischen Lage". Den einleitenden Worten fügte er gleich hinzu, daß er seine Ausführungen als seine "testamentarische Hinterlassenschaft für den Fall seines Ablebens anzusehen bitte".

Was Hitler hier vortrug, war zunächst nichts anderes als das Konzept, das er in "Mein Kampf" entwickelt hatte und das seither Fixpunkt seiner Politik gewesen war. Es fanden sich die üblichen sozialdarwinistischen, geopolitischen und rassistischen Argumente wieder, vor allem die Forderung nach Erhaltung und Vermehrung der "Volksmasse", nach der Vergrößerung des Herrschaftsraumes des deutschen Volkes und nach der Lösung der "Raumfrage", von der er sich zugleich die Lösung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 348 aller wirtschaftlichen und sozialen Probleme versprach. Was bislang als ideologisches Fernziel und mentale Disposition gelten konnte, wurde nun zum Bezugspunkt konkreter Außen- und Kriegspolitik. Zur Lösung der "deutschen Frage könne es nur noch den Weg der Gewalt geben", und das müsse " in den nächsten Jahren schrittweise unter Ausnutzung günstiger Konstellationen erfolgen." Die erste Angriffsrichtung galt Prag und Wien, auch für den Fall, daß die Voraussetzungen für eine schnelle Lösung nicht einträten und ein Konflikt mit England und Frankreich nicht ausgeschlossen werden könnte.

Zwar war von einem Lebensraumkrieg gegen Rußland noch nicht die Rede, aber es war unüberhörbar, daß Hitler sich nicht mit der Eingliederung des Sudetengebietes, also mit den Forderungen eines großdeutschen Revisionismus, begnügen wollte. Er strebte die Eroberung der gesamten Tschechoslowakei als Ausgangspunkt weiterer Eroberungspläne an. Revisionspolitik war für den Lebensraumideologen Hitler nur Mittel zum Zweck. Die Sorgen der Führungsspitzen aus Auswärtigem Amt und Wehrmacht, daß Frankreich und England militärisch eingreifen würden, versuchte Hitler mit dem Hinweis auf seine bisherigen Erfahrungen wegzureden. Für die Alternativlosigkeit seiner Überlegungen machte er auch ökonomische und technische Sachzwänge verantwortlich, die das Regime freilich durch seine Rüstungspolitik erst selbst heraufbeschworen hatte. Der Diktator war ungeduldig geworden und sprach wiederholt davon, nur seine Person sei noch in der Lage, die " Raumprobleme" zu lösen. Doch nicht die vermeintlichen und tatsächlichen Sachzwänge und inneren Widersprüche des Regimes waren ausschlaggebend für die nun erfolgte Konkretisierung des außenpolitischen Programmes, sondern einzig der Wille zum Krieg.

Die politischen Gewichte im nationalsozialistischen Herrschaftssystem hatten sich mittlerweile so weit verschoben, daß Hitlers Entscheidung für eine kriegerische Revisions- und Expansionspolitik von niemandem mehr korrigiert werden konnte. Die Einwände der bei dieser Konferenz Anwesenden, die Betroffenheit und Bestürzung spiegelte, wurden vom Standpunkt militärstrategischer sowie außenpolitischer Erfahrungen und Konventionen formuliert. Hitler wischte sie jedoch in einer zeitweilig sehr scharfen Diskussion vom Tisch. Zugleich mußte er erkennen, daß er seine Expansionspolitik mit von Neurath und von Fritsch als den Vertretern der traditionellen Diplomatie und Generalität nicht ohne weiteres und vor allem nicht in der von ihm eingeplanten hohen Risikohaftigkeit durchführen konnte.

Die Chance zum großen personalpolitischen Revirement, das die politische Verselbständigung der nationalsozialistischen Führungsgruppe von den traditionellen Machtgruppen auch nach außen verdeutlichen sollte, kam sehr bald. Sie wurde von Hitler zwar nicht herbeigeführt, wohl aber schnell und taktisch geschickt ausgenutzt. Mit der Blomberg-Fritsch-Krise vom Januar 1938 (vgl. auch Seite 7) und der anschließenden personellen Veränderung und Umstrukturierung der Wehrmacht, die diese ihrer eigenen Führung beraubte und Hitler zu deren direkten Oberbefehlshaber machte, waren die letzten Vorkehrungen für das ungeduldig herbeigesehnte Losschlagen getroffen. Es fehlte nur noch der Anlaß.

Anschluß Österreichs

Seit dem Herbst 1937 stand die nationalsozialistische Politik ganz allgemein im Zeichen der baldigen Expansion. Sichtbar wurde das zuerst in den Beziehungen zu Österreich. Seit November mehrten sich die Zeichen, daß der politisch-psychologische Druck auf das Nachbarland verstärkt werden sollte. Hitler und Göring ergingen sich gegenüber Besuchern aus Österreich in düsteren Andeutungen, daß der "Anschluß" bald bevorstehe. Auch wenn der österreichische Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg (1897–1977) glaubte, die Ausbrüche Görings nicht besonders ernst nehmen zu müssen, so reagierte das westliche Ausland anders. Seit dem Spätherbst war man nicht mehr bereit, Österreich weitere Kredite einzuräumen. Was Hitler für seinen Angriffsplan noch fehlte, war lediglich eine günstige Gelegenheit.

Offenbar besannen sich Parteikreise in der aufgeladenen Atmosphäre wieder der vertrauten Techniken der Provokation und der Drohungen mit Gewalt. Bei einer Hausdurchsuchung bei österreichischen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 349

Nationalsozialisten fanden die Behörden im Januar 1938 Pläne und Aufzeichnungen, die eine gewaltsame Lösung der Anschlußfrage ankündigten. In Österreich sollte demnach "viel Wirbel und Unruhe erzeugt werden, damit dann Deutschland erklären könne, daß Österreich mit diesen inneren Wirren nicht fertig werde und es genötigt sei, zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung selbst Schritte zu ergreifen."

Die Entdeckung dieser Pläne bewog den österreichischen Bundeskanzler von Schuschnigg, durch ein persönliches Gespräch mit Hitler eine Atempause zu gewinnen. Das Gespräch, das in Berchtesgaden am 12. Februar 1938 stattfand, widersprach allen diplomatischen Gepflogenheiten. Hitler überfiel seinen Besucher mit Vorhaltungen, die sich zu Drohungen steigerten. Österreich betreibe keine deutsche Politik, die ganze Geschichte Österreichs sei ein "ununterbrochener Volksverrat". Er brauche nur einen Befehl zu geben und "über Nacht ist der ganze lächerliche Spuk an der Grenze zerstoben ". Das Land sei wehrlos, weder Italien noch die Westmächte England und Frankreich würden einen " Finger für Österreich rühren".

Nach diesem psychologischen Überfall erläuterte der neue Außenminister Ribbentrop die deutschen Forderungen: Freie Betätigung für die österreichischen Nationalsozialisten, die Ernennung des Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart (1892–1946) zum österreichischen Sicherheitsminister, eine allgemeine Amnestie, die Anpassung der österreichischen Außen- und Wirtschaftspolitik an die des Reiches sowie regelmäßige Konsultationen zwischen den Generalstäben. Als Schuschnigg noch immer zögerte, zitierte Hitler den frisch ernannten Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, General Wilhelm Keitel, herbei, um seinen Forderungen symbolisch Nachdruck zu verleihen: Innerhalb von drei Tagen erwarte er die Durchführung der Forderung. Schuschnigg meinte nach seiner Rückkehr, immerhin noch die staatliche Unabhängigkeit seines Landes bewahrt zu haben und suchte diese durch eine Volksabstimmung, die er für den 13. März ansetzte, plebiszitär abzusichern.

Das war jedoch ein untauglicher und ungeschickter Versuch, Hitler mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die offenkundigen Manipulationen, mit denen man vor allem Jungwähler, die als besonders anfällig für den Nationalsozialismus galten, von der Wahl ausschließen wollte, waren für Hitler Vorwand genug, mit militärischen Interventionen für den Fall zu drohen, daß die Abstimmung nicht abgesetzt würde. Außerdem verlangte er die Einsetzung von Seyß-Inquart als Regierungschef. Schuschnigg gab nach, aber die hektischen, diplomatischen und militärischen Vorbereitungen liefen weiter.

England verspürte wenig Neigung, sich für ein unabhängiges Österreich militärisch einzusetzen. Frankreich, einst der Hauptgegner des Anschlusses, war wieder ein- mal in einer Regierungskrise. Mussolini schließlich versprach, dieses Mal – anders als 1934 – stillzuhalten. Am 10. März erließ Hitler die Weisung Nr. 1 zum militärischen Einmarsch in Österreich. Die vorübergehende Weigerung des österreichischen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas, Seyß-Inquart zum Kanzler zu ernennen, war das Signal für eine Erhebung der österreichischen Nationalsozialisten, die alle wichtigen Ämter in kurzer Zeit besetzten. Obwohl so die Machtergreifung in Österreich längst im Gange war, gab Hitler am 11. März um 20.45 Uhr den Einmarschbefehl für den nächsten Tag. Gleichzeitig inszenierte Göring die Komödie eines Hilfe-Ersuchens von Seyß-Inquart, das dieser nie abgeschickt hatte und das Göring veröffentlichte, obwohl der österreichische Bundespräsident nachgegeben und sich auch Seyß-Inquart gegen den Einmarsch deutscher Truppen gesträubt hatte.

Am 12. März marschierten mit allen Zeichen der Improvisation, aber unter dem Jubel der Bevölkerung die deutschen Truppen in Österreich ein. Unter Glockengeläut überschritt Hitler am selben Nachmittag bei seiner Geburtsstadt Braunau am Inn die Grenze und zog durch blumengeschmückte Dörfer und Spaliere von dicht gedrängten Menschen weiter nach Linz. Eine konkrete Entscheidung über die politische Zukunft Österreichs war bis zu diesem Augenblick offensichtlich noch nicht gefallen. Nun aber, unter dem Eindruck des spontanen Jubels und Vereinigungstaumels verkündete Hitler am Abend in Linz den unverzüglichen vollständigen Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich. Ein neuerliches Plebiszit am 10. April mit mehr als 99 Prozent Zustimmung bedeutete einen überwältigenden Erfolg und die Erfüllung des großdeutschen Traumes. Selbst der prominente österreichische Sozialist Karl

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 350

Renner stimmte öffentlich mit "Ja", und die österreichischen Bischöfe ließen die Kirchen mit Hakenkreuzfahnen schmücken.

Was nach außen als Triumph des "nationalen Selbstbestimmungsrechtes" und des "völkischen Prinzips " dargestellt wurde, bedeutete für Adolf Hitler und die nationalsozialistische Führung vor allem einen machtpolitisch-strategischen und wehrwirtschaftlichen Zugewinn, der die Voraussetzungen für weitere Aggressionen schuf. Erstens war nun die tschechoslowakische Südflanke dem deutschen Zugriff schutzlos preisgegeben, zweitens war mit dem "Anschluß" Österreichs das Tor nach Südosten weit geöffnet und bot die Möglichkeit, einen Großwirtschaftsraum Südosteuropa als Ergänzungsraum zu dem nun entstehenden "Großdeutschen Wirtschaftsraum" zu schaffen.

Was mit dem triumphalen Einzug Hitlers in Wien und den nationalen Parolen völlig verdrängt wurde, war der Eroberungs- und Vernichtungscharakter des Regimes. Das Reich erbeutete Devisenvorräte der österreichischen Staatsbank in Höhe von 1,4 Milliarden Reichsmark, was die chronisch schwachen deutschen Vorräte für eine Weile erheblich aufbesserte.

Zugleich begann hinter den einmarschierenden Truppen und den jubelnden Massen die SS in der Verfolgung der Juden das nachzuholen, was mittlerweile im Altreich über mehrere Etappen und Jahre schrittweise vollzogen worden war. Oft noch vor dem Eintreffen der deutschen Truppen zettelten einheimische Nationalsozialisten Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung an, bis die Demütigungen, Entrechtungsmaßnahmen und Enteignung der Juden von den neuen Machthabern administrativ von oben organisiert wurden. Sie terrorisierten und quälten die jüdischen Bürger, vertrieben sie aus ihren Wohnungen und beraubten sie ihres Vermögens.

Sudetenkrise

Nach dem "Anschluß" begannen die Planungen für eine Eroberung der Tschechoslowakei. Wieder diente das Selbstbestimmungsrecht als Deckmantel für das Ausgreifen auf den Nachbarstaat. Wieder war es das Interesse an einer Machterweiterung im Südosten und an Rohstoffen und Industrieanlagen, die eigentlich hinter dem Vorhaben der "Zerschlagung der Tschechoslowakei" standen. Hitler war nun auf eine militärische Lösung fixiert, was den Einsatz politischer Mittel nicht ausschloß. In einer Besprechung mit dem Oberkommando der Wehrmacht am 21. April nannte er dafür zwei Möglichkeiten, die ein weiteres Mal den politischen Stil des Nationalsozialismus charakterisieren: 1. "Handeln nach einer Zeit diplomatischer Auseinandersetzungen, die sich allmählich zuspitzen und zum Krieg führen ". 2. "Blitzartiges Handeln aufgrund eines Zwischenfalls (zum Beispiel Ermordung des deutschen Gesandten im Anschluß an eine deutschfeindliche Demonstration)." Hitler zog für den Moment die zweite Lösung vor.

Die Nationalitätenproblematik der Tschechoslowakei und die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Volksgruppen waren der Hebel, mit dem die innere Zersetzung der Tschechoslowakei vorangetrieben werden sollte. Dazu erhielt der Führer der "Sudetendeutschen Partei", , seine Anweisungen aus Berlin. In einer Besprechung mit Hitler am 28. März 1938 wurde festgelegt, Henlein solle ein Maximalprogramm aufstellen, das die tschechische Regierung nicht erfüllen könne. Im "Karlsbader Programm" der Sudetendeutschen Partei vom 24. April wurde diese Strategie umgesetzt. Es forderte die weitgehende Selbstverwaltung der Sudetendeutschen und ihre volle Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit mit dem tschechischen Staatsvolk, was aus Berliner Sicht allerdings nur eine Durchgangsstufe für die angestrebte völlige Auflösung des tschechoslowakischen Staates bedeuten sollte. Als die tschechische Regierung den Forderungen Henleins, nicht zuletzt aufgrund des Druckes aus London und Paris, schrittweise nachgab, geriet Henlein in eine taktische Sackgasse. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Verhandlungen abzubrechen und auf einen Anlaß für eine weitere Eskalation zu warten.

Mit seiner Weisung vom 30. Mai 1938, die im Eingangssatz den Entschluß bekräftigte, "die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen", hatte sich Hitler

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 351 zunehmend unter Zugzwang gesetzt. Sollte Prag nicht weiter nachgeben, blieb nur noch die Alternative zwischen einem Krieg mit einem unkalkulierbaren Risiko oder einem Abbruch der bereits eingeleiteten operativen Vorbereitungen. Um sich aus der taktischen Sackgasse zu befreien, gab Hitler auf dem Nürnberger Parteitag seinen Forderungen öffentlich Nachdruck und verlangte für die Sudetendeutschen das "freie Recht der Selbstbestimmung".

Gleichzeitig kam es in den Sudetengebieten zu neuerlichen Unruhen. Das bewog die britische Regierung, die bislang eher hinhaltend agiert und ihr Mitspracherecht in Mitteleuropa mit der Entsendung eines Vermittlers nach Prag deutlich artikuliert hatte, zu dem Versuch, durch weitere Verhandlungen den Konflikt zu entspannen. Premierminister Arthur Neville Chamberlain (1869–1940) bot sich an, Hitler persönlich aufzusuchen. Er trat am 15. September 1938 die für ihn zu damaliger Zeit noch ungewohnte Flugreise nach Deutschland an, um Hitler in Berchtesgaden das Angebot zu unterbreiten, die sudetendeutschen Gebiete ans Reich anzugliedern und auch die französische Regierung von der Notwendigkeit dieses Schrittes zu überzeugen. Der Tschechoslowakei blieb nichts anderes übrig, als sich diesem ultimativ vorgetragenen Votum zu beugen, um nicht einem deutschen Angriff schutzlos preisgegeben zu sein. Hitler war von der Konzessionsbereitschaft Londons, das allerdings deutlich auf Gewaltfreiheit bestand, überrascht.

Appeasementpolitik

Die britische Bereitschaft zur Abtretung der Sudetengebiete war Ausdruck eines politischen Konzeptes, das unter dem Namen Appeasementpolitik als angebliches Modell für politische Leichtfertigkeit und Naivität gegenüber einer Diktatur in die Geschichte eingegangen ist. Neben den Gewissensbissen vor allem britischer Intellektueller über die Art und Weise, in der 1919 das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu Lasten der Deutschen angewandt worden war (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 261, "Weimarer Republik"), stand ein durchaus rationales und konservatives Kalkül hinter dieser Politik.

Es war Reflex der vielfachen Belastungen eines im Niedergang befindlichen Weltreiches. Großbritannien, sowohl von der wirtschaftlichen Depression als auch von überdehnten Verpflichtungen in seinem Empire beschwert, mußte aus nationalem Interesse darauf achten, den Frieden in Europa zumindest mittelfristig aufrecht zu erhalten. Sowohl im Mittelmeer als auch im fernen Osten befand es sich in der Defensive. Eine forcierte Nachrüstung als Antwort auf die Herausforderungen durch die revisionistischen Mächte Italien, Japan und Deutschland hätte eine finanzielle Belastung bedeutet, die Großbritannien im Augenblick einer umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung im Innern nicht hätte zusätzlich leisten können.

Hinzu kam, daß die britischen Dominions ein militärisches Engagement des Mutterlandes auf dem europäischen Kontinent genauso ablehnten wie die Mehrheit der englischen Bevölkerung. Nur wenn alles unternommen würde, internationale Spannungen und Konflikte einzudämmen und am Verhandlungstisch abzubauen, so das britische Konzept, ließen sich Situationen vermeiden, die den Bestand des britischen Empire in Frage stellen würden. Unter normalen Umständen, das heißt unter der Voraussetzung nüchtern verfolgter politischer Ziele und einiger Verläßlichkeit im Umgang der politischen Führer miteinander hätte dieses Konzept durchaus zur Beilegung der Krise führen können.

Das traf aber nicht auf Hitler zu, der das englische Verhalten als Ausdruck von Schwäche deutete und beim nächsten Zusammentreffen mit Chamberlain, am 22. September in Bad Godesberg, seine Forderungen erhöhte. Nicht nur, daß er schon zuvor Warschau und Budapest ermuntert hatte, ihrerseits territoriale Forderungen an Prag zu stellen und damit die Auflösung des tschechischen Staates voranzutreiben. In Godesberg verlangte er nun eine Verkürzung der Räumungsfristen und drohte offen mit Gewalt. In seinem ungezügelten Drang zum Vabanque-Spiel hätte Hitler beinahe überreizt, denn Frankreich und die Tschechoslowakei machten mobil und Großbritannien versprach für den Fall eines militärischen Konfliktes ebenso seine Unterstützung wie auch die UdSSR, die sich nun in die Konfliktpolitik einschaltete. Hitler seinerseits ließ sieben Divisionen in die Ausgangsstellungen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 352 vorrücken, ohne daß er den Truppen den Befehl zum Angriff auf die Tschechoslowakei gab.

Überall in Europa waren das Tage und Stunden höchster Spannung, die wieder an den Sommer 1914 erinnerten. Auch im Inneren des Reiches gab es deutliche Warnungen vor einem Überziehen. Zum ersten Mal entfaltete sich unter wesentlicher Initiative von Oberstleutnant Hans Oster aus der militärischen Abwehr eine aktive Fronde von Militärs und konservativen Politikern, die den Kontakt nach London knüpften und für den Fall eines von Hitler ausgelösten bewaffneten Konfliktes seinen Sturz planten. Schon im August 1938 hatte General Ludwig Beck (1880–1944) gegen die riskante Außenpolitik protestiert, hatte aber angesichts der Wirkungslosigkeit seines Vorstoßes resigniert und sein Amt als Generalstabschef des Heeres zur Verfügung gestellt. Unabhängig davon hatte der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler ebenfalls im Sommer 1938 den Versuch unternommen, durch Kontakte mit englischen Politikern eine Front gegen Hitlers Aggressionspolitik aufzubauen.

Das waren die Anfänge des nationalkonservativen Widerstandes, der zunächst noch systemimmanent gegen die riskante Außenpolitik protestierte, aber auch bereit war, den Schritt zur Konspiration zu wagen. Auch in der Bevölkerung herrschte, wie die Lageberichte im Sommer 1938 unmißverständlich zum Ausdruck brachten, eine gedrückte Stimmung angesichts der wachsenden Kriegsgerüchte. Als die Machthaber eine kriegsmäßig ausgerüstete motorisierte Division am 27. September durch Berlin schickten, gab es keine Begeisterung, sondern nur Schweigen und Kriegsangst.

Hitlers Außenpolitik

[...] Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden. Nur unter der fortgesetzten Betonung des deutschen Friedenswillens und der Friedensabsichten war es mir möglich, dem deutschen Volk Stück für Stück die Freiheit zu erringen und ihm die Rüstung zu geben, die immer wieder für den nächsten Schritt als Voraussetzung notwendig war. Es ist selbstverständlich, daß eine solche jahrzehntelang betriebene Friedenspropaganda auch ihre bedenklichen Seiten hat; denn es kann nur zu leicht dahin führen, daß sich in den Gehirnen vieler Menschen die Auffassung festsetzt, daß das heutige Regime an sich identisch sei mit dem Entschluß und dem Willen, den Frieden unter allen Umständen zu bewahren. Das würde aber nicht nur zu einer falschen Beurteilung der Zielsetzung dieses Systems führen, sondern es würde vor allem auch dahin führen, daß die deutsche Nation, statt den Ereignissen gegenüber gewappnet zu sein, mit einem Geist erfüllt wird, der auf die Dauer als Defaitismus gerade die Erfolge des heutigen Regimes [...] nehmen müßte. Der Zwang war die Ursache, warum ich jahrelang nur vom Frieden redete. Es war nunmehr notwendig, das deutsche Volk psychologisch allmählich umzustellen und ihm langsam klarzumachen, daß es Dinge gibt, die [...] mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen. Dazu war es aber notwendig, nicht etwa nun die Gewalt als solche zu propagieren, sondern es war notwendig, dem deutschen Volk bestimmte außenpolitische Vorgänge so zu beleuchten, daß die innere Stimme des Volkes selbst langsam nach der Gewalt zu schreien begann. [...]

Irgendwie glaube ich, hat sich [...] die pazifistische Platte bei uns abgespielt. [...]

Meine Herren, es war früher mein größter Stolz, eine Partei mir aufgebaut zu haben, die auch in den Zeiten der Rückschläge stur und fanatisch hinter mir stand, gerade dann fanatisch hinter mir stand. [...] Dazu müssen wir das ganze deutsche Volk bringen. Es muß lernen, so fanatisch an den Endsieg zu glauben, daß, selbst wenn wir einmal Niederlagen erleiden würden, die Nation sie nur, ich möchte sagen, von dem höheren Gesichtspunkt aus wertet: Das ist vorübergehend; am Ende wird uns der Sieg sein! [...]

Dazu ist es auch notwendig, daß gerade die Presse sich ganz blind zu dem Grundsatz bekennt: Die Führung handelt richtig! [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 353

Dann stehen wir nicht jetzt im Jahre 1938 am Ende einer geschichtlichen Epoche, sondern dann stehen wir sicherlich erst am Beginn einer großen Geschichtsepoche unseres Volkes. [...]

Hitlers Rede vor der deutschen Presse über die Aufgabe der Propaganda für die deutsche Außenpolitik, 10. November 1938, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich, Bd. 1, München 1985, S. 261 ff.

Münchener Konferenz

Als Chamberlain eine erneute Initiative startete und eine Überarbeitung des Zeitplanes der Räumung der sudetendeutschen Gebiete vorlegte, kam es durch die Vermittlung Mussolinis zur Münchener Konferenz am 29./30. September und damit zu einer Friedenserhaltung in letz- ter Minute; aber wie sich bald zeigen sollte, nur auf Zeit. Ohne Beteiligung der Prager Regierung und auch unter Ausschluß der Sowjetunion kamen Hitler, Mussolini, Chamberlain und der französische Ministerpräsident Edouard Daladier (1884–1970) überein, die Sudetengebiete mit mehr als 50 Prozent deutscher Bevölkerung von der Tschechoslowakei ohne Volksabstimmung zwischen dem 1. und dem 10. Oktober 1938 räumen zu lassen. Gleichzeitig mit der Räumung sollte die Besetzung durch deutsche Truppen erfolgen. Die Tschechoslowakei verlor durch diese erzwungene Amputation nicht nur wirtschaftlich und strategisch wichtige Gebiete. Mit der nun erfolgenden Autonomieerklärung der Slowakei und der Karpato- begann auch ein innerer Auflösungsprozeß, der von Berlin aus zielgerichtet gesteuert wurde und der ein Ende des Rumpfstaates in absehbarer Zeit erwarten ließ. Auch die Grenzgarantien, die Paris und London ausgesprochen hatten, kamen zögerlich und machten deutlich, daß das weitere Schicksal des tschechischen Rumpfstaates, der aus eigener wirtschaftlicher Kraft nicht mehr lebensfähig war, nun allein von Rom und Berlin abhing.

Es verbreitete sich Erleichterung; nur Hitler war mit dem Ergebnis von München unzufrieden, denn man hatte ihm die Gelegenheit zum Losschlagen genommen. Diese Stimmung wurde noch verstärkt, als ihm am folgenden Tag Chamberlain das Angebot umfassender Konsultationen zwischen Berlin und London machte, um auf diese Weise "zur Sicherung des Friedens in Europa beizutragen".

Vordergründig schloß das Jahr 1938 für Hitler mit einer überragend positiven Bilanz ab. Die Eingliederung des Sudetengebietes führte der deutschen Wirtschaft weitere wichtige Industriezweige, wichtige Lagerstätten für Erze, hochwertige Braunkohlevorkommen und Holzvorräte zu. Auch die sudetendeutsche Facharbeiterschaft, die ähnlich hoch qualifiziert und unterbeschäftigt war wie zuvor die deutsche, war ein willkommener Gewinn angesichts der eintretenden Engpässe auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Amputation der Tschechoslowakei und vor allem die Art und Weise, wie einfach sie durch die Mischung von Druck und Konzessionsbereitschaft zu erreichen war, lösten einen Schock in Südosteuropa aus. Die Donau- und Balkanstaaten lehnten sich noch enger an Berlin an. Der großdeutsche Wirtschaftsraum, der Wunschtraum nationalsozialistischer Politiker und deutscher wirtschaftlicher Interessengruppen, war auf diese Weise weiter vorangetrieben.

Doch Hitler zeigte sich unzufrieden. Die breite Friedenssehnsucht irritierte ihn. Auch die Tatsache, daß er in München nur einen halben Sieg errungen hatte, führte dazu, daß er alles nur als ein Zwischenspiel verstand. Vorbereitungen zur Entfesselung eines bewaffneten Konfliktes, den er sich beim nächsten Mal nicht entgehen lassen wollte, begannen bereits an der Wende von 1938 auf 1939. Bei einer Rede in Saarbrücken am 9. Oktober 1938 setzte er seine Strategie der Drohungen und Werbungen fort. Die Eskalation der Vernichtungsgewalt im Inneren, durch die Reichspogromnacht vom 9. November, machte deutlich, daß das Regime einer weiteren politischen Radikalisierung zutrieb. Am 10. November, in einer Geheimrede vor den Vertretern der deutschen Presse, forderte Hitler einen radikalen Kurswechsel: weg von der Friedenspropaganda hin zur psychologischen Vorbereitung des Krieges. Die "pazifistische Platte" habe sich jetzt "bei uns abgespielt". Hinter den Kulissen liefen, unterstützt und administrativ vorbereitet von Offizieren, Beamten, Wirtschaftsunternehmen, bereits die militärisch- strategischen und operativen Planungen und rüstungstechnischen Vorbereitungen für den

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 354 militärischen Ernstfall, ohne daß das nächste Ziel feststand.

Entfesselung des Krieges

Die politische und militärische Führung des Dritten Reiches hatte an der Jahreswende 1938/39 das Ziel der endgültigen Zerschlagung der sogenannten "Rest-Tschechei" im Auge und wollte Danzig und das Schicksal Polens "auf die Tagesordnung" setzen. Sie traf aber auch Vorbereitungen für einen Krieg gegen die Westmächte. Der Zeitpunkt und die politischen Umstände dieser Aktionen waren noch offen.

Gleichzeitig deutete sich immer klarer eine massive Aufrüstung auf Seiten der Westmächte an, die den Zeitpunkt einer ökonomisch-militärischen Unterlegenheit des Deutschen Reichs absehen ließ. Zudem zeichnete sich eine weitere Verschärfung der inneren ökonomischen Widersprüche als Folge der überhitzten Rüstungskonjunktur ab, die sich durch die erfolgreichen ökonomischen und fiskalischen Eroberungen des Jahres 1938 nur temporär beheben ließ. Das "strategische Fenster" (Bernd Jürgen Wendt) für Hitlers Kriegsplanung drohte sich bald zu schließen.

Doch für die Politik des Dritten Reiches gab es kein Zurück. Das hatte mit dem selbstentfesselten Schwung zu tun, der das Regime weitertrieb, vor allem aber mit der inneren Unruhe, die Hitler trieb und die ein Reflex der sich abzeichnenden Verschlechterung der innen- und außenpolitischen Situation des Reiches war. Zwar hatte das Regime auch durch die Erfolge von Wien und München eine innere Stabilität und übergroße Popularität erfahren und konnte auf die Unterstützung der militärischen und wirtschaftlichen Eliten setzen. Doch das war nur die Basis für die nun freigesetzte Eigendynamik der nationalsozialistischen Politik.

Hitler war seit der Durchsetzung des Führerabsolutismus in der Außen- und Kriegspolitik der alles entscheidende Souverän. Die zahlreichen Krisenphänomene im wirtschaftlichen, sozialen, aber auch internationalen Bereich konnten ihn nicht zu einer realistischen Einschätzung und zu einer eindeutigen Entscheidung für eine Prioritätensetzung in der Wirtschafts- und Rüstungspolitik bewegen. Sie dienten ihm in seinen Ausführungen vor Generälen und politischen Führern nicht etwa als bedrohliche Probleme, sondern vielmehr als ein zusätzlicher Beleg für seine These von der Notwendigkeit eines baldigen Losschlagens, so lange die Verhältnisse noch günstig wären. Hitler nahm die Hinweise auf die sich verschlechternden Wirtschaftsdaten und die schlechte Stimmung infolge von erneuten Versorgungsengpässen mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, konnte er seine Aggressionspolitik doch dadurch mit scheinbaren Sachargumenten rechtfertigen. Entscheidend sind jedoch die ideologischen Motive seiner Politik, die jetzt deutlich hervortraten und die Entfesselung des Krieges vorantrieben. So sprach er öffentlich immer wieder von einem nahenden Krieg und kündigte für diesen Fall an, der "nächste Kampf (werde) ein reiner Weltanschauungskrieg sein, das heißt bewußt ein Volks- und Rassenkrieg sein."

Die konkreten politisch-operativen Ziele wurden zu Beginn des Jahres 1939 nur andeutungsweise angesprochen. So hatte Heinrich Himmler schon am 8. November 1938 seinen "lieben Männern " anvertraut, Hitler werde demnächst das "größte Reich schaffen, das von dieser Menschheit errichtet wurde und das die Erde je gesehen hat." Am 30. Januar 1939 wiederholte Hitler in seiner denkwürdigen Reichstagsrede öffentlich, was er schon Wochen zuvor im inneren Herrschaftszirkel angedeutet hatte, nämlich die Verbindung zwischen dem kommenden Weltkrieg und der Vernichtung der Juden in Europa: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte", so drohte Hitler im Reichstag, "die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."

Damit kam das Ungeheuerliche in der nationalsozialistischen Politik zum Vorschein, das sich bislang hinter der Maske der Revisionspolitik versteckt hatte. Nicht nur ein Großreich, sondern auch ein Rassereich auf biologistischer Grundlage sollte geschaffen werden. Darum konnte es im Verständnis von Hitler auch keine Kehrtwendung und Abkehr von der Politik der unbegrenzten Rüstung und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 355

Aggression geben; darum verstärkten sich in Hitlers Vorstellungen wechselseitig die objektive Krisenlage und das subjektive Gefühl, daß nun eine Entscheidung herbeigeführt werden müsse.

Zerstörung des tschechischen Rumpfstaates

Die erste Weisung für den nächsten Schritt, nämlich die "Erledigung der Rest-Tschechei" und die " Inbesitznahme des Memellandes" erging am 21. Oktober 1938 an die Wehrmacht. Einen festen Fahrplan gab es noch nicht, die militärische Aktion wurde an sich bietende politische Konstellationen gebunden. Hitler war sich jedoch sicher, daß die endgültige Eroberung und Zerstörung des tschechischen Rumpfstaates in militärisch-politischer Hinsicht ein leichtes Spiel sein würde. Wieder suchte man sich nützliche Hilfswillige, deren Forderung nach nationaler Autonomie man scheinbar unterstützte. Nach den Sudetendeutschen waren es nun die slowakischen Nationalisten, die diese Rolle übernehmen sollten. Dem slowakischen Präsidenten (1887–1947) wurde aus Berlin mit einem drohenden Unterton "empfohlen", daß die Slowaken sich von Prag lossagen sollten, was das slowakische Parlament wunschgemäß einen Tag später am 14. März 1939 einlöste.

Der ultimative Druck auf die Slowakei war zugleich das Vorspiel zu einer ähn- lich angelegten Erpressung des tschechischen Staatspräsidenten Emil Hacha (1872–1945), der angesichts der Ereignisse in der Slowakei noch am selben Tag nach Berlin gereist war in der Hoffnung, mit dem übermächtigen Nachbarn, den man nun als Hegemonialmacht anerkennen mußte, noch in letzter Minute einen Modus Vivendi zu finden, um durch einen Akt der Anpassung wenigstens das nationale Überleben zu sichern. Was Hacha jedoch in der Reichskanzlei erwartete, war eine Form von Psychoterror. Hacha erlitt einen Herzanfall, als er mit der Drohung konfrontiert wurde, entweder den Einmarsch der deutschen Truppen am folgenden Tag hinzunehmen oder einer bewaffneten Auseinandersetzung entgegenzusehen. Dem gedemütigten und schockierten Präsidenten blieb nur noch der Ausweg, in einem Kommuniqué zu erklären, daß er "das Schicksal des tschechischen Volkes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches" lege.

Noch in der Nacht marschierten deutsche Truppen über die Grenze. Am Tag darauf war bereits Hitler auf der Prager Burg und erklärte die tschechischen Territorien am 31. März 1939 zum "Protektorat von Böhmen und Mähren". Mit dem dienstbaren slowakischen Teilstaat wurde ein Schutzvertrag abgeschlossen, der immerhin den Schein einer eigenen Staatlichkeit wahrte.

Die Beute, die das Deutsche Reich noch einmal ohne Waffengewalt erobert hatte, war vorwiegend militärischer und wirtschaftlicher Natur. Die deutsche Militärgrenze wurde erheblich verkürzt, die Verkehrsverbindungen zwischen Österreich und Ostdeutschland einfacher. Die Rüstungswirtschaft konnte sich die tschechischen Waffenschmieden in Pilsen und Prag einverleiben, und noch einmal konnte man auf eine hochqualifizierte Arbeiterschaft zurückgreifen, die die dringende Mangelsituation auf dem deutschen Arbeitsmarkt milderte.

Vorgehen gegen Polen

Mit der neuen militärisch-politischen Lage hatte sich das Schicksal Polens dramatisch verschlechtert. Ob das zu einem Krieg mit Polen führen mußte, schien anfänglich noch offen. Denn in der Tat spricht manches dafür, daß bis zum März 1939 Hitler ein "tragbares Verhältnis" mit Polen herzustellen versuchte, was immer das bedeutete. Das eigentliche Ziel war zunächst der Kampf gegen den Westen. Doch mit der Besetzung des zu Litauen gehörigen Memellandes durch deutsche Truppen am 23. März 1939 mußte sich Polen in seinen Sicherheitsinteressen erneut gefährdet sehen. Es zeigte sich daher allen Angeboten aus Berlin gegenüber nun schroff ablehnend. Am 26. März lehnte die polnische Regierung eine Regelung der Danzigfrage im deutschen Sinne kategorisch ab. Damit gehörte Polen in der Einschätzung der deutschen Führung in das Lager der potentiellen Gegner, obwohl die Reichsregierung sich nach außen noch immer verständigungsbereit zeigte.

Rolle Englands

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 356

Entscheidend für den Handlungsspielraum der nationalsozialistischen Politik wurde das Verhalten Englands, das am 31. März 1939 erklärte, bei einer Bedrohung den Bestand Polens bewahren und für die nationale Souveränität des Landes eintreten zu wollen. Eine ähnliche Garantie wurde Rumänien gegeben. Eine so weitreichende Bindung auf dem europäischen Kontinent waren die Briten seit dem Locarno-Abkommen von 1925 noch nicht wieder eingegangen. Doch man besaß zu diesem Zeitpunkt in London noch keine konkreten operativen Pläne darüber, wie im Ernstfall Polen wirklich Hilfe erhalten solle. Noch wollte England versuchen, mit einer solchen Erklärung die deutsche Politik zu stoppen, aber auch der Einsatz militärischer Mittel war nicht mehr ausgeschlossen.

Hitler reagierte wütend auf die neue Situation und kündigte das deutsch-britische Flottenabkommen (1935) und den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt (1934) am 27. April 1939 auf, nachdem er schon am 3. April eine Weisung für einen Angriff auf Polen gegeben hatte. Die britische Garantieerklärung bot nun den Vorwand, um den Generälen seine Kriegspläne zu eröffnen. Dabei schloß er nicht aus, daß es bei einem Krieg gegen Polen nicht auch zu einer langjährigen militärischen " Auseinandersetzung mit England auf Leben und Tod" kommen könne.

Die Entschlossenheit zu einem militärischen Abenteuer wurde durch einen symbolischen wie durch einen politischen Akt verdeutlicht: Am 20. April 1939 präsentierte sich das Regime mit einer waffenstarrenden Parade zu Hitlers 50. Geburtstag auf der neu erbauten Ost-West-Achse in Berlin. Acht Tage später glaubte Hitler in einer rhetorisch geschickten Gegenattacke auf einen Friedensappell des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt (1882–1945) noch, mit Spott auf eine sich abzeichnende neue weltpolitische Konstellation reagieren zu können. Der Roosevelt-Appell hatte die Möglichkeit eines anglo-amerikanischen Bündnisses und einer weltweiten Dimension eines Krieges angedeutet, der eine Konsequenz der als universal empfundenen Bedrohung durch die Hitlersche Eroberungspolitik war.

Um sich nach der Garantieerklärung Englands für Warschau doch wieder einen politischen Handlungsspielraum zu verschaffen, versuchte Hitler zunächst, die sich anbahnende Mächtekonstellation so schnell wie möglich auszuschalten. Eine Möglichkeit dazu sah er in der raschen Niederwerfung Polens und in dem Versuch, die UdSSR aus der gegnerischen Koalition herauszuhalten. Denn mit der Aggressionspolitik wurde die Sowjetunion, die bisher eher am Rande gestanden hatte, Schritt um Schritt ins politische Spiel hineingezogen. Auch die britische Politik mußte sich nun darauf einstellen, daß ihr Versuch einer Konsolidierung in Ost- und Südosteuropa gegen Hitler nur mit Stalin zu gewährleisten war. Seit dem März 1939 setzte nun ein Wettlauf um die UdSSR ein.

Eröffnet wurde er von den Westmächten. Paris und London streckten erste Fühler aus und schlugen Moskau vor, sich an der Politik der Garantien zu beteiligen: Am 8. Juni traf ein britischer Sonderbotschafter zu Verhandlungen über einen förmlichen Beistandspakt in Moskau ein. Doch Jossif Stalin (1879–1953) blieb skeptisch und weigerte sich, von Frankreich und Großbritannien gegen die Deutschen vorgeschickt zu werden, während der Westen selbst in der Hinterhand bleiben wolle. Es blieb das alte revolutionäre Mißtrauen gegenüber den kapitalistischen Westmächten. Umgekehrt zeigten auch Polen und Rumänien wenig Bereitschaft, sich ausgerechnet von der Sowjetunion vor einem deutschen Angriff schützen zu lassen, gab es doch hier noch viele territoriale Forderungen und Konflikte und damit die Gefahr, daß der Retter sehr bald zum Besatzer werden könnte. Darum sperrte sich Polen von vornherein gegen ein sowjetisches Durchmarschrecht. All das lähmte die Verhandlungen der Westmächte in Moskau und erklärt die Halbherzigkeit, mit der sie geführt wurden. Gerade das aber war die Chance, die Hitler rasch ergriff, als sie ihm geboten wurde.

Die sowjetische Diplomatie operierte durchaus vorsichtig und versuchte, die deutsche Seite davon zu überzeugen, daß ideologische Meinungsverschiedenheiten sich nicht unbedingt auf die praktische Politik auswirken müßten. Auch die Tatsache, daß am 3. Mai der Außenkommissar Maxim Litwinow, der als Repräsentant einer westlich orientierten Außenpolitik galt, durch Wjatscheslaw Molotow ersetzt wurde, sollte als Signal in Richtung Berlin gelten. Schließlich wurde die Erinnerung an Rapallo (der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 357 deutsch-sowjetische Rapallovertrag vom April 1922 diente der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen) von sowjetischer Seite ins Gespräch gebracht, und innerhalb weniger Wochen kamen die Dinge trotz der ideologischen Feindschaft in Fluß. Hitler reagierte auf die Offerten nach anfänglichem Zögern entschlossen.

Zwar hatte er mit Italien unter großem zeremoniellen Aufwand am 22. Mai 1939 den "Stahlpakt " unterzeichnet, der jeden Partner verpflichtete, dem jeweils anderen bei Ausbruch von militärischen Verwicklungen Beistand zu leisten. Doch das Militärbündnis war weit weniger schlagkräftig, als dies sein Name suggerierte. Mussolini ließ den Führer wissen, daß dieser vor 1943 mit Italien aus ökonomischen und rüstungstechnischen Gründen nicht rechnen könne. Nachdem Japans Beitritt zu diesem Militärbündnis gescheitert war, stand Hitlers Strategie auf noch unsicherem Boden. Das mußte seine Nervosität noch steigern, denn die militärischen Planungen liefen ungeachtet dieser politischen Engpässe weiter. Schließlich sollte die Wehrmacht am 26. August gegen Polen marschieren, und damit setzte sich die deutsche Führung unter einen Termindruck, der der russischen Seite nur gelegen kam.

Joachim von Ribbentrop, seit 1938 Außenminister, verwies daher die Sowjetunion verlockend darauf, " daß es zwischen Ostsee und Schwarzem Meer keine Frage gibt, die nicht zur vollen Zufriedenheit beider Länder geregelt werden könnte." Molotow verlangte aber noch Klarstellungen, bevor es zu Verhandlungen kommen sollte. Schließlich offerierte Moskau am 17. August der deutschen Seite drei Vertragstexte über ein Wirtschaftsabkommen, einen Nicht-Angriffs-Pakt und ein geheimes Zusatzprotokoll zur Abgrenzung der Interessensphären. Doch Hitler wurde noch direkter und schickte am 20. August ein Telegramm an "Herrn I. W. Stalin, Moskau", mit der Bitte, Ribbentrop nicht erst am 26. oder 27. August sondern schon am 22./23. August zu empfangen. Der Außenminister käme mit der "umfassendsten Generalvollmacht zur Abfassung und Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes sowie des Protokolls". Stalin bestätigte den 23. August als Besuchstermin, verlangte aber von der deutschen Seite, sich zuvor öffentlich festzulegen. In einem Kommuniqué wurde daraufhin am 22. August der Abschluß eines Nichtangriffspaktes und der Besuch Ribbentrops in Moskau angekündigt.

Nichtangriffspakt mit Moskau

Im Nichtangriffspakt, den Ribbentrop und Molotow noch am 23. August unterzeichneten, versprachen sich beide Parteien gegenseitig, im Falle kriegerischer Verwicklungen der jeweils anderen Seite den Gegner des Vertragspartners nicht zu unterstützen. Sehr viel wichtiger war das geheime Zusatzprotokoll, das die Aufteilung des Baltikums und Polens in eine russische und eine deutsche Interessensphäre vorsah. Offen blieb noch die Frage, "ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates" erwünscht erscheinen ließen, und wie dieser Staat abzugrenzen wäre. Das sollte erst "im Laufe der weiteren politischen Entwicklung" geklärt werden. Das war deutlich. Denn der Nichtangriffspakt war nichts anderes als die Einladung zum Angriff auf Polen.

Hitler konnte damit zufrieden sein, noch mehr allerdings Stalin. Er hatte nicht nur die berühmte Atempause erhalten, auf die nach dem Krieg immer verwiesen wurde. Er konnte erst einmal im Hintergrund bleiben und die Auseinandersetzungen der Westmächte mit den Achsenmächten abwarten. Vor allem aber hatte die deutsche Regierung, nur um den Vertrag noch vor dem Angriff auf Polen abschließen zu können, die territorialen Ansprüche der UdSSR akzeptiert. Dazu gehörte die Hälfte Polens (bis zu einer Linie entlang der Flüsse Narew, Weichsel und San), Litauen und das alte Kurland. Zur sowjetischen Interessensphäre gehörten daneben Finnland, Estland, Lettland und Bessarabien.

Mit diesem Nichtangriffspakt war der Krieg gegen Polen vorprogrammiert. Stalin hatte damit grünes Licht für die deutsche Kriegsmaschinerie gegeben, die unter Volldampf wartebereit stand und deren Oberbefehlshaber in größter Unruhe auf das Signal aus Moskau wartete. Schon für den 22. August hatte Hitler kurzfristig die höchsten militärischen Führer auf den Obersalzberg zitiert, um sie, mit seinem "unwiderruflichen Entschluß zu handeln", vertraut zu machen. Jetzt war er sich eines raschen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 358

Erfolges gegenüber Polen endgültig sicher. "Polen ist in die Lage hineinmanövriert worden, die wir zum militärischen Erfolg brauchen."

Moskau konnte nun die Auseinandersetzung Hitlers mit dem Westen abwarten. Hitler hatte Stalin dagegen den Weg weit nach Westen geöffnet. Denn mit dem Angriff auf Polen und dem zu erwartenden Bündnisfall für England war der Pakt entwertet, drohte dann doch wieder der Zweifrontenkrieg, den Hitler mit seinen überstürzten Verhandlungen in Moskau gerade hatte verhindern wollen. Zwar hoffte er noch immer auf ein Angebot aus London, bzw. ging er davon aus, daß Frankreich und Großbritannien nicht mehr in der Lage sein würden, Polens militärischen Untergang zu verhindern. "Wir werden den Westen halten, bis wir Polen erobert haben", gab er sich selbstsicher. Trotz aller Stimmungsschwankungen, die bei Hitler in den letzten Tagen vor dem Kriegsbeginn zu beobachten waren, lehnte er alle Vermittlungsversuche seines Paladins Göring und des Staatssekretärs von Weizsäcker scharf ab, so lange seine Maximalforderung von London, daß man ihm nämlich freie Hand auf dem Kontinent ließe, nicht akzeptiert wurde.

Letzte Schritte zum Krieg

Alle deutschen Schritte in der letzten Augustwoche hatten nur noch taktische Bedeutung. Hitler war lediglich zu einem kurzen Aufschub bereit, als aus London die Nachricht von einem britisch-polnischen Beistandspakt am 25. August kam. Einige Stunden später brachte der italienische Botschafter die Absage Mussolinis, in einen Krieg einzutreten. Aber auch das konnte für Hitler eigentlich nicht überraschend sein, hatte doch der italienische Außenminister Ciano verschiedentlich klargestellt, daß mit Italien im Kriegsfall vorerst nicht zu rechnen sei. Hitler schien für einen Moment irritiert und nahm den Vorschlag des Oberkommandos des Heeres an, den Angriff zu verschieben. Doch dies war nur eine Atempause, denn die Mobilmachung lief weiter, trotz der hektischen diplomatischen Aktivitäten, die nun noch einmal ausbrachen.

Eine wirkliche Alternative zum Kriegsentschluß konnte es für Hitler jedoch nicht geben. Ein letzter Versuch Görings in den frühen Morgenstunden des 29. August machte die unterschiedliche Einstellung zu Politik und Krieg deutlich. "Wir wollen doch das Vabanque-Spiel lassen", mahnte Göring. Hitler aber sagte nur: "Ich habe in meinem Leben immer Vabanque gespielt." Als neuer Angriffstermin wurde der 1. September festgesetzt. Alle weiteren Verhandlungen wurden nur noch zum Schein geführt.

Man brauchte eine gute propagandistische Ausgangslage, um den Krieg dem eigenen Volk nicht als Angriffskrieg darstellen zu müssen, und um es propagandistisch auf den zweiten Krieg innerhalb einer Generation einzustimmen. Die rhetorische Verkleisterung der Kriegsplanung folgte den bekannten Mustern: Es ging angeblich um den Kampf um die nationale Existenz, die Verteidigung des Deutschen Reiches und das Aufbrechen einer internationalen Einkreisung. Auch die Frage der deutschen Minderheiten in Polen wurde noch einmal zugespitzt, um damit auch die öffentliche Meinung doch noch für die deutsche Sache einnehmen zu können.

Wie sich Hitler die Wirkung seiner Propaganda vorstellte, hat der Generalstabschef Franz Halder (1884–1972) in einer Unterredung am Nachmittag des 29. August von ihm erfahren: "Führer hat Hoffnung, daß er Spalt treibt zwischen England, Frankreich und Polen [...]. Grundgedanken: mit demographischen und demokratischen Forderungen nur so um sich werfen." Der tatsächliche Ablauf verlief anders. Was Hitler nach der Erinnerung Halders diesem als tatsächliche Zeitplanung vorstellte, zeigte die Entschlossenheit Hitlers, den Angriff auf jeden Fall zu führen: "30. 8. – Polen in Berlin. 31. 8. – Zerplatzen. 1. 9. – Gewaltanwendungen." Am 31. August unterzeichnete dann Hitler die Weisung Nummer 1 für die Kriegführung. Am Abend wurden über Rundfunk 16 Punkte verbreitet, die Hitler angeblich Polen als Verhandlungsangebot unterbreitet hätte. Doch die Polen hatten gute Gründe, nicht zu kommen. Wie Hitler sein Angebot selbst bewertete, gab er später zu: "Ich brauchte ein Alibi, vor allem dem deutschen Volk gegenüber."

Die letzten Augusttage zeigten es noch einmal überdeutlich: Hitler wollte den Krieg, und er hat das

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 359

Risiko eines europäischen Krieges bewußt in Kauf genommen. Dabei ging es nicht um Ziele, die nicht auch durch Verhandlungen erreichbar gewesen wären, also nicht um Danzig, einen deutschen Korridor durch Polen nach Ostpreußen oder um eine Neuregelung der territorialen Streitigkeiten um das geteilte Oberschlesien. Es ging um die Eroberung Polens und damit auch um die Eröffnung einer ganzen Serie von kriegerischen Überfällen, durch die Hitler den Lebensraum erobern wollte, den nach seiner Rassen- und Raumtheorie das deutsche Volk benötigte. Die ideologische Fixierung auf den Krieg war die eigentliche Triebkraft Hitlers.

Die Fixierung auf die Raumeroberung verstellte auch die Möglichkeit zu einem wirtschaftlichen Ausgleich, einem economic appeasement, wie es die Briten in letzter Minute angeboten hatten. Doch ein solches Denken, das auf ökonomische Interessen, nüchternen Interessenausgleich und auf Verbesserung der materiellen Lage durch eine Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abzielte, war Hitler im Kern fremd. Er nannte eine solche Position verächtlich "bürgerlich" oder " pazifistisch". Der nationalsozialistische Krieg, den Hitler nun eröffnete, war die radikale Gegenposition dazu. Aus dieser Haltung heraus entsprang auch die entschiedene Ablehnung der westlichen Vermittlungsangebote und das Nein auf die ultimative Forderung, die Kampfhandlungen, die am 1. September mit dem Angriff des Linienschiffes "Schleswig-Holstein" auf die "Westerplatte" bei Danzig begannen, abzubrechen.

Für Hitler hatte der Kampf um "Alles oder Nichts" begonnen. Was das tatsächlich bedeuten würde, welcher Krieg daraus entstehen würde, das konnte zu diesem Zeitpunkt kaum jemand wissen, auch Hitler nicht. Die Eroberung Polens und die sowjetische Neutralität sollten nach seinen Hoffnungen Deutschland in die Lage versetzen, den Krieg mit den Westmächten durchzustehen. Die britische und französische Kriegserklärung vom 3. September zerstörten jedoch diese Vision Hitlers, der die Fähigkeit zum politischen Kalkül zunehmend verloren hatte.

Nun drohte der Mehrfrontenkrieg in einer verkehrten Frontstellung, und das deutsche Volk zeigte, als es am Morgen des 1. Septembers 1939 per Rundfunk über den deutschen Angriff auf Polen informiert wurde, keinerlei Begeisterung, sondern allenfalls eine widerwillige Loyalität. Die Erinnerung an die vierjährige Not- und Leidenszeit des Ersten Weltkrieges war noch zu lebendig, und die deutschen Propagandameldungen von polnischen Greueltaten und einem angeblich "Polnischen Überfall" auf den Sender Gleiwitz, den die SS als Rechtfertigungsgrund inszeniert hatte, vermochten die Stimmung nicht zu ändern.

Rahmenbedingungen für Hitlers Handeln

Die Schuldfrage zum Zweiten Weltkrieg ist eindeutig und eine Kriegsschuld-Diskussion wie im Falle des Ersten Weltkrieges, sieht man von einigen Unbelehrbaren ab, hat es weder in der Geschichtswissenschaft noch in der Öffentlichkeit gegeben. Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach den Motiven und Rahmenbedingungen, die zum Krieg führten. Hitlers Wille zum Krieg, der für ihn einen ideologischen Fixpunkt bildete, war sicherlich eindeutig und der dominante Faktor in den Entscheidungen der Jahre 1938/39. Aber es war nicht Hitlers Krieg allein. Es ist auch nach der Mitverantwortung der deutschen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Machtgruppen zu fragen sowie nach den inneren und äußeren Bewegungsspielräumen, die sich innerhalb der nationalsozialistischen Führung ergaben.

Hitlers Wille zum Krieg wurde gefördert durch die geschilderten ökonomischen und sozialen Zwangslagen, die aufgrund des Willens zum Krieg selbstverschuldet und bewußt in Kauf genommen worden waren. Der Hinweis auf diese Zwangslagen, die angeblich keinen anderen Ausweg als Krieg und Eroberung zuließen, hat vor allem den politisch-militärischen und wirtschaftlichen Führungsgruppen als scheinbare Legitimation dienen sollen. Freilich war mit den erstaunlichen nationalpolitischen Erfolgen Hitlers die Fähigkeit dieser Gruppen zum Kalkül und damit auch zur Entwicklung von Gegenpositionen immer weiter geschwunden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 360

Auch waren die Trennlinien verwischt, die bei aller Teilidentität der Ziele zwischen dem national- konservativen Großmachtdenken in Wehrmacht, Bürokratie und Wirtschaft einerseits und dem nationalsozialistischen Eroberungsprogramm andererseits bestanden hatten. Das war das Ergebnis der Versuchung, die der Nationalsozialismus vor allem für diese Gruppen bedeutete. So hatten die militärischen Eliten im Nationalsozialismus sowohl die Chance zur Erhaltung bedrohter sozialer Macht- und Einflußpositionen als auch zur erhofften Aufrüstung und großdeutschen Expansion gesehen. Für die Vertreter der Wirtschaft hatte sich die Hoffnung auf eine ökonomische Aufwärtsentwicklung und Gewinnsteigerung durch Rüstungsprogramme sowie auf eine Erweiterung des deutschen Wirtschaftsraumes nach Südost- und auch Osteuropa als so verführerisch erwiesen, daß sie den Verlust an wirtschaftspolitischer Mitsprache hinzunehmen bereit waren. Zudem wähnte man sich in der stets erhofften Übereinstimmung mit der Loyalitätsbereitschaft von weiten Teilen der Gesellschaft.

Sicherlich haben auch die internationale Mächtekonstellation, die permanente Krise der europäischen Staaten im Inneren wie nach außen einen günstigen Rahmen für die Verletzung und Zerstörung aller politischen Grenzen und Regeln geboten, wie sie Hitler mit seiner Witterung für die Schwächen des Gegners betrieb.

Alle Staaten hatten für ihre Politik gute Gründe: Die britische Politik für ihre Appeasement-Strategie, die französische für ihren Verzicht auf eine aktive Außenpolitik, die Sowjetunion für ihren Pakt mit Hitler, Polen für seine Schaukelpolitik zwischen Ost und West, die Staaten Ostmitteleuropas und Südosteuropas für ihre Anpassungsbereitschaft. Das alles führte zu einem schwächlichen Widerstand und zur Preisgabe der Instrumente der kollektiven Konfliktregelung. Diese waren im Völkerbund und Locarno-Pakt in den zwanziger Jahren durchaus beispielhaft entwickelt worden. Seit der Weltwirtschaftskrise waren die Staaten nur noch um ihre nationalen Interessen und eine nationale Politik besorgt. Die Auflösung der überkommenen Vertrags- und Konfliktlösungsstrategie führte zu einer fast anarchischen Situation in der internationalen Politik, während gleichzeitig die politische Massenmobilisierung im Gefolge des Ersten Weltkrieges die Ideologisierung des Politischen vorantrieb.

Das alles waren die Hintergründe für eine zunehmende politische Fehlsicht und ein Mißverständnis: Während die westliche Seite in Kategorien der politischen und ökonomischen Vernunft dachte und sie mit ihrem Angebot eines economic appeasements zum Ausdruck brachte, übersah sie, daß es Hitler nicht um wirtschaftliche Vorteile ging, sondern um Raumeroberung und die Umsetzung seiner Rassenutopie. Bei aller Kontinuität, in der die nationalsozialistische Großmachtpolitik zum wilhelminischen Imperialismus noch stand, sollte der revolutionäre Bruch, den diese Politik Hitlers letztlich bedeutete, während des Krieges mit der Verwirklichung der Rasse- und Lebensraumvisionen immer deutlicher werden.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Nationalsozialistische Außenpolitik: der Weg in den Krieg

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 361

Der Zweite Weltkrieg

Von Deutsche Geschichten 6.4.2005 http://www.deutschegeschichten.de(http://www.deutschegeschichten.de) Ein Internet-Angebot der Cine Plus Media Service GmbH & Co KG in Co-Produktion mit der Bundeszentrale für politsche Bildung/ bpb. Stand April 2005.

Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Der Beitrag skizziert die wichtigsten Etappen von den ersten Besetzungen über die Wende im Winter 1941/42 bis zum selbstzerstörerischen "totalen Krieg" und der totalen Niederlage Deutschlands.

Einleitung

Schon vor dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 und damit dem Beginn des nationalsozialistischen Eroberungskrieges war abzusehen, dass ein Angriff auf Polen in jedem Fall das Eingreifen Großbritanniens zur Folge haben würde: Am 31. März 1939 hatten die Briten erklärt, im Falle einer Bedrohung den Bestand Polens bewahren und für die nationale Souveränität des Landes eintreten zu wollen.

Am 3. September 1939 erklärten sowohl Großbritannien als auch Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Einige Tage später schlossen sich Australien, Indien und Neuseeland, die Südafrikanische Union und Kanada der britischen Kriegserklärung an.

Auch wenn dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt durch den Kongress zunächst die Möglichkeit für ein militärisches Engagement an der Seite der Westmächte verwehrt wurde, ließ er keinen Zweifel daran, dass die Vereinigten Staaten auf der Seite der Westmächte standen. Die Haltung der "bewaffneten Neutralität" erlaubte es der amerikanischen Regierung, aufzurüsten und einen "Kreuzzug für die Demokratie" vorzubereiten.

Stalin, der offensichtlich mit einem langen Krieg zwischen den Westmächten und Deutschland rechnete, hielt er sich an das Nichtangriffsabkommen und auch an das dieses ergänzende Wirtschaftsabkommen. Er sah im Deutschen Reich ohnehin den schwächeren Part und versprach sich durch einen Zeitgewinn die Bewahrung größerer Handlungsfreiheit für Russland.

Damit kündigte sich trotz der strikten Neutralitätserklärung Japans die globale Dimension, die der Krieg sehr bald annehmen sollte, schon zu diesem Zeitpunkt an. Deutschland blieb allein – denn auch Italien hatte schon angekündigt, dass es die Verpflichtungen des Stahlpaktes nicht erfüllen könne.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 362 Eroberung Polens

Die Tatsache, dass sich Frankreich und Großbritannien trotz ihrer Kriegserklärung für eine Strategie des Abwartens gegenüber Deutschland entschieden, um ihre Land- und Luftstreitkräfte auszubauen, erwies sich für Hitler als strategische Chance. Denn der "Sitzkrieg" im Westen erlaubte eine Konzentration aller verfügbaren militärischen Kräfte im Osten. Das war die Voraussetzung dafür, dass die Wehrmachtsführung den Bewegungskrieg mit motorisierten Verbänden und einer starken Panzer- und Luftwaffe zum raschen Erfolg bringen konnte. Nach einer Woche erreichten deutsche Panzerverbände die Stadtgrenze von Warschau. Nach einer weiteren Woche war die Hauptstadt eingeschlossen und die militärische Niederlage Polens war absehbar. Als Hitler die Bombardierung der Stadt befahl, kapitulierte Warschau am 27. September, nachdem die polnische Regierung bereits am 17. September das Land verlassen hatte. Am selben Tag gab Stalin, von der deutschen Seite dazu gedrängt, der Roten Armee den Befehl zum Einmarsch in Ostpolen, um sich den im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vorgesehenen Anteil an der Beute zu sichern. Nach der Niederwerfung Polens schlossen Deutschland und Sowjetunion am 28. September 1939 einen Grenz- und Freundschaftsvertrag, der zur vierten Teilung Polens führte und in einem geheimen Zusatzprotokoll einen Gebietsaustausch vorsah.

Der Großteil der litauischen Gebiete, die eigentlich der deutschen Einflusssphäre zugeordnet werden sollten, fiel an die Sowjetunion, während sich die Deutschen Warschau und Lublin ihrem Machtbereich einverleibten. Am 6. Oktober wurden die Kampfhandlungen beendet. Hitlers Sieg wurde von der Propaganda als Blitzkrieg gefeiert. Doch dieser Erfolg, der Führung und Öffentlichkeit blendete, wäre ohne die Untätigkeit der Westmächte nicht zustande gekommen. Hinter der Legende vom "Blitzkrieg " zeigten sich die ersten Elemente eines nationalsozialistischen Vernichtungskrieges gegen Teile der Bevölkerung, die aus rassenideologischen Gründen vertrieben oder ermordet wurden. Schon am 22. August 1939 hatte Hitler als Ziel des Feldzuges die "Vernichtung Polens" genannt, wörtlich "die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie". Was das bedeutete, zeigte sehr bald die nationalsozialistische Besatzungspolitik. Aus Polen wurden Lebensmittel und Arbeitskräfte herausgepresst, hinter der Front sollte das langfristige ideologische Ziel der " Germanisierung" Polens ins Werk gesetzt werden. Das bedeutete nach den Plänen Himmlers und Heydrichs die Verhaftung und Abschiebung der polnischen Führungsschichten, Erniedrigung der übrigen Bevölkerung zu Arbeitssklaven sowie eine von rassenideologischen Zielen geleitete Umsiedlungs- und Eindeutschungspolitik. Die Politik der Ausbeutung und der "Germanisierung" war ein eindeutiger Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht, das für die Wehrmacht noch galt. "Die Wehrmacht ", hieß es im Aufruf des Oberbefehlshabers des Heeres vom 1. September 1939, "sieht in der Bevölkerung nicht ihren Feind. Alle völker-rechtlichen Bestimmungen werden geachtet werden." Damit deuteten sich zwei entgegengesetzte Konzepte von Besatzungspolitik an, auch wenn in der ideologisch aufgeladenen Alltagswirklichkeit des Krieges und der Besatzung sich diese Trennlinien bald verwischen sollten.

In einer Atmosphäre des aufgestauten Hasses und der Gewalt kam es in Bromberg am 3. September 1939 zu antideutschen Ausschreitungen, denen Hunderte von "Volksdeutschen" zum Opfer fielen. Diese Vorfälle wurden von deutscher Seite zur Rechtfertigung von Geiselerschießungen in großem Umfang genutzt, in die auch teilweise die Wehrmacht verstrickt war. Doch noch versuchten die Militärbefehlshaber, die in den besetzten Gebieten die exekutive Gewalt besaßen, solchen Ausschreitungen entgegenzuwirken. Zu einem eigenen Machtfaktor wurden die "Einsatzgruppen", die aus Himmlers SD und Einheiten der Sicherheitspolizei (Sipo) gebildet waren. Als politische Sondereinheiten der Polizei waren sie zum ersten Mal beim Einmarsch nach Österreich und in die Tschechoslowakei hinter den vorrückenden Militäreinheiten aufgetreten und hatten dort die Verfolgung der politischen Opposition und der ideologischen Gegner übernommen. Vor dem Einmarsch nach Polen wurden sechs Einsatzgruppen gebildet, die formell noch dem Heer unterstellt waren. Insgesamt gab es 15 Einsatzkommandos von etwa 120 bis 150 Mann. Der Auftrag dieser mobilen Verfolgungs- und Tötungskommandos lautete, alle "reichs- und deutschfeindlichen Elemente im Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe" zu bekämpfen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 363

Tatsächlich begannen die Einsatzgruppen sehr bald damit, nach einer vorbereiteten Kartei in Polen insgesamt 30.000 Menschen zu verhaften und in Konzentrationslager einzuweisen. Außerdem erhielten sie von Himmler den Befehl, "polnische Aufständische, die auf frischer Tat oder mit der Waffe ergriffen" würden, "auf der Stelle zu erschießen". Damit setzte sich der Reichsführer-SS über Weisungen der Heeresleitung hinweg, die ausdrücklich festgestellt hatte, dass "Freischärler" nach ihrer Festnahme nicht ohne gerichtliches Verfahren bestraft werden dürften. Auch die unscharfe Auslegung des Begriffes "Freischärler" führte zu einer allmählichen Ausweitung der Verfolgung auf die verschiedenen ideologischen "Feindgruppen". Das Ziel der Aktionen der Einsatzgruppen hatte Heydrich schon am 7. September formuliert: "Die führende Bevölkerungsschicht in Polen soll so gut wie möglich unschädlich gemacht werden." Nach einer Weisung Heydrichs vom 21. September sollten auch Juden mit einbezogen werden.

Maßnahmen gegen die Juden, die in größeren Städten zusammenzufassen waren, sollten mit der Zivilverwaltung und der militärischen Führung abgestimmt werden. Die Handlungsmöglichkeiten der Wehrmachtsführung, die sich noch um die Einhaltung der völkerrechtlichen Normen bemühte, wurden im Oktober 1939 immer weiter eingeschränkt, als Hitler die Eingliederung von knapp der Hälfte der von der deutschen Wehrmacht eroberten polnischen Gebiete ins Reich anordnete. Diesseits der neuen Grenze, die von der Ostgrenze Ostpreußens zur Ostgrenze Oberschlesiens verlief, sollte die einheimische polnische Bevölkerung ausgesiedelt und Deutsche angesiedelt werden. Das unter deutscher Herrschaft stehende Gebiet jenseits der Grenze erhielt nun den Namen " Generalgouvernement". Die dort wohnenden bzw. dorthin vertriebenen Polen sollten ein " Helotendasein auf niedriger Kulturstufe" (Ludolf Herbst) führen. Für die Verfolgungs-, Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik, die im nationalsozialistischen Sprachgebrauch als "völkische Flurbereinigung " bezeichnet wurde, erhielt Himmler am 7. Oktober umfassende Vollmachten, als ihm in einem geheimen "Führerbefehl" das Amt eines "Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums" übertragen wurde. Himmler nutzte diesen Befehl, um im Osten einen Machtbereich der SS zu etablieren, der jeder Kontrolle durch Verwaltung und Recht entzogen war und der in den eroberten und besetzten Gebieten in neuer Konkurrenz zur Wehrmacht stehen sollte. Auch mit den Leitern der neu ernannten Zivilverwaltungen hatte der jeweilige Militärbefehlshaber Gegenspieler, die als Gauleiter bzw. Vertraute von Hitler über die größeren Einflussmöglichkeiten verfügten. Hitler speiste die Wehrmachtsführung mit der Bemerkung ab, dass sie nun eine Verantwortung weniger habe. Halder erläuterte weiter: Harter Volkstumskampf gestattet keine gesetzlichen Bindungen".

Deportationen, Umsiedlungen und Massenerschießungen

In seiner neuen Eigenschaft als "Reichskommissar" begann Himmler schon Ende Oktober 1939 mit seiner "Rassen- und Volkstumspolitik". Bis zum Februar 1940 sollten größere Teile der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung und "alle Juden" aus den eingegliederten Ostgebieten ausgesiedelt werden. Nach den anfänglich wilden Deportationen durch die Einsatzgruppen und die lokalen NS- Funktionsträger übernahm das Reichssicherheitshauptamt die zentrale Organisation der Massendeportationen. Innerhalb weniger Tage wurden Anfang Dezember 1939 87000 Personen aus dem "Reichsgau Posen" ins Generalgouvernement deportiert und im Februar 1940 40000 Polen aus dem Warthegau. Im Laufe des Jahres wurden weitere 120.000 Polen zwangsausgesiedelt, deren Wohn- und Lebensräume dann von "volksdeutschen" Umsiedlern aus den baltischen Staaten und aus Wolhynien eingenommen werden sollten.

Bis Ende 1940 wurden etwa 325000 polnische Staatsangehörige zwangsumgesiedelt und damit ihrer Heimat und ihres Besitzes beraubt. Zu den Aussiedlungsaktionen und den gegenläufigen Ansiedlungsmaßnahmen, die den Kern der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik bildeten, kamen so genannte "Eindeutschungs-Maßnahmen. Zu denen hatten sich die nationalsozialistischen Siedlungsideologen entschlossen, da die "Volksdeutschen" in den besetzten Gebieten ansonsten in der Minderheit geblieben wären. In Anlehnung an das "Reichsbürgergesetz" vom 15. September 1935 wurde eine so genannte "deutsche Volksliste" erstellt, die die polnische Bevölkerung in vier Kategorien aufteilte. SS und Parteidienststellen machten sich mit fanatischem Eifer daran, nach ihren abstrusen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 364 rassebiologischen Kriterien eine neue Hierarchie der Bevölkerung mit unterschiedlichen Rechten, unterschiedlichen Lebens- und Versorgungsmöglichkeiten aufzubauen. An der Spitze standen die Reichsbürger, bestehend aus "volksdeutschen" Umsiedlern und Polen, die als "eindeutschungsfähig " galten. Ihnen folgte eine Gruppe der "Staatsangehörigen", die sich gleichsam als Deutsche auf Probe um die Aufnahme bemühen sollten. Sie waren in Bezug auf ihre Versorgung und Arbeitsrechte der ersten Gruppe gleichgestellt, konnten aber nicht Beamte werden und mussten bei einer Eheschließung erst die Genehmigung deutscher Behörden einholen. Darunter gab es eine Gruppe von " Staatsangehörigen" auf Probe, deren Rechte noch geringer waren als die der zweiten Gruppe. Diese beiden Gruppen zählten etwa 3,4 Millionen Menschen. Ihnen standen etwa sechs Millionen Polen gegenüber, die zu dem niedrigeren Status der "Schutzangehörigen" gehörten und ein Leben als Arbeitssklaven führen sollten.

Polen wurde nach der Besetzung zugleich zum Objekt einer gewaltigen Ausbeutungspolitik. Arbeitskräfte, Nahrungsmittel, Rohstoffe und Maschinen wurden ins Deutsche Reich gebracht, um die deutsche Kriegswirtschaft zu unterstützen. Ende 1939 erfolgten zunächst auf freiwilliger Basis Arbeitskräftewerbungen im Generalgouvernement, die jedoch bereits nach einem Monat zunehmend Zwangscharakter erhielten. Bis zum Sommer 1940 waren auf diese Art und Weise 311.000 Arbeitskräfte ins Reich verbracht worden, 1942 kamen noch einmal 400.000 dazu. Parallel zu den Deportationen und Arbeitskräftezwangsrekrutierungen unter der polnischen Bevölkerung erfolgten mit noch größerer Radikalität die Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Sie wurden von den Einsatzgruppen aus den eingegliederten Gebieten vertrieben und in Ghettos des Generalgouvernements verbracht. Die Vertreibungen der polnischen Juden gingen ungeachtet aller militärischen Zwänge weiter. Schon Anfang 1940 wurde aus den annektierten Gebieten gemeldet, sie seien "judenfrei". In großen Ghettos, vor allem in Warschau, Krakau, Lemberg, Lublin und Radom wurde die jüdische Bevölkerung zusammengepfercht; dies war, wie sich bald herausstellen sollte, nur eine Etappe auf dem Wege zu ihrer Vernichtung.

Noch gab es Offiziere und Soldaten, die das Morden der SS registrierten und dagegen aufbegehrten. Aus der 14. Armee wurde gemeldet, in der Truppe herrsche große Unruhe, die "durch die zum Teil ungesetzlichen Maßnahmen von Einsatzgruppen [...] entstanden" sei (Massenerschießungen, insbesondere von Juden). Die Truppe sei "vor allem darüber verärgert, dass junge Leute, statt an der Front zu kämpfen, ihren Mut an Wehrlosen erprobten." Generaloberst Johannes Albrecht Blaskowitz ließ die Meldungen über die Misshandlungen von Juden und Polen, über Vergewaltigungen, Plünderungen und Morde sammeln und übte in verschiedenen Denkschriften an den Oberbefehlshaber des Heeres, die schließlich auch bei Hitler landeten, scharfe Kritik. Am 6. Februar 1940 bilanzierte er: "Die Einstellung der Truppe zu SS und Polizei schwankt zwischen Abscheu und Hass. Jeder Soldat fühlt sich angewidert und abgestoßen durch diese Verbrechen, die in Polen von Angehörigen des Reiches und Vertretern der Staatsgewalt begangen werden." Eine Woche später wurde der lästige Kritiker auf Drängen des Generalgouverneurs von Polen Hans Frank an die Westfront abgeschoben. Sein Protest blieb wirkungslos, wenn er auch seiner militärischen Karriere nicht geschadet hat. Gewiss gab es viele Zeichen einer individuellen Scham, aber diejenigen Soldaten, die gegen den Terror von SS und Polizei protestierten, standen sowohl innerhalb des verbrecherischen Systems als auch unter ihren Standesgenossen auf verlorenem Posten. Für einige wenige Offiziere wurden die Erfahrungen in Polen zur Grundlage eines moralisch-politischen Aufbegehrens. Einer von ihnen, Helmuth Stieff (1901-1944), Chef der Gruppe III der Operationsabteilung im Generalstab und im Widerstand aktiv, formulierte seine Befindlichkeit im November 1939: "Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein! Diese Minderheit, die durch Morden, Plündern und Sengen den deutschen Namen besudelt, wird das Unglück des ganzen deutschen Volkes werden, wenn wir ihr nicht bald das Handwerk legen."

Doch die politischen Voraussetzungen für ein solches Aufbegehren waren denkbar ungünstig. Die Mehrheit der Offiziere fühlte sich durch die preußisch-deutschen Tugenden von Gehorsam und Vertrauen an die Obrigkeit gebunden oder beschränkte sich auf die rein militärischen Aufgaben. Sie nahmen die Aktionen nicht zuletzt auch deshalb hin, weil die Vorurteile gegen Juden und Polen überwogen. Hinzu kam, dass der erfolgreiche Krieg die anfängliche Beklemmung in der Bevölkerung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 365 in neue Zuversicht umschlagen ließ. Diese Zuversicht der Bevölkerung war freilich zu einem guten Teil darauf zurückzuführen, dass sie an ein baldiges Ende des Krieges und an ein Einlenken der Westmächte glaubte. Hitler war jedoch trotz seines "Friedensappells" vom 6. Oktober 1939, mit dem er den Alliierten eine Verständigung - allerdings zu seinen Bedingungen - anbot, zur Offensive im Westen entschlossen. Etwas anderes als eine Flucht nach vorn schloss sein politisches Denken völlig aus. Ohne eine Antwort auf seine "Friedensrede" abzuwarten, teilte er den Oberbefehlshabern der Wehrmacht seine Entschlossenheit mit, den Zeitpunkt des Angriffes "wenn nur irgend möglich noch in diesen Herbst zu legen". Denn: "Nach Lage der Dinge kann [...] die Zeit mit größerer Wahrscheinlichkeit als Verbündete der Westmächte gelten, denn als Verbündete von uns." Als Kriegsziel nannte er die "Vernichtung der Kraft und der Fähigkeit der Westmächte, noch einmal der staatlichen Konsolidierung und Weiterentwicklung des deutschen Volkes in Europa entgegentreten zu können".

Das bedeutete den Anspruch auf eine völlige deutsche Hegemonie über den Kontinent, um dann im Osten die Eroberungspolitik weitertreiben zu können. Durch einen siegreichen Krieg gegen Frankreich, so Hitlers Kalkül, ließe sich Großbritanniens Einfluss auf dem europäischen Festland zurückdrängen. Schließlich könnte es in dieser veränderten Kräftekonstellation doch noch mit London zu jener großen Aufteilung von Interessensphären kommen, von der er immer geträumt hatte. Langfristig sah er einen Interessenkonflikt mit der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten sowie die Gefahr voraus, dass diese militärisch eingreifen würden. Diese Zeitspanne müsse militärisch genutzt werden, denn das Reich könne der Sowjetunion nur entgegentreten, "wenn wir im Westen frei sind". Um eine bessere Ausgangslage zu schaffen, müssten Belgien und Holland in Besitz genommen und Frankreich durch einen Angriff militärisch ausgeschaltet werden. In der militärischen Führung, wo die Erinnerung an das Steckenbleiben und schließliche Scheitern der deutschen Offensive im Ersten Weltkrieg noch wach war, überwog äußerste Skepsis. Hitler hingegen gab sich sicher, dass die Schlacht gegen Frankreich diesmal unter günstigeren Umständen zu gewinnen sei. Darum vermochte ihn auch ein Vortrag des Oberbefehlshabers des Heeres Walther von Brauchitsch am 5. November nicht von seinen Angriffsplänen abzuhalten. Es waren allein die schlechten Wetterbedingungen, die mehrfach zur Verschiebung des Angriffs zwangen, bis dieser auf den 10. Mai 1940 festgelegt wurde.

Krieg gegen Frankreich

Hitler wollte sich die militärische Initiative nicht aus der Hand nehmen lassen und scheute darum auch nicht davor zurück, die Souveränität neutraler und nicht kriegführender Länder zu missachten. So befahl er den Überfall auf die beiden neutralen Länder Dänemark und Norwegen am 9. April 1940, nachdem ihn der Oberbefehlshaber der Marine Erich Raeder von der Gefahr überzeugt hatte, dass Norwegen in englische Hand fallen könne. Am 1. März 1940 hatte Hitler die Weisung "Weserübung " erlassen, welche die Besetzung Dänemarks und Norwegens vorsah. Kurz darauf hatte er sich dafür entschieden, mit dieser Operation noch vor dem Westfeldzug zu beginnen. Mit dem handstreichartigen Überfall auf die nordischen Nachbarstaaten sollten der Zugang zu den schwedischen Erzlagern und eine günstige Operationsbasis gegen England gesichert werden. Noch während die deutschen Truppen in einer kombinierten Operation aller drei Wehrmachtsteile in Norwegen landeten, wobei die Marine erhebliche Verluste erlitt, begann am 10. Mai die Offensive im Westen. Dabei wurde die Souveränität der beiden neutralen Staaten Belgien und Niederlande ohne Rücksicht auf das Völkerrecht verletzt. Der rasche militärische Triumph ließ die anfänglichen Bedenken der Militärs, die auf die mangelnde rüstungstechnische und logistische Vorbereitung verwiesen, schwinden. Die mehrmalige Verschiebung des Angriffs hatte den Erfolg sogar noch begünstigt. Neben der verbesserten militärischen Ausstattung hatte der Angreifer seinen Operationsplan in der Zwischenzeit verändert.

Der so genannte Sichelschnittplan, der im Zusammenspiel zwischen Hitler, Generalleutnant Erich von Manstein und einer eher zögerlichen Heeresführung Ende Februar 1940 verabredet worden war, schuf die entscheidende Voraussetzung für den raschen Erfolg. Der Plan sah den massierten Einsatz von Panzer- und motorisierten Verbänden der Heeresgruppe A über die Ardennen vor, die bislang als ein natürliches Hindernis für den Einsatz solcher motorisierter Verbände gegolten hatten. Gleichzeitig

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 366 sollte die Heeresgruppe B Belgien und die Niederlande besetzen, um damit die Nordseeküste zu erreichen und die Hauptmasse der gegnerischen Verbände zwischen den beiden Heeresgruppen zu zerreiben. Die Heeresgruppe C hatte lediglich den Auftrag, feindliche Kräfte an der Maginotlinie im Süden zu binden, ohne vorerst den Angriff auf dieses Herzstück der französischen Sicherheitspolitik vorzunehmen. Die militärische Stärke der Westmächte und der deutschen Wehrmacht war insgesamt als gleichwertig einzuschätzen, so dass neben der größeren Erfahrung vor allem der riskante und taktisch geschickte Angriffsplan den Ausschlag für den raschen Erfolg der Wehrmacht gab. In der ersten Phase vom 10. Mai bis zum Ende des Monats waren hauptsächlich das Ausnutzen der Überraschung des Gegners und das unerwartete Tempo des Vormarsches ausschlaggebend. In der zweiten Phase, beginnend am 5. Juni 1940, kam zu der gegnerischen Verwirrung durch den deutschen Operationsplan die innere Schwäche Frankreichs hinzu, das sich von den Folgen der Weltwirtschaftskrise noch nicht erholt hatte.

Innenpolitisch war das Land zudem durch eine tiefe ideologische Polarisierung zwischen den Anhängern der sich antifaschistisch verstehenden Linken und einer bürgerlich-nationalen Rechten geschwächt, die auf die Wucht der nationalsozialistischen Herausforderung mit Defätismus und Konzessionsbereitschaft reagierte.

Französische Kapitulation

Noch auswegloser wurde die Situation Frankreichs durch das Zerbrechen der britisch-französischen militärischen Kooperation. Die Briten versuchten, ihr Expeditionskorps (zusammen mit etwa 100.000 französischen Soldaten, die in Dünkirchen ebenfalls eingekesselt waren) über den Kanal zu retten, was ihnen in einer improvisierten Aktion unter Zurücklassen der schweren Waffen und Dank des Anhaltens des deutschen Vormarsches auch gelang. Im französischen Kabinett, das nach Bordeaux geflüchtet war, begann darauf- hin eine Auseinandersetzung zwischen denen, die einen Waffenstillstand befürworteten - an ihrer Spitze die Generäle Philippe Pétain und Maxime Weygand - und jenen, die den Krieg gestützt auf den französischen Kolonialbesitz und auf ein Bündnis mit England weiterführen wollten.

Auch Churchill, der am 10. Mai die britische Regierung übernommen hatte, versuchte Frankreich im Krieg zu halten und schlug eine britisch-französische Union vor. Doch Pétain und Weygand setzten sich durch. Am 17. Juni kündigte Marschall Pétain ein französisches Waffenstillstandsersuchen an. Die politisch-moralische Krise der Dritten Französischen Republik hatte den Boden bereitet für den Zusammenbruch eines politischen Systems, das noch den Ersten Weltkrieg siegreich überstanden hatte. Doch sein zunehmender Verfall und schließlich sein Immobilismus schien für die Anhänger der Diktatur in Frankreich so wie im übrigen Europa Beweis für den Niedergang der parlamentarischen Demokratie zu sein. Der Krieg gegen Frankreich war in der deutschen Wahrnehmung eine politische Demonstration und ein Sieg über ein historisches Trauma. Der Zusammenbruch Frankreichs führte Hitler auf den Höhepunkt seiner Macht. In nur sechs Wochen hatte er mit der Wehrmacht erreicht, woran die kaiserliche Armee im Ersten Weltkrieg in vier blutigen Jahren gescheitert war, nämlich den Sieg über den angeblichen "Erbfeind" Frankreich. Im Wald von Compiègne, wo die Deutschen 1918 um Waffenstillstand hatten bitten müssen, sollte die "nationale Schmach" ausgelöscht werden. Die Waffenstillstandsbedingungen, die den Franzosen nun in jenem Salonwagen auferlegt wurden, in dem umgekehrt Marschall Foch am 11. November 1918 der deutschen Delegation die Waffenstillstandsbedingungen mitgeteilt hatte, waren aus politischen Erwägungen relativ maßvoll. Frankreich behielt seine Flotte und sein Kolonialreich.

Das Land wurde in eine besetzte Zone im Norden bzw. im Westen und in eine unbesetzte Zone im Süden aufgeteilt. Frankreich sollte gleichsam die "Ehre" belassen werden, um es politisch besser unter Kontrolle halten zu können. Andererseits sollte Frankreich nicht mehr in der Lage sein, einen militärischen Widerstand zu organisieren. Die Besatzungsgewalt unterstand einem deutschen Militärbefehlshaber. Der Rumpfstaat im Süden behielt eine eigene Verwaltung und geringe Streitkräfte. Sitz der neuen autoritären Regierung unter Marschall Pétain, die von der französischen politischen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 367

Rechten unterstützt wurde, war der Badeort Vichy. Sein Name wurde in Frankreich bald zum Inbegriff für eine spezifische Form der Kollaboration, die vor allem wegen des Zusammenwirkens der französischen Gendarmerie mit der Gestapo und dem SD bei der Judenverfolgung die kollektive französische Erinnerung belasten sollte. Elsaß und Lothringen wurden wie Luxemburg dem Reichsgebiet einverleibt und nationalsozialistische Gauleitern aus dem Reich unterstellt. Die Niederlande unterstanden einem Reichskommissar, der ebenfalls eine von NS-Dienststellen getragene Zivilverwaltung errichtete. Belgien hingegen wurde dem deutschen Militärbefehlshaber unterstellt.

Damit zeichnete sich eine verwirrende Vielfalt unterschiedlicher Formen der Besatzungsverwaltung ab, um deren Zuständigkeiten militärische Dienststellen, Parteifunktionäre und ihre Apparate sowie Reichsministerien untereinander wetteiferten und so die polykratischen Herrschaftsformen des Dritten Reichs auf die besetzten und annektierten Gebiete übertrugen.

Besatzungspolitik

Die improvisierte Regelung der Besatzungsherrschaft im Westen versuchte den jeweiligen nationalen Besonderheiten und den politischen Interessen des Siegers gerecht zu werden. Auch wenn im Vergleich zu Polen (und später zur Sowjetunion) die Besatzungspolitik im Norden und Westen Europas insgesamt noch relativ gemäßigt war, so war der deutsche Macht- und Unterwerfungswille doch unübersehbar und kaum geeignet, die Bevölkerung der besiegten Länder zu größeren ökonomischen Anstrengungen an der Seite Deutschlands zu bewegen. Wurde in den annektierten Gebieten Elsaß-Lothringens eine rücksichtslose Germanisierungspolitik betrieben, so konzentrierte sich die neue europäische Hegemonialmacht in Frankreich vor allem auf eine intensive Beutepolitik. Diese war auf die Schließung der Rohstoffengpässe der deutschen Kriegswirtschaft gerichtet, ohne dass damit eine mittelfristige Verbesserung der deutschen Versorgungslage erreicht worden wäre.

Konnten die deutschen Besatzer sich noch der großen Rohstoffvorräte bemächtigen, die Frankreich in Erwartung eines langen Krieges angelegt hatte, so blieben die Erfolge in der mittel- und langfristigen Nutzung der nord- und westeuropäischen Volkswirtschaften begrenzt. Denn trotz der Kooperationsbereitschaft der französischen Wirtschaft gab es strukturelle Hindernisse für eine erfolgreiche Ausbeutung, die aus der Rohstoffknappheit und der Zerstörung von Warenkreisläufen durch den Krieg resultierten. Sie wurden aber auch dadurch hervorgerufen, dass die deutsche Seite allen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung zum Trotz der Versorgung der deutschen Bevölkerung und den Interessen der deutschen Kriegswirtschaft den absoluten Vorrang vor der Existenzsicherung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten gab. Damit konnte zwar die Versorgung der eigenen Bevölkerung gesichert, nicht aber die Produktion der Volkswirtschaften in den besetzten europäischen Ländern angekurbelt werden. Hinzu kam die Unfähigkeit der deutschen Kriegswirtschaft, über längere Zeit die Anstrengungen der Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten. Bald nach dem Frankreichfeldzug ging die Rüstungsproduktion wieder zurück, während auf der britischen Seite erstaunliche Zuwachsraten zu verzeichnen waren und der Zeitfaktor für Hitlers Krieg immer enger und bedrohlicher wurde.

Der militärische Triumph über Frankreich brachte für Hitler eine beispiellose Machtsteigerung nach innen und nach außen. In der Wehrmacht ging die Rede vom "größten Feldherr aller Zeiten" um; der " Führer"-Mythos hatte damit eine neue Dimension erreicht. Denn die Offiziere verloren mit ihren militärischen Expertentum die letzte Bastion ihrer vermeintlichen Eigenständigkeit, und sie waren nun um so mehr bereit, sich Hitlers Führung endgültig zu unterwerfen, auch wenn sie aus ihrer fachlichen Sicht manches anders beurteilten. Während Hitler mit Blumen, Glockengeläut und einer Siegesparade in Berlin Anfang Juli seinen letzten politisch-militärischen Triumph feierte und das "Großdeutsche Reich " sich nach innen und nach außen auf dem scheinbaren Höhepunkt seiner Macht befand, war das Regime nicht in der Lage, diese neue Position politisch und strategisch zur eigenen mittelfristigen Stabilisierung zu nutzen. Das hatte viel mit der Logik des nationalsozialistischen Systems zu tun, das auf der permanenten Mobilisierung und Radikalisierung seiner Herrschaftsziele und -techniken beruhte

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 368 und vor allem von einem "Führer" beherrscht wurde, der sich mit seinen dogmatisch fixierten Eroberungsplänen selbst unter Zugzwang setzte. Der Erfolg über Frankreich war für Hitler nur eine Etappe auf dem Weg seiner weiteren Eroberungspolitik.

Krieg gegen England

Der Krieg gegen England sollte tatsächlich nur geführt werden, um die gewünschte Handlungsfreiheit nach Osten zu erreichen. Sollte das nicht gelingen, dann rückte als Alternative der Krieg gegen Russland in den Blick, den Hitler nun aber zu einem früheren Zeitpunkt als vorgesehen zu führen gedachte, um mit einem Sieg im Osten England zu isolieren und doch noch zum Einlenken zu zwingen. Der Krieg gegen die Sowjetunion erhielt in diesen mehr vom ideologischen Wollen und von Wunschträumen als von politisch-militärischen Realitäten bestimmten Überlegungen eine doppelte Funktion: Er blieb ideologisches Ziel, wurde aber nun auch Mittel zur Erreichung seines Fernziels. Diese Doppeldeutigkeit warf ein bezeichnendes Licht auf die politisch-strategischen Widersprüche, in die sich Hitler selbst manövrierte. Zunächst versuchte Hitler es mit der direkten Auseinandersetzung, doch fiel der Auftakt zum Krieg gegen England recht zögerlich und vorsichtig aus. Zunächst sollte England durch Luftangriffe zum Einlenken gezwungen werden. Ein Landeunternehmen hielt Hitler zu dieser Zeit für ein sehr großes Risiko, das erst in Betracht komme, "wenn kein anderer Weg offen ist, um mit England zum Schluss zu kommen". Auch das OKW betrachtete ein solches Unternehmen als eine "Verzweiflungstat", die aber vermeidbar sei, da es andere Wege gäbe, um England zu bezwingen.

Doch die Luftwaffe, die mit ihren Angriffen auf England am 5. August begann, war nicht in der Lage, die militärischen Voraussetzungen für ein Landeunternehmen zu schaffen. Zwar konnten die deutschen Jagd- und Bombenflugzeuge die Infrastruktur der britischen Armee hart treffen. Sie konnten aber weder die Luftüberlegenheit über England erringen noch dauerhaft das britische Potential an Flugzeugen und einsatzfähigen Piloten ausschalten. Mit der Verlagerung auf eine Zermürbungsstrategie durch Bombenangriffe auf Wohnbezirke, die am 24. August 1940 begann, wurden die ohnehin knappen Ressourcen an Flugzeugen und Personal noch weiter zersplittert. Dies hatte zur Folge, dass die Luftwaffe an keiner Front schlagkräftig genug war, um den englischen Widerstand zu brechen. Zwar dehnte sie den Bombenkrieg, der von englischer Seite mit Angriffen auf Berlin beantwortet wurde, immer mehr auf englische Industriestädte wie Coventry und Birmingham aus, aber dadurch blieb die britische Luftwaffe von weiteren massiven Angriffen auf ihre Stützpunkte verschont. Am 17. September musste unter dem Eindruck der steigenden Verluste der deutschen Luftwaffe die Landung "bis auf weiteres" verschoben werden. Es war eine schwere Niederlage für Hitler, die er erst am 5. Dezember eingestand.

Ausweitung des Krieges

Um so rascher konzentrierte er sich seit dem Sommer 1940 auf den Alternativplan, nämlich Russland, das er als den "Festlandsdegen" Englands bezeichnete, zuerst zu schlagen. Mittlerweile hatte die Regierung des nationalsozialistischen Deutschlands erkennen müssen, daß der amerikanische Präsident Roosevelt dem neuen britischen Premierminister Churchill nicht nur den Rücken stärkte, sondern sich darauf einstellte, die Führung des Westens gegen Deutschland zu übernehmen. Das trieb Hitler zu einer weiteren Beschleunigung seines Eroberungsprogrammes. Es zeichnete sich das Konzept einer globalen Ausweitung des Krieges ab, den Hitler als "Weltblitzkrieg" zu führen gedachte. Hitlers Absicht zielte in einer Strategie des Alles oder Nichts darauf, dass er die kontinentale Herrschaft im Osten erringen müsste, so lange die USA rüstungstechnisch noch nicht hinreichend vorbereitet waren. Ein Sieg über Russland, den nicht nur Hitler, sondern auch die Wehrmachtsführung und selbst ausländische Militärexperten angesichts des offensichtlich desolaten Zustandes der Roten Armee für wahrscheinlich hielten, würde nicht nur "Englands letzte Hoffnung" tilgen, sondern auch die USA von weiteren Interventionen abhalten. Das war das machtpolitische Kalkül, das Hitler den militärischen Spitzen des Reiches am 31. Juli 1940 entwarf und das ihm eine zusätzliche Begründung für sein ideologisches Ziel der Lebensraumeroberung im Osten zu bieten schien. "Im Zuge dieser Auseinandersetzung muss Russland erledigt werden. Frühjahr 1941. Je schneller wir Russland

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 369 zerschlagen", folgerte Hitler, "um so besser".

Als Hitler erkannte, dass seine ursprünglichen und ohnehin sehr vagen Stufenplanungen einer geordneten Reihe von Feldzügen durcheinander geraten waren, versuchte er es – bevor er alles auf eine Karte setzte – noch mit dem Konzept seines Außenministers Ribbentrop. Dieser wollte einen Kontinentalblock gegen Großbritannien unter Einbeziehung Italiens, aber auch Frankreichs und Spaniens sowie vor allem Japans schmieden. Der Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan, der schließlich unter großem Propagandaaufwand am 27. September 1940 abgeschlossen wurde, sollte allerdings nur auf dem Papier bestehen. Italien wurde aufgrund seiner militärischen Schwäche mehr und mehr zu einer politischen und militärischen Belastung, und das Verhältnis zur fernöstlichen Großmacht Japan blieb locker und unberechenbar. Eine Reise Hitlers im Oktober 1940 machte deutlich, dass weder Marschall Pétain noch General Franco zu einem Bündnis mit Deutschland bereit waren und auf Zeit spielten. Die Gespräche, die schließlich mit dem sowjetischen Außenminister Molotow am 12. und 13. November in Berlin stattfanden, hatten für Hitler nur noch eine Alibifunktion und sollten die mündlich befohlenen Kriegsvorbereitungen für den Osten nicht unterbrechen. Hitler unterbreitete Molotow das absurde Angebot, sich die "gigantische Weltkonkursmasse" des Britischen Empires gemeinsam als Beute zu teilen.

Was Molotow darauf im Gegenzug als sowjetische Interessensphäre definierte und als Preis für eine weitere wohlwollende Haltung der Sowjetunion ansprach, musste die Interessen des Deutschen Reiches ganz erheblich berühren. Es ging, von Molotow geschickt als sowjetisches Sicherheitsbedürfnis verkleidet, um die Kontrolle über Finnland, Rumänien, Bulgarien und die türkischen Meerengen. Für eine spätere Phase ließ der Abgesandte Stalins sogar das Interesse Moskaus an Ungarn, Jugoslawien und dem westlichen Teil Polens erkennen. Damit lagen sehr weitgehende sowjetische Kriegsziele auf dem Tisch; sie waren kaum noch mit dem Blick auf ein Bündnis mit Hitler formuliert. Auch Stalin dachte offenbar an die Zeit danach. Für Hitler war der Molotow-Besuch ein letzter Test, ob Deutschland und die Sowjetunion "Rücken an Rücken oder Brust an Brust" stünden. Das Scheitern der Gespräche empfand Hitler als Erleichterung, denn der vorübergehende Pakt mit Stalin "würde nicht einmal eine Vernunftehe bleiben". Das Scheitern der "weltpolitischen Zwischenlösung" Ribbentrops bestärkte Hitler in seinem Entschluss zum Ostfeldzug. Am 18. Dezember 1940 erging seine "Weisung Nr. 21 für den Fall Barbarossa": "Die deutsche Wehrmacht muss darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen."

Krieg aus Prinzip

Von der "Vernichtung der Lebenskraft Russlands" hatte Hitler schon am 31. Juli 1940 vor seinen Generälen gesprochen. Im März 1941 wurde er dann deutlicher: "Dieser kommende Feldzug ist mehr als nur ein Kampf der Waffen; er führt auch zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen." Die UdSSR müsse dabei zerschlagen und die "jüdisch-bolschewistische Intelligenz" beseitigt werden. Rücksicht auf die Zivilbevölkerung sollte es in diesem "Weltanschauungskrieg" nicht mehr geben. Dieser bedeutete im Verständnis Hitlers vor allem Vernichtung und Ausrottung des sowjetischen Systems sowie seiner gesellschaftlichen Trägerschichten, zugleich auch Terror gegen ein ganzes Land. Was im Frühjahr 1941 geplant und von der Wehrmachtsführung akzeptiert wurde, war ein fundamentaler Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht. Gerechtfertigt wurden die Vernichtungspläne mit dem bolschewistischen Terror gegen die eigene Gesellschaft und mit der bolschewistischen Revolutionsdrohung gegen Europa. Auch für viele Repräsentanten der Wehrmachtsführung war dies Grund genug, um Bedenken gegen die geplante völkerrechtswidrige und barbarische Kriegführung in dem "Weltanschauungskrieg" hinten anzustellen.

Es gab darum nur wenig Meinungsverschiedenheiten zwischen militärischer und politischer Führung. Statt dessen war das OKW bereit, bei der Planung und Formulierung der Einsatzbefehle des " Weltanschauungskrieges" mitzuwirken. So stimmte die Wehrmachtsführung, nicht zuletzt auch um Konflikten mit der politischen Führung aus dem Wege zu gehen, einer Definition des Hoheitsgebietes

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 370 der SS im Operationsgebiet des Heeres zu. Der Reichsführer der SS Himmler erhielt im Operationsgebiet des Heeres "Sonderaufgaben", die sich "aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme" ergaben. Der Reichsführer sollte dort "selbständig und in eigener Verantwortung" handeln. Vor allem sollte er, ähnlich wie im Polenfeldzug, Einsatzgruppen zur Vernichtung der "von Stalin eingesetzten Intelligenz" bilden. Welche Aufgaben die Einsatzgruppen im einzelnen übernehmen sollten, wurde erst kurz vor Beginn des Feldzuges und offenbar nur mündlich festgelegt. Deutlich trat vor allem der rassenantisemitische Grundton hervor. Das Heer würde sich aus diesen Vernichtungsaktionen nicht heraushalten können, da Hitler von den Soldaten verlangte, dem völlig anderen Charakter dieses "Weltanschauungskrieges" gerecht zu werden und vom "Standpunkt des soldatischen Kameradentums abzurücken". Denn: "Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad." Vor einer Versammlung von hohen Offizieren verkündete Hitler am 30. März 1941: "Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen." Hitler argumentierte hier vor allem mit dem antibolschewistischen Argument, von dem er annehmen musste, dass es im Denken seiner Truppenführer ebenfalls Widerhall fand.

Die rassenantisemitische Erweiterung dieses Ansatzes war unmissverständlich, auch wenn sie nicht angesprochen wurde. Denn Judentum und Bolschewismus waren im ideologischen Denken des Nationalsozialismus identisch. Diese Sichtweise wurde in vielen anderen Weisungen auch gegenüber der militärischen Führung ausgesprochen. Die am 30. März anwesenden Offiziere reagierten teils reserviert, teils zustimmend. Nach Hitlers Rede gingen die Stäbe von OKW und OKH (Oberkommando des Heeres) daran, Hitlers Forderungen in Befehle für das "Unternehmen Barbarossa" umzusetzen. Der Sieg über Frankreich übte auf die Offiziere noch seine einschüchternde und betäubende Wirkung aus und hatte überdies die moralischen Dämme brechen lassen, die noch gegen die nationalsozialistische Ideologie bestanden. Schließlich ging es, so sagten sich viele Soldaten, nun um den Kampf gegen den Bolschewismus. Da zählten für viele die offenkundigen Verletzungen des Kriegsvölkerrechtes weniger als die tief verwurzelten Ängste und Vorurteile.

Hitlers Parole vom Entscheidungskampf der beiden Weltanschauungen war auf fruchtbaren Boden gefallen. Selbst ein Mann wie Generaloberst Erich Hoepner (1886-1944), der später aktives Mitglied im Widerstand gegen Hitler wurde, zog in einem Aufmarschbefehl vom 2. Mai 1941 die gewünschte Folgerung aus Hitlers Rede: "Der Krieg gegen Russland ist die zwangsläufige Folge des uns aufgedrungenen Kampfes um das Dasein. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Russlands zum Ziel haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden. [...] Insbesondere gibt es keine Schonung für die Träger des heutigen russisch-bolschewistischen Systems."

Kommisarbefehl und wirtschaftliche Ausbeutung

Der Erlass über die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Gebiet "Barbarossa" vom 13. Mai sowie der Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941 zeigten, wie weit die Bereitschaft der Wehrmachtsführung ging, die nationalsozialistischen Feindbilder für das eigene Handeln zu übernehmen. Begründet wurde der Erlass, der wichtige Regeln der Militärgerichtsbarkeit im Umgang mit der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten außer Kraft setzte, mit dem Hinweis, "dass der Zusammenbruch im Jahre 1918, die spätere Leidenszeit des deutschen Volkes und der Kampf gegen den Nationalsozialismus mit den zahllosen Blutopfern entscheidend auf bolschewistischen Einfluss zurückzuführen war und dass kein Deutscher dies vergessen hat". Damit wurde gerechtfertigt, dass "Straftaten feindlicher Zivilpersonen" nicht mehr gerichtlich geahndet werden sollten, sondern dass "Freischärler" und "tatverdächtige Elemente" sofort und ohne Einschaltung eines Kriegs- und Standgerichts einem Offizier vorzuführen wären, der über ihre Erschießung zu entscheiden hätte. Auch bestand gegenüber deutschen Soldaten, die sich durch ein grausames Verhalten gegen "feindliche Zivilpersonen" hervortaten, kein Verfolgungszwang. Damit waren der Willkür Tür und Tor geöffnet. Ähnlich versuchten OKW und OKH, den Truppenführern den Kommissarbefehl zu erläutern. Er besagte im Widerspruch zu allen Kriegsregeln, dass im militärischen Operationsgebiet politische Kommissare

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 371 der Roten Armee noch auf dem Gefechtsfeld von den übrigen Kriegsgefangenen abzusondern und sofort zu erschießen seien.

Kommissare, die im rückwärtigen Heeresgebiet, also hinter der kämpfenden Truppe ergriffen würden, sollten an die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD übergeben werden. Beide Erlasse suchten die Wehrmacht in die Ausrottungspraxis mit einzubeziehen und die Einsatzgruppen für einen Teil des Operationsgebietes zu "entlasten". Die Befehle wurden unterhalb der Armee-Ebene in der Regel mündlich weitergegeben und riefen teilweise heftige Proteste hervor. Sie veranlassten Hitler im Mai 1942 zur versuchsweisen Aufhebung des Kommissarbefehls, um, wie die offizielle Begründung lautete, "die Neigung zum Überlaufen und zur Kapitulation eingeschlossener sowjetischer Truppen zu steigern". Dies bedeutete im Klartext, dass der Widerstand der Bevölkerung und die Partisanentätigkeit nicht durch die Härte der deutschen Kriegsführung noch weiter gesteigert werden sollte. Die Kritik am " Gerichtsbarkeitserlass" war ebenfalls eher pragmatischer und nicht grundsätzlicher Natur, denn die Armeeführer befürchteten durch ihn eine Auflösung der Disziplin in der Truppe.

Auch mit Blick auf die wirtschaftliche Ausbeutung der UdSSR wurde gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen. Dem Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes, General Georg Thomas, war bewusst, dass das Gebot, den Bedarf der einheimischen Bevölkerung sicherzustellen, mit dem Ziel, die Wehrmacht ausreichend zu versorgen und Überschüsse abzuliefern, nicht in Deckung zu bringen war. Deshalb schlug er eine Reduzierung des Getreideverbrauches der einheimischen Bevölkerung vor. Im Frühjahr 1941 stellten mehrere Staatssekretäre in Anlehnung an die Richtlinien von Thomas fest, dass der Krieg nur weiterzuführen wäre, "wenn die gesamte Wehrmacht im dritten Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. Hierbei", hieß es in der Besprechung weiter, "werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn für uns das für uns Notwendige aus dem Land herausgeholt wird." Noch ungeheuerlicher waren die Aufgaben der vier Einsatzgruppen, die in einer Gesamtstärke von 3000 Mann den Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd und der 11. Armee zugeteilt wurden, aber direkt dem Reichssicherheitshauptamt unter Heydrich unterstanden. Zu den Sonderaufgaben, die sie hinter der Front vornehmen sollten, gehörten die Liquidierung der feindlichen politischen und geistigen Führungsschichten, vor allem aber der Juden in der Sowjetunion, die von den nationalsozialistischen Ideologen als "biologische Wurzel" des Bolschewismus stigmatisiert wurden. Den Befehl zur Erschießung aller Juden in dem eroberten Territorium hatten die Einsatzgruppen schon im Mai 1941 erhalten.

Dadurch, dass sie "hinsichtlich Marsch, Versorgung und Unterbringung" den Armeen unterstellt waren, geriet die Wehrmacht weiter in das Netz der "verbrecherischen Befehle". Denn Teile der Truppen, vor allem im rückwärtigen Heeresgebiet, waren nun direkt oder meistens indirekt durch ihre logistische Unterstützung an den Massenerschießungen der Einsatzgruppen beteiligt. Eine Woche nach der Versammlung am 30. März 1941, bei der Hitler die Offiziere über den Charakter des bevorstehenden Feldzuges informiert hatte, erfuhr Ulrich von Hassel, Kopf des bürgerlich-konservativen Widerstandes von den Befehlen, die Generalstabschef Halder unterschrieben hatte. Hassels Urteil war eindeutig und weitsichtig, mit "dieser Unterwerfung unter Hitlers Befehle" werde die Ehre "der deutschen Armee " geopfert. Die Bevölkerung wurde auf den Krieg gegen die Sowjetunion entgegen der bisherigen Praxis propagandistisch nicht vorbereitet. Erst nach dem Angriff vom 22. Juni versuchte die Propaganda, den Krieg als eine militär- und machtpolitische Notwendigkeit und als Abwehrkampf gegen die bolschewistische Gefahr darzustellen. Doch es gibt keinen Beleg, der den Russlandfeldzug als Präventivkrieg rechtfertigen lässt. Denn die deutsche Führung fürchtete zu keinem Zeitpunkt - weder Ende 1940, als die Entscheidung für das Unternehmen "Barbarossa" fiel, noch in der ersten Hälfte des Jahres 1941, als der Aufmarsch erfolgte - einen unmittelbar bevorstehenden Angriff Stalins. Sie war sich vielmehr sicher, wie Goebbels in seinem Tagebuch am 16. Juni 1941 registrierte, dass der "Bolschewismus wie ein Kartenhaus zusammenbrechen wird".

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 372 Krieg auf dem Balkan und Vormarsch in der UdSSR

Während die Angriffsvorbereitungen für den Ostfeldzug auf vollen Touren liefen, zwang Mussolini das Deutsche Reich, sich erneut im Mittelmeerraum militärisch zu engagieren. Die Feldzüge im April und Mai 1941 gegen Jugoslawien und Griechenland wurden als militärisch notwendig angesehen, nachdem Mussolinis Truppen in Albanien und Nordafrika um die Jahreswende 1940/41 in Bedrängnis geraten waren und die britischen Luft- und Seestreitkräfte vom griechischen Ministerpräsidenten (1871-1941) schon Ende Oktober 1940 zu Hilfe gerufen worden waren. Um die arg bedrängten Italiener zu entlasten sowie die Bedrohung der sehr verwundbaren militärischen Flanke im Südosten Europas durch die britische Luftwaffe zu verhindern und auch die kriegswirtschaftlich wichtigen rumänischen Ölfelder vor britischen Bombenangriffen zu schützen, ordnete Hitler am 13. Dezember 1940 die Vorbereitung des Balkanfeldzuges an. Die turbulenten politischen Vorgänge in Belgrad Ende März 1941, bei denen schließlich eine prowestliche, nationalistische Regierung unter General Dusöan Simovic die Macht übernahm und den 27-jährigen Peter II. zum König machte, riefen Hitlers zornige Reaktion und eine Forcierung der deutschen Angriffspläne hervor.

Mit dem Balkanfeldzug, der mit den Überfällen auf Griechenland und Jugoslawien am 6. April begann und mit der Kapitulation der jugoslawischen Armee am 17. April sowie der griechischen Armee am 21. April beendet wurde, war zwar der Zeitplan, nicht aber die Zielsetzung für den Russlandkrieg durcheinander geraten. In den neuen Besatzungsgebieten auf dem Balkan wurden zudem erhebliche Truppenverbände gebunden, da sich dort sofort Widerstands- und Partisanenbewegungen bildeten, die trotz blutiger und brutal geführter militärischer Säuberungsaktionen" nicht niedergehalten werden konnten.

In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht mit drei Millionen Soldaten - das waren insgesamt 153 Divisionen - ohne Kriegserklärung die Grenze zwischen der deutschen und sowjetischen Machtsphäre. Der Russlandfeldzug war als "Blitzfeldzug" geplant, Waffen- und Geräteausstattung des Ostheeres waren nur für eine Kampfdauer von drei Monaten ausgelegt, der Munitionsvorrat reichte nur für zwölf Monate, und nennenswerte personelle Reserven standen nicht mehr bereit. Die deutsche politische und militärische Führung ging davon aus, dass der Russlandfeldzug vor dem Einbruch des Winters zu Ende sein werde, die Mehrheit der Verbände war darum nicht mit Winterkleidung ausgestattet. Mit der in Polen und Frankreich erprobten Strategie der Panzerstoßkeile und der Kesselbildungen gelangen den drei deutschen Heeresgruppen in den ersten Wochen tatsächlich gewaltige Raumgewinne. Nach etwas sechs Monaten standen die deutschen Truppen westlich von Rostow und in Charkow sowie vor Moskau und östlich von Leningrad.

Am 2. Oktober eröffnete die Heeresgruppe Mitte ihren Angriff auf Moskau, bis die Schlammperiode Mitte Oktober die Angriffsoperationen stoppte. Als die deutschen Truppen am 15. November erneut zum Angriff antraten, blieb ihre Offensive 30 Kilometer nördlich und etwa 50 Kilometer südlich von Moskau stecken. Die Rote Armee ging am selben Tag zur Gegenoffensive über, worauf Hitler der Heeresgruppe Mitte befahl, "fanatischen Widerstand" zu leisten. Der Oberkommandierende des Heeres, Generalfeldmarschall von Brauchitsch, legte daraufhin sein Amt nieder. Dies löste nach den erheblichen Meinungsverschiedenheiten, die im Spätsommer zwischen Hitler und Generalstabschef Halder über den Schwerpunkt des deutschen Angriffs ausgebrochen und von Hitler für sich entschieden worden waren, die zweite und noch schwerere militärische Krise aus. Sie führte nun zur Übernahme des Oberbefehls des Heeres durch Hitler persönlich und zu einem neuerlichen Revirement im Oberbefehl der Heeresgruppen. Damit hatte das Heer endgültig seine Autonomie verloren, was die Offiziere jedoch nicht daran hinderte, als Hitlers treue Helfer ihren militärischen Dienst weiter auszuüben.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 373 Verluste und Niederlagen

Der Angriff auf die UdSSR wurde für die deutsche Wehrmacht nach raschem Vormarsch bald zu einer Katastrophe: Das Ostheer verlor zwischen Ende Juni 1941 und Ende März 1942 an Toten, Verwundeten und Vermissten über eine Million Mann, die Krankheitsfälle nicht mitgerechnet. Der personelle Ersatz, der an die Ostfront in derselben Zeit geschickt wurde, betrug nur 450.000 Mann. Hinzu kamen gewaltige Verluste an Rüstungsmaterial. Auch die ökonomische Ausbeutung der eroberten Gebiete brachte längst nicht die erwünschten Ergebnisse. Hingegen zeigte die sowjetische Rüstungsindustrie nach der Verlagerung der Rüstungsbetriebe in den Osten des Landes eine gewaltige Leistungssteigerung, und vor allem demonstrierte die Sowjetunion mit ihrem Sieg vor Moskau ihre Fähigkeit, alleine den Angreifern zu widerstehen. Das sollte ihr internationales politisches Gewicht, nachdem das Regime von fast allen Beobachtern schon aufgegeben war, drastisch erhöhen. Umgekehrt mußte sich die deutsche Führung eingestehen, dass ihr Blitzkriegsplan gescheitert war. Der Befehlshaber des Ersatzheeres, Friedrich Fromm, hielt im November 1941 angesichts der Aussichtslosigkeit der Lage einen Friedensschluss für ratsam. Fritz Todt, Minister für Bewaffnung und Munition, kam Ende November mit demselben Rat zu Hitler. Auch Hitler schien sich solchen Ahnungen und Überlegungen nicht zu verschließen und erging sich in düsteren und menschenverachtenden Endzeitbildern. "Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug sein wird, sein eigenes Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden."

Doch solche Ahnungen wurden dann wieder sehr schnell von dogmatischen Kriegszielplanungen verdrängt, mit denen Hitler eine letzte globale Etappe des Krieges einleiten wollte, die in einem Alles oder Nichts den Sieg bringen sollte. Noch während der Wende vor Moskau hatte sich durch den Angriff japanischer Truppen auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor am 7. Dezember der Krieg zum Weltkrieg ausgeweitet. Am 11. Dezember erklärte Hitler den USA den Krieg, ohne dass das Deutsche Reich durch den Dreimächtepakt dazu verpflichtet gewesen wäre. Nach dem Scheitern seines Blitzkriegplanes in Russland suchte Hitler in einem verzweifelten Versuch die Flucht nach vorn. Damit wollte er die letzte Chance für eine erfolgreiche Wendung des Krieges im Sinne seines Stufenplanes nutzen, bevor das amerikanische Potential voll eingesetzt werden konnte. Wie gering der Handlungsspielraum Hitlers und seiner Bündnispartner tatsächlich war, zeigt die Alternative, vor die sich der deutsche Diktator Anfang Dezember 1941 gestellt sah. Für ihn gab es nur noch Weltmacht oder Untergang. Die Kriegserklärung an die USA war eine Geste ganz im Sinne des nationalsozialistischen Bedürfnisses nach der heroischen Tat. Aber sie konnte nur mühsam verbergen, wie sehr sie bereits nur noch Reaktion auf machtpolitische Tatsachen und Konstellationen war, die anderswo gesetzt wurden.

Zwar sollte Hitler mit seinen erneuten Offensiven nach den Katastrophen des Winters 1941/42 im Juni 1942 noch einmal Siegeshoffnungen bei sich und der Armee wecken. Doch mit den weiteren militärischen Eroberungen, die die Wehrmacht in der am 28. Juni 1942 eröffneten Sommeroffensive bis an das Schwarze Meer und den Kaukasus brachten, mutete der Oberbefehlshaber Hitler seiner Armee eine militärische Überdehnung zu. Sie gipfelte mit der Entscheidung vom 23. Juli 1942, die Heeresgruppe B in Richtung Stalingrad zu beordern sowie die Heeresgruppe A nach Süden abzudrehen, in einer strategischen Fehlplanung, die in der Katastrophe von Stalingrad im Winter 1942/43 endete. Obwohl Hitlers Imperium im Spätsommer 1942 seine größte Ausdehnung erreichte, war die Niederlage gleichzeitig vorhersehbar. Denn die Grenzen der deutschen militärischen und kriegswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit waren längst erreicht und das Deutsche Reich hatte die strategische Initiative schon verloren. Hinzu kamen ständige militärische Führungskrisen, die ihre Ursachen in dem Realitätsverlust des triumphierenden Diktators und in der Hilflosigkeit seiner Führungsgehilfen hatten.

Der Wendepunkt des Krieges, sofern er nicht schon im Dezember 1941 erreicht war, trat spätestens im Herbst 1942 ein. Die Rote Armee startete im November 1942 ihre Gegenoffensive bei Stalingrad. Der britische General Bernhard Montgomery brach mit vielfacher Übermacht durch die deutsch- italienischen Stellungen bei El Alamein in Nordafrika und am 7./8. November waren englische und amerikanische Truppen an den Küsten Nordafrikas gelandet und begannen, eine zweite Front zu

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 374 eröffnen. Hitler lehnte jedoch jeden Gedanken an Nachgeben ab und formulierte, nun wieder ganz der Dogmatiker, der zum politischen Kalkül unfähig war: "Es gibt jetzt nur noch eines, und das heißt Kampf." Hinfort war die deutsche Kriegführung und Politik in die Defensive geraten und unbeweglich durch den ideologischen Starrsinn Hitlers. Die militärischen Niederlagen der deutschen Truppen - vor allem im Osten - und das nahende Ende des Dritten Reiches 1944/45 bedeuteten darum nicht nur ein militärisch- politisches Ereignis von größter Tragweite, sondern auch eine Befreiung von Rassenwahn und Vernichtungspolitik. Bis zu der militärischen Wende des Krieges und zum Vormarsch der Alliierten bedeutete "jede gewonnene Schlacht, jeder Organisationserfolg in der Rüstungsindustrie, jedes Durchhalten im Inneren und an den militärischen Fronten die Voraussetzung dafür, dass in Auschwitz weiter gemordet werden konnte" (Ludolf Herbst). Ein Ausweg aus dieser Zwangssituation, in der Erfolg oder Misserfolg der deutschen Kriegspolitik auch über das Schicksal von Millionen Menschen entschied, konnte nur durch eine innere Veränderung bzw. Überwindung der bestehenden nationalsozialistischen Herrschaftsordnung oder durch eine militärische Niederlage von außen herbeigeführt werden.

"Totaler Krieg" und Anti-Hitler Bündnis

Bereits mit dem Scheitern des "Blitzkriegs" gegen die Sowjetunion im Herbst 1941 bzw. mit den alliierten Gegenoffensiven im Herbst 1942 hatte sich die militärische Wende des Krieges vollzogen, auch wenn sich tatsächlich erst mit dem Fall von Stalingrad im Januar/Februar 1943 das Gefühl einstellte, die Vernichtung der sechsten Armee könnte der Anfang vom Ende sein. Zudem hatte sich der Krieg mit dem Kriegseintritt der USA in globale Dimensionen ausgeweitet. Mit der deutschen Kriegserklärung an die USA hatte Hitler zu erkennen gegeben, daß er trotz des Scheiterns seiner "Blitzkriegstrategie" im Osten nicht gewillt war, eine politische Lösung des Krieges herbeizuführen. Vielmehr versuchte er, die kurze Phase bis zum voraussichtlichen militärischen Eingreifen der USA, das sich zunächst gegen Japan wenden würde, auf dem europäischen Kontinent zu nutzen, um doch noch einen Sieg über die Sowjetunion zu erreichen. Damit aber nahm die Risikopolitik Hitlers dramatische Formen an und das NS-Regime manövrierte sich dadurch in immer größere Termin- und Handlungszwänge. Denn trotz der vorübergehenden Siegeshoffnungen im Sommer 1942, als deutsche Truppen bis an den Kaukasus, an die Wolga und die ägyptische Grenze vorstießen, konnte Deutschland schon längst nicht mehr das militärische Geschehen aktiv bestimmen.

Zur selben Zeit formierte sich die Anti-Hitler-Koalition, die vor allem auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 mit der Forderung nach einer "bedingungslosen Kapitulation" Deutschlands zum einen ihre Kriegsziele formulierte, zum anderen ihre innere Geschlossenheit herstellte. Mit der Entscheidung der angelsächsischen Mächte, zunächst Deutschland niederzuwerfen, rückte der europäische Kontinent wieder in den Blickpunkt des globalen Geschehens. Als im Sommer 1943 an der Ostfront die deutsche Offensive im Mittelabschnitt bei Kursk aufgrund mangelnder Durchschlagskraft und der alliierten Landung in Sizilien abgebrochen werden musste, war die militärische Initiative auf die Sowjets übergegangen. Im August 1944 waren die deutschen Truppen schließlich auf die Ausgangsstellung von 1941 zurückgedrängt. Nachdem auch an der Südfront im Frühsommer 1943 mit der Kapitulation der deutschen und italienischen Verbände in Afrika bzw. der Landung der Alliierten in Italien am 10. Juli 1943 sich die militärische Wende abgezeichnet hatte, rückte die Westfront immer deutlicher in das Zentrum der deutschen Strategie.

Das "Freie Frankreich" war von der französischen Widerstandsbewegung unter Charles de Gaulle proklamiert worden und besaß seine Machtpositionen zunächst in den französischen Kolonien, vor allem in Nordafrika und in der Emigration. Die deutsche Führung hatte sich daraufhin zur Besetzung der bisher unbesetzten, nur von der Vichy-Regierung kontrollierten Zonen im Süden Frankreichs am 11. November 1942 veranlasst gesehen. Auch der Staatsstreich in Italien am 25. Juli 1943, bei dem Mussolini abgesetzt wurde, signalisierte das nahende Ende der Faschismen und einen Frontwechsel der neuen italienischen Regierung unter Pietro Badoglio. Obwohl mit der alliierten Landung in Nordafrika am 8. November 1942 und der Eroberung Siziliens am 10. Juli 1943 der Weg über Südeuropa offen schien, begann die militärische Befreiung des europäischen Kontinents von der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 375 nationalsozialistischen Herrschaft mit voller Wucht erst durch die Invasion der Westalliierten in der Normandie am 6. Juni 1944. In Erwartung dieser Invasion hatte die deutsche Führung ihre militärische Hauptstoß- kraft von der Ostfront nach Frankreich verlagert, ohne dadurch die alliierte Landung verhindern und die Befreiung Frankreichs im Laufe des Spätsommers und Herbsts 1944 aufhalten zu können.

Totale Niederlage

Die Unfähigkeit des Regimes zur Politik zeigte sich schließlich auch im Unvermögen, einen rechtzeitigen Waffenstillstand oder auch einen Separatfrieden abzuschließen. So blieb am Ende nur die illusionäre Hoffnung auf einen Wechsel der Bündnisse, an die sich Hitler und Goebbels in ihren Untergangsvisionen klammerten. Die Möglichkeit eines Separatfriedens hatten die Alliierten allerdings schon durch die Konferenz von Casablanca im Januar 1943 weitgehend zu unterbinden versucht, als sie mit der Formel des "unconditional surrender" (bedingungslose Kapitulation) die widersprüchliche und nur durch die gemeinsame Gegnerschaft gegen das Hitler-Regime vereinte, Koalition bis zum militärischen Sieg zusammenzuhalten versuchten. Damit war aber dem Dritten Reich fast jeder politische Ausweg aus der drohenden totalen Niederlage und bedingungslosen Kapitulation genommen und die deutsche Gesellschaft noch fester an das NS-Regime gekettet. Seit dem Sommer 1944 waren die militärische Niederlage und das Ende des NS-Regimes absehbar und mit ihm der Untergang des Deutschen Reichs. Im Sommer 1944 machten sich die Alliierten in einer "Europäischen Beratenden Kommission" daran, einen Entwurf für die politische Kapitulation Deutschlands, ein Protokoll über die Aufteilung Deutschlands in einzelne Besatzungszonen und ein Abkommen über die alliierten Kontrolleinrichtungen zu verabschieden.

Die weitere Ausgestaltung dieser Absichtserklärungen auf künftigen Konferenzen der siegreichen Mächte hing auch von der weiteren Entwicklung ab. Während Stalin alles tat, um im von der Roten Armee eroberten Polen politisch vollendete Tatsachen zu schaffen und die Rote Armee bis an die Rigaer Bucht und die Grenzen Ostpreußens vorstieß, hatte Hitlers letzter Gegenschlag, die Ardennenoffensive, den Vormarsch der amerikanisch-britischen Truppen nur kurzzeitig stoppen können. Nach schweren Kämpfen wurde Aachen am 21. Oktober 1944 als erste deutsche Großstadt erobert, der weitere Vormarsch der Alliierten in Richtung Rhein blieb vorerst stecken. Unterdessen begann am 12. Januar 1945 an der gesamten Ostfront zwischen Memel und Karpaten die sowjetische Winteroffensive, die bereits Ende des Monats bis an die Oder vorstoßen konnte. Während Hitler am 16. Januar 1945 sein Führerhauptquartier in den Bunker unter der Berliner Reichskanzlei verlegte und an alle Divisionen Durchhaltebefehle erteilte, hatte in den eisigen Wintermonaten 1944/45 schon längst eine Massenflucht der deutschen Zivilbevölkerung aus Ost- und Westpreußen, aus Pommern und Schlesien begonnen. Riesige Flüchtlingstrecks hatten sich - oft mit erheblicher Verzögerung durch die Behinderung seitens der örtlichen NS-Dienststellen - vor den rasch vorrückenden sowjetischen Truppen auf völlig verstopften Straßen nach Westen in Bewegung gesetzt oder versucht, über die Ostseehäfen Königsberg und Pillau mit der deutschen Kriegsmarine zu entkommen. Wer von der Roten Armee eingeholt und überrollt wurde, dem drohten Verschleppung, Vergewaltigung oder Tod.

Trotz des erbitterten Durchhaltewillens der deutschen Soldaten war der militärische Zusammenbruch absehbar, auch weil der Kollaps der deutschen Kriegswirtschaft drohte. Von Speer schon seit dem Spätsommer 1944 vorhergesehen und in einer Denkschrift vom 15. März 1945 bekräftigt, war er weniger Folge der anhaltenden Bombardements der Westalliierten auf die deutsche Rüstungsindustrie, als vielmehr Folge des Verlustes verschiedener Rohstoffquellen wie etwa der rumänischen Erdölquellen und der Zerstörung des Verkehrsnetzes. Eine nachhaltige Wirkung erzielten die alliierten Bomberflotten mit ihren Angriffen auf Eisenbahnknotenpunkte, Brücken und Kanäle, ab Frühjahr 1944 auch auf die Ölraffinerien und Hydrierwerke. Die Zerstörungen der übrigen Industriebetriebe, die teilweise schon ausgelagert waren, hielten sich in Grenzen oder konnten rasch wieder behoben werden. Auch die Angriffe auf deutsche Wohngebiete, die 3,37 Millionen Wohnungen und vier Fünftel aller deutschen Großstädte zerstörten und mehr als 600.000 Menschen das Leben kosteten, haben weder die Waffenproduktion noch die Moral der deutschen Bevölkerung wirklich brechen können. Nicht allein

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 376 die technische und materielle Überlegenheit der Alliierten ließ die deutsche Niederlage seit 1943 unausweichlich werden, sondern auch Defizite in der Planung, Fehlentscheidungen in der Rüstungsplanung und in der operativen Führung, die auf die destruktiven Wirkungen des Führungschaos an der politischen Spitze des Reiches zurückgingen.

Die selbstzerstörerischen Kräfte, die im politischen System des "Dritten Reichs" angelegt waren, kamen in seinem Untergang deutlich zum Vorschein. Am 30. Januar 1945, als Hitler in einer Rundfunkansprache zum zwölfjährigen Jubiläum der NS-Machtübernahme wieder einmal den Durchhaltewillen angesichts der drohenden Gefahr des "asiatischen Bolschewismus" beschworen hatte, unterbreitete ihm Speer, dass nach dem bevorstehenden Verlust des Ruhrgebietes mit dem endgültigen Zusammenbruch der Wirtschaft zu rechnen sei und dass danach eine Fortsetzung des Krieges sinnlos wäre. Auch mit einer Denkschrift vom 15. März 1945 versuchte Speer Hitler davon zu überzeugen, daß er die letzten Reste der Wirtschaftsbasis für die Überlebenden erhalten müsse. Dies wollte Hitler nicht akzeptieren und ordnete am 19. März 1945 im so genannten "Nero-Befehl" die vollständige Zerstörung der deutschen Wirtschaft an. Der Rassenideologe sah keinen Grund mehr für die Erhaltung eines Volkes, das im Lebenskampf seiner Meinung nach unterlegen war. Das war auch Thema der Hasstiraden und Untergangsvisionen, die seine letzten Mitarbeiterbesprechungen im Führerbunker im April 1945 begleiteten: Das deutsche Volk habe versagt; es habe das Schicksal verdient, das es jetzt erwarte.

Auch in seinem politischen Testament, das er am 30. April 1945 in seinem Bunker in Berlin angesichts der vorrückenden Roten Armee formulierte, blieb er der Ideologe und radikale Rassenantisemit, der er immer war. Mit einer Propagandalüge verabschiedeten sich der Diktator und sein Regime von der Welt: Am 1. Mai 1945 meldete der Rundfunk "dass unser Führer Adolf Hitler heute nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist". Tatsächlich hatte er sich am 30. April, gegen 15.30 Uhr mit Gift das Leben genommen. SS-Leute hatten die Leiche im Garten der Reichskanzlei zu verbrennen versucht.

Quelle: Deutsche Geschichten http://www.deutschegeschichten.de (http://www.deutschegeschichten.de) Ein Internet-Angebot der Cine Plus Media Service GmbH & Co KG in Co-Produktion mit der Bundeszentrale für politsche Bildung/bpb.

Stand April 2005.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 377

Der Zusammenbruch des Dritten Reiches

Von Helmut Kistler 27.4.2005

Spätestens 1944 war die Niederlage Deutschlands abzusehen. Trotzdem wurde im letzten Kriegsjahr unerbittlich weitergekämpft. Am Ende sollte das Land gemeinsam mit Hitler untergehen. Warum kam dagegen kaum Widerstand aus der Führungselite und dem Militär? Was führte schließlich zum Ende des nationalsozialistischen Regimes?

Der Verlauf

Als der Krieg auf das Reichsgebiet übergriff, raffte die nationalsozialistische Führung die letzten Reserven zusammen. Die als "Reichsverteidigungskommissare" fungierenden Gauleiter sorgten mit allen Mitteln für die Aufrechterhaltung des Verteidigungswillens. Am 25. September 1944 veröffentlichte Hitler seinen Erlaß über die Bildung des Volkssturms aus allen waffenfähigen Männern von 16 bis 60 Jahren. Aufstellung, Ausbildung und Führung lagen in den Händen der Partei und ihrer Gliederungen. Die Einheiten konnten kaum noch ausgerüstet und überhaupt nicht mehr uniformiert werden: eine Armbinde wies sie als Soldaten aus. Im Februar 1945 wurden dann Frauen und Mädchen zum Hilfsdienst für den aufgerufen und hauptsächlich zu Schanzarbeiten und ähnlichem eingesetzt. Am 5. März 1945 wurde noch der Geburtsjahrgang 1929 zur Wehrmacht eingezogen.

Hier und da zu beobachtende Auflösungserscheinungen bei den fluchtartigen Rückzügen der Frontgruppen begegnete man mit brutalen Mitteln. Am 15. Februar 1945 erschien eine Verordnung des Reichsjustizministers über die Errichtung von Standgerichten. Zahllose Todesurteile sollten den Soldaten Schrecken einjagen und sie zum Ausharren in ihren unhaltbar gewordenen Stellungen zwingen. Die Urteile der Standgerichte lauteten entweder auf Tod oder Freispruch. Die Todesurteile wurden durch Erschießen oder, wenn es sich um "besonders ehrlose Lumpen" handelte, durch Erhängen vollstreckt. An den Erhängten wurden Schilder befestigt: "Ich hänge hier, weil ich ein Defätist bin." - "Ich bin ein Deserteur, deswegen werde ich die Schicksalswende nicht mehr erleben." - "Ich hänge hier, weil ich nicht an den Führer glaubte." Diese öffentlichen Exekutionen wurden von fanatischen "Gerichtsherren" bis in die Agoniephase des Systems unerbittlich angeordnet und ausgeführt. Aber selbst mit diesen Methoden war die Front nicht mehr zum Stehen zu bringen. Deprimiert durch die ständigen Rückschläge, die materielle Überlegenheit des Gegners, die Ungewißheit über das Schicksal ihrer Angehörigen im Bombenkrieg, wollten die völlig erschöpften Soldaten nichts anderes mehr als ein Ende des grausamen Krieges.

Des "Führers" erklärte Absicht war es jedoch, Volk und Land zu zerstören. Am 19. März 1945 befahl er die Vernichtung "aller militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes". Speers Denkschrift über die Erhaltung der Lebensbasis des deutschen Volkes für die Zeit nach dem Krieg fand nicht die Billigung Hitlers. Mit ihm sollte auch Deutschland stürzen! Am 27. Januar 1942 hatte er im Führerhauptquartier geäußert: "... Ich bin auch hier eiskalt: Wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, sich für seine Selbsterhaltung einzusetzen, gut: dann soll es verschwinden." Ende März 1945 wiederholte er diese Ansicht gegenüber Speer: "Wenn der Krieg verloren geht, werde auch das Volk verloren sein. Es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zum primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil sei es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hätte sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft. Was nach dem Kampf übrigbleibt, seien ohnehin die Minderwertigen; denn die Guten seien gefallen."

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 378

Goebbels und Bormann bestärkten ihren Führer in dieser Überzeugung. Trotzdem versuchten Ribbentrop, mit Wissen Hitlers, Göring und Himmler, auf eigene Initiative, sowie Giebels unmittelbar nach dem Tod Hitlers Verhandlungen mit den Gegnern aufzunehmen. Allen Kontaktversuchen gemeinsam war das Bemühen, durch separate Waffenstillstandsangebote an die Westmächte oder die Sowjetunion eine Sprengung der alliierten Koalition herbeizuführen. Da auch Hitler in seinem Wunschdenken einen Zerfall des gegnerischen Bündnisses Anfang 1945 für nahe bevorstehend hielt, ließ er Ribbentrop freie Hand. Der Versuch scheiterte. Göring und Himmler wurden wegen der von ihnen eingeleiteten Gespräche von Hitler aller Ämter enthoben und aus der Partei ausgestoßen.

Eine der letzten Verzweiflungsmaßnahmen der nationalsozialistischen Führung war die Schaffung der Organisation "", die hinter den feindlichen Linien mit allen Mitteln den Kampf fortsetzen sollte. Die Auswirkung der letzten Befehle, die Hitler aus seinem bombensicheren Bunker unter der Reichskanzlei erließ, war grausig: Einheiten von 12- und 13jährigen Hitlerjungen, deren jugendlicher Idealismus und Opferwille nun ebenso mißbraucht wurde wie der der vorhergehenden Generation, verbluteten im Feuer der gegnerischen Panzer; 60jährige, Frauen und Mädchen fielen den Angreifern zum Opfer. Nachdem der Krieg etwa 5,25 Millionen Deutsche das Leben gekostet hatte, über 55 Millionen Menschen anderer Nationen durch die Kriegsereignisse umgekommen waren und ein unübersehbarer Schaden an Sachwerten entstanden war, beging Hitler am 30. April 1945 Selbstmord. Erst jetzt löste sich der Bann von seinen Untergebenen. Sie folgten der Stimme der Vernunft und boten die bedingungslose Kapitulation an. Am 9. Mai 1945 trat sie in Kraft.

Die Ursachen

Das Ende des nationalsozialistischen Regimes ist selbstverständlich nicht auf nur eine Ursache zurückzuführen. Es ist auch nicht möglich, eine Rangfolge der Ursachen aufzustellen. Die verschiedenen Gründe standen in engem Zusammenhang und verstärken sich gegenseitig. Zählt man die für den Untergang des nationalsozialistischen Regimes maßgeblichen Gründe auf, so ist an erster Stelle die verfehlte Außenpolitik Hitlers zu nennen, die Deutschland frühzeitig isolierte und immer weitere Staaten in das gegnerische Lager führte. Bei der Konzeption dieser Außenpolitik stand nicht die realistische Beurteilung der tatsächlichen Machtverhältnisse obenan, sondern die aus der nationalsozialistischen Ideologie abgeleitete Wunschvorstellung. Die unmittelbare Folge war eine laufende Verschiebung des wirtschaftlichen und menschlichen Kräftepotentials zuungunsten Deutschlands. Wovor Einsichtige bereits 1938 gewarnt hatten, daß nämlich die Weiterführung der nationalsozialistischen Außenpolitik in eine ausweglose Situation führen müsse, trat zwar relativ spät, aber dann um so abrupter ein.

Daß überhaupt so lange durchgehalten werden konnte, lag zunächst einmal an der konsequenten Wirtschaftslenkung seit dem Amtsantritt Speers und an der rigorosen Nutzbarmachung fremder Räume und nichtdeutscher Arbeitskräfte zugunsten der deutschen Kriegswirtschaft. Der wesentlichste Grund dürfte freilich sein, daß das deutsche Volk bereit war, unerhörte Leiden, Bürden und Entbehrungen zu ertragen. Es war der nationalsozialistischen Propaganda gelungen, durch die Parolen vom "nationalen Aufbruch" und vom "deutschen Erwachen" vor allem Jugendliche zur Mitarbeit anzufeuern. Da sie glaubten, sich "für Deutschland" einzusetzen, waren zwei Generationen Deutscher bereit, besonders während des Krieges große Opfer auf sich zu nehmen. Zunächst ließen sie sich begeistern, später verschlossen sie die Augen vor den Auswüchsen, um sich vor Enttäuschung oder "Verrat" zu bewahren. Im übrigen tat das Regime natürlich alles, um mit Drohung und Terror die eventuell Zweifelnden oder Widerspenstigen "zur Räson" zu bringen.

Nicht unbedeutend war sicher auch die Wirkung von Goebbels' Parole "Wir sitzen alle in einem Boot!" Sie suggerierte einerseits, bei gemeinsamer extremer Anstrengung sei eine Wende doch noch möglich, andererseits stärkte sie das Gefühl, diesmal sei aufgrund der unleugbaren Schuld am Kriegsausbruch und an kriminellen Vorgängen in den besetzten Ländern ein Über-Versailles zu erwarten. Die Alliierten bestätigten diese Furcht durch ihre Weigerung, ein "anderes Deutschland" anzuerkennen, womit sie

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 379 sich praktisch die andere NS-Propagandafloskel "Hitler ist Deutschland – Deutschland ist Hitler" zu eigen machten. Schließlich haben sicherlich die Brutalität, die Grausamkeit und die Hemmungslosigkeit der siegreichen Roten Armee im Zerstören und Quälen insofern kriegsverlängernd gewirkt, als sie den Willen, Widerstand bis zum äußersten zu leisten noch einmal entfachten.

Von einem bestimmten Zeitpunkt an war freilich trotz aller Anspannungen die Überlegenheit der Sieger an Rohstoffen, Produktionskraft und Menschenreserven auf den Kriegsschauplätzen und in der Heimat so erdrückend, daß die Fronten zusammenbrechen mußten. Auch infolge der nur mehr mangelhaften Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung der zuletzt weit überalterten bzw. zu jungen Ersatzmannschaften war die militärische Agonie schließlich unvermeidlich.

Die Frage, ob militärischer Geheimnisverrat entscheidend zum Verlust des Krieges beigetragen hat, ist auf der Grundlage inzwischen veröffentlichter Literatur über die Spionage immer wieder gestellt worden. Sie ist nach wie vor mit "nein" zu beantworten. Die Übermittlung von Informationen erleichterte ganz sicher den Gegnern das Handeln. Da es den Engländern zum Beispiel gelungen war, die deutsche Dechiffriermaschine nachzubauen, war die Schlüsselsicherheit, auf die sich die Wehrmacht verließ, seit 1940 gebrochen. Aber die Kenntnis der Operationspläne und der Kampfstärken war stets nur ein Faktor neben vielen für den Ausgang der Schlachten. So wenig der Verrat die deutschen Erfolge bis 1942 entscheidend beeinträchtigte, so wenig können auch die folgenden Niederlagen allein auf Spionage zurückgeführt werden. Einzelne Vorgänge sind sicher in ihrem Ablauf verändert und der Krieg insgesamt wahrscheinlich verkürzt worden. Eine neue "Dolchstoß-Legende" entbehrt jedoch jeder Grundlage. Neben den bereits genannten Gründen bilden sicherlich die Führungsfehler einen weiteren Hauptgrund dafür, daß trotz großer soldatischer Tapferkeit alle Anstrengungen schließlich umsonst waren.

Die Aufzählung der Ursachen wäre jedoch sicher unvollständig, wenn man sich auf die verfehlte Außenpolitik, die dilettantische militärische Führung durch Hitler und die wirtschaftliche und menschliche Erschöpfung beschränken würde. Man darf die Augen nicht davor verschließen, daß die nationalsozialistische Weltanschauung mit dem Rassismus als Kern den Keim zum späteren Zusammenbruch bereits von Anfang an in sich trug. Die Rassenideologie bewirkte den maßlos überheblichen Führungsanspruch der "nordischen Rasse", entscheiden zu wollen, wer künftig in Europa führen, wer als "Schädling" vernichtet, wer als geduldeter Sklave am Leben bleiben dürfe. Dieser Anspruch mußte ein friedliches Zusammenleben mit anderen Völkern auf die Dauer unmöglich machen. In dieser gemeinsamen Gefahr für die Betroffenen liegt ein Grund dafür, daß über alle weltanschaulichen Gegensätze hinweg eine weltweite Anti-Hitler-Koalition zusammengeführt wurde, der zuletzt 52 Staaten angehörten.

Hitlers "Neuordnungspläne" hatten es zustandegebracht, daß alle ideologischen Differenzen zwischen den Demokratien und dem kommunistischen Rußland zeitweilig überdeckt wurden. Die Bedrohten nahmen Hilfe, woher immer sie auch kam. Abgesehen also davon, daß die nationalsozialistische Ideologie und der daraus abgeleitete Herrschaftsanspruch inhuman waren und in maßloser Selbstüberschätzung willkürlich Lebensrechte absprachen bzw. zuteilten, müssen Hitlers Weltanschauung und die aus ihr entwickelte Politik als kurzsichtig und unsinnig bezeichnet werden. Durch sie setzte er die 1933 gesicherte Position Deutschlands um unrealistischer Ziele willen aufs Spiel und verstieß damit eklatant gegen die elementaren Interessen des deutschen Volkes. Diese Politik löste nicht nur keines der 1933 anstehenden Probleme, sondern bewirkte direkt die außenpolitische Isolierung, schloß das Risiko des Krieges von Anfang an ein, entfesselte ihn schließlich und führte von 1941 an in den sich zwangsläufig entwickelnden Zusammenbruch.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 123/126/127) - Der Zusammenbruch des Dritten Reiches

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 380

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 381

Kriegsziele der Alliierten

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 6.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Bereits im Januar 1943 hatte die Anti-Hitler-Koalition auf der Konferenz von Casablanca die bedingungslose Kapitulation Hitler-Deutschlands zu ihrem Ziel erklärt. Kurz vor der Kapitulation im Frühjahr 1945 musste sich die ungleiche und von Misstrauen geprägte Allianz über die Zeit nach der Niederwerfung verständigen.

Einleitung

Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Säkulares Ausmaß erreichte er mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 und der Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941. Es war ein Krieg der Ideologien und ein Vernichtungskrieg ohne Parallele in der Geschichte. Auf 33 Millionen wird die Zahl der Opfer nichtdeutscher Nationalität geschätzt, zwischen vier und fünf Millionen Deutsche fanden den Tod. Beispiellos war der Zweite Weltkrieg auch wegen der Verbrechen, denen er als Hintergrund gedient hatte: der Völkermord an den europäischen Juden, an Sinti und Roma, die Ermordung von Kriegsgefangenen, die Ermordung von Behinderten und die Versklavung der polnischen und russischen Zwangsarbeiter. Dem Vernichtungsfeldzug im Zeichen der nationalsozialistischen Ideologie des deutschen "Herrenmenschentums" und des Weltherrschaftsstrebens wurde im Verständnis der westalliierten Demokratien ein Kreuzzug zur Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus entgegengesetzt. Die Sowjetunion strebte nach Befreiung von Besatzung und Bedrohung und dann, im Zeichen ihrer expansiven Ideologie, nach Erweiterung und Befriedung ihres Einflussgebiets. Dieser Krieg endete mit der vollkommenen Niederlage des Aggressors, der Eliminierung seiner Ideologie und der Bestrafung eines Großteils seiner Exponenten durch öffentliche Gerichtsverfahren.

Konferenz von Jalta

Über die Behandlung Deutschlands nach seiner Niederlage hatten sich die Alliierten auf mehreren Konferenzen verständigt. Vom 4. bis 11. Februar 1945 trafen sich in Jalta auf der Halbinsel Krim die "Großen Drei", US-Präsident Franklin Delano Roosevelt, der britische Premierminister Winston Churchill und der sowjetische Diktator Josef Stalin.

Stalin ging es in Jalta vor allem darum, Ost- und Südosteuropa weitgehend als Interessensphäre der Sowjetunion anerkannt zu erhalten. In Ansehung der Widerstände Churchills wollte er doch wenigstens auslegungsfähige Formeln hinsichtlich Polens (Anerkennung der verschobenen Ostgrenze zur Sowjetunion und der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze zu Deutschland) erzielen und die sowjetische Rolle gegenüber den Balkanstaaten festschreiben lassen. Ferner war Stalin an der Festlegung der Reparationssumme interessiert, die Deutschland auferlegt werden müsste und am Anteil, den die UdSSR davon erhalten sollte. Stalin schlug 20 Milliarden US-Dollar als Gesamtsumme vor, davon verlangte er 10 Milliarden Dollar. Diese Forderung war in Jalta noch theoretisch zu erörtern, ein halbes Jahr später in Potsdam trug sie erheblich zur Verschlechterung der Beziehungen zu den Westmächten bei.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 382

Das Anliegen des amerikanischen Präsidenten Roosevelt bei der Jalta-Konferenz bestand vor allem darin, von Stalin die Zusage zum Kriegseintritt gegen Japan (nach der Niederlage Deutschlands) zu erlangen, und er wollte sich der Kooperation der Sowjetunion bei der Errichtung der Vereinten Nationen versichern. Die Gründung einer dauerhaften Friedensorganisation war seit der Atlantik-Charta von 1941 das feierlich deklarierte wichtigste Kriegsziel der USA. Drittens wollte Roosevelt, ebenso wie Churchill, den Expansionsdrang der Sowjets in Ost- und Südosteuropa nicht ganz außer Kontrolle geraten lassen.

Die Verhandlungen in Jalta waren ziemlich chaotisch, weil die westlichen Verbündeten dem östlichen Partner misstrauten, weil so viele Wechsel auf eine ungewisse Zukunft ausgestellt werden mussten und weil die Interessen der Beteiligten so differierten. Die Tragweite einiger Verabredungen sollte sich deshalb erst viel später herausstellen. Etwa die verhängnisvollen Konsequenzen für Hunderttausende von Sowjetbürgerinnen und -bürgern, die im Gefolge der deutschen Wehrmacht - freiwillig oder unfreiwillig - ihre Heimat verlassen hatten. Sie wurden nach dem 8. Mai 1945 durch Repatriierungskommissionen, ob sie wollten oder nicht, in die Sowjetunion zurückgebracht, wo auf die meisten eine düstere Zukunft wartete.

Wichtig für Deutschland war der Beschluss der Großen Drei, die vollständige Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands sicherzustellen und dem besiegten Gegner hohe Reparationen aufzuerlegen. Und von erheblicher Bedeutung war auch das Übereinkommen, Frankreich (das hieß, dessen provisorische Regierung unter Charles de Gaulle) als vierte Macht zur Teilnahme an der alliierten Kontrolle Deutschlands einzuladen und den Franzosen eine eigene Besatzungszone einzuräumen. Die französische Besatzungszone wurde im Südwesten aus den bereits festgelegten amerikanischen und britischen Okkupationsgebieten herausgeschnitten, die sowjetische Zone sollte unverändert bleiben. Und an der gemeinsamen Verwaltung der Hauptstadt Berlin sollte Frankreich ebenfalls beteiligt sein. Die ursprünglich vorgesehene Einteilung Berlins in drei Sektoren wurde korrigiert, Frankreich erhielt einen eigenen Sektor zugewiesen.

Ebenso wie zum Gipfeltreffen in Jalta im Februar wurde de Gaulle aber auch nicht zur letzten Kriegskonferenz nach Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 eingeladen. Das Bewusstsein, nur als Größe zweiten Ranges betrachtet und behandelt zu werden, kränkte in Paris ungemein. Für die französische Deutschlandpolitik der nächsten Jahre hatte dies Folgen, weil Frankreich, um seine eigenen Ziele durchzusetzen, zunächst alle gemeinsamen Beschlüsse über Deutschland blockierte.

Pläne zur Aufteilung Deutschlands

Die Pläne und Überlegungen zur Aufteilung und Zerstückelung Deutschlands erwiesen sich in der Endphase des Krieges ziemlich rasch als überholt. Ein britischer Planungsstab war schon im Herbst 1944 zu dem Ergebnis gekommen, dass eine politische Zergliederung Deutschlands dessen Wirtschaftskraft so schwächen würde, dass mit ernsten Problemen zu rechnen sei: Es drohe die Abhängigkeit der neuen Staatsgebilde von anderen Ländern, das Absinken des Lebensstandards, wodurch die Unabhängigkeit der neuen Staaten in Gefahr geriete und die Reduzierung der deutschen Leistungsfähigkeit im Hinblick auf die zu zahlenden Reparationen. Zu den wichtigsten Argumenten der britischen Experten gehörte die Überlegung, dass eine Zerstückelung die Verarmung Deutschlands zur Folge haben, die Erholung der ganzen Welt von den Kriegsschäden verlangsamen und somit auf lange Sicht auch den britischen Wirtschaftsinteressen schaden würde. Ebenso war der legendäre "Morgenthau-Plan", mit dem der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau Deutschland zum Agrarland ohne Industrie machen wollte, schon Ende 1944 wieder vom Tisch.

Der britische Schatzkanzler John Anderson hatte sich Anfang März 1945 gegen Pläne zur Aufteilung Deutschlands gewandt. Auch er führte ökonomische Gründe an, als er in einem Memorandum schrieb, nach seiner Auffassung könne Großbritannien entweder eine Reparations- oder eine Zerstückelungspolitik verfolgen, aber bestimmt nicht beides auf einmal.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 383

Die Absicht, Deutschland zu zergliedern, wie sie auf der Teheraner Gipfelkonferenz der Anti-Hitler- Koalition im November 1943 propagiert, auf der Krimkonferenz im Februar 1945 scheinbar bekräftigt und durch die Einsetzung einer entsprechenden Kommission institutionalisiert worden war, wurde tatsächlich schon im Februar 1945 begraben. Die ökonomisch denkenden Politiker in Washington und London wollten sich nicht selber Schaden zufügen: Eine kontrollierte deutsche Industrie würde bei gleichzeitiger Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands sowohl Sicherheit garantieren als auch den britischen Wirtschaftsinteressen entsprechen.

Davon versuchte der britische Außenminister Robert Anthony Eden die Politiker zu überzeugen, die nur an die Niederhaltung Deutschlands dachten: Eine Handvoll deutscher Kleinstaaten würde für die Sieger des Weltkrieges ökonomisch ein Ballast und politisch ein Unruheherd sein. Beides zusammen würde für die erhoffte neue Ordnung Europas eine schwer erträgliche Hypothek bilden.

Die antikommunistischen Schlagworte der nationalsozialistischen Propaganda haben die Vorstellungswelt der Deutschen weit über das Jahr 1945 hinaus beeinflusst. Ein Teil dieser Parolen war, weil er im Westen auch in der Zeit des Kalten Krieges verwendet wurde, besonders wirksam und dauerhaft, und diente auch als Trost in der Niederlage. Die antikommunistischen Parolen erleichterten dem Westen Deutschlands die Unterwerfung unter die Sieger, weil man diese bald als Schutzmächte vor der stalinistischen Sowjetunion begreifen lernte.

Kalter Krieg statt Friedensordnung

Vom 17. Juli bis 2. August 1945 trafen sich im Schloss Cecilienhof in Potsdam die Regierungs- bzw. Staatschefs der drei Großmächte zu ihrer letzten Kriegskonferenz. Das Treffen sollte eigentlich in Berlin stattfinden (und amtlich hieß es auch "Berliner Konferenz"), aber in der zerstörten Reichshauptstadt waren weder Unterkünfte noch Konferenzräume vorhanden. Das benachbarte Potsdam bot, nach einiger Improvisation, die Möglichkeiten zu einer solchen Veranstaltung.

Aus Washington war der neue US-Präsident Harry S. Truman, Nachfolger des im April 1945 verstorbenen Roosevelt, gekommen; Großbritannien war durch Premierminister Winston Churchill vertreten, der allerdings auf dem Höhepunkt der Konferenz eine Wahlniederlage erlitt und durch den Führer der siegreichen Labour Party Clement Attlee ersetzt wurde. Stalin war als einziger Regierungschef der Anti-Hitler-Koalition seit Kriegsbeginn dabei gewesen.

Potsdamer Abkommen

Das als "Potsdamer Abkommen" bekannte Dokument ist eine Kurzfassung des "Protocol of Proceedings", in dem die Beschlüsse, Vereinbarungen und Absichtserklärungen der Regierungschefs der drei Großmächte festgehalten sind. In rechtlicher Hinsicht ist das "Potsdamer Abkommen" kein völkerrechtlicher Vertrag, was die Gültigkeit und Wirkung der Verabredungen jedoch keineswegs behinderte. Das "Verhandlungsprotokoll" ist nicht zu verwechseln mit wörtlichen Berichten über den Gang der einzelnen Sitzungen. Die wichtigsten Verabredungen der Potsdamer Konferenz waren:

Die Errichtung eines Rats der Außenminister der fünf Hauptmächte (USA, Großbritannien, Sowjetunion, Frankreich und China) zur Vorbereitung von Friedensverträgen mit Deutschlands Verbündeten, zur Regelung ungelöster territorialer Fragen und zur Beratung und Lösung der deutschen Frage. Die Festlegung politischer und wirtschaftlicher Grundsätze für die Behandlung Deutschlands in der Besatzungszeit, und zwar: Ausübung der Regierungsgewalt durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der vier Großmächte in ihren Besatzungszonen und gemeinsam im Alliierten Kontrollrat; völlige Abrüstung und Entmilitarisierung, Auflösung aller Streitkräfte, einschließlich der SS und SA, Auflösung der NSDAP, Aufhebung aller nationalsozialistischen Gesetze, Entnazifizierung der Bevölkerung, Verhaftung und Verurteilung der Kriegsverbrecher, Demokratisierung des Erziehungssystems, der Justiz, der Verwaltung und des öffentlichen Lebens; Verbot der Waffenproduktion, BeschrÀ¤nkung der Industriekapazität, Dezentralisierung und Dekartellisierung der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 384

Wirtschaft unter alliierter Kontrolle.

Deutschland sollte trotz der Einteilung in Besatzungszonen als wirtschaftliche Einheit betrachtet werden. Reparationen: Die Sowjetunion sollte ihre Ansprüche (und die Polens) aus ihrer Besatzungszone befriedigen, die Ansprüche der Westmächte und aller anderen Gläubiger sollten aus den westlichen Besatzungszonen erfüllt werden, die Sowjetunion sollte darüber hinaus Industrieausrüstungen und andere Reparationsleistungen aus den Westzonen erhalten.

Königsberg und das nördliche Ostpreußen fielen ("vorbehaltlich endgültiger Friedensregelung") an die Sowjetunion. Die Oder-Neiße-Linie bildete ("bis zur endgültigen Festlegung") die Westgrenze Polens. "Ordnungsmäßige Überführung" - wie die euphemistische Umschreibung im Protokoll lautete - der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland.

Zu den Grundlinien des westalliierten Verständnisses gehörte die Betonung der zeitlich befristeten Funktionen der Potsdamer Beschlüsse über Reparationen, Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands ebenso wie über territoriale Fragen. Und zum Grundverständnis gehörte es in den ersten Nachkriegsjahren auch noch, dass Potsdam die erste Station auf dem Weg zu einer Friedensregelung sein würde, die, vom dazu institutionalisierten "Rat der Außenminister" vorbereitet, in einem Friedensvertrag mit Deutschland gipfeln würde. Darauf setzten auch die Deutschen ihre Hoffnungen, und dazu gehörte anfänglich die Vorstellung der Vereinigung der vier Besatzungszonen zu einem neuen deutschen Staat - das war in Aussicht gestellt - und die Vorstellung des Rückgewinns wenigstens eines Teiles der verlorenen Ostgebiete.

Vertreibung der Deutschen

Auf der Potsdamer Konferenz hatten im Sommer 1945 die drei Großmächte festgeschrieben, was längst beschlossen war: die Vertreibung der deutschen Minderheiten aus Polen, aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn. Die deutschen Ostgebiete, die an Polen fallen sollten und die von der Roten Armee bereits der Verwaltung durch die provisorische polnische Regierung unterstellt worden waren, seien menschenleer. Die Deutschen seien alle geflohen, hatte Stalin in Potsdam behauptet und damit die Konferenzteilnehmer beruhigt, sofern sie überhaupt beunruhigt waren.

In humanen Formen sollte die Vertreibung erfolgen, die Churchill im Dezember 1944 vor dem britischen Unterhaus "das befriedigendste und dauerhafteste Mittel", Frieden zu stiften, genannt hatte: "Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen wie zum Beispiel im Fall von Elsass-Lothringen. Reiner Tisch wird gemacht werden". Der Begriff "ethnische Säuberung" existierte damals noch nicht, aber er war gemeint.

Vertreibung aus dem Sudetenland

Ich wohnte mit meinen drei Kindern in Freiwaldau, Ostsudetenland. [...] Am 26. Juli 1945 kamen plötzlich drei bewaffnete tschechische Soldaten und ein Polizist in meine Wohnung, und ich mußte dieselbe binnen einer halben Stunde verlassen. Ich durfte gar nichts mitnehmen. Wir wurden auf einen Sammelplatz getrieben und wußten nicht, was mit uns geschehen wird. [...] Unter starker Bewachung mußten wir auf dem Sammelplatz viele Stunden warten, gegen Abend wurden wir unter gräßlichen Beschimpfungen und Peitschenschlägen aus dem Heimatort fortgeführt.

Nach sechsstündigem Fußmarsch mußten wir im Freien übernachten und wurden dann eine Woche lang in einem primitiven Lager, einem Kalkwerk, festgehalten. Verpflegung gab es keine, und wir mußten mit dem wenigen, was wir uns an Essen mitgenommen hatten, auskommen. Es wurde uns

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 385 immer noch nicht gesagt, was mit uns geschehen soll, bis wir am 2. August 1945 zum Bahnhof mußten und auf offenen Kohlenwagen und Loren verladen wurden. Vor Abfahrt des Transportes bekamen wir pro Eisenbahnwagen 1 Brot. Während der Fahrt regnete es in Strömen, und wir wurden bis auf die Haut naß, abgesehen davon, daß wir dabei Todesangst ausstehen mußten. Die Kinder wurden krank, und ich wußte mir vor Verzweiflung bald keinen Rat. Nach zwei Tagen wurden wir in Tetschen ausgeladen. Wir waren hungrig und erschöpft und mußten in diesem Zustand den Weg bis zur Reichsgrenze zu Fuß antreten. Wir wurden mit Peitschenhieben und Schreckschüssen immer wieder angetrieben, und viele sind am Wege liegen geblieben. [...] Beim zweiten Schlagbaum wurden unsere Ausweise von russischem Militär geprüft, und dann waren wir für den weiteren Weg auf uns selbst gestellt. [...] Wir wurden von einem Ort zum anderen gewiesen, bis wir endlich am 22. August 1945 eine Unterkunft zugeteilt erhielten.

Mein Mann wurde im Juni 1946 als Schwerkriegsbeschädigter aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, und wir müssen hier, da wir vollständig mittellos sind, in großer Not und Sorge unser Leben fristen. Die in der Heimat zurückgelassenen Sparguthaben und andere Vermögenswerte betragen 112.000,- RM. Ich und mein Mann waren in der Heimat nicht politisch tätig, und die menschenunwürdige Ausweisung, durch die wir zu Bettlern gemacht worden sind, ist ein himmelschreiendes Unrecht. Wir sehnen uns in unsere geliebte Heimat zurück und hoffen, daß uns das geraubte Menschenrecht wiedergegeben wird.

Wolfgang Benz (Hg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt a. M. 1995, S. 138f.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 259) - Kriegsziele der Alliierten (http://www.bpb. de/izpb/10044/kriegsziele-der-alliierten)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 386

Erinnerungen an den Luftkrieg in Deutschland und Großbritannien

Von Dietmar Süß 29.4.2005 Dr. phil., geb. 1973; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ); Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians- Universität München. IfZ, Leonrodstraße 46b, 80636 München.

E-Mail: [email protected]

Die Bombardierung von Großstädten machte die Zivilbevölkerung wie nie zuvor zum Opfer des Kriegs. In Großbritannien gingen diese Erlebnisse sofort in die kollektive Erinnerung ein. In Deutschland erfahren sie erst in jüngster Zeit Aufmerksamkeit. Wie erzählen Menschen und Medien in beiden Ländern davon?

Einleitung

Kein anderer Aspekt des Krieges hat in den vergangenen Monaten größere mediale Aufmerksamkeit erhalten als der alliierte Luftkrieg gegen deutsche Städte: öffentlich-rechtliche Fernsehreportagen zur besten Sendezeit, eine Flut von neuen Büchern, Stadtchroniken, Gedenkfeierlichkeiten, Zeitzeugenerinnerungen - und jüngst der politisch umkämpfte Erinnerungsmarathon in Dresden[1].

Im Anschluss an das Buch von Jörg Friedrich[2] fügte sich die Debatte ein in eine allgemeine Konjunktur literarischer und publizistischer Arbeiten, die seit Mitte der neunziger Jahre verstärkt nach den Erfahrungen und Verarbeitungsmustern von Luftkrieg, Flucht und Vertreibung, nach der deutschen Opferperspektive im Zweiten Weltkrieg fragten.[3] Dabei war nicht nur bemerkenswert, dass diese Art der Auseinandersetzung um die moralische Legitimität des Luftkrieges die deutsche und britische Öffentlichkeit bewegte,[4] sondern vor allem, auf welche Weise sie es tat, mit welchen Argumenten, Denkmustern und Begriffen.

Schon frühzeitig ist dabei klar geworden, wie stark die Perzeption des Luftkrieges als "deutsches Tabu" weniger präzise Beschreibung als vielmehr selbst Teil einer der unterschiedlichen Erzählungen war, in denen nach 1945 der alliierten Kriegführung gedacht wurde. Dabei geriet schnell in Vergessenheit, dass Deutschland trotz der hohen Opferzahl keinesfalls ein "Monopol" auf die leidvolle Erfahrung von Bombennächten besaß. Das galt beispielsweise für Polen, die UdSSR und insbesondere für Großbritannien. Dort spielte die Erinnerung an die Nächte in den Londoner U-Bahnschächten schon während des Krieges eine zentrale Rolle als nationaler Referenzpunkt, als Abgrenzungsstrategie gegenüber dem Kriegsgegner und als massenwirksames Mobilisierungselement.

Welche unterschiedlichen Deutungsmuster des Luftkrieges dominierten in der Nachkriegszeit in beiden Ländern und waren dabei besonders wirkungsmächtig? Um diese Frage zu beantworten, richtet sich der Blick weniger auf die vielfältigen lokalen Erinnerungsformen an dieser Stelle.[5] Primär soll es um solche Erzählweisen gehen, die den diskursiven Rahmen absteckten, in dem an den Luftkrieg erinnert wurde, und damit die überwiegende Mehrheit der wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten seit Kriegsende prägten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 387

Die deutsche Meistererzählung vom Luftkrieg

Mit Jörg Friedrich hat die Geschichte des Luftkrieges ihren zugleich sprachgewaltigsten und problematischsten Vertreter gefunden. Seine Darstellung spannt einen weiten Bogen: von der militärtechnischen Entwicklung über die strategische Entscheidung für das "moral bombing", von der Zerstörung deutscher Städte bis hin zur individuellen Verlust- und Leidensgeschichte der deutschen Bombenkriegsgeschädigten. Aus der Vielzahl lokaler Erinnerungsberichte, stadthistorischer Chroniken und Zeitzeugeninterviews komponiert Friedrich eine Geschichte des Luftkrieges, die sich nicht an der Bedeutung von Raum und Zeit, an systemstrukturellen Charakteristika der NS-Herrschaftsgeschichte, sondern an einem gleichsam naturgewaltigen und überzeitlichen "Totalen Krieg" als Daseinsform orientiert.[6]

Friedrich inszeniert den Luftkrieg als Geschichte eines großen "Zivilisationsmassakers", als Kampf zwischen dem schutzlosen deutschen "Zivil"[7] und der alles Leben und Kultur zerstörenden Bombe. Einmal in Gang gesetzt, führt die Logik des Luftkrieges zur absoluten Vernichtung, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Das Massaker ist die Folge, und betroffen waren davon, wie Friedrich meint, wehrlose "Volkskrieger", bei denen es sich nach "bürgerlichem Verständnis" um "ohnmächtig Erschlagene" handelte.[8] Die sprachliche Form, mit der Friedrich sein "Epos" bewältigt,[9] passt zur Massaker- und "Massenabschlachtung(s)"-Erzählung,[10] für die er gezielt solche Begriffe benutzt, die bisher semantisch eng mit dem Holocaust und anderen NS-Gewaltverbrechen verbunden waren.

Über die Fragwürdigkeit dieser Interpretation lässt sich vieles sagen.[11] Bemerkenswert ist jedoch, dass Friedrichs Darstellung des Luftkrieges trotz ihrer Zuspitzung auf eine Reihe von Vorbildern zurückgreifen kann, deren Erzählstruktur in eine ähnliche Richtung weist. Der Bombenkrieg - das war in diesem Sinne der sinnlose Kampf gegen unschuldige deutsche Frauen und Kinder, ein barbarischer Vernichtungsexzess mit seinem Höhepunkt "Dresden". In dieser Hinsicht war es nicht der deutsche Vernichtungskrieg im Osten, sondern der alliierte Luftkrieg, der den Schritt zur Brutalisierung des "Totalen Krieges" markierte.[12]

Diese in unterschiedlichen Variationen äußerst einflussreiche Meistererzählung des Luftkrieges fand ihren frühesten, sogar staatlich sanktionierten Ausdruck in den "Dokumenten deutscher Kriegsschäden", deren erster Band 1958 erschien.[13] Das Großvorhaben stammte wie das Vertreibungs-Projekt aus dem Hause Theodor Oberländers,[14] wobei der Impuls nicht aus dem Bundesministerium für "Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte", sondern vom Zentralverband der Fliegergeschädigten kam.[15] Dabei ging es den Lobbyisten der Ausgebombten und Evakuierten um zweierlei: Sie wollten durch das editorische Projekt die eigene Opferrolle gewürdigt sehen, und sie wollten einen Hebel in die Hand bekommen, um rechtliche Ansprüche auf Entschädigung verlorenen Eigentums besser einklagen zu können. Im Mittelpunkt der Edition stand die Dokumentation des Lastenausgleichs, Regelungen für Entschädigungszahlungen von "Währungsgeschädigten" sowie rechtliche Hilfen für Evakuierte.

Das Ministerium stellte dem Werk zwei Bände voraus, welche die historischen Hintergründe analysieren sollten: eine Geschichte des Luftkrieges und eine Aufstellung der erlittenen kulturellen, wohnungsbaulichen und finanziellen Verluste des Deutschen Reiches. So nüchtern der darstellende Teil über weite Strecken war, unübersehbar blieb dennoch, wen man auf deutscher Seite für den ersten Schritt zur Gewalt verantwortlich machte: Großbritannien, das die "bewußte Überleitung zu Angriffen auf nicht-militärische Ziele" vollzogen habe. Und weiter hieß es: Dass Krieg und technischer Fortschritt für den Bombenkrieg verantwortlich seien, "dürfte feststehen - und daß jene ihn begannen und auf den Gipfel der Brutalität steigerten, die sich dem Gegner überlegen wähnten oder überlegen waren, ist ebenfalls nicht zu leugnen".[16]

Damit war die Schuldfrage aus deutscher Sicht beantwortet. Die Dokumentation beließ es nicht bei dieser Feststellung. In einem eigenen Band sammelte man Berichte der ausländischen Presse, die gleichsam als "objektives" Korrektiv die hemmungslose Barbarei des Luftkrieges gegen Deutschland

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 388 unterstreichen sollten. Ein weiterer Band enthielt Erfahrungsberichte von Betroffenen, Parteidienststellen und Behörden, die allesamt das Bild der solidarisch kämpfenden Schicksalsgemeinschaft bestätigten. Thematisiert wurde die persönliche Verlust- und Leidensgeschichte. Hinzu kam ein weiteres Motiv, das auch zahlreichen späteren Veröffentlichungen zur Luftkriegsgeschichte zugrunde lag: der "heldenhafte" Abwehrkampf kommunaler Funktionsträger gegen die äußere Bedrohung.[17] Am Beispiel der sprichwörtlichen gemeinsamen "Feuertaufe" im Kampf gegen Brandbomben sollte gezeigt werden, dass die städtischen Verwaltungen letztlich alles getan hatten, um Schlimmeres zu verhindern. Daraus zog man ein gewisses Selbstvertrauen, ja Stolz auf die kollektive Leistung, die im Wiederaufbau ihre Fortsetzung fand.[18] Gleichzeitig ermöglichte dieses Helden-Narrativ eine Abgrenzung vom Nationalsozialismus. Denn er war, wenn man den Berichten kommunaler Funktionsträger glaubt, letztlich verantwortlich für die Missstände und Defizite des Zivilschutzes.

Generell spielt der Nationalsozialismus in den "Dokumenten deutscher Kriegsschäden", wie auch in anderen Veröffentlichungen der sechziger und siebziger Jahre, allenfalls am Rande eine Rolle - und wenn, dann nur als Ursache von administrativem Chaos oder als schematisches Herrschaftsmodell, von dem man sich abgrenzen wollte. Dabei standen das "deutsche Volk" auf der einen sowie Hitler und die Nationalsozialisten auf der anderen Seite.

Die Kontinuitätslinien dieser Selbstviktimisierung bis zu Jörg Friedrich und dem aktuellen Erinnerungsboom sind mit Händen zu greifen: die Ausklammerung des Luftkrieges aus der Geschichte des NS-Regimes; die Reduzierung des Verhältnisses von Kommune und Partei auf das einer reinen Konfliktgeschichte; die Dominanz der Opfer- und Verlustgeschichte und die Wahrnehmung des Luftkrieges als ein im Kern barbarischer, gescheiterter alliierter Akt der Grenzüberschreitung im Vernichtungskampf des "Totalen Krieges". Diese Interpretation prägte im Übrigen, wenn auch unter anderen Vorzeichen, ebenso die Wahrnehmung und offiziellen Deutungsmuster in der DDR. Dort gehörte der "angloamerikanische" Luftkrieg gegen deutsche Städte zu einem zentralen und staatlich sanktionierten Topos der Weltkriegsgeschichte, der kaum Unterschiede zwischen Nationalsozialisten und Westalliierten machte.[19]

Von dieser Stoßrichtung war ein anderer großer Pfad der Luftkriegsgeschichte weitgehend frei. Die professionelle Militärgeschichte hat über viele Jahrzehnte hinweg wichtige Beiträge zur Geschichte von Strategie, Planung und Umsetzung des Luftkrieges geleistet.[20] Obwohl diese Perspektive zumeist auf die enge Binnenperspektive der Militärs beschränkt blieb, unterschieden sich die Studien doch von der dominierenden Opfererzählung oder von solchen Heldengeschichten, in denen der Einsatz der Luftwaffe als identitätsstiftendes Abenteuerspiel männlich-übermütiger Piloten dargestellt wurde. Dagegen stand das Bemühen der seriösen Militärgeschichtsschreibung, die Geschichte des Luftkrieges in eine Geschichte des "Totalen Krieges" zu integrieren.[21]

Gleichzeitig war in den siebziger und achtziger Jahren das Bemühen groß, die engen deutschen Forschungsgrenzen zu überwinden und vor allem mit angelsächsischen Wissenschaftlern ins Gespräch zu kommen.[22] Zugleich half diese Perspektive, Legenden über Opferzahlen, Tieffliegerangriffe oder alliierte Motivlagen zu widerlegen.[23] Solche nüchternen und faktengesättigten Rekonstruktionen gerieten leicht ins "Sperrfeuer" langlebiger Ressentiments.[24] Dabei bestand die empirische Leistung zunächst in einer scheinbar einfachen Sache, der Auswertung aller vorhandenen Archivmaterialien unter der Perspektive: Wie kam es zu den Angriffen, welche Wirkungen hatten sie für eine Stadt? Hier waren historische Stadtchronisten am Werk, denen es nicht um Aufrechnung ging, sondern um die Empathie mit der Stadt und ihrem Schicksal. Das war keine Militärgeschichte im engeren Sinne, sondern der Versuch, Alltags-, Stadt- und Luftkriegsgeschichte zu verbinden - ein Leitmotiv, das zahlreiche in den achtziger Jahren entstandene Studien prägte, die einen deutlichen empirischen Gewinn erbrachten. Daran konnten spätere Forschungen anknüpfen, die zeigten, dass die NS-Gesellschaft im Krieg keineswegs "zivil", sondern von einem radikalisierten Sozialutilitarismus geprägt war, der zu einer wachsenden Verschmelzung von Stadt- und Lagergesellschaft und einer fortschreitenden Exklusion auch solcher sozialen Gruppen führte, die sich bis dahin als Teil der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 389

"Volksgemeinschaft" fühlten.[25]

Ganz unverkennbar entstand so ein Trend, den Luftkrieg als Geschichte des "kleinen Mannes" zu erzählen, wohl auch als Folge der Debatte um die Alltagsgeschichte. So war die Frage nach der Erfahrungsgeschichte des Luftkrieges auch ein wichtiges Element desgroßen Oral-History-Projekts von Lutz Niethammer.[26] Die Zerstörung sozialer Strukturen und der gleichzeitige Bedeutungsgewinn familiärer und betrieblicher Netzwerke, die gleichsam letzten Elemente der Kontinuität in einer sich in Auflösung befindenden und extrem mobilisierten Kriegsgesellschaft, waren wichtige Momente einer Erfahrungsgeschichte des Bombenkrieges. Parallel wurden vor allem auf lokaler Ebene - angeregt durch regionale Medien - eine Flut von Zeitzeugenberichten gesammelt, die meist aus Anlass des Jahrestages eines schweren Angriffs und mit der Absicht lokaler Sinnstiftung entstanden.

In den fünfziger Jahren berichtete vor allem die Erwachsenengeneration von ihren Erlebnissen. Dabei waren es nicht selten die Lokalzeitungen, die dazu aufriefen, die Erinnerungen aufzuschreiben. Heute sind es zumeist die Kinder und Jugendlichen des Luftkrieges, die sich zu Wort melden. Die Sammlungen von Einzelgeschichten über Bombenangriffe, Evakuierungen und Flakhelferschicksale sind zum Teil sehr ähnlich angelegt: Zumeist unkommentiert aneinandergereiht, bündeln sie die Erinnerungsfragmente. Von Erlebnissen in den Luftschutzkellern, von Traumatisierungen, die auch nach mehr als 60 Jahren noch zu spüren sind und die Menschen an den Rand des Zusammenbruchs führten, von Verschüttungen und familiären Verlusten, vom Krieg als jugendlichem "Abenteuer" bis hin zu genauen Beschreibungen der rassistischen Ausgrenzung und Hierarchisierung des Bunkerlebens reichen die Schilderungen.[27] Dabei wird in Umrissen deutlich, wie stark und nachhaltig die Endphase des Krieges nicht zuletzt die Lebensläufe vieler Frauen prägte, wobei die geschlechtergeschichtliche Dimension des Luftkrieges noch nicht einmal ansatzweise untersucht ist; der Luftkrieg ist noch immer die Geschichte des "kleinen Mannes", nicht der "kleinen Frau".

Die historische Erinnerung in Großbritannien

Selbst ohne eine vergleichbar große Zahl an Gedenkfeierlichkeiten hat das Genre der Erinnerungssammlungen an den Luftkrieg auch in Großbritannien einen erheblichen Stellenwert im öffentlichen Gedächtnis. Denn obwohl der Grad der Gewalterfahrung im Vergleich zu Deutschland zumindest in der letzten Kriegsphase sehr viel geringer war, wurde in Großbritannien die Erinnerung an den Luftkrieg dennoch zu einem zentralen Referenzsystem nationaler Selbstvergewisserung - wenn auch unter anderen Vorzeichen. Dabei überlagerte die individuelle Erfahrung des Luftkrieges rasch die Debatte um die moralische Legitimität der Bombenangriffe gegen deutsche Städte, die angesichts der Katastrophenbilder aus Dresden zu erheblichen Zweifeln an der Strategie des "Bomber Command" in der letzten Kriegsphase geführt hatte.

An der Notwendigkeit der Bombardierung militärischer und industrieller Ziele hatten auch Kritiker wie der anglikanische Bischof von Chichester, George Bell, keinen Zweifel gelassen. Schließlich ging es darum, die Hitler-Barbarei zu besiegen. Doch gaben er und einige amerikanische Bischöfe zu bedenken, ob es angemessen war, ganze Städte dem Erdboden gleichzumachen.[28] Und auch im Unterhaus kam es im Frühjahr 1945 zu einer heftigen Attacke des Labour-Abgeordneten Richard Stokes gegen die Luftwaffenführung.[29] Vor allem die Bilder der Zerstörung Dresdens und die internationalen Reaktionen hatten einen tiefen Schatten auf das "Bomber Command" geworfen, das angesichts der hohen Opferzahlen nun nicht mehr vorbehaltlos als Kämpfer gegen die Barbarei gefeiert wurde, sondern auf die moralische Anklagebank gesetzt zu werden drohte. Daran hatte nicht zuletzt die nationalsozialistische Propaganda erheblichen Anteil, die von den eigenen Verbrechen abzulenken versuchte, wenn sie die Methoden der alliierten Kriegsführung anprangerte. Trotz moralischer Zweifel und einer gewissen Verlegenheit, die mit dem Symbol "Dresden" und mit Arthur Harris, dem Chef des "Bomber Command", verbunden waren, überwog doch letztlich ein anderes Deutungsmuster, das die Angriffe als angemessene Antwort auf die Kriegsführung der nationalsozialistischen Diktatur interpretierte.[30] Legitimität bezog es aus der britischen Erfahrung als Opfer deutscher Luftangriffe und dem ebenso erfolgreichen wie stolzen Abwehrkampf der eigenen Streitkräfte.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 390

Die Kriegserfahrungen der Jahre 1940/1941 bedeuteten mehr als nur einen Sieg in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.[31] Es war die historische Stunde der Nation, als Großbritannien alleine stand und dem Tyrannen trotzte; "Britain's finest hour", in der aus der bis dahin zerklüfteten Klassengesellschaft gleichsam in den U-Bahnschächten ein neues, solidarisches Großbritannien und aus "einfachen" Leuten Helden der Heimatfront geworden waren.[32] So ähnlich deutete es die Labour-Regierung unter Clement Attlee, die den Zweiten Weltkrieg als Wendepunkt auf dem Weg zum modernen Wohlfahrtsstaat sah.[33] Der Luftkrieg erschien in dieser Interpretation als "Good War", an dessen Ende Arbeiterklasse und Mittelschichten ein "New Jerusalem" aufbauen konnten - ein Land, in dem die Arbeitslosen nicht mehr wie noch in den dreißiger Jahren mit Hungermärschen das Elend auf die Straßen trugen, sondern das den breiten Konsum für alle Schichten durch politische und ökonomische Planung ermöglichte. Unterschiedliche Elemente verschmolzen zum wirkmächtigen "Mythos von 1940": die Schlachten der britischen Kampfflieger über London gegen die deutsche Luftwaffe, die Erinnerung an die Bombenangriffe sowie die verlustreiche Evakuierung der von den Deutschen eingeschlossenen britischen Truppen aus Dünkirchen im Juni 1940.

Zahlreiche Filme knüpften in den vierziger und fünfziger Jahren an dieses Erzählmuster des "People's War" an und bedienten sich der Bilder, die bereits die Kriegspropaganda popularisiert hatte.[34] Dabei ging es nicht darum, nachträglich Legitimation für den Krieg zu stiften - dafür war der Konsens über den Kampf gegen Hitler zu umfassend und zu tief in der britischen Gesellschaft verankert. Deshalb spielte auch die Auseinandersetzung über die Notwendigkeit der Flächenbombardements keine Rolle, galt sie doch bei allen Bedenken als notwendiges Übel und Antwort auf die Verbrechen der NS-Diktatur; und das umso mehr, je deutlicher die Umrisse des Holocausts in der Öffentlichkeit erkennbar wurden. "1940" wurde zum Symbol für die Überlegenheit von "Britishness", denn nur diese Mischung aus Mut, Entschlossenheit und individueller Pflichterfüllung hatte es möglich gemacht, dem Druck des deutschen Diktators auch zu einem Zeitpunkt standzuhalten, als das Empire allein auf sich gestellt war.

Diese Interpretation der Kriegs- und Luftkriegsgeschichte setzte andere Akzente als die "Sozialstaats- Triumphalisten", die in den fünfziger und sechziger Jahren die Geschichte der Sozialpolitik und der Attlee-Regierung schrieben und zu den tonangebenden Interpreten der Nachkriegszeit wurden.[35] Aus der Sicht der Konservativen bedeutete der Krieg zunächst vor allem eines: den Beweis dafür, dass Großbritannien auch künftig eine zentrale Rolle im weltweiten Kampf gegen Diktaturen würde spielen können. Als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges sollte Großbritannien den Anspruch erheben, nicht nur den Ausbau der Vereinten Nationen zu steuern, sondern vor allem das Empire bzw. den Commonwealth als Bastion gegen die "Tyrannei" zu stärken. "The Blitz" erschien als Ausdruck und Gradmesser britischer Kontinuität und Stabilität in einer neuen Weltordnung, in der Großbritannien auf der Suche nach seiner Rolle im Konzert der Supermächte USA und UdSSR war. Bis weit in die sechziger Jahre hinein herrschte eine Deutung des Krieges, die Ausdruck des allgemeinen politischen Nachkriegskonsenses zwischen Labour und den Tories in wesentlichen Fragen der sozial- und wirtschaftspolitischen Neuordnung war und zugleich ein einheitliches Bild britischer Geschichte vermittelte.[36]

Als in den späten sechziger Jahren die Kritik an der Konsenspolitik der Nachkriegsjahre lauter wurde und als angesichts sinkender Wachstumsraten und steigender Arbeitslosigkeit immer häufiger von der "englischen Krankheit" die Rede war, gerieten auch die bestehenden Deutungsmuster des Krieges in die Kritik. Historiker wie Angus Calder machten deutlich, dass der "People's War" mitnichten alle sozialen Ungleichheiten eingeebnet hatte und der mystische Schleier, der sich über das Jahr "1940" gelegt hatte, viele der ungelösten Probleme der Kriegszeit nur überdeckte.[37]

Doch während diese Kritik auch auf die steckengebliebenen sozialstaatlichen Reformen der Labour Party zielte, ging es den Konservativen und seit Ende der siebziger Jahre vor allem Margaret Thatcher darum, die Erfahrungen des "Battle of Britain" als Legitimationsquelle ihres antietatistischen Generalangriffs auf die Konsenspolitik der Nachkriegsjahre umzudeuten, wobei "Konsens" aus ihrer Sicht nicht viel anderes meinte als den "sozialistischen Labour-Staat" Großbritanniens.[38]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 391

Wohlfahrtsstaat und staatliche Planung, einst als Lernerfahrung des Krieges gepriesen, galten in ihren Augen als ökonomisches und moralisches Übel und waren verantwortlich für die Krise des Staates. Großbritannien müsse deshalb einen "Second Battle of Britain" führen.[39] "1940" sei es um den Kampf gegen den deutschen Tyrannen, die Verteidigung der freiheitlichen Rechte und um die Eigenverantwortung des Volkes, nicht um die Einführung der sozialistischen Staatsbürokratie gegangen - das war das geschichtspolitische Leitmotiv Thatchers, in das sie auch den Falkland-Krieg gegen die argentinische Militärjunta 1982 einfügte.

Dabei existiert schon seit Jahrzehnten ein Beispiel für eine andere Art von Erinnerungspolitik, für eine andere "Erzählung" des Krieges, die ihren Ausgangspunkt in Coventry hatte. Am 14. November 1940 flog die deutsche Luftwaffe einen schweren Angriff gegen die Industriestadt und zerstörte dabei auch die mittelalterliche Kathedrale St. Michael. Doch anders als die britische Kriegspropaganda, die ihre Angriffe gegen deutsche Städte als Vergeltung für Coventry definierte, deutete der Dompropst von St. Michael, Richard Howard, das Schicksal seiner Kirche anders: Die Angriffe seien ein böses Verbrechen gewesen, so der Probst in seiner landesweit von der BBC übertragenen Predigt am ersten Weihnachtsfeiertag 1940. Jedoch habe die Kathedrale trotz der Zerstörung ihre Schönheit und Würde behalten. Christus sei in ihren Herzen wiedergeboren. Deshalb solle die Gemeinde versuchen, so schwer es ihr falle, alle Gedanken an Vergeltung zu verbannen und die Kirche wiederaufzubauen. Sobald der Krieg zu Ende und die Tyrannei besiegt sei, müsse es darum gehen, "to try to make a kinder, simpler - a more Christ-Child like sort of world"[40]. Das waren mitten im Krieg und angesichts der schwierigen militärischen Lage ungewöhnliche Töne. Im Zentrum dieser christlichen Versöhnungsinitiative stand die Botschaft von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi, die Howard nicht nur als Auftrag zum Wiederaufbau der Kathedrale, sondern auch als aktive Form der Friedensarbeit begriff.

Was das bedeutete, zeigte sich bereits unmittelbar nach Kriegsende. In der Weihnachtspredigt 1946 wandte sich Howard an einen katholischen Pfarrer im zerstörten Hamburg. Wenn er das Jesuskind sehe, fielen ihm zwei Dinge ein, die er seinem Gegenüber sagen möchte: "The First word is 'Forgiveness' (...). The second word is this - 'New Birth'. Here in Coventry we have 20 000 new homes to build, a whole new city centre and a Cathedral to restore. Your task is even greater. But more important still, there is a new spirit to be born - new courage, new faith, new unselfishness, new pity for each other's suffering, new family love and purity."[41] Im Zeichen dieses neuen Geistes vollzog sich der Neubau der Kathedrale, der selbst zum geschichtspolitischen Streitpunkt wurde.

Die Versöhnungsbotschaft, die von der neuen Kathedrale ausgehen sollte, war keineswegs unumstritten. Streit entzündete sich beispielsweise an den Plänen für die "Kapelle der Einheit" - einen Teil der Kirche, der nicht dem Domkapitel, sondern dem "Christenrat von Coventry" und damit allen Konfessionen unterstehen sollte. Für deren Bau warb die Gemeinde überall um Spenden, auch in Deutschland. Doch als Bundespräsident Theodor Heuss 1958 Geld für die Fenster der Kapelle spendete und sich auch Kanzler am Fonds für den Wiederaufbau beteiligte, gab es vor allem in der konservativen Presse nicht wenige Stimmen, welche die deutschen Spenden als "Blutgeld" bezeichneten.[42]

Während viele bombardierte britische Städte vor allem die lokale Erinnerung an die Bombenangriffe wach hielten, setzte die starke anglikanische Kirchengemeinde auf den umfassenden, nationale Grenzen sprengenden christlichen Versöhnungsgedanken. Bereits 1960 entstand ein International Center of Reconciliation, das von Jugendlichen der "Aktion Sühnezeichen" mit aufgebaut und vom EKD-Ratsvorsitzenden Otto Dibelius eingeweiht worden war. 1963, der Aufbau der Kathedrale war abgeschlossen, entstand im Anschluss an die stark debattierte Veröffentlichung von David Irvings Buch über die Bombardierung Dresdens[43] die Idee zu einer Initiative in die umgekehrte Richtung: Britische Freiwillige sollten sich am Wiederaufbau des im Luftkrieg zerstörten Diakonissen-Krankenhauses in Dresden beteiligen - eine Initiative, die nach schwierigen diplomatischen Verhandlungen und bürokratischen Hürden 1965 schließlich unter dem Dach der "Aktion Sühnezeichen" verwirklicht

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 392 werden konnte.[44]

Dies war der Auftakt für zahlreiche Gedenk- und Versöhnungsinitiativen der beiden (bereits seit 1956 offiziell verbundenen) Partnerstädte, die bis zur Spende des goldenen Turmkreuzes für die wiederaufgebaute Frauenkirche durch den British Dresden Trust im Sommer 2004 reichten.[45] Coventry stand nicht mehr allein für eine im Krieg schwer zerstörte Industriestadt in den Midlands, sondern war zu einem transnationalen ökumenischen Erinnerungsort geworden,[46] der an die grausamen Folgen des Luftkrieges und die schwer belasteten deutsch-britischen Beziehungen erinnert hat und sich schließlich - im Zeichen des Nagelkreuzes von Coventry - die Versöhnung ehemaliger Feinde weltweit auf seine Fahnen schreibt.

Selbst ernannte Tabubrecher

Die Erinnerung an den Luftkrieg war in beiden Ländern sich wandelnden politischen Anpassungsprozessen unterworfen. Ähnlich wie in Großbritannien, wo die innere Zerrissenheit der Kriegsgesellschaft lange Zeit von der propagandistischen Inszenierung des "Mythos von 1940" überwölbt wurde, diente der Luftkrieg in Deutschland der Konstruktion nationaler Identität, zu der neben der Täter- auch die Opferseite des Krieges gehören sollte. Wo dies dazu führte, verdrängte Traumata und die "Privatisierung der Kriegsfolgen" offen zu legen, war und ist dies ein wichtiger Prozess der Erweiterung des kollektiven Gedächtnisses.[47]

Gleichzeitig scheint aber ein Prozess in Gang zu kommen, an dem sich vor allem selbst ernannte Tabubrecher beteiligen. Stillschweigend verschwindet dabei der nationalsozialistische Terror aus der deutschen Geschichte und geht in einem pseudo-anthropologischen Räsonieren über die Gesetze des Krieges im Allgemeinen und die deutschen Opfer im Besonderen auf. Dieser neue Berufsstand moderner Geschichtsdeuter hat derzeit Konjunktur - in Deutschland mehr als in Großbritannien.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 18-19/2005) - Erinnerungen an den Luftkrieg in Deutschland und Großbritannien (http://www.bpb.de/apuz/29072/erinnerungen-an-den- luftkrieg-in-deutschland-und-grossbritannien)

Fußnoten

1. Vgl. Lothar Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940 - 1945, Berlin 2003. 2. Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 - 1945, München 2002. 3. Vgl. u.a. Klaus Naumann, An die Stelle der Anklage ist die Klage getreten. Kronzeugen der Opfergesellschaft? - In zahlreichen Buchveröffentlichungen melden sich die "Kriegskinder" als eine neue Erinnerungsgemeinschaft zu Wort, in: Frankfurter Rundschau vom 14.4. 2004. 4. Vgl. dazu unter anderem Correlli Barnett, Die Bombardierung Deutschlands war kein Kriegsverbrechen, in: L. Kettenacker (Anm. 1), S. 171 - 176. 5. Vgl. Malte Thießen, Gedenken an die "Operation Gomorrha". Zur Erinnerungskultur des Bombenkrieges von 1945 bis heute, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 53 (2005) 1, S. 46 - 61. 6. Vgl. dazu vor allem Klaus Naumann, Bombenkrieg - Totaler Krieg - Massaker. Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" in der Diskussion, in: Mittelweg 36, 12 (2003) 4, S. 49 - 60. 7. Das "Zivil" ist Friedrichs entpersonalisierter und enthistorisierter Begriff für "Zivil-Bevölkerung". 8. J. Friedrich (Anm. 2), S. 408f. und S. 377. 9. Martin Walser, Bombenkrieg als Epos, in: Focus, Nr. 50 vom 9.12. 2002. 10. J. Friedrich (Anm. 2), S. 293.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 393

11. Ausführlich zur Kritik vgl. Dietmar Süß, "Massaker und Mongolensturm". Anmerkungen zu Jörg Friedrichs umstrittenem Buch "Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 - 1945", in: Historisches Jahrbuch, 124 (2004), S. 521 - 543. 12. Vgl. Jörg Arnold, Sammelbesprechung Bombenkrieg, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ rezensionen/type=rezbuecher&id=2861. 13. Dokumente Deutscher Kriegsschäden. Evakuierte, Kriegssachgeschädigte, Währungsgeschädigte. Die geschichtliche und rechtliche Entwicklung, 5 Bde., hrsg. vom Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte, Bonn 1958ff. 14. Vgl. Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998), S. 345 - 389. 15. Vgl. BA Koblenz B 150/5654, Dokumentation deutscher Kriegsschäden, Schreiben vom 25. Februar 1960, Fiche 5. 16. Dokumente deutscher Kriegsschäden (Anm. 13), Bd. 1, S. 68. 17. Vgl. u.a. , Der zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg. Dokumentation und Erfahrungsberichte über Aufbau und Einsatz, Frankfurt/M. 1963. 18. Vgl. Thomas Kühne, Die Viktimisierungsfalle. Wehrmachtsverbrechen, Geschichtswissenschaft und symbolische Ordnung des Militärs, in: Michael Th. Greven/Oliver von Wrochem (Hrsg.), Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Opladen 2000, S. 183 - 196. 19. Vgl. dazu Gilad Margalit, Der Luftangriff auf Dresden. Seine Bedeutung für die Erinnerungspolitik der DDR und für die Herauskristallisierung einer historischen Kriegserinnerung im Westen, in: Susanne Düwell/Mathias Schmidt (Hrsg.), Narrative der Shoah. Repräsentationen der Vergangenheit in Historiographie, Kunst und Politik, Paderborn u.a. 2002, S. 189 - 207; eine Ausnahme bildete Olaf Groehler, Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin 1990. 20. Vgl. vor allem die Pionierstudien von Horst Boog, Strategischer Luftkrieg in Europa und Reichsluftverteidigung 1943 - 1944, in: ders./Gerhard Krebs/Detlef Vogel (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 7: Das Deutsche Reich in der Defensive. Strategischer Luftkrieg in Europa, Krieg im Westen und in Ostasien 1943-1944/45, Stuttgart 2001, S. 3 - 415; sehr ausgewogen Rolf-Dieter Müller, Der Bombenkrieg 1939-1945. Unter Mitarbeit von Florian Huber und Johannes Eglau, Berlin 2004. 21. Vgl. Horst Boog, Das Ende des Bombenkrieges. Ein militärgeschichtlicher Rückblick, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 45 (1995) 18 - 19, S. 10 - 21, hier S. 15f. 22. Neuerdings kann man jedoch den Eindruck einer Rückkehr alter apologetischer Erzählmuster gewinnen. Darauf deuten jedenfalls Horst Boogs Invektiven gegen den "masochistischen, beinahe paranoid zu nennenden deutschen Zeitgeist" hin; vgl. ders., Geschichtenerzähler aus der zweiten Reihe, in: Junge Freiheit vom 24.9. 2004, S. 16. 23. Vgl. u.a. Götz Bergander, Dresden im Luftkrieg, Würzburg 1998(2). 24. Wie z.B. Helmut Schnatz, Tiefflieger über Dresden? Legenden und Wirklichkeit, Köln-Weimar- Wien 2000, oder Frederick Taylor, Dresden, Dienstag, 13.Februar 1945. Militärische Logik oder blanker Terror?, München 2005. 25. Vgl. Winfried Süß, Der "Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939 - 1945, München 2003. 26. Vgl. Ulrich Herbert, Zur Entwicklung der Ruhrarbeiterschaft 1930 bis 1960 aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive, in: Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hrsg.), Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 3: "Wir kriegen jetzt andere Zeiten". Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Berlin-Bonn 1985, S. 19 - 52, besonders S. 34ff. 27. Vgl. u.a. Sven Felix Kellerhoff/Wieland Giebel (Hrsg.), Als die Tage zu Nächten wurden. Berliner Schicksale im Luftkrieg, Berlin 2003. 28. Vgl. Stephan A. Garrett, Ethics and airpower in World War II. The British bombing of German cities, New York 1993. 29. Vgl. Mark Connelly, Reaching for the Stars. A New History of Bomber Command in World War II, London 2001, S. 117.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 394

30. Vgl. Tom Harrison, Mass-Observation Archive, University of Sussex, File Reports, 2000, Vengeance: public opinion about reprisal air raids on . 31. Vgl. Malcolm Smith, Britain and 1940. History, Myth and Popular Memory, London 2001, S. 111 - 129. 32. Vgl. Mark Connelly, We can take it! Britain and the Memory of the Second World War, London 2004, S. 54 - 94. 33. Vgl. Martin Francis, Ideas and Policies under Labour, 1945 - 51: Building a New Britain, Manchester 1997. 34. Vgl. Geoff Eley, Finding the People's War: Film, British Collective Memory, and World War II, in: American Historical Review, 106 (2001), S. 818 - 838. 35. Vgl. José Harris, Planung und "Modernisierung": Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Zukunftsvorstellungen in Großbritannien, in: Matthias Frese/Michael Prinz (Hrsg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 125 - 136, hier S. 131. 36. Zur Musealisierung des "Blitz" vgl. vor allem Lucy Noakes, Making Histories. Experiencing the Blitz in London's Museums in the 1990s, in: Martin Evans/Ken Lunn (Hrsg.), War and Memory in the Twentieth Century, Oxford 2000, S. 89 - 104. 37. Vgl. Angus Calder, The People's War: Britain 1939 - 1945, London 1969. 38. Vgl. Dominik Geppert, Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975 - 1979, München 2002, S. 95 - 144. 39. Margaret Thatcher, The Downing Street Years, London, 1995, S. 155; vgl. ausführlich Thomas Noetzel, Political Decadence? Aspects of Thatcherite Englishness, in: Journal for the Study of British Cultures, 1 (1994) 2, S. 133 - 148. 40. R. T. Howard, Ruined and Rebuilt. The Story of Coventry Cathedral 1939 - 1962, Letchworth 1962, S. 22. 41. Ebd., S. 87; vgl. auch Olaf Meyer, Vom Leiden und Hoffen der Städte. Öffentliches Gedenken an die Kriegszerstörung in Dresden, Coventry, Warschau und St. Petersburg, Hamburg 1996, S. 109. 42. R.T. Howard, S. 114; vgl. auch Theodor Heuss, Tagebuchbriefe 1955 - 1963. Eine Auswahl aus Briefen an Toni Stolper, hrsg. und eingeleitet von Eberhard Pikart, Tübingen 1970, S. 354 - 357. 43. Vgl. David Irving, The Destruction of Dresden, London 1963 (Der Untergang Dresdens, Gütersloh 1964); vgl. zu Irving, seinen antisemitischen Positionen und den von ihm überzogenen Opferzahlen: Richard Evans, Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt/M.-New York 2001. 44. Zur Vorgeschichte der "Aktion Sühnezeichen" vgl. Christian Staffa, Die "Aktion Sühnezeichen". Eine protestantische Initiative zu einer besonderen Art der Wiedergutmachung, in: Hans Günter Hockerts/Christiane Kuller (Hrsg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, München 2003, S. 139 - 156, S. 151f. 45. Zu den Schwierigkeiten und Hintergründen vgl. Merrilyn Thomas, Idealism as a Political Tool. The Coventry-Dresden Relationship 1963 - 1965, in: Arnd Bauerkämper (Hrsg.), Britain and the GDR. Relations and Perceptions in a Divided World, Berlin 2002, S. 305 - 324. 46. Vgl. Stephan Goebel, Coventry nach der "Coventrierung". Der Bombenkrieg im europäischen Gedächtnis, in: Heinz-Dietrich Löwe, Europäische Stadt - europäische Identität, Heidelberg 2005 (i.E.). 47. Vera Neumann, Nicht der Rede wert. Die Privatisierung der Kriegsfolgen in der frühen Bundesrepublik - lebensgeschichtliche Erinnerungen, Münster 1999.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 395

Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße

Von Bernd Faulenbach 6.4.2005 Dr. phil., geb. 1943; Stellv. Direktor am Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation in Recklinghausen und Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

Anschrift:Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation, Münsterstr. 13-15, 45657 Recklinghausen. E-Mail: [email protected]öffentlichungen u.a.:(Hrsg. zus. mit H. Potthoff) Die deutsche Sozialdemokratie und die Umwälzung 1989/90, Essen 2001.

An die zwölf Millionen Deutsche wurden zum Kriegsende aus Osteuropa evakuiert, flohen in Trecks, wurden deportiert oder ausgewiesen. Welche Rolle spielt die Erinnerung der Vertriebenen heute? In welches Verhältnis werden sie zur Politik und den Verbrechen des Nationalsozialismus gebracht?

Einleitung

Die jüngst durch eine Fernsehserie, eine "Spiegel"-Reihe und durch Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" wieder ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit gerückte Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und danach aus den früheren deutschen Reichsgebieten jenseits von Oder und Neiße, aus dem Sudetenland sowie aus den Siedlungsgebieten in Mittelost-, Ost- und Südosteuropa war zweifellos ein historisch gravierender Vorgang, von dem viele Millionen Reichs- und Volksdeutsche betroffen waren. Meist wird von zwölf bis vierzehn Millionen Vertriebenen ausgegangen, von denen bei Flucht und Vertreibung, auch als Folge von Vertreibungsverbrechen, ca. zwei Millionen - immerhin etwa ein Sechstel - ums Leben gekommen sind. Es sind Zahlen - auch wenn sie womöglich nach unten revidiert werden müssen -, hinter denen sich ungeheures Leid verbirgt. [1]

Unter dem Begriff "Vertreibung" - dies ist bedeutsam im Hinblick auf die Verarbeitung des Phänomens - wird ein mehrschichtiger, regional unterschiedlicher, mehrere Phasen umfassender Prozess gefasst, zu dem u.a. im vorherrschenden Verständnis gehören: die Evakuierungen seit Herbst 1944, die allgemeine Flucht im Frühjahr 1945 mit Trecks oder über die See, die teilweise Rückkehr in die Wohngebiete, die Deportationen in die Sowjetunion, die Einrichtung von Internierungslagern und die Ausweisung. Die Maßnahmen gegen diesen Teil der Bevölkerung resultierten teils aus "wilden" oder gezielten Aktionen anderer nationaler Gruppen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, teils aus massiven Ausschreitungen der vorrückenden russischen Truppen gegen die Zivilbevölkerung, teils aus alliierten Beschlüssen, die nicht selten bereits geschaffene Tatsachen legalisierten oder zu weiteren Vertreibungsmaßnahmen führten.

Hier soll es um die "Aufarbeitung" und "Verarbeitung" des Geschehens gehen, und zwar sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der öffentlichen Diskussion in Deutschland. Dies schließt die Frage ein, welche Rolle die Erinnerungen der Vertriebenen im kollektiven Gedächtnis gespielt haben und spielen. Die Erinnerung an die Vertreibung war bei den Betroffenen mit der Erinnerung an die alte Heimat verbunden, und die Bedeutung, die beide Komplexe für diesen Personenkreis hatten, war wiederum mit der Frage der Aufnahme der Vertriebenen im übrigen Deutschland, mit ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft verknüpft, ohne indes als eine bloße Funktion dieser gesellschaftlichen Prozesse aufgefasst werden zu können. Wie ging und geht die deutsche Gesellschaft mit den

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 396

Vertriebenen und ihren Erfahrungen um?

Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne die Nachkriegsentwicklung in Deutschland - in den Westzonen, der Ostzone, später in der Bundesrepublik und in der DDR (und deren Verhältnis zueinander) - zu berücksichtigen. Zu fragen ist ferner, wie sich die Veränderungen in der Politik und dem politisch-gesellschaftlichen Klima auswirkten; auch die Frage der Wirkung wachsender zeitlicher Distanz ist zu stellen. Wir untersuchen den Übergang, die Transformation des kommunikativen Gedächtnisses der "Erlebnisgemeinschaft" in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft, zwischen denen gleichsam eine fließende Lücke, ein Floating Gap, zu herrschen pflegt. [2]

Sowohl auf der Ebene des tatsächlichen Geschehens als auch auf der Ebene seiner wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verarbeitung kann nicht von der nationalsozialistischen Politik, ihren einzigartigen Verbrechen, ihren Umsiedlungsaktionen und vor allem nicht vom Holocaust abgesehen werden. Deshalb ist hier zu fragen: In welches Verhältnis werden die NS-Politik und die NS-Verbrechen auf der einen Seite sowie die Vertreibung und die Vertreibungsverbrechen auf der anderen Seite im deutschen kollektiven Bewusstsein - in seiner öffentlichen wie in seiner geschichtswissenschaftlichen Dimension - gebracht?

Ich gehe in fünf Punkten im Wesentlichen chronologisch vor, wobei angesichts des Umfanges des Themas vieles nur angedeutet werden kann.

I.

In der frühen Nachkriegszeit, in der die unter dem Begriff "Vertreibung" zusammengefassten Ereignisreihen teilweise noch liefen, stand für die Deutschen in den verschiedenen Zonen die Bewältigung elementarster Probleme im Vordergrund, zu denen auch die Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen gehörte. Angesichts der gravierenden Wohnungsnot und der Ernährungsschwierigkeiten stellte die Unterbringung dieser Gruppe die Alliierten und die deutschen Verwaltungen vor riesige Probleme, die z.T. auch zu Spannungen mit der einheimischen, häufig ausgebombten oder der evakuierten Bevölkerung führten. Die Vertriebenen waren keineswegs überwiegend willkommen.

Manches spricht dabei für die von Hans Georg Lehmann aufgestellte These, dass aufgrund einer vergleichsweise rigorosen Politik der Sowjets und der SED in den ersten Nachkriegsjahren die "Aufnahme und Lebensbedingungen der Vertriebenen in der Sowjetzone" im Vergleich mit den Westzonen wohl "noch am besten" abschnitten. [3] Es gab in der SBZ/DDR zeitweilig gegenüber den Westzonen und der Bundesrepublik einen Vorsprung hinsichtlich materieller und sozialer Integrationshilfen. Erst das vom Bundestag 1952 verabschiedete Lastenausgleichsgesetz veränderte die Situation grundlegend; es führte "zu jenem massiven bundesrepublikanischen Vorsprung in der vertriebenenbezogenen Sozial- und Entschädigungspolitik, den die DDR seither weder konzeptionell noch materiell wieder einholen konnte" [4]. Die Lastenausgleichspolitik wurde zum Symbol einer zunehmend erfolgreichen Integrationspolitik, deren Hintergrund der wirtschaftliche Aufschwung war; sie ist nicht nur als politischer, sondern auch als gesamtgesellschaftlicher Prozess zu werten.

Zunächst hatten die Vertriebenen Mühe, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Früh entstanden Zusammenschlüsse, die vor allem als Suchdienste arbeiteten, doch verboten die Alliierten 1946 Koalitionen von Vertriebenen - ein Verbot, das schrittweise gelockert und 1948 in den Westzonen aufgehoben wurde. [5] Die Vertriebenen organisierten sich in Landesverbänden, die sich schon 1949 zu einem Zentralverband der vertriebenen Deutschen vereinigten. Auch wurden nach Aufhebung des Koalitionsverbots Landsmannschaften gegründet, welche sich vor allem die Pflege des kulturellen Erbes zum Ziele setzten und sich partiell zu einer Art "Ersatzheimat" entwickelten. Landsmannschaften und Zentralverband rivalisierten miteinander, 1957 verschmolzen sie schließlich.

Verboten waren durch die Alliierten zunächst auch parlamentarische Interessenvertretungen, doch

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 397 versuchten die großen Volksparteien, sich auch um die Anliegen der Vertriebenen zu kümmern; zweifellos trug dies zur politischen Integration bei. Gleichwohl wurde 1950 in Schleswig-Holstein eine Vertriebenenpartei gegründet - der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) -, der bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein immerhin 23,5 Prozent der Stimmen erhielt. [6] 1953 zog diese Partei (GB/BHE) mit einem Stimmenergebnis von 5,7 Prozent bei den Bundestagswahlen in den Bundestag ein. Die Partei trat sogar in die zweite Regierung Adenauer ein, in der sie zwei Minister - unter diesen mit Theodor Oberländer auch den Vertriebenenminister - stellte. Allerdings ging die Partei 1955 in die Opposition; Meinungsverschiedenheiten über das Saarstatut hatten zu einer Spaltung der Partei geführt, 1957 scheiterte sie bei den Bundestagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde.

Bei den Wahlen zu den Landtagen und zum Bundestag waren die Vertriebenen während der fünfziger Jahre - nicht nur wegen der Existenz des BHE - eine umworbene Gruppe. Alle Parteien - mit Ausnahme der KPD - forderten von einem Friedensvertrag die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937. Auch Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, vertrat nachdrücklich diese Forderung, obgleich er sich klar darüber war, dass die Gebiete jenseits von Oder und Neiße für die Deutschen verloren waren und er mit dieser Forderung auf den Widerstand der Hohen Kommissare stoßen musste. [7] Maßgebliche Persönlichkeiten der Bundestagsparteien sprachen auf Treffen der Heimatvertriebenen und unterstützten das Recht der Vertriebenen auf Heimat. "Dreigeteilt - niemals" war die Parole eines bekannten Plakates des Kuratoriums "Unteilbares Deutschland".

Kennzeichnend für die fünfziger Jahre waren auf der einen Seite beachtliche Bemühungen um die gesellschaftliche Integration der Vertriebenen, die offensichtlich selbst davon ausgingen, dass mit einer Rückkehr in die verlorenen Gebiete auf absehbare Zeit nicht zu rechnen war; auf der anderen Seite gab es die Unterstützung der Rechte der Vertriebenen und ihrer Forderungen, die eine Verurteilung des Unrechts der Vertreibung selbstverständlich einschloss. Man mag in dieser doppelten Politik einen Mangel an Konsequenz sehen, gleichwohl kann man fragen, ob sie nicht doch zur Integration der Vertriebenen und zur Paralysierung des Heimatvertriebenenproblems beitrug.

Allerdings war dieser Politik doch auch die Förderung von Illusionen bei den Heimatvertriebenen immanent. Diese hatten bemerkenswerterweise in einer Charta, die 1950 in Stuttgart verkündet wurde und Forderungen nach sozialer und wirtschaftlicher Gleichstellung sowie politischer Vertretung der Vertriebenen enthielt, ausdrücklich auf Rache und Vergeltung verzichtet und versprochen, "jedes Beginnen mit allen Kräften zu unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können" [8]. Gleichwohl hatten die Forderungen der Vertriebenen selbstverständlich die Revision der faktisch bestehenden Grenzen zum Ziel, weshalb sie in der Propaganda des Ostens als "Revanchisten" bezeichnet wurden.

Anders als die Bundesrepublik Deutschland erkannte die DDR 1950 im Görlitzer Vertrag die Oder- Neiße-Grenze an. In der SBZ/DDR war der Begriff "Vertriebene" frühzeitig durch den der "Übersiedler" substituiert worden, später wurde auch dieser tabuisiert und das Problem der Vertriebenen offiziell ignoriert. Wilhelm Pieck, der erste Präsident der DDR, erklärte im Oktober 1950 in seiner geteilten Heimatstadt Guben: "Wir haben unsere engere Heimat verloren, aber wir haben die große Heimat des Friedens, die Heimat eines demokratischen friedliebenden Deutschlands gewonnen." [9] Die Beurteilung der Frage der Ost-Grenze, der Vertriebenenproblematik und der Vertreibung insgesamt unterschied fortan die beiden deutschen Staaten. Dies führte dazu, dass der Fragenkomplex in der Ära des Kalten Krieges instrumentalisiert wurde. In der Bundesrepublik wurde die Vertreibung eine wichtige Komponente in der antikommunistischen Propaganda.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 398 II.

Berichte über die furchtbaren Geschehnisse bei Flucht und Vertreibung wurden früh von den Betroffenen erzählt; sie litten vielfach unter den traumatischen Erlebnissen. Auch im Kontext von Berichten über die Kriegsgeschehnisse tauchte der Aspekt auf, fand auch seinen Niederschlag in der Literatur. Das große Thema der Nachkriegsliteratur war der Krieg mit seinen Folgen.

Selbstverständlich wurde das Geschehen der Vertreibung als schreiendes Unrecht aufgefasst. Meist wurde es eher isoliert betrachtet, doch konnte die publizistische Schulddiskussion an Flucht und Vertreibung nicht vorübergehen. So publizierten und Eugen Kogon schon 1947 in den Frankfurter Heften einen bemerkenswerten Aufsatz unter dem Titel "Verhängnis und Hoffnung im Osten. Das Deutsch-Polnische Problem", in dem sie eher vorsichtig versuchten, das Geschehen, das sie selbst nur zurückhaltend andeuteten, einzuordnen.[10] In manchen Berichten werde deutlich, dass die Opfer deutscher Untaten zurückschlügen, sei doch im Namen der Deutschen Furchtbares geschehen.

Doch fügten die Autoren hinzu, dass diejenigen Deutschen, die nun ihrerseits Opfer wurden, keineswegs die besonders Schuldigen waren: "Die armen Opfer in Schlesien und Ostpreußen leiden stellvertretend für die wahren Schuldigen, und es ist ein Zufall, dass nicht wir es sind, du und ich, die stellvertretend leiden und sterben müssen." [11] Zudem sei das Geschehen nicht nur als Reaktion auf deutsches Tun erklärbar, eine andere Erklärung sei die der "Ansteckung". Kogon und Dirks ließen keinen Zweifel daran, wo sie die eigentlichen Urheber des Unglücks sahen. Nachdrücklich betonten sie, dass es "nicht erlaubt" sei, "jene Vorgänge zu isolieren" [12]. Keine Frage, die von Dirks und Kogon vertretene Position war sicherlich nicht die vorherrschende, verbreiteter war die des Aufrechnens, doch gab es sie immerhin.

In der frühen Nachkriegszeit waren bei vielen Menschen die Leid-Erfahrungen noch zu unmittelbar, als dass sie mental in der Lage gewesen wären, eine konkrete Schulddiskussion zu führen und auch die Leiden der anderen mitzusehen. Zwar war die Mehrzahl erschüttert über das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen, doch stand daneben das konkrete eigene Erleben, der Verlust von Heimat und Eigentum, der Tod zahlreicher nahe stehender Menschen. Existenziell hatte man den Krieg und die Kriegsfolgen durchlitten, der Krieg war nicht nur Hitlers Krieg gewesen. [13]

III.

Die deutsche Geschichtswissenschaft hat - so urteilte Hellmuth Auerbach 1985 retrospektiv [14] - früh damit begonnen, das Thema Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten zu erforschen. Seit Mitte der fünfziger Jahre erschienen Bücher, die sich mit dem Schicksal der Vertriebenen befassten und die versuchten, die historischen Hintergründe auszuleuchten und die Ereignisse historisch einzuordnen. Von grundlegender Bedeutung war und ist dabei die Dokumentation und Darstellung der Vertreibung aus den Ostgebieten, zu der bereits in den frühen Nachkriegsjahren Vorarbeiten begannen und die schon kurz nach Gründung der Bundesrepublik als wissenschaftliches Großprojekt in Angriff genommen wurde. [15] 1951 berief der Bundesminister für Vertriebene, Hans Lukaschek, eine wissenschaftliche Kommission, die den Auftrag erhielt, die Vertreibung umfassend zu dokumentieren, wobei das Motiv leitend war, Materialien zur Abstützung der deutschen Position bei künftigen Friedensverhandlungen zusammenzutragen. [16]

Die Kommission bestand aus angesehenen "führenden" Historikern. Geleitet wurde sie von Theodor Schieder; ihr gehörten außerdem an Peter Rassow, Rudolf Laun und Hans Rothfels sowie Adolf Distelkamp vom Bundesarchiv, nach einiger Zeit kam als weiteres Mitglied Werner Conze hinzu. Mitglieder des wissenschaftlichen Arbeitskreises waren u.a. Hans Booms, der spätere Direktor des Bundesarchivs; Martin Broszat, der spätere Direktor des Institutes für Zeitgeschichte, und Hans Ulrich Wehler, seit Ende der sechziger Jahre einer der führenden deutschen Sozialhistoriker. Unterstützt wurde die Kommission vom Statistischen Bundesamt, dem Johann-Gottfried-Herder-Institut in

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 399

Marburg, der Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung in Göttingen und vom Münchener Institut für Zeitgeschichte. Alles in allem ein für die damalige Zeit sehr großes wissenschaftliches Unternehmen, welches das besondere Interesse an dem Forschungsgegenstand erkennen lässt.

Für die Historiker trat das ursprüngliche politische Motiv bald in den Hintergrund, woraus Gegensätze zum Auftraggeber erwuchsen. Leitend für die Herausgeber war - wie sie in der Einleitung betonten - "die Sorge, Geschehnisse von der furchtbaren Größe der Massenaustreibung könnten in Vergessenheit fallen, die abschreckenden und aufrüttelnden Erfahrungen aus dieser europäischen Katastrophe könnten für die Staatsmänner und Politiker verloren gehen" [17]. Die an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler - so betonen die Herausgeber weiter - fühlten sich bei der Erarbeitung der Dokumentation nur an das Ethos der wissenschaftlichen Forschung gebunden.

Darüber hinaus seien sie dem "politischen Grundsatz" des Verzichts auf Rache und Gewalt verpflichtet, wie er in der Charta der Heimatvertriebenen niedergelegt sei: Die Herausgeber "wollen mit der von ihnen betreuten Veröffentlichung nicht dem Willen Vorschub leisten, der diesem Verzicht entgegensteht, nicht Empfindungen auslösen, die selbstquälerisch im eigenen Leid wühlen". Es folgt der bedeutsame Satz: "Dazu sind sie (die Herausgeber) sich zu sehr des deutschen Anteils an den Verhängnissen der letzten beiden Jahrzehnte bewusst." [18] Keine Frage, die Herausgeber waren sich der deutschen Schuld bewusst, was im Hinblick auf den Leiter des Projektes, Theodor Schieder, der - wie wir heute wissen - an der Konzipierung von Umsiedlungsaktionen großen Stils, die sich schließlich im verdichteten, beteiligt war, und auf Werner Conze, der zur bevölkerungswissenschaftlichen Fundierung der NS-Politik beitrug, durchaus auch eine persönliche Komponente besaß; wobei wir bislang nicht so recht wissen, ob sie sich auch persönlich für mitverantwortlich hielten. [19]

Jedenfalls wurde eine Reihe der beteiligten Wissenschaftler, indem sie das Geschehen vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte zu betrachten begannen, "buchstäblich von der eigenen Vergangenheit eingeholt" [20]. Die Herausgeber drückten ihre Hoffnung aus, "dass durch die Arbeit die Einsicht gestärkt wird, dass sich Ereignisse wie die Vertreibung nicht wiederholen dürfen, wenn Europa noch eine Hoffnung haben soll. Sie hoffen auf eine Neuordnung der Völkerbeziehungen in dem Raume, der zuletzt ein Inferno der Völker geworden war" - eine Hoffnung, die etwas abstrakt klingt, doch gerade die Erfahrungen der Vergangenheit zum Ausgang haben soll: "Nicht aus einem Vorbeisehen an der jüngsten Vergangenheit, sondern nur aus der verantwortungsbewussten Auseinandersetzung mit ihr kann eine neue moralische Kraft geboren werden, um die Spannungen zwischen den Völkern des östlichen Mitteleuropas, ganz Europa zu überwinden, damit das unsagbare Leid unserer Generation nicht ganz sinnlos bleibt." [21]

Themen der fünf umfangreichen Bände (darunter mehrere Doppelbände) sind die Evakuierungsvorgänge, Flucht- und Kriegsereignisse, die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung, die Austreibung der Bevölkerung. Die Bände über die südosteuropäischen Staaten beziehen sich auf die Geschichte der Deutschen in diesen Gebieten, ihre Schicksal während des Krieges, Umsiedlungen, Zwangsrekrutierungen zur SS, Auswirkungen der russischen Besetzung, Verschleppung zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, Enteignungen, Internierungen und Ausweisungen.

Basis des Unternehmens war eine systematische Befragungs- und Sammelaktion unter den Vertriebenen, durch die eine große Fülle dokumentarischen Materials zusammengetragen wurde: zum überwiegenden Teil Erlebnisberichte, dann Befragungsprotokolle, private Briefe, Tagebücher, auch amtliche Schriftstücke. Die Sichtung, Beurteilung und Verarbeitung des Materials sowie die Zusammenstellung für die Edition warf vielfältige methodische Probleme auf, die insbesondere Martin Broszat und Theodor Schieder in methodologischen Beiträgen zu klären versuchten. [22] Das Forscher- Team unterwarf die Masse neuartiger "subjektiver" Quellen einem Verfahren der "Authentifizierung" und "Verifizierung" d.h., die Historiker stellten Vergleiche zwischen den Quellen an und prüften die Plausibilität, die Aussagefähigkeit der Dokumente. Bei der Auswahl bemühten sich die Historiker, ein

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 400 möglichst repräsentatives Bild zu liefern, d.h. alle Regionen, Bevölkerungsgruppen, Vorgänge - etwa auch die Lager - und Schicksale zu berücksichtigen. Die nicht in die Edition aufgenommenen Dokumente - etwa 10 000 Erlebnisberichte und weitere Materialien - werden im Bundesarchiv aufbewahrt.

Die nüchterne, sorgfältige Analyse der Dokumente führte - ähnliche Probleme gab es auch bei anderen Opfergruppen der jüngsten Geschichte - zu erheblichen Spannungen zwischen den Vertriebenen und Vertriebenenfunktionären auf der einen Seite sowie den Historikern und Archivaren auf der anderen Seite. Hans Rothfels stellte zu den massiven Angriffen von Organen und Organisationen der Vertriebenen - zu denen der Vorwurf gehörte, die Dokumentation sei "in wesentlichen Punkten nach dem Geschmack der Vertreiber ausgefallen" - u.a. fest: "Bei aller Bereitschaft des Historikers, von 'Zeitzeugenberichten' zu lernen, kann ein Zensurrecht der Beteiligten nicht wohl anerkannt werden." [23] "Eine reine Erlebnishistorie" - so schrieb Theodor Schieder in seinem methodologischen Aufsatz - wäre "keine wissenschaftliche Historie" mehr. [24] In der Tat waren die Wissenschaftler - wie die Einleitungen zu den Bänden zeigen - sehr um eine behutsame Einordnung der Einzelvorgänge bemüht; zweifellos ist das Unternehmen eine beachtliche Leistung. Zur Gesamteinordnung wurde die Frage aufgeworfen, ob die Vorgänge vorrangig als Schlussakt des Krieges, in dem die Vernichtung ganzer Völker beabsichtigt war (wobei sich der deutsche Anteil wahrlich präziser hätte kennzeichnen lassen), oder im Kontext der seit dem 19. Jahrhundert geführten Nationalitätenkämpfe in der östlichen Völkermischzone Europas zu sehen sei. [25]

Bis in die Gegenwart bildet dieses Werk, dessen Ergebnisband damals wohl aus politischen Gründen nicht mehr erschien, die wichtigste Grundlage für die Erforschung des Erlebens und Erleidens - also auch der subjektiven Ebene - der Vertreibung. Keine Frage, dass die Lektüre noch heute erschüttert. So bedeutsam das Werk war, zu seiner Popularisierung wurde von offizieller Seite nicht viel getan. In den achtziger Jahren erschien eine Taschenbuchausgabe. Allerdings nutzten einige Autoren das Werk als Steinbruch, wobei sie nicht selten besonders grausame Geschehnisse auswählten. [26] Eine Ergänzung der Dokumentation bildet der vom Statistischen Bundesamt herausgegebene Band "Die deutschen Vertreibungsverluste 1939/50" [27].

Gemessen an diesem umfangreichen Dokumentationswerk war der übrige wissenschaftliche Ertrag in den fünfziger und sechziger Jahren eher sekundär. Eine Reihe bemerkenswerter, auch für den Historiker aufschlussreicher Tagebücher und Berichte erschien, auch wurden chronikartige Zusammenstellungen des Kriegsgeschehens mehr publizistischen als wissenschaftlichen Charakters veröffentlicht, die das Kriegsgeschehen mit seinen Auswirkungen auf die Bevölkerung im Osten zum Thema hatten. [28]

Erwähnenswert ist, dass in der deutschen Zeithistorie fast gleichzeitig mit der Vertreibung bereits die nationalsozialistische Polenpolitik in den Blick kam, was zweifellos zwingend war, denn die NS-Politik plante ihrerseits gewaltige Umsiedlungsaktionen und führte sie mit brutalen Mitteln durch. Schon 1961 erschien Martin Broszats Arbeit über die "Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945", [29] andere Arbeiten folgten in den sechziger Jahren. Auch unternahm die Zeithistorie beachtliche Anstrengungen, um die Frage der Verantwortlichkeit der Täter zu klären. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass die deutsche Zeithistorie die Erforschung des Holocaust - anders als die der Vertreibung - aus der Sicht der Opfer zunächst kaum versuchte. [30]

Eine Bedeutung für die Bewältigung von Flucht und Vertreibung hatte die moderne Literatur, in der nicht nur die Ereignisse am Ende des Krieges, sondern auch die Erinnerung an die verlorene Welt zum Thema gemacht wurden. Hingewiesen sei hier auf die Werke von Günter Grass, Siegfried Lenz, Arno Surminski, Christine Brückner und anderen, in denen Flucht, Vertreibung, die alte und neue Heimat im Spiegel menschlicher Schicksale dargestellt und damit auch ein Stück weit "bewältigt" wurden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 401

IV.

In den sechziger Jahren schritt die Integration der Heimatvertriebenen - ungeachtet hier und da insbesondere im ländlichen Raum noch vorhandener Spannungen - weiter voran; sie partizipierten in ihrer großen Mehrheit an der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung. Zwar hatten sie keine eigene parlamentarische Interessenvertretung mehr, doch kandidierten führende Vertriebenenfunktionäre auf sicheren Listenplätzen der CDU, der CSU und auch der SPD (so Wenzel Jacksch, Präsident der Vertriebenen 1964-1966, oder Herbert Hupka, der Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen, der 1969 für die SPD in den Bundestag einzog und 1972 zur CDU übertrat), wobei insbesondere sozialpolitische Fragen die Brücke zur SPD bildeten. [31]

Doch veränderte sich das politische Klima in den sechziger Jahren in einer Weise, die für die Vertriebenen zunehmend ungünstiger wurde. Das Agieren der Heimatvertriebenenfunktionäre fand verstärkt Kritik, sie galten nun häufig bereits als "Gestrige". Einer der Hintergründe war gewiss, dass sich das politische Koordinatensystem zunächst unmerklich, dann verstärkt nach links verschob und die linksliberale Presse an Einfluss gewann. Das Problem der Ostgebiete wurde zunehmend nunmehr als eine Angelegenheit der unmittelbar Betroffenen angesehen. In der öffentlichen Meinung erhoben sich Stimmen, welche die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze forderten. Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) ging mit ihrer Denkschrift voran, auch die Sozialdemokratie - in der vorher schon vereinzelt, etwa von Carlo Schmid und Fritz Erler, in dieser Richtung plädiert worden war - forderte seit 1966 eine Respektierung der Grenze. Hinter dieser Forderung stand der Wunsch, mit dem Osten, namentlich mit Polen, zu einem Ausgleich zu kommen. sprach auf dem Nürnberger Parteitag der SPD 1968 von einer "Anerkennung bzw. Respektierung" der Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung - eine Formel, die in eine mit großer Mehrheit verabschiedete Entschließung einging. [32] Diese Forderung passte in ein Konzept der Entspannungspolitik, war aber zugleich tief moralisch begründet.

In den sechziger Jahren rückte die NS-Zeit und in diesem Kontext die verbrecherische Politik gegenüber Polen und den Völkern der Sowjetunion, vor allem auch der Holocaust, in das Zentrum der politisch- kulturellen Diskussion. Es war die Zeit der großen NS-Prozesse, der Verjährungsdebatten des Bundestages und der in Literatur und Theater zunehmend intensiv behandelten NS-Zeit - erinnert sei an Peter Weiss' "Ermittlung", an Rolf Hochhuths "Stellvertreter". Auch die Zeithistorie beschäftigte sich inzwischen mit beträchtlichem Aufwand und bedeutsamen Ergebnissen mit der NS-Politik und ihren Verbrechen. [33][34] Dies verstärkte die wachsende Distanz zwischen Mehrheitsgesellschaft und Vertriebenenorganisationen und war selbst Ausdruck zunehmender Isolierung dieser Organisationen. Die Vertriebenen registrierten einen schmerzlichen Rollenwechsel: Seit den sechziger Jahren waren sie "vom Patenkind zur Unperson" geworden. [35]

Mit Bildung der CDU-FDP-Koalition unter Helmut Kohl 1982 schöpften die Vertriebenenverbände noch einmal Hoffnung, dass ihr politisches Gewicht wieder wachsen würde; teilweise wurden diese Hoffnungen auch bewusst genährt - so wurde jetzt der 1974 entstandene, aber nicht zugängliche Bericht des Bundesarchivs über Vertreibungsverbrechen publiziert -, auf längere Sicht aber wurden sie enttäuscht: Helmut Kohl, dessen CDU zusammen mit den Vertriebenen die Ostverträge bekämpft hatte, setzte nach 1982 die Deutschland- und Ostpolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts bei nur unwesentlich veränderter Semantik fort.

Die Bedeutung der Vertreibung wurde 1984/85 noch einmal diskutiert im Kontext der Debatte über den 8. Mai 1945, den ein Teil der Öffentlichkeit als Tag der Befreiung, ein anderer vorrangig als Symbol der Niederlage deuten wollte. In diesem Kontext wiesen die Vertriebenen auf ihr Schicksal hin, das aus ihrer Sicht bei der Interpretation des Datums zu berücksichtigen war und dessen Kennzeichnung als Befreiung nicht zuließ. Schließlich würdigte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 das Schicksal der Vertriebenen mit den versöhnenden Worten: "Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt. Ihnen war noch lange nach dem

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 402

8. Mai bitteres Leid und Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz." [36]

Ungeachtet unterschiedlicher Schicksale waren die Vertriebenen in ihrer großen Mehrheit gesellschaftlich längst integriert, als sich die Frage der definitiven völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Kontext der Wiedervereinigung 1990 noch einmal stellte. Nach einigem Zögern Helmut Kohls in dieser Frage, das zu deutsch-französischen Irritationen führte, hat die Bundesrepublik unter Führung der konservativ-liberalen Bundesregierung die Oder-Neiße-Grenze als definitive deutsche Ostgrenze im "Zwei-plus-Vier"-Vertrag anerkannt. Die historische Entwicklung war über die politischen Positionen der Vertriebenenverbände hinweggegangen.

V.

Seit den siebziger Jahren wurde die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft zu einem Thema der sozialgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Forschung. Die Vertriebenenfrage wurde zu einem Teilaspekt der Geschichte der Gesellschaft der Bundesrepublik. Zu diesem Themenkomplex wurden eine Reihe von Studien vorgelegt, so z.B. von Marion Frantzioch und Helga Grebing mit ihrem Team. [37] Die unter dem Begriff "Vertreibung" zusammengefassten Vorgänge fanden demgegenüber in der zeithistorischen Forschung nur verhältnismäßig geringes Interesse, insbesondere wenn man andere, demgegenüber ungemein intensiv behandelte Themen- komplexe der Geschichte des Dritten Reiches vergleichend heranzieht. Dieses Defizit wurde von verschiedenen Beobachtern kritisiert und bedarf tatsächlich der Erklärung.

Andreas Hillgruber konstatierte 1986, dass die "Katastrophe des deutschen Ostens" zu den Forschungsfeldern gehöre, auf denen es einen Stillstand gebe oder die Forschung gar nicht in Gang gekommen sei. [38] Zu den Ursachen dieses Befundes stellte Hillgruber keine Überlegungen an; dies hatte aber schon wenig vorher Alfred Heuß getan.

1984 veröffentlichte der angesehene Althistoriker Alfred Heuß ein Buch mit dem Titel "Versagen und Verhängnis" und dem bezeichnenden Untertitel "Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses", in dem er über den Verfall geschichtlichen Bewusstseins in Deutschland Klage führte. [39] Charakteristisch schien dabei für ihn der Umgang mit der Katastrophe des deutschen Ostens. Siebenhundert Jahre deutscher Geschichte seien damals annulliert worden, "so ziemlich die einzig bleibende Leistung, in der sich das gesamte deutsche Volk in den siebenhundert Jahren seit Ausgang des Mittelalters verkörperte. Damit fanden deutsche Volksstämme, ohne die das Bild Deutschlands ein halbes Jahrtausend hindurch unvorstellbar war, ihren Untergang". Auch Städte wie Königsberg, Danzig, Breslau, Stettin hätten ihren Untergang gefunden, ohne die der kulturelle und soziale Hintergrund der deutschen Geschichte unvollständig wäre. [40]

Der historische Bildungsstand in Deutschland sei derart heruntergekommen, dass sich kaum jemand klar mache, was mit der Vertreibung der Deutschen wirklich geschah: "die Dezimierung der Substanz des deutschen Volkes, bei der es nicht nur um eine Unsumme grausamer Einzelschicksale geht, sondern um einen nicht regenerierbaren Verlust, um ein Phänomen also, das man in Analogie zu Genozid mit der Bezeichnung 'Phylozyd' (Stammestötung) belegen müsste, denn es gibt von nun an keine Schlesier, Pommern, Ostpreußen, Sudetendeutsche usw. mehr. Ihre Sprache bzw. Dialekte, wichtige Bestandteile des deutschen Sprachkörpers, haben aufgehört zu existieren und müssen in 'historisch' gewordenen Wörterbüchern (sofern es welche gibt) nachgeschlagen werden." Das Wissen aber um die Kultur des Ostens gehöre "zum Wissen von uns selbst", und ebenso sollte dazu auch die Erkenntnis gehören, dass sich hierin Hitlers Verbrechensprinzipien gegen die Deutschen selbst kehrten ". [41]

Heuß sparte nicht mit einer kritischen Beurteilung der angelsächsischen Mächte, ihrer Politik der "

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 403

Bevölkerungsverschiebungen", insbesondere der Ermöglichung bzw. Hinnahme der Vertreibungspraxis. Bei seiner Kritik stützte er sich auf die Veröffentlichungen des amerikanischen Völkerrechtlers Alfred- Maurice de Zayas, der 1977 ein auch in Deutschland beachtetes Buch mit dem Titel "Die Anglo- Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen" publiziert hatte. [42]

Dass die Vertreibung von der Zeithistorie völlig ignoriert wurde, ist indes nicht ganz zutreffend. Wie bereits gesagt, wurde die große Dokumentation erneut aufgelegt. Auch brachte z.B. Wolfgang Benz 1985 ein Taschenbuch mit dem Titel "Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen" heraus, in dem die Vorgeschichte - u.a. auch der Generalplan Ost - dargestellt, die politischen Hintergründe beleuchtet, einige Erlebnisberichte abgedruckt und die Auseinandersetzung mit dem Thema bis in die Gegenwart thematisiert wurde. [43] Auch fanden in der Historiographie die außenpolitischen Entscheidungsprozesse während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit ein gewisses Interesse. Gleichwohl wird man einräumen müssen, dass alles in allem das Thema kein bevorzugter Gegenstand der Zeithistorie und der Publizistik in den achtziger Jahren war.

1986 veröffentlichte Andreas Hillgruber einen schmalen Band "Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums", das einer der Auslöser von Jürgen Habermas' Attacke auf "revisionistische" Historiker war, durch die der sog. "Historikerstreit " initiiert wurde. [44] In dieser Schrift, die aus zwei Studien - "Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 " und "Der geschichtliche Ort der Judenvernichtung" - besteht, vertrat Hillgruber die Ansicht, dass "der Mord an den Juden im Machtbereich des nationalsozialistischen Deutschland in den Jahren 1941 bis 1944 und die unmittelbar folgende Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und die Zertrümmerung des preußisch-deutschen Reiches 1944/45" zusammengehören; gleichwohl hätten sie unterschiedliche Vorgeschichten: Der Mord an den Juden sei ausschließlich eine Konsequenz aus der radikalen Rassendoktrin gewesen, die mit Hitler zur Staatsideologie wurde. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und die Zerschlagung des Deutschen Reiches hingegen seien "nicht nur eine Antwort auf die - während des Krieges noch gar nicht in vollem Maße bekannt gewordenen - Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" gewesen, sondern sie hätten schon vorher " erwogenen Zielen der gegnerischen Großmächte, die während des Krieges zum Durchbruch gelangten ", entsprochen. [45] Den Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Politik der Bevölkerungsverschiebung und den dabei angewandten Mitteln erwähnte Hillgruber nicht. Hillgruber verteidigte nachdrücklich den deutschen Verteidigungskampf im Osten, obgleich er den Krieg sicherlich verlängert und damit das Morden in den Vernichtungslagern fortgesetzt habe.

Hillgrubers Thesen wurden im Historikerstreit von der Mehrzahl der Historiker und Publizisten abgelehnt. [46] Man wertete sie als eine Verteidigung nationalsozialistischer Politik und als eine Relativierung des Holocaust. Tatsächlich sind sie überaus anfechtbar und riskant, doch hat die sehr scharfe Kritik an Hillgruber wohl auch den Tatbestand zur Voraussetzung, dass der Holocaust seit den sechziger Jahren im deutschen Geschichtsbewusstsein zunehmend in den Mittelpunkt der Geschichte der NS-Zeit gerückt ist und als einzigartig und unvergleichlich qualifiziert wird, während die Vertreibung gleichzeitig immer mehr aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt und lediglich als Sache der Betroffenen angesehen worden war.

Sicherlich spielten bei der zunehmenden Ausblendung der Vertreibung im kollektiven Bewusstsein politische Neuorientierungen in der deutschen politischen Öffentlichkeit eine gewisse Rolle. Die deutsche Öffentlichkeit wollte ganz überwiegend den Ausgleich mit Polen und den anderen osteuropäischen Völkern. 1972 bis 1976 hatte sich eine deutsch-polnische Kommission auf gemeinsame Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie geeinigt, welche die jüngste Geschichte durchaus nicht ausklammerten und sowohl die nationalsozialistische Besatzungspolitik charakterisierten als auch die "territorialen Veränderungen" und " Bevölkerungsverschiebungen" am Ende des Zweiten Weltkrieges benannten, die einzelnen Phasen unterschieden und auch die Integrationsleistung der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 404 würdigten - in Formulierungen, die beiden Seiten akzeptabel schienen, freilich bei den Vertriebenen auf Widerstand stießen.[47] Zwischen westdeutschen und polnischen Historikern bildeten sich erste Kommunikationsstrukturen heraus.

Einige andere Momente spielten bei dem Zurücktreten der Erinnerung an die Vertreibung eine nicht unwichtige Rolle:

• Nationale Kategorien verblassten im westdeutschen historisch-politischen Bewusstsein.

• Es trat eine gewisse, westlich orientierte Territorialisierung des Geschichtsbewusstseins ein, dessen Raumbild den Osten nicht eigentlich mehr umfasste.

• Die Erkenntnis von der Einzigartigkeit des Holocaust und der anderen NS-Verbrechen ließ anderes Unrecht, andere Verbrechen verblassen.

• In Veröffentlichungen über die Vertreibung hatte eine gewisse Aufrechnungsmentalität eine Rolle gespielt, die zu Recht deutlich kritisiert wurde. Auf diese Weise galt das Thema generell als nationalistisch affiziert, was dazu beitrug, dass es von der jüngeren Generation der Historiker seit den sechziger Jahren kaum - allenfalls am Rande von Nationalismus-Forschungen - aufgegriffen wurde. [48] Dies könnte sich in der Gegenwart ändern.

VI.

Ist mit der Vereinigung, dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und dem deutsch-polnischen Vertrag vom 14. November 1990, der die deutsche Ost- und die polnische Westgrenze festschreibt und die erweiterte Bundesrepublik zum Nachbarn Polens macht, eine neue Konstellation im Hinblick auf das deutsche Geschichtsbewusstsein entstanden? Zwar begann sich das Geschichtsbewusstsein zu verändern, doch war zunächst im Hinblick auf die vorherrschende Tabuisierung von Flucht und Vertreibung keine grundlegende Umkehrung des Gesamttrends festzustellen. Allerdings mehrten sich bald Anzeichen dafür, diesen Komplex, der angesichts nicht mehr in Frage gestellter Grenzen an Brisanz verloren hatte, nicht weiter auszuklammern. Auch gab es seit 1989/90 neue Möglichkeiten für die historische Forschung, die Ereignisse auf der Basis neu zugänglicher Quellen aufzuarbeiten und mit den bisherigen Ergebnissen zu vergleichen. Und diese Forschung begann man zu einem Teil in kooperativen Formen zwischen deutschen und polnischen Historikern durchzuführen, womit eine neue Phase der Forschung begann.

Was das deutsche Geschichtsbewusstsein anbetrifft, so erschien jedoch noch 1995 im Deutschland Archiv ein Aufsatz mit dem Titel: "Verlieren wir das historische Ostdeutschland aus dem Geschichtsbild? " [49] Der Autor Karlheinz Lau glaubte diese Gefahr sehr deutlich zu sehen und wollte ihr mit seinem Beitrag entgegentreten. Tatsächlich schienen mit den vor dem Kriege aufgewachsenen Generationen Geschichte und Kultur des deutschen Ostens in erheblichem Maße aus der Erinnerung zu verschwinden; das Gleiche galt für die Vertreibung. Sie waren nur bedingt im kollektiven kulturellen Gedächtnis aufgehoben, auch wenn zuweilen das Thema in der Publizistik auftauchte [50] und nach wie vor eine Kulturstiftung der Vertriebenen, Archive und Museen sowie Verlage existierten, die auf Themen des früheren deutschen Ostens spezialisiert waren, deren Bücher ihr Publikum fanden, was darauf hindeutet, dass das Interesse an die nächst folgenden Generationen von "Betroffenen " weitergegeben worden ist.[51] Dieses Interesse richtete sich nicht mehr nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart und drückte sich nicht nur in Reisen in die früheren deutschen Ostgebiete aus, sondern teilweise auch in dem Bedürfnis nach Kommunikation mit den Menschen, die heute in diesen Regionen wohnen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 405

In jüngster Zeit aber ist ein Wandel erkennbar. Zu nennen ist die Diskussion um ein "Zentrum gegen Vertreibung", das die Vertriebenenverbände in Berlin errichten möchten, das sich polnische Intellektuelle auch in Breslau vorstellen können und bei dem manches dafür spricht, die Vertreibung der Deutschen nicht nur mit der Vorgeschichte, sondern auch mit den Zwangsmigrationsprozessen im 20. Jahrhundert in Beziehung zu setzen. Bedeutsam sind in diesem Kontext auch die Veröffentlichung von Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" und die Resonanz hierauf in der Öffentlichkeit sowie die Serie des "Spiegels" sowie die Fernsehserie über die Vertreibung und die Vertriebenen.[52] Auch widmen sich Historiker erneut den Geschehnissen am Ende des Krieges und in der frühen Nachkriegszeit.[53]

Vieles deutet darauf hin, dass Flucht und Vertreibungs-Geschehnisse nicht mehr ausschließlich national interpretiert werden. Gegenwärtig gibt es in Deutschland jedenfalls kaum Anhaltspunkte für die Restauration eines traditionellen nationalen Geschichtsbewusstseins. Allerdings erscheint es möglich, dass sich im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts das Gedenken erweitern wird. Mit Peter Steinbach kann man fragen, ob es wirklich richtig ist, "wichtige Bezugspunkte kollektiver Erinnerung an erfahrenes Leid aus Furcht vor 'falschen Reaktionen' oder den 'Beifall von der falschen Seite' in den Hintergrund des historischen Bewusstseins" zu schieben und "aus der gemeinsamen Erinnerung auszuklammern" [54] . Diese Frage stellt sich - zumal nach den bestürzenden Erfahrungen mit Vertreibungen in Südosteuropa in den letzten Jahren - unbestreitbar nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Ebene, auf der es die verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen zu verknüpfen gilt.[55] Darin ist eine wichtige geschichtspolitische Aufgabe der nächsten Jahre zu sehen.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51-52/2002) - Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße (http://www.bpb.de/apuz/26557/die-vertreibung-der-deutschen- aus-den-gebieten-jenseits-von-oder-und-neisse)

Fußnoten

1. Vgl. dazu Gerhard Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. 2 Teile, Bonn 1986/89. Andere Autoren nehmen noch höhere Zahlen an, so Heinz Nawratil, Die deutschen Nachkriegsverluste unter Vertriebenen, Gefangenen, Verschleppten, München - Berlin 1987, S. 27-32. 2. Vgl. Lutz Niethammer, Diesseits des "Floating Gap". Das kollektive Gedächtnis von Identität im wissenschaftlichen Diskurs, in: Kerstin Platt/Mileran Dabag (Hrsg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1985, S. 25-50. Vgl. auch die Einleitung der Herausgeberinnen, ebd., S. 25-50. 3. Hans-Georg Lehmann, Der Oder-Neiße-Konflikt, München 1979, S. 63. 4. Michael Schwartz, Vertreibung und Vergangenheitspolitik. Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten, in: Deutschland Archiv, 30 (1997), S. 177-195, hier S. 179. 5. Vgl. Hermann Weiss, Die Organisationen der Vertriebenen und ihre Presse, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt/ M. 1985, S. 193-208; Alfred-Maurice de Zayas, Vertriebene, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Handwörterbuch der deutschen Einheit, Frankfurt/M. 1992, S. 732-741, hier S. 736. 6. Zum BHE vgl. Franz Neumann, Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten 1950-1960, Meisenheim am Glan 1968. 7. Vgl. Josef Foschepoth, Potsdam und danach. Die Westmächte, Adenauer und die Vertriebenen, in: W. Benz (Anm. 5), S. 70-90, hier insbes. S. 86 ff. 8. A. M. de Zayas (Anm. 5), S. 737. Vgl. ferner Karl Dietrich Erdmann, Die Zeit der Weltkriege

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 406

(Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. IV), Stuttgart 1976, S. 681. 9. Wilhelm Pieck, Reden und Aufsätze. Auswahl aus den Jahren 1908 bis 1950, Bd. 2, Berlin 1954, S. 555. 10. Walter Dirks/Eugen Kogon, Verhängnis und Hoffnung im Osten. Das Deutsch-Polnische Problem, in: Frankfurter Hefte, 2 (1947), S. 470-487. Wieder abgedruckt (und danach zitiert) bei W. Benz (Anm. 5), S. 125-142. 11. Ebd., S. 127. 12. Ebd., S. 130. 13. Vgl. Christoph Klessmann (Hrsg.), Nicht nur Hitlers Krieg. Der Zweite Weltkrieg und die Deutschen, Düsseldorf 1989. 14. Vgl. Hellmuth Auerbach, Literatur zum Thema. Ein kritischer Überblick, in: W. Benz (Anm. 5), S. 219-231, hier S. 219. 15. Vgl. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa. In Verbindung mit Adolf Distelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow, Hans Rothfels (und ab Bd. I/3 auch Werner Conze) bearbeitet von Theodor Schieder, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, 1954-1963; nachgedruckt München 1984. Hier wird nach der Originalausgabe zitiert. 16. Zur Entstehung des Projektes siehe Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998), S. 345-389. 17. Dokumentation, Vorwort zu Bd. I (Anm. 15), S. I-VII, hier S. I. 18. Ebd., S. VI f. 19. Vgl. Götz Aly, Macht, Geist, Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997; ders./Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991; Angelika Ebbinghaus/Karl-Heinz Roth, Vorläufer des 'Generalplans Ost'. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, (1992) 1, S. 62-95. Vgl. auch Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichte als Legitimationswissenschaft, Frankfurt/M. 1997; ders., Schuld der Historiker, in: Die Zeit, Nr. 14, 1997, S. 15. 20. M. Beer (Anm. 16), S. 389. 21. Dokumentation, Vorwort zu Bd. I (Anm. 15), S. VII. 22. Vgl. Martin Broszat, Massendokumentation als Methode zeitgeschichtlicher Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2 (1954), S. 202-213; Theodor Schieder, Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten als wissenschaftliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 8 (1960), S. 1-16. 23. Hans Rothfels in seiner Vorbemerkung des Herausgebers zum Aufsatz von Theodor Schieder, ebd., S. 1. 24. Ebd., S. 2. 25. Vgl. Dokumentation (Anm. 15), Bd. I, Vorwort, S. 1. 26. Vgl. Edgar Günther Lass, Die Flucht. Ostpreußen 1944/45, Bad Nauheim 1964. 27. Die deutschen Vertreibungsverluste. Bevölkerungsbilanzen für die deutschen Vertreibungsgebiete 1939/50, hrsg. vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden, Stuttgart 1958. 28. Exemplarisch für die Tagebücher: Hans Graf Lehndorff, Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945-1947, München 1961; Taschenbuchausgabe München 1967. Zur Darstellung der Kriegsgeschehnisse siehe Jürgen Thorwald, Es begann an der Weichsel, Stuttgart 1950; ders., Das Ende an der Elbe, Stuttgart 1950; Kurt Dieckert/Horst Grossmann, Der Kampf um Ostpreußen. Ein authentischer Dokumentationsbericht, München 1960; Hans von Ahlfen, Der Kampf um Schlesien. Ein authentischer Dokumentationsbericht, München 1961; Erich Murawski, Die Eroberung Pommerns durch die Rote Armee, Boppard am Rhein 1969. 29. Vgl. Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945, Stuttgart 1961. 30. Vgl. Konrad Kwiet, Die NS-Zeit in der westdeutschen Forschung 1945-1961, in: Ernst Schulin (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1965), München 1989, S. 181-198. 31. Von den 81 Abgeordneten, die sich im Bundestag 1965-1969 als "Heimatvertriebene

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 407

" bezeichneten, gehörten 36 der CDU/CSU, 38 der SPD und 7 der FDP an (Heribert Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozess während der Großen Koalition 1966 bis 1969. Struktur und Einfluss der Koalitionsfraktionen und ihr Verhältnis zur Regierung der Großen Koalition, Meisenheim am Glan 1975, S. 37). 32. Vgl. Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hrsg.), Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17. bis 21. März 1968 in Nürnberg. Protokoll der Verhandlungen, Bonn o. J., S. 11 und 996. 33. Vgl. Bernd Faulenbach, NS-Interpretationen und Zeitklima. Zum Wandel in der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22/87, S. 19-30; ders., Emanzipation von der deutschen Tradition? Geschichtsbewusstsein in den sechziger Jahren, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Politische Kultur und deutsche Frage. Materialien zum Staats- und Nationalbewusstsein der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1989, S. 73-92.

Auf der politischen Ebene bildete die Installierung der Regierung der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt für die Vertriebenen einen weiteren Einschnitt. Die Koalition löste das Vertriebenenministerium auf; seine Abteilungen wurden Teil des Innenministeriums. Für die Pflege des kulturellen Erbes des deutschen Ostens erhielten die Vertriebenenorganisationen jedoch auch weiterhin Bundesmittel: Einrichtungen der Vertriebenen - Archive, Museen etc. - wurden nach wie vor mit öffentlichen Mitteln gefördert.

Vor allem machte die neue Bundesregierung mit der Entspannungspolitik ernst. Im Rahmen der " neuen Ostpolitik" wurden Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen, der ?SSR und der DDR sowie ein Berlin-Abkommen ausgehandelt. Mit den Verträgen erkannte die Bundesrepublik die Grenzen in Europa, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden waren, im Kontext von Gewaltverzichtabkommen im Sinne ihrer Respektierung an, was weder ihre friedliche Veränderung noch ihr Durchlässigmachen ausschließen sollte. Auch versuchte man, Ausreisemöglichkeiten für die in diesen Ländern noch lebenden Deutschen zu vereinbaren. Die Vertriebenenverbände haben die Verträge, die à la longue zusammen mit dem KSZE-Prozess zur Erosion kommunistischer Herrschaft beitrugen, erbittert bekämpft. Willy Brandt, Egon Bahr und wurden als " Verzichtspolitiker" angegriffen. Allerdings gehörten zu den entschiedensten Protagonisten der " neuen Ostpolitik" auch Publizisten wie Marion Gräfin Dönhoff oder Christian Graf von Krockow, die aus dem Osten stammten. Die Verbandsfunktionäre sprachen nur sehr bedingt für die Vertriebenen insgesamt. Unter den Vertriebenen war inzwischen das gesamte politische Spektrum vertreten.

Im Umkreis der Vertriebenenverbände und im rechten politischen Spektrum erschienen in den siebziger und achtziger Jahren eine Reihe von Büchern über die Vertreibung, die eine Tendenz zur Aufrechnung der deutschen Verbrechen mit den Verbrechen an Deutschen enthielten. 34.Vgl. u. a. Heinz Nawratil, Vertreibungsverbrechen an Deutschen. Tatbestand, Motive, Bewältigung, München 1982; Wilfried Ahrens, Verbrechen an Deutschen. Dokumente der Vertreibung, Rosenheim 1983; vgl. auch H. Auerbach (Anm. 14), S. 226. 35. Vgl. Winfried Schlau, Die Eingliederung in gesellschaftlicher Hinsicht, in: Hans Joachim von Merkatz (Hrsg.), Aus Trümmern werden Fundamente. Vertriebene-Flüchtlinge-Aussiedler - Drei Jahrzehnte Integration, Düsseldorf 1979, S. 151-162, insbes. S. 159 f. Vgl. ferner M. Schwartz (Anm. 4), S. 189. 36. Richard von Weizsäcker, Reden und Interviews, Bd. I, 1. Juli 1984-30. Juni 1985, Bonn 1986, S. 12. 37. Vgl. Marion Frantzioch, Die Vertriebenen. Hemmnisse und Wege der Integration, Berlin 1987; Rainer Schulze/Doris von der Brelie-Lewien/Helga Grebing (Hrsg.), Flüchtlinge und Vertriebene

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 408

in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit, Hildesheim 1987; Paul Erker, Revolution des Dorfes. Ländliche Bevölkerung zwischen Flüchtlingsstrom und landwirtschaftlichem Strukturwandel, in: Martin Broszat u. a. (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, München 1988, S. 367-425. Vgl. auch Michael Schwartz, Integration von Flüchtlingen im Nachkriegsdeutschland. Ein Forschungskolloquium des Institutes für Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 44 (1996), S. 629-631; Sylvia Schraut/Thomas Grosser (Hrsg.), Die Flüchtlingsfrage in der Nachkriegsgesellschaft, Mannheim 1996. Siehe ferner H. J. von Merkatz (Anm. 35). 38. Andreas Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986, S. 12 f. 39. Vgl. Alfred Heuß, Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses, Berlin 1984. 40. Vgl. ebd., S. 142. 41. Ebd., S. 208 f. 42. Vgl. Alfred-Maurice de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. 7., erw. Aufl., Berlin 1988. 43. Vgl. W. Benz (Anm. 5). 44. Vgl. A. Hillgruber (Anm. 38). Zum Historikerstreit siehe "Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München - Zürich 1987; Bernd Faulenbach, Die Bedeutung der NS-Vergangenheit für die Bundesrepublik. Zur politischen Dimension des "Historikerstreits", in: ders./Klaus Bölling, Geschichtsbewusstsein und historisch-politische Bildung in der Bundesrepublik, Düsseldorf 1988, S. 9-38. 45. A. Hillgruber (Anm. 38), S. 9. 46. Vgl. "Historikerstreit" (Anm. 44). 47. Vgl. Empfehlungen für die Schulbücher der Geschichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen, Schriftenreihe des Georg-Eckert- Institutes für internationale Schulbuchforschung, Bd. 22/XV., erweiterte Neuaufl. Braunschweig 1995; Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.), Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland. Eine Dokumentation, Braunschweig 1979. Stellungnahmen aus dem Umfeld der Vertriebenen insbesondere in: Materialien zu deutsch- polnischen Schulbuchempfehlungen. Eine Dokumentation kritischer Stellungnahmen, Bonn 1980. 48. Helga Grebing hat die Frage aufgeworfen, ob nicht das Nichtakzeptieren der Leidensgeschichte der Vertriebenen "ein weiteres Kapitel der Unfähigkeit der Deutschen (sei), Trauerarbeit zu leisten: wie gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus nun auch gegenüber den Opfern seiner Folgen ", in: R. Schulze/D. v. d. Brelie-Lewien/H. Grebing (Anm. 37), S. 2. 49. Karlheinz Lau, Verlieren wir das historische Ostdeutschland aus dem Geschichtsbild?, in: Deutschland Archiv, 28 (1995), S. 633-640. 50. Vgl. Herbert Ammon, Stiefkind der Zunft. Die deutsche Zeitgeschichtsforschung hat sich für das Thema Vertreibung wenig interessiert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. September 1997, S. 10; Alfred Theisen, Die Vertreibung der Deutschen. Ein unbewältigtes Kapitel europäischer Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 7-8/95, S. 20-33. 51. Verlage dieser Art sind der Laumann-Verlag Dülmen, der Marx-Verlag in Leimen und der Rautenberg-Verlag in Leer. Im Laufe der Jahre haben alle Städte und Regionen im Osten ihre (Laien-)Historiker gefunden, die über ihre Stadt oder Region Bücher und Aufsätze veröffentlichten. 52. Vgl. Günter Grass, Im Krebsgang. Eine Novelle, Göttingen 2002; K. Erich Franzen, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, München 2001 (Buch zur ARD-Fernsehserie); Spiegel-Serie " Die Flucht", Nr. 13 ff., 2002. 53. Vgl. Detlev Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum " Transfer" der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei, München 2001; Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1999; Manfred Zeidler, Kriegsende im Osten. Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße 1944/45, München 1996. 54. Peter Steinbach, Die Vergegenwärtigung von Vergangenem. Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlichem Gedenken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3-4/97,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 409

S. 3-13, hier S. 4. 55. Vgl. Bernd Faulenbach, Von der nationalen zur universalen Erinnerungskultur?, in: Jahrbuch Arbeit, Bildung, Kultur 19/20 (2001/02), S. 225-236.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 410

"Plötzlich war überall eine Feuerwand"

Von Projektwerkstatt 2004 26.4.2005 Das Interview führten Schüler im Rahmen der Projektwerkstatt 2004. Bei dem Schülerwettbewerb sprachen zahlreiche Schülerinnen und Schüler von der 5. bis zur 11. Klasse in ihrer Heimatstadt mit Zeitzeugen über den Bombenkrieg in Deutschland.

Eigentlich war Würzburg mit drei Krankenhäusern eine Lazarettstadt, außerdem ein Kulturschatz. Hier liefen strategische Bahnlinien zusammen, und so wurden nur zwei deutsche Städte im Bombenkrieg mehr zerstört als sie. Der Zeitzeuge Koch sprach über seine Erlebnisse der Bombardierung mit der Klasse 10c des Riemenschneider-Gymnasiums Würzburg im Rahmen der Projektwerkstatt 2004.

Die Schülerinnen und Schüler sprachen mit dem Zeitzeugen Herrn Koch. Er erlebte die Bombardierung der Stadt als Fünfjähriger im März 1945.

Gefüllter Wassereimer ist Pflicht

"Ich hatte einen drei Jahre älteren Bruder. Mit meiner Familie wohnte ich in der Sternstraße, also direkt in der Innenstadt, neben der Druckerei der Lokalzeitung (auch heute gibt es dort noch die Redaktion MAINPOST). In Würzburg selber war es während des gesamten Krieges Vorschrift, in seinen Kellern mit Wasser gefüllte Behälter für den Fall einer Bombardierung aufzubewahren, damit man bei einer Zerstörung, wo dann auch die Wasserleitungen zerstört wären, seine Kleider nass machen konnte und so einigermaßen "resistent" durch die Flammen laufen konnte.

Würzburger Bevölkerung richtet sich auf Bombenkrieg ein

Außerdem wurden vorher schon in den Kellern die Mauern zwischen den jeweiligen Häusern zerstört und durch eine dünne Mauer ersetzt, damit bei einer Bombardierung die Menschen, die sich in die Keller geflüchtet hatten, diese Mauer leicht zerstören und leichter fliehen könnten. Des Weiteren wurden alle Häuser mit Luftschutzräumen mit "LS" gekennzeichnet, damit jeder die Häuser mit Luftschutzräumen erkennen konnte und dort bei Fliegeralarm Unterschlupf finden konnte, da es in Würzburg ansonsten nur ein oder zwei Bunker gab. Wir lebten während des Krieges nicht dauernd in Angst und viele dachten sogar, dass Würzburg überhaupt nicht mehr zerstört wird, obwohl der Bahnhof selber schon zwei Monate vor der "Hauptbombardierung" zerstört worden war.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 411 Bombenangriff auf Würzburg

In der Nacht des 16. März gab es Fliegeralarm und wir verbrachten die ganze Nacht mit Angst im Keller, als dann plötzlich die ersten Bomben über Würzburg abgeworfen wurden. Ich bekam furchtbare Angst. Nach einiger Zeit als keine Flieger mehr zu hören waren, zerstörten wir die Mauer und nässten unsere Kleider. Durch den unterirdischen Kellergang gelangten wir in die Druckereihalle der Zeitung, die aus Beton gebaut war und deshalb nicht brannte. Diese Halle war riesengroß, mit starken Mauern gebaut und somit drang keine Hitze von außen durch.

Flucht durch die brennende Stadt

Da wir dort aber auch nicht ewig bleiben konnten, verließen wir die Halle über das Werkstor. Wir mussten durch die enge Sternstraße und Plattnerstraße hindurch, wo alle Häuser aus Holz gebaut waren und deshalb lichterloh brannten. Dort hatte sich eine richtige Feuerwand gebildet, durch die wir hindurch mussten. Zum Glück hatten wir unsere Kleider nass gemacht, sodass wir einigermaßen durch die Flammen rennen konnten. Wir rannten bis zur Domstraße, dort waren wir dann erst einmal etwas sicherer, da hier nur vereinzelt die Häuser brannten und die Straße breit war. In dem ganzen Tumult bemerkten wir erst gar nicht, dass wir meinen älteren Bruder auf der Flucht verloren hatten. Wir gingen weiter durch die Domstraße, am brennenden Rathausturm "Grafen Eckart", vorbei Richtung Main.

Rettung außerhalb der Stadt

Jeder, der sich retten konnte, wollte zum Main oder in den Ringpark. Zwei Polizeibeamte ließen uns nicht über die Alte Mainbrücke, die erst später zerstört wurde, damit wir nicht auf die andere Mainseite fliehen konnten, da es dort auch brannte. Also liefen wir am Flussufer entlang aus der Stadt heraus (die Stadt hörte damals schon nach der Arndtstraße auf) zu den ganzen Schrebergärten, die sich dort befanden. Hier fanden wir - wie durch ein Wunder- dann auch meinen Bruder wieder. Die erste Nacht schliefen wir in einem dieser Gärten. Danach zogen wir einfach in ein leer stehendes Haus im Frauenland ein, wo wir dann die nächsten Jahre mit vielen anderen Familien, die ebenfalls keine eigene Wohnung mehr hatten, wohnten."

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 412

Durch den Bombenhagel zum Bunker

Von Projektwerkstatt 2004 27.4.2005 Das Interview führten Schüler im Rahmen der Projektwerkstatt 2004. Bei dem Schülerwettbewerb sprachen zahlreiche Schülerinnen und Schüler von der 5. bis zur 11. Klasse in ihrer Heimatstadt mit Zeitzeugen über den Bombenkrieg in Deutschland.

Als 15-Jähriger erlebte Günter Anders die Bombardierung seiner Heimatstadt Bremerhaven 1944. Das Ziel der Alliierten war die komplette Zerstörung der Stadt. In keiner halben Stunde vernichteten Bomber der Royal Air Force 2.670 Häuser. Ein Interview von Schülern der Klasse 10b der Johann-Gutenberg-Schule aus Bremerhaven im Rahmen des Schülerwettbewerbs Projektwerkstatt 2004.

Die Schülerinnen und Schüler sprachen mit dem Zeitzeugen Günter Anders. Er lebte zum Zeitpunkt der Bombardierungen als 15-Jähriger bei seinen Eltern im Hause Grazer Straße 26, Ecke Keilstraße in Bremerhaven.

Das Ziel der Alliierten am 18. September 1944 war nichts weniger als die komplette Zerstörung Bremerhavens. 206 Bomber der Royal Air Force vernichteten innerhalb von 20 Minuten insgesamt 2.670 Häuser. Die heutigen Stadtteile Mitte und Geestemünde Bremerhavens wurden durch den Angriff fast komplett zerstört. Als "mahnender Zeigefinger" blieb der Turm der Großen Kirche in der Stadtmitte erhalten.

Alarm findet kaum Beachtung

"Als gegen 20 Uhr Luftwarnung gegeben wurde, fand dies kaum Beachtung. Zu oft schon hatten die Sirenen geheult, zu oft schon war 'drohende Luftgefahr' oder gar 'Vollalarm' angezeigt gewesen. Eine gewisse Gleichgültigkeit breitete sich aus, man 'überhörte' manchen Alarm, suchte erst gar nicht den Schutzraum auf.

Tannenbäume am Himmel: Es wird ernst

Wenn aber die Geschütze der am Stadtrand aufgestellten Flakbatterien in Aktion traten und das Feuer auf feindliche Flugzeuge eröffneten, dann war es ein Hasten und Eilen zu den als Luftschutzräumen ausgebauten Kellergewölben. Wir begaben uns gegen 21.30 Uhr zur Nachtruhe. Ich lag bereits in festem Schlaf, als etwa eine Viertelstunde später das Geheul der Sirenen 'Vollalarm' ankündigte. Aber als schon wenige Minuten später die Flakgeschütze ihren ohrenbetäubenden Lärm begannen und am Himmel von den anfliegenden feindlichen Flugzeugen 'Tannenbäume' zur Markierung für die nachfolgenden Bomber gesetzt wurden, überkam uns ein ungutes Gefühl.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 413 Das Haus ist getroffen

Die hastige Flucht in Richtung Keller war begleitet von den Motorengeräuschen der über der Stadt fliegenden Flugzeuge. Als wir das Erdgeschoss erreicht hatten, schlugen bereits Bomben ein. Nach kurzem Aufenthalt im Schutzraum stellte ein Mitbewohner fest, dass in unserem Haus wie auch in den Nebenhäusern Feuer durch Brandbomben ausgebrochen und an ein Löschen nicht zu denken war. Wir entschlossen uns zur Flucht - in Richtung Große Kirche. Aus dem Schutzraum hatten wir einige Wolldecken mitgenommen, die mit Wasser getränkt wurden. Die triefenden Decken über den Kopf geworfen, verließen wir das bereits stark brennende Haus.

Flucht durch den Bombenhagel

Kaum 50 Meter unseres Fluchtweges hatten wir hinter uns gebracht, als meine Mutter und ich von der Druckwelle einer bei der Marienkirche explodierenden Luftmine gegen eine Hauswand geschleudert und dann zu Boden gerissen wurden. Während in nächster Nähe weitere Bomben fielen, zogen uns hilfsbereite Anwohner in einen Hauseingang. Sie forderten uns auf, ihren Luftschutzraum aufzusuchen; mein Vater aber, der auf seinem Arm meine kleinere Schwester trug, trieb uns förmlich weiter. Bei unserer Flucht zu den rettenden Bunkern auf dem Kirchenplatz fielen weiterhin Bomben. Sie durchschlugen in unserer unmittelbaren Nähe die Wohnhäuser und sprengten deren Mauern. Die fast gleichzeitig abgeworfenen Stabbrandbomben und Phosphorkanister sorgten für großflächige Brände.

Etwa in Höhe des Wohnhauses Grazer Straße 16 schlug vor uns ein Teil eines herabfallenden Giebels berstend auf den Fußweg. Weder auf Feuer und Funken oder auf herabpolternde Steinbrocken achtend, überwanden wir mit einigen Anwohnern, die ebenfalls die brennenden Häuser verlassen hatten, die auf dem Wege liegenden Hindernisse. Hinter uns, aus Richtung Lloydstraße, tobte der glühende Feuersturm, der in seinem Sog alles mit sich riss. Diese Angst im Nacken trieb uns vorwärts, das rettende Ziel greifbar vor Augen. Durch das Inferno von zusammenstürzenden Häusern und einem hell auflodernden Flammenmeer drangen Schreie von Menschen, die auf ihrer Flucht von herab fallenden Trümmern oder glühenden Phosphor getroffen waren. Niemals vorher hatte ich solch entsetzliche Schreie gehört. Lawine von Dachziegeln

Nur noch wenige Meter waren bis zum Kirchenplatz zurückzulegen, als wir uns in den Hausflur des bis dahin unversehrten Wohngebäudes Ecke Mühlenstraße - Grazer Straße 2 retten mussten. Keine Sekunde zu früh, denn vom gegenüberliegenden Gebäude schlug wie eine Lawine eine große Anzahl von Dachziegeln auf die Mitte der Straße, gefolgt von brennenden Dachsparren. Nach kurzer Pause folgte dann das letzte Stück. Auf dem Kirchenplatz waren wir vorerst in Sicherheit, der hinter uns liegenden Hölle entronnen."

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 414

Deutschland nach 1945

9.4.2005

Deutschland im Mai 1945: Wirtschaft und Infrastruktur sind zusammengebrochen, die Alliierten bemühen sich um den Aufbau eines nichtfaschistischen Landes. Dazu sollten nicht nur die Hauptschuldigen des Nationsalsozialismus verfolgt und alle sozialen Institutionen von ehemaligen Parteigängern befreit werden: Eine umfassende Erziehung sollte die ganze Gesellschaft entnazifizieren.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 415

Neubeginn: "Alltag" in Nachkriegsdeutschland

Von Karl Heinz Kirchner 27.4.2005

Trümmerfrauen, Tauschmärkte, das erste Weihnachtsfest: In kurzen Szenen schildert Karl Heinz Kirchner die Tage nach dem Krieg. Aus Stahlhelmen wurden Siebe, aus Eicheln Kaffee. Zwischen Ruinen, Reisenden, Hunger und nächtlicher Schwärze dominierte für ihn ein Gefühl: die bloße Freude am Überleben.

Weihnachten 1945

Ein Dörfchen im Marschland Niedersachsens vor den Toren Hamburgs. In die Niederungen entlang der Elbe hatte es Flüchtlinge aus dem Osten verschlagen. Sie waren gegen den Willen der meisten Bauern in Notquartieren (Ställen, Kammern, auf unausgebautem Boden) untergebracht worden.

Das Nebeneinander war ohne Mitleid. Die einen waren froh, ihr Leben gerettet zu haben. Die anderen fühlten ich belästigt. Die Flüchtlinge waren alles losgeworden, nun ging es schlicht ums Überleben in kargen und kalten Zeiten. Wand an Wand und ohne Lastenausgleich. Hier fast das Nichts, daneben die Segnungen der Hausschlachtung und Vierfelderfrucht. Köstliche Gerüche drangen oft durch die Ritzen und trafen durch die Nase auf leere Mägen. Bis auf das unvermeidliche "Guten Tag" gab es auch sonst kaum Möglichkeiten zum Austausch. Mit einer Ausnahme: Weihnachten 1945 – an einem Abend war alles anders. Die kleine Stube mit dem Eisenbett für drei Personen, den leeren Holzkisten als Regalen und Schränken war plötzlich warm. Der Kachelofen von nebenan aus dem Wohnzimmer war zu Heiligabend beheizt worden. Den Flüchtlings-Anrainern bescherte das zum erstenmal in dem kalten Winter 1945 eine warme Stube: Fröhliche Weihnachten.

Weihnachten 1945

Dieser vielbeschworene 'Aufbauwille', eine den nachgeborenen so oft vorgehaltene Eigenschaft, ... das war nichts weiter als der Wunsch, das nackte Überleben zu Leben zu machen; der eine mit etwas mehr, der andere mit etwas weniger Glück.

Ich bin sicher, diese ständig mit der ungeheuren Leistung ihrer Väter und Großväter konfrontierten Nachgeborenen würden nach einer vergleichbaren Katastrophe unter vergleichbaren Umständen ebensoviel 'leisten'. Manchmal haben mich ausländische Freunde aus neutralen Ländern mit halber Bewunderung gefragt: 'Wie habt ihr das alles ausgehalten?' Und ich habe immer geantwortet: 'Wie ihr es ausgehalten hättet.'

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 416 Die pure Freude am Überleben

25. August 1945. Einige der alten Hauptstrecken der Reichsbahn können wieder befahren werden. Über zerbombte und notdürftig wieder hergerichtete Gleiskörper, über Behelfsbrücken und durch zerstörte Bahnhöfe. Militärtransporte und Güterzüge sind unterwegs. Wer reisen muß, muß Güterzüge stürmen und hoffen, daß sie in die richtige Richtung fahren.

Halb Deutschland muß reisen: Ausgebombte, Flüchtlinge aus dem Osten, Vertriebene, entlassene Soldaten, befreite Häftlinge und die Millionen Fremdarbeiter, die im Krieg für die deutsche Rüstungsindustrie zwangsverpflichtet wurden. Und die Hamsterer, die auf dem Lande Lebensmittel erbettelten oder tauschten: Fotokamera gegen 20 Pfund Kartoffel.

Mein Zug fuhr von Würzburg nach Aschaffenburg, offene Waggons mit Steinkohle, oben drauf Hunderte von Mitreisenden. Ich hielt mich an der Rückwand des Waggons fest. Mit 16 Jahren war ich aus amerikanischer Gefangenschaft in Oberbayern entlassen worden. Nun wollte ich ins hundertfach zerbombte Gelsenkirchen zu Verwandten, dem vereinbarten Sammelplatz für die in alle Himmelsrichtungen versprengten Familienmitglieder. Auf abschüssiger Strecke durch den Spessart gewann der Zug an Fahrt. Die Lokomotive teilte dies durch kräftiges Rucken an die 42 Kohlewaggons mit. Ich verlor dabei den Halt, rutschte ab und sauste nach unten. Der nachfolgende Waggon krachte mir ins Kreuz. Der Schlag wurde aber durch den prallgefüllten Wehrmachtstornister abgefangen. Ich kippte dabei nach vorn weg und landete, den Wäschebeutel fest in der linken Hand, fast unbeschädigt zwischen den Gleisen. Schotter ramponierte etwas die Kniee. Der Zug brauste in ganzer Länge über mich weg und hielt überraschenderweise in einiger Entfernung. Mitreisende auf dem Tender der Lokomotive hatten den Lokomotivführer auf den Sturz aufmerksam gemacht. Sie kamen mit Decken, um die Leichenteile zu bergen. Ich erschien ihnen kopflos und schwer geschockt, aber mit Kopf und allem Zubehör. Ich erlebte ursprüngliche und selbstlose Freude von kohlestaubgeschwärzten Mitmenschen. Und das war nach sechs Kriegsjahren etwas wahrhaft Ungewöhnliches.

Die Geschichte hatte noch eine erfreuliche Pointe. Des Schocks wegen konnte ich nicht weiter. Ich versuchte, in Stockstadt am Main ein Quartier zu finden, und ich fand es bei einer Familie Bauer. Die waren gut durch den Krieg gekommen und hatten in den letzten Kriegstagen aus beschädigten Mainschiffen reichlich Lebensmittelkonserven, Mehl und andere Schätze bergen können. Mitten im Chaos des totalen Zusammenbruchs ein Paradies mit lauter freundlichen Menschen, reichlich und gut gedecktem Tisch und frischem Bettzeug. Das hält kein Schock aus. 14 Tage später begann das neue Abenteuer in Richtung Gelsenkirchen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Darf es ein Viertelpfund mehr sein?

Not macht erfinderisch. Nie galt die Volksweisheit mehr als 1945. Aus Stahlhelmen wurden Siebe und Töpfe, aus Gasmaskenbüchsen Gießkannen, aus Eierhandgranaten Kinderspielzeug. Nur beim Hungern versagte die Phantasie, weil der Magen Handfestes verlangte. Und trotzdem ...

... "legen Sie beim Zubettgehen die Hände auf den Magen, dann haben sie das Gefühl, als wäre was drin." Zigaretten waren Hilfsmittel gegen Kohldampf. Kohl, Steckrüben und Kartoffelschalen waren Grundnahrungsmittel – so es sie überhaupt gab. Die ersten wiedererscheinenden Tageszeitungen veröffentlichten Kochrezepte für eine Quasi-Mehl-Suppe aus Erbsen, Grünkern oder Mais. Die Brennessel kam zu hohen Ehren als Spinatersatz (in manchen Feinschmeckerlokalen ist das bis heute geblieben, zumindest als Suppe), Baumrinde, fein gemahlen, half Mehl zu "verlängern", Eicheln wurden gebrannt zum Kaffee-Ersatz, Eichelmehl und gebackene Kartoffelschalen retteten die Illusion von Eßbarem. Aber auch sonst galt Bio-Kultur: Für das Waschen wurden Kastanien empfohlen, zum Färben von schwarzen oder blauen Sachen Efeublätter, Kartoffelschalen oder Ochsengalle, für das Färben von Kleidern rote Rüben, Birkenlaub, Sauerampfer oder die äußere Schale reifer Walnüsse oder Eichenrinde. Die Farbechtheit war damit nicht zu garantieren, der nächste Regen entfärbte wieder radikal.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 417

Über die fast leeren Regale der Fleischereien trösteten sich die in Schlangen nach ihrer knappen Ration anstehenden Nachkriegsdeutschen mit dem treffenden Witz hinweg: "Frieden ist erst, wenn der Fleischermeister wieder sagt... darf es ein Viertelpfund mehr sein?"

Fringsen hieß der neue Sport

In der Zeit, in der es nichts mehr gab, entstanden im August 1945 vielerorts "Tauschzentralen" und " Schwarze Märkte", auf denen fast alles zu haben war: "Tausche graues Kleid gegen ein Bügeleisen, einen kleinen Herd gegen Herrenschuhe der Größe 41, ein guterhaltenes Sofa gegen einen Kinderwagen."

Die "Kompensationsgeschäfte" halfen beim Überleben. Für 320 Reichsmark war ein Pfund Butter zu haben. Ein halbes Pfund blieb für den eigenen Verbrauch. Mit der anderen Hälfte wurde gehandelt. Ein halbes Pfund Butter gegen 50 Zigaretten. Zehn Zigaretten für den eigenen Verbrauch, 40 Zigaretten brachten eine Flasche Schnaps und eine Flasche Wein. Der Wein war für den Eigenbedarf, mit dem Schnaps ging es aufs Land. Ein Bauer war bereit, dafür zwei Pfund Butter einzutauschen, Kapital für den neuen Ringtausch zu eigenen Gunsten.

Weniger als 1.500 Kalorien pro Person (je nach Zone: bei Amerikanern und Engländern mehr, bei Franzosen und Sowjets weniger) wurden auf Lebensmittelkarten zugestanden – nur: Offiziell gab es anfangs oft so gut wie gar nichts. Man mußte sich selber helfen. "Illegale Beschaffung von Lebensmitteln und Heizmaterial", sagte die Polizei dazu, Selbsthilfe die bedrängten Bürger, die Steigstrecken der Reichsbahn mit Schmierseife einrieben, damit die Kohlen- und Güterzüge langsam genug fuhren, um aufspringen und abladen zu können. "Fringsen" hieß ein Jahr später dieser Sport, weil der Kölner Oberhirte Josef Kardinal Frings das illegale Tun segnete: "Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise durch seine Arbeit oder durch bitten nicht erlangen kann."

40 Mark oder vier Zigaretten

In München wird am 12. Mai 1945, nach 2.077 Nächten die Verdunkelung aufgehoben, die am 3. September 1939 aus "Luftschutzgründen" eingeführt worden war. Zu sehen waren Tag und Nacht vor allem Trümmer. In München zum Beispiel: zehn Millionen Kubikmeter Schutt, verursacht durch 74 Luftangriffe mit insgesamt 450 Luftminen, 61.000 Sprengbomben, 142.000 Flüssigkeits- und 3.316.000 Stabbrandbomben. Dabei waren 81.500 Wohnungen zerstört und 300.000 Münchner obdachlos geworden, 6.632 Personen kamen um.

München ist nur ein Beispiel – mehr als 131 Städte waren im Luftkrieg, im Feuersturm untergegangen. Dresden, Hamburg, Köln und Berlin waren die schlimmsten Beispiele, kleine Städte wie Kleve, Wesel und Düren verschwanden fast von der Bildfläche, Mittelstädte wie Aachen, Koblenz, Würzburg, Pforzheim und Kassel wurden geradezu gepflügt. Das führte vielerorts nach dem Krieg zur Dienstverpflichtung der Bevölkerung. "100 ehrenamtliche Arbeitsstunden" waren pro Jahr bei der Enttrümmerung zu leisten. Da viel mehr Frauen als Männer übrig geblieben waren, kam so die " Trümmerfrau" zu Ehren und Strafarbeit für 40 Reichsmark Wochenlohn – den Gegenwert von vier Zigaretten.

Auszug aus: PZ-Extra (Nr. 81/1995) - Neubeginn

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 418

Errichtung der Besatzungsherrschaft

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 11.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Nach seiner Kapitulation teilten die Alliierten Deutschland in vier Besatzungszonen auf. Rasch wurde eine provisorische Verwaltung eingerichtet, geleitet vom alliierten Kontrollrat. Parallel dazu unterstützten sie die Gründung politischer Gruppierungen, um das Land langfristig an eine eigene deutsche Regierung zu übertragen.

Einleitung

Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Reims und Berlin-Karlshorst am 7./8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Zugleich war, wenige Tage nach Hitlers Selbstmord, die staatliche Existenz des Deutschen Reiches beendet. Darüber konnte die noch von Hitler eingesetzte Regierung des Großadmirals Karl Dönitz, die bei Flensburg bis zu ihrer Verhaftung am 23. Mai 1945 ein Schattendasein führte (ihr einziger Zweck war die Kapitulation) niemanden außer sich selbst hinwegtäuschen.

Deutschland war weitgehend zerstört, militärisch erobert und von alliierten Truppen besetzt. Die Niederlage war vollständig. Es gab keine deutsche staatliche Autorität mehr. Die großen Städte lagen in Trümmern. Flüchtlinge und Vertriebene strömten aus den Ostgebieten herein, auf der Suche nach Obdach und Nahrung und einer neuen Heimat. Der Alltag der Deutschen war von Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung, von Apathie und der Sorge um vermisste Angehörige bestimmt. Die Sieger fanden unterwürfige und abgestumpfte Menschen vor, die sich auf den Straßen nach ihren Zigarettenkippen bückten, um die Tabakreste zu Ende zu rauchen. Besiegte, die sich elend, gedemütigt und als Opfer fühlten.

Die siegreichen Alliierten hatten begeisterte Nationalsozialisten erwartet und wunderten sich, dass die Deutschen genauso fassungslos wie sie selbst die Überreste der nationalsozialistischen Verbrechen zur Kenntnis nahmen. Natürlich glaubten sie das Entsetzen der Menschen von Weimar nicht, die nach Buchenwald befohlen wurden, um das befreite KZ zu besichtigen, ebensowenig wie sie den Dachauern glaubten, dass sie nicht gewusst haben wollten, was hinter dem Lagerzaun vorgegangen war. Niemand hatte Mitleid mit den unterlegenen Deutschen.

Befreiung und Besetzung

Am gleichen Morgen (29. April 1945 - Anm. d. Red.) erhielt das 3. Bataillon des zur 45. Infanteriedivision gehörigen 157. Infanterieregiments der US-Army den Befehl, das Lager Dachau einzunehmen. [...] Der Zugang zum gesamten Lagerkomplex war ungefähr einen Kilometer westlich vom Schutzhaftlager gelegen, und es war von dort nicht sichtbar.

Dennoch wurden die Amerikaner unmittelbar und ohne Vorwarnung mit dem äußersten Grauen der KZ-Welt konfrontiert: An der Zufahrtsstraße zum Eingang des SS-Lagers stand ein Zug, der eineinhalb Tage zuvor aus Buchenwald angekommen war - ein langer Zug mit 39 Waggons, und in den meisten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 419 lagen Leichen, die ausgemergelten Körper toter Häftlinge. Einige lagen erschossen neben dem Gleis. [...]

Dieser Anblick verstörte die US-Soldaten zutiefst: "Kampferprobte Veteranen weinten, starrten mit düsteren, unbewegten Gesichtern vor sich hin, und der Zorn zerrte an ihren ohnehin schon angespannten Nerven." [...]

Beim weiteren Vormarsch stießen die amerikanischen Soldaten auf die Lazarettgebäude, die sich in unmittelbarer Nähe des Eingangs befanden. Aus dem Lazarett wurden mindestens 100 Deutsche, darunter auch einige Frauen, auf die Straße herausgeholt. Zwei GIs überprüften, ob die in den Betten liegengebliebenen Patienten tatsächlich gehunfähig waren. Währenddessen wurden draußen auf Geheiß des Kompaniechefs die SS-Leute von den übrigen Gefangenen abgesondert. Dabei half ein polnischer KZ-Häftling, der SS-Leute identifizierte, welche ihre Uniform gegen andere Kleidungsstücke eingetauscht hatten. [...]

Zugleich hatte das Auftauchen der Amerikaner das ganze Lager in Bewegung gebracht. [...] "Alles gerät in Bewegung. - Kranke verlassen die Betten, die fast Gesunden und das Personal rennen auf die Blockstraße, springen aus den Fenstern, klettern über die Bretterwände. - Alles rennt auf den Appellplatz. - Man hört von weitem bis hierher das Schreien und Hurrarufen." [...] Die Situation drohte außer Kontrolle zu geraten [...] und die Amerikaner hatten alle Mühe, einen Massenausbruch zu verhindern und einigermaßen geordnete Verhältnisse herzustellen.

Noch die Freude über die Befreiung forderte im KZ Todesopfer. Drei Hälftlinge, die achtlos vor Aufregung an den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun gerieten, wurden durch Stromschlag getötet.

Jürgen Zarusky, "That is not the American Way of Fighting", in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Gericht und Gerechtigkeit, Dachauer Hefte 13. (Dezember 1997), S. 35 - 37, 44 - 47.

In einem Hauskeller verborgen erlebte der Schriftsteller Günter Kunert im April 1945 die Eroberung Berlins durch die Sowjetarmee.

Die Schlacht um Berlin beginnt. [...] Dafür schlägt man nun sein Lager im Keller auf. [...] Die Lebensmittel werden knapp. Und, weitaus schlimmer, die Zigaretten. [...]

Durch die Kellerräume wabert ein Gerücht, das auch mich erreicht. Am Königstor, am Abschluß der Greifswalder Straße, käme ein gewaltiger Lagerbestand von Tabakwaren zur Verteilung, um sie nicht den Russen zu überlassen. [...] Während einer Feuerpause überqueren wir hakenschlagend die breite Elbinger Straße, springen über herabbaumelnde Oberleitungen und landen auf der anderen Seite in einem Hausflur. Es hagelt Geschosse aller möglichen Kaliber. [...] Sobald meine russischen Freunde ihre Geschütze und Minenwerfer in Weißensee nachladen müssen, sprinten wir einige Häuser weiter. [...]

Endlich: das Königstor. Ein demolierter, kaum wiedererkennbarer Platz. Dumpfe Detonationen. Bei verängstigten Hausbewohnern erkundigen wir uns nach der Quelle unseres Verlangens. Aber hier werden nur Friedhofsplatzkarten verteilt, sonst nichts. [...] Und wir müssen den gleichen Weg zurück, ohne, wie vorher durch unsere manische Verblendung, die Gefahr zu mißachten.

[...] Im Keller nichts Neues. Einer der Mieter hat in weiser Voraussicht seinen Detektorempfänger von 1922 nicht weggeworfen. [...] Und wir werden sogleich eine Falsettstimme mit dem um zwölf Jahre verspäteten Satz vernehmen: "Der Führer ist tot!" [...]

Getümmel setzt ein. Papiere werden hervorgezerrt, Dokumente, Ausweise, Fotos, Indizien für die eigene Schuld, für die Mitverantwortung an dem Komplex "Drittes Reich". Ab ins Fegefeuer mit dem belastenden Material, auf daß man selber gereinigt und geläutert aus dem Keller in eine neue Zeit

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 420 hervorgehe. [...]

Hinaus ins Freie. Etwas macht sich bemerkbar. Etwas ganz Ungewöhnliches. [...] Es ist die völlige Stille. Die zur Phrase geronnene Stille nach dem Sturm. [...]

Warten, abwarten, was kommt. Was soll schon kommen? Die Sieger natürlich. Die ersten beiden zeigen sich schon. Sechzehnjährige, jeder mit einem Fahrrad versehen, wie man es "zufällig" auffindet. Die Käppis auf den kahlgeschorenen Schädeln, Pistolen im Stiefelschaft. [...] Aus ihren weiten Uniformblusen schaufeln die Soldaten händeweise Machorka, (Tabakersatz - Anm. d. Red.), [...]. Was werden uns die Sowjets sonst noch bescheren? [...]

Günter Kunert, Erwachsenenspiele. Erinnerungen, München 1997, S. 79 ff.

Berliner Deklaration

Die Armeen der Sieger richteten sich in den vier Besatzungszonen ein, in die Deutschland zum Zweck der Verwaltung und Befreiung verabredungsgemäß eingeteilt wurde. Soweit es für die militärischen Zwecke erforderlich war, wurde die zerstörte Infrastruktur notdürftig instand gesetzt: Kanalisation und Behelfsbrücken sowie Wasser- und Energieversorgung. Für die Militärregierungen und Besatzungstruppen in den größeren Städten, Landkreisen, Ländern wurden Wohnungen und Büros beschlagnahmt. Die Sieger etablierten sich auf unbestimmte Zeit. Die Besatzungszeit, so viel war sicher, würde lange dauern.

Am 5. Juni 1945 machten die Sieger öffentlich bekannt, dass die oberste Regierungsgewalt in Deutschland von Vertretern der vier alliierten Mächte übernommen sei und von ihnen gemeinsam ausgeübt werde. Die "Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands" trug die Unterschrift der vier jetzt in Deutschland mächtigsten Männer, der Oberbefehlshaber General Dwight D. Eisenhower (USA), Marschall Georgij Schukow (UdSSR), Feldmarschall Bernhard Law Montgomery (Großbritannien) und General Jean de Lattre de Tassigny (Frankreich). Sie hatten sich in Berlin getroffen, um im Namen ihrer Regierungen neben einigen anderen Dokumenten diese "Berliner Deklaration" zu unterzeichnen, die dann in den drei künftig in und für Deutschland maßgebenden Sprachen englisch, russisch und französisch veröffentlicht wurde.

Diese Junideklaration wiederholte die militärischen Kapitulationsbedingungen und verband sie mit einer Ankündigung der Maßnahmen, die den Deutschen bevorstanden, darunter Abrüstung und Entmilitarisierung sowie Verhaftung der Naziführer und Kriegsverbrecher. Der entscheidende Satz lautete, dass die Regierungen in Washington, London, Moskau und Paris die Hoheitsrechte über Deutschland übernommen hätten "einschließlich aller Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden".

Die vier Oberbefehlshaber setzten mit ihren Unterschriften drei weitere Schriftstücke in Kraft, in denen die Konturen des Besatzungsregimes über Deutschland festgelegt waren. Es handelte sich um " Feststellungen" über das Kontrollverfahren, über die Besatzungszonen und um ein drittes Dokument, in dem die Absicht der Regierungen der vier Mächte zum Ausdruck gebracht wurde, "sich mit den Regierungen anderer Nationen gelegentlich der Ausübung der Macht über Deutschland" zu beraten. Alle diese Papiere waren das Ergebnis interalliierter Beratungen seit Anfang 1944. Die Unterzeichnung und Verkündung in Berlin war vor allem ein demonstrativer Akt, der anzeigen sollte, dass Deutschland jetzt unter Besatzungsrecht stand. Das Treffen der vier Oberbefehlshaber war im Grunde schon die erste Sitzung des Alliierten Kontrollrats, der offiziell noch während der Potsdamer Konferenz am 30. Juli 1945 erstmals zusammentrat.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 421 Alliierter Kontrollrat

Zwei Grundsätze sollten sich bei der Regierung Deutschlands durch die Alliierten ergänzen: die Ausübung der obersten Gewalt in der jeweiligen Besatzungszone durch den dortigen Oberbefehlshaber, der über die Angelegenheiten seiner Zone nur seiner Regierung Rechenschaft schuldete, und die gemeinsame Herrschaft "in allen Deutschland als ein Ganzes betreffenden Angelegenheiten". Zu diesem Zweck bildeten die Oberbefehlshaber zusammen den Kontrollrat als Kollektivorgan. Sie sollten dort gemeinsam "für eine angemessene Einheitlichkeit des Vorgehens" in ihren Besatzungszonen Sorge tragen und "im gegenseitigen Einvernehmen Entscheidungen über alle Deutschland als Ganzes betreffenden wesentlichen Fragen" fällen. Überstimmt werden konnte keiner der Vertreter der Vier Mächte; für alle Beschlüsse war Einstimmigkeit vorgeschrieben.

Im Koordinierungsausschuss des Kontrollrats saßen die vier Stellvertreter der Oberbefehlshaber. Das waren 1945 die Generale Lucius D. Clay (USA), Wassili Sokolowski (UdSSR), Brian H. Robertson (Großbritannien) und Louis M. Koeltz (Frankreich). Ihnen fiel die eigentliche Arbeit zu, nämlich die Vorbereitung der Kontrollratssitzungen. Diese fanden bis zum März 1948, als der Vertreter der Sowjetunion die Sitzung verließ und dadurch den ganzen Kontrollapparat zum Stillstand brachte, immer am 10., 20. und 30. eines jeden Monats statt. Konferenzort war das Gebäude des Berliner Kammergerichts, in dem zuletzt der "Volksgerichtshof" unter Roland Freisler die Gegner des NS- Regimes verurteilt hatte.

Inhaltliche Auseinandersetzungen über Probleme, die der Kontrollrat zu regeln hatte, fanden in der Regel im Vorfeld, im Koordinierungsausschuss statt. Die Oberbefehlshaber beschränkten sich auf die Beschlussfassung oder, was mit den zunehmend schlechter werdenden Beziehungen zwischen den Verbündeten zur Regel wurde, sie konstatierten, dass keine Übereinstimmung erzielt werden konnte. Die Oberbefehlshaber hatten eine Doppelfunktion: Sie bildeten die militärische Spitze der Okkupationstruppen, und sie waren als Militärgouverneure für die Verwaltung ihrer Besatzungszone zuständig.

Aufbau einer Provinzialregierung

Auftrag der britischen Militärregierung an Rudolf Amelunxen (1888 -1969, Zentrums-Politiker, Oberpräsident von Westfalen 1945, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen 1946 -1947 - Anm. d. Red.) zum Aufbau der Verwaltung in der Provinz Westfalen, 6. Juli 1945.

Von heute ab übernehmen Sie die Pflichten und die Verantwortung des Leiters der zivilen Verwaltung für die Provinz Westfalen und die Länder Lippe und Schaumburg-Lippe.

Sie bilden unverzüglich eine Provinzial-Regierung, die für die Militärregierung annehmbar ist. Einmal gewählt, haben diese Beamten ihre Pflichten redlich und treu zu erfüllen, und Sie werden ihnen zu verstehen geben, [...] daß sie ihre Ernennung lediglich nach dem Belieben der Militärregierung innehaben.

Ungehorsam gegen die Anordnungen der Militärregierung wird nicht geduldet werden. Kein tätiger Nazi oder Naziparteigänger - das heißt mit den Nazis stark Sympathisierender - erhält die Erlaubnis, irgendeine beamtete Stellung einzunehmen. [...]

Die allgemeine Politik ist in der ersten Proklamation des Obersten Befehlshabers an das deutsche Volk zusammengefaßt und wird hiermit zu Ihrer Unterrichtung wiederholt:

Wir kommen als ein siegreiches Heer, jedoch nicht als Unterdrücker. Wir werden die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beseitigen, die NSDAP auflösen, sowie die grausamen, harten und ungerechten Rechtssätze und Einrichtungen, die die Partei geschaffen hat, aufheben. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 422

Der bestehende Verwaltungsaufbau für die Mobilisierung, Beschaffung, Registrierung und Verteilung der Arbeit durch regionale und örtliche Arbeitsämter wird beibehalten werden, nur die Nazibeamten sind dabei zu entfernen. Die bestehende Lohnkontrolle bleibt aufrechterhalten, das soziale Versicherungswesen, Pensionen und Vergünstigungen bleiben gültig, soweit deutsche Fonds verfügbar sind; folgende Vorbehalte werden gemacht: a) Zahlung von Militärpensionen und von Familienunterhalt für die Angehörigen deutscher Soldaten wird verboten, ausgenommen

1. Pensionen wegen körperlicher Gebrechen, die die Arbeitsfähigkeit vermindern und

2. Pensionen oder Vergütungen an Witwen, Waisen oder nicht militärische Personen ohne anderweitige Unterstützung. b) Kein Familienunterhalt wird den Familien dienender Soldaten gewährt. c) Keine Pensionen oder Unterstützungen dürfen für Mitgliedschaft oder Dienst in der Nazipartei gezahlt werden.

Alle Benachteiligungen bzw. Vergünstigungen bei Löhnen, Arbeitsbedingungen, Sozialversicherungs- Pensionen und Unterstützungen von Gruppen oder Einzelpersonen auf Grund ihrer Rasse, Abstammung, religiösen oder politischen Einstellung werden abgeschafft. Die Bildung einer demokratischen Gewerkschaftsbewegung oder anderer Formen freien wirtschaftlichen Zusammenschlusses wird zugelassen, vorausgesetzt, daß sie nicht Vertretungen von Nazigruppen sind.

Es ist sehr wünschenswert, daß die Schulen in Gang bleiben, um die Bedrohung von Ruhe und Ordnung durch zahlreiche junge Landstreicher einzuschränken. Andererseits ist heute das deutsche Erziehungssystem eine der stärksten Waffen der Nazi-Propaganda. Deshalb wird unser Weg sich wie folgt darstellen: a) Schließung aller Schulen, b) Wiedereröffnung aller Schulen, sobald die Militärregierung sich überzeugt hat, daß alle Mitglieder der Nazi-Partei und alle, die mit den Nazis stark sympathisiert haben, aus dem Lehrkörper entfernt sind und brauchbare Schulbücher gestellt sind. c) Die Forderung, daß der zivile Leiter des Verwaltungsgebietes dafür garantiert, daß keine nazifreundliche oder militärische Lehre in den so eröffneten Schulen vertreten (gelehrt) wird.

Die deutschen Behörden werden Anweisung erhalten, alle Schulbücher, die nationalsozialistische oder militärische Lehren enthalten, zu beschlagnahmen.

Alle nationalsozialistischen Parteiorganisationen an Schulen und Universitäten sind abzuschaffen und ihre Akten und ihr Eigentum zu beschlagnahmen. [...] Stätten, die dem Gottesdienst geweiht sind, werden wieder geöffnet und die Freiheit der Religion gefördert werden, [...]

Es ist eindeutig klarzustellen, daß Sie allein auf Anweisung der Militärregierung handeln. In allen Angelegenheiten können Einzelanweisungen eingeholt werden, und wenn irgendein Zweifel besteht, ist bei den Offizieren der Militärregierung, die dazu bevollmächtigt sind, Rat zu suchen. gez. G. A. Ledingham

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 423

Colonel Commanding Officer

307 (P) Mil. Gov. Det.

Thomas Berger/Karl-Heinz Müller (Hg.), Lebenssituationen 1945 -1948, Hannover 1983, S. 20 ff.

Der Alliierte Kontrollrat entwickelte sich rasch zu einer umfangreichen Bürokratie. Zwölf Fachressorts mit den Aufgaben von Ministerien sollten unter der Bezeichnung "Direktorate" die Geschicke Deutschlands auf unbestimmte Zeit lenken. Die Direktorate waren aus Gründen der Parität jeweils mit vier Leitern besetzt. Sie bildeten Kommissionen und Unterausschüsse, die Proklamationen, Befehle und Verordnungen entwarfen, die - sofern sich die Oberbefehlshaber darüber untereinander verständigen konnten - im viersprachigen Amtsblatt des Kontrollrats veröffentlicht wurden.

Besatzungszonen

Bei der Einrichtung der Besatzungszonen, wie sie in Jalta im Februar 1945 endgültig festgelegt worden waren, gab es Verzögerungen. Im Südwesten verweigerten die Franzosen die Räumung der Städte Stuttgart und Karlsruhe, die zur US-Zone gehörten. Sie waren den Franzosen im April beim Vormarsch in die Hände gefallen, und es bedurfte ernster amerikanischer Drohungen, um die Franzosen zum Abzug aus Nordwürttemberg und Nordbaden zu bewegen. Die Amerikaner standen ihrerseits noch in Thüringen, Sachsen und Mecklenburg, in Regionen also, die von den Sowjets besetzt werden sollten. Im Gegensatz zu den Franzosen hatten die Amerikaner aber nicht beabsichtigt, sich über die Vereinbarungen mit ihren Verbündeten hinwegzusetzen. Sie übergaben Anfang Juli der Roten Armee diese Gebiete, sehr zum Bedauern der Einwohner, die lieber unter amerikanischer Besatzung geblieben wären. Die Sowjets hatten als Faustpfand Berlin, das - in vier Sektoren geteilt - von den Alliierten gemeinsam verwaltetwerden sollte. Anfang Juli 1945 marschierten amerikanische und britische Truppen in Berlin ein und nahmen ihre Sektoren in Besitz, im August folgten die Franzosen. Die gemeinsame Verwaltung Berlins erfolgte in der "Kommandantur", die direkt dem Kontrollrat unterstand.

Die Präsenz der drei westlichen Alliierten in Berlin war im Grunde eher symbolischer Natur. Die Militärgouverneure residierten wegen des Kontrollrats zwar offiziell in Berlin, hatten aber ihre Hauptquartiere und Arbeitsstäbe in ihren Zonen. In Baden-Baden war General Pierre Koenigs französische Militärregierung etabliert. Die Amerikaner hatten in Frankfurt im Verwaltungsgebäude der IG Farben Industrie ihre Dienststelle eingerichtet. Die Briten hatten ihr Hauptquartier auf mehrere Orte verteilt. Das militärische Oberkommando befand sich in Bad Oeynhausen, die britische Militärregierung befand sich in Lübbecke, Herford und Minden. Während die westalliierten Stäbe ständig zwischen Berlin und den Zonenhauptquartieren pendeln mussten, hatte es die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) bequemer, sie amtierte in Berlin-Karlshorst.

Aufbau der Verwaltungen

Die Deutschen bekamen von dem komplizierten Mechanismus, mit dem sie regiert wurden, wenig mit. Für sie war die lokale Militärregierung die oberste Instanz, die ihren Alltag regelte, Befehle erteilte, deutsche Gehilfen und Amtsträger einsetzte und wieder ablöste, wenn sie nicht den Erwartungen der Besatzungsherrschaft entsprachen. So geschah es dem Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, den zuvor schon die Nationalsozialisten 1933 aus dem Amt gejagt hatten. Auf der "Weißen Liste" der Amerikaner stand er als Nummer 1, Anfang Mai setzten sie ihn wieder als Oberbürgermeister von Köln ein. Anfang Oktober setzten ihn die Engländer, in deren Besatzungszone Köln inzwischen lag, wegen angeblicher "Unfähigkeit und mangelnder Pflichterfüllung" wieder ab. Nicht anders erging es dem ersten Ministerpräsidenten Bayerns und späteren Bundesfinanzminister, Fritz Schäffer, den die amerikanische Militärregierung im Mai 1945 ernannte und im September wieder entließ. Ererschien der Besatzungsmacht zu konservativ. Die Rekrutierung unbelasteten deutschen Personals erfolgte in allen vier Zonen auf ähnliche Weise nach "Weißen Listen", die die Namen von Hitlergegnern und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 424 demokratisch gesinnten Politikern aus der Zeit vor 1933 enthielten. Die Listen waren lange vor der Besetzung Deutschlands zusammengestellt worden.

In der sowjetischen Besatzungszone gab es Kaderpersonal, das aus kommunistischen Emigranten bestand, die im Gefolge der Roten Armee nach Deutschland zurückkehrten. Dazu gehörte die "Gruppe Ulbricht", die am 30. April 1945 auf dem sowjetischen Feldflugplatz Calau (heute Kaława, Polen) landete, um - in Moskau gut auf die Aufgabe vorbereitet - der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland beim Aufbau der Verwaltung in der sowjetischen Besatzungszone zu helfen. Die "Gruppe Ulbricht" war für Berlin bestimmt. Sachsen und Mecklenburg waren die Einsatzgebiete zweier weiterer Gruppen mit (1905-1973, ab 1946 Mitglied des ZK der SED, 1954 wegen Unterstützung von Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser aus dem ZK ausgeschlossen) und Gustav Sobottka (1886-1953, 1947/48 Präsident der Zentralverwaltung für Brennstoffindustrie, 1949 - 51 tätig im Ministerium für Schwerindustrie) an der Spitze. Das politische Leben fand zunächst in allen Zonen auf der untersten Ebene statt; In denlokalen deutschen Administrationen, die der Besatzungsmacht verantwortlich waren, spielten Parteien noch kaum eine Rolle. Nur das Funktionieren der elementaren Notwendigkeiten war auf dieser Ebene zunächst verlangt.

Parteigründungen

Parallel zur Wiederherstellung einer deutschen Verwaltung, die im Auftrag der Besatzungsmacht tätig wurde, vollzog sich allmählich die Bildung politischer Gruppierungen. In der östlichen Besatzungszone waren durch Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration schon am 10. Juni 1945 Parteien ganz offiziell zugelassen und zur politischen Aktivität ermuntert worden. Das war gleichsam ein Handstreich der sowjetischen Besatzungsmacht gewesen, der in Szene gesetzt wurde, ehe auf der Potsdamer Konferenz die drei großen Siegermächte zusammenkamen, um die Grundsätze einer gemeinsamen Deutschlandpolitik zu besprechen. Am 11. Juni 1945 trat in Berlin die KPD mit einem Gründungsaufruf an die Öffentlichkeit, Mitte Juni folgte die SPD, Ende des Monats die CDU und am 5. Juli wurde die Liberal-Demokratische Partei (LDP) gegründet. Die Wirksamkeit dieser vier Parteien blieb auf Berlin und die Sowjetzone beschränkt.

Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom 11. Juni 1945

[...] Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland.

Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes [...] für Deutschland einen -anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk. [...]

Die unmittelbarsten und dringendsten Aufgaben [...] sind gegenwärtig [...]: Vollständige Liquidierung der Überreste des Hitlerregimes und der Hitlerpartei. [...] Völlig ungehinderte Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums. [...] Herstellung der demokratischen Rechte und Freiheiten des Volkes. Wiederherstellung der Legalität freier Gewerkschaften der Arbeiter, Angestellten und Beamten sowie der antifaschistischen, demokratischen Parteien.

[...] Liquidierung des Großgrundbesitzes, [...] und Übergabe [...] an die durch den Krieg ruinierten und besitzlos gewordenen Bauern. [...]

Ernst-Ulrich Huster u. a., Determinanten der westdeutschen Restauration 1945- 1949, Frankfurt a. M., 1972, S. 356 ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 425

Forderungen und Ziele der SPD, Mai 1946

[...] Der vorhandene private Großbesitz an Produktionsmitteln und das mögliche Sozialprodukt der deutschen Volkswirtschaft müssen den Bedürfnissen aller zugänglich gemacht werden. Der heutige Zustand, bei dem die große Mehrzahl alles verloren hat, eine Minderheit aber reicher geworden ist, muß durch eine gerechte Gesellschaftsordnung überwunden werden.

Die Sozialdemokratie erstrebt eine sozialistische Wirtschaft durch planmäßige Lenkung und gemeinwirtschaftliche Gestaltung. Entscheidend für Umfang, Richtung und Verteilung der Produktion darf nur das Interesse der Allgemeinheit sein. Die Vermehrung der Produktionsmittel und Verbrauchsgüter ist die Voraussetzung für die lebensnotwendige Eingliederung Deutschlands in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. [...] Alle Betriebe des Bergbaues, der Eisen- und Stahlerzeugung und -bearbeitung bis zum Halbzeug, der größte Teil der chemischen Industrie und die synthetischen Industrien, die Großbetriebe überhaupt, jede Form der Versorgungswirtschaft und alle Teile der verarbeitenden Industrie, die zur Großunternehmung drängen, sind in das Eigentum der Allgemeinheit zu überführen. Die Förderung des Genossenschaftsgedankens, die Lösung betrieblicher Gemeinschaftsaufgaben in Handwerk, Handel und Landwirtschaft, stärkste Unterstützung der Verbrauchergenossenschaft sindnötig. [...]

Eine grundlegende Agrar- und Bodenreform ist unter Enteignung der Großgrundbesitzer sofort einzuleiten. [...]

[...] Der Lastenausgleich fordert eine grundlegende, alles umfassende Finanz- und Währungsreform. Ein soziales Existenzminimum muß gesichert und der Massenverbrauch geschont werden. [...]

Die Demokratie ist für alle Schaffenden die beste Form des politischen Kampfes. Sie ist für uns Sozialisten ebenso eine sittliche wie eine machtpolitische Notwendigkeit.

[...] Es gibt keinen Sozialismus ohne Demokratie, ohne die Freiheit des Erkennens und die Freiheit der Kritik. Es gibt aber auch keinen Sozialismus ohne Menschlichkeit und ohne Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit.

Auf dem Gebiet der Staats- und Verwaltungspolitik erstrebt die Sozialdemokratie die Demokratie, die getragen ist von der Mitbestimmung und Mitverantwortung aller Bürger. Sie will eine Republik mit weitgehender Dezentralisierung und Selbstverwaltung. Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle, Trennung von Kirche und Staat. [...]

Die Schulen sollen die Jugend [...] erziehen im Geist der Humanität, der Demokratie, der sozialen Verantwortung und der Völkerverständigung. Allen Deutschen stehen die Bildungsmöglichkeiten allein entsprechend ihrer Befähigung offen. [...]

Jedem Bürger soll die Möglichkeit gegeben werden, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, hat er Anspruch auf Lebensunterhalt.

Auszüge aus den Düsseldorfer Leitsätzen der CDU, 15. Juli 1949

Die "soziale Marktwirtschaft" ist die sozial gebundene Verfassung der gewerblichen Wirtschaft, in der die Leistung freier und tüchtiger Menschen in eine Ordnung gebracht wird, die ein Höchstmaß von wirtschaftlichem Nutzen und sozialer Gerechtigkeit für alle erbringt. Diese Ordnung wird geschaffen durch Freiheit und Bindung, die in der "sozialen Marktwirtschaft" durch echten Leistungswettbewerb

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 426 und unabhängige Monopolkontrolle zum Ausdruck kommen. Echter Leistungswettbewerb liegt vor, wenn durch eine Wettbewerbsordnung sichergestellt ist, daß bei gleichen Chancen und fairen Wettkampfbedingungen in freier Konkurrenz die bessere Leistung belohnt wird. [...]

Marktgerechte Preise sind Motor und Steuerungsmittel der Marktwirtschaft. Marktgerechte Preise entstehen, indem Kaufkraft und angebotene Gütermenge auf den Märkten zum Ausgleich gebracht werden. Wichtigste Vorbedingung, um diesen Ausgleich herbeizuführen, ist ein geordnetes Geldwesen. [...]

Die "soziale Marktwirtschaft" steht im scharfen Gegensatz zum System der Planwirtschaft, die wir ablehnen, ganz gleich, ob in ihr die Lenkungsstellen zentral oder dezentral, staatlich oder selbstverwaltungsmäßig organisiert sind. [...]

Die Planwirtschaft hemmt die Erzeugung, indem sie in die Hand der Lenkungsstellen Machtvollkommenheiten legt, [...].

Die "soziale Marktwirtschaft" steht auch im Gegensatz zur sogenannten "freien Wirtschaft " liberalistischer Prägung. Um einen Rückfall in die "freie Wirtschaft" zu vermeiden, ist zur Sicherung des Leistungswettbewerbs die unabhängige Monopolkontrolle nötig. Denn so wenig der Staat oder halböffentliche Stellen die gewerbliche Wirtschaft und einzelne Märkte lenken sollen, so wenig dürfen Privatpersonen und private Verbände derartige Lenkungsaufgaben übernehmen. [...]

Die vorwiegend eigentumsrechtlichen und gesellschaftspolitischen Grundsätze des Ahlener Programms werden anerkannt, jedoch nach der marktwirtschaftlichen Seite hin ergänzt und fortentwickelt. [...]

Christlich-Soziale Union (CSU): Grundsatzprogramm 1946

[...] Wir erstreben den Staatsaufbau auf christlicher Grundlage. [...]

Wir bekennen uns zum demokratischen Staat. Wir kämpfen gegen jede Art von Diktatur eines einzelnen, einer Partei oder einer Klasse.

[...] Wir fordern den föderativen Aufbau Deutschlands auf bundesstaatlicher Grundlage. [...]

Wir verlangen die Ehrfurcht vor der Unverletzlichkeit der Person.

[...] Wir vertreten die Freiheit der Meinungsäußerung in Wort und Schrift, die Freiheit des Handelns und der Berufswahl, die Freiheit des Zusammenschlusses und der Religionsausübung! Nur am christlichen Sittengesetz und am Gemeinwohl findet die menschliche Freiheit ihre Grenzen.

Wir fordern die rechtliche und soziale Gleichstellung der Geschlechter. [...]

Wir bejahen eine angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer am Reingewinn ihres Unternehmens. [...]

Wir anerkennen das Recht des Staates, die Wirtschaft nach Gesichtspunkten des Gemeinwohls zu lenken! Wir lehnen die Planwirtschaft als Ausfluß eines kollektivistischen Denkens ab. Wir kämpfen gegen den Wirtschaftsliberalismus [...]

Wir verlangen ein angemessenes Mitbestimmungsrecht der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Lenkung der Wirtschaft, ein Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen und Produktionsverhältnisse. [...]

Wir verlangen die unbedingte Achtung des Staates vor dem Willen der Eltern hinsichtlich der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 427

Schulerziehung ihrer Kinder. Wir bekennen uns zum eigenen Recht der Kirchen auf einen angemessenen Einfluß in der Erziehung der Jugend. [...]

Klaus-Jörg Ruhl (Hg.), Neubeginn und Restauration. Dokumente zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949, München 1982, S. 216 ff. Für die Auszüge aus den Programmen von CDU, CSU sowie SPD und FDP.

Programmatische Richtlinien der Freien Demokratischen Partei der britischen Zone, 4. Februar 1946

[...] Dieser Staat soll auf breitester Grundlage von unten nach oben aufgebaut werden, [...].

Völlige Rechtssicherheit soll die Freiheit des Staatsbürgers schützen. Es soll nur ein Recht in Deutschland geben, ein gleiches Recht für alle. [...] Die Gewerkschaften sollen zu verantwortlichen Organisationen des Staates ausgebaut werden, die den Schutz der Arbeit gewährleisten. [...]

Erstes Ziel der Wirtschaftspolitik ist entsprechend dem Bedürfnis der breiten Massen die Steigerung der Erzeugung auf allen Gebieten. [...] Das Ziel kann nur erreicht werden durch Wiedereinschaltung der freien Initiative unter Abbau der Wirtschaftsbürokratie. [...] Persönliche Initiative und freier Wettbewerb steigern die wirtschaftliche Leistung, und persönliches Eigentum ist eine wesentliche Grundlage gesunder Wirtschaft. [...]

Wie die Freiheit der Forschung und Freiheit der Lehre die Vorbedingung aller wissenschaftlichen Leistungen ist, so kann auch die Volksbildung nur auf dem Boden der Freiheit und Wahrhaftigkeit gedeihen. [...]

Bei der konfessionellen Zerklüftung unseres Volkes können die Schulen des Staates nicht einer Konfession dienen. Wir fordern daher die Gemeinschaftsschule, in der die von ihrer Kirche anerkannten Lehrkräfte konfessionellen Religionsunterricht erteilen. [...]

In der US-Zone wurden die Weichen nicht so rasch gestellt. In der Direktive für den Oberbefehlshaber der amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland, die unmittelbar nach Kriegsende galt, hieß es ganz allgemein, dass keine politische Tätigkeit ohne Genehmigung des Militärgouverneurs begünstigt werden dürfe. Rede-, Presse- und Religionsfreiheit sei den Deutschen zu gewähren, soweit dadurch nicht militärische Interessen beeinträchtigt würden. Die Verbreitung von nazistischen, militaristischen und nationalistischen Lehren sei ebenso zu verbieten wie "Aufmärsche militärischer, politischer, ziviler oder sportlicher Art". Das Vorschriften-Handbuch der US-Armee, das die Offiziere der amerikanischen Militärregierung über Maßgaben der Besatzungspolitik informierte, enthielt unter dem Stichwort "Politische Aktivitäten" vier Thesen, die ihnen als Richtschnur dienen sollten:

• Alle demokratischen Parteien sollten unterstützt werden, und zwar möglichst in ganz Deutschland;

• Träger politischer Mandate sollten sich regelmäßig der öffentlichen Diskussion ihres Programms und Wahlen stellen müssen;

• Wahlen waren unter gleichen Bedingungen für alle und mit mindestens zwei konkurrierenden Parteien durchzuführen;

• politische Parteien sollten demokratisch, durch freiwilligen Zusammenschluss entstanden und getrennt von den Organen der Regierungsgewalt sein.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 428

Das waren Grundüberlegungen, wie sie in den USA als selbstverständlich galten. In Deutschland mussten diese Grundsätze aber erst wieder erlernt und eingeübt werden, und zwar zunächst in den Gemeinden und kleineren Städten.

CDU, CSU und SPD

Auf dieser Ebene waren in der US-Zone ab August 1945 die Aktivitäten deutscher Parteien zugelassen. Voraussetzung war, wie auch in der britischen und der französischen Zone, der Erwerb einer Lizenz. Dazu musste ein Antrag bei der zuständigen Militärregierung gestellt werden, dem außer dem Parteiprogramm, den Statuten, einem Finanzierungsplan und der Beantwortung vieler Fragen (zum Beispiel über die beabsichtigte Parteipropaganda) auch die Unterschriften der Unterstützenden beigefügt sein mussten. Die Anträge wurden, wenn alles seine Richtigkeit hatte, auf Kreisebene genehmigt. Die Aktivitäten der Parteien wurden dann von der Militärregierung überwacht.

Die Parteien der 1933 verbotenen Arbeiterbewegung, KPD und SPD, die ihre alten Organisationsstrukturen und ihr Mitgliederpotenzial wieder beleben konnten, erschienen ab Sommer 1945 an vielen Orten als erste auf der politischen Bühne, gefolgt von der neuen Gruppierung der Christlich-Demokratischen Union (CDU) bzw. in Bayern der Christlich-Sozialen Union (CSU). Diese neue Gruppierung sprach als bürgerliche Sammlungsbewegung das Wählerpotenzial des katholischen Zentrums (bzw. der Bayerischen Volkspartei) sowie auch protestantische politische Schichten an. Das Neuartige war der konfessionelle Pluralismus dieser auf christlicher Grundlage sozial engagierten Parteien CDU und CSU, die in den drei Westzonen ungefähr gleich stark wie die SPD wurden. Der Zusammenschluss in Landesverbänden wurde erst später erlaubt, die Parteiorganisation auf Zonenebene war nur in der britischen und sowjetischen Besatzungszone möglich.

Mit dem aus jahrelanger KZ-Haft zurückgekehrten Kurt Schumacher, der ab Frühjahr 1945 die SPD wiederaufbaute, bekam diese Partei außer einem in allen Zonen einheitlichen Namen eine charismatische Führergestalt, die unbeirrt durch die alliierten Vorgaben die SPD als überzonale einheitliche Partei verstand. Allerdings grenzte sich die westliche SPD gegen den Führungsanspruch der ostzonalen SPD unter Otto Grotewohl ebenso ab wie gegen alle Angebote zur Zusammenarbeit mit Kommunisten.

Vereinigung der Arbeiterparteien

Die KPD erfreute sich der bevorzugten Förderung durch die Sowjetische Militäradministration. Sie propagierte den auch von Mitgliedern der SPD geforderten Zusammenschluss der beiden Arbeiterparteien. Das sollte, im Verständnis der Sozialdemokraten, eine Lehre aus der Geschichte sein, die Konsequenz aus der erlittenen Ohnmacht gegenüber Hitler, dem die gespaltene und sich bekämpfende Arbeiterbewegung trotz ihrer zahlenmäßigen Stärke keinen wirksamen Widerstand hatte entgegensetzen können. Angesichts der Erfahrungen mit der sowjetischen Besatzungsherrschaft war die Euphorie aber längst einer tiefen Skepsis gewichen. Viele Sozialdemokraten waren überzeugt, dass die KPD mit Unterstützung der sowjetischen Militärregierung die SPD bei einem Zusammenschluss nur für ihre Absichten gebrauchen würde. Die Propaganda zur Schaffung einer einheitlichen Arbeiterpartei (die KPD betrieb sie unter dem Eindruck des schlechten Abschneidens der kommunistischen Parteien bei den Wahlen inÖsterreich und Ungarn) fand deshalb kaum Resonanz bei der SPD in den Westzonen. In der Ostzone war erheblicher sowjetischer Druck erforderlich, damit sich am 21. und 22. April 1946 der Gründungsparteitag der Sozialistischen Einheitspartei (SED) im Ost-Berliner Admiralspalast vollzog. Otto Grotewohl (SPD) und Wilhelm Pieck (KPD) wurden einstimmig zu gleichberechtigten Vorsitzenden der SED gewählt.

In den Westzonen und den Westsektoren Berlins lehnten die Sozialdemokraten mit großer Mehrheit die Vereinigung ab. Die SPD, für die die Fusion in der Ostzone zum Trauma wurde, steuerte in den

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 429 folgenden Jahren unter Kurt Schumacher einen strikt antikommunistischen Kurs.

Überregionale Zusammenschlüsse

Für die christlich-demokratischen Parteien, die im Dezember 1945 in Bad Godesberg ein "Reichstreffen " veranstaltet hatten, wurde Konrad Adenauer allmählich zur führenden Figur. Er war Ende Februar 1946 zum Vorsitzenden der CDU der britischen Zone gewählt worden und benutzte diese Stellung zur Abwehr des Führungsanspruches der CDU der sowjetischen Besatzungszone.

Die Partei war sowohl programmatisch als auch organisatorisch heterogen. Die Bandbreite reichte von der Ideenwelt des christlichen Sozialismus (die im AhlenerProgramm vom Februar 1947 zum Ausdruck kam) bis zu eher konservativen Auffassungen und zum entschiedenen Föderalismus der bayerischen CSU. Außer dem gemeinsamen Namen CDU bzw. CSU (in Godesberg im Dezember 1945 beschlossen) bildeten die Christdemokraten bis zum ersten Bundesparteitag im Oktober 1950 nur eine Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Parteien.

Noch größer war die Vielfalt bei den Liberalen, die in der Ostzone im Juli 1945 die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDP) gründeten und die sich in den Westzonen unter Namen wie Demokratische Volkspartei (Württemberg) oder Freie Demokratische Partei (FDP) in Nordrhein-Westfalen zusammengefunden hatten.

Auf regionaler Basis wurden noch weitere Parteien gegründet und von den Alliierten lizenziert, und zwar neue Vereinigungen wie die Bayernpartei oder die Niedersächsische Landespartei (später Deutsche Partei) sowie alte Parteien der Weimarer Republik wie die katholische Zentrumspartei, die wieder auflebten. Auch entstanden schillernde Gebilde wie die Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung (WAV) in Bayern. Sie alle wurden gewählt und waren vorübergehend wichtig.

Zwei Arten von Parteien hatten allerdings keine Chance, eine Lizenz von den Besatzungsmächten zu bekommen, nämlich rechtsradikale Gruppierungen sowie solche Parteien, die als Interessenvertretung von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen auftreten wollten.

Die ersteren waren mit dem Demokratisierungsgebot unvereinbar (deshalb wurde auch der Lizenz- Antrag einer bayerischen Königspartei abgelehnt), und Flüchtlingsparteien waren nicht erlaubt, weil die Alliierten auf raschestmögliche volle Integration aller neuen Bürgerinnen und Bürger in ihren Besatzungszonen drängten.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 259) - Errichtung der Besatzungsherrschaft (http:// www.bpb.de/izpb/10048/errichtung-der-besatzungsherrschaft)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 430

Infrastruktur und Gesellschaft im zerstörten Deutschland

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 11.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Nach 1945 mangelte es an allem: Die Hälfte der Wohnfläche war zerbombt, die Verkehrswege kaum benutzbar, die Kriegsvorräte aufgebraucht. Hinzu kamen Millionen Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer. All das gipfelte in der "Winterkrise" 1946, als ungewöhnlich kaltes Wetter und ein Engpass in der Kohleförderung zusammentrafen.

Einleitung

In den deutschen Städten war weit mehr als die Hälfte des Wohnraums dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen. Großstädte wie Köln und München waren kaum mehr zu erkennen. Die meisten Brücken über die großen Flüsse waren zerstört, die Verkehrsadern gelähmt.

Enttrümmerung

An die Mannheimer Bevölkerung

Die Militärregierung hat von mir in bestimmter Form verlangt, daß die Straßen der Stadt sofort vom Schutt gereinigt werden. [...] Insbesondere erwartet sie den verpflichtenden Einsatz der Hauseigentümer und Mieter für die Reinigung des auf ihr Haus entfallenden Straßenteils. Ist ein Haus unbewohnt, so sollen sich die Nachbarn in Arbeitsgemeinschaften zusammenschließen, um auf diese Weise die Straßen vom Schutt zu befreien. Ich fordere daher die Bevölkerung auf, nunmehr unverzüglich diese Reinigungsarbeiten vorzunehmen, da mir für den Fall, daß dieArbeit innerhalb 14 Tagen nicht durchgeführt wäre, der zwangsweise Einsatz der Gesamtbevölkerung an Sonntagen angekündigt worden ist. Ich erwarte, daß es zu dieser Zwangsmaßnahme nicht kommen muß. [...] Der Oberbürgermeister

Military Government Gazette, 13. Oktober 1945.

Bekanntmachungen für die Stadt Kassel a) Bekanntmachung Nr. 67

Nach der Botschaft des Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte in Europa, General Eisenhower, vom 6. des Monats an die deutsche Bevölkerung werden in diesem Winter keine Kohlen zur Beheizung von Wohnhäusern zur Verfügung stehen. Die Bevölkerung wird in dieser Botschaft aufgefordert, zur Deckung des notwendigen Bedarfs genügend Holz in den Wäldern zu fällen oder einzusammeln. b) Bekanntmachung Nr. 98

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 431

In der letzten Zeit ist die Lieferung der zur Erzeugung von elektrischem Strom erforderlichen Braunkohlenmenge erheblich zurückgegangen, dagegen der Verbrauch an Strom durch Benutzung von elektrischen Kochern und Heizöfen stark gestiegen. Wenn nicht die gesamte Stromerzeugung und damit vor allem die Versorgung der Krankenhäuser und sonstiger wichtiger Betriebe sowie der Haushaltungen mit Licht während des Winters in Frage gestellt werden soll, ist es unerläßlich, den Stromverbrauch wesentlich einzuschränken.

Herausgegeben vom Oberbürgermeister der Stadt Kassel im Oktober 1945, abgedruckt in: Hessen in der Stunde Null 1945/46, Wiesbaden 1977, S. 29.

Bekanntmachungen für die Stadt Darmstadt

Aufbaudienst = Aufbauhilfe!

Vergessen Sie nicht: Bei der Lebensmittelkarten-Ausgabe ab 10. Sept. 1946 muß der Nachweis erbracht sein, daß alle Männer von 16 bis 60 Jahren zum zweiten Male für den Wiederaufbau geschippt haben! Tiefbauamt

Zitiert nach den Originaldokumenten im Stadtarchiv Darmstadt.

Bis Oktober 1946 mussten fast zehn Millionen Menschen aus den abgetrennten Ostgebieten - auch sie Obdachlose wie die "Ausgebombten" - in den vier Besatzungszonen zusätzlich zu den Einheimischen versorgt werden (wobei sich die französische Zone dem Flüchtlingsstrom lange verweigerte, sodass dort nur 50 000 Vertriebene eine neue Heimat fanden). Millionen Menschen hatten längere Zeit kein Wasser, kein Gas, keine Elektrizität zur Verfügung.

Das Ausmaß der wirtschaftlichen Notlage in Deutschland zeigte sich aber nicht sofort. Für das Existenzminimum genügte das deutsche Wirtschaftspotenzial im ersten Nachkriegsjahr tatsächlich noch. Bis Ende 1946 reichten die aus der Kriegszeit geretteten Vorräte an Rohstoffen für eine bescheidene Produktion noch aus. Der strenge Winter 1946/47 jedoch wurde zur Katastrophe: Ernährung, Energieversorgung und Verkehr - drei ohnehin voneinander abhängige, aber auch jeweils für sich allein genommen lebenswichtige Größen - brachen zusammen. Nur das Eingreifen der Besatzungsmächte (de facto: Großbritanniens und vor allem Amerikas) verhinderte das Ärgste.

Winterkrise 1946/1947

Hatte der durchschnittliche Kalorienverbrauch in Deutschland im Jahre 1936 mit 3113 Kalorien noch über der vom Völkerbund empfohlenen Norm von 3000 Kalorien am Tag gelegen, so war er bis zum Frühjahr 1945 allmählich auf 2010 abgesunken, um 1946 bei 1451 täglichen Kalorien einen Tiefstand zu erreichen, der regional und lokal sogar noch unterschritten wurde. In der US-Zone lag der Durchschnitt bei 1564, in der französischen Zone bei 1209 Kalorien pro Kopf. Vor dem Krieg hatte die deutsche Landwirtschaft zu 80 Prozent die Ernährung sichern können, für 1946/47 wurde die Möglichkeit der Selbstversorgung nur noch auf 35 Prozent geschätzt, da etwa ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzflächen im Osten verloren gegangen war und außerdem infolge des Kriegs die Ernte 1946/47 nur 50 bis 60 Prozent der normalen Menge betrug. Kalorienzahlen allein sagen jedoch nur wenig über die wirkliche Ernährungslage aus; entscheidend war auch der Mangel an tierischem Eiweiß und Fett.

Zur Ernährungskrise kam die Kohlenkrise. Kohle war nicht nur der wichtigste Rohstoff der deutschen Industrie, sondern auch unerlässliche Voraussetzung eines funktionierenden Verkehrs- und Transportsystems sowie wichtigster Energieträger der privaten Haushalte. Überdies bildete die Kohle einen der wesentlichen Posten im Export der ersten Nachkriegsjahre, obgleich ohne günstige Auswirkungen für die deutsche Wirtschaftsbilanz: Die deutsche Kohle wurde von den Alliierten streng

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 432 bewirtschaftet und weit unter dem Weltmarktpreis verkauft, wobei die Erlöse nicht in Devisen, sondern nur in Reichsmark gutgeschrieben wurden.

Trotz beträchtlicher Anstrengungen auf alliierter (und auf deutscher) Seite, die Kohleförderung zu steigern, trotz materieller Anreize wie Schwerstarbeiterzulagen, Lohnerhöhungen und Prämiensystemen und trotz aller Bemühungen, durch Lenkungsmaßnahmen Prioritäten zu setzen, bildete die Kohle das Wirtschaftsproblem Nummer eins. Das lag zum einen Teil an mangelnder Effektivität der veralteten und verbrauchten Anlagen, zum anderen Teil auch an der fehlenden Qualifikation der Bergleute - eine Folge der ungünstigen Altersstruktur einerseits und des Einsatzes von unerfahrenen Arbeitskräften andererseits. Zum anderen wurden die Engpässe durch den unwirtschaftlichen Einsatz der Kohle infolge der Zonengrenzen verursacht: Braunkohle aus der Ostzone, die zum Hausbrand gut geeignet gewesen wäre, diente bei geringem Wirkungsgrad dort zur Lokomotivfeuerung, während in den Westzonen Steinkohle der Industrie entzogen werden musste, um verheizt zu werden. Das zerstörte Transportsystemverschärfte die Problematik. Die Verteilung der Kohle war nämlich eine fast noch größere Schwierigkeit als ihre Förderung.

Durch die amerikanischen und britischen Bomben war in der letzten Phase des Krieges das deutsche Verkehrs- und Transportsystem planmäßig und gründlich zerstört worden. Die industriellen Anlagen hatten dagegen den Bombenkrieg insgesamt besser überstanden. Die Eisenbahn, die den weitaus überwiegenden Anteil an den Verkehrs- und Transportleistungen aufzubringen hatte, verfügte zwar noch über 22 800 Lokomotiven (gegenüber 23 500 im Reichsgebiet im Jahre 1936), von denen aber nur weniger als die Hälfte in betriebsfähigem Zustand waren. Die wichtigsten Strecken, Tunnels und Brücken waren jedoch zerstört oder beschädigt. In der britischen Zone waren im Mai 1945 von rund 13 000 Streckenkilometern nur 1000 befahrbar, in der französischen Zone von 5667 Kilometern nur 500. Die zerstörten Strecken konnten zwar ziemlich schnell wieder instand gesetzt werden, das rollende Material befand sich jedoch zum großen Teil in sehr mangelhaftem Zustand. Hinzu kam, dass die Reparaturbetriebe der Reichsbahn ungünstig verteilt waren (sie lagen überwiegend in der amerikanischen und britischen Zone) und an Materialmangel litten. Im Winter 1946/47, als die Binnenwasserstraßen wegen des Frostes vollständig ausfielen, wurde die Transportkrise vorübergehend zum schlimmsten Engpass der deutschen Wirtschaft überhaupt.

Wiederaufbau des Transportwesens

Bericht des Ministers für Wirtschaft und Verkehr vom 25. Januar 1946 über die Entwicklung der Wirtschaft im Regierungsbezirk Wiesbaden und im Land Groß-Hessen von Juli bis Dezember 1945

[...] Das Transportwesen hatte sich seit Beginn der amerikanischen Okkupation (zunächst) noch nicht wieder entwickeln können. Der Rhein, in normalen Zeiten die bedeutendste Verkehrsader Westdeutschlands, war noch nicht befahrbar, weil die Trümmer der gesprengten Brücken auf dem Grund des Stromes lagen. 90Prozent der Rheinflotte waren gesunken. Nur eine Bahnlinie führte von Frankfurt/Main nach dem Steinkohlengebiet der Ruhr. Diese Strecke war durch Brückensprengungen vielfach unterbrochen. Es fehlte an Lokomotiven, Waggons, Kohle und Personal. [...]

Da das Transportwesen für das Wirtschaftsleben entscheidende Bedeutung hat, wurde dem Ausbau der wichtigsten Eisenbahnstrecken besondere Sorgfalt gewidmet. Die Eisenbahnstrecke, die von Groß-Hessen in das Ruhrgebiet führt, konnte im August wiederhergestellt werden. Welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden waren, geht aus einer Ziffer hervor: Allein 56 Eisenbahnbrücken zwischen Frankfurt/M. und dem Ruhrgebiet waren im letzten Kriegsmonat von der zurückgehenden deutschen Wehrmacht gesprengt worden. Neben dieser wichtigsten Eisenbahnstrecke wurden die Anschlußgleise nach den hauptsächlich industriellen Werken wiederhergestellt und der Frachtverkehr im ganzen Land in Gang gebracht. Der Lokalverkehr konnte zu beachtlicher Stärke entwickelt, die großen Verbindungsstrecken, auf denen Schnellzüge verkehren, konnten ausgebaut werden. Heute können die wichtigsten Linien als wiederhergestellt gelten. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 433

Neben den Arbeiten für Wiederherstellung und Ausbau des Liniennetzes wurden alle verfügbaren Arbeitskräfte für Wiederherstellung des rollenden Materials eingesetzt. Alle Betriebe, die früher Reparaturen durchgeführt haben, und alle ähnlichen Betriebe, die irgend für diese Arbeiten in Frage kamen, wurden ausschließlich und voll für die Reparatur des Eisenbahnmaterials eingesetzt. [...]

Neben dem Ausbau des Eisenbahnwesens wurde die Fahrrinne des Rheins wiederhergestellt. Die Brückentrümmer konnten überall beseitigt, ein erheblicher Teil der gesunkenen Schlepper und Lastkähne gehoben werden. Wenn für die Verbesserung der Rheinfahrrinne auch noch viel zu tun bleibt, kann doch festgestellt werden, daß die Kohlentransporte auf dem Wasserwege wieder aufgenommen werden können [...]

Thomas Berger/Karl-Heinz Müller (Hg.), Lebenssituationen 1945-1948, Hannover 1983, S. 43 f.

Versorgungsengpässe

Während Frankreich und die Sowjetunion zunächst an der Entnahme von Rohstoffen, Gütern und Ausrüstungen interessiert waren, um ihre eigenen Volkswirtschaften für die Kriegsverluste zu entschädigen, hatten die USA und Großbritannien lebhaftes Interesse am raschen Funktionieren einer bescheidenen Wirtschaft in Deutschland. In London fürchtete man die Verantwortung für ein ökonomisch totes Deutschland, die bei den eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten kaum getragen werden konnte. Churchill sprach es im britischen Unterhaus bereits am 16. April 1945 deutlich aus: " Die deutschen Massen dürfen uns nicht zur Last fallen und erwarten, jahrelang von den Alliierten ernährt, organisiert und erzogen zu werden."

Der ehemalige amerikanische Präsident Herbert Hoover verfasste Anfang 1947 ein Gutachten über die wirtschaftliche Situation Deutschlands, das er der Regierung in Washington nach einer Reise durch Deutschland unterbreitete. Hoovers Grunderkenntnis lautete: "Die Wirtschaft ganz Europas ist durch Austausch von Rohstoffen und Fabrikaten mit der deutschen Wirtschaft verflochten. Die Produktivität Europas kann nicht wiederhergestellt werden, ohne dass ein gesundes Deutschland zu dieser Produktivität beiträgt."

Hoover ging von der Tatsache aus, dass jeder britische und amerikanische Steuerzahler 600 Dollar jährlich nur dafür aufbringen musste, um die Bevölkerung der beiden Besatzungszonen vor dem Hunger zu bewahren. Die Hauptziele der Besatzungspolitik - Entnazifizierung, Ausrottung des Militarismus, Erziehung zur Demokratie, Wiedergutmachung, Verhinderung von Rüstungsproduktion - stellte Hoover keineswegs infrage, er wies aber eindringlich auf die Folgen der Kriegszerstörungen und der territorialen Abtretungen für die friedensmäßige Produktion der deutschen Wirtschaft und die Ernährung der Bevölkerung hin.

Er schätzte, dass alle vier Zonen Deutschlands weniger als 60 Prozent des Nahrungsmittelbedarfs selbst erzeugen könnten, nicht zuletzt, weil die vom Alliierten Kontrollrat verfügten Demontagen die Erzeugung von Düngemitteln hinderten, und mangels Exportchancen. Der alliierte Industrieplan beschränkte die Industriekapazität auf etwa die Hälfte der Vorkriegsproduktion (1938). Aufgelistet wurde, was nicht oder nur eingeschränkt produziert werden durfte. Hoovers Konzept für eine "neue Wirtschaftspolitik" lautete: Freiheit für die deutsche Industrie, Ende der Demontagen, keine Sonderverwaltung des Ruhrgebietes.

Hoover hatte mit seinen Vorschlägen den Beifall der amerikanischen Steuerzahler auf seiner Seite, denn ihre Dollars mussten auf unabsehbare Zeit für die Unterstützung der deutschen Bevölkerung ausgegeben werden, wenn keine Änderung der wirtschaftlichen Situation Europas erreicht werden konnte.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 434

Die Nationalsozialisten hatten den Krieg mit Hilfe der Notenpresse finanziert. Die Folgen der inflationären Geldvermehrung seit 1936 konnten verschleiert werden durch Preis- und Lohnstop, durch Zwangssparen und durch die Rationierung der Konsumgüter bis zum Ende des Krieges. Umso härter wirkte sich aber der 1945 sichtbar werdende Ruin der deutschen Währung aus: Den 300 Milliarden Reichsmark, die sich nach Kriegsende in Umlauf befanden, stand kaum ein Warenangebot gegenüber.

Schwarzer Markt

Das staatliche Bewirtschaftungssystem des Dritten Reiches, das von den Alliierten beibehalten wurde, zerbröckelte am "Schwarzen Markt". Angesichts der relativen Wertlosigkeit von Geld und Lebensmittelkarten sah sich der "Normalverbraucher" auf Schwarzhändler und Schieber angewiesen, da er auf dem offiziellen Markt des Rationierungssystems das Lebensnotwendige nicht erhielt. Deutschland war ein Land mit drei Währungen geworden: Staatliche Gehälter und Steuern wurden in Reichsmark gezahlt. Seit August 1946 gab es für den Verkehr zwischen alliierten und deutschen Stellen von den Siegermächten gedrucktes Besatzungsgeld, das nicht in Reichsmark umgewechselt werden konnte. Wichtigstes Zahlungsmittel waren aber Zigaretten, für die man auf dem Schwarzen Markt fast alles erhalten konnte.

Illegale Geschäfte

[...] In kleinen, zwanglosen Gruppen stehen Händler und Kunden zusammen, anscheinend höchst uninteressiert, die aromatisch duftende, ausländische Zigarette im Mundwinkel. Gesprochen wird nicht viel. Ab und zu fällt eine Zahl, dann folgt entweder ein leichtes Kopfschütteln oder die nickende Zustimmung. Die beiden Handelseinigen verschwinden dann etwas abseits, tauschen hastig Ware und Gegenleistung aus und stehen Minuten später schon wieder bei anderen Gruppen, um dort ein neues Geschäft zu machen.

Was wird angeboten und welche Preise werden gezahlt? Da sind Zigaretten und Bohnenkaffee, Brot und Benzin, Uhren und Schnaps, Fleisch und Lebensmittelkarten. Geld spielt scheinbar keine Rolle, denn es werden Preise gefordert bis zum hundertfachen tatsächlichen Wert. Das Publikum wird von allen Schichten der Bevölkerung gestellt, vom berufsmäßigen Schwarzhändler bis zur armseligen Arbeiterfrau, die, um den Hunger ihrer Kinder zu stillen, die karge Zigarettenzuteilung ihres Mannes gegen Brot eintauscht. Vor der "Polente" (Polizei) scheint man keine Angst zu haben. [...]

Hannoversche Presse, 6. September 1946 in: Thomas Berger/Karl-Heinz Müller (Hg.), Lebenssituationen 1945 -1948, Hannover 1983, S. 64 f.

[...] Die Konjunkturbedingtheit des Schwarzhandels zeigt sich besonders beim Lebensmittelhandel. Die Preise steigen, wenn die Zuteilungen sinken und umgekehrt. [...]

Bei den Fettpreisen scheint auf den ersten Blick ein Paradoxon vorzuliegen: obwohl die Fettrationen um die Hälfte herabgesetzt wurden, liegen die Fettpreise um 15 bis 20 Prozent tiefer als bei Jahresbeginn. Die Lösung ist, daß im vergangenen Jahr die Organisationen zur Fälschung von Lebensmittelkarten so weit ausgebaut worden sind, daß ein hohes Markenangebot den Rationentiefstand ausgleicht. [...]

Neben den Fälschungen wurde der schwarze Markenmarkt vor allem mit gestohlenen Lebensmittelkarten beliefert, die oft in überraschend kurzer Zeit unter die Leute gebracht wurden. So wurde ein Tausender-Posten Marken, der in Unna gestohlen worden war, bereits am nächsten Tag in Hamburg in einem Blumengeschäft verkauft. Sperrung von Karten kann auch nicht viel retten, weil die Diebe ihre Beute in anderen Landesteilen absetzen, wo man mit diesen örtlichen Bestimmungen nicht so vertraut ist. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 435

"" Sonnabend, 4. Januar 1947.

Deutschland war damit in den archaischen Zustand der Naturalwirtschaft zurückgefallen: Waren konnten nur gegen Waren getauscht werden. Arbeiter waren oft nur drei Tage in der Woche in der Fabrik. An den übrigen Tagen tauschten sie ihren Lohn, der ebenfalls zum Teil aus Waren bestand, gegen Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs ein. "Der größte Teil der Schwarzmarktgeschäfte besteht aus Tauschhandel von Waren aus zweiter Hand, angefangen von alten kostbaren Pelzmänteln bis zu Kochtöpfen und abgelegten Schuhen und Galoschen, gegen Zigaretten, Schokolade, Kartoffeln oder Mehl. In den großen Städten besonders im Westen sind organisierte Tauschmärkte Tag und Nacht geschäftig, auf denen einfach alles gehandelt werden kann, mit Einschluss von Eisenbahnfahrkarten für Fernzüge (für die man Spezialerlaubnis braucht), interzonalen Pässen oder anderen gefälschten Papieren, die zur Erlangung amtlicher Vorteile nützlich sein könnten. Die Menschenmenge in diesen verwüsteten Städten ist ewig auf der Wanderschaft." Der 1933 in die USA emigrierte Publizist und Wirtschaftsfachmann Gustav Stolper hatte nach einer Deutschlandreise im Frühjahr 1947 diese Beobachtungen und Erfahrungen unter dem Titel "German Realities" der amerikanischen Öffentlichkeit vorgelegt.

Monatliches Haushaltsbudget einer Familie

Familie B. besteht aus dem Ehepaar, einer Tochter von 16 Jahren, einem Sohn von 15 und einem Sohn von 5 Jahren. Der Vater ist gelernter Arbeiter in einer Fabrik. Wochenverdienst: brutto 57,80 RM, netto 51,60 RM; im Monat netto 231,20 RM, monatliche Lehrvergütung des Sohnes 30 RM, der Tochter 32 RM, zusammen 293,20 RM.

Laufende Monatsausgaben Sept. 1947

Miete 33,66 RM

Gas 9,80 RM

Licht 4,90 RM

Ration. Lebensmittel, 14,79 RM Karte II (Vater)

Ration. Lebensmittel, 11,34 RM Karte III (Mutter)

Ration. Lebensmittel, 14,79 RM Karte II (erwachsener Sohn)

Ration. Lebensmittel, 11,34 RM Karte III (erwachsene Tochter)

Ration. Lebensmittel, 13,76 RM Karte IV (Kind)

Kleine Sonderzuteilung 2,00 RM

Obst laut Karte (Kind) 7,38 RM

Kartoffeln, 60 kg, 0,20 RM laut Karte 7

Gemüse laut Karte 5,30 RM

Schuhreparaturen 19,20 RM

Waschmittel 4,50 RM

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 436

Beiträge, Zeitungen 7,20 RM

Taschengeld für 2 erwachsene Kinder 20,00 RM

Fahrgeld, Haarschneiden, Kino 18,00 RM

Rauchwaren 9,60 RM

Summe 214,76 RM

Zusätzliche Ausgaben Schwarzer Markt

2 Pfund Mehl, Puddingpulver 49,00 RM

4 Brote je 1500g 160,00 RM

Waschmittel 10,50 RM

Petroleum für den Winter 36,00 RM

Kohle für den Winter, bisher 2 Zentner 120,00 RM

Summe 375,50 RM

Die Familie hat nach dieser Aufstellung 590,26 RM im Monat September insgesamt verausgabt

Durch das Gehalt des Ehemannes und die Vergütungen der Kinder konnten 293,20 RM gedeckt werden

Es bleiben aus anderen Einnahmequellen 297,06 RM zu decken

Im Sommer 1947 verkaufte das Ehepaar ein Dutzend silberne Bestecks für 1500 RM. Hiervon wird monatlich zugesetzt. Frau B. holt jeden Monat dreimal Gemüse und Kartoffeln von ihren Eltern aus der britischen Zone. Die Reisekosten werden mit 16 RM veranschlagt. Für die Lebensmittel gibt sie den Eltern durchschnittlich 25 bis 30 RM. Sie verkauft an Bekannte Gemüse zu mäßigen Schwarzmarktpreisen, um mindestens die Unkosten zu decken. [...]

In Berlin wurde die Bevölkerung in fünf Gruppen aufgeteilt, die Lebensmittelkarten mit jeweils unterschiedlichen Rationshöhen bekamen: I Schwerarbeiter, II Handarbeiter, III Angestellte, IV Kinder unter 14 Jahren, V sonstige Bevölkerung einschließlich Hausfrauen und Arbeitslose. Im März 1947 wurde die Gruppe V abgeschafft, und alle ihr zugehörigen Personen wurden der Gruppe III zugeteilt.

Man kann davon ausgehen, daß die meisten Familien in Deutschland ähnliche Probleme hatten. Das Einkommen reichte in der Regel zwar aus, die zugeteilten Rationen zu kaufen, diese reichten aber selbst bei Anlegung strengster Maßstäbe kaum aus, eine ausreichende Ernährung zu gewährleisten. Lebensnotwendige Käufe auf dem Schwarzen Markt und Hamstern waren vom Einkommen allein nicht zu bestreiten, sondern konnten nur mit Hilfe von Ersparnissen, Verkäufen von geretteten Sachwerten und Tauschgeschäften getätigt werden. Obwohl gewisse Lohnerhöhungen vorgenommen wurden, sanken die Reallöhne zunehmend, wozu auch noch ein Anstieg der Steuerbelastung beitrug. Um einen Arbeitsanreiz zu geben und Fachkräfte zu halten, führten verschiedene Betriebe eine teilweise Naturalentlohnung sowie andere Vergünstigungen wie markenfreies Essen ein.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 437

Während der deutsche Lebensstandard 1938 einer der höchsten in Westeuropa war, war er nach dem Krieg einer der niedrigsten.

Helga Grebing u.a., Die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland 1945 -1949, Stuttgart 1980, S. 39 ff.

Interimsschein für einen Kochtopf

Zugelassen durch die Ausnahmegenehmigung der Reichsstelle für Technische Erzeugnisse vom 22. 2. 1945

Dieser Interimsschein berechtigt nur zur Lieferung und zum Bezug im Bezirk des unterzeichneten Wirtschaftsamtes. Es berechtigt nicht zum Wiederbezuge und darf nicht in einem RTE-Scheck zusammengefaßt werden. Sobald RTE-Marken verfügbar sind, ist die unterzeichnete Ausgabestelle zum Umtausch in RTE-Marken verpflichtet.

Bergneustadt, den 19. 10. 1945

Antragsteller: Esther Faulenbach Lieferfirma: Kölnerstraße 190

Grauer Markt

Außer dem Schwarzen Markt gab es, mit Duldung der Besatzungsmächte, den "Grauen Markt" der Kompensationsgeschäfte, ohne den die bescheidene Nachkriegsindustrie nicht funktionierte. Um Rohstoffe für die Produktion oder Material für dringend nötige Reparaturen zu bekommen, wurde ein Teil der produzierten Waren am Bewirtschaftungssystem vorbei umgesetzt und eingetauscht. Am leitenden Personal eines Spinnfaser-Betriebs in Kassel sollte im Frühjahr 1947 ein Exempel statuiert werden. Hausdurchsuchungen bei leitenden Angestellten brachten Textilien (49 Damen-Hüftgürtel, 31 Büstenhalter, einige hundert Meter Stoff) zutage, die als Beweisstücke sichergestellt wurden. 112 Meter Stoff (die der Betrieb gegen Spinnfasern erworben hatte) waren gegen 85 Glühbirnen ausgetauscht worden, die für die Aufrechterhaltung der Produktion benötigt worden waren. Das Gerichtsverfahren, das als Korruptions- und Schiebertribunal aufgezogen wurde, entwickelte sich tatsächlich zu einem in allenvier Besatzungszonen aufmerksam beobachteten Musterprozess, bei dem es um Quoten, Ablieferungssoll, Kontrollen, Behördenmaßnahmen und Strafandrohungen ging.

Sachverständige hatten zu Protokoll gegeben, dass ohne Kompensationsgeschäfte, bei denen Waren gegen Rohstoffe oder andere Waren getauscht wurden, nichts funktioniere, dass das Spinnfaser- Management tatsächlich zum Wohle des Betriebs und der Belegschaft gehandelt habe und dass alle Industriebetriebe in ganz Deutschland so handeln müssten, um zu überleben: "Kompensationen sind das Ventil, ohne das die Mehrzahl der Produktionsbetriebe die beiden letzten Jahre nicht überdauert hätte", schrieb der Berliner Tagesspiegel.

Das Gericht bemühte sich - bei milden Strafen - um ein salomonisches Urteil, in dem der Versuch unternommen wurde, die Grenzen zwischen erlaubten und verbotenen Kompensationsgeschäften zu definieren. Die Situation der deutschen Wirtschaft zur Zeit des Grauen Marktes kam dadurch zum Ausdruck, dass die amerikanische Besatzungsmacht in solch einem Prozess - in Einklang mit den drei anderen Alliierten - mit Hilfe deutscher Gerichte und Behörden zu klären versuchte, ob die Kompensationswirtschaft unterbunden werden müsse oder toleriert werden dürfe. Eigenartig war auch, dass die Rechtsgrundlage des Musterprozesses die nationalsozialistische Kriegswirtschaftsverordnung von 1939 war.

Außenhandel

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 438

Die deutsche Wirtschaft war vor dem Krieg in hohem Maß vom Außenhandel abhängig gewesen. Nach den Gebietsverlusten im Osten (25 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche des Deutschen Reiches) war die Selbstversorgung Deutschlands - eines der Ziele der alliierten Politik - ohne Außenhandel unmöglich, geschweige denn die Gesundung einer Volkswirtschaft, die den Deutschen einen bestimmten, noch festzulegenden Lebensstandard ermöglichen sollte.

Es gab zwar eine Außenhandelsbilanz der Besatzungszonen (mit einem Anteil von Kohle in der amerikanischen und britischen Zone von 97 Prozent im Jahr 1945 und 77 Prozent im Jahr 1946). In der Importstatistik Frankreichs nahm die französische Zone in den Nachkriegsjahren den ersten Platz ein. Diese Ausfuhren gingen aber aufs Konto der Reparationen oder waren Besatzungskosten. Die Außenhandelsbeziehungen waren auch nicht Sache der Deutschen, da jegliche Verbindung mit dem Ausland laut Kontrollratsbeschluss verboten und Devisen streng bewirtschaftet waren. Selbst der Handel zwischen den einzelnen Besatzungszonen hatte Exportcharakter und wurde von den Militärregierungen abgewickelt.

Es waren Hoheitsakte alliierter Behörden ohne deutsche Beteiligung. Typisch ist folgendes Beispiel, lesebuchreif formuliert im Frühjahr 1948: "Eine Remscheider Firma hatte ihren ersten Auslandsauftrag auszuführen: Lieferungen von Ersatzteilen im Werte von 700 Mark nach Belgien. 78 Schriftstücke waren vorher auszufüllen. Dann gingen die Ersatzteile auf der Strecke Aachen - Verviers verloren." (Zitiert aus: Frankfurter Hefte 3, 1948, S. 400.)

Fritz Baade, der Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, sprach im Juli 1948 von drei Blockaderingen, die durchbrochen werden müssten, um die Grundlagen einer normalen Wirtschaft zu erreichen - JEIA (Joint Export Import Agency der britisch-amerikanischen Besatzungszone), Demontage und zwangsweiser Export von Rohstoffen aus Deutschland: "Alle drei zusammen brächten uns einen materiellen Schaden, den man vielleicht doppelt so hoch ansetzen könnte wie die Summe der für uns bestimmten Mittel aus der Marshall-Hilfe zuzüglich der weiteren Dollarmillionen aus dem Budget der US-Army."

Gesellschaftsprobleme

Die Gesellschaft der Nachkriegszeit war nicht nur durch den Verlust von Werten charakterisiert, an die man kurz zuvor noch geglaubt hatte. Die Eliten des Hitler-Staates hatten Selbstmord begangen, waren geflohen, saßen im Gefängnis oder im Internierungslager. Im Straßenbild der Dörfer und Städte waren, neben Zerstörungen, die Kriegsversehrten ebenso ein gewohnter Anblick wie Frauen, die bei der Beseitigung von Trümmern wie in der Verwaltung, im öffentlichen Leben und in Betrieben die Stellen von Männern eingenommen hatten. Dies alles fiel niemandem mehr auf.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs befanden sich mehr als acht Millionen Deutsche als Kriegsgefangene im Gewahrsam der Siegermächte. Im ersten Jahr nach Kriegsende wurden fünf Millionen von ihnen entlassen. Neben zahlreichen Todesopfern gab es außerdem eine große Anzahl von Vermissten, deren Verbleib nicht mehr geklärt werden konnte. Weit über 1,5 Millionen solcher Schicksale ehemaliger Wehrmachtsangehöriger verzeichneten die Statistiken. 1950 sprach man von 1,3 Millionen Vermissten im Osten und 100 000 Vermissten im Westen, der Suchdienst des Roten Kreuzes hat 1,086 Millionen deutsche Soldaten schließlich für tot erklärt. Hinter den Zahlen stehen die Schicksale zerstörter Familien, das Leid von Kriegerwitwen und Kriegswaisen.

Zum Kriegsgefangenenproblem gehörte auch die Verständigung der Alliierten darüber, dass ein Teil der deutschen Kriegsgefangenen zum Wiederaufbau und zur Wiedergutmachung angerichteten Schadens eingesetzt werden sollte. Aufgrund dieser Verabredung übergaben Amerikaner und Briten etwa eine Million Gefangene an Frankreich. In Lagern der Sowjetunion wurden deutsche Kriegsgefangene bis 1956 als Arbeitskräfte festgehalten.

Integration der Flüchtlinge

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 439

Das größte Problem war der Strom der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, der sich aus den abgetrennten Ostgebieten und aus Ost-Mitteleuropa in das verkleinerte und vierfach geteilte Deutschland ergoss. Ende Oktober 1946 wurden in den vier Besatzungszonen über 9,6 Millionen Heimatvertriebene gezählt. Die britische Zone hatte am 1. April 1947 einen Bevölkerungszuwachs von 3,67 Millionen (oder 18 Prozent) gegenüber 19,8 Millionen Einwohnern im Jahre 1939 zu verzeichnen. Die Einwohnerzahl der US-Zone vergrößerte sich um 3,25 Millionen (23 Prozent), die der sowjetischen Zone um 3,16 Millionen (16 Prozent). Die französische Zone nahm dagegen nur wenige Flüchtlinge widerwillig auf. Bei der Volkszählung im September 1950 hatte sich die Zahl der Einwohner dennoch um mehr als zwei Millionen erhöht. Die Gesamtbilanz nennt schließlich über 16 Millionen Menschen, die nach dem Ende der NS-Herrschaft das Schicksal von Flucht und Vertreibung traf und die in der Bundesrepublik sowie in der DDR eine neue Heimat fanden. Den größten Anteil mussten die Agrarländer Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern tragen, weil dort die Ernährung und Unterbringung eher möglich waren als in den Industriegebieten. Aber auch in Nordrhein-Westfalen gehörten von 100 Einwohnern 13 in die Kategorie der "Entwurzelten", wie Vertriebene, Flüchtlinge und Evakuierte amtlich genannt wurden.

Zunächst wurden sie als Fremde, als Störende des häuslichen Friedens, als unerwünschte arme Leute mit ungewohnten Sitten und Gebräuchen empfunden. Die Einheimischen ließen die Vertriebenen das Fremdsein spüren. Und die sozialen Probleme schienen kaum lösbar. Die Vertriebenen suchten Wohnung und Arbeit, Entschädigung für erlittene Verluste und Unterstützung in existenzieller Not. Die Besatzungsbehörden erwarteten die möglichst reibungslose Integration der neuen Bürgerinnen und Bürger. Sie untersagten ihnen deshalb den Zusammenschluss in eigenen politischen Organisationen und veranlassten die zuständigen Länderregierungen zum Erlass von Sozialgesetzen zugunsten der " Flüchtlinge".

Die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge ist als eine der großen gesellschaftlichen Leistungen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg anzusehen. Als ein mögliches Indiz für die weit gehende Eingliederung der Vertriebenen in ihre neue Heimat ist vielfach der allmähliche relative Bedeutungsverlust angesehen worden, den im Laufe der historischen Entwicklung der Bundesrepublik die Interessenverbände der Vertriebenen und die 1949 (nach dem Ende des Lizenzzwanges) gegründete Flüchtlingspartei "Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE) erfuhren.

Das war noch nicht absehbar gewesen, als im August 1950 "im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen" die Sprecher der Landsmannschaften und die Spitzen der Vertriebenenverbände die "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" formulierten. In der Stuttgarter Kundgebung, bei der die Charta unter feierlichem Verzicht auf Rache und Vergeltung verkündet wurde, war auch das "Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit " postuliert worden.

Die Integrationsleistung der Sowjetischen Besatzungszone stand den Anstrengungen und dem Erfolg der Flüchtlings- und Vertriebenenpolitik in den Westzonen nicht wesentlich nach. Freilich bestand dort ein Teil der Lösung auch in der Tabuisierung des Problems, denn es war grundsätzlich und ausschließlich nur von "Umsiedlern" die Rede und landsmannschaftliche Zusammenschlüsse wie in den Westzonen waren erst gar nicht erlaubt.

Entwicklung in der SBZ

Die sowjetische Besatzungszone (SBZ) nahm frühzeitig eine Entwicklung, die sich von den Westzonen unterschied. Das begann mit der Reparationspolitik der sowjetischen Besatzungsmacht, die unmittelbar nach Kriegsende mit Beutezügen und Demontagen einsetzte. Allein in Sachsen wurden bis Mitte 1948 etwa 1000 Betriebe demontiert und dabei 250 000 Maschinen abtransportiert. Bis März 1947 waren in der Ostzone 11 800 Kilometer Schienen abgebaut worden. Das Eisenbahnsystem verlor mit entsprechenden Wirkungen auf die Transportleistung fast überall das zweite Gleis. Auch die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 440

Entnahmen aus der laufenden Produktion waren ungleich höher als in den Westzonen. Lieferungen aus der Ostzone im Wert von sieben Milliarden US-Dollar während der ganzen Besatzungszeit standen lediglich 0,13 Milliarden aus den drei Westzonen gegenüber. Der Wert der Demontagen belief sich im Osten auf 2,6 Milliarden Dollar, im Westen auf 0,6 Milliarden.

Auch auf anderen Gebieten wurden in der SBZ die Weichen frühzeitig anders gestellt als im Westen. Die sowjetische Besatzungsmacht entwickelte auf ihrem Territorium neue soziale und politische Strukturen und wollte eine "neue Gesellschaft" formieren. Das hieß zunächst "antifaschistisch- demokratische Umwälzung" und zielte auf eine "Revolution der gesellschaftlichen und politischen Zustände", ein Prozess, der schließlich als "Transformation" in die Stalinisierung am Ende der Besatzungszeit mündete.

Die Sowjetische Militäradministration war die treibende Kraft dieser Entwicklung, forcierte die Veränderungen und schrieb deren Ergebnisse fest. So wurde im öffentlichen Dienst schon 1945 das Berufsbeamtentum abgeschafft. In der Justizreform von 1946 wurden mehr als 85 Prozent der Richter und Staatsanwälte im Zuge der Entnazifizierung entlassen und durch im Schnellverfahren ausgebildete "Volksrichter" unter ideologischer Dominanz der KPD ersetzt. Gleichzeitig wurde der gesamte Justizapparat zentralisiert. Der KPD wurde auch beherrschender Einfluss in den im Juli 1945 von der sowjetischen Militärregierung gebildeten Zentralverwaltungen (für Volksbildung, Finanzen, Arbeit und Sozialfürsorge sowie für Landwirtschaft) zugestanden.

Damit waren frühzeitig Bastionen besetzt, die beim Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend waren. Als erstes wurde ab September 1945 unter der Devise "Junkerland in Bauernhand " Großgrundbesitz enteignet. Die Bodenreform umfasste 35 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der SBZ; in den neu gebildeten "Bodenfonds" kamen 2,5 Millionen Hektar Land von 7000 Großgrundbesitzern sowie 600 000 Hektar aus dem Besitz ehemaliger NS-Führer und aus Staatsbesitz.

Bodenreform in der SBZ

Verordnung der Provinz Sachsen vom 3. September 1945

Artikel 1

1. Die demokratische Bodenreform ist eine unaufschiebbare nationale, wirtschaftliche und soziale Notwendigkeit. Die Bodenreform muß der Liquidierung der feudaljunkerlichen Großgrundbesitzer im Dorfe ein Ende bereiten, weil diese Herrschaft immer eine Bastion der Reaktion und des Faschismus in unserem Lande darstellte und eine der Hauptquellen der Aggression und der Eroberungskriege gegen andere Völker war. [...]

2. Das Ziel der Bodenreform ist: a) das Ackerland der bereits bestehenden Bauernhöfe unter 5 Hektar zu vergrößern; b) neue, selbständige Bauernwirtschaften für landlose Bauern, Landarbeiter und kleine Pächter zu schaffen; c) an Umsiedler und Flüchtlinge, die durch die räuberische hitlerische Kriegspolitik ihr Hab und Gut verloren haben, Land zu geben; d) zur Versorgung der Arbeiter, Angestellten und Handwerker mit Fleisch- und Milchprodukten in der Nähe der Städte Wirtschaften zu schaffen, die der Stadtverwaltung unterstehen, [...] e) die bestehenden Wirtschaften, die wissenschaftlichen Forschungsarbeiten und Experimentierzwecken bei den landwirtschaftlichen Lehranstalten sowie anderen staatlichen Erfordernissen dienen, zu erhalten und neue zu organisieren.

Artikel 2

1. Zur Durchführung dieser Maßnahmen wird ein Bodenfonds aus dem Grundbesitz gebildet, der unter den Ziffern 2, 3 und 4 dieses Artikels angeführt ist.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 441

2. Folgender Grundbesitz wird mit allen darauf befindlichen Gebäuden, lebendem und totem Inventar [...], unabhängig von der Größe [...], enteignet: a) der Grundbesitz der Kriegsverbrecher und Kriegsschuldigen [...] b) der Grundbesitz mit allem darauf befindlichen landwirtschaftlichen Vermögen, der den Naziführern und den aktiven Verfechtern der Nazipartei und ihrer Gliederungen sowie den führenden Personen des Hitlerstaates gehörte, [...]

3. Gleichfalls wird der gesamte feudaljunkerliche Boden und Großgrundbesitz über 100 Hektar mit allen Bauten, lebendem und totem Inventar und anderem landwirtschaftlichen Vermögen enteignet.

4. Der dem Staat gehörende Grundbesitz wird ebenfalls in den Bodenfonds der Bodenreform einbezogen, soweit er nicht für die Zwecke verwandt wird, die unter der nachfolgenden Ziffer 5 dieses Artikels aufgeführt sind.

5. Folgender Grundbesitz und folgendes landwirtschaftliches Vermögen unterliegen nicht der Enteignung: a) der Bodender landwirtschaftlichen und wissenschaftlichen Forschungsinstitutionen, der Versuchsanstalten und Lehranstalten; b) der Boden, der den Stadtverwaltungen gehört und für die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse zur Versorgung der Stadtbevölkerung benötigt wird; c) Gemeindeland und Grundbesitz der landwirtschaftlichen Genossenschaften und Schulen; d) der Grundbesitz der Klöster, kirchlichen Institutionen, Kirchen und Bistümer.

Ilse Spittmann, Gisela Helwig (Hg.), DDR-Lesebuch. Von der SBZ zur DDR 1945-1949, Köln 1989, S. 148.

Enteignung und Ausweisung

"Am 24. Juli siedelten meine Frau und ich wieder in unser Gut über, wo wir uns im Inspektorhaus mit den Resten unserer Möbel zwei Zimmer einrichteten. Die Feldarbeiten wurden unregelmäßig, wochenlang überhaupt nicht verrichtet, Pferde und totes Inventar fast restlos gestohlen. Da die Bergung der Ernte auf das höchste gefährdet war, wurde mir am 14. August vom Landrat unter den allerschwierigsten Verhältnissen wieder die Bewirtschaftung übertragen. [...]

Nachdem mir noch am 28. 9. eine Anerkennung wegen Bergung der Ernte ausgesprochen war, erhielt ich am 29. 9. den Befehl, mein Gut bis zum Abend zu verlassen. [...] Wir fuhren dann nach Schwerin, wo wir in dem der Familie meiner Frau gehörenden Hause Unterkunft fanden. Am Dienstag, den 13. November, erhielten wir aus zuverlässiger Quelle Nachricht von unserer vor Ende der Woche geplanten Verhaftung und Deportation. Am 14. November verließen wir heimlich Schwerin und trafen nach unendlichen Schwierigkeiten und Anstrengungen am 29. November in der Westzone ein. Unsere ganze Habe bestand aus je einem Rucksack." K. F.

"Obwohl mein Betrieb mit 37,8 Hektar nicht unter das Bodenreformgesetz fiel, wurde er am 28. 4. 1946 durch reine Willkürmaßnahmen enteignet. Ende Mai 1947 wurden drei Viertel des Hofes zurückgegeben, da aber die wirtschaftlichen Voraussetzungen durch die erfolgte Enteignung und die bei der Rückgabe erfolgte Aufteilung sehr schlecht waren, war es auch bei bester Wirtschaftsführung nicht möglich, in den späteren Jahren den Ablieferungsverpflichtungen nachzukommen. Wir mußten am 19. 11. 1952 nach West-Berlin flüchten." R. L.

Ilse Spittmann/Gisela Helwig (Hg.), DDR-Lesebuch. Von der SBZ zur DDR 1945-1949, Köln 1989, S. 156.

Die Maßnahme fand grundsätzlich den Beifall aller Parteien, allerdings wollte die Ost-CDU keine Enteignung ohne Entschädigung. Darüber kam es zur Parteikrise, in der die Vorsitzenden und Walther Schreiber von der Sowjetischen Militäradministration im Dezember 1945 abgesetzt wurden. Ohne die Reformen als kommunistisch oder sozialistisch zu bezeichnen - offen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 442 deklarierter "sozialistischer Aufbau" erschien auch der KPD und den Sowjets noch nicht möglich -, wurde die Notwendigkeit einer Planwirtschaft festgestellt und damit die künftige Staatswirtschaft vorbereitet.

Die Industriereform, eingeleitet im Oktober 1945, war ein weiterer Schritt in diese Richtung, bei der das Eigentum von Staat, Wehrmacht, NSDAP und "Kriegsverbrechern" beschlagnahmt wurde. In Sachsen wurde am 30. Juni 1946 ein Volksbegehren "zur Enteignung der Kriegsverbrecher und Nazis " angesetzt, bei dem sich 67,6 Prozent der befragten Bevölkerung für die Enteignung aussprachen und damit den Weg zur Verstaatlichung der Schwer- und Schlüsselindustrie freimachten.

In der ganzen übrigen Sowjetzone machte - ohne Plebiszit - das sächsische Modell Schule. Schon zu Beginn der Besatzung wurden mit diesen Maßnahmen in der sowjetischen Zone entscheidende Veränderungen eingeleitet, durch die sich die Ostzone zunehmend von den Westzonen unterschied.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 259) - Infrastruktur und Gesellschaft im zerstörten Deutschland (http://www.bpb.de/izpb/10057/infrastruktur-und-gesellschaft-im-zerstoerten-deutschland)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 443

Bestrafung der Schuldigen

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 11.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Am 20. November 1945 begann der Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg, dem ehemaligen Schauplatz der Reichsparteitage. Er war ein weltweites Medienereignis: Auf der Anklagebank saß die Führungselite des NS-Regimes. Zahlreiche Einzelprozesse in den vier Besatzungszonen verfolgten die weniger prominenten Verbrechen.

Einleitung

Lange vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Alliierten einig, dass die Verantwortlichen für die nationalsozialistische Herrschaft vor einem internationalen Gerichtshof im Namen der 1945 in Nachfolge des Völkerbundes entstandenen Vereinten Nationen zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Die Bestrafung der "Hauptkriegsverbrecher" war im November 1943 angekündigt worden. Das Gerichtsstatut wurde im August 1945 veröffentlicht, die Tatbestände lauteten "Verschwörung gegen den Frieden", "Verbrechen gegen den Frieden", "Kriegsverbrechen", "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Dahinter verbargen sich Morde und Misshandlungen, Deportation zur Sklavenarbeit, Verfolgung und Vernichtung von Menschenleben. Der Anklagepunkt "Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs" jedoch war völlig neu in der Geschichte des Rechts, und dieser Anklagepunkt nährte bei manchen Beobachtern den Verdacht, dass das juristische Fundament des ganzen Hauptkriegsverbrecherprozesses auf schwankendem Grund erbaut sei.

Dass die Sieger über die Verlierer zu Gericht saßen, um Hitlers Angriffskrieg als Völkerrechtsbruch zu ahnden, erschien manchen auf der Verliererseite eher als Akt von "Sieger- oder Rachejustiz" denn als Exempel zur Fortentwicklung des internationalen Rechts. Über der Diskussion, ob der Internationale Gerichtshof nicht den Grundsatz "keine Strafe für eine Tat, die zur Zeit der Ausführung noch nicht unter Strafe stand" verletzte, konnte allerdings zu leicht vergessen werden, dass zur Verurteilung der Männer auf der Anklagebank die herkömmlichen deutschen Strafgesetze völlig ausreichten und dass kein einziger nur wegen des neuen Straftatbestandes "Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs " verurteilt wurde. Der Internationale Gerichtshof trat am 18. Oktober 1945 in Berlin zur Eröffnungssitzung zusammen, die Verhandlungen begannen am 20. November 1945 in Nürnberg.

Die Bezeichnung "Militärtribunal" könnte zur irrigen Annahme verleiten, dem Gericht habe es an Fachkompetenz ermangelt. Aber Richter wie Ankläger waren erstklassige Juristen aus vier Nationen. Angeklagt waren 24 Personen und sechs Kollektive, die im Sinne der Anklage als "verbrecherische Organisationen" definiert waren: deutsche Reichsregierung, NSDAP, SS, Geheime Staatspolizei, SA, Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht. Für diese Organisationen saßen die Angeklagten auch stellvertretend auf der Anklagebank. Es waren aber statt der 24 Angeklagten nur 21 Männer, die an 218 Prozesstagen bis zum Urteilsspruch am 1. Oktober 1946 im Nürnberger Gerichtssaal zur Verantwortung gezogen werden konnten. Einer, der Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der "Deutschen Arbeitsfront" Robert Ley, hatte sich durch Selbstmord dem Gericht entzogen, gegen einen anderen, den Leiter der Partei-Kanzlei Martin Bormann, wurde in Abwesenheit verhandelt, ein dritter, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, war verhandlungsunfähig.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 444

Hauptkriegsverbrecher-Prozesse

Angeklagt war die Führungselite des NS-Regimes - soweit greifbar - im "Hauptkriegsverbrecherprozess ", darunter der ehemalige "Reichsmarschall" Hermann Göring, Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, Außenminister Joachim von Ribbentrop, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der Herausgeber des antisemitischen Hetzblatts "Der Stürmer" Julius Streicher, der Großadmiral und Hitlernachfolger Karl Dönitz, der Reichsinnenminister Wilhelm Frick, Rüstungsminister Albert Speer, Generaloberst Alfred Jodl und weniger bedeutende wie der Abteilungsleiter im Reichspropagandaministerium Hans Fritzsche, Hitlers "Steigbügelhalter" Franz von Papen, Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht. Die drei Letztgenannten wurden freigesprochen, was heftige Kritik in der Öffentlichkeit erregte.

Verhältnismäßig glimpflich davon kamen unter anderem Dönitz (10 Jahre Gefängnis), der " Reichsjugendführer" Baldur von Schirach und Hitlers Leibarchitekt und Rüstungsminister Speer (20 Jahre Gefängnis). Rudolf Heß musste seine lebenslange Haft als einziger ganz verbüßen. Alle anderen Angeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Urteil wurde im Morgengrauen des 16. Oktober 1946 vollstreckt. Hermann Göring jedoch hatte sich am Vorabend seiner Hinrichtung auf ungeklärte Weise Gift verschafft und Selbstmord begangen.

Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess fand weltweit große Publizität. Den Deutschen war seitens der Besatzungsmächte höchste Aufmerksamkeit befohlen worden, die durch ausführliche Berichterstattung im Rundfunk und in der Presse gewährleistet werden sollte. Aber das Interesse ließ sich nicht auf Dauer erzwingen, und die Überzeugung, dass in Nürnberg ein neues Kapitel Völkerrecht geschrieben werde, war nicht allgemein verbreitet. In der französischen Zone erschien 1946 eine Aufklärungsschrift mit dem Titel "Der Nürnberger Lehrprozess", in der die Ethik des Nürnberger Tribunals verteidigt wurde. Verfasser war unter einem Pseudonym der Schriftsteller Alfred Döblin, der - aus dem Exil zurückgekehrt - bei der französischen Militärregierung Dienst tat. Er schrieb, der Nürnberger Prozess müsse als Zukunftshoffnung begriffen werden. Es gehe bei der Wiederaufrichtung des Rechts in Nürnberg um die Wiederherstellung der Menschheit: "Man baute einen juristischen Wolkenkratzer, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Das Fundament aber, auf dem er errichtet wurde, der Beton, war der solideste Stoff, der sich auf Erden finden ließ: Moral und die Vernunft."

Nürnberger Nachfolgeverfahren

Die Absicht, dem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg weitere Prozesse unter gemeinsamer Gerichtshoheit der Alliierten folgen zu lassen, ließ sich im beginnenden Kalten Krieg nicht mehr realisieren. In allen vier Besatzungszonen (und in den von deutscher Okkupation befreiten Nationen wie Polen, den Niederlanden, Italien) fanden deshalb in der Folgezeit einzelne Prozesse statt, bei denen nationalsozialistische Verbrechen von Militärgerichtshöfen der Besatzungsmächte untersucht und verurteilt wurden.

Am meisten Aufsehen erregten die zwölf Verfahren, die die Amerikaner in Nürnberg unmittelbar im Anschluss an das Hauptkriegsverbrecher-Tribunal führten. Diese zwölf "Nachfolge-Prozesse " dauerten bis Mitte 1949. Sie boten einen Querschnitt durch zwölf Jahre nationalsozialistischer Politik, Diplomatie und Wirtschaft: Im Ärzteprozess ging es um "Euthanasie" und Menschenversuche, im Milch-Prozess (benannt nach dem Generalinspekteur der Luftwaffe Erhard Milch) um die Kriegsrüstung, im Flick-Prozess (nach Friedrich Flick, einem der prominentesten Großunternehmer im NS-Staat) um Zwangsarbeit und Raub ausländischen Eigentums, im Südost-Generäle-Prozess standen Geiselerschießungen auf dem Balkan zur Debatte, im Fall acht-Verfahren waren Mitarbeiter des "Rasse- und Siedlungshauptamts der SS" wegen der Ermordung von Juden und Polen angeklagt, im Wilhelmstraßenprozess standen Diplomaten und andere Funktionäre vor Gericht, im Einsatzgruppen-Prozess waren die Mordaktionen an Juden in den besetzten Ostgebieten Gegenstand der Anklage.

Es ist zwar nicht gelungen, mit diesen Verfahren der Gerechtigkeit zum dauernden Sieg zu verhelfen,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 445 und die Nürnberger Grundsätze wurden nicht neues Völkerrecht. Aber es war auch nicht das Tribunal der Rache der Sieger gegen die Besiegten. Die Verbrechen waren so einzigartig, so eindeutig gegen die Menschheit insgesamt begangen, dass über sie im Namen der Vereinten Nationen gerichtet werden musste. Deutsche wären nach Auffassung der Alliierten wie der Opfer nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft allein zu einem solchen Gericht nicht fähig gewesen, und in der Mehrheit waren sie deshalb für die Übernahme der Verfahren durch die internationale Justiz auch dankbar. Denn über Schuldspruch und Strafe hinaus bildeten die Prozesse den Beginn der Aufklärung über die nationalsozialistische Diktatur. Und dadurch haben die Nürnberger Verfahren - der Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) ebenso wie die zwölf Prozesse unter amerikanischer Gerichtshoheit - auch zur Entwicklung der Demokratie und zur Wiedererrichtung des Rechtsstaats in Deutschland beigetragen.

Prozesse in den einzelnen Zonen

Auf dem Gelände des KZ Dachau tagte ein amerikanisches Militärgericht. In mehreren Prozessen standen die Verbrechen der Wachmannschaften und Kommandanten einzelner Konzentrationslager zur Anklage, die Verfahren hatten die KZ Dachau, Flossenbürg, Mauthausen und Ebensee zum Gegenstand. Wie bei den großen Prozessen in Nürnberg war nie von einer Kollektivschuld die Rede. In keinem Fall wurde pauschal geurteilt. Die individuelle Schuld eines jeden Angeklagten wurde genau untersucht, Beweise wurden sorgfältig erhoben und Zeugen gehört. Nach dem Urteilsspruch bestand Gelegenheit für Gnadengesuche und nicht alle Urteile wurden anschließend bestätigt und vollstreckt.

Am 13. Mai 1946 ging in Dachau nach 37 Verhandlungstagen ein Prozess gegen das Personal des KZ Mauthausen zu Ende, bei dem alle 61 Angeklagten für schuldig befunden, 58 zum Tode, die übrigen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurden. Rechtskraft erhielten die Schuldsprüche nach sorgfältiger Prüfung der Einsprüche und Gnadengesuche am 30. April 1947. In vielen Fällen waren die Strafen gemildert worden. Gegen49 Angeklagte des KZ-Personals wurden die Todesurteile bestätigt und Ende Mai 1947 vollstreckt.

In der britischen Besatzungszone führten Militärgerichte in Lüneburg Strafverfahren gegen SS- Personal von Bergen-Belsen und Auschwitz, in Hamburg stand Generalfeldmarschall Erich von Manstein vor Gericht. Ihm wurde vorgeworfen, bei der Kriegführung nicht auf die Zivilbevölkerung geachtet zu haben (vom Vorwurf, für Massenmorde an Juden mitverantwortlich zu sein, wurde er freigesprochen). Er wurde im Dezember 1949 zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, die später auf zwölf Jahre herabgesetzt wurden, in Freiheit kam er jedoch schon im Mai 1953.

In der sowjetischen Besatzungszone standen Schergen des NS-Regimes ebenso vor Gericht wie in der französischen Zone. In Straßburg musste sich der ehemalige Gauleiter Robert Wagner vor einem französischen Gericht verantworten. In Belgien, Dänemark und Luxemburg, in der Tschechoslowakei und Jugoslawien, in Norwegen und in den Niederlanden wurden Deutsche zur Rechenschaft gezogen, die sich als Funktionäre des NS-Staats, als Besatzungsoffiziere oder als SS-Schergen schuldig gemacht hatten. In Krakau wurde im März 1947 der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß zum Tode verurteilt.

Viele hatten sich durch Selbstmord, durch Flucht nach Südamerika oder durch Untertauchen der irdischen Gerechtigkeit entzogen. Einigen wurde später der Prozess gemacht, wie Adolf Eichmann 1961 in Israel oder SS-Angehörigen in den sechs Frankfurter Auschwitz-Prozessen zwischen 1965 und 1981 und in anderen Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen.

Der Sachsenhausen-Prozess

Am Nachmittag des 23. Oktober 1947 trat im Rathaus von Berlin-Pankow, damals Sitz der sowjetischen Militärkommandantur, ein sowjetisches Militärtribunal zusammen. Verhandelt wurde unter dem Vorsitz

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 446 des Obersten Majorov gegen 16 Angeklagte. Sie hatten zum Personal des Konzentrationslagers Sachsenhausen gehört, die meisten von ihnen gehörten der SS an, an ihrer Spitze der ehemalige Lagerkommandant Anton Kaindl. Zwei Angeklagte waren als Häftlinge ins KZ Sachsenhausen gekommen und hatten sich dort zu willigen Werkzeugen der SS machen lassen. Der eine, Paul Sakowski, wurde im Alter von 20 Jahren zum Henker, der andere, Karl Zander, avancierte vom vielfach vorbestraften Kriminellen zum Blockältesten, zum Folterknecht.

Ein dritter, Ernst Brennscheidt, gehörte ebenfalls nicht der SS an. Er war als Beamter des Reichswirtschaftsministeriums zur Leitung "Schuhprüfstelle" im KZ Sachsenhausen abkommandiert worden. Das klang harmloser, als es war: Um Material und Haltbarkeit von Schuhen für die Wehrmacht zu prüfen, mußte ein Häftlingskommando - 180 Mann - täglich mit einem halben Zentner Sand beladen auf einer Teststrecke marschieren, 40 km, 11 Stunden täglich, und wer es nicht schaffte, wurde mit Essensentzug und Prügeln bestraft. 20 bis 30 Häftlinge brachen täglich unter der Tortur zusammen, und der Beamte Brennscheidt schlug auf sie ein, hetzte Hunde auf sie, betrug sich nicht weniger sadistisch als die SS.

Außer dem Lagerkommandanten Kaindl standen der zweite und der dritte Lagerführer vor dem sowjetischen Gericht, der ehemalige Lagerchefarzt, Heinz Baumkötter, der sich grauenhafter medizinischer Experimente an Häftlingen schuldig gemacht hatte, und ehemalige Lagerfunktionäre wie der Rapportführer Gustav Sorge, einer der schlimmsten Sadisten, den die Häftlinge den "Eisernen Gustav" nannten, worauf der Erbarmungslose stolz war.

Der Berliner Prozeß dauerte acht Tage, vom 23. Oktober bis zum 1. November 1947. Er unterschied sich von den meisten anderen Verfahren dadurch, daß alle Angeklagten umfangreiche Geständnisse ablegten. Aber wie alle Schergen des Systems beriefen sie sich auch da, wo sie ganz persönlichen Sadismus, eigene Mordlust ausgelebt hatten, auf den Befehlsnotstand.

Dem Gerichtstermin waren umfangreiche Ermittlungen vorangegangen. 27 Zeugen wurden im Prozeß gehört. Das Verfahren hatte - das war in der Sowjetunion üblich - auch den Charakter des Schauprozeßes, der der politischen Propaganda dienen sollte.

Wolfgang Benz

Rechtsprechungsprobleme

Die Zuständigkeit deutscher Gerichte für NS-Verbrechen regelte sich nach den Kontrollratsgesetzen Nr. 4 vom Oktober und Nr. 10 vom Dezember 1945. Danach war die Verfolgung von NS-Straftaten gegen Angehörige der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen den deutschen Gerichten generell entzogen. Zur Aburteilung von Verbrechen gegen Deutsche konnten die Besatzungsbehörden deutsche Gerichte ermächtigen. In der britischen und französischen Zone wurde diese Ermächtigung generell, in der amerikanischen fallweise erteilt. De facto waren die deutschen Gerichte damit von der Verfolgung der Mehrzahl der NS-Verbrechen bis zum Ende der Besatzungszeit ausgeschlossen. Die Ausnahme bildeten Verfahren gegen die Täter der "Reichskristallnacht", der Novemberpogrome gegen die deutschen Juden von 1938, die seit 1946 überall in Gang kamen. Die großen Prozesse vor deutschen Gerichten begannen unverhältnismäßig spät. Die Belangung von Straftätern wurde durch die Regelung erschwert, dass deutsche Gerichte Fälle, die rechtskräftig von alliierten Tribunalen erledigt waren, nicht wieder aufgreifen durften. Das war als Sicherung gegen eine nachträgliche Abmilderung der Urteile gedacht gewesen; in der Praxis der Rechtsprechung gegen NS-Gewalttäter in der Bundesrepublik hatte es aber oft die Folge, dass in der Besatzungszeit Verurteilte und dann Amnestierte als Zeugen auftraten und nicht mehr belangt werden konnten, auch wenn neues Material auftauchte, das die Zeugen viel ärger belastete als die Angeklagten.

Auszug aus:

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 447

Informationen zur politischen Bildung (Heft 259) - Bestrafung der Schuldigen (http://www.bpb. de/izpb/10064/bestrafung-der-schuldigen)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 448

Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 11.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Wie sollte ein Land auf einmal demokratisch werden, in dem die Shoa möglich gewesen war? Gezielt bauten die Alliierten Bildung, Kultur und Medien um. NSDAP-Mitglieder wurden aus allen Institutionen der Gesellschaft entfernt. Wegen mangelnder Fachkräfte wurden viele von ihnen allerdings rasch wieder rehabilitiert.

Einleitung

Etwa 8,5 Millionen Deutsche waren Mitglieder der NSDAP gewesen. Sie bildeten den Kern von Hitlers Parteigängern und mussten, so hatten es die Alliierten noch während des Krieges beschlossen und in Potsdam 1945 bekräftigt, der politischen Säuberung in Gestalt der "Entnazifizierung" unterworfen werden. Damit wurde, noch ehe der Kontrollrat die Ausführungsbestimmungen für ein einheitliches Vorgehen in allen vier Besatzungszonen erließ, überall im Frühjahr 1945 begonnen.

Deutsche beteiligten sich dabei. Antifaschistische Komitees entstanden in ganz Deutschland während des Zusammenbruchs der NS-Herrschaft; es waren vor allem Männer der Arbeiterbewegung, die sich zur kollektiven Selbsthilfe und mit dem Ziel, Schuldige der Gerechtigkeit zu überantworten, zusammenfanden. Die -Leute hinderten führende Nazis am Untertauchen, manchmal mussten sie ehemalige Parteigrößen auch vor der Lynchjustiz der Bevölkerung schützen. Die Alliierten waren an der Mithilfe deutscher Antifaschisten bei der politischen Säuberung freilich nicht interessiert, dazu war ihr Misstrauen gegen alle Deutschen zu groß. Die Antifa-Bewegung wurde im Frühsommer 1945 verboten, in der sowjetischen Zone ebenso wie in der amerikanischen.

Maßnahmen gegen Nationalsozialisten

Der Alliierte Kontrollrat in Berlin erließ im Januar 1946 eine erste Entnazifizierungsdirektive und im Oktober 1946 wurden Richtlinien veröffentlicht, wie aktive Nationalsozialisten, Helfer und Nutznießer des NS-Regimes behandelt werden sollten. Zur Durchführung der Potsdamer Grundsätze wurden nach dieser Direktive zwecks "gerechter Beurteilung der Verantwortlichkeit" und zur "Heranziehung zu Sühnemaßnahmen" fünf Gruppen gebildet: "1. Hauptschuldige, 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe), 4. Mitläufer" und "5. Entlastete (Personen der vorstehenden Gruppen, welche vor einer Spruchkammer nachweisen können, dass sie nicht schuldig sind)".

Die Entnazifizierungsprozedur, die der Kontrollrat damit in gleichförmige Bahnen lenken wollte, war freilich längst im Gang, und zwar in den einzelnen Besatzungszonen auf unterschiedliche Weise. Durch ihren moralischen und zugleich bürokratischen Rigorismus taten sich die Amerikaner hervor, in der britischen Zone wurde die Säuberung weniger streng gehandhabt, in der französischen Zone gab es regionale Unterschiede und diverse Kurswechsel der Besatzungsmacht. In den beiden letztgenannten Zonen wurde der Säuberungsprozess mehr als pragmatische Angelegenheit betrachtet, bei der das

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 449

Schwergewicht darauf lag, die Eliten auszuwechseln. In der britischen und der französischen Zone neigte man bei der anzuwendenden Methode mehr politischen und administrativen als justizförmigen Prozeduren zu, passte sich aber dann den amerikanischen Vorstellungen an, die auch in der Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom Oktober 1946 dominierten.

Politische Säuberung in der SBZ

In der sowjetischen Besatzungszone wurde die Entnazifizierung am konsequentesten durchgeführt und am schnellsten abgeschlossen. Die Entnazifizierung erfolgte hier im Zusammenhang mit der " antifaschistisch-demokratischen Umwälzung". Die Entfernung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder aus allen wichtigen Stellungen war Bestandteil dieser politischen und sozialen Neustrukturierung, die unter dem Schlagwort "Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und der Monopolbourgeoisie" die SED als bestimmende Kraft durchsetzen sollte.

Ende Oktober 1946 standen in der sowjetischen Zone eigene "Richtlinien für die Bestrafung der Naziverbrecher und die Sühnemaßnahmen gegen die aktivistischen Nazis" zur Verfügung. Sie waren von einem gemeinsamen Ausschuss der im "Demokratischen Block" unter Dominanz der SED zusammengefassten Parteien verfasst worden. Der Katalog der Sühnemaßnahmen beinhaltete: "1. Entlassung aus öffentlichen Verwaltungsämtern und Ausschluss von Tätigkeiten, die öffentliches Vertrauen erfordern; 2. zusätzliche Arbeits-, Sach- und Geldleistungen; 3. Kürzung der Versorgungsbezüge und Einschränkung bei der allgemeinen Versorgung, solange Mangel besteht; 4. Nichtgewährung der politischen Rechte einschließlich des Rechts auf Mitgliedschaft in Gewerkschafts- oder anderen Berufsvertretungen und in den antifaschistisch-demokratischen Parteien."

Aber wie in den Westzonen wurde auch in der Ostzone bei der Entnazifizierung Rücksicht genommen auf Fachleute wie Techniker, Spezialisten und Experten, die für das Funktionieren bestimmter Einrichtungen oder für den Wiederaufbau unentbehrlich waren. Ende 1946 waren in der sowjetischen Besatzungszone trotzdem insgesamt 390478 ehemalige NSDAP-Mitglieder entlassen bzw. nicht wieder eingestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Säuberungsverfahren neu organisiert.

Speziallager

Unter direkter Regie des sowjetischen Geheimdienstes waren in der sowjetischen Besatzungszone Internierungslager eingerichtet worden, in denen - wie in den Westzonen - ehemalige Nazis arretiert waren, um sie zur Rechenschaft ziehen zu können. Die Speziallager unterschieden sich freilich in einem Punkt grundlegend von den Internierungslagern der Westzonen: Sie dienten neben der Inhaftierung von Nationalsozialisten auch dazu, Gegner der gesellschaftlichen Umwälzung (Sozialdemokraten, Liberale und Konservative) aus dem Verkehr zu ziehen und mundtot zu machen. Schlechte Behandlung war ebenso charakteristisch wie die Willkür, mit der man inhaftiert wurde. Das ehemalige KZ Buchenwald war das Speziallager Nr. 2, Sachsenhausen diente ab August 1945 als Speziallager Nr. 7 und war bis 1950 die größte Haftstätte der SBZ/DDR. Etwa 50 000 Menschen waren im Laufe der fünf Jahre in diesen Lagern inhaftiert, etwa 12 000 sind ums Leben gekommen und wurden in Massengräbern beerdigt. Die Vorgänge waren bis zum Ende der DDR tabuisiert.

Verfolgung Oppositioneller

Unter 1565 Verurteilten sowjetischer Instanzen, die 1960 befragt wurden (Fragebogenaktion Karl- Wilhelm Frickes im Zusammenwirken mit der Vereinigung der Opfer des Stalinismus unter ehemaligen politischen Häftlingen, die zwischen 1945 und 1960 in der SBZ/DDR in Haft waren - Anm. d. Red.), befanden sich 187 - 18,3 Prozent, die vor ihrer Inhaftierung in einer der nach 1945 wiedererstandenen und neu gegründeten Parteien organisiert waren. Nach Parteien aufgeschlüsselt, entfielen davon auf die SED = 43,1 Prozent, auf die LDP = 33,7 Prozent, auf die CDU = 22,9 Prozent und auf die NDPD = 1,3 Prozent. Mitglieder der DBD wurden nicht registriert. Der hohe Anteil von Mitgliedern der SED

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 450 geht auf ehemalige Sozialdemokraten zurück, die infolge der Zwangsfusion von KPD und SPD im Frühjahr 1946 Mitglieder der SED geworden waren und im Ergebnis der Befragung als solche erscheinen. [...]

Mit dem Zwang zur Gründung der SED waren sie als erste politische Gruppierung herausgefordert und in die Opposition gedrängt worden. Zum anderen besaßen sie vor der Vereinigung mit den Kommunisten fest gefügte Parteiorganisationen. [...]

Selbstverständlich informierten die mitteldeutschen Sozialdemokraten [...] das Ostbüro der SPD (seit April 1946 in Hannover, später in Bonn und West-Berlin - Anm. d. Red.) auch laufend über wichtige Vorgänge aus der SBZ/DDR - was ihnen allzu bald den Vorwurf der Spionage eintrug und ihre Verfolgung provozierte. [...]

Die Verfolgung oppositioneller Sozialdemokraten in der SBZ/DDR hatte schon 1946 begonnen, bald nach der Verschmelzung von KPD und SPD, aber sie erreichte ihre größte Intensität erst in den Jahren 1947/49, als die Kommunisten ihren monopolistischen Herrschaftsanspruch in der "geeinten" Partei mit rücksichtsloser Gewalt durchsetzten und die SED zur stalinistischen Kaderpartei umschmolzen. Laut einem Brief des "Freundeskreises ehemaliger politischer Häftlinge aus den Reihen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands" vom 31. März 1971 an das Zentralkomitee der SED, waren es "mehr als fünftausend Mitglieder und Funktionäre der deutschen Arbeiterbewegung", die "lange Jahre in menschenunwürdiger Haft ihrer Freiheit beraubt" wurden. "Über vierhundert von ihnen sind dabei umgekommen." Daßehemalige Sozialdemokraten in ihrer Mehrheit von sowjetischen Militärtribunalen statt von deutschen Gerichten verurteilt wurden, war nicht ohne Überlegung geschehen. Die SED schien so frei vonjeglicher Verantwortung dafür, obwohl ihr Zusammenspiel mit der "sozialistischen Besatzungsmacht" geschichtsnotorisch ist.

Karl Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR, Köln 1979, S. 117, 120.

Vertreter der Parteien, der Gewerkschaften, der Vereinigung der Verfolgten des NS-Regimes, der Frauen- und Jugendausschüsse sowie der Industrie- und Handelskammern gehörten den Entnazifizierungskommissionen an. Die Arbeit vor Ort wurde von Kreiskommissionen unter dem Vorsitz der Oberbürgermeister bzw. Landräte getan. Die Kommissionen entschieden nur über Entlassung oder Weiterbeschäftigung. Sie arbeiteten sich von oben nach unten durch die Behörden und mussten unter ziemlichem Zeitdruck auch die zunächst erlaubten Fälle von Weiterbeschäftigung wieder aufrollen. Schwierigkeiten bereitete besonders der Austausch der Fachleute. So beschwor eine Entnazifizierungskommission auf Landesebene die nachgeordneten Instanzen: Es sei "heilige Pflicht, alle faschistischen Personen durch antifaschistische Kräfte zu ersetzen und keinerlei Rücksichten auf jene Elemente zu nehmen, die glauben, als unersetzbare ,Fachkraft? im trüben fischen zu können".

Rehabilitierung

Allmählich wurde aber auch der Gedanke der Rehabilitierung propagiert. Ab Februar 1947 wurde stärker zwischen nominellen NSDAP-Mitgliedern und Aktivisten unterschieden. Die erste Gruppe sollte so schnell wie möglich integriert werden, weil man sie zum Wiederaufbau brauchte. Die letzte Phase der Entnazifizierung wurde im August 1947 durch den Befehl Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration eingeleitet. Er stellte endgültig die Weichen zur Rehabilitierung aller nominellen NSDAP-Mitglieder. Das Ziel war die baldige Beendigung des Säuberungsprozesses. Der SMAD-Befehl gab den Mitläufern das Wahlrecht ganz und die übrigen bürgerlichen Rechte weitgehend zurück. Den deutschen Gerichten wurde gleichzeitig mit der Auflösung der meisten Entnazifizierungskommissionen die Aburteilung der NS- und Kriegsverbrecher übertragen. Bis zum März 1948 waren seit Beginn der Entnazifizierung in der Sowjetzone insgesamt 520 734 Personen aus ihren Ämtern und Funktionen entlassen bzw. nicht wieder eingestellt worden. Das war die rechnerische Schlussbilanz der politischen Säuberung in der sowjetischen Besatzungszone, als sie durch Befehl der Militärregierung im Frühjahr 1948 abgeschlossen wurde.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 451

Zur Entnazifizierungspraxis in der amerikanischen Zone gab es Parallelen in Gestalt der gemeinsamen Intentionen bei der Säuberungs- bzw. Rehabilitierungsprozedur. Es gab aber auch einen ganz erheblichen Qualitätsunterschied. In der Ostzone lag nicht nur das Schwergewicht auf der Räumung von Positionen im öffentlichen Dienst (und selbstverständlich bei Schlüsselpositionen in Industrie und Wirtschaft), sondern in zwei Bereichen waren die Entlassungen definitiv und irreversibel, nämlich in der Inneren Verwaltung und in der Justiz.

Aus dem Justizapparat mussten auf Befehl der SMAD vom September 1945 sämtliche NSDAP- Mitglieder entfernt werden. Da etwa 90 Prozent des Justizpersonals in der Partei gewesen war, hatte der SMAD-Befehl revolutionären Charakter. Von den 16 300 Bediensteten der Justiz im Gebiet der ganzen Zone waren am Stichtag 8. Mai 1945 13 800 Beamte und Angestellte sowie 2467 Richter und Staatsanwälte in der NSDAP und ihren Gliederungen organisiert gewesen. Um das entstandene Vakuum wieder zu füllen, wurde ab 1946 in jedem der fünf Länder der sowjetischen Besatzungszone eine Volksrichterschule etabliert. In sechs- bis neunmonatigen Lehrgängen genossen jeweils 30 bis 40 Kandidaten, die von den politischen Parteien und Organisationen vorgeschlagen wurden, eine Ausbildung zu Volksrichtern. Die Erfolgsquote war zunächst recht gering, da fast die Hälfte der Kandidaten ungeeignet war und die Abschlussprüfung nicht bestand. Später wurde die Ausbildung um ein Jahr verlängert.

Entnazifizierung in der US-Zone

Die Amerikaner hatten das Problem der politischen Säuberung in ihrer Zone mit denkbar größtem Elan angepackt, um alle ehemaligen Nazis aus dem öffentlichen Leben und der Wirtschaft zu entfernen. Zur Ermittlung dieses Personenkreises diente der berühmt gewordene Fragebogen. Auf 131 Fragen wurde wahrheitsgetreue Antwort verlangt, Auslassung und Unvollständigkeit waren als Delikt gegen die Militärregierung mit Strafe bedroht. Das Kernstück des sechsseitigen Fragebogens bildeten die Positionen 41 bis 95, bei denen detaillierte Auskunft über die Mitgliedschaft in allen nationalsozialistischen Organisationen gefordert war. Anfang Dezember 1945 waren bei den Dienststellen der amerikanischen Militärregierung ungefähr 90 0000 Fragebogen eingegangen. 140 000 Personen wurden sofort aus ihren Positionen entlassen. Fast ebenso viele wurden als minder gefährliche Nazi-Sympathisanten eingestuft.

Die Durchführung der Entnazifizierung lag in der US-Zone bis zum Frühjahr 1946 in der Zuständigkeit der Militärregierung. Zunächst beschränkte sich die Säuberung freilich darauf, die Fragebogen zu überprüfen. Die am höchsten belasteten Nationalsozialisten fielen in die Kategorie "Automatischer Arrest", dann kamen die NS-Aktivisten, die aus ihren Stellungen entlassen werden mussten, nach ihnen die harmloseren Fälle, deren "Entlassung empfohlen" wurde, und schließlich die Mitläufer, die ihre Stellungen behalten durften.

Die ständige Erweiterung des Säuberungsprogramms über die eigentlichen Führungspositionen hinaus schuf beträchtliche Probleme: Einerseits entstand Personalmangel in der Verwaltung wegen der zahlreichen Entlassungen - im Frühjahr 1946 waren es 300 000 -, auf der anderen Seite bedeutete die Einrichtung von Internierungslagern, in denen rund 120 000 Personen der Kategorie "automatischer Arrest" inhaftiert waren, eine Belastung für den Demokratisierungsanspruch der amerikanischen Besatzungsmacht. Die in den elf Lagern der US-Zone auf ihre Entnazifizierung Wartenden sahen kaum den Zweck ihrer Festsetzung ein, und die ebenso schleppende wie unsystematische Prozedur ihrer Überprüfung ließ für die Betroffenen auch keinen rechten Sinn erkennen. Denn nach der Aussonderung der Inhaber hoher Ränge in der NS-Hierarchie und der mutmaßlichen Straftäter blieben die mittleren Ränge der SS und der SA, die mittleren Funktionäre der NSDAP, die Apparatschiks vom Ortsgruppen- Amtsleiter bis zum Gau-Amtsleiter übrig, und die brauchten sich kaum schuldiger zu fühlen als die meisten anderen, denen bis zu drei Jahre Internierungslager erspart blieben.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 452

Entnazifizierung

Aus einem Brief von Walter Dorn (1894 -1961, US-Historiker und Berater der US-Militärregierung in Deutschland 1945 -1949 - Anm. d. Red.) an General Clay über den Mißerfolg der Entnazifizierung, 11. Mai 1949

1. Wenn die Entnazifizierung in ganz Deutschland wirksam werden sollte, hätte sie in allen vier Zonen einheitlich durchgeführt werden müssen. Als diese Einheitlichkeit unwiederbringlich verloren war, büßte die Entnazifizierung viel von ihrer Bedeutung bei der deutschen Bevölkerung ein. Es genügte ja nicht, ein früheres Parteimitglied in der einen Zone als Belasteten zu verurteilen, wenn es in einer anderen ein hohes öffentliches Amt bekleiden konnte. [...]

2. Zu keiner Zeit hat sich beweisen lassen, daß die Entnazifizierung das Haupt- oder überhaupt ein ernsthaftes Hindernis wirtschaftlichen Wiederaufschwungs war, wie das so viele amerikanische Businessmen und leider auch einige Mitglieder Ihres Stabes glaubten. [...] Als General Patton auf Befehl General Eisenhowers am 29. 9. 1945 die führenden 17 aktiven Nazis im Bayerischen Landwirtschaftsministerium entließ, arbeitete dieses wirksamer als zuvor, was anhand der Erfassung der landwirtschaftlichen Produktion bewiesen werden kann. [...]

3. Das Befreiungsgesetz war, trotz seiner Vorzüge und des erhabenen Idealismus, der auf amerikanischer wie auf deutscher Seite hinter ihm stand, keine ganz befriedigende Regelung. Es führte als neues Konzept den Strafgedanken in das Entnazifizierungsverfahren ein. Deshalb war es ein Fehler, die Kontrollratsdirektive Nr. 24, die der Entlassung und Disqualifizierung [für die Bekleidung öffentlicher Ämter] dienen sollte, zum integrierenden Bestandteil des Gesetzes zu machen. [...] Diese Kritikpunkte, die sich aus der Erfahrung derjenigen ergaben, die das Gesetz durchführen sollten, wurden in der Folge bei den Änderungen des Befreiungsgesetzes berücksichtigt, die im Herbst 1947 und Frühjahr 1948 vorgenommen wurden. Zwar wurde das Gesetz durch die Änderungen für die Deutschen eher annehmbar, zugleich aber auch stumpf.

[...] Meines Erachtens gibt es [heute] allgemeine Übereinstimmung darüber, daß wir mehr Erfolg gehabt hätten, wenn die Militärregierung willkürlich die Zahl von 100 000 [der schwersten Fälle] bestimmt, das Beweismaterial gegen diese zusammengetragen und den Deutschen zur Aburteilung vorgelegt hätte.

Klaus-Jörg Ruhl (Hg.), Neubeginn und Restauration. Dokumente zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945 -1949, München 1982, S. 290 ff.

Kurswechsel

Im Frühjahr 1946 wurde für die Länder der US-Zone ein "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" verabschiedet. Es bildete fortan die Rechtsgrundlage der Säuberung, die damit in deutsche Hände gelegt war. Das Befreiungsgesetz war formal in den Rahmen der Kontrollratsdirektiven eingepasst und suchte den Kompromiss zwischen dem Diskriminierungs- und Strafgedanken und der als notwendig empfundenen Rehabilitierung; wie in den anderen Zonen setzte sich die Idee der Rehabilitierung dann nachhaltiger durch. Infolge des größeren Rigorismus, mit dem in der US-Zone das Problem anfänglich in Angriff genommen worden war, erschien die zunehmend betriebene Umwidmung von Schuldigen in Unschuldige - die Entlastung ursprünglich schwer Beschuldigter zu " Mitläufern" - als eklatanter Fehlschlag des ganzen Unternehmens.

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die sich in der amerikanischen Zone im Laufe der Entnazifizierung ergab, war allerdings gewaltig. Dreizehn Millionen Menschen vom vollendeten 18. Lebensjahr an hatten ihre Fragebogen ausgefüllt, knapp ein Drittel der Bevölkerung war vom Befreiungsgesetz betroffen. Etwa zehn Prozent wurden dann schließlich verurteilt. Und tatsächliche

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 453

Strafen oder Nachteile von Dauer erlitt weniger als ein Prozent der zu Entnazifizierenden überhaupt. Die Prozedur der Entnazifizierung in der amerikanischen Zone, die mit einer gewissen Zeitverzögerung auch in den beiden anderen Westzonen angewendet wurde, erfolgte vor Spruchkammern.

Die Spruchkammern, deren es insgesamt über 545 in der US-Zone gab, waren Laiengerichte mit öffentlichen Klägern. Oberste deutsche Instanz waren die Befreiungsministerien der Länder Bayern, Württemberg-Baden, Hessen und Bremen, beaufsichtigt wurde die Entnazifizierung von der amerikanischen Militärregierung. Jeder Fall war individuell zu würdigen. Ein bisschen Entlastung brachte die Jugendamnestie vom August 1946, die ab Jahrgang 1919 galt, und die Weihnachtsamnestie von 1946, die Kriegsbeschädigte und sozial Schwache begünstigte. Für die Spruchkammern blieben 930 000 Einzelfälle übrig.

Der Elan, die Reste des Nationalsozialismus zu beseitigen, die politische Säuberung zu vollziehen, war spätestens ab Frühjahr 1948 verschwunden. Die Besatzungsmacht lockerte die Kontrollen, und um die Sache abzuschließen, wurden sogar Schnellverfahren eingerichtet. Im Zeichen des Kalten Krieges hatte sich der Straf- und Diskriminierungsgedanke verflüchtigt. Und davon profitierten nicht wenige Belastete, die glimpflicher davonkamen als die minder schweren Fälle, die zu Beginn der Entnazifizierung behandelt worden waren. Ein anderer Vorwurf richtete sich gegen das grassierende Denunziantentum und gegen Korruption, Scheinheiligkeit und die Jagd nach "Persilscheinen" (das waren Bestätigungen von Unbelasteten, mit denen ehemalige NSDAP-Mitglieder ihre Harmlosigkeit dokumentieren wollten). Schließlich war die Spruchkammer als Instanz zur Gesinnungsprüfung - vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus gesehen - ein zweifelhaftes Instrument.

General Clay, der amerikanische Militärgouverneur, der einer der Protagonisten des Säuberungsgedankens gewesen war, begründete im Rückblick den Abbruch der Unternehmung mit einem Argument, das nicht weniger einleuchtend war als der Gedanke der politischen Säuberung: " Hätten die nominellen Parteimitglieder nicht ihre vollen bürgerlichen Rechte und die Möglichkeit zurückerhalten, wieder ein normales Leben zu führen, dann hätte sich bestimmt früher oder später ein ernsthafter politischer Unruheherd entwickelt."

Re-education

Die Alliierten hielten die Herstellung eines demokratischen Systems, auch wenn sie diesen Begriff höchst unterschiedlich interpretierten und sehr verschiedene Methoden anwendeten, übereinstimmend für ein grundlegendes Kriegsziel und einen wichtigen Besatzungszweck gegenüber Deutschland. Dazu war es zunächst nötig, die Deutschen mit demokratischen Verhaltensweisen bekanntzumachen, sie zu Demokraten zu erziehen. Der Begriff "Umerziehung", mit dem der englische Ausdruck re-education (man sagte auch re-orientation) umschrieben wurde, war freilich sehr unglücklich und löste auf deutscher Seite heftige Abwehr aus. Nicht nur schien materieller Wiederaufbau vielen dringlicher als die Demokratisierung des Bildungswesens, der Presse, des Rundfunks, des ganzen öffentlichen Lebens, sie wehrten sich auch dagegen, auf kulturellem Gebiet Lehren von Amerikanern und Sowjetoffizieren, Franzosen und Briten anzunehmen. Die militärische und moralische Niederlage war vielen Deutschen schmerzlich genug, sie wollten jetzt nicht auch noch belehrt und erzogen werden.

Nach der Besetzung waren alle Schulen in Deutschland geschlossen worden. Vor der Wiederaufnahme des Unterrichts sollten die Lehrer (sowie Lehrpläne und Lehrmittel) entnazifiziert werden. Angesichts der Mitgliedschaft der überwiegenden Mehrheit aller Lehrer in der NSDAP oder deren Gliederungen war dies nicht nur ein organisatorisches Problem, die konsequente Durchführung eines umfassenden Entnazifizierungsprogramms hätte auch auf lange Zeit jeden Schulbetrieb in Deutschland verhindert. Gegen alle Bedenken und trotz mangelhafter Vorbereitung wurden daher in allen Zonen im Laufe des Herbstes 1945 die Schulen wieder eröffnet, hauptsächlich, um die Kinder und Jugendlichen von der Straße zu bringen. Wegen des Lehrermangels holte man Pensionäre in die Schulen zurück und stellte " Schulhelfer" ein (zum Beispiel Studenten), die in den unbeheizten Schulhäusern beim Schichtunterricht

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 454 mithalfen. An Reformen war zunächst in dieser Situation nicht zu denken.

Wiederaufnahme des Lehrbetriebs in Bayern

[...] Auf dem Gebiete des Schulwesens kam zu der Zerstörung und der zweckfremden Belegung der Schulgebäude der äußerst große Ausfall an Lehrkräften, und das in einem Augenblick, wo die durch zwölf Jahre mißleitete Jugend dringendst der hingebenden Betreuung bedurfte.

Von 18 000 Volksschullehrkräften mußten 10 000 entlassen werden. Mit großer Mühe ist es gelungen, durch Verwendung von Ersatzlehrkräften aller Art den Stand wieder auf rund 14 000 zu bringen. Von den 1,2 Millionen Volksschülern haben immer noch drei Viertel nur verkürzten Unterricht. Die Ausbildung des Lehrernachwuchses ist in gutem Zuge. Die Lehrerbildungsanstalten wurden neu organisiert, neben ihnen bilden Sonderkurse noch Abiturienten und Schulhelfer aus. Im Unterricht wirkt äußerst hemmend der Mangel an Büchern und Schreibmaterial. Mit dem Lesebuch für die 2. Klasse hat das bayerische Unterrichtsministerium das bisher einzige neue Schulbuch in der US-Zone herausgebracht, weitere werden in Kürze folgen. Der vom nationalsozialistischen Staat verdrängte Religionsunterricht wurde wieder eingeführt, vom Nationalsozialismus verfolgte Lehrkräfte wurden wieder in ihre Ämter eingesetzt.

Die höheren Schulen haben unter ähnlichen Schwierigkeiten zu leiden wie die Volksschulen. Es ist jedoch gelungen, bis zum Mai 1946 alle Oberschulen für Knaben und fast alle für Mädchen wieder in Betrieb zu setzen; das von der Naziregierung zurückgedrängte humanistische Gymnasium wurde wieder in seinen Stand eingesetzt. Den aus dem Krieg Heimgekehrten wurde vielfach Gelegenheit zum Abschluß ihrer Schulbildung gegeben. [...]

Die Universitäten und sonstigen Hochschulen waren das besondere Sorgenkind der Unterrichtsverwaltung. Hier ist der Maßstab der politischen Säuberung besonders streng, eine sehr hohe Zahl von Professoren und Dozenten mußte daher ausscheiden. Ihr Ersatz ist äußerst schwer, da vielfach der Nachwuchs in den einschlägigen Fächern fehlt und von den Geeigneten nach dem erwähnten Säuberungsmaßstab viele nicht oder nicht sicher in Frage kommen.

[...] Stark vermehrt werden die Schwierigkeiten durch den außerordentlich hohen Andrang der Studierenden. Anzuerkennen ist, daß die Studierenden sich allenthalben mit größter Hingabe dem Studium widmen und nichts sehnlicher wünschen, als in Ruhe sich auf ihren künftigen Beruf vorbereiten zu dürfen. [...]

Klaus-Jörg Ruhl (Hg.), Neubeginn und Restauration, München 1982, S. 311 ff.

Schulreformen

Der Alliierte Kontrollrat stellte erst knapp zwei Jahre später Grundsätze zur Demokratisierung des deutschen Erziehungssystems auf. Die Direktive vom Juni 1947 enthielt zur Strukturreform des Bildungswesens aber nur vage Andeutungen und allgemeine Wendungen. So wurde ein "umfassendes Schulsystem" gefordert, in dem die "Begriffe Grundschule und Höhere Schule zwei aufeinanderfolgende Stufen der Ausbildung darstellen" sollten, aber nicht "zwei Grundformen oder Arten der Ausbildung" in Überschneidung. Gemeint war die sechsklassige Grundschule für alle. Tatsächlich waren in allen vier Zonen Reformen in Gang gekommen, die sich freilich in ihren Inhalten beträchtlich unterschieden.

In der sowjetischen Besatzungszone war ab Frühjahr 1946 das "Gesetz zur Demokratisierung der Deutschen Schule" in Kraft, das als Einheitsschule die achtklassige Grundschule mit anschließender vierstufiger Oberschule oder dreistufiger Berufsschule einführte. Etwa 40 000 Neulehrer (sie mussten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 455

Antifaschisten sein und sollten der Arbeiterklasse angehören) wurden in Schnellkursen von zunächst nur drei Monaten, später acht und ab 1947 zwölf Monaten Dauer ausgebildet. Ziel der Bildungsreform in der SBZ war der Abbau bürgerlicher Privilegien im Bildungswesen: Die Kinder aus der Arbeiter- und Bauernschaft sollten besonders gefördert werden.

Ganz anders sah es in der französischen Zone aus. Dort wurde dasbildungspolitisch radikalste und innovativste Besatzungsregime geführt. Die Militärregierung versuchte bis 1949, das französische Schulsystem zu etablieren. Es vereinigte liberalen Geist mit elitärer Zielsetzung, diente der sozialen Auslese und Elitenbildung. Die von der französischen Militärregierung oktroyierte Schulreform war jedoch in der Form einschneidender als im Inhalt. Am 1. Oktober 1946 erging der Befehl zur Vereinigung der verschiedenen Typen höherer Schulen. Neu war vor allem, dass die ersten drei Klassen des Gymnasiums - so hießen von nun an alle höheren Lehranstalten - eine Art Förderstufe darstellten, die auch Volksschülern noch den späteren Eintritt ermöglichen sollten. Französisch erhielt vor allen anderen Fremdsprachen den Vorrang, das humanistische Gymnasium wurde zwar nicht beseitigt, es sollte aber künftig nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Schließlich wurden auch alle Formen besonderer Mädchenbildung abgeschafft.

In der britischen und in der amerikanischen Besatzungszone verfuhren die Militärregierungen nach der Maxime, Schulreformen müssten von den Deutschen selbst entwickelt und durchgeführt werden. Während die Engländer diesen Grundsatz bis zum Ende des Besatzungsregimes aufrechterhielten, entschlossen sich die Amerikaner im Herbst 1946 aber doch dazu, stärkeren Einfluss zu nehmen. Die deutschen Bestrebungen zur Reform des Schulwesens waren nämlich bis dahin sehr verhalten geblieben.

Die Amerikaner propagierten das Modell einer Einheitsschule, in der alle Kinder ohne Unterschied des Geschlechts, der sozialen Herkunft und der Berufsziele die ersten sechs Jahre gemeinsam verbringen sollten, um Gemeinschaftsgefühl und demokratisches Verhalten zu entwickeln. Die höheren Schulen sollten vereinheitlicht, notwendige Differenzierungen nicht durch getrennte Schularten erzielt werden. Kernstück des amerikanischen Reformkatalogs war die Gesamtschule für alle Schulpflichtigen, außerdem wünschten die Amerikaner Schulgeldfreiheit, Lernmittelfreiheit, die Schulpflicht bis zum 15. Lebensjahr, die volle Integration von Berufsausbildung und Berufsberatung in das allgemeine Schulsystem und die Ausbildung der Lehrer an Universitäten. Diese Ziele sollten von den Bildungsoffizieren auf Länderebene propagiert, aber nicht oktroyiert werden. 1948 war es, wie sich auf vielen anderen Gebieten zeigte, für die Durchsetzung alliierter politischer Vorstellungen schon zu spät, und es wurdezunehmend beschlossene Sache, dass die Militärregierung nicht mehr auf die vollständige Erfüllung ihrer Anordnungen dringen würde.

Kulturpolitik

Die Bildungspolitik war im Rahmen der Demokratisierungsbemühungen ein Wechsel auf die Zukunft; es bestand aber zugleich die Notwendigkeit, möglichst sofort und unmittelbar auf die Erwachsenen in Deutschland einzuwirken. Das geschah auf vielfältige Weise, durch kulturelle Angebote, durch Unterhaltung und mit Hilfe von Informationen in einer neu gestalteten Medienlandschaft. Spielfilme und Dokumentarfilme aus alliierter Produktion und vor allem Wochenschauen dienten in den Kinos aller vier Besatzungszonen pädagogischen Absichten. Die Wiederbelebung der kulturellen Szene war den Alliierten aus mehreren Gründen wichtig: Propaganda für die eigene Kultur, Erziehung der Deutschen zur Demokratie und, zur Pazifizierung der Bevölkerung, auch ein bisschen Unterhaltung.

Kulturbund

Im Juli 1945 wurde in Berlin der "Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" gegründet. Die Gründungsversammlung hatte im Haus des Schriftstellers Johannes R. Becher stattgefunden, der kurz zuvor aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt war. Im August konstituierte sich dann der Kulturbund als Organisation mit Becher an der Spitze. Vizepräsidenten wurden der Maler Carl Hofer und der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 456

Schriftsteller Bernhard Kellermann, Ehrenpräsident war Gerhart Hauptmann. An vielen Orten, nicht nur in der sowjetisch besetzten Zone, fanden sich im Sommer und Herbst 1945 Intellektuelle unterschiedlichen politischen Standorts zu Ortsgruppen des Kulturbundes zusammen.

Obwohl die marxistisch orientierten Mitglieder den Ton angaben und obwohl die SMAD ein wachsames Auge auf den Kulturbund hatte, war er zunächst noch kein Werkzeug kommunistischer Propaganda, sondern der wohl früheste Versuch geistigen Neubeginns in Deutschland.

Den Frontbildungen des Kalten Kriegs fiel auch der Kulturbund allmählich zum Opfer, aber die Anfänge waren verheißungsvoll gewesen, und aus heutiger Sicht bot er erstaunlich lange auch Nichtmarxisten eine geistige Heimat. In der Zeitschrift des Kulturbundes mit dem Titel "Aufbau", die unter sowjetischer Lizenz Ende September 1945 erstmals erschien, wurde das Verlangen nach einer demokratischen " Reformation" in Deutschland artikuliert. Die Absicht, die "antifaschistische Reformation" auf überparteilichem Weg zu erreichen, wurde durch den Personenkreis der Herausgeber und ständigen Mitarbeiter der ersten Hefte demonstriert: Neben Heinrich Mann, Theodor Plivier, Georg Lukács, Willi Bredel waren auch Ferdinand Friedensburg und Ernst Wiechert genannt.

Aufsätze von Hans Fallada wie von Thomas Mann wurden gedruckt, und der CDU-Politiker Ernst Lemmer firmierte noch im 4. Jahrgang der Zeitschrift als Mitglied des Redaktionskollegiums.

Belletristik in der US-Zone

Der "Aufbau" war die erste politisch-kulturelle Zeitschrift, die Deutsche für Deutsche herausgaben. Bald folgten in allen Zonen Neugründungen von politisch-kulturellen,schöngeistig-literarischen, philosophischen, religiösen und sonstigen Kulturzeitschriften. In der Demokratisierungspolitik der Alliierten spielte auch die Belletristik eine nicht geringe Rolle. Am meisten ließen sich die Amerikaner den Import von Romanen und Erzählungen, Lyrik und Theaterstücken eigener Provenienz ins literarisch verödete Deutschland kosten. Das galt nicht nur für die Einrichtung der "Amerikahäuser", die ab Juli 1945 weit über die zunächst beabsichtigte Kulturpropaganda hinausreichende Funktionen hatten: Sie waren mancherorts die einzigen benutzbaren öffentlichen Bibliotheken und Lesesäle überhaupt.

Die US-Militärregierung förderte amerikanische Literatur dadurch, dass sie die Übersetzungsrechte in Amerika kaufte und sie deutschen Verlagen anbot. Die Titel, die auf den deutschen Markt kommen sollten, wurden im Hinblick auf ihre politische Eignung sorgfältig geprüft. Den deutschen Verlegern, die das Angebot annahmen, war die Militärregierung dann meist auch bei der Papierzuteilung - das war die ärgste Klippe für Veröffentlichungspläne in Nachkriegsdeutschland - behilflich.

Presse und Rundfunk

Das wichtigste und weiteste Feld für die alliierten Demokratisierungsbemühungen waren die Massenmedien. In drei Schritten (wobei der zweite aber schon nahezu gleichzeitig mit dem dritten getan wurde) sollten Presse und Rundfunk in Deutschland zunächst verboten, durch alliierte Sprachrohre ersetzt und dann in neuen Strukturen - pluralistisch und demokratisch - völlig neu aufgebaut werden. Das Gesetz Nr. 191 vom 24. November 1944, das General Eisenhower als Oberbefehlshaber aller westlichen Armeen für die von den Alliierten besetzten bzw. noch zu besetzenden deutschen Gebiete erließ, untersagte unter anderem das "Drucken, Erzeugen, Veröffentlichen, Vertreiben, Verkaufen und gewerbliche Verleihen von Zeitungen, Magazinen, Zeitschriften, Büchern, Broschüren, Plakaten, Musikalien und sonstigen gedruckten oder (mechanisch) vervielfältigten Veröffentlichungen, von Schallplatten, sonstigen Tonaufnahmen und Lichtspielfilmen jeder Art; ferner die Tätigkeit oder den Betrieb jedes Nachrichtendienstes und Bilddienstes oder von Agenturen, von Rundfunkstationen und Rundfunkeinrichtungen, von Drahtfunksendern und Niederfrequenzübertragungsanlagen; auch die Tätigkeit in oder den Betrieb von Theatern, Lichtspieltheatern, Opernhäusern, Filmateliers, Filmlaboratorien, Filmverleihanstalten, Jahrmärkten, Zirkusunternehmungen und Karnevalsveranstaltungen jeder Art." Beabsichtigt war mit diesem

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 457

Totalverbot aller öffentlichen Kommunikation eine Art von Quarantäne, in der lediglich alliierte Mitteilungsblätter, die "Heeresgruppenzeitungen" (so genannt, weil sie von bestimmten Einheiten der alliierten Armeen herausgegeben wurden), der deutschen Bevölkerung die notwendigsten Informationen für den Besatzungsalltag vermittelten.

Im publizistischen Vakuum der ersten Besatzungszeit nahmen die Alliierten auch die deutschen Rundfunkstationen unter ihre Regie. Fast nahtlos war zum Beispiel der Übergang in Hamburg: 24 Stunden nachdem der Reichssender Hamburg am 3. Mai 1945 sein letztes Programm ausgestrahlt hatte, meldete sich "Radio Hamburg" als Station der Militärregierung, von britischen Radiooffizieren und Technikern bedient, zu Wort.

Die Heeresgruppenblätter und die Rundfunksendungen unter alliierter Regie leiteten die zweite Phase alliierter Medienpolitik ein, in der das Informationsmonopol bei den Besatzungsmächten lag. Der dritte Schritt war dann die Lizenzierungsphase: Sorgfältig ausgewählte und überprüfte deutsche Journalisten und Verleger durften unter alliierter Kontrolle, also unter Zensur, deutsche Zeitungen machen und in Funkhäusern tätig werden. Die neuen Zeitungen sollten im Idealfall das vollkommene Gegenteil der gleichgeschalteten NS-Presse sein, nämlich objektive Berichterstattung im Nachrichtenteil und, säuberlich davon getrennt, Meinungsvielfalt auf den Kommentarseiten bieten. Das Prinzip der Trennung von Nachricht und Meinung war vor allem den beiden angelsächsischen Besatzungsmächten heilig. Der deutschen Pressetradition war dieser Grundsatz fremd. Amerikaner und Briten betrachteten ihn jedoch als entscheidend für die Herstellung demokratischer Zustände in der öffentlichen Kommunikation.

Erste deutsche Zeitungen

Die Amerikaner gaben in den Westzonen bei der Lizenzierungspolitik die Richtung an, und sie machten auch den Anfang. Mitte 1946 existierten bereits 35 neue Zeitungen in der amerikanischen Zone. Ab Herbst 1945 erteilten die Franzosen insgesamt (bis 1949) in 33 Fällen die Erlaubnis zur Gründung einer Zeitung in ihrer Zone. Die Briten begannen am spätesten, Anfang 1946; in ihrer Zone gab es, wie in der amerikanischen, zuletzt 61 Lizenzzeitungen. In der US-Zone, wo sich auch die publizistisch bedeutendsten Blätter befanden - die "Süddeutsche Zeitung" in München errang schnell den Spitzenplatz, die "Stuttgarter Zeitung" und die "Stuttgarter Nachrichten" gewannen ebenso wie die " Nürnberger Nachrichten" und die "Frankfurter Rundschau" Renommee -, wurden Lizenzen am liebsten gemeinsam an drei oder vier Personen mit verschiedenen politischen Standorten vergeben. Ab 1947 begann die Entfernung der Kommunisten aus den Herausgebergremien; so beliebt KPD-Lizenznehmer am Anfang bei den US-Presseoffizieren als Pendant zu bürgerlichen und sozialdemokratischen Lizenziaten waren, so unerwünschtwurden sie im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges.

Auf der Suche nach "Lizenzträgern"

Ernst Langendorf, geboren 1908, war Reporter bei der SPD-Zeitung "Hamburger Echo" ... bis zu deren Verbot durch die Nationalsozialisten. Schon im April 1933 emigrierte Ernst Langendorf. [...] 1942 trat er in die US-Armee ein, was ihm den Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft ermöglichte. [...] Mit dem Vormarsch der amerikanischen Truppen kam Ernst Langendorf im Frühjahr 1945 nach Bayern.

[...] Anfang Juni 1945 kam ich zu meiner neuen Einheit nach München. Aufgrund des Militärregierungsgesetzes Nr.191 war es verboten, irgendwelche Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher zu drucken, Filme zu produzieren oder Radiosendungen zu veranstalten, wenn sie von der Militärregierung nicht ausdrücklich genehmigt, das hieß "lizenziert", waren. Die Lizenzierung war Aufgabe der verschiedenen Abteilungen unserer Einheit. [...]

Radio , wie es damals hieß, war ein Sender der Militärregierung und wurde von Amerikanern geleitet. Auf unsere Veranlassung brachte der Sender eine Meldung, die besagte, daß alle Personen,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 458 die an der Herausgabe von Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern interessiert seien, sich an unser Büro in der Renatastraße wenden sollten. Da bildeten sich bald lange Schlangen von Interessenten, [...] Aber nur wenige genügten unseren Anforderungen. Wer Mitglied einer der Gliederungen der NSDAP gewesen war oder in einer Zeitung oder Zeitschrift während der Nazizeit gearbeitet hatte oder sonstwie belastet war, schied von vornherein aus. [...] Natürlich waren uns auch berufliche und praktische Erfahrung im Zeitungswesen wichtig. Der Personenkreis, der für die engere Wahl in Frage kam, war außerordentlich klein, und wir mußten lange suchen. [...]

Am Beispiel der "Süddeutschen Zeitung", die die erste Lizenz bekam, will ich erzählen, auf welch verschlungenen Pfaden wir oft die Lizenzträger fanden. [...]

Zufällig fiel bei einem Gespräch in Garmisch, bei dem es eigentlich um eine illegale Zeitungsgründung ging, der Name Hausenstein. [...] Hausenstein war Feuilletonmitarbeiter der renommierten "Frankfurter Zeitung", [...] Ich fragte sofort, wo der stecke. In Tutzing am Starnberger See, erfuhr ich. Sogar die Straße wurde uns angegeben. [...] Abends um zehn Uhr kamen wir bei Hausenstein an. Wir fragten ihn, ob er Lust habe, in München Verleger einer neu zu gründenden Zeitung zu werden. Er fühlte sich sehr geehrt, lehnte aber ab, weil er gesundheitlich nicht auf der Höhe sei. [...] Aber er empfahl uns Dr. Franz Josef Schöningh, den ehemaligen Schriftleiter der Kultur-Zeitschrift "Hochland", die 1941 von den Nazis endgültig verboten worden war. Der lebte in einer Jagdhütte am Starnberger See. Eine Woche später trafen wir ihn in Hausensteins Haus zu einer Vorbesprechung und kamen mit ihm ins Geschäft.

Eines Tages hörten wir, dass aus dem Exil nach München zurückgekehrt sei. [...] Dort haben wir ihn aufgesucht und gefragt, ob er interessiert wäre, Verleger einer neuen Zeitung zu werden. "Ach nein", antwortete er. "[...] Aber ich kann Ihnen jemand empfehlen, den Herrn Goldschagg." Edmund Goldschagg war bis 1933 Politischer Redakteur der sozialdemokratischen " Münchner Post" gewesen. Hoegner hatte während seines Exils mit ihm korrespondiert und konnte uns Goldschaggs letzte Adresse in Freiburg geben.

Am nächsten Tag fuhren wir nach Freiburg. Die Straße, die uns Hoegner angegeben hatte, existierte überhaupt nicht mehr. So sind wir also eine Stunde durch Freiburg geirrt. [...] Und wieder ein Zufall! Wir treffen den Chef des Einwohnermeldeamtes auf der Straße. "Ja", sagt der, "der Goldschagg sitzt in der Verteilungsstelle für Lebensmittelmarken beim Landratsamt. Wenn ich darf, führe ich Sie hin."

Wir trafen Edmund Goldschagg in einem kleinen, dunklen Nebenzimmer mit einem großen Haufen grüner Lebensmittelkarten vor sich. Wir stellten uns vor. "Wir möchten mal mit Ihnen reden wegen einer Zeitung in München." Er war sehr zögernd. [...]

Vier Wochen später war ich wieder bei ihm. Und er sagte zu. [...]

Im Juli 1945 gab es die erste Zusammenkunft des zukünftigen Verlags- und Redaktionsstabes. [...]

Aber bevor es ans Drucken der Zeitungen gehen konnte, mußten noch ungeheure Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden. Das vorgesehene Verlagsgebäude [...] war so gut wie vollkommen zerstört. Große Mengen von Schutt mußten beiseite geschafft werden, um die Büros überhaupt wieder verwenden zu können. Nach der Überreichung der Lizenz Nr.1 an die drei Lizenzträger Goldschagg, Schöningh und Schwingenstein und einem Festakt im Hof des Verlagsgebäudes konnte Oberst Mac Mahon, der Chef der Information Control Division bei der amerikanischen Militärregierung, die Rotationsmaschine in Betrieb setzen.

Die erste Nummer der "Süddeutschen Zeitung" erschien am 6.Oktober 1945 in einer Auflage von 357000 Stück. Das war für damalige Verhältnisse sehr viel. Wir haben dann sogar noch auf 410000 erhöht. Aber das Papier war knapp. Am Anfang erschien die "Süddeutsche" nur zweimal pro Woche mit ursprünglich vier, später sechs Seiten. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 459

Alexander von Plato/Almut Leh (Hg.), "Ein unglaublicher Frühling". Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945-1948, Bonn 1997, S.320ff.

In der sowjetischen Besatzungszone hatte auch der Neubeginn im Pressewesen andere Züge als in den Westzonen. Die SMAD vergab im Sommer 1945 die Lizenzen zur Herausgabe von Tageszeitungen an die Parteien und Massenorganisationen. Die KPD, ab April 1946 die SED, wurde bevorzugt; SPD, CDU und LDP erhielten die Erlaubnis, jeweils ein zentrales Organ und außerdem in jedem der fünf Länder der SBZ eine weitere Tageszeitung zu publizieren. Über die Papierzuteilung wurde für die Dominanz der KPD bzw. SED gesorgt.

Die Papierknappheit war auch im Westen das größte Problem der neuen Publizistik. Bis zur Währungsreform erschienen die Tageszeitungen in der Regel nur zweimal wöchentlich in dünnen Ausgaben. Die alliierte Zensur, nicht zu vergleichen mit der nationalsozialistischen Uniformierung der öffentlichen Meinung durch Gleichschaltung und Sprachregelung, war milde genug und beschränkte sich im Wesentlichen darauf, militärische und nationalistische Töne sowie Kritik an den Besatzungsmächten zu verhindern. Eine Kontrollratsdirektive bestätigte im Oktober 1946 diese Praxis, wie sie seit Sommer 1945 auf zonaler Ebene gehandhabt wurde.

Alliierte Zeitungen in Deutschland

Neben der Lizenzpresse, die, von den Presseoffizieren betreut, als Übungsfeld deutscher demokratischer Publizistik betrachtet wurde, gaben die Alliierten auch eigene Blätter heraus. Die SMAD startete Mitte Mai 1945 in Berlin die "Tägliche Rundschau" die Amerikaner publizierten seit Mitte Oktober "Die Neue Zeitung", in der britischen Zone erschien in Hamburg ab Anfang April 1946 "Die Welt" als "überparteiliche Zeitung für die gesamte britische Zone", und auch im französischen Besatzungsgebiet gab es ein Organ der Militärregierung, die zweisprachige Zeitung "Nouvelle de ".

Am attraktivsten, auch weit über die Grenzen der US-Zone hinaus, war "Die Neue Zeitung". Bis zum Sommer 1948 konnte sie, trotz einer Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren in ihrer Blütezeit, die Nachfrage nicht befriedigen; es gab Wartelisten für potenzielle Abonnenten.

Die Massenmedien - Lizenzpresse und Rundfunkstationen ebenso wie die 1946 auf zonaler Ebene gegründeten Nachrichtendienste - sollten in deutsche Verantwortung übergehen, nachdem sie ihre Bewährungsprobe bestanden und nachdem die deutschen Politiker demokratische Presse- und Rundfunkgesetze geschaffen haben würden. Wie schwierig es jedoch mitunter war, dem Geist der Demokratisierungsära zu folgen, bewiesen die Politiker der US-Zone Ende 1946 mit dem Entwurf eines Pressegesetzes, das von der Militärregierung zurückgewiesen wurde. Das Gesetz entsprach nicht den amerikanischen Vorstellungen von Pressefreiheit, weil es unter anderem den Zugang zu amtlichen Informationen vom Wohlverhalten der Presse abhängig machen wollte und polizeiliche Durchsuchungen von Redaktionen für notwendig hielt, wenn Verdacht auf politisch unerwünschte Berichterstattung bestand. General Clay konstatierte später, dass sich das deutsche Unvermögen, " demokratische Freiheit wirklich zu erfassen",vor allem auf zwei Gebieten am deutlichsten gezeigt habe, bei der Schulreform und der Pressegesetzgebung.

Öffentlichrechtliches Radiosystem

Nach der Intention der Westmächte sollte der künftige Rundfunk in Deutschland weder staatlich betrieben oder dominiert noch den Händen privater Interessenten ausgeliefert sein. Durch alliierten Machtspruch wurden daher die Rechte der Post und die Gelüste der Politiker nach Einfluss auf den Rundfunk beschnitten. Beim Aufbau eines öffentlichrechtlichen Rundfunksystems nahmen die Briten die Vorreiterrolle ein. Nach dem Vorbild der British Broadcasting Cooperation (BBC) und von einem prominenten britischen Rundfunkmann, Hugh Carleton Greene, dirigiert, wurde zum 1. Januar 1948

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 460 der "Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR)" in Hamburg und Köln als erste Anstalt des neuen Typs errichtet.

In der US-Zone hatte die Militärregierung den Übergang der Funkhäuser in deutsche Hände von demokratischen Rundfunkgesetzen der Länder abhängig gemacht. Darüber wurde bis 1949 gestritten, als längst deutsche Intendanten, von amerikanischen Beratern und Überwachern flankiert, an der Arbeit waren. Immerhin hatten die drei westlichen Alliierten, als sie 1955 zusammen mit den Insignien politischer Souveränität auch die endgültige Rundfunkhoheit an die Bundesrepublik übergaben, eine Reform zustande gebracht und gegen deutsche Interessenten und Politiker durchgesetzt, die bis in die achtziger Jahre Bestand haben sollte: den Alleingeltungsanspruch des öffentlich kontrollierten, pluralistischen und dezentralisierten Rundfunks. Das gehört zu den Erfolgen der Demokratisierungspolitik, die allen damaligen deutschen Befürchtungen zum Trotz ganz überwiegend positiv ausfiel.

In der Ostzone begann der Rundfunkbetrieb am 13. Mai 1945 mit den Sendungen "Hier spricht Berlin! " aus dem "Haus des Rundfunks" in der Masurenallee, der ehemaligen nationalsozialistischen Sendezentrale. Daraus entwickelte sich unter Kontrolle der sowjetischen Militärregierung der Berliner Rundfunk, dem im Oktober 1945 in Leipzig der "Mitteldeutsche Rundfunk" folgte. Wenig später waren die Landessender Dresden und Schwerin und ab 1946 auch die Stationen in Weimar, Potsdam und Halle betriebsbereit. Politisch zuständig war - immer unter der Zensurhoheit der SMAD - die Abteilung für kulturelle Aufklärung der "Zentralverwaltung für Volksbildung". Unter dem "Generalintendanten des deutschen demokratischen Rundfunks" Hans Mahle, einem 1945 aus der Moskauer Emigration zurückgekehrten Kommunisten, waren alle Sender der sowjetischen Besatzungszone verwaltungsmäßig und ideologisch zentralisiert. Am 12. Oktober 1949 übergab die sowjetische Militäradministration ihre Kontrollbefugnis über den Hörfunk an die Regierung der neu gegründeten DDR.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 259) - Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung (http://www.bpb.de/izpb/10067/demokratisierung-durch-entnazifizierung-und- erziehung)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 461

Soviel Anfang war nie

Von Michael Bechtel 27.4.2005

ist freier Journalist.

Der Mai 1945 gilt als "Stunde Null" der deutschen Geschichte. Aber was genau hatte sich alles verändert? Wieso konnte, kann Deutschland danach nie wieder so sein wie zuvor? Und wofür steht das Jahr 1945 heute? Michael Bechtel über die Lehren und Verpflichtungen der Geschichte.

Eine neue Weltordnung

1945 ist Ende und Anfang zugleich. 1945 geschah nichts, was nicht lange vorbereitet war, wurde wenig beschlossen, was nicht längst entschieden war. Lawinen, die Deutschland losgetreten hat, endeten ihren zerstörerischen Lauf. Als der Kriegslärm verstummte und die Toten begraben waren, mischte sich auch in die Freude der Sieger die beklemmende Erkenntnis, daß die Welt kaum wiederzuerkennen war:

• Auschwitz zeigte, zu welchen Formen der Barbarei Menschen in der Lage sind.

• Hiroshima mahnte, daß die Menschheit sich durch Atombomben selbst umbringen kann.

• Stalin nutzte die Chance, die osteuropäischen Völker zu unterjochen und seine Herrschaft bis zur Elbe auszudehnen.

• Die Welt lebte fortan im Schatten der Konfrontation zweier politischer und ideologischer Lager, die bei Strafe des atomaren Holocaust keinen offenen Krieg mehr führen konnten.

• Deutschland sollte bis zum Auseinanderbrechen des sowjetischen Imperiums 45 Jahre lang geteilt sein.

• Die Westdeutschen konnten sich als Bündnispartner bald (relative) Gleichberechtigung und vielbeneideten Wohlstand erarbeiten.

1945 steht also für den Beginn einer Nachkriegsordnung, die bis zum Ende der 80er Jahre die Welt prägte. Sie ist heute schon Vergangenheit.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 462 Eine andere Gesellschaft

1945 steht in der Erinnerung der Menschen, die es durchlitten haben, für Tod in den Bombennächten, für Kriegsgefangenschaft, für das Leben in zerstörten Städten, für Hunger und Demütigung. Millionen verloren ihre Heimat. Vieles von dem Leid, das sie in die Welt gebracht hatten, war auf die Deutschen zurückgefallen.

Die Menschen erinnern sich an die große Erleichterung, daß der Krieg vorbei war, an die Freude überlebt zu haben. Sie ist vielfach überlagert von Ängsten. Viele konnten sich die Zeit nach der Niederlage nur als Katastrophe und Versklavung vorstellen – ganz in dem Sinne, wie sich die deutsche Besatzungsmacht anderswo aufgeführt hatte.

Die Menschen verdrängten: Wer noch im Oktober 1948 die Frage "Halten Sie den Nationalsozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde?" mit ja beantwortete, der hat sich 1945 sicher nicht befreit gefühlt. Das waren in den Westzonen 57 Prozent der Deutschen. Die meisten wollten von Krieg und von Ideologien, vielfach von Politik nichts mehr wissen, sondern sich möglichst ungestört eine neue wirtschaftliche Existenz schaffen. Dafür erwies sich die verordnete Demokratie als idealer Rahmen. Die Sieger haben es den Deutschen im Westen ermöglicht, sich allmählich in eine weltoffene, liberale und demokratische Ordnung einzuleben, sie nicht nur hinzunehmen, sondern anzunehmen.

• Ein Austausch von Eliten hat stattgefunden, politische und gesellschaftliche Spitzenpositionen wurden von Menschen neu besetzt, die überzeugte Anhänger demokratischer Regeln waren oder diese zumindest akzeptierten – auch wenn es Skandale um ehemalige Nazis in wichtigen Ämtern gab.

• Dem deutschen Militarismus war das Rückgrat gebrochen, das Leitbild des Soldatischen spielte für die Mehrheit der Deutschen keine Rolle mehr.

• Die Politik der Nazis, der Krieg und der Zusammenbruch haben die deutsche Gesellschaft von Grund auf verändert. Alte Bindungen wurden zerstört, Traditionen gebrochen. Die Bomben zerstören nicht nur Wohnviertel, sondern soziale Milieus, Nachbarschaften, Subkulturen; Wanderungsbewegungen ebneten landsmannschaftliche und religiöse Unterschiede und Gegensätze ein.

• Das alte Parteiensystem der Weimarer Republik wurde nicht restauriert.

• Auch die Arbeiterbewegung überwand, jedenfalls im Westen, weitgehend ihre Spaltung – nicht zuletzt dadurch, dass die Kommunisten an Einfluß verloren. Die Gewerkschaften entstanden als Einheitsgewerkschaften neu.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 463 Eine Verpflichtung für die Zukunft

1945 steht für ein Wendepunkt der deutschen Geschichte, für die Abwendung der Deutschen von weltverbesserischem Dünkel und Nationalsozialismus, für ihre Hinwendung zu freiheitlichem Leben und Denken. Nur so sind aus den Verlierern von damals am Ende Gewinner geworden. Mit dem Pathos, das uns heutigen schwerfällt, aber vielleicht dem Thema doch angemessen ist: 1945 ist das Geburtsjahr einer neuen, demokratischen deutschen Nation, die nicht mehr über andere herrschen will, die gelernt hat, zu leben und leben zu lassen.

Das ist alles andere als ein Schlußstrich unter die Vergangenheit. Aus ihr zu lernen heißt, die Irrtümer und Verfehlungen zu kennen, die in die Katastrophe geführt haben, heißt auch, um die Schuld der Vorfahren zu wissen. Die Kinder und Enkel müssen wissen, daß der 8. Mai 1945 das Datum ist, an dem seinen Anfang nahm, was für die Zukunft zu bewahren ist: ein Leben in Freiheit, Menschlichkeit, Toleranz und demokratischer Selbstbestimmung. Dazu gehört für die vereinten Deutschen die noch sehr neue Verpflichtung, für diese Werte in einer konfliktreichen Welt einzustehen.

Auszug aus: PZ-Extra (Nr. 81/1995) - Soviel Anfang war nie

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 464

Deutsche Teilung im Kalten Krieg

26.4.2005

Die Zukunft Deutschlands war in den ersten Nachkriegsjahren noch ungewiss. Die langwierigen Verhandlungen der Besatzungsmächte zeigten immer deutlicher den beginnenden Kalten Krieg zwischen den Supermächten USA und UdSSR. In der ehemaligen Hauptstadt Berlin spiegelte sich der Konflikt im Kleinen und spitzte sich zu. Ihre Teilung nach der sowjetischen Blockade 1948 war ein Vorbote der Gründung zweier deutscher Staaten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 465

Der Beginn der Bipolarität

Von Manfred Görtemaker 15.4.2005 Manfred Görtemaker, geboren 1951, ist Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt 19./20. Jahrhundert an der Universität Potsdam. Er ist Verfasser des Buchs "Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland".

Mit dem Ende der Naziherrschaft und der Besetzung und Aufteilung Deutschlands durch die Alliierten Streitkräfte verband sich zugleich das Entstehen einer bipolaren Welt. Die brüchige Allianz sich gegenüberstehender Ideologien hatte nur solange Bestand, wie es galt, einen gemeinsamen Feind zu bezwingen.

Einleitung

Der Ost-West-Konflikt war von 1945 bis 1990 das bestimmende Merkmal der Weltpolitik. Er war gekennzeichnet durch die machtpolitische Rivalität zwischen den USA und der UdSSR sowie dem weltanschaulichen Gegensatz von Kommunismus und westlicher Demokratie. Die Auseinandersetzung zwischen den gegensätzlichen Systemen nahm zunächst die Form eines "Kalten Krieges" an und eskalierte mehrfach bis an den Rand eines Atomkrieges. Nach der Erfahrung der Berlin- und Kuba- Krise 1961/62 bemühte man sich in beiden Lagern verstärkt um Entspannung und friedliche Koexistenz, um einen selbstzerstörerischen Nuklearkrieg zu vermeiden. Doch erst nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa im Gefolge der Revolution von 1989 und der anschließenden Selbstauflösung der Sowjetunion durch Aufkündigung des Unionsvertrages von 1922 sowie der Gründung der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS) fand der Ost-West-Konflikt ein - zumindest vorläufiges - Ende.

Seit dem 19. Jahrhundert als Auseinandersetzung zwischen "östlicher" und "westlicher" Zivilisation oft vorhergesagt und seit der Oktoberrevolution in Rußland 1917 als Ringen zwischen liberalkapitalistischen Prinzipien und staatssozialistischen Ideen unmittelbar erwartet, wurde das internationale System nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Ost-West-Konflikt maßgeblich geprägt. Das Doppelereignis der Oktoberrevolution in Rußland und des Eintritts der USA in den Krieg der europäischen Mächte, der sich dadurch zum Ersten Weltkrieg ausweitete, schuf zwar bereits 1917 eine Konstellation, in der sich die spätere Entwicklung abzeichnete. Doch erst der Krieg Hitlers und die damit verbundene Zerschlagung der politischen Strukturen Mitteleuropas, die es den " Randmächten" USA und Sowjetunion erlaubten, das politische Vakuum in Europa zu füllen, machte die Ost-West-Konfrontation möglich.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 466 Aufstieg der USA und der UdSSR

Der Zweite Weltkrieg bedeutete einen tiefen Einschnitt in den internationalen Beziehungen. Die Veränderungen, die sich durch den von Hitler begonnenen Krieg vollzogen, führten nicht nur zur Zerschlagung der Macht Deutschlands und Italiens in Europa sowie Japans im Fernen Osten, sondern auch zum Ende des "europäischen Zeitalters" in der Weltpolitik. Sie öffneten damit zugleich die Schleusen für den zunehmenden Einfluß der bisherigen "Randmächte" USA und Sowjetunion auf die internationale Politik. Die USA und die UdSSR lösten die klassischen europäischen Großmächte als bestimmende Faktoren ab und stiegen selbst zu Welt- und Supermächten auf.

Dabei hatten die USA und die Sowjetunion in den dreißiger Jahren zunächst große Mühe gehabt, sich überhaupt außenpolitisch zu etablieren. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt sah sich nach seiner Amtsübernahme 1933 vor schwere wirtschaftliche Probleme gestellt, die von der Weltwirtschaftskrise - ab 1929 - heraufbeschworen worden waren. Er versuchte mit einem umfangreichen Aufbau- und Hilfsprogramm im Rahmen des sogenannten "New Deal", die ökonomischen und sozialen Schwierigkeiten zu überwinden. Für eine aktive Außenpolitik blieb dabei anfangs nur wenig Raum.

Ein striktes Neutralitätsgesetz, das der Kongreß 1935 erließ, band dem Präsidenten überdies die Hände, so daß ein Eingreifen der USA in militärische Konflikte, die nicht im unmittelbaren Sicherheitsinteresse der USA lagen, unmöglich war. Erst im Oktober 1937 gab der Präsident seine außenpolitische Zurückhaltung auf: Angesichts der totalitären Bewegungen in Europa und des militärischen Vorgehens von Japan gegen China im Fernen Osten forderte er in seiner berühmt gewordenen "Quarantäne-Rede" die Isolierung aller aggressiven Staaten von der Völkergemeinschaft. Doch den energischen Worten folgten zunächst keine Taten.

Die Sowjetunion war zu dieser Zeit ebenfalls weitgehend mit sich selber beschäftigt. Stalin suchte seine Macht zu sichern, indem er jeden Widerstand gegen seine Politik brutal unterdrückte und allein zwischen 1936 und 1938 mindestens acht Millionen Menschen in Lager und Gefängnisse einsperren oder umbringen ließ. Zugleich trieb er seine Kollektivierungs- und Industrialisierungspläne voran und setzte damit unter großen Entbehrungen der Bevölkerung den Wandel der Sowjetunion vom Agrarland zum Industriestaat durch. Erst die aufkeimende Bedrohung durch den deutschen Nationalsozialismus, die noch durch russisch-japanische Grenzzwischenfälle im Fernen Osten verstärkt wurde, zwang Stalin schließlich, sich ebenfalls vermehrt der Außenpolitik zuzuwenden.

Angesichts der Appeasement-Politik (Politik des Entgegenkommens) der Westmächte gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, die im Münchener Abkommen vom September 1938 gipfelte, strebte Stalin nun sogar ein Bündnis mit Hitler-Deutschland an. Zuvor hatte er im Vorfeld der Münchener Konferenz vergeblich eine gemeinsame Erklärung Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion zum Schutz der Tschechoslowakei und die Ausarbeitung eines Verteidigungsplanes vorgeschlagen. Da Stalin befürchten mußte, daß Hitler sich nach den Zugeständnissen der Westmächte in München mit neuen Ansprüchen nach Osten wenden würde, bemühte er sich somit um eine Anpassung der sowjetischen Außenpolitik an das gewandelte internationale Umfeld. Das Ergebnis waren der im August 1939 unterzeichnete deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt sowie ein geheimes Zusatzprotokoll, in dem die Aufteilung Polens, die Angliederung des Baltikums an die Sowjetunion und das deutsche Desinteresse an Bessarabien vereinbart wurden.

Mit dem Abschluß des "Hitler-Stalin-Paktes" am 31. August 1939, der in Westeuropa und den USA große Überraschung und Bestürzung auslöste, wurde deutlich, daß nun auch das Schicksal Polens, an das Hitler ähnliche Forderungen stellte wie an die Tschechoslowakei, besiegelt war. Selbst in den USA, wo man in den Jahren zuvor geneigt gewesen war, die Europa-Politik weitgehend den Briten und Franzosen zu überlassen, begann man zu begreifen, daß man den Entwicklungen nicht länger tatenlos zusehen durfte. Allerdings kam es vorerst nur zu persönlichen Appellen Roosevelts an Hitler, Mussolini und den polnischen Staatspräsidenten Moscicki, sich um eine diplomatische Lösung des Konflikts zu bemühen. Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939, der den Zweiten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 467

Weltkrieg auslöste, bekräftigte Roosevelt erneut die Neutralität der USA.

Daran änderte sich selbst dann noch nichts, als am 17. September die sowjetische Armee in Ostpolen einmarschierte und Deutsche und Russen am 28. September einen Grenz- und Freundschaftsvertrag unterzeichneten, in dem sie Polen nach der Kapitulation der deutschen und sowjetischen Oberhoheit unterstellten. Doch die moralische Empörung über diese Mißachtung aller Grundsätze des Völkerrechts war in den USA ebenso groß wie etwa in Großbritannien, das Deutschland bereits am 1. September den Krieg erklärt hatte. Sie nahm noch zu, als die Sowjetunion nach dem Sieg über Polen auch Litauen, Estland und Lettland unter ihre Kontrolle brachte (im August 1940 wurden sie als Sowjetrepubliken einverleibt) und im Oktober 1939 schließlich auch die finnische Regierung mit stattlichen Gebietsforderungen konfrontierte, die sie im Winterkrieg 1939/40 teilweise mit Waffengewalt durchsetzte. Vor allem das sowjetische Verhalten gegenüber den Finnen, die in der anglo- amerikanischen Welt große Sympathien genossen, trug dazu bei, daß die antisowjetische Stimmung im Westen einen neuen Höhepunkt erreichte.

1940 wurde deshalb die Sowjetunion aus dem Völkerbund ausgeschlossen. Die US-Regierung verhängte zudem ein sogenanntes "moralisches Embargo", um amerikanische Firmen davon abzuhalten, insbesondere strategische Güter, wie Flugzeuge, Treibstoffe und Metalle, in die Sowjetunion zu exportieren. Die Entrüstung in der amerikanischen Öffentlichkeit über das deutsche und sowjetische Machtstreben reichte allerdings auch 1940 noch nicht aus, ein Eingreifen der USA in den Krieg, der nach wie vor die amerikanische Sicherheit nicht unmittelbar bedrohte, zu befürworten.

Anglo-Amerikanische Allianz

Mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 änderte sich diese Lage von Grund auf. Nachdem deutsche Truppen im September 1939 Polen und im Frühjahr und Sommer 1940 Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Belgien und schließlich Frankreich überrannt hatten, drohte jetzt bei einem deutschen Erfolg gegen Rußland die völlige nationalsozialistische Herrschaft über den europäischen Kontinent. Im amerikanischen Außenministerium rechnete man mit einem Zusammenbruch der Sowjetunion innerhalb von drei Monaten. Schließlich war die sowjetische Armee in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre weitreichenden "Säuberungen" unterworfen worden und hatte 1939/40 nur mit Mühe das kleine Finnland bezwingen können.

Der britische Premierminister Winston Churchill, der im Falle der sowjetischen Niederlage eine deutsche Invasion der britischen Inseln befürchtete, sagte Stalin deshalb noch am Tag des deutschen Angriffs die englische Unterstützung gegen Hitler zu. Präsident Roosevelt, dessen Abneigung gegen den sowjetischen Kommunismus bisher ebenso groß gewesen war wie gegen den deutschen Nationalsozialismus, gab seine Hilfszusage nur eine Woche später. Er hatte Großbritannien trotz aller Widerstände in der amerikanischen Öffentlichkeit und im Kongreß gegen einen unmittelbaren Kriegseintritt der USA bereits seit 1939 mit Waffen und anderen Hilfsgütern versorgt. Am 11. März 1941 setzte Roosevelt im Kongreß ein Leih-Pacht-Gesetz (lend-lease) zur Ausweitung der Unterstützung durch, um die USA, wie er zur Begründung erklärte, zum "Zeughaus der Demokratie " zu machen. Dabei wollte er auch die UdSSR in ihrem Kampf gegen Hitler-Deutschland unterstützen.

Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion war allerdings weder für Roosevelt noch für Churchill eine Selbstverständlichkeit. Zwar war die Allianz unter machtpolitischen Gesichtspunkten - als sogenannte " Anti-Hitler-Koalition" - zu rechtfertigen. Dennoch blieb sie ein künstliches, "unnatürliches" Bündnis, das zur anglo-amerikanischen Übereinstimmung, die aus der Gemeinsamkeit der demokratischen Werte herrührte, in einem bemerkenswerten Kontrast stand.

Um den Gegensatz auch nach außen deutlich zu machen und zugleich die amerikanisch-britische Solidarität zu betonen, trafen Roosevelt und Churchill im Sommer 1941 vor der Küste Neufundlands an Bord der Schiffe "Augusta" und "Prince of Wales" zusammen. Hier verabschiedeten sie am 14. August die Atlantik-Charta, die unter Rückgriff auf Woodrow Wilson britisch-amerikanische Grundsätze

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 468 für eine internationale Staatenordnung verkündete: Selbstbestimmungsrecht der Völker und freie Wahl der Regierungsform, Ablehnung territorialer Annexionen, Gewaltverzicht und weltweite wirtschaftliche Zusammenarbeit ohne Handelsschranken.

Anti-Hitler-Koalition

Für die Sowjetunion war die Unterstützung durch Großbritannien und vor allem durch die USA - trotz der weltanschaulichen und politischen Gegensätze - von lebenswichtiger Bedeutung. Denn die rasch vorrückenden deutschen Truppen waren von der schlecht ausgerüsteten sowjetischen Armee zunächst nicht zu stoppen, obwohl Stalin den Kampf gegen Deutschland zum "Großen Vaterländischen Krieg " erklärte und damit an den russischen Patriotismus appellierte.

Tatsächlich umfaßten die amerikanischen Lieferungen an die Sowjetunion bereits im ersten Vierteljahr Waren im Wert von 145 Millionen Dollar, ehe der Kongreß im November 1941 die Verteidigung Sowjetrußlands als "lebenswichtig für die amerikanische Sicherheit" bezeichnete. Damit schufen sie die Voraussetzungen für eine Einbeziehung der UdSSR in das Leih-Pacht-Programm. Danach konnten die Lieferungen nahezu beliebig ausgeweitet werden. Roosevelt, der die Sowjetunion jetzt einen " angemessenen Partner" für eine amerikanische Unterstützung nannte, räumte dem Kreml daher sogleich einen zinsfreien Kredit über eine Milliarde Dollar zum Ankauf kriegswichtiger Güter ein.

Stalin zeigte sich für diese Hilfe, auf die er dringend angewiesen war, auch durchaus erkenntlich. So vermied er es von Anfang an, den Krieg als einen "Kampf um die Weltrevolution" zu führen, und verfügte im Mai 1943 sogar die Auflösung der Komintern, um den Westmächten sein Entgegenkommen zu signalisieren. Zudem bekannte er sich im September 1941 grundsätzlich zu den Prinzipien der Atlantik- Charta, die er später - auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 - sogar unterzeichnete. Roosevelt leitete daraus die Hoffnung ab, die Zusammenarbeit zwischen Ost und West werde nicht nur ein taktisch bedingter Schachzug zur Niederringung Hitler-Deutschlands sein, sondern sich zu einem langfristig gültigen Grundzug der internationalen Beziehungen entwickeln.

Die Atlantik-Charta

14. August 1941:

Der Präsident der Vereinigten Staaten und Premierminister Churchill, als Vertreter von Seiner Majestät Regierung in dem Vereinigten Königreich, erachteten es bei ihrem Zusammentreffen für richtig, gewisse allgemeine Grundsätze der nationalen Politik ihrer beiden Länder bekanntzumachen, von denen sie eine bessere Zukunft für die Welt erhoffen.

Erstens, ihre Länder streben nach keiner Vergrößerung, weder auf territorialem Gebiet noch anderswo.

Zweitens, sie wünschen keine territorialen Änderungen, die nicht mit dem frei zum Ausdruck gebrachten Wunsch der betreffenden Völker übereinstimmen.

Drittens, sie achten das Recht aller Völker, sich die Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen. Sie wünschen die obersten Rechte und die Selbstregierung der Völker wiederhergestellt zu sehen, denen sie mit Gewalt genommen wurden.

Viertens, sie werden, unter gebührender Achtung ihrer bestehenden Verpflichtungen, darnach streben, daß künftig alle Staaten, große und kleine, Sieger und Unterlegene, gleicherweise Zugang zum Handel und den Rohmaterialien der Welt haben, die sie für das Gedeihen ihrer Wirtschaft benötigen.

Fünftens, sie wünschen die engste Zusammenarbeit aller Nationen auf wirtschaftlichem Gebiet, um bessere Löhne, wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Sicherheit zu gewährleisten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 469

Sechstens, nach der endgültigen Vernichtung der Nazityrannei hoffen sie auf einen Frieden, der allen Nationen die Möglichkeit bietet, innerhalb der eigenen Grenzen sicher zu leben, und der allen Menschen die Sicherheit gibt, in ihren Ländern frei von Not und Furcht zu leben.

Siebentens, ein solcher Friede würde allen Menschen gestatten, ungehindert die Meere und Ozeane zu überqueren.

Achtens, sie glauben, daß alle Nationen der Welt, sowohl aus praktischen wie aus sittlichen Gründen, dazu kommen werden, auf Gewaltanwendung zu verzichten.

Da kein künftiger Friede aufrecht zu erhalten ist, so lange die Rüstungen zu Land, zur See und in der Luft von Nationen weiterhin zum Angriff außerhalb der Grenzen eingesetzt werden, glauben sie auch, daß es wesentlich ist, diese Nationen zu entwaffnen, bis ein umfassenderes und dauerndes System der allgemeinen Sicherheit geschaffen wurde. [...]

Quelle: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Weltkriege und Revolutionen 1914-1945, Geschichte in Quellen, München 1979, S. 491.

Ungeachtet aller ideologischen Gegensätze wurde die Zusammenarbeit der Anti-Hitler-Koalition somit ein Erfolg. Vor allem die Abwicklung des Leih-Pacht-Programms der USA verlief bemerkenswert reibungslos. Das Programm, das ursprünglich mit sieben Milliarden Dollar dotiert war, umfaßte bis zu seiner Aufhebung am 21. August 1945 schließlich mehr als 43,6 Milliarden Dollar und damit 14 Prozent der gesamten amerikanischen Verteidigungsausgaben im Zweiten Weltkrieg. Die Sowjetunion erhielt davon Lieferungen - Kriegs- und Industriematerial, einschließlich kompletter Produktionsanlagen - im Wert von etwa zwölf Milliarden Dollar, die wesentlich dazu beitrugen, die Kampfkraft der sowjetischen Armee zu stärken. Im einzelnen zählten dazu 14800 Flugzeuge, 427000 dreiachsige Lastkraftwagen, 50000 Jeeps, 420000 Tonnen Aluminium sowie 2,12 Millionen Tonnen Stahl und 2,5 Millionen Tonnen Erdöl und Benzin.

Doch die Zusammenarbeit funktionierte nicht nur in materieller Hinsicht. Auch über die unmittelbaren Kriegsziele waren sich die Verbündeten weitgehend einig. Nachdem die USA nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 offiziell in den Krieg eingetreten waren, verständigte man sich rasch darauf, daß die Achsenmächte - vor allem Deutschland und Japan - niedergerungen und entwaffnet werden sollten. Dabei wollte man, wie Churchill und Roosevelt auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 vereinbarten, zunächst alle Kräfte auf Deutschland konzentrieren (Germany first), um dessen bedingungslose Kapitulation zu erreichen. Allerdings bestand von vornherein eine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen den Rooseveltschen Vorstellungen einer " gemeinsamen Weltordnung" nach dem Kriege (one world) und den Stalinschen Forderungen zur Erfüllung der sowjetischen Sicherheitsbedürfnisse.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 470 Wachsende Kluft

Diese Kluft wurde schon zu Beginn der amerikanisch-sowjetischen Zusammenarbeit 1941 erkennbar, als die UdSSR sich unter Mißachtung der Grundsätze der Atlantik-Charta weigerte, die aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes besetzten Gebiete wieder aufzugeben. Präsident Roosevelt zog es daraufhin vor, die Klärung von Einzelfragen der Nachkriegsordnung bis zum Sieg über Deutschland zu verschieben (Politik der Verschiebung = policy of postponement), um angesichts der gewaltigen militärischen Aufgaben den Fortbestand der Anti-Hitler-Koalition nicht zu gefährden.

Die Zusammenarbeit der "Großen Allianz" war auch durch andere Probleme überschattet. Dazu gehörte vor allem die Befürchtung, daß einer der Alliierten aus dem Bündnis ausscheren und einen Separatfrieden mit Deutschland schließen könne. Tatsächlich kam es von Juni bis September 1943 in und Lissabon zu Kontakten zwischen Deutschen und Russen, ohne daß die Gespräche jedoch zu einem konkreten Ergebnis geführt hätten. Noch vor der Konferenz von Teheran im Dezember 1943 wurden sie - offenbar auf Anweisung Hitlers - abgebrochen.

Errichtung einer zweiten Front

Zur ersten großen Belastungsprobe wurde die Frage der Errichtung einer Zweiten Front. Stalin hatte bereits 1941 eine westalliierte Angriffslinie für das folgende Jahr gefordert, um die russische Kriegführung zu entlasten, die sich dem Hauptansturm der deutschen Armeen gegenübersah. Als eine entsprechende Zusage Roosevelts von den militärisch noch ungenügend vorbereiteten Westmächten weder 1942 noch 1943 eingehalten werden konnte, verdächtigte Stalin seine Verbündeten, den Frontaufbau bewußt hinauszuzögern, um die Russen im Kampf gegen die Deutschen verbluten zu lassen.

Auch in der Frage der internationalen Nachkriegsordnung traten die Gegensätze zwischen Ost und West allmählich schärfer hervor, obwohl die "Politik der Verschiebung" von Entscheidungen einen offenen Konflikt zunächst verhinderte. Während Roosevelt - entsprechend den Prinzipien der Atlantik- Charta - seine Bündnispartner auf die Grundsätze von Demokratie und nationalem Selbstbestimmungsrecht festzulegen suchte und zur Verwirklichung einer ungeteilten Welt ohne Handelsschranken aufrief, ließ sich Stalin hauptsächlich von sowjetischen Sicherheitsvorstellungen leiten.

Bereits bei der Bildung der Anti-Hitler-Koalition hatte der sowjetische Diktator nicht nur die Anerkennung seiner Annexionen, sondern auch Reparationen zur Entschädigung der sowjetischen Kriegsverluste aus sicherheitspolitischen Gründen verlangt. Darüber hinaus forderte er die Einsetzung sowjetfreundlicher Regierungen in den Nachbarländern der UdSSR und damit "einen bestimmten Grad von Einmischung in deren innere Angelegenheiten" (Thomas Weingartner). Macht als Sicherheitsinteresse und Ideologie waren, so Karl-Heinz Ruffmann, "nicht alternative oder gar sich widersprechende, sondern komplementäre Aspekte der - dennoch (oder gerade deshalb!) keineswegs widerspruchsfreien - sowjetischen Politik". Anders ausgedrückt: Ein Gürtel von "Satellitenstaaten" in Ost- und Ostmitteleuropa sollte sowohl dem ausgeprägten sowjetischen Sicherheitsbedürfnis als auch dem Streben nach Ausdehnung des kommunistischen Herrschaftsbereiches gerecht werden.

Im übrigen lehnte Stalin keineswegs alle Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten ab. So konnte er beispielsweise dessen Plan zur Gründung einer Organisation der Vereinten Nationen ( Organisation = UNO) oder der Idee, vier "Weltpolizisten" - die USA, Großbritannien, die UdSSR und China - zu Garantiemächten des neuen Weltsystems zu ernennen, durchaus positive Seiten abgewinnen. Aber er war nicht bereit, sein grundlegendes Ziel der Machtbefestigung der UdSSR zugunsten der Angebote Roosevelts aufzugeben, auch wenn dessen Überlegungen von der Fortsetzung der amerikanisch-sowjetischen Zusammenarbeit nach dem Kriege ausgingen und damit praktisch eine Sicherheitsgarantie für die Sowjetunion bedeuteten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 471 Die Aufteilung Europas

Als die Sowjetunion mit dem Sieg von Stalingrad Anfang 1943 zu einem militärischen Machtfaktor ersten Ranges aufstieg, wuchs sie auch innerhalb der Anti-Hitler-Koalition in eine Führungsposition hinein, die sich wesentlich von der Rolle des Bittstellers unterschied, in der sich die UdSSR noch 1941/42 befunden hatte. Das sowjetische Selbstbewußtsein machte sich bereits bei den alliierten Kriegskonferenzen bemerkbar, auf denen ab 1943 versucht wurde, Lösungen für die Gestaltung der Welt nach dem Kriege zu finden.

Stalin drängte nun immer offener auf die Verwirklichung seines Machtkonzeptes, das der Sowjetunion eine Einflußsphäre in Osteuropa zuerkennen sollte, während Roosevelt weiter auf einer "Politik der offenen Tür" und der Verwirklichung demokratischer Gesellschaftssysteme in allen Ländern beharrte. Im Oktober 1943 wurde deshalb auf einer Außenministerkonferenz der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion in Moskau beschlossen, eine Europäische Beratende Kommission (European Advisory Commission = EAC) einzusetzen, die sich mit der Ausarbeitung von Plänen für die europäische Nachkriegsordnung befassen sollte.

Zwei Monate später, vom 28. November bis 1. Dezember 1943, trafen Churchill, Roosevelt und Stalin in Teheran erstmals zu einer Konferenz der "Großen Drei" zusammen. Da Ergebnisse der EAC noch nicht vorlagen, konnte man sich zunächst nur über allgemeine Grundsätze einigen. Dazu gehörten vor allem die Zerstückelung Deutschlands (dismemberment) und die Wiederherstellung Österreichs in den Grenzen von 1937 sowie die prinzipielle Zustimmung der Westmächte zu der von Stalin geforderten neuen polnischen Ostgrenze entlang der "Curzon-Linie" (1919 zunächst als Ostgrenze vorgesehene Linie entlang der Flüsse Bug und San), die mit einer Entschädigung Polens im Westen auf Kosten Deutschlands einhergehen sollte (Westverschiebung Polens). Außerdem verständigte man sich darauf, im Frühjahr 1944 endlich die Zweite Front in Frankreich zu errichten.

Eine genaue Abgrenzung von Einflußsphären wurde in Teheran jedoch nicht vorgenommen, weil Roosevelt nach wie vor hoffte, daß es gelingen werde, Stalin auf die Einhaltung der Grundsätze der Atlantik-Charta und zur vorbehaltlosen Anerkennung der Souveränität aller Staaten verpflichten zu können. Da Churchill frühzeitig die Gefahr eines Vordringens der sowjetischen Armee nach Ost- und Mitteleuropa und der damit verbundenen Ausdehnung des sowjetischen Herrschaftsbereiches erkannt hatte, war er in dieser Hinsicht weniger optimistisch. Bereits 1941/42 hatte er deshalb mehrfach versucht, Roosevelt zu überzeugen, die Zweite Front auf dem Balkan zu errichten, um von dort aus ein ungehindertes Vordringen der Sowjetmacht in Ost- und Mitteleuropa zu blockieren. Doch weil Roosevelt die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nicht gefährden wollte, hatte er sich entschieden, dem Wunsch Stalins zu entsprechen und den Hauptstoß gegen Deutschland von Frankreich aus zu führen. Churchill bemühte sich daher im Oktober 1944 in Moskau noch im Alleingang um eine Einigung mit Stalin über Interessensphären. Die von beiden getroffenen Absprachen über Südosteuropa wurden jedoch von der amerikanischen Regierung nicht anerkannt, so daß sie offiziell keine Gültigkeit erlangten.

Schaffung vollendeter Tatsachen

Schon im Spätsommer 1944 kontrollierte die Sowjetunion nahezu den gesamten osteuropäischen Raum, nachdem auch Bulgarien und Rumänien von sowjetischen Truppen besetzt worden waren, ohne daß es alliierte Vereinbarungen gegeben hätte, wie mit diesen Gebieten in Zukunft zu verfahren sei. Ein besonderes Kapitel war die Entwicklung in Polen, wo Stalin im Juli 1944 das von prosowjetischen Kräften gegründete Lubliner Komitee als einzige Vertretung Polens anerkannte. Er setzte sich damit nicht nur in Gegensatz zur polnischen Exilregierung in London, sondern weckte auch neues Mißtrauen bei den Alliierten. Denn immerhin war die Exilregierung aus Wahlen, die im November 1938 stattgefunden hatten, und einem im März und April 1939 geschlossenen "Burgfrieden" zwischen Opposition und Regierung in Polen hervorgegangen und konnte somit auf demokratische Legitimität verweisen. Dagegen stellte das Lubliner Komitee eine reine Kadergründung prosowjetischer Kräfte dar.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 472

Das rücksichtslose Vorgehen Stalins wurde erneut deutlich, als die sowjetische Armee im Januar 1945 auch Warschau eroberte und das kommunistisch gelenkte Komitee sofort die Rolle der neuen polnischen Regierung übernahm. Vertretern der Londoner Exilregierung wurde die Rückkehr nach Polen verweigert. Nach westlicher Auffassung zeichnete sich damit ab, was viele befürchtet hatten: eine Politik der "Schaffung vollendeter Tatsachen" und die sowjetische Vorherrschaft in Osteuropa ohne Rücksicht auf die Interessen der betroffenen Völker oder die Prinzipien des Völkerrechts und der Atlantik-Charta.

Präsident Roosevelt - zu Beginn des Jahres 1945 bereits von schwerer Krankheit gezeichnet - hoffte trotzdem auf eine einvernehmliche Regelung der Nachkriegsordnung, zumal die zweite Konferenz der "Großen Drei", die vom 4. bis 11. Februar 1945 in Jalta auf der Krim stattfand, dafür einige Anhaltspunkte zu bieten schien. Denn man verständigte sich hier nicht nur auf die Bildung einer polnischen provisorischen Regierung unter Beteiligung der Londoner Exilregierung und die Einberufung einer Konferenz zur Gründung der Vereinten Nationen, sondern bewog Stalin auch dazu, sich zum Selbstbestimmungsrecht der Völker zu bekennen, die Abhaltung freier Wahlen in den von der sowjetischen Armee besetzten osteuropäischen Ländern "so bald wie möglich" zuzusichern und die "Erklärung über das befreite Europa" zu unterzeichnen. Hier sollten sich die drei Alliierten ausdrücklich verpflichten, in allen befreiten Gebieten demokratische Strukturen aufzubauen.

Schon bald nach Jalta jedoch erwiesen sich die Hoffnungen auf eine pluralistische Entwicklung Osteuropas als Illusion: Offenbar verstanden die Westmächte und die Sowjetunion unter freien Wahlen und Demokratie etwas Grundverschiedenes. Jedenfalls war der Kontrast zwischen den Worten und Taten Stalins unverkennbar. Bereits im März 1945 zwang er Rumänien eine kommunistisch beherrschte Regierung auf. Die versprochenen Wahlen in Ungarn, Bulgarien, Polen und Jugoslawien wurden immer wieder verschoben, als sich abzeichnete, daß freie Wahlen entgegen den ursprünglichen Erwartungen Stalins nicht zu kommunistischen Regierungen führten. Statt dessen fanden nun in allen Ländern blutige Säuberungen statt, denen große Teile der bürgerlichen und sozialdemokratischen Opposition zum Opfer fielen. Selbst Roosevelt mußte deshalb noch unmittelbar vor seinem Tod im April 1945 erkennen, daß der Kreml nicht daran dachte, in den von sowjetischen Truppen besetzten Ländern die Zusagen über die Errichtung freier, demokratischer und unabhängiger Staaten einzuhalten.

Potsdamer Konferenz

Als die "Großen Drei" im Juli und August 1945 im Schloß Cecilienhof in Potsdam zu ihrer letzten Kriegskonferenz zusammentraten - der Krieg in Europa war zwar zu Ende, doch im Fernen Osten wurde noch gekämpft -, zeichnete sich ab, daß der Zweite Weltkrieg das internationale Mächtegefüge grundlegend verändert hatte: Die Zerschlagung der traditionellen politischen und sozialen Strukturen in Ost- und Ostmitteleuropa hatte hier ein Machtvakuum entstehen lassen. Die bisherigen "Randmächte " USA und UdSSR waren zu weltpolitischen "Supermächten" aufgestiegen. Die weltanschaulichen Gegensätze, die im Prinzip bereits seit der Oktoberrevolution 1917 bestanden hatten, wurden nun beim unmittelbaren Aufeinandertreffen der Sowjetunion und der Westmächte im Zentrum Europas als ideologischer Konflikt offen sichtbar.

Die Potsdamer Konferenz war deshalb ein erster Test, wie sich die neue Konstellation auf die Nachkriegspolitik auswirken würde. Stalin war dabei gegenüber seinen westlichen Verhandlungspartnern im Vorteil. Er konnte nicht nur auf vollendete Tatsachen verweisen, die durch das Vordringen der Roten Armee geschaffen worden waren, sondern verfügte auch über die bei weitem größte politische Erfahrung unter den versammelten Staatsmännern. Weder Harry S. Truman, der nach dem Tode Franklin D. Roosevelts im April 1945 das Amt des amerikanischen Präsidenten übernommen hatte, noch Clement Attlee, der Ende Juli 1945 nach den britischen Unterhauswahlen zum Nachfolger Winston Churchills als britischer Premierminister gewählt worden war, konnten von sich behaupten, an den vorausgegangenen Beschlüssen von Teheran und Jalta persönlich mitgewirkt zu haben und damit die Voraussetzungen für die Verhandlungen von Potsdam aus erster Hand zu kennen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 473

Diese starke Position spielte Stalin nunmehr bei den Verhandlungen in Cecilienhof in vollem Umfang aus, indem er nicht nur die Errichtung einer gemeinsamen Ordnung demokratischer Staaten durch freie Wahlen ablehnte, sondern auch die Anerkennung der mit Gewalt veränderten Machtverhältnisse in Ost- und Ostmitteleuropa durch die Westmächte forderte. Dazu gehörten sowohl die bereits in Jalta vorbesprochene "Westverschiebung" Polens - und damit die Festlegung neuer deutscher Ostgrenzen entlang der Oder und westlichen Neiße - als auch die Schaffung eines Gürtels sowjetisch kontrollierter Satellitenstaaten entlang der sowjetischen Westgrenze, die als "Pufferzone" (cordon sanitaire) einem erneuten Angriff aus dem Westen entgegenwirken sollten.

Stalin sah offenbar auch keine Probleme darin, von der in Jalta unterzeichneten "Erklärung über das befreite Europa" wieder abzurücken, in der freie Wahlen für alle befreiten Länder in Europa vereinbart worden waren. Insofern bedeutete das in Cecilienhof verabschiedete Kommuniqué kein Weiterkommen. Keine der großen Fragen der Weltpolitik konnte darin abschließend geregelt werden. Die getroffenen Vereinbarungen blieben vage und unbestimmt. Im Kommuniqué enthaltene Begriffe wie "demokratisch", "friedlich" und "gerecht", die den Kern der alliierten Politik umschreiben sollten, waren je nach politischer Opportunität und ideologischem Standort unterschiedlich auslegbar und trugen wenig dazu bei, die Verhältnisse zu klären.

Selbst der im politischen Sprachgebrauch später oft verwendete, vereinfachende Begriff "Potsdamer Abkommen" war unzutreffend, weil es sich lediglich um eine Zusammenfassung der Gesprächsergebnisse handelte, nicht jedoch um eine formelle Abmachung zwischen den beteiligten Regierungen. Die völkerrechtliche Verbindlichkeit der Cecilienhof-Vereinbarungen blieb daher umstritten. Da die Regierungschefs offenbar ahnten oder wußten, daß die Potsdamer Beschlüsse nicht ausreichen würden, um im politischen Alltag zu bestehen, wurde von ihnen noch ein ständiger " Rat der Außenminister" mit Sitz in London eingerichtet, der den Auftrag erhielt, die Beratungen fortzusetzen und Lösungsmöglichkeiten zu erkunden. Vor allem die Deutschlandpolitik sollte bei den Diskussionen im Außenministerrat in den folgenden Jahren Gegenstand der Beratungen sein.

Kommuniqué der Potsdamer Konferenz

2. August 1945

1. Entsprechend der Übereinkunft über das Kontrollsystem in Deutschland wird die höchste Regierungsgewalt in Deutschland durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Französischen Republik nach den Weisungen ihrer entsprechenden Regierungen ausgeübt, und zwar von jedem in seiner Besatzungszone, sowie gemeinsam in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Kontrollrates in den Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen.

2. Soweit dieses praktisch durchführbar ist, muß die Behandlung der deutschen Bevölkerung in ganz Deutschland gleich sein.

3. Die Ziele der Besetzung Deutschlands, durch welche der Kontrollrat sich leiten lassen soll, sind:

(I) Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands und die Ausschaltung der gesamten deutschen Industrie, welche für eine Kriegsproduktion benutzt werden kann oder deren Überwachung. [...]

(II) Das deutsche Volk muß überzeugt werden, daß es eine totale militärische Niederlage erlitten hat und daß es sich nicht der Verantwortung entziehen kann für das, was es selbst dadurch auf sich geladen hat. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 474

(III) Die Nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen Gliederungen und Unterorganisationen ist zu vernichten; [...]

(IV) Die endgültige Umgestaltung des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage und eine eventuelle friedliche Mitarbeit Deutschlands am internationalen Leben sind vorzubereiten.

4. Alle nazistischen Gesetze, welche die Grundlagen für das Hitlerregime geliefert haben oder eine Diskriminierung auf Grund der Rasse, Religion oder politischer Überzeugung errichteten, müssen abgeschafft werden. Keine solche Diskriminierung, weder eine rechtliche noch eine administrative oder irgendeiner anderen Art, wird geduldet werden. [...]

8. Das Gerichtswesen wird entsprechend den Grundsätzen der Demokratie und der Gerechtigkeit auf der Grundlage der Gesetzlichkeit und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Rasse, der Nationalität und der Religion reorganisiert werden. [...]

(II) In ganz Deutschland sind alle demokratischen politischen Parteien zu erlauben und zu fördern mit der Einräumung des Rechtes, Versammlungen einzuberufen und öffentliche Diskussionen durchzuführen.

10. Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit zur Erhaltung der militärischen Sicherheit wird die Freiheit der Rede, der Presse und der Religion gewährt. Die religiösen Einrichtungen sollen respektiert werden. Die Schaffung freier Gewerkschaften, gleichfalls unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Erhaltung der militärischen Sicherheit, wird gestattet werden. [...]

IV. Reparationen aus Deutschland

In Übereinstimmung mit der Entscheidung der Krim-Konferenz, wonach Deutschland gezwungen werden soll, in größtmöglichem Ausmaß für die Verluste und die Leiden, die es den Vereinten Nationen verursacht hat, und wofür das deutsche Volk der Verantwortung nicht entgehen kann, Ausgleich zu schaffen, wurde folgende Übereinkunft über Reparationen erreicht:

1. Die Reparationsansprüche der UdSSR sollen durch Entnahmen aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden.

2. Die UdSSR wird die Reparationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an den Reparationen befriedigen.

3. Die Reparationsansprüche der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreiches und der anderen zu Reparationsforderungen berechtigten Länder werden aus den westlichen Zonen und den entsprechenden deutschen Auslandsguthaben befriedigt werden.

4. In Ergänzung der Reparationen, die die UdSSR aus ihrer eigenen Besatzungszone erhält, wird die UdSSR zusätzlich aus den westlichen Zonen erhalten: a) 15 % derjenigen verwendungsfähigen und vollständigen industriellen Ausrüstung, vor allem der metallurgischen, chemischen und Maschinen erzeugenden Industrien, soweit sie für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig und aus den westlichen Zonen Deutschlands zu entnehmen sind, im Austausch für einen entsprechenden Wert an Nahrungsmitteln, Kohle, Kali, Zink, Holz, Tonprodukten, Petroleumprodukten und anderen Waren, nach Vereinbarung. b) 10 % derjenigen industriellen Ausrüstung, die für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig ist und aus den westlichen Zonen zu entnehmen und auf Reparationskonto an die Sowjetregierung zu übertragen ist ohne Bezahlung oder Gegenleistung irgendwelcher Art. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 475

Quelle: Ernst Deuerlein (Hrsg.), Potsdam 1945. Quellen zur Konferenz der "Großen Drei", München 1963, S. 353-367.

Beginn des Atomzeitalters

Währenddessen dauerte der Krieg im Pazifik und im Fernen Osten weiter an, in den nun auch die Sowjetunion, die hier seit 1941 Neutralität gewahrt hatte, mit ihrer Kriegserklärung an Japan am 8. August 1945 noch eingriff. Der Termin - genau drei Monate nach dem Ende des Krieges in Europa - war bereits in Jalta zwischen Stalin, Roosevelt und Churchill vereinbart worden. Doch mittlerweile hatte sich manches geändert, wie sich nun auch in Japan wieder zeigte. Denn am selben Tag, als die Sowjetunion in den Krieg eintrat, bereiteten die USA den Abwurf einer Atombombe über Nagasaki vor, um die japanische Hafenstadt ebenso zu zerstören wie es am 6. August bereits mit Hiroshima geschehen war.

Die genauen politischen Hintergründe dieser Atombombenabwürfe sind bis heute in der historischen Forschung umstritten. Die neuartige Waffe sollte ursprünglich gegen Deutschland eingesetzt werden. Doch die Kapitulation Deutschlands zu einem Zeitpunkt, als die Waffe noch nicht einsatzfähig war, verhinderte ihre Verwendung in Europa. Da der Krieg im Fernen Osten noch andauerte, erschien es nur logisch, sie nunmehr auf Japan abzuwerfen. Die amerikanische Regierung rechtfertigte ihre Entscheidung mit dem doppelten Ziel, die Kapitulation Japans zu beschleunigen und zugleich das Leben von etwa 500000 amerikanischen Soldaten zu retten, die nach militärischen Schätzungen bei einer Invasion der japanischen Hauptinseln vermutlich umgekommen wären.

Der Einsatz der neuen Waffe hatte indessen auch "Nebenwirkungen", die der amerikanischen Regierung durchaus gelegen kamen: Zum einen bot sich damit die Gelegenheit, dem künftigen Rivalen Sowjetunion das neue Machtinstrument der USA eindrucksvoll vor Augen zu führen. Zum anderen sollte die rasche Kapitulation Japans dazu verhelfen, die Sowjetunion so weit wie möglich von einer gemeinsamen Besetzung des Inselreiches auszuschließen und damit eine Situation zu vermeiden, wie sie in Europa durch den Kriegsverlauf eingetreten war.

Kapitulation Japans

Diese Rechnung der USA ging tatsächlich auf. Nach der Kapitulation Tokios, die nun überraschend schnell - schon am 10. August - erfolgte, lehnte US-Außenminister Byrnes auf der ersten Tagung des Rates der Außenminister im September 1945 in London die sowjetische Forderung nach einer Mitwirkung an der Besatzungsherrschaft auf den japanischen Hauptinseln rundweg ab, da die UdSSR an den Kämpfen gegen Japan nur zwei Tage beteiligt gewesen sei. Die USA fungierten daraufhin im wesentlichen als alleinige Besatzungsmacht in Japan und bestimmten praktisch im Alleingang den Weg Japans in der Nachkriegszeit. Lediglich die Inselgruppe der Kurilen, die seit dem 18. Jahrhundert zu Rußland gehört hatte und erst 1875 an Japan gefallen war, wurde der UdSSR als Lohn für ihren Kriegseintritt zugesprochen. Selbst diese Entscheidung blieb jedoch umstritten, da Japan bis heute die Rückgabe der Inseln Iturup und Kunashiri fordert.

Allerdings sicherte sich die Sowjetunion mit der Besetzung der Mandschurei und Nordkoreas bis zum 38. Breitengrad auf dem ostasiatischen Festland stattliche territoriale Gewinne, die als Basis für eine aktivere Fernost-Politik dienen konnten. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion wurden damit auch in Asien faktisch immer mehr zu Rivalen, obwohl die Westmächte zunächst ihre Zustimmung zum sowjetischen Vorgehen in diesem Raum gegeben hatten, das der gemeinsamen Kriegführung entsprach.

In dem "Ost-West-Konflikt", der sich auf diese Weise in Europa und Asien anbahnte, besaßen die beiden Hauptkonkurrenten USA und Sowjetunion bei Kriegsende höchst unterschiedliche Voraussetzungen: Die USA waren aus dem Zweiten Weltkrieg politisch und wirtschaftlich gestärkt

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 476 hervorgegangen. Die Verluste an Menschen und Material waren verhältnismäßig gering geblieben. Zudem verfügten die USA durch das Atombombenmonopol über einen Trumpf, dessen politische und militärische Bedeutung noch kaum abzuschätzen war. Die UdSSR hingegen hatte mehr als 20 Millionen Menschen verloren und riesige Verwüstungen erlitten, die eine schwerwiegende Einbuße an Infrastruktur und Wirtschaftskraft bedeuteten.

Andererseits war die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zu einer militärischen Supermacht aufgestiegen, die den eigenen Einflußbereich maßgeblich vergrößert hatte. Sie besaß im Bereich der Landstreitkräfte ein gewaltiges Potential, das nach Kriegsende nur unwesentlich abgebaut wurde, und arbeitete überdies mit Hochdruck an der Entwicklung einer eigenen Atombombe. Hinzu kam, daß die neuen "Supermächte" nicht mehr - wie in der Zwischenkriegszeit - durch Ozeane und Kontinente voneinander getrennt waren, sondern in ihren Einflußzonen politisch und territorial direkt aufeinanderprallten. Alle Elemente einer machtpolitischen Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion, zwischen Ost und West, waren damit gegeben.

Weltwährungssystem

Die beginnende Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion zeigte sich ebenfalls im Bereich der neuen wirtschaftlichen Strukturen, über die parallel zu den politischen und militärischen Fragen entschieden wurde. So beriefen die USA im Sommer 1944 zur Neuordnung der durch den Zweiten Weltkrieg zerrütteten Weltwirtschaft eine internationale Konferenz aller Staaten, die im Kampf gegen Deutschland und Japan standen, nach Bretton Woods im amerikanischen Bundesstaat New Hampshire ein. Die Konferenz, deren Vorgeschichte bis zu den Verhandlungen über das amerikanisch-britische Leih-Pacht-Abkommen im Mai 1941 zurückreichte, fand vom 1. bis 22. Juli unter Beteiligung von 44 Ländern statt und sollte die strittigen Währungs-, Zahlungs- und Handelsfragen klären, die den Aufbau der Nachkriegsordnung belasteten.

Bei dem Treffen wurden zwei Organisationen gegründet: die "Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung" (International Bank for Reconstruction and Development = IBRD, oft auch nur Weltbank genannt) und der "Internationale Währungsfonds" (IWF). Sie sollten eine möglichst offene Welthandelsordnung garantieren. Sie litten jedoch von Anfang an unter dem Handicap, daß trotz intensiver Bemühungen des amerikanischen Finanzministers Henry Morgenthau weder das Abkommen über die Weltbank noch die Vereinbarung über den Währungsfond von der Sowjetunion ratifiziert wurde.

Die Weltbank wurde mit einem Grundkapital von 7,6 Milliarden Dollar ausgestattet. Das Geld, das nahezu vollständig von den USA stammte, sollte dazu dienen, das kriegszerrüttete Europa wiederaufzubauen und den neu entstehenden Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika bei ihrer Entwicklung zu helfen. Hauptanliegen der Weltbank war es, wirtschaftliches Wachstum zu fördern und Kapital bereitzustellen, um staatliche Eingriffe und damit sozialistische Wirtschaftslenkung unnötig zu machen.

Mit 7,3 Milliarden Dollar, über die der Internationale Währungsfonds verfügen konnte, sollten vor allem jene Nationen unterstützt werden, die unter hohen Handelsdefiziten litten. Außerdem sollten die Mittel dazu beitragen, Währungen zu stabilisieren, die unter dem Druck interner wirtschaftlicher Probleme standen. Destruktive Handels- und Währungskriege, die in den dreißiger Jahren den Zusammenbruch der internationalen Ordnung mit verursacht hatten, sollten damit möglichst verhindert werden. Zudem bestanden die amerikanischen Vertreter in Bretton Woods darauf, daß das Wirtschaftssystem der Nachkriegszeit auf Gold und dem US-Dollar als Leitwährung basieren sollte. Da die USA über zwei Drittel der Goldreserven der Welt verfügten, kam diese Forderung nicht überraschend: Washington kontrollierte damit sowohl die Weltbank als auch den Internationalen Währungsfonds.

Die Beschlüsse von Bretton Woods traten nach der Ratifizierung durch 28 Staaten am 27. Dezember 1945 in Kraft. Die Sowjetunion, die sich anfangs beteiligt hatte, hielt sich - wie angesichts der Inhalte

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 477 und Ziele der Konferenz kaum anders zu erwarten - abseits. Tatsächlich sollten die in Bretton Woods getroffenen internationalen Wirtschafts- und Währungsabkommen in der Folgezeit mehr als jedes andere Vertragswerk die Nachkriegszeit bestimmen: Sie bildeten die Grundlage der Außenwirtschaftsbeziehungen der westlichen Welt und stellten damit ein wichtiges Element des Ost- West-Konflikts dar, weil sich mit den Instrumenten des IWF und der Weltbank - wie später mit dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade = GATT) - die kommunistischen Staaten isolieren ließen.

Der Internationale Währungsfonds umfaßte zunächst 28 Mitglieder und hat sich inzwischen auf über 180 Mitgliedstaaten erhöht. Die Mitglieder der Weltbank müssen zugleich Mitglieder des IWF sein, so daß mit Ausnahme Jugoslawiens die osteuropäischen Länder bis zum Ende des Kalten Krieges aus beiden Organisationen ferngehalten werden konnten. Die USA waren daher 1944/45 in der Lage, nicht nur die politische und militärische, sondern auch die wirtschaftliche und finanzielle Führungsrolle in der Welt relativ unangefochten zu übernehmen, wobei das in Bretton Woods geschaffene neue Weltwährungssystem ganz in ihrem Sinne wirkte.

Leitwährung Dollar

Der ökonomische Aufstieg der USA hatte sich allerdings seit langem angekündigt. Bereits in den Jahren zwischen 1899 und 1902, als Großbritannien im Buren-Krieg gebunden gewesen war, hatten die USA kurzzeitig die Rolle des internationalen Financiers gespielt. In der desolaten Wirtschafts- und Währungssituation nach dem Ersten Weltkrieg hatten die USA dann bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 England als Finanzzentrum der Welt abgelöst. Schon in den zwanziger Jahren war die Wall Street in New York zum Synonym für wirtschaftliche Macht geworden. Doch erst mit den Vereinbarungen von Bretton Woods wurde diese Rolle der USA festgeschrieben.

So wurde der US-Dollar im neuen Weltwährungssystem zusammen mit Gold als internationale Leit-, Reserve- und Transaktionswährung eingesetzt. Der IWF wurde zentrale Institution dieses Währungssystems der westlichen Welt. Die USA verfügten im obersten Verwaltungsgremium des IWF - dem Board of Governors - wie in der Weltbank aufgrund ihrer Einlagen und dem darauf abgestellten Abstimmungsverfahren von Anfang an über eine Sperrminorität. Ohne Zustimmung der USA konnten keine Beschlüsse gefaßt werden. Diese Dominanz kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, daß die USA alle bisherigen Präsidenten der Weltbank stellte - unter ihnen der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara -, während im IWF auch andere Länder den Geschäftsführenden Direktor stellen konnten.

Insgesamt kontrollierten die USA auf diese Weise im Verein mit den anderen westlichen Industrieländern, deren Finanzminister und Zentralbankpräsidenten sich im "Zehnerclub" des IWF zusammenschlossen, über 70 Prozent aller Währungsreserven der im IWF vereinigten Länder. Amerikanische Banken waren bis Ende der sechziger Jahre die wichtigste Quelle internationaler Kredite. Entscheidungen der amerikanischen Regierung bestimmten die Entwicklung der Weltwirtschaft und der internationalen Kapitalmärkte.

Die Sowjetunion und die übrige kommunistische Welt waren davon praktisch ausgeschlossen. Die Weigerung Stalins, die Vereinbarungen von Bretton Woods zu unterzeichnen, führte die UdSSR in wirtschaftliche und finanzielle Isolierung und zwang sie dazu, eine eigene Wirtschaftsgemeinschaft mit entsprechendem Finanzsystem in Gestalt des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) aufzubauen. Die Konkurrenzsituation, die im machtpolitischen und ideologischen Bereich bestand, entwickelte sich damit auch auf ökonomischem Gebiet.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 478 Gründung der UNO

Unmittelbar nach der Konferenz von Bretton Woods trafen sich die Alliierten erneut - diesmal in Dumbarton Oaks in der amerikanischen Hauptstadt Washington -, um die Gründung einer weiteren Organisation vorzubereiten, die die Nachkriegswelt bestimmen sollte. Vom 21. August bis 7. Oktober 1944 berieten hier Vertreter der USA, Großbritanniens, Chinas und der Sowjetunion über eine neue Weltorganisation als Ersatz für den Völkerbund.

Es wurde vereinbart, eine Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organization = UNO) zu errichten, die aus einer Vollversammlung und einem Sicherheitsrat bestehen sollte. In der Vollversammlung sollten alle Nationen vertreten sein, aber die wirkliche Macht sollte bei den zwölf Mitgliedern des Sicherheitsrates liegen. Unter ihnen sollte es fünf ständige Mitglieder mit Vetorecht geben (die USA, Großbritannien, Frankreich, die Sowjetunion und China), während die übrigen sieben Sitze nach dem Rotationsprinzip abwechselnd an andere Mitgliedstaaten der UNO vergeben werden sollten.

Diese Vereinbarungen wurden anschließend auf der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen festgeschrieben, die im Mai 1945 in San Francisco begann und mit der Unterzeichnung der UN-Charta am 26. Juni 1945 endete. Der Gründungsvertrag trat nach der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten am 24. Oktober 1945 in Kraft.

Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945

[...] Artikel 1: Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:

1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen;

2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen.

3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschiede der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen. [...]

Artikel 2: Die Organisation und ihre Mitglieder handeln im Verfolg der in Artikel 1 dargelegten Ziele nach folgenden Grundsätzen:

1. Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.

2. Alle Mitglieder erfüllen, um ihnen allen die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und Vorteile zu sichern, nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen.

3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, daß der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.

4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 479

5. Alle Mitglieder leisten den Vereinten Nationen jeglichen Beistand bei jeder Maßnahme, welche die Organisation im Einklang mit dieser Charta ergreift; sie leisten einem Staat, gegen den die Organisation Vorbeugungs- oder Zwangsmaßnahmen ergreift, keinen Beistand. [...]

7. Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden; die Anwendung von Zwangsmaßnahmen gemäß Artikel VII wird durch diesen Grundsatz nicht berührt.

Artikel 23: (1) Der Sicherheitsrat besteht aus 11 Mitgliedern der Vereinten Nationen. Die Republik China, Frankreich, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika sind ständige Mitglieder des Sicherheitsrats. Die Generalversammlung wählt sechs weitere Mitglieder der Vereinten Nationen zu nichtständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates. [...]

Artikel 39: Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; [...]

Artikel 41: Der Sicherheitsrat kann beschließen, welche Maßnahmen - unter Ausschluß von Waffengewalt - zu ergreifen sind, um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen; er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegraphen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen.

Artikel 42: Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, daß die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften, die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen. Sie können Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen.

Artikel 43: (1) Alle Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichten sich, zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dadurch beizutragen, daß sie nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung stellen, Beistand leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts gewähren, soweit dies zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich ist. [...]

Quelle: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, Geschichte in Quellen, München 1980, S. 666 ff.

Die UNO zählte zunächst nur 49 Mitglieder, unter ihnen auf Drängen Stalins neben der Sowjetunion auch noch zwei sowjetische Republiken - die Ukraine und Weißrußland -, um das Stimmenverhältnis für die UdSSR zu verbessern. Denn die Mitglieder waren 1945 in ihrer überwiegenden Mehrzahl westlich orientiert. Sie machten die UNO zu einer Einrichtung, die - wie Weltbank und IWF - von den USA kontrolliert wurde. Zudem verstand sich die Organisation anfangs als Siegervereinigung, die sich weigerte, ehemalige Feindstaaten als Mitglieder aufzunehmen, und damit ihren Universalitätsanspruch nur begrenzt einlösen konnte. Immerhin war aber die Sowjetunion vertreten.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging es für die UNO vorrangig darum, den durch die Beendigung des Krieges erreichten Zustand zu erhalten und möglichst vor weiteren gewaltsamen Veränderungen zu bewahren. Dabei kam den fünf Großmächten, die über einen ständigen Sitz im

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 480

Sicherheitsrat verfügten, eine besondere Rolle zu, die sie allerdings nur spielen konnten, wenn die Kriegskoalition auch im Frieden weiterbestand. Denn das Instrumentarium der Friedenssicherung setzte angesichts des Veto-Rechts der Großmächte im Sicherheitsrat deren Konsens voraus.

Der Zerfall der Koalition, der sich schon unmittelbar nach Gründung der UNO im Sommer 1945 abzeichnete, wirkte daher von vornherein als große Belastung, mit der die Weltorganisation nur schwer fertigzuwerden vermochte. Die Eskalation des Ost-West-Konflikts zu einem Kalten Krieg ließ dann ab 1946/47 kaum noch Spielraum für Gemeinsamkeit. Die UNO spiegelte vielmehr den Gegensatz wider, der die internationalen Beziehungen insgesamt prägte. Nur auf Gebieten, in denen keine direkten Interessen der Großmächte berührt waren, konnte es der UNO jetzt noch gelingen, erfolgreich tätig zu werden.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 245) - Der Beginn der Bipolarität (http://www.bpb. de/izpb/10323/der-beginn-der-bipolaritaet)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 481

Die Deutschlandplanung der Sieger

Von Wilfried Loth 29.4.2005 Dr. phil., geb. 1948; Professor für Neuere Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Historisches Institut, Universitätsstraße 12, 45117 Essen.

E-Mail: [email protected]

Noch während des Krieges führten die Alliierten die Diskussion über die Zukunft Deutschlands. Trotz erster Teilungspläne kamen sie schließlich darin überein, Deutschland als Einheit weiter existieren zu lassen. Doch die Übereinkunft war mehr als instabil, da sie vielen grundsätzlichen Problemen nicht Rechnung trug.

Einleitung

Was aus Deutschland werden sollte, bestimmten nach der bedingungslosen Kapitulation vom 8./9. Mai 1945 die Siegermächte. Großbritannien, die Sowjetunion und die USA hatten den Sieg über das NS-Imperium gemeinsam errungen und entschieden, die Souveränität über Deutschland zusammen mit Frankreich als vierter Besatzungsmacht gemeinsam auszuüben.

Angesichts des fundamentalen Gegensatzes zwischen Stalin'scher Mobilisierungsdiktatur und westlichen Demokratien ist oft darüber spekuliert worden, ob damit der Weg in die deutsche Teilung programmiert gewesen sei. Doch je näher man sich mit den Planungen der Siegermächte und ihren Verhandlungen über die Zukunft Deutschlands beschäftigt, desto deutlicher wird, dass die Intentionen der Sieger in eine ganz andere Richtung wiesen.[1]

Teilungspläne

Schon während des Krieges lief die Diskussion der Alliierten über die Zukunft Deutschlands auf eine Aufteilung des Reiches hinaus. Die Wiederherstellung Österreichs als eigenständiger Staat und beträchtliche Gebietsabtretungen im Osten galten als selbstverständliche Kriegsziele. Darüber hinaus wurde eine Aufteilung des verbliebenen Reichsgebiets in mehrere unabhängige Einzelstaaten angestrebt. Nur ein solches dismemberment schien die Gewähr dafür zu bieten, dass sich ein besiegtes Deutschland nicht wieder zu einem bedrohlichen Machtfaktor entwickeln würde.

Hinsichtlich des Prinzips der Aufteilung gab es seit dem Beginn der britisch-sowjetischen Bündnisverhandlungen im Herbst 1941 eine grundsätzliche Verständigung zwischen Josef Stalin und Winston Churchill. Stalin ließ den britischen Premierminister am 21.November 1941 wissen, "dass Österreich als ein unabhängiger Staat von Deutschland abgetrennt werden müsse und Deutschland selbst, darunter auch Preußen, in eine Reihe mehr oder minder selbständiger Staaten zerschlagen werden müsse, um eine künftige Garantie für Frieden und Ruhe der europäischen Staatenzu schaffen "[2]. Churchill antwortete am 5.Dezember im Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Iwan Majskij, die "Hauptaufgabe" der Nachkriegsordnung bestehe darin, "ein für alle Mal die deutsche Gefahr zu beseitigen. Dazu sei eine vollständige Abrüstung Deutschlands wenigstens für die Dauer einer ganzen Generation ebenso erforderlich wie die Aufspaltung Deutschlands in einzelne Teile; insbesondere Preußen müsse von den übrigen Teilen Deutschlands getrennt werden."[3] Die Diskussion über die optimale Form der Aufteilung gelangte in Moskau im März 1944 zum Abschluss. Eine Kommission zur Beratung der Nachkriegsordnung unter dem Vorsitz des früheren

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 482

Außenkommissars Maxim Litwinow verabschiedete ein Papier, das die Bildung von sieben Einzelstaaten vorsah: Preußen unter Abtretung von Ostpreußen, Oberschlesien und Schleswig; daneben ein rheinisch-westfälischer Staat sowie ein zweiter Nordstaat aus Hessen-Nassau, Hannover, Oldenburg und Bremen; dazu Sachsen, Bayern, Württemberg und Baden als eigenständige Staaten.[4]

Bei der Vorbereitung der Konferenz von Jalta äußerte Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow Bedenken, ob eine solch rigide Aufteilung bei den Westmächten durchzusetzen wäre. Litwinow empfahl, "von der ursprünglichen Disposition einer maximalen Aufgliederung aus[zu]gehen und dann, je nach Notwendigkeit, Konzessionen [zu] machen". Als Auffangposition schien ihm eine Vier-Staaten- Lösung vertretbar zu sein, die sich aus der Zusammenlegung nichtpreußischer Gebiete ergab. Der stellvertretende Außenkommissar Andrej Wyschinski meinte dagegen, dass es "angebrachter" sei, von Anfang an eine Fünf-Staaten-Lösung vorzuschlagen.[5] Eine Entscheidung zwischen den verschiedenen Varianten wurde nicht getroffen. Stalin entschied sich dafür, zunächst die Vorschläge der Verbündeten abzuwarten und dann auf der Grundlage der Empfehlungen der Litwinow-Kommission zu verhandeln. Gleich zu Beginn der Konferenz von Jalta, in der Sitzung vom 5. Februar 1945, drängte er darauf, in der Frage der Aufteilung "eine definitive Entscheidung zu treffen".[6]

Churchills Vorstellungen liefen auf eine Dreiteilung Deutschlands hinaus. Zum einen sollte Preußen das rheinisch-westfälische Industriegebiet im Westen und zusätzlich Gebiete im Osten verlieren, weil Preußen nach Churchills Auffassung das Land war, von dem der aggressive deutsche Militarismus seinen Ausgang genommen hatte. Er plädierte ferner für vollständige Abrüstung und Überwachung der industriellen Produktion. Zum anderen wollte er Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden und die Pfalz einer restituierten Donauföderation mit Österreich und Ungarn anschließen. Die Süddeutschen, so meinte er, waren weniger aggressiv und verdienten daher schonendere Behandlung; zusammen mit den Nachfahren der Habsburgermonarchie sollten sie ein Gegengewicht zu Preußen wie zur " Waffenschmiede" des Reiches im Nordwesten bilden.[7]

Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt hielt ebenfalls eine Aufteilung des Reiches für erforderlich. Auf der Konferenz von Teheran Ende November/Anfang Dezember 1943 erklärte er, das Ruhrgebiet, das Saargebiet sowie der Nord-Ostsee-Kanal einschließlich der Städte Hamburg und Kiel sollten auf Dauer unter internationale Verwaltung gestellt werden; aus dem restlichen Gebiet sollten fünf autonome Staaten gebildet werden: Preußen, Hannover mit weiteren norddeutschen Gebieten, Sachsen, Hessen und Süddeutschland.[8] Der Planungsstab des Treasury Department, für dessen Überlegungen Roosevelt viel Sympathie empfand, legte im September 1944 ein Programm vor, das die Pläne für internationale Mandatszonen dahingehend modifizierte, dass das Ruhrgebiet zusammen mit dem Rheinland eine solche Zone bilden sollte und der Nord-Ostsee-Kanal zusammen mit den nördlich davon gelegenen deutschen Territorien. Ostpreußen und Oberschlesien sollten an die Sowjetunion und Polen abgetreten werden, das Saargebiet und die Rheinpfalz an Frankreich. Das restliche Deutschland sollte in einen Nord- und einen Südstaat aufgeteilt werden.[9]

Entscheidung für die Einheit

Allerdings erhoben sowohl die Experten des britischen Foreign Office als auch eine Mehrheit der Deutschland-Planer des amerikanischen State Department schwerwiegende Bedenken gegen die Aufteilungspläne: Die Aufteilung würde, so fürchteten sie, einen nationalen Revanchismus hervorrufen, der die gleichen aggressiven Kräfte freisetzen würde wie in der Vergangenheit. Die künstlichen Nachfolgestaaten des Reiches könnten nur mit Gewalt aufrecht erhalten werden, und außerdem seien sie wirtschaftlich nicht lebensfähig. Für angemessen hielten die Briten nur die Abtretung Ostpreußens und Oberschlesiens an Polen sowie eine internationale Kontrolle des Ruhrgebiets und des Nord- Ostsee-Kanals. Die Amerikaner setzten demgegenüber ganz auf die Integration der deutschen Volkswirtschaft in die Weltwirtschaft; Kontrollen sollten ihrer Überzeugung nach auf ein unerlässliches Mindestmaß beschränkt bleiben.[10]

Churchill und Roosevelt hatten keine ausgearbeiteten Konzepte in der Tasche, als sie vom 4. bis zum

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 483

11. Februar 1945 in Jalta mit Stalin über die Nachkriegsordnung verhandelten. Der britische Außenminister Anthony Eden wollte sogar, um den Bedenken seiner Beamten Rechnung zu tragen, Entscheidungen in der Aufteilungsfrage zum gegenwärtigen Zeitpunkt bewusst vermeiden. Als Stalin verlangte, zumindest den Grundsatz der Aufteilung verbindlich zu beschließen, stimmten Churchill und Roosevelt zwar zu; Eden gelang es jedoch in der Beratung der Außenminister, eine Formulierung für die Kapitulationsurkunde durchzusetzen, die es offen ließ, ob die Siegermächte tatsächlich eine Aufteilung Deutschlands vornehmen würden. Es wurde beschlossen, "solche Maßnahmen " anzukündigen, "einschließlich der völligen Entwaffnung, Entmilitarisierung und der Zerstückelung Deutschlands, wie sie es für den zukünftigen Frieden und die Sicherheit für notwendig halten"[11].

Als die Kommission zur weiteren Beratung der Aufteilungsfrage, die die "Großen Drei" in Jalta eingesetzt hatten, Anfang März 1945 in London zusammentrat, weigerten sich die britischen Vertreter erneut, sich auf das Prinzip der Aufteilung festzulegen. Stalin schloss daraus, dass "die Engländer und die Amerikaner, die als erste die Frage der Aufgliederung Deutschlands aufwarfen, nunmehr die Verantwortung für die Aufgliederung auf die UdSSR abwälzen" wollten, "um unseren Staat in den Augen der internationalen Öffentlichkeit anzuschwärzen". Um ihnen diese Möglichkeit zu nehmen, wurde der sowjetische Vertreter in der Aufteilungskommission am 24. März 1945 angewiesen, die Aufteilung ebenfalls als lediglich "potentielle Perspektive für eine Druckausübung auf Deutschland" zu relativieren.[12] Aufteilungspläne wurden daraufhin in der Kommission nicht mehr verhandelt.

Spätestens Anfang Mai wurde aus der Entscheidung der Sowjetführung, nicht mehr auf die Aufteilung Deutschlands zu drängen, ein offensives Eintreten für die Wahrung der Einheit der bei Deutschland verbleibenden Gebiete. Am 9. Mai nutzte Stalin die offizielle Ansprache zur Kapitulation des Deutschen Reiches zu einem öffentlichen Bekenntnis zur deutschen Einheit: "Die Sowjetunion feiert den Sieg, auch wenn sie sich nicht anschickt, Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten."[13] Den KPD- Führern erklärte er bei einer Instruktion über strategische Fragen am 4. Juni, es gelte, die "Einheit Deutschlands [zu] sichern"[14].

Hinter diesem Positionswechsel stand nicht etwa die Hoffnung, nach dem erfolgreichen Vorstoß der Roten Armee bis nach Mitteldeutschland das ganze Land unter sowjetische Kontrolle bringen zu können. Stalin blieb nach Ausweis aller Quellen auch nach Kriegsende davon überzeugt, dass er zur definitiven Beseitigung der von Deutschland ausgehenden Gefahr auf die Kooperation mit den westlichen Verbündeten angewiesen war. Er fürchtete sogar, ähnlich wie Churchill, dieamerikanischen Truppen könnten sich ausDeutschland zurückziehen, "bevor die Hauptaufgaben der Besatzung - die Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands - vollendet"[15] seien. Da die Verbündeten offensichtlich vor der Verwirklichung der Aufteilungspläne zurückschreckten, musste Stalin sie aufgeben. Die Alternative eines Bruchs mit den Alliierten war umso weniger akzeptabel, als dann jede Garantie für eine Beseitigung der Wurzeln des Nationalsozialismus in den westlichen Besatzungszonen fehlte und der Zugang zu den dringend benötigten Reparationen aus dem Ruhrgebiet versperrt war. Die Wahrung der Einheit Deutschlands stellte für Stalin die zweitbeste Lösung des deutschen Problems dar; sie musste auf jeden Fall gegen die Gefahr einer Allianz des amerikanischen mit dem deutschen " Imperialismus" verteidigt werden, die er alsbald witterte.

Mit Stalins öffentlichem Bekenntnis zur deutschen Einheit waren die Aufteilungspläne vom Tisch. Harry S. Truman, der nach dem Tode Roosevelts am 12. April 1945 das amerikanische Präsidentenamt übernommen hatte, hielt noch einige Zeit an ihnen fest. Stalin ließ er Ende Mai mitteilen, dass er "der Aufgliederung Deutschlands zuneige"[16]. Bei der Vorbereitung der Konferenz von Potsdam konnten die Vertreter des State Department Einfluss auf den Präsidenten nehmen. Truman entschied, dass der Plan einer Abtrennung des Ruhrgebiets nicht weiter verfolgt werden sollte.[17] Seither hatte nur noch Churchill die Aufteilung Deutschlands im Blick. Er musste jedoch feststellen, dass die Angelegenheit nicht mehr vorankam. Eden bemerkte in der zweiten Juliwoche, kurz vor Beginn der Konferenz von Potsdam: "Der Premierminister, der in der Vergangenheit immer die Aufteilung befürwortet hat, beklagt sich wahrscheinlich ein wenig darüber, dass wir noch nicht einmal in unserer eigenen Prüfung und Beantwortung der Frage Fortschritte gemacht haben."[18]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 484

Von den Aufteilungsplänen blieb nur die Abtretung der Ostgebiete. Ihr genauer Umfang blieb allerdings umstritten, da Stalin der kommunistisch dominierten provisorischen Regierung Polens nach heftigen Auseinandersetzungen über die Abtretung der deutschen Gebiete östlich der Oder auch die Gebiete zwischen Oder und Lausitzer Neiße zugestanden hatte. Churchill und Roosevelt sperrten sich gegen eine solche Ausdehnung des polnischen Staates auf ganz Schlesien und die daraus vermutlich resultierende erhebliche Ausweitung der Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Folglich konnte in Jalta nur das Prinzip beschlossen werden, "dass Polen einen substantiellen Gebietszuwachs im Norden und Westen erhalten muss". Zum Umfang dieser Erwerbungen sollte die Meinung der provisorischen polnischen Regierung gehört werden, und die "endgültige Festlegung der Westgrenze Polens" sollte danach noch "bis zur Friedenskonferenz warten".[19] In der Sache hieß das, dass über den tatsächlichen Grenzverlauf zwischen Deutschland und Polen im Wesentlichen zwischen der polnischen und der sowjetischen Regierung entschieden werden würde.

Nachdem die polnische Regierung beim Anspruch auf ganz Schlesien geblieben war, ging der amerikanische Außenminister James F. Byrnes auf der Konferenz von Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945) auf die sowjetische Forderung nach Anerkennung der westlichen Neiße als Grenzlinie zwischen dem deutschen Besatzungsgebiet und Polen ein.[20] Sein britischer Kollege Ernest Bevin stimmte der neuen Grenzziehung in separaten Gesprächen mit dem polnischen Ministerpräsidenten Boleslaw Bierut zu.[21] Die Vereinbarung über die "Aussiedlung" der deutschen Bevölkerung im Protokoll der Potsdamer Konferenz schloss die Gebiete ein, die jetzt nach übereinstimmender Auffassung der Alliierten unter polnischer Verwaltung standen. Der Friedensvertragsvorbehalt hinsichtlich dieser Gebiete war nur noch formaler Natur.

Demokratisierung

Die implizite Verständigung über die Aufgabe der Teilungspläne verstärkte den Gleichklang in der Frage der inneren Umgestaltung Deutschlands. Stalin zog aus der Notwendigkeit einer Fortsetzung der Kooperation mit den westlichen Alliierten den nahe liegenden Schluss, dass eine sozialistische Revolution im besiegten Deutschland nicht auf der Tagesordnung stand. Ein "Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie", das die Moskauer Exilführung der KPD im Laufe des Jahres 1944 entwickelt hatte, durfte nicht veröffentlicht werden.[22] Stattdessen wurde den Kadern der kommunistischen "Initiativgruppen", die die Rote Armee bei der Übernahme ihres Besatzungsgebiets unterstützen sollten, vor ihrer Abreise aus Moskau im April 1945 erklärt, "die politische Aufgabe bestehe nicht darin, in Deutschland den Sozialismus zu verwirklichen oder eine sozialistische Entwicklung herbeiführen zu wollen. Dies müsse im Gegenteil als schädliche Tendenz verurteilt und bekämpft werden. Deutschland stehe vor einer bürgerlich-demokratischen Umgestaltung, die ihrem Inhalt und Wesen nach eine Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 sei. (...) Die Besatzungsmächte kämen nach Deutschland, um den Faschismus und Militarismus auszurotten und die notwendigen Maßnahmen für eine demokratische Wiedergeburt des deutschen Volkes zu treffen."[23]

Konzeptionell beruhte dieses Programm auf der Vorstellung, dass es möglich sein würde, die innere Ordnung der befreiten Länder an "den Prinzipien einer umfassenden Demokratie im Geiste der Volksfront" auszurichten. Majskij, der diese Formulierung in einem Grundsatzmemorandum vom Januar 1944 prägte, nunmehr als stellvertretender Außenkommissar, sah eine solche Ordnung für alle befreiten Länder von Frankreich bis Polen vor. Für die Länder, in denen die Demokratie noch nicht über stabile Grundlagen verfügte, plädierte er für "verschiedenartige Maßnahmen von außen, d.h. in erster Linie von Seiten der UdSSR, der USA und Englands", um ein "wahrhaft demokratisches System " zu schaffen.[24] Eine Ausarbeitung der Kommission zur Beratung der Friedensverträge und der Nachkriegsordnung, die am 15.November 1944 fertiggestellt wurde, sah Deutschland als Teil einer " dritten, neutralen Sphäre" in Europa, die von Norwegen bis Italien reichen sollte.

In der Überzeugung, "dass eine demokratische Staatsordnung der Länder eine der wesentlichsten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 485

Garantien für die Stabilität des Friedens" ist,[25] stimmte die Sowjetführung mit den westlichen Regierungen überein. Es war daher keineswegs nur ein Formelkompromiss, dass sich die "Großen Drei" in Potsdam auf eine "Vereinbarung über die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze" einigen konnten, die "für die Behandlung Deutschlands in der ersten Kontrollphase" gelten sollten. Die britischen Planer hatten in den Entwurf, der auf eine amerikanische Vorlage vom März 1945 zurückging, vier Ziele aufnehmen lassen, von denen sich der Alliierte Kontrollrat leiten lassen sollte: vollständige Entwaffnung und Beseitigung oder Kontrolle der Rüstungsindustrie; Belehrung der Deutschen über ihre Verantwortung für die Kriegsfolgen; Beseitigung der NSDAP und Unterbindung jeglicher nationalsozialistischer und militaristischer Propaganda; ferner die Schaffung der "Grundlagen für einen Rechtsstaat in Deutschland und für die schließliche friedliche Mitarbeit im internationalen Leben".[26] Das wurde von der sowjetischen Seite ebenso akzeptiert wie die Aufzählung der Elemente einer rechtsstaatlichen Ordnung: die Gewährung von Rede-, Presse- und Religionsfreiheit, die Achtung religiöser Einrichtungen und die Zulassung von Parteien und Gewerkschaften.[27]

Hinsichtlich der Organisation der Verwaltung und des politischen Lebens auf gesamtstaatlicher Ebene war es die sowjetische Seite, die für möglichst starke gesamtdeutsche Strukturen argumentierte. Während der amerikanische Entwurf vorsah, "vorläufig" noch keine deutsche Zentralregierung zu errichten, beantragte Molotow die "Errichtung einer zentralen deutschen Verwaltung, bestehend aus Sekretären für verschiedene Verwaltungszweige". Sie sollte unter der Leitung des Alliierten Kontrollrats arbeiten, die Tätigkeit der "Provinzialverwaltungen" koordinieren und so die "Erfüllung der Beschlüsse des Kontrollrats und die Ausübung von Funktionen sicherstellen, die mit der Lösung von Problemen gesamtdeutschen Charakters verbunden sind".[28] Da Bevin die Möglichkeit einer weitgehenden Dezentralisierung wahren wollte, wurde schließlich eine weniger kategorische Formulierung angenommen, wonach keine Zentralregierung errichtet, aber auf wichtigen Gebieten, insbesondere den schon von Molotow genannten Bereichen Außenhandel, Industrie, Finanz-, Transport- und Fernmeldewesen, "einzelne zentrale Verwaltungsbehörden" geschaffen werden sollten.

Trotz dieser Abschwächung war eine Grundlage für einen gemeinsamen Aufbau einer demokratischen Ordnung im besetzten Deutschland durch die Siegermächte geschaffen worden. Das gilt umso mehr, als in Potsdam auch eine weitgehende Einigung über die wirtschaftlichen Grundsätze gelang, die für die Behandlung Deutschlands gelten sollten. Man vereinbarte Richtlinien zur industriellen Abrüstung, zur Dezentralisierung der Wirtschaft durch die Zerschlagung von Kartellen, Syndikaten und Trusts, zur Umorientierung auf die Entwicklung der Landwirtschaft und einen industriellen Eigenbedarf für Friedenszwecke, zur Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit und zu den Zwecken der gemeinsamen Kontrolle der Wirtschaft durch die Besatzungsmächte. Dabei wurde festgehalten, dass der Lebensstandard der Deutschen dem Durchschnittsstandard aller europäischen Länder mit Ausnahme Großbritanniens und der Sowjetunion entsprechen sollte. Schließlich wurde vereinbart, unverzüglich Maßnahmen zur Wiederherstellung des Transportwesens, zur Steigerung der Kohleförderung und der landwirtschaftlichen Produktion sowie zur Instandsetzung von Wohnungen und öffentlichen Versorgungseinrichtungen zu ergreifen.[29]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 486 Bruchstellen

Der Konsens in der Frage der Demokratisierung Deutschlands war insofern oberflächlich, als die sowjetischen Führer und ihre Administratoren über keinerlei praktische Erfahrung mit dem Leben in einer Demokratie verfügten. Die Etablierung einer demokratischen Ordnung von außen, ohnehin ein schwieriges Unterfangen, war für sie daher noch schwerer zu realisieren als für ihre westlichen Verbündeten. Die sowjetischen Planer stellten zwar fest, dass die ideologische Umerziehung des deutschen Volkes "eine im höchsten Maße heikle Angelegenheit" darstelle;[30] die Kapitel "Schaffung eines demokratischen Regimes in Deutschland" und "Umerziehung des deutschen Volkes" in dem grundlegenden Memorandum zur Behandlung Deutschlands vom 9. März 1944 blieben jedoch unausgeführt.[31] Stattdessen wies Stalin ausgerechnet den deutschen Kommunisten und einer noch zu schaffenden "Partei der Werktätigen" nach marxistischem Klassenverständnis im Juni 1945 eine zentrale Rolle bei der Wahrung der deutschen Einheit und der "Vollendung der bürgerlich- demokratischen Revolution" zu.[32]

Zudem zeigten sich erhebliche Divergenzen zwischen den Alliierten hinsichtlich der von Deutschland zu leistenden Reparationen. Die Sowjetführung präsentierte in Jalta die Forderung nach Demontagen von Industrieanlagen und Lieferungen aus der laufenden Produktion in Höhe von jeweils zehn Milliarden US-Dollar (in Preisen von 1938) in einem Zeitraum von zehn Jahren. Die Hälfte davon sollte an die Sowjetunion gehen.[33] Angesichts der immensen Kriegszerstörungen, die sich nach amerikanischen Schätzungen auf 35,7 Milliarden Dollar beliefen (nach eigenen Berechnungen auf 128 Milliarden Dollar),[34] schien das eine vertretbare Forderung zu sein. In Moskau meinte man, dass sie die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht über Gebühr belasten würde. Roosevelt stimmte nach eingehender Befassung mit dem Vorschlag überein, "die Gesamtsumme von 20 Milliarden Dollar als Grundlage für die Diskussion in der Reparationskommission festzuhalten" und die Hälfte dieser Summe der Sowjetunion zuzuweisen.[35]

Die britische Führung befürchtete jedoch, dass die geforderten Summen die deutsche Leistungsfähigkeit überstiegen, und verweigerte in Jalta ihre Zustimmung. Unter dem Eindruck der Kriegszerstörungen im befreiten Europa griff diese Befürchtung im Sommer 1945 auch auf die amerikanische Führung über. Als die Reparationskommission Ende Juni zusammentrat, distanzierte sich der amerikanische Delegationsleiter Edwin B. Pauley von Roosevelts Zusage und beharrte auf dem Vorrang der Finanzierung von notwendigen Importen vor eventuellen Reparationslieferungen.[36] Auf Molotows Kompromissangebot in Potsdam, der Kontrollrat könne im Falle zu geringer Produktion über eine Kürzung der Reparationsleistungen und den Vorrang von Importfinanzierungen beschließen, gingen die beiden westlichen Außenminister nicht ein.[37]

Stattdessen setzten sie eine provisorische Reparationsregelung durch, die auf eine Ost-West-Teilung des Besatzungsgebiets hinauslief. Über die Höhe der insgesamt von Deutschland zu leistenden Reparationen wurde dabei noch nicht befunden. Die Feststellung des Umfangs der Demontagen wurde um ein halbes Jahr verschoben. Vereinbart wurde nur, dass die Sowjetunion ihre Reparationsansprüche sowie die Ansprüche Polens durch Entnahmen aus der SBZ und durch Zugriff auf deutsches Auslandsguthaben im Osten befriedigen sollte. Die westlichen Besatzungszonen und das entsprechende Auslandsguthaben sollten für Ansprüche der USA, Großbritanniens und weiterer berechtigter Länder zur Verfügung stehen. Außerdem sollte die Sowjetunion innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren zehn Prozent der industriellen Ausrüstung der Westzonen erhalten, die als "für die deutsche Friedenswirtschaft unnötig" angesehen wurde, und in einem Zeitraum von zwei Jahren weitere 15 Prozent gegen entsprechende Lieferungen von Nahrungsmitteln und anderen Produkten. Das letzte Wort bei der Definition des deutschen Bedarfs in Friedenszeiten sollten die Zonenkommandeure haben.[38] Obwohl beschlossen worden war, das Besatzungsgebiet grundsätzlich als wirtschaftliche Einheit zu behandeln, wurde damit einer separaten Organisation des Wirtschaftslebens in der sowjetischen Zone einerseits und den drei westlichen Besatzungszonen andererseits Vorschub geleistet.

Schließlich krankten die Potsdamer Vereinbarungen daran, dass die Franzosen nicht beteiligt waren.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 487

Frankreich war von Churchill in Jalta als vierte Besatzungsmacht durchgesetzt worden, um den Mangel an Besatzungsstreitkräften auszugleichen, der bei einem Abzug der Amerikaner drohte, und um ein militärisches Gegengewicht zur Roten Armee in Europa zu schaffen. Daraus hatte jedoch keine der drei Siegermächte den Schluss gezogen, dass die französische Regierung an den grundlegenden Entscheidungen über die Nachkriegsordnung Europas zu beteiligen wäre. Selbst Churchill war nicht auf die Idee gekommen, den französischen Regierungschef zur Konferenz von Potsdam einzuladen.

Das erwies sich insofern als verhängnisvoll, als die provisorische Regierung der Französischen Republik unter General de Gaulle sogleich nach der Bekanntgabe der Konferenzergebnisse erklärte, dass Frankreich als Mitglied des Alliierten Kontrollrats der Einrichtung deutscher Zentralverwaltungen erst dann zustimmen werde, wenn das Ruhrgebiet, das Saargebiet und das Rheinland zuvor in der gleichen Weise vom Besatzungsgebiet abgetrennt würden wie die Gebiete östlich von Oder und Neiße.[39] De Gaulle hielt es im Interesse der Sicherheit Frankreichs für notwendig, dass das Ruhrgebiet und das Rheinland "vom Rest Deutschlands in der Weise getrennt werden, dass ihre Bewohner wissen, dass ihre Zukunft nicht in Deutschland liegt". Um seine Ziele zumindest langfristig zu erreichen, nutzte de Gaulle die französische Vetomacht im Kontrollrat, um die Verwirklichung des Beschlusses zur Errichtung deutscher Zentralverwaltungen zu blockieren.[40]

Die Schwächen der Potsdamer Vereinbarungen ändern jedoch nichts daran, dass ihre Autoren sie zu verwirklichen gedachten. Die Siegermächte hatten zu jener Zeit eine gemeinsame Zukunft des im Osten territorial reduzierten deutschen Staates im Sinn. Dass es ihnen nicht gelang, sie durchzusetzen, steht auf einem anderen Blatt. 1945 war die Zukunft Deutschlands grundsätzlich noch offen.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 18-19/2005) - Die Deutschlandplanung der Sieger (http:// www.bpb.de/apuz/29074/die-deutschlandplanung-der-sieger)

Fußnoten

1. Die Erforschung der Deutschlandplanung der Siegermächte ist unterschiedlich weit gediehen. Eine moderne Gesamtdarstellung, die die Interaktionen zwischen den Siegermächten berücksichtigt, fehlt. Im Folgenden wird aus einer in Vorbereitung befindlichen größeren Studie zu diesem Thema zitiert. 2. Molotow an Majskij, 21.11. 1941, in: Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Hrsg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941 - 1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Bd. 1, Berlin 2004, S. 11f. 3. Majskij an Molotow, 5.12. 1941, ebd. S. 16 - 18. 4. Bericht "Zur Behandlung Deutschlands", 9.3. 1944, ebd. S. 333 - 364. 5. Notiz Molotows, 16.1. 1945, ebd. S.527; Wyschinski an Molotow, 17.1. 1945, ebd. S. 524. 6. Britisches Protokoll der Sitzung vom 5.2. 1945, in: Rolf Steininger (Hrsg.), Die Ruhrfrage 1945/46 und die Entstehung des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1988, S. 286 - 290. 7. So seine Ausführungen auf der Konferenz von Teheran, referiert bei Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1989, S. 234. 8. Sitzung vom 1.12. 1943, Foreign Relations of the [künftig: FRUS] 1943 Cairo and Tehran, S. 600 - 604. 9. Morgenthau Diary (Germany), Vol. I, Washington, D.C. 1967, S. 463 - 466. 10. Vgl. L. Kettenacker (Anm. 7), S. 165f. u. 169 - 180; Carolyn Woods Eisenberg, Drawing the line. The American decision to divide Germany, 1944 - 1949, Cambridge-New York 1996, S. 20. 11. FRUS Yalta, S. 656f. u. 978.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 488

12. Molotow an Gusew 24.3. 1945, in: J. P. Laufer/G. P.Kynin (Anm. 2), Bd. 1, S. 555. 13. Josef Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Moskau 1946, S. 219. 14. Sitzungsmitschrift von Wilhelm Pieck, veröffentlicht in: Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hrsg.), Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945 - 1953, Berlin 1994, S. 50 - 53. 15. So die Formulierung in einem Telegramm des sowjetischen Botschafters in Washington, Nikolai Nowikow, vom 27.9. 1946, zit. nach Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, S. 26; weitere Belege ebd., S. 17 - 35. 16. So sein Sonderbotschafter Harry Hopkins im Gespräch mit Stalin am 28.5. 1945, sowjetisches Protokoll in: J. P. Laufer/G. P. Kynin (Anm. 2), Bd. 2, Berlin 2004, S. 11 - 16. 17. FRUS Berlin II, S. 989. 18. Zit. n. L. Kettenacker (Anm. 7), S. 502. 19. FRUS Yalta, S. 974. 20. FRUS Berlin II, S. 480 u. 485. 21. Documents on British policy overseas. Series I, Vol.1: The Conference at Potsdam July-August 1945, London 1984, S. 976 - 980, 1003 - 1009, 1065 - 1068. 22. Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hrsg.), "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 99. 23. Notiert von Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, Taschenbuchausgabe München 1969, S. 288f. 24. Majskij an Molotow 11.1. 1944, in: J. P. Laufer/G. P.Kynin (Anm. 2), Bd. 1, S. 244 - 271, hier S. 259. 25. So Majskij in seinem Memorandum vom 11. 1. 1944, ebd., S.259. 26. Britische Fassung vom 11.6. 1945, FRUS 1945, III, S. 521f. 27. Text der schließlich als Abschnitt III des Konferenz-Kommuniqués veröffentlichten Vereinbarung in FRUS Berlin II, S. 1502ff.; zu den Verhandlungen in Potsdam Albrecht Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten 1941 - 1947, Frankfurt/M. 1987, S. 330 - 344. 28. FRUS Berlin II, S. 824. 29. Zu den Verhandlungen über diese Fragen vgl. A. Tyrell (Anm. 27), S. 563 - 572. 30. So Majskij an Molotow 11.1. 1944, in: J. P. Laufer/G. P.Kynin (Anm. 2), Bd. 1, S. 242. 31. Ebd. S. 364. 32. "Im Mittelpunkt Einheitliche Partei", notierte Pieck bei der Unterredung vom 4.6.1945; R. Badstübner/W. Loth (Anm. 14), S. 50. 33. FRUS Yalta, S. 620f. u. 630f. 34. Vgl. Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941 - 1945, Neuausgabe München 2000, S. 87. 35. FRUS Yalta, S. 901f. u. 978f. 36. Vgl. A. Tyrell (Anm. 27), S. 553 - 563. 37. FRUS Berlin II, S. 278 - 281 u. 811. 38. Artikel IV des Potsdamer Kommuniqués, FRUS Berlin II, S. 1505f. 39. Erklärung vom 7.8. 1945, FRUS Berlin II, S. 1551 - 1555; de Gaulle im Gespräch mit Truman 22. u. 24.8. 1945, FRUS 1945, IV, S. 709 - 725. 40. Vgl. seine Ausführungen im Gespräch mit seinen führenden außenpolitischen Mitarbeitern am 8.10. 1945, veröffentlicht bei R. Steininger (Anm. 6), S. 340f.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 489

Ost-West-Konflikt und deutsche Teilung

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 27.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Bereits am 6. September 1946 verkündete der amerikanische Außenminister Byrnes, man wolle dem deutschen Volk die Regierung wiedergeben und es wieder in die Reihe freien Völker aufnehmen. Dieses Versprechen hatte durchaus richtungsweisenden Charakter: Durch die Schaffung der Bizone und wirtschaftliche Unterstützung in Form des Marshall-Plans war die Spaltung Deutschlands vorprogammiert.

Einleitung

Das amerikanische Volk wünscht, dem deutschen Volk die Regierung zurückzugeben. Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedlichen Nationen der Welt." Mit diesen Worten schloss der amerikanische Außenminister James F. Byrnes eine Rede, die er am 6. September 1946 in Stuttgart hielt. An ihr war vieles ungewöhnlich. Das begann damit, dass zu dieser Veranstaltung im Großen Haus des Württembergischen Staatstheaters auch deutsche Politiker eingeladen waren. Zwar waren die meisten Anwesenden Amerikaner-Offiziere der Besatzungsmacht, Funktionäre der Militärregierung, Diplomaten und sogar zwei Senatoren aus Washington. Aber in der vordersten Reihe waren die Ministerpräsidenten der Länder der amerikanischen Zone, Reinhold Maier (Württemberg-Baden), Wilhelm Hoegner (Bayern) und Karl Geiler (Hessen), plaziert worden, dazu - mit einigem Abstand - deutsche Minister, Abgeordnete und Oberbürgermeister. Noch erstaunlicher war der entgegenkommende Tonfall dieser ersten Rede eines Außenministers der Besatzungsmächte in Deutschland nach der Kapitulation. Die Schlusssätze aber machten die Ansprache zu einer Sensation.

Außenminister Byrnes am 6. September 1946

[...] Ich hoffe, daß das deutsche Volk nie wieder den Fehler machen wird, zu glauben, daß das amerikanische Volk, gerade weil es den Frieden liebt, in der Hoffnung auf Frieden abseits stehen wird, wenn irgendeine Nation Gewalt anwendet oder mit Gewalt droht, um die Herrschaft über andere Völker oder Regierungen zu erlangen.

[...] Was wir wollen, ist ein dauerhafter Friede. Wir werden uns gegen zu harte und von Rachsucht diktierte Maßnahmen wenden, die einem wirklichen Frieden im Wege stehen. Wir werden uns zu milden Maßnahmen widersetzen, welche zum Bruch des Friedens einladen. [...]

Zweimal in einer Generation haben der deutsche Militarismus und der Nazismus die Gebiete von Deutschlands Nachbarn verwüstet. Es ist nur recht und billig, daß Deutschland sein Teil dazu beitragen soll, diese Verwüstungen wiedergutzumachen. [...]

Die Vereinigten Staaten sind daher bereit, die in den Potsdamer Beschlüssen über die Entmilitarisierung und die Reparationen niedergelegten Grundsätze in vollem Umfang durchzuführen. [...]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 490

Die Vereinigten Staaten werden nicht ihre Zustimmung geben, daß Deutschland größere Reparationen leisten muß, als in den Potsdamer Beschlüssen vorgesehen wurde. [...]

Die gerechte Verteilung der lebenswichtigen Güter zwischen den einzelnen Zonen mit dem Ziel, eine ausgeglichene Wirtschaft in ganz Deutschland herbeizuführen und den Einfuhrbedarf zu verringern, ist nicht in die Wege geleitet worden, obgleich die Potsdamer Beschlüsse auch dies ausdrücklich verlangten. Die Vorbereitung einer ausgeglichenen Wirtschaft in ganz Deutschland zur Beschaffung der für die Bezahlung der genehmigten Einfuhr erforderlichen Mittel ist nicht erfolgt, obgleich auch dies die Potsdamer Beschlüsse ausdrücklich verlangten.

Die Vereinigten Staaten sind der festen Überzeugung, daß Deutschland als Wirtschaftseinheit verwaltet werden muß und daß die Zonenschranken, soweit sie das Wirtschaftsleben und die wirtschaftliche Betätigung in Deutschland betreffen, vollständig fallen müssen.

Die jetzigen Verhältnisse in Deutschland machen es unmöglich, den Stand der industriellen Erzeugung zu erreichen, auf den sich die Besatzungsmächte als absolutes Mindestmaß einer deutschen Friedenswirtschaft geeinigt hatten. [...]

Für einen erfolgreichen Wiederaufbau Deutschlands ist eine gemeinsame Finanzpolitik wesentlich. Eine unkontrollierbare Inflation, begleitet von einer wirtschaftlichen Lähmung, ist fast mit Sicherheit zu erwarten, wenn keine gemeinsame Finanzpolitik zur Steuerung der Inflation besteht. [...]

Es ist auch notwendig, daß ein Verkehrs-, Nachrichten- und Postwesen in ganz Deutschland ohne Rücksicht auf Zonenschranken eingeführt wird. Der sich auf ganz Deutschland erstreckende Aufbau dieser öffentlichen Einrichtungen war in den Potsdamer Beschlüssen beabsichtigt. Zwölf Monate sind vergangen, und nichts ist geschehen. Deutschland benötigt die ganzen Nahrungsmittel, die es erzeugen kann. [...] Um die größtmögliche Erzeugung und die zweckmäßigste Verwendung und Verteilung der Nahrungsmittel, die erzeugt werden können, sicherzustellen, müßte eine zentrale Verwaltungsstelle für Landwirtschaft geschaffen werden und unverzüglich mit der Arbeit beginnen.

Ebenso ist die Schaffung einer zentralen deutschen Verwaltungsstelle für Industrie und Außenhandel dringend notwendig. Deutschland muß bereit sein, seine Kohle und seinen Stahl mit den befreiten Ländern Europas zu teilen, die von diesen Lieferungen abhängig sind. Deutschland muß andererseits in die Lage versetzt werden, seine Fähigkeiten und Kräfte der Steigerung seiner industriellen Produktion dienstbar zu machen und für die zweckmäßigste Verwendung seiner Rohstoffe Sorge tragen zu können.

Deutschland muß die Möglichkeit haben, Waren auszuführen, um dadurch so viel einführen zu können, daß es sich wirtschaftlich selbst erhalten kann. Deutschland ist ein Teil Europas. Die Gesundung in Europa und besonders in den Nachbarstaaten Deutschlands wird nur langsam voranschreiten, wenn Deutschland mit seinen großen Bodenschätzen an Eisen und Kohle in ein Armenhaus verwandelt wird. [...]

Die Vereinigten Staaten treten für die baldige Bildung einer vorläufigen deutschen Regierung ein. [...]

Die amerikanische Regierung steht auf dem Standpunkt, daß die vorläufige Regierung nicht von anderen Regierungen ausgesucht werden soll, sondern daß sie aus einem deutschen Nationalrat bestehen soll, der sich aus den nach demokratischen Prinzipien verantwortlichen Ministerpräsidenten oder anderen leitenden Beamten der verschiedenen Länder zusammensetzt, die in jeder der vier Zonen gebildet worden sind.

[...]

Ernst-Ulrich Huster/Gerhard Kraiker/ Burkhard Scherer u.a., Determinanten der westdeutschen Restauration 1945-1949, Frankfurt a. M. 1972, S. 309 ff. Quellentext

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 491

Wende im amerikanisch-deutschen Verhältnis

Die Rede weckte Hoffnungen. Sie wurde als Abkehr von der bisherigen Besatzungspolitik verstanden und als Zeichen eines Neubeginns. Zwar änderte sich an der Besatzungspolitik, wie sie von den Alliierten schon vor Kriegsende vereinbart worden war, im Grundsatz nichts. Die Stuttgarter Rede war insofern keine Zäsur. Aber sie markierte vor der Weltöffentlichkeit eine Wende im Verhältnis der Amerikaner zu den Deutschen. Diese hatte, für die meisten nicht wahrnehmbar, schon einige Monate vorher eingesetzt. Wenige Wochen nach dem Stuttgarter Auftritt des amerikanischen Außenministers, am 22. Oktober 1946, betonte sein britischer Kollege Ernest Bevin vor dem Unterhaus des Parlaments die "fast völlige Übereinstimmung" Londons mit dem Inhalt der Rede.

Im ersten Besatzungsjahr hatten die westlichen Alliierten großen Wert darauf gelegt, die Deutschen spüren zu lassen, dass mit der Besatzung weitreichende Absichten verbunden waren: Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Bestrafung der Schuldigen am Weltkrieg und an den Greueltaten des NS-Regimes, Wiedergutmachung der von Deutschland verursachten Schäden und Demokratisierung durch "Umerziehung". Die US-Truppen beispielsweise hatten Weisung, "gerecht, aber fest und unnahbar" zu sein. Verbrüderung mit Deutschen (darunter fiel schon Händeschütteln) war verboten.

In Amerika hatten kirchliche und karitative Organisationen sowie Privatleute freilich schon vor der offiziellen Trendwende begonnen, "Care-Pakete", gefüllt mit Gebrauchs- und Nahrungsmitteln des täglichen Bedarfs, in das notleidende Nachkriegsdeutschland zu senden. Die Amerikaner erweckten wegen ihres Reichtums, ihrer Prinzipientreue, ihrer Generosität und Naivität bald die Bewunderung und Sympathie der Deutschen, die Briten und Franzosen traten dagegen eher wie Kolonialtruppen auf. Politisch allerdings gaben die Amerikaner, schon wegen ihrer wirtschaftlichen Potenz, im Westen den Ton an. Die Rote Armee hatte bei der deutschen Bevölkerung den schlechtesten Ruf und war besonders wegen der Willkür ihrer Besatzungsherrschaft gefürchtet.

Bizone als Vorläuferin des Weststaats

Die französischen Sonderwünsche und die auf die Durchsetzung ihrer Reparationsforderungen konzentrierte sowjetische Politik hatten sich im ersten Besatzungsjahr als die stärksten Hindernisse für eine Verwirklichung der Beschlüsse der Konferenz von Potsdam erwiesen. Nach den Vereinbarungen vom Sommer 1945 sollte wenigstens die wirtschaftliche Einheit der vier Besatzungszonen so lange aufrechterhalten werden, bis in einem Friedensvertrag die deutsche Frage eine endgültige Lösung fände. Diesen Friedensvertrag sollten die Außenminister der vier alliierten Mächte gemeinschaftlich vorbereiten.

Auf der Pariser Außenministerkonferenz, dem zweiten Treffen dieses Gremiums, drängte US- Außenminister Byrnes Ende April 1946 entschieden auf die Realisierung der Potsdamer Vereinbarungen; er hatte sogar einen Termin für den Beginn der Friedensverhandlungen mit Deutschland vorgeschlagen, den 12. November 1946. Aber die Außenministerkonferenz zeigte sich dazu nicht in der Lage. Sie schleppte sich (mit einer Pause von vier Wochen) von April bis Juli 1946 dahin und erschöpfte sich in ergebnislosen Debatten mit dem sowjetischen Außenminister Molotow, der auf seinen Reparationsforderungen beharrte.

Am vorletzten Tag der Pariser Konferenz, dem 11. Juli 1946, lud Byrnes die drei anderen Besatzungsmächte ein, ihre Zonen mit der amerikanischen wirtschaftlich zu verschmelzen. In Paris und Moskau wurde das amerikanische Angebot abgelehnt; London stimmte erwartungsgemäß zu. Als Minimallösung ergab sich daraus die Fusion des amerikanischen und britischen Besatzungsgebiets zur "Bizone".

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 492

Ablehnung des Marshallplans

Schlußerklärung des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow auf der Pariser Konferenz der Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion über den Marshallplan am 2. Juli 1947

Die Sowjetunion hat sich mit dem Vorschlag der französischen Delegation vom 1. Juli eingehend befaßt. Wie der vorausgegangene Antrag der britischen Delegation, so stellt auch der französische Entwurf die Aufgabe, ein Wirtschaftsprogramm für ganz Europa aufzustellen, obwohl die meisten europäischen Länder bekanntlich noch keine eigenen staatlichen Wirtschaftsprogramme haben. Zu dem Zweck, ein solches umfassendes europäisches Programm aufzustellen, wird vorgeschlagen, eine besondere Organisation zu schaffen, die den Auftrag erhält, die Hilfsquellen und Erfordernisse der europäischen Staaten zu ermitteln und sogar die Entwicklung der wichtigsten Industriezweige in diesen Ländern festzulegen, um dann erst die Möglichkeit der Gewährung einer amerikanischen Wirtschaftshilfe zu klären.

[...] Aus den Aufgaben, die dieser Organisation oder dem "leitenden Ausschuß" gestellt werden, geht aber ganz klar hervor, daß die europäischen Länder unter Kontrolle gestellte Staaten sein und ihre frühere wirtschaftliche Selbständigkeit und nationale Unabhängigkeit einigen starken Mächten zuliebe einbüßen werden. [...] Wohin kann das führen?

Heute wird man auf Polen drücken können: Erzeuge mehr Kohle, wenn auch auf Kosten der Einschränkung anderer polnischer Industriezweige, weil gewisse europäische Länder daran interessiert sind; morgen wird man sagen, es sei notwendig, von der Tschechoslowakei eine Erhöhung ihrer landwirtschaftlichen Produktion und eine Einschränkung ihres Maschinenbaus zu verlangen, und wird vorschlagen, die Tschechoslowakei solle Maschinen aus anderen europäischen Ländern beziehen, die ihre Waren zu möglichst hohen Preisen losschlagen möchten. [...]

Die Sowjetregierung [...] kann niemandem dabei behilflich sein, seine Angelegenheiten auf Kosten anderer, auf Kosten minder starker oder kleiner Staaten zu ordnen, da das mit normaler Zusammenarbeit zwischen den Staaten nichts gemein hat. [...] Sie lehnt daher diesen Plan ab, da er völlig unbefriedigend ist und keine positiven Resultate ergeben kann. [...]

Helga Grebing/Peter Pozorski/Rainer Schulze, Die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland 1945 -1949, a) Die wirtschaftlichen Grundlagen, Stuttgart 1980, S. 98 ff.

Maßgeblichen Anteil an dem Projekt hatte General Lucius D. Clay. Er war, obwohl damals erst Stellvertreter des US-Militärgouverneurs, der entscheidende Mann in der US-Zone. Um Deutschland lebensfähig zu erhalten, hatte er frühzeitig dafür plädiert, Schritte zugunsten der Wirtschaftseinheit und sogar einer provisorischen Regierung Deutschlands zu tun. So weit wollten die Regierungen in Washington und London aber noch nicht gehen, als am 2. Dezember 1946 die beiden Außenminister Bevin und Byrnes in New York das Fusionsabkommen unterzeichneten. In Kraft trat es am 1. Januar 1947.

Die beiden Besatzungsmächte waren sehr darauf bedacht, das Provisorische des Zonenzusammenschlusses und seine ausschließlich wirtschaftlichen und administrativen Zwecke zu betonen. Ziel war es, bis Ende 1949 die ökonomische Unabhängigkeit der Doppelzone herzustellen. Die Vereinbarung sollte jährlich überprüft werden und gelten, bis eine Einigung der Alliierten über die Behandlung ganz Deutschlands als Wirtschaftseinheit zustande käme. Tatsächlich erwies sich der Zusammenschluss der amerikanischen und britischen Zone jedoch als der erste Schritt zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland: Die Bizone entwickelte sich in drei Phasen im Laufe von zweieinhalb Jahren zum Modell des künftigen Weststaats.

Moskauer Außenministerkonferenz

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 493

Das offenkundige Unvermögen der Großmächte, sich über die deutsche Frage zu einigen, zeigte sich bei der Außenministerkonferenz in Moskau im Frühjahr 1947. Die Sowjets beharrten wieder auf ihren Reparationsforderungen und verlangten unter anderem die Auflösung der Bizone, die Franzosen wünschten weiterhin die Abtrennung des Ruhr- und des Saargebiets von Deutschland.

Dass der Konferenzbeginn mit der Verkündung der "Truman-Doktrin" (12. März 1947) zusammenfiel, war symptomatisch für das Verhältnis der beiden Weltmächte USA und UdSSR und programmierte das Scheitern der Gespräche. Die im Blick auf die kommunistische Infiltration Griechenlands und der Türkei formulierte Erklärung des amerikanischen Präsidenten, dass Amerika entschlossen sei, "freien" Ländern materielle Hilfe bei einer Bedrohung ihrer Freiheit zu leisten, markierte den Beginn der amerikanischen "Containment-Politik", mit der kommunistische Offensiven "eingedämmt" und Moskau langfristig bewogen werden sollte, von seiner unnachgiebigen Statusquo-Politik abzurücken. Die Partnerschaft im Kampf gegen Hitler war der Konfrontation im "Kalten Krieg" gewichen.

Am Ende der gescheiterten Moskauer Konferenz verständigten sich Amerikaner und Briten dahin, die Bizone zu einem lebensfähigen Gebilde auszubauen, das sich selbst versorgen könne. Im Juni 1947 erfolgte die Zusammenfassung der bizonalen Organe in Frankfurt am Main. Als Lenkungsorgan der "Verwaltungen" der Bizone (für Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, Post- und Fernmeldewesen, Finanzen, Wirtschaft) mit jeweils einem Direktor an der Spitze fungierte ein Exekutivrat aus Vertretern der acht Länder der Bizone, und mit dem "Wirtschaftsrat" gab es ein Parlament, dessen 52 Abgeordnete von den Landtagen der Länder gewählt wurden.

Nach einer weiteren Reform (bei der der Wirtschaftsrat auf 104 Abgeordnete vergrößert wurde) war ab Anfang 1948 diese gemeinsame Organisation der beiden Zonen perfekt. Die "Vorform" der Bundesrepublik war entstanden. Lediglich die Bezeichnungen vermieden noch den politischen Anstrich: Die Direktoren der Verwaltungen hießen nicht Minister, der "Oberdirektor" durfte sich nicht "Kanzler" nennen, und die Gesetzgebung des Parlaments unterstand der Genehmigung der amerikanischen und der britischen Militärregierung.

Münchener Ministerpräsidentenkonferenz

Der Zusammenschluss der beiden Zonen zum "Vereinigten Wirtschaftsgebiet" (so der offizielle Name des Gebildes) vertiefte die Kluft zu den beiden anderen Besatzungszonen. Wie weit auseinander man war, zeigte die Münchener Ministerpräsidentenkonferenz, die zum Symbol der deutschen Teilung wurde. Der bayerische Ministerpräsident lud am 7. Mai 1947 seine Kollegen aus allen vier Zonen zu Beratungen nach München ein. Als Ergebnis sollten Vorschläge an die Militärregierungen formuliert werden, "um ein weiteres Abgleiten des deutschen Volkes in ein rettungsloses wirtschaftliches und politisches Chaos zu verhindern". Es ging um das ökonomische und soziale Elend (Wohnungsnot, Hunger, Flüchtlingsprobleme), und der Gastgeber erhoffte auch politische Wirkungen im Sinne einer Zusammenarbeit der Länder, der Stärkung künftiger föderalistischer Strukturen.

Die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats durch die Vereinigung der vier Besatzungszonen war nicht beabsichtigt, dazu hatten die Ministerpräsidenten weder die Kompetenz noch die politische Macht. Sie waren 1947 eher Befehlsempfänger als Partner der alliierten Militärgouverneure, bei diesen lag die Macht und die Regierungsbefugnis über Deutschland. Die Amerikaner und Briten hatten keine Einwände gegen den Plan der Ministerpräsidentenkonferenz erhoben, der französische Militärgouverneur aber hatte nur unter der Voraussetzung zugestimmt, dass keine politischen Themen sondern lediglich wirtschaftliche Angelegenheiten erörtert würden. Ein so unpolitisches Konferenzprogramm bedeutete aber von vornherein fastzwangsläufig die Ausgrenzung der sowjetischen Besatzungszone, denn deren Vertreter hatten Ende Mai 1947 vorgeschlagen, den Teilnehmerkreis der Konferenz durch Vertreter von Parteien und Gewerkschaften zu erweitern und "in den Mittelpunkt der Tagesordnung die Schaffung der wirtschaftlichen und politischen Einheit Deutschlands zu stellen". Überdies wollten sie den Tagungsort nach Berlin verlegt wissen. Dieser von

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 494 der Sowjetischen Militäradministration inspirierte Wunsch entsprach aber weder den föderalistischen Intentionen des bayerischen Gastgebers noch den Vorstellungen der Franzosen.

Die gesamtdeutsche Begegnung war also im Grunde schon gescheitert, ehe sie begann und ehe - zur Überraschung der Westdeutschen - die fünf Ministerpräsidenten aus der Ostzone am Abend des 5. Juni in München erschienen (Anstelle des erkrankten sächsischen Ministerpräsidenten kam dessen Stellvertreter). Man setzte längst keine Erwartungen mehr in ihr Kommen und mißtraute ihnen, weil man sie für Handlanger der Sowjets hielt.

In stundenlangem Streit um die Tagesordnung kamen sich beide Seiten nicht näher. Das von der westlichen Seite angebotene feierliche Bekenntnis zur deutschen Einheit war der östlichen Delegation zuwenig, sie beharrte auf der sofortigen "Bildung einer deutschen Zentralverwaltung, die selbstverständlich eine Verständigung der demokratischen Parteien und Gewerkschaften zur Schaffung eines deutschen Einheitsstaates mit dezentralisierter Selbstverwaltung beinhalte".

Die Vertreter von Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg und Sachsen verließen den Konferenztisch und reisten ab; ihre Kollegen aus den drei Westzonen verfassten daraufhin ein Pressekommuniqué, in dem sie von einem Theatercoup sprachen und den Länderchefs der Ostzone alle Schuld zuwiesen. Die Ministerpräsidenten der drei Westzonen behandelten am 6. und 7. Juni 1947, wie vorgesehen, in ihrer Konferenz die folgenden Themen: "Ernährungsnot, Wirtschaftsnot, Flüchtlingsnot".

Rechtfertigungsversuche - auch für die starre Haltung der Westseite - gab es in der Folge reichlich in beiden Lagern, sie bewiesen aber vor allem, dass die Spaltung Deutschlands längst Realität war und dass die Münchener Ministerpräsidentenkonferenz weder das Forum zur Verhinderung noch zur Herbeiführung der deutschen Einheit hätte sein können.

Marshall-Plan

Zum außenpolitischen Konzept Amerikas, das nun eindeutig auf Europa zentriert war, gehörte der im Juni 1947 vom neuen amerikanischen Außenminister George C. Marshall entwickelte Plan eines großzügigen wirtschaftlichen Hilfsprogramms (European Recovery Program - vgl. auch S. 46), das auch der Sowjetunion und den Staaten des Ostblocks offeriert wurde. Moskau lehnte - nicht unerwartet - Anfang Juli 1947 auf der Pariser Marshall-Plan-Konferenz die ERP-Hilfe ab und verbot auch den Ländern seines Einflussgebiets (einschließlich der Tschechoslowakei) die Annahme. Andererseits ordnete sich jetzt Frankreich, das dringend auf die amerikanische Hilfe angewiesen war, in die westliche Phalanx ein und ließ die Bereitschaft zu einer konstruktiveren Deutschlandpolitik erkennen.

Die Hoffnungen, die in Deutschland an das fünfte Treffen der Außenminister in London (25. November bis 15. Dezember 1947) geknüpft wurden, waren unter diesen Umständen von vornherein aussichtslos gewesen. Die Konferenz war kaum mehr als ein Schlagabtausch, bei dem Molotow den Amerikanern und Briten vorwarf, sie wollten Deutschland mit Hilfe des Marshall-Plans wirtschaftlich versklaven und politisch spalten; die Außenminister Amerikas und Großbritanniens machten dagegen auf die Vorläufigkeit der Grenzen im Osten Deutschlands, insbesondere auf das Provisorium der "polnischen Verwaltung" der deutschen Ostgebiete, aufmerksam. Am Ende der ergebnislos abgebrochenen Konferenz war man gründlich zerstritten und nur darüber einer Meinung, dass die Fortsetzung der in Potsdam beschlossenen Außenminister-Konferenzen vorläufig zwecklos sei.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 259) - Ost-West-Konflikt und deutsche Teilung (http://www.bpb.de/izpb/10073/ost-west-konflikt-und-deutsche-teilung)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 495

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 496

Ursachen und Entstehung des Kalten Krieges

Von Manfred Görtemaker 15.4.2005 Manfred Görtemaker, geboren 1951, ist Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt 19./20. Jahrhundert an der Universität Potsdam. Er ist Verfasser des Buchs "Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland".

Die Spannungen zwischen den USA und der UdSSR nahmen nach Kriegsende kontinuierlich zu. Der Streit um die Zukunft Deutschlands und Reibungen auf globaler Ebene waren hierfür ausschlaggebend. Sowohl auf amerikanischer, als auch auf sowjetischer Seite wurde die ideologische und politische Spaltung mehr und mehr wahrgenommen – und forciert.

Einleitung

Die Zusammenarbeit zwischen Ost und West erwies sich schon bald nach Kriegsende aufgrund der machtpolitischen und weltanschaulichen Gegensätze als kompliziert und mühselig. Ein Beispiel dafür war die Entwicklung in Deutschland, wo die Konflikte zwischen den Besatzungsmächten über die gemeinsame Verwaltung rasch zunahmen.

Konflikte gab es vor allem wegen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung, die die Sowjetische Militäradministration (SMAD) bereits unmittelbar nach Kriegsende in ihrer Besatzungszone einleitete und bei der schrittweise auch jegliche politische Opposition rigoros ausgeschaltet wurde. Diese Entwicklung, zu der unter anderem im April 1946 die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED gehörte, wurde von den westlichen Besatzungsmächten mit wachsender Sorge beobachtet, zumal die SMAD ihre Politik weitgehend gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzte. Der unaufhörliche Flüchtlingsstrom von Osten nach Westen zeigte dies deutlich.

"Eiserner Vorhang"

Churchills Telegramm an Präsident Truman, 12. Mai 1945

Die Lage in Europa beunruhigt mich zutiefst. [...] Die Zeitungen sind voll von Nachrichten über den massiven Abzug der amerikanischen Armeen aus Europa hinaus. Auch unsere Armeen dürften auf Grund früherer Beschlüsse wesentlich reduziert werden. Die kanadische Armee zieht bestimmt ab. Die Franzosen sind schwach und schwer zu behandeln. Es liegt offen zutage, daß unsere bewaffnete Macht auf dem europäischen Kontinent binnen kurzem dahinschwinden wird und dort nur noch bescheidene Kräfte zur Niederhaltung Deutschlands verbleiben.

[...] Ich habe mich stets um die Freundschaft der Russen bemüht; aber ihre falsche Auslegung der Jalta-Beschlüsse, ihre Haltung gegen Polen, ihr überwältigender Einfluß auf dem Balkan bis hinunter nach Griechenland, die uns von ihnen in Wien bereiteten Schwierigkeiten, die Verkoppelung ihrer Macht mit der Besetzung und Kontrolle so ungeheurer und weiter Gebiete, die von ihnen inspirierte, kommunistische Taktik in so vielen anderen Ländern und vor allem ihre Fähigkeit, lange Zeit große Armeen im Felde stehen zu lassen, beunruhigen mich ebensosehr wie Sie. Wie wird sich die Lage in ein bis zwei Jahren darstellen, wenn die britischen und amerikanischen Armeen nicht mehr existieren und die Franzosen noch keine beachtliche Armee aufgestellt haben, so daß wir nur über eine Handvoll Divisionen, davon die Mehrzahl französischer, verfügen, während Rußland zwei- bis dreihundert unter

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 497 den Fahnen hält?

3. Ein eiserner Vorhang ist vor ihrer Front niedergegangen. Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht. Es ist kaum zu bezweifeln, daß der gesamte Raum östlich der Linie Lübeck-Triest-Korfu schon binnen kurzem völlig in ihrer Hand sein wird. Zu all dem kommen noch die weiten Gebiete, die die amerikanischen Armeen zwischen Eisenach und der Elbe erobert haben, die aber, wie ich annehmen muß, nach der Räumung durch Ihre Truppen in ein paar Wochen gleichfalls der russischen Machtsphäre einverleibt sein werden. General Eisenhower wird alle nur möglichen Maßnahmen treffen müssen, um eine zweite Massenflucht der Deutschen nach Westen zu verhindern, wenn dieser enorme moskowitische Vormarsch ins Herz Europas erfolgt. [...] Damit werden uns russisch besetzte Territorien von vielen hundert Kilometer Tiefe wie ein breites Band von Polen abschneiden. [...]

Quelle: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Weltkriege und Revolutionen 1914-1945, Geschichte in Quellen, S. 574 f.

Spannung in Deutschland

Die in Potsdam geschaffenen Gremien für eine gemeinsame Besatzungsherrschaft konnten diese zunehmende Entfremdung zwischen der Sowjetunion und den Westmächten in der Deutschlandpolitik nicht aufhalten. Der Alliierte Kontrollrat, die Berliner Alliierte Kommandantur und der Rat der Außenminister waren im Gegenteil kaum mehr als Spiegelbilder der sich allmählich vollziehenden Spaltung. Da alle Beschlüsse einstimmig zu fassen waren, konnte jede der Vier Mächte durch ihr Veto Entscheidungen verhindern. Diese Situation wurde zunächst vor allem von Frankreich, das bei den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam nicht beteiligt gewesen war, dazu benutzt, ihre Ablehnung jeglicher Bestrebungen, die auf eine Überwindung der Teilung Deutschlands hinauslaufen konnten, deutlich zu machen. Aber auch die Sowjetunion nutzte das Veto-Recht, indem sie zum Beispiel durch ihr Beharren auf hohen Reparationsleistungen und eine Vier-Mächte-Kontrolle des Ruhrgebietes Fortschritte in der Einigungsfrage verhinderte.

Mehr als deutlich wurde die wachsende Konfrontation im Mai 1946, als der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay auf eigene Faust die Lieferung von Demontagen aus der amerikanischen Zone an die Sowjetunion einstellen ließ. Hintergrund war das Ausbleiben von Lebensmittellieferungen aus den landwirtschaftlichen Gebieten der Sowjetischen Besatzungszone - dem agrarischen Osten Deutschlands - an die drei Westzonen, wie sie auf der Potsdamer Konferenz vereinbart worden waren. Briten, Amerikaner und Franzosen hatten deshalb die Bevölkerung in ihren Zonen, in denen es keine ausreichenden landwirtschaftlichen Anbaumöglichkeiten gab, durch Einfuhren aus ihren Heimatländern ernähren müssen und damit indirekt die deutschen Reparationen an die Sowjetunion bezahlt.

Die Sowjetunion reagierte auf die Maßnahme Clays nicht nur mit einer ersten großen Propagandakampagne gegen die amerikanische Politik, sondern verstärkte auch noch ihre Obstruktion jeglicher Gemeinsamkeit in der Besatzungspolitik. Die USA und Großbritannien sahen sich deshalb veranlaßt, ihre beiden Zonen zum 1. Januar 1947 zur "Bizone" zusammenzulegen und mit dem Aufbau einer neuen politischen Ordnung in Westdeutschland zu beginnen. Die Weichen für die Teilung Deutschlands wurden damit bereits frühzeitig gestellt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 498 Differenzen in Osteuropa

Andere Probleme, die die Ost-West-Beziehungen belasteten, traten nun ebenfalls in ein kritisches Stadium: In Osteuropa drängten kommunistische Kräfte, gestützt durch die übermächtige Präsenz der Roten Armee, mittels polizeistaatlicher Methoden und unter Ausschaltung politisch Andersdenkender immer rücksichtsloser an die Macht. Freie Wahlen, wie Stalin sie noch in Jalta versprochen hatte, fanden nicht mehr statt oder wurden manipuliert - wie die Stimmabgabe in Polen im Januar 1947. Offenbar war das Verständnis von "Demokratie", "Freiheit" und "Selbstbestimmung" in Ost und West grundverschieden. Der frühere britische Premierminister Churchill sprach deshalb bereits im März 1946 in einer Rede in Fulton im amerikanischen Bundesstaat Missouri in Anwesenheit Präsident Trumans davon, daß in Europa ein "Eiserner Vorhang" niedergegangen sei. Tatsächlich gerieten Albanien, Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn und schließlich im Februar 1948 auch die Tschechoslowakei völlig unter sowjetische Kontrolle, während es Ministerpräsident Tito in Jugoslawien gelang, den sowjetischen Einfluß in Grenzen zu halten.

Spannungen und Konflikte gab es ebenfalls im Iran, in der Türkei und im Mittelmeerraum. Im Iran weigerte sich die Sowjetunion 1945/46, die während des Krieges besetzten nördlichen Provinzen vertragsgemäß zu räumen, und ließ hier statt dessen eine sowjetfreundliche Republik Persisch- Aserbeidschan ausrufen. Erst die Einschaltung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und starker Druck der USA zwangen Moskau schließlich zum Rückzug. In der Türkei meldete die Sowjetunion Ansprüche auf das Gebiet von Kars und Ardahan an, das früher einmal zum russischen Zarenreich gehört hatte. Und im Mittelmeer forderte Stalin sowohl eine Revision der Konvention von Montreux über die Meerengen (und damit eine sowjetische Mitkontrolle des Bosporus und der Dardanellen) als auch sowjetischen Einfluß in den ehemaligen italienischen Kolonien in Nordafrika.

Den 1946 vorgelegten amerikanischen Baruch-Plan, der - ohne einen Zeitpunkt festzulegen - die Übergabe aller Atomwaffen an eine neu zu schaffende internationale Behörde für Atomentwicklung und die anschließende Überwachung sämtlicher Atomenergievorhaben vorsah, lehnte Stalin dagegen als "Trick" zur Aufrechterhaltung des amerikanischen Atombombenmonopols ab. Tatsächlich arbeitete die UdSSR inzwischen längst selbst erfolgreich an einem Programm zur Entwicklung von Atombomben und befürchtete daher, durch eine Verwirklichung des Baruch-Plans am Bau eigener Atombomben gehindert zu werden. Dagegen könnte es den USA gelingen, auf dem Umweg über eine westlich dominierte oder jedenfalls nicht von der Sowjetunion zu kontrollierende internationale Behörde ihr Monopol zu bewahren.

Alle diese Vorgänge zusammen lösten in der westlichen Öffentlichkeit Enttäuschung und Ernüchterung aus. Stalin ließ sich offenbar weder durch politischen oder wirtschaftlichen Druck noch durch die Tatsache des amerikanischen Atombombenmonopols dazu bringen, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu achten, freie Wahlen zuzulassen und seine Politik der "Sowjetisierung" einzuschränken. Die Bereitschaft, weiterhin mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten, wurde deshalb rasch geringer. Der Ton zwischen Ost und West verschärfte sich. Schon im Januar 1946 stellte der amerikanische Außenminister James F. Byrnes inoffizielle Kontakte mit sowjetischen Diplomaten ein. Stalin sprach wenig später, im März 1946, von "Hetzern des Dritten Weltkrieges", die auf westlicher Seite gegen die Sowjetunion agierten. Der Ost-West-Konflikt hatte begonnen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 499 Neue US-Außenpolitik

Nach 1945 geriet die Truman-Regierung jedoch nicht nur durch die Politik Stalins unter Druck. Isolationistische Stimmen in den USA, die einen Rückzug der mehr als 2,2 Millionen amerikanischen Soldaten von den Fronten des Zweiten Weltkrieges forderten, wurden immer lauter. Viele Amerikaner hatten das Eingreifen der USA in den Zweiten Weltkrieg ohnehin nur als ein befristetes Engagement außerhalb der eigenen Hemisphäre begriffen und vereinigten sich nun zu dem Ruf: "Bring the boys back home".

Die amerikanische Regierung hatte deshalb bereits unmittelbar nach Kriegsende den Truppenrückzug eingeleitet, so daß sich die Zahl der in Europa stationierten amerikanischen Soldaten schon 1946 auf 400000 verringerte. Allerdings wuchsen damit bei Truman und seinen Beratern die Bedenken gegenüber der militärischen Überlegenheit der Sowjetunion, die auf dem europäischen Kontinent weiterhin über mehr als vier Millionen Soldaten verfügte. Ein völliger Abzug der US-Streitkräfte, so schien es, würde das vom Krieg geschwächte Europa der sowjetischen Übermacht ausliefern. Die Vereinigten Staaten besaßen zwar die Atombombe, die sich als Druckmittel gegen die Sowjetunion verwenden ließ. Aber wie wirksam dieses Mittel bei begrenzten Konflikten sein würde, war zumindest ungewiß. Ein vollständiger Rückzug in die "Festung Amerika" war damit für die USA nicht mehr so leicht möglich wie nach dem Ersten Weltkrieg, wenn nach Osteuropa nicht auch noch Westeuropa dem sowjetischen Einfluß preisgegeben werden sollte.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1946 zeichnete sich deshalb eine Umorientierung in der amerikanischen Außenpolitik ab. Die USA begannen auf die Zusammenarbeit mit Westeuropa zu setzen und sich auf die langfristige Anwesenheit in Europa einzustellen - mit weitreichenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Folgen für die amerikanische und europäische Politik. So sprach sich Außenminister Byrnes in einer Grundsatzrede in Stuttgart am 6. September 1946 sogar für eine Kooperation mit den Deutschen und deren materielle und politische Unterstützung aus.

Zum Wegbereiter des Umschwungs wurde der Botschaftsrat an der amerikanischen diplomatischen Vertretung in Moskau, George F. Kennan, der im Februar 1946 die Truman-Administration in einem langen Telegramm vor dem auf Ausdehnung bedachten, autoritären Sowjetregime warnte, dessen Ziel es sei, die "traditionellen Lebensgewohnheiten und das nationale Ansehen" der USA zu zerstören. Kennan, der bald darauf zum Leiter des Politischen Planungsstabs im US-Außenministerium avancierte und seine Analyse im Juli 1947 unter dem Pseudonym "Mr. X" in der Zeitschrift "Foreign Affairs" auch der Öffentlichkeit vorlegte, forderte deshalb eine "Politik der Eindämmung" (containment), um Demokratie und westliche Lebensform gegen den vordringenden Kommunismus zu schützen.

Truman-Doktrin

Entsprechend den Empfehlungen Kennans wurde die Politik der Truman-Regierung gegenüber der Sowjetunion nun revidiert. Auslöser war die sich zuspitzende Situation in Griechenland und der Türkei, wo nach amerikanischer Auffassung von Moskau gesteuerte Untergrundbewegungen operierten, die einen kommunistischen Umsturz planten. Präsident Truman verkündete deshalb am 12. März 1947 vor dem amerikanischen Kongreß den Grundsatz, daß Griechenland, der Türkei und allen "freien Völkern", die vom Kommunismus bedroht seien, amerikanische Unterstützung zugesichert werde (Truman-Doktrin). Jede Nation, so Truman, müsse in Zukunft zwischen westlicher Demokratie und Kommunismus wählen - also zwischen einer Lebensweise, die sich auf den Willen der Mehrheit, freie Wahlen und Freiheit vor politischer Unterdrückung gründe, und einer Lebensweise, die auf dem Willen einer Minderheit beruhe, welcher der Mehrheit durch Terror und Unterdrückung aufgezwungen werde.

Hilfe für freie Völker

Rede des amerikanischen Präsidenten Truman vor beiden Häusern des Kongresses, 12. März 1947

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 500

[...] Es ist eines der Hauptziele der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, Bedingungen zu schaffen, die es uns und anderen Nationen ermöglichen, eine Lebensform zu gestalten, die frei ist von Zwang. Hauptsächlich um diesen Punkt ging es in dem Krieg gegen Deutschland und Japan. Unser Sieg wurde über Länder errungen, die versuchten, anderen Nationen ihren Willen und ihre Lebensform aufzuzwingen. [...]

In jüngster Zeit wurden den Völkern einer Anzahl von Staaten gegen ihren Willen totalitäre Regierungsformen aufgezwungen. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat immer wieder gegen den Zwang und die Einschüchterungen in Polen, Rumänien und Bulgarien protestiert, die eine Verletzung der Vereinbarungen von Jalta darstellen. Ich muß auch erwähnen, daß in einer Anzahl von anderen Ländern ähnliche Entwicklungen vor sich gehen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte muß fast jede Nation zwischen alternativen Lebenformen wählen. Nur zu oft ist diese Wahl nicht frei.

Die eine Lebensform gründet sich auf den Willen der Mehrheit und ist gekennzeichnet durch freie Institutionen, repräsentative Regierungsform, freie Wahlen, Garantien für die persönliche Freiheit, Rede- und Religionsfreiheit und Freiheit von politischer Unterdrückung.

Die andere Lebensform gründet sich auf den Willen einer Minderheit, den diese der Mehrheit gewaltsam aufzwingt. Sie stützt sich auf Terror und Unterdrückung, auf die Zensur von Presse und Rundfunk, auf manipulierte Wahlen und auf den Entzug der persönlichen Freiheiten.

Ich glaube, es muß die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie ihre Geschicke auf ihre eigene Weise selbst bestimmen können. Unter einem solchen Beistand verstehe ich vor allem wirtschaftliche und finanzielle Hilfe, die die Grundlage für wirtschaftliche Stabilität und geordnete politische Verhältnisse bildet. [...]

Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt - und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation. [...]

Quelle: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 576 f.

Der amerikanische Präsident hatte damit erstmals von einer Zweiteilung der Welt in ein westlich- demokratisches und ein östlich-kommunistisches System gesprochen. Der Konflikt zwischen Ost und West war nun nicht mehr nur ein Kampf um Macht und Einfluß, sondern auch ein Ringen um die Durchsetzung ideologischer Ziele, die miteinander grundsätzlich unvereinbar waren. Es war eine weltanschauliche Auseinandersetzung, für die der amerikanische Publizist Walter Lippmann 1947 den Begriff "Kalter Krieg" prägte.

Marshall-Plan

Der Verkündung der Truman-Doktrin folgte am 6. Juni 1947 eine Rede des amerikanischen Außenministers George Marshall an der Harvard-Universität, in der er ein "Europäisches Wiederaufbauprogramm" (European Recovery Program = ERP) vorschlug. Damit sollte Europa finanziell geholfen werden, um die Demokratien unanfälliger gegen sowjetische Einflußnahme zu machen. Dieser sogenannte "Marshall-Plan", wie man das Progamm nach seinem Urheber zumeist nur abgekürzt bezeichnete, war dringend notwendig, weil das wirtschaftliche Überleben Westeuropas nach dem strengen Krisenwinter 1946/47 ernsthaft in Frage gestellt schien. Der Versuch, mit der Sowjetunion zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, war zuvor auf der Moskauer

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 501

Außenministerkonferenz im März und April 1947 gescheitert. Außenminister Marshall hatte daher nach seiner Rückkehr aus Moskau beschlossen, einen eigenständigen Weg zu gehen.

Tatsächlich waren Truman-Doktrin und Marshall-Plan, in den Worten von Präsident Truman, "zwei Hälften derselben Walnuß", obwohl sich das Angebot des Marshall-Plans offiziell auch an die osteuropäischen Länder richtete. Doch die Sowjetunion, die anfänglich sogar gewillt war, im Juli 1947 an der ERP-Konferenz in Paris teilzunehmen, sprach ein Verbot für ihre Verbündeten aus, Marshall- Plan-Hilfe anzunehmen. Der sowjetische Außenminister Molotow brandmarkte den Plan als "imperialistisch" und nannte ihn einen amerikanischen Einmischungsversuch in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Die Befürchtung, die USA könnten das ERP als Trojanisches Pferd gegen die kommunistischen Länder einsetzen, überwog offenbar die ersehnten wirtschaftlichen Vorteile. Polen und die Tschechoslowakei, die ihre Teilnahme am ERP bereits zugesagt hatten, mußten daraufhin unter sowjetischem Druck ihre Zusage wieder zurückziehen.

Am Ende blieben 17 westeuropäische Länder übrig - darunter die drei westlichen Besatzungszonen in Deutschland und die Westsektoren Berlins -, die Marshall-Plan-Hilfe erhielten. Sie schlossen sich 1948 in der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (Organization for European Economic Cooperation = OEEC) zusammen, die die Verteilung der Hilfe organisierte. Insgesamt flossen Westeuropa bis 1952 ERP-Mittel in Höhe von rund 13 Milliarden Dollar zu, die vornehmlich dem Bezug von Rohstoffen, Nahrungsmitteln und Investitionsgütern aus den USA dienten. Westdeutschland und Berlin (West) erhielten 1,585 Milliarden Dollar, von denen später eine Milliarde zurückgezahlt wurde. Die letzte Rückzahlungsrate wurde 1966 von der Bundesrepublik vorzeitig überwiesen.

Zwei-Lager-Theorie

Die sowjetische Reaktion auf Truman-Doktrin und Marshall-Plan beschränkte sich allerdings nicht auf verbale Proteste und Verbote. Im September 1947 wurde auf einer Tagung der kommunistischen Parteien aus Ost und West in Schreiberhau im Riesengebirge das "Kommunistische Informationsbüro" (Kominform) gegründet. Es handelte sich dabei um eine Nachfolgeorganisation der 1943 aufgelösten Kommunistischen Internationale (Komintern) und sollte offenbar deren "Kampf für die Weltrevolution" fortsetzen. Mit dem Kominform schuf sich die Sowjetunion wieder eine Organisation, die es ihr ermöglichte, nicht nur auf der diplomatischen Ebene, sondern auch auf der Ebene der kommunistischen Parteien außenpolitisch zu agieren. Und wie die Auflösung der Komintern 1943 als Zeichen für die Zusammenarbeit mit dem Westen im Rahmen der Anti-Hitler-Koalition zu verstehen gewesen war, so konnte die Neugründung des Kominform nun als Demonstration und Kampfansage im Kalten Krieg verstanden werden.

Überdies hielt der Leningrader Parteisekretär der KPdSU, Andrej Schdanow, der als einer der ehrgeizigsten Mitarbeiter Stalins galt, in Schreiberhau ein vielbeachtetes Grundsatzreferat, in dem er die sogenannte "Zwei-Lager-Theorie" verkündete, die als Pendant zur Truman-Doktrin gelten konnte. Ähnlich wie Präsident Truman, der von einer Zweiteilung der Welt und von zwei unterschiedlichen Lebensweisen gesprochen hatte, erklärte nun Shdanow, daß sich zwei Lager unversöhnlich gegenüberstünden: das "imperialistische und antidemokratische" unter Vorherrschaft der USA und das "antiimperialistische und demokratische" unter Führung der Sowjetunion. Die Vereinigten Staaten, so Shdanow, seien bestrebt, alle kapitalistischen Länder in einem Block zu organisieren, um aggressive, gegen die Sowjetunion gerichtete Pläne zu verfolgen. Deshalb sei es die Pflicht der "demokratischen" Länder, sich auf einen Kampf für den Sieg des Kommunismus vorzubereiten. Ihr Ziel sei es, den Kampf gegen die Gefahr neuer Kriege und gegen die imperialistische Expansion zu führen, die Demokratie zu festigen sowie die Überbleibsel des Faschismus auszurotten. Dabei falle der Sowjetunion und ihrer Außenpolitik "die führende Rolle" zu.

Zwei Lager

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 502

Rede Shdanows auf der Konferenz der kommunistischen Parteien Europas, 22. September 1947

Das durch den Zweiten Weltkrieg veränderte Kräfteverhältnis zwischen der Welt des Kapitalismus und der Welt des Sozialismus hat die Bedeutung der Außenpolitik des Sowjetstaates noch erhöht und die Maßstäbe seiner außenpolitischen Aktivität erweitert. Die Aufgabe der Sicherung eines gerechten demokratischen Friedens faßte alle Kräfte des antiimperialistischen und antifaschistischen Lagers zusammen. Auf dieser Grundlage wuchs und erstarkte die freundschaftliche Zusammenarbeit der UdSSR und der demokratischen Länder in allen Fragen der Außenpolitik. Diese Länder und vor allem die Länder der neuen Demokratie, Jugoslawien, Polen, die Tschechoslowakei und Albanien, die eine große Rolle in dem Befreiungskrieg gegen den Faschismus gespielt haben sowie Bulgarien, Rumänien, Ungarn und zum Teil auch Finnland, die sich der antifaschistischen Front in der Nachkriegsperiode angeschlossen haben, erwiesen sich als standhafte Kämpfer für den Frieden, für die Demokratie und für ihre Freiheit und Unabhängigkeit gegen alle Versuche der USA und Englands, ihre Entwicklung zurückzudrehen und sie erneut unter das imperialistische Joch zu zwingen.

[...] Bereits während des Zweiten Weltkrieges wuchs in England und in den USA ständig die Aktivitäten der reaktionären Kräfte, die danach strebten, das gemeinsame Vorgehen der alliierten Mächte zu hintertreiben, den Krieg in die Länge zu ziehen, die UdSSR ausbluten zu lassen und die faschistischen Aggressoren vor einer vollständigen Zerschmetterung zu retten. Die Sabotierung der zweiten Front durch die angelsächsischen Imperialisten mit Churchill an der Spitze spiegelte klar diese Tendenz wider, die im Grunde genommen eine Fortsetzung der "München-Politik" unter neuen, veränderten Verhältnissen darstellte. Aber solange der Krieg andauerte, wagten die reaktionären Kreise Englands und der USA nicht, der Sowjetunion und den demokratischen Ländern mit offenem Visier entgegenzutreten, weil sie sich wohl bewußt waren, daß die Sympathien der Volksmassen in der ganzen Welt ungeteilt auf der Seite der Sowjetunion und der demokratischen Länder waren. [...]

Bereits im Laufe der Besprechungen auf der Berliner Konferenz der drei Mächte im Juli 1945 zeigten die anglo-amerikanischen Imperialisten, daß sie nicht gewillt waren, die legitimen Interessen der Sowjetunion und der demokratischen Länder zu berücksichtigen.

Quelle: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 156 f.

Auch Schdanow diagnostizierte somit eine Zweiteilung der Welt, eine ideologische und politische Spaltung, mit den Hauptgegnern USA und Sowjetunion, die jeweils ihr "Lager" anführten. Dies war, wie von Truman, die klassische Beschreibung der Konstellation des Kalten Krieges, der sich jetzt auch zunehmend institutionell ausprägte und damit die Struktur gewann, die mehr als vier Jahrzehnte bestehen sollte.

Flucht und Vertreibung, die bereits am Ende des Zweiten Weltkrieges das Schicksal von Millionen Menschen - vornehmlich in Europa und Asien - verdüstert hatte, erhielten dadurch neuen Auftrieb. Viele Menschen, die bisher noch gehofft hatten, die Ost-West- Konfrontation könne politisch gelöst werden, sahen sich nun vor die Wahl gestellt, in ihrer angestammten Heimat zu bleiben und sich einem ungeliebten Regime zu beugen oder die Konsequenzen zu ziehen und nach einer neuen Heimat zu suchen. Oft blieb nicht einmal diese Wahl: Sie wurden vertrieben.

Der Ost-West-Konflikt war jedenfalls nicht nur ein abstrakter politischer und ideologischer Vorgang, sondern auch eine Entwicklung mit weitreichenden Folgen für die Menschen in beiden Teilen der Welt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 503 GATT und Welthandel

Das neue Welthandelssystem GATT (General Agreement on Tariffs and Trade = Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen), das am 30. Oktober 1947 in Genf von 23 Staaten vereinbart wurde, war ein weiterer Meilenstein in der institutionellen Verfestigung des Ost-West-Konflikts.

Verhandlungen darüber hatte es bereits seit mehreren Jahren gegeben. Ausgangspunkt war - wie schon bei den Vereinbarungen von Bretton Woods - die Atlantik-Charta vom August 1941, mit der der amerikanische Präsident Roosevelt und der britische Premierminister Churchill allen Nationen bessere Handelsbedingungen und leichteren Zugang zu Rohstoffen hatten eröffnen wollen. Das GATT war somit das handelspolitische Gegenstück zum IWF. Es sollte für einen Abbau der Zölle und anderer Handelsschranken sorgen, diskriminierende politische Eingriffe in den internationalen Handel beseitigen und damit zu einer Erschließung von Ressourcen und allgemein zur Produktionssteigerung beitragen.

Allerdings war das GATT ursprünglich nur als Zwischenlösung für eine später von der UNO zu schaffende Internationale Handelsorganisation (International Trade Organization = ITO) gedacht. Die ITO war als Sonderorganisation der UNO parallel zur Weltbank und zum Internationalen Währungsfonds geplant und sollte den Wiederaufbau und die Integration der Weltwirtschaft auf handelspolitischem Gebiet fördern, indem sie sich unter anderem mit Kartellfragen, Rohstoffabkommen, Arbeitsmarktpolitik und Auslandsinvestitionen beschäftigte.

Tatsächlich wurde von der UNO eine entsprechende Konferenz nach Havanna einberufen, an der 53 Länder aus West und Ost - unter ihnen auch die Sowjetunion - teilnahmen. Bereits am 24. März 1948 konnte die Satzung der ITO, die sogenannte "Havanna-Charta", unterzeichnet werden, in der die Gründung einer Organisation zur Förderung des internationalen Handels und die Überführung des GATT in diese Organisation im Rahmen der UNO vereinbart wurde.

Die Ratifizierung der Havanna-Charta scheiterte jedoch wegen des Widerstandes des amerikanischen Kongresses und zahlreicher westlicher Regierungen, die befürchteten, daß sie in der ITO - wie in der Vollversammlung der UNO - von der zunehmenden Zahl der Entwicklungsländer majorisiert werden könnten. Was bei den politischen Entscheidungen der UNO noch angehen mochte, war für sie bei den Handelsfragen der ITO unannehmbar. Die Westmächte - und insbesondere die Abgeordneten des amerikanischen Kongresses - zogen es daher vor, mit dem "ewigen Provisorium" des GATT zu leben, anstatt ein formelles Gremium unter dem Dach der UNO zu erhalten. Das GATT behielt daher seinen Charakter als "vorläufige Dauereinrichtung".

Auch organisatorisch betrachtet blieb das GATT ein vergleichsweise lockerer Verbund. Außer der einmal jährlich in Genf tagenden Vollversammlung der Vertragsparteien verfügt das GATT nicht über eigene Organe. Zwischen den jährlichen Tagungen führt ein Ständiger Ausschuß von Vertretern der Hälfte der Mitglieder die Geschäfte.

Ungeachtet dieser nur lockeren Organisationsstruktur erwies sich das GATT-Abkommen jedoch als äußerst erfolgreich bei der Reduzierung der Zollschranken und staatlichen Beschränkungen des Welthandels. Binnen fünfzehn Jahren kontrollierten 63 Nationen, die nun zum GATT gehörten, 80 Prozent des Welthandels. Die Sowjetunion und die Staaten im sowjetischen Machtbereich zählten nicht dazu. Sie schlossen sich dem Abkommen vor dem Hintergrund des zunehmenden Ost-West- Gegensatzes nicht an (ausgenommen die Tschechoslowakei), sondern schufen einen eigenen Wirtschaftsblock, der weitgehend auf die Bedürfnisse der UdSSR zugeschnitten war. Die Entwicklung zweier verschiedener Wirtschaftssysteme wurde somit zu einer besonderen Form des Kalten Krieges und führte nicht nur zu einer Verlagerung der Märkte, sondern auch zu einer fast völligen Lähmung des einzelstaatlichen Handels zwischen den beiden Blöcken.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 504 Blockade Berlins

Mit dem Streit um Havanna-Charta und GATT, wie zuvor schon mit der Wiederbelebung der kommunistischen Weltbewegung in Gestalt des Kominform und der Verkündung der "Zwei-Lager- Theorie", hatte Moskau den Fehdehandschuh der westlichen Containment-Politik aufgenommen. Das Kominform sollte alle kommunistischen Parteien zu einer großen Kraftanstrengung vereinigen und sie als "Parteien neuen Typs" in ein Blocksystem eingliedern, dessen Hauptmerkmale die unbedingte Unterordnung unter die Vorherrschaft der KPdSU war. Den osteuropäischen Ländern wurden darüber hinaus zweiseitige Beistands- und Freundschaftspakte aufgezwungen, um sie auch vertraglich eng an Moskau zu binden. Jugoslawien, das unter Tito eine eigenständige Linie gegenüber Moskau beibehielt, wurde bereits im Sommer 1948 wieder aus dem Kominform ausgeschlossen. Die Gründung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) im Januar 1949 war in diesem Zusammenhang ein weiterer logischer Schritt, um in Osteuropa eine auf die Sowjetunion ausgerichtete Großraumwirtschaft zu schaffen.

In Mitteleuropa, an der Schnittstelle zwischen Ost und West, weitete sich der Gegensatz, der in diesen Entwicklungen zum Ausdruck kam, bald immer mehr zum offenen Konflikt aus. Dies galt sowohl für den kommunistischen Umsturz, der im Februar 1948 in der Tschechoslowakei stattfand, als auch für die Zuspitzung der Lage in Deutschland. Die kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei rief in Westeuropa die Gründung des Brüsseler Paktes hervor, in dem sich Großbritannien, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande am 17. März 1948 gegenseitigen Beistand für den Fall eines Angriffs zusicherten. In Deutschland scheiterten, ebenfalls im März, Verhandlungen über eine gleichzeitige gemeinsame Währungsreform in allen Zonen, die eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung der wirtschaftlichen Einheit und den Erhalt von Marshall- Plan-Geldern sein sollte. Dies führte zu dem Beschluß der Westmächte, in den drei Westzonen eine separate Währungsreform durchzuführen, die wenig später, im Juni 1948, die erste massive Konfrontation im Kalten Krieg auslöste: die Berlin-Krise.

Die östliche Seite hatte allerdings schon vor dem Streit um die Währungsreform ihren Druck auf Berlin vergrößert, der wie ein Fremdkörper in der Sowjetischen Besatzungszone wirkte. Bereits seit Ende 1947 hatte es eine "schleichende Blockade" - fein abgestufte Behinderungen im Berlin-Verkehr - gegeben. Doch jetzt boykottierte die Sowjetunion offen die gemeinsame politische Verwaltung der Vier Mächte, indem sie am 20. März 1948 ihren Vertreter aus dem Alliierten Kontrollrat und am 16. Juni auch ihren Repräsentanten aus der Alliierten Kommandantur zurückzog. Schließlich wurden Ende Juni und Anfang Juli die Bahn-, Straßen- und Binnenschiffahrtsverbindungen zwischen West-Berlin und Westdeutschland unterbrochen und die Stromversorgung West-Berlins gesperrt.

Diese Blockade Berlins, bei der nur die Luftverkehrswege offen blieben, wurde von den östlichen Behörden mit dem Vorwand "technischer Störungen" begründet. Der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay berichtete später, als er gemeinsam mit seinem britischen und französischen Kollegen am 3. Juli das sowjetische Hauptquartier in Karlshorst aufgesucht habe, sei ihnen dort mitgeteilt worden, "die technischen Schwierigkeiten würden so lange anhalten, bis wir unsere Pläne für eine westdeutsche Regierung begraben hätten".

Währungsreform

Tatsächlich wollte die Sowjetunion eine westdeutsche Staatsgründung, die mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 in Angriff genommen wurde, verhindern, um die deutsche Frage offenzuhalten und vielleicht doch noch in sowjetischem Sinne durch Erweiterung ihres Einflusses auf ganz Deutschland zu entscheiden. Sie benutzte dazu die prekäre geopolitische Lage Berlins als Hebel, um den Westen zu einer deutschlandpolitischen Kursänderung zu zwingen. Doch die Blockade vergrößerte nur die Solidarisierung im Westen und förderte vor allem die amerikanische Bereitschaft, sich für Deutschland und Berlin - wie für Europa überhaupt - zu engagieren. Zudem war die Versorgung Berlins über eine auf Initiative Lucius D. Clays zustande gekommene "Luftbrücke" der Alliierten so erfolgreich, daß die Sowjetunion sich schließlich im New Yorker Abkommen (nach seinen Urhebern oft auch "Jessup-Malik-

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 505

Abkommen" genannt) vom 4. Mai 1949 gegenüber den Westmächten verpflichtete, die Beschränkungen auszusetzen. Die Sowjetunion hatte sich der westlichen Entschlossenheit und insbesondere dem Gewicht, das die USA seit dem Herbst 1946 zunehmend in die Waagschale der europäischen Politik warfen, beugen müssen.

Formierung der Blöcke

Die Blockade war jedoch auch in ihrer politischen Zielsetzung ein Fehlschlag, weil sie die Gründung der Bundesrepublik nicht hatte verhindern können. Mit der Annahme des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 entfiel somit auch jeglicher Grund, die Blockade fortzusetzen. Ihre Aufhebung war ein großer Triumph für den Westen. Vergessen wurde dabei leicht, daß die deutsche Teilung sich damit weiter vertiefte.

Die Erfahrung der Berlin-Krise verstärkte in den USA die schon nach der Tschechoslowakei-Krise im Februar 1948 vorhandene Entschlossenheit, sich künftig nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch militärisch in Europa zu engagieren. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür wurden am 11. Juni 1948 mit der Verabschiedung einer von dem republikanischen Senator Arthur H. Vandenberg eingebrachten Entschließung durch den Kongreß geschaffen ("Vandenberg-Resolution"), die es den USA erstmals in ihrer Geschichte bereits in Friedenszeiten ermöglichte, Verträge über militärische Beistandsverpflichtungen abzuschließen, wie es bald darauf mit dem Nordatlantikvertrag zur Gründung der NATO vom 4. April 1949 geschah.

Das entwaffnete Deutschland war in diesem Bündnis noch nicht vertreten. Aber die Spaltung zwischen Ost und West, innerhalb deren sich nun auch die Teilung Deutschlands immer mehr verfestigte, machte bereits wenig später die Einbeziehung der am 23. Mai 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland in das westliche Allianzsystem ebenso unausweichlich wie auf östlicher Seite die Eingliederung der am 7. Oktober 1949 gebildeten Deutschen Demokratischen Republik in den sowjetischen Machtblock.

Militärische Bündnisse: NATO und Warschauer Pakt

Der Nordatlantik-Pakt wurde am 4. April 1949 in Washington von 12 Mächten (Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Vereinigte Staaten) unterzeichnet. Griechenland und die Türkei traten dem Pakt am 18. Februar 1952, die Bundesrepublik Deutschland am 9. Mai 1955 bei.

Präambel: Die vertragschließenden Parteien erklären von neuem ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker zu sichern, die sich auf die Grundsätze der Demokratie, der individuellen Freiheit und der Herrschaft des Rechts begründet. Im Streben nach Förderung der Stabilität und Wohlfahrt im Gebiete des nördlichen Atlantik haben sie deshalb beschlossen, ihre Bemühungen mit dem Ziel der kollektiven Verteidigung zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen und einigen sich daher auf den folgenden nordatlantischen Vertrag.

Artikel 1: Die Parteien verpflichten sich, wie dies in der Satzung der Vereinten Nationen ausgeführt ist, jegliche internationale Streitigkeiten, in die sie verwickelt werden könnten, durch friedliche Mittel so beizulegen, daß der Völkerfriede und die internationale Sicherheit und Gerechtigkeit nicht gefährdet werden und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Drohung oder des Gebrauchs von Gewalt in jeglicher Form zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar sind.

Artikel 2: Die Parteien werden zur weiteren Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher Beziehungen durch Ausbau ihrer freiheitlichen Einrichtungen, durch Herbeiführung eines besseren Verständnisses der Grundsätze, auf die sich diese Einrichtungen stützen, und durch Förderung der Stabilität und der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 506

Wohlfahrt beitragen. Sie werden sich bemühen, in ihrer internationalen Wirtschaftspolitik Konflikte zu beseitigen und werden die wirtschaftliche Zusammenarbeit untereinander fördern.

Artikel 3: Um die Ziele dieses Vertrages besser zu verwirklichen, werden die Parteien, sowohl einzeln wie gemeinsam, mittels laufender und wirksamer Selbsthilfe und gegenseitiger Unterstützung ihre individuelle und kollektive Widerstandsfähigkeit gegen einen bewaffneten Angriff aufrechterhalten und ausbauen.

Artikel 4: Die Parteien werden sich jeweils gegenseitig konsultieren, wenn nach Meinung einer derselben die territoriale Integrität, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit irgendeiner der Parteien bedroht wird.

Artikel 5: Die vertragschließenden Parteien sind sich darüber einig, daß ein bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle betrachtet werden soll, und demzufolge haben sie sich dahin geeinigt, daß jede von ihnen im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs in Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung einzelner oder mehrerer Staaten, wie es durch Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannt wird, der Partei oder den Parteien, die derart angegriffen werden, beistehen wird, indem sie unverzüglich, einzeln oder in Übereinstimmung mit anderen Teilnehmern, diejenigen Maßnahmen ergreift, die sie für notwendig hält - einschließlich der Anwendung von Waffengewalt -, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Jeder derartige bewaffnete Angriff und alle als dessen Ergebnis ergriffenen Maßnahmen sollen dem Sicherheitsrat unverzüglich gemeldet werden. Diese Maßnahmen sind zu beenden, sobald der Sicherheitsrat die zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Völkerfriedens und der internationalen Sicherheit notwendigen Maßnahmen getroffen hat [...]

Artikel 13: Nachdem der Vertrag zwanzig Jahre in Kraft geblieben ist, kann jede Partei aus der Vertragsgemeinschaft austreten, und zwar ein Jahr, nachdem ihre Austrittserklärung der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika übergeben worden ist, die die Regierungen der übrigen Parteien von der Deponierung jeder Austrittserklärung informieren wird. [...]

Quelle: W. Lautemann/M. Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 464 f. k

Der Warschauer Vertrag wurde zwischen der Volksrepublik Albanien, der Volksrepublik Bulgarien, der Ungarischen Volksrepublik, der Deutschen Demokratischen Republik, der Volksrepublik Polen, der Rumänischen Volksrepublik, der UdSSR und der Tschechoslowakischen Republik in Warschau am 14. Mai 1955 geschlossen.

Präambel: Die vertragschließenden Seiten haben beschlossen,

[...] unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Lage, die in Europa durch die Ratifizierung der Pariser Verträge entstanden ist, welche die Bildung neuer militärischer Gruppierungen in Gestalt der "Westeuropäischen Union" unter Teilnahme eines remilitarisierten Westdeutschlands und dessen Einbeziehung in den Nordatlantikpakt vorsehen, wodurch sich die Gefahr eines neuen Krieges erhöht und eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der friedliebenden Staaten entsteht, [...] diesen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand abzuschließen, [...]

Artikel 1: Die vertragschließenden Seiten verpflichten sich in Übereinstimmung mit den Satzungen der Organisation der Vereinten Nationen, sich in ihren internationalen Beziehungen der Drohung mit Gewalt oder ihrer Anwendung zu enthalten, und ihre internationalen Streitfragen mit friedlichen Mitteln so zu lösen, daß der Weltfrieden und die Sicherheit nicht gefährdet werden.

Artikel 2: Die vertragsschließenden Seiten erklären ihre Bereitschaft, sich im Geiste aufrichtiger

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 507

Zusammenarbeit an allen internationalen Handlungen zu beteiligen, deren Ziel die Gewährleistung des Weltfriedens und der Sicherheit ist, und werden alle ihre Kräfte für die Verwirklichung dieser Ziele einsetzen. [...]

Artikel 3: [...] Sie werden sich im Interesse der Gewährleistung der gemeinsamen Verteidigung und der Erhaltung des Friedens und der Sicherheit untereinander unverzüglich jedesmal beraten, wenn nach Meinung einer der Seiten die Gefahr eines bewaffneten Überfalls auf einen oder mehrere Teilnehmerstaaten des Vertrages entsteht.

Artikel 4: Im Falle eines bewaffneten Überfalls in Europa auf einen oder mehrere Teilnehmerstaaten des Vertrages seitens irgendeines oder einer Gruppe von Staaten wird jeder Teilnehmerstaat des Vertrages in Verwirklichung des Rechtes auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit Artikel 51 der Satzungen der Organisation der Vereinten Nationen dem Staat oder den Staaten, die einem solchen Überfall ausgesetzt sind, sofortigen Beistand individuell und in Vereinbarung mit den anderen Teilnehmerstaaten des Vertrages mit allen Mitteln, die ihnen erforderlich scheinen, einschließlich der Anwendung von militärischer Gewalt, erweisen. Die Teilnehmerstaaten des Vertrages werden sich unverzüglich über gemeinsame Maßnahmen beraten, die zum Zwecke der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der Sicherheit zu ergreifen sind. [...]

Artikel 5: Die vertragschließenden Seiten kamen überein, ein vereintes Kommando derjenigen ihrer Streitkräfte zu schaffen, die nach Vereinbarung zwischen den Seiten diesem auf Grund gemeinsam festgelegter Grundsätze handelnden Kommando zur Verfügung gestellt werden. Sie werden auch andere vereinbarte Maßnahmen ergreifen, die zur Stärkung ihrer Wehrfähigkeit notwendig sind, um die friedliche Arbeit ihrer Völker zu beschützen, die Unantastbarkeit ihrer Grenzen und Territorien zu garantieren und den Schutz gegen eine mögliche Aggression zu gewährleisten. [...]

Quelle: Dokumente zur Außenpolitik der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. II, Berlin (O) 1955, S. 231-36.

Auch im Fernen Osten wurden die Interessensphären nun immer schärfer gegeneinander abgegrenzt. Allerdings waren die USA hier mit ihrer Eindämmungspolitik weit weniger erfolgreich als in Europa. Dies galt vor allem für China, wo die nationalchinesische Regierung unter General Tschiang Kai-schek, die bereits von Präsident Roosevelt unterstützt worden war, gegenüber den kommunistischen Kräften unter der Führung Mao Tse-tungs in einem blutigen Bürgerkrieg rasch an Boden verlor und schließlich im Dezember 1949 zum Rückzug auf die Insel Formosa vor dem chinesischen Festland gezwungen wurde. Die Ausrufung der Volksrepublik China im Oktober 1949 konnte als ein glänzender Sieg für die Sowjetunion gelten, die ihrem Lager ein neues und überaus gewichtiges Mitglied hinzugefügt hatte, auch wenn sich der jetzt gewonnene Verbündete später als ernstzunehmender Rivale erweisen sollte.

In den USA löste der Zusammenbruch der nationalchinesischen Herrschaft auf dem Festland jedoch große Aufregung aus. Besonders die einflußreiche "China-Lobby" kritisierte die angeblich zu passive Haltung der amerikanischen Regierung, weil mit der Niederlage Tschiang Kai-scheks eine der wichtigsten Bastionen der amerikanischen Politik im pazifischen Raum an den Kommunismus verlorengegangen war. Darüber hinaus weckte die Flucht der Nationalchinesen auch deshalb neue Bedrohungsgefühle, weil die Sowjetunion 1948 eine weitere Aufrüstungswelle eingeleitet und im Sommer 1949 zudem das amerikanische Atomwaffenmonopol durchbrochen hatte.

Der politische und ideologische Ost-West-Konflikt hatte sich somit nicht nur institutionell, sondern auch geographisch und psychologisch verfestigt. Zunehmend wurde daraus nun ein Wettlauf um machtpolitischen Einfluß und militärische Überlegenheit, bei dem Feindbilder und Konfrontation auf nahezu allen Gebieten das Verhältnis bestimmten.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 245) - Ursachen und Entstehung des Kalten Krieges

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 508

(http://www.bpb.de/izpb/10328/ursachen-und-entstehung-des-kalten-krieges)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 509

Berlin - auf dem Weg zur geteilten Stadt

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 27.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Die anhaltenden Differenzen zwischen den Westmächten und der UdSSR entluden sich 1948 in der sowjetischen Blockade der Land- und Wasserwege nach Berlin. Lediglich drei Luftkorridore sicherten die Versorgung des Westteils der Millionenstadt. Als die Blockade 1949 aufgehoben wurde, war das Schicksal Berlins als geteilte Stadt besiegelt.

Einleitung

Berlin, die Hauptstadt des Deutschen Reiches, war eine der größten Industriestädte Europas gewesen und zählte 1939 4,3 Millionen Einwohner. In den Trümmern, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, lebten 1948 noch 3,2 Millionen. Nach den alliierten Absprachen von 1944 wurde Berlin von den Siegermächten gemeinsam regiert, das heißt, die Stadt war in vier Sektoren geteilt, in denen jeweils ein Stadtkommandant namens der Sowjetunion, Großbritanniens, der USA und Frankreichs die Machtbefugnisse ausübte. Unter deren Hoheit arbeiteten deutsche Bezirksbürgermeister, der gesamtberliner Magistrat und der Bürgermeister mit seinen Stellvertretern.

Nachdem die Rote Armee Ende April 1945 Berlin erobert hatte, waren Anfang Juli vereinbarungsgemäß amerikanische und britische Truppen eingerückt und hatten von ihren Sektoren Besitz ergriffen. Die Franzosen folgten am 12. August. Die Garnisonen der drei Westmächte bestanden insgesamt aus etwa 6500 Soldaten. Im sowjetischen Sektor waren 18 000 Rotarmisten stationiert. An Konflikt und Konfrontation unter den Siegern dachte man nicht, als der Alliierte Kontrollrat, die Regierungsinstanz für ganz Deutschland, in Berlin etabliert wurde, als die alliierte Kommandantur, das Gremium der vier Stadtkommandanten, zusammentrat und als die obersten Instanzen der vier Militärregierungen für Deutschland in Berlin ihre Arbeit aufnahmen. Auch über die Regelung der Zugangsrechte und Zugangswege für die westlichen Alliierten nach Berlin, das ringsum von sowjetischem Besatzungsgebiet umschlossen war, hatte nach der Kapitulation Deutschlands niemand nachgedacht. Die Präsenz der Westmächte war jafest vereinbart, und Absprachen und Beschlüsse wollten die Sieger des Zweiten Weltkriegs über Deutschland ebenso gemeinsam treffen wie über seine Hauptstadt. Lediglich die Luftverbindungen nach Berlin durch drei "Korridore" von Hamburg, Bückeburg (Hannover) und Frankfurt am Main aus waren im November 1945 durch ein Viermächteabkommen geregelt worden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 510 Blockade

Seit Anfang 1948 traten auf den Verbindungswegen nach Berlin zu Lande und zu Wasser "technische Störungen" auf, erstmals am 24. Januar, als der Nachtzug von Berlin nach Bielefeld in der sowjetischen Zone aufgehalten wurde. 120 deutsche Passagiere wurden nach Berlin zurückgeschickt, die übrigen, Angehörige der britischen Besatzungsmacht, durften nach elf Stunden Wartezeit weiterfahren. Im Februar wurde ein unter amerikanischer Regie fahrender Eisenbahnzug behindert, weitere Schikanen der sowjetischen Besatzungsbehörden trafen auch die Binnenschifffahrt. Meist ging es um Formalitäten. Der schwerste Zwischenfall ereignete sich im April, als ein sowjetisches Jagdflugzeug mit einer britischen Transportmaschine kollidierte, die zur Landung auf dem Flugplatz Gatow im britischen Sektor Berlins angesetzt hatte. Vierzehn Briten und der sowjetische Pilot kamen ums Leben.

Am 2. April 1948 befahl General Clay, der amerikanische Militärgouverneur, dass Transporte nach Berlin mit Flugzeugen erfolgen sollten, weil er den Behinderungen der Eisenbahn und des Straßenverkehrs entgehen wollte. Die dreitägige Aktion war, obwohl noch niemand wusste, was sich später daraus entwickeln sollte, ein Probelauf, der unter dem Namen "Kleine Luftbrücke" bekannt wurde.

Am 16. Juni verließ der sowjetische Vertreter unter einem Vorwand die Kommandantur und lähmte damit das interalliierte Gremium als Viermächte-Kontrollorgan für ganz Berlin. Die Inszenierung des sowjetischen Auszugs aus der alliierten Stadtregierung folgte dem Muster, nach dem am 20. März 1948 der sowjetische Militärgouverneur den Alliierten Kontrollrat für Deutschland gesprengt hatte.

Der Hintergrund der Berlinkrise wurde sichtbar, als am Abend des 18. Juni in den Westzonen die für Sonntag, den 20. Juni, bevorstehende Währungsreform angekündigt wurde. Berlin sollte nach sowjetischer Auffassung von der westlichen Währungsreform ausgenommen bleiben. Dies zwang den sowjetischen Militärgouverneur Marschall Sokolowski zum Handeln, denn die Weitergeltung des alten Geldes in Berlin hätte bedeutet, dass die Sowjetzone mit der in den Westzonen wertlos gewordenen Reichsmark überschwemmt worden wäre. Er bezog Gesamtberlin in die ostzonale Währungsreform ein, die als Reaktion auf das westliche Vorgehen am 23. Juni 1948 in Kraft trat. In den drei westlichen Sektoren Berlins sollte also die D-Mark verboten sein.

Eine Sondersitzung der Berliner Stadtverordneten beschäftigte sich am 23. Juni mit dem Problem. Tumulte und Demonstrationen im und um das im Ostsektor liegende Stadthaus störten die Beratungen. Sie waren von der SED angezettelt worden, um das Stadtparlament unter Druck zu setzen. Trotzdem wurde der Beschluss gefasst, dass in den Westteilen Berlins das westliche Geld gültig sein würde. Die Reaktion der sowjetischen Seite erfolgte unmittelbar. Kurz vor Mitternacht des 23. Juni gingen in West-Berlin die Lichter aus. Die Elektrizitätsversorgung war vom Osten aus eingestellt worden. Sie funktionierte in den folgenden Monaten nur sporadisch, ganz nach der Willkür der sowjetischen Instanzen, in deren Machtbereich die Kraftwerke, die Berlin versorgten, lagen. Am folgenden Tag, um sechs Uhr morgens, kam auch der gesamte Eisenbahnverkehr nach Berlin zum Stillstand, dann wurde die Binnenschifffahrt unterbunden. Berlin war Insel geworden, dem Westen gegenüber vollständig blockiert von der sowjetischen Besatzungsmacht. Als einziger Zugang blieben die drei Luftkorridore.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 511 Luftbrücke

Die Versorgung des Westteils der Stadt konnte ab dem 24. Juni 1948 nur noch durch die Luft erfolgen. Damit begann eine der größten Bravourleistungen in der Geschichte der Luftfahrt, die "Luftbrücke". Treibende Kraft der Aktion war General Clay. Er beschwor nicht nur in den regelmäßigen telefonischen Konferenzen mit Washington die amerikanischen Politiker zu einer festen Haltung in Berlin, er versprach auch dem Oberbürgermeister, Ernst Reuter (SPD), der 1947 gewählt, aber von den Sowjets nicht bestätigt und in der Amtsführung behindert worden war, dass die Westalliierten alles tun würden, um die Berliner mit Nahrungsmitteln und allem anderen Notwendigen zu versorgen. Das eingeschlossene Berlin wurde in den folgenden Monaten zum Symbol der Verteidigung von Freiheit und Demokratie.

Während die Westmächte Protestnoten nach Moskau schickten, die Westberliner in Demonstrationen ihren Willen zum Ausharren bekundeten, perfektionierten die britische Royal Air Force und die amerikanischen Luftstreitkräfte ihre Operationen und flogen nach einem generalstabsmäßig ausgearbeiteten Plan von neun Flugplätzen in Westdeutschland aus ununterbrochen Lebensmittel, Kohle, Maschinen, Ausrüstungen und alle anderen Güter des täglichen Bedarfs nach Berlin. Die Transportmaschinen landeten im Drei-Minuten-Abstand in Berlin, wurden in aller Eile entladen und flogen zurück, um weiteres Material zu holen. Im Propagandakrieg gegen die sowjetische Seite waren die Rekorde der Luftbrücke eindrucksvolle Waffen. Am 15. April 1949 wurden in einer "Osterparade" in 24 Stunden mit 1398 Flügen 12940 Tonnen Lebensmittel und andere Güter in die belagerte Stadt geflogen.

Trotzdem war die Lage in West-Berlin kläglich. Aus Energiemangel konnte nur wenig produziert werden, und auch die eindrucksvollsten Leistungen der Luftbrücke erbrachten gerade das Bedarfsminimum der 2,1 Millionen Westberliner.

Die Kosten der Aktion waren enorm. Die amerikanischen und britischen Steuerzahler bezahlten circa 200 Millionen Dollar dafür. Die Güter wurden größtenteils aus dem Fonds des amerikanischen Hilfsprogramms GARIOA (Government Aid and Relief in Occupied Areas) finanziert, genauso wie zum Teil auch das Berliner Haushaltsdefizit (monatlich 53 Millionen D-Mark). Die Hauptlast trug die Bizone bzw. dann die Bundesrepublik, die mit einer Sondersteuer ("Notopfer Berlin") ab November 1948 den Widerstand Berlins gegen die sowjetische Blockade unterstützte. Diese Sonderabgabe zur Unterstützung West-Berlins wurde in der Bundesrepublik bis 1958 erhoben.

Teilung

Am 12. Mai 1949 wurde die Blockade nach Verhandlungen der Alliierten und einem Viermächte- Abkommen beendet. Der Jubel der Berliner, mit dem der erste LKW und der erste Eisenbahnzug aus dem Westen empfangen wurden, konnte freilich niemanden darüber hinwegtäuschen, dass Berlin nach der Blockade eine geteilte Stadt blieb. Die administrative und politische Teilung hatte sich schrittweise vollzogen. Im Herbst 1948 hatte die Stadtverordnetenversammlung ihren Wirkungsort in den Westteil der Stadt verlegt, weil die SED ihre parlamentarische Unterlegenheit durch Straßenproteste und ständige Störungen der Sitzungen ausglich. Auch der Magistrat spaltete sich als Folge der Willkür sowjetischer Stellen, die leitende Beamte nach Gutdünken wegen "Sabotage" oder "Unfähigkeit" entließen oder verhafteten. Im Dezember 1948 erkannten die sowjetischen Behörden nur noch den verfassungsrechtlich illegalen Ostmagistrat als Stadtregierung an. Die für den 5. Dezember 1948 angesetzten Neuwahlen in Gesamtberlin konnten nur in den drei Westsektoren abgehalten werden. Im Schöneberger Rathaus wurde am 7. Dezember 1948 Ernst Reuter zum Stadtoberhaupt von West-Berlin gewählt. Wenig später nahm die Alliierte Kommandantur als Drei- Mächte-Gremium imWestteil der Stadt ihre Arbeit wieder auf. Die Blockade Berlins und die Teilung der Stadt bildeten den dramatischen Hintergrund der Gründungsakte des Weststaats.

Die brutale Abriegelung der ehemaligen Reichshauptstadt durch die sowjetische Besatzungsmacht bestärkte die Politiker der westlichen Besatzungszonen in ihrem Entschluss, das Angebot zur Gründung eines Weststaats - der Bundesrepublik Deutschland - anzunehmen, und half ihnen, die Skrupel

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 512 gegenüber der damit verbundenen Teilung Deutschlands zu überwinden.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 259) - Berlin - auf dem Weg zur geteilten Stadt (http://www.bpb.de/izpb/10083/berlin-auf-dem-weg-zur-geteilten-stadt)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 513

Zwei Staatsgründungen auf deutschem Boden

Von Prof. Dr. Wolfgang Benz 23.4.2005 Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Spätestens 1947 war klar, dass die Besatzungsmächte sich über die "Deutschlandfrage" nicht einigen würden. Amerikaner und Briten trieben daher die Gründung eines eigenständigen Staates in den drei westlichen Besatzungszonen voran. 1949 entstanden dann beiderseits der Grenze der Sowjetischen Besatzungszone zwei neue Staaten auf deutschem Boden.

Einleitung

Im Dezember 1947, als die fünfte Außenministerkonferenz der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs abgebrochen wurde, war offenbar, dass die Großmächte sich über die deutsche Frage nicht einigen konnten. Als Ersatz für die große Lösung eines aus den vier Besatzungszonen bestehenden deutschen Nachkriegsstaats, wie er seit der Potsdamer Konferenz vom Sommer 1945 erstrebt und verheißen war, forcierten seit Frühjahr 1948 Amerikaner und Briten die Errichtung eines Staats auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen.

In langwierigen Verhandlungen der Londoner Sechsmächtekonferenz seit dem 23. Februar 1948 wurden die Franzosen und die drei westlichen Nachbarstaaten Belgien, Niederlande und Luxemburg vom anglo-amerikanischen Konzept überzeugt. Washington und London ging es darum, die drei Westzonen in ein europäisch- atlantisches Staatensystem einzubinden. In Paris bestanden dagegen aber erhebliche Bedenken. Um den französischen Sicherheitsinteressen zu genügen, mussten daher Zugeständnisse, etwa in der Frage der internationalen Kontrolle des Ruhrgebiets, gemacht werden. Dafür nahm Paris Abstriche an seinen extremen Föderalisierungskonzepten hin. Die Franzosen hätten einen möglichst lockeren Bund deutscher Kleinstaaten lieber gesehen als eine mit hinlänglicher Zentralgewalt ausgestattete Bundesrepublik. Das lag jedoch nicht im Interesse von London und Washington, die an der ökonomischen Leistungsfähigkeit des neuen Staats interessiert waren.

Weichenstellungen für den Weststaat

Am 7. Juni 1948, zwei Wochen vor der Währungsreform in den drei Westzonen, wurden die "Londoner Empfehlungen" als Kommuniqué der Konferenz veröffentlicht. Sie enthielten die Umrisse des deutschen Weststaats, aber niemand war so recht zufrieden damit. Die Sozialdemokraten meinten, die Empfehlungen seien kaum geeignet, Deutschland bei der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung zu helfen. Noch unzufriedener war zunächst der erste Mann der CDU, Konrad Adenauer, der nicht nur befürchtete, durch die Ruhrkontrolle würden die Deutschen auf Dauer der Verfügung über ihre Wirtschaft und ihren Außenhandel beraubt. Adenauer hielt auch eine Verfassung, die von den alliierten Militärregierungen genehmigt werden müsse, für ein Übel, auf das man wohl mit Verweigerung reagieren müsse. Während der amerikanische und der britische Militärgouverneur auf die Zustimmung des französischen Parlaments zu den Londoner Empfehlungen warteten, versuchten sie, in ihren beiden Besatzungszonen auf die deutschen Politiker, die Ministerpräsidenten und Parteiführer, einzuwirken und die Stimmung für die beabsichtigte Staatsgründung zu verbessern. Wenn der volle Inhalt des Londoner Konzepts erst bekannt sei, würden sich viele Bedenken als gegenstandslos erweisen, hatte Ende Juni 1948 General Robertson, der britische Militärgouverneur,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 514 erklärt. Am 1. Juli erfuhren die deutschen Länderchefs im Einzelnen, was geplant war und was sie tun sollten.

Frankfurter Dokumente

Die damaligen obersten Repräsentanten der westdeutschen Politik, neun Ministerpräsidenten und die beiden Bürgermeister der Stadtstaaten Hamburg und Bremen, waren für den 1. Juli 1948 nach Frankfurt in das Hauptquartier der Amerikaner, das ehemalige Verwaltungsgebäude der I. G. Farben, bestellt worden. Die drei westlichen Militärgouverneure wollten den Chefs der Länder in den drei Westzonen dort offiziell mitteilen, was über die Gestalt künftiger deutscher Staatlichkeit beschlossen war. Von einer Konferenz zwischen alliierten und deutschen Vertretern kann man eigentlich nicht sprechen, denn wesentliche Elemente einer Konferenz wie partnerschaftliche Diskussion, Austausch von Argumenten, Suche nach Kompromissen fehlten bei der Zusammenkunft. Es handelte sich um die Entgegennahme alliierter Vorstellungen, die den Charakter von Weisungen hatten, wenn man sich nicht einfach verweigern wollte.

Die deutschen Länderchefs waren, ohne Angabe des Raums und der Stunde einbestellt worden. Einzelheiten hatten sie erst nach dreitägigem Herumtelefonieren erfahren. Die Stimmung war, als man um 11.30 Uhr versammelt war, alles andere als euphorisch. Aber das Ereignis gehörte, wie man später erkannte, zu den entscheidenden Daten der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die Frankfurter Konferenz bildete den Wendepunkt vom alliierten Kriegsrecht, nach dem Deutschland regiert wurde, zur deutschen Eigenverantwortung. Die Dokumente, die den deutschen Politikern am 1. Juli 1948 überreicht wurden, enthielten in Form des Gründungsauftrags für einen deutschen Nachkriegsstaat die Chance der Selbstständigkeit nach Jahren der Besatzungsherrschaft.

Auf französisches Betreiben geschah die offizielle Übergabe der "Frankfurter Dokumente", wie der Grundriss der westdeutschen Zukunft seither heißt, in zeremonieller Form und frostiger Atmosphäre: Jeder der drei Militärgouverneure verlas in seiner Muttersprache (am Ende der Konferenz erhielten die Deutschen Übersetzungen) eines der drei Dokumente, General Lucius D. Clay das erste, das die verfassungsrechtlichen Bestimmungen enthielt, General Sir Brian Robertson das zweite über die Länderneugliederung, und General Pierre Koenig trug in scharfem Ton das dritte Dokument vor, in dem die Grundzüge eines Besatzungsstatuts fixiert waren.

Das erste der Frankfurter Dokumente ermächtigte die Ministerpräsidenten, bis zum 1. September 1948 eine Versammlung zur Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung einzuberufen, "die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wiederherzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält".

Im zweiten Dokument war die Neugliederung der deutschen Länder empfohlen. Eine Territorialreform innerhalb der westlichen Besatzungszonen war angesichts der von den Alliierten geschaffenen Gebilde, vor allem im nordwestdeutschen Raum, aber auch bei den drei südwestdeutschen Ländern (Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern, Baden), erwägenswert, aber nicht dringend.

Im dritten Dokument waren die Grundzüge eines Besatzungsstatuts skizziert. Darin wurde deutlich, wie eng der deutsche Spielraum für die Verfassung und für die künftige staatliche Existenz bemessen war. Die Militärgouverneure stellten zwar die Gewährung einiger Befugnisse der Gesetzgebung, Verwaltung und der Rechtsprechung in Aussicht; ausdrücklich ausgenommen blieben aber beispielsweise die Außenbeziehungen des zu gründenden deutschen Weststaats und die Überwachung des deutschen Außenhandels.

Die Besatzungsherrschaft würde also mit der Verabschiedung der Verfassung und der Staatsgründung noch nicht enden, sondern lediglich gelockert und juristisch neu definiert werden. Die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 515

Militärgouverneure würden, so hatten die deutschen Ministerpräsidenten in Frankfurt vernommen, "die Ausübung ihrer vollen Machtbefugnisse wieder aufnehmen", und zwar nicht nur bei drohendem Notstand für die Sicherheit, sondern auch, "um nötigenfalls die Beachtung der Verfassung und des Besatzungsstatuts zu sichern".

Die Einstellung in den Westzonen zu den beabsichtigten Änderungen war, quer durch die Parteien, eher positiv: Nach vier Jahren Besatzungsherrschaft, in denen die vier Besatzungszonen unter dem Regiment der Militärgouverneure gefährlich weit auseinandergedriftet waren, in denen die deutschen Politiker hatten einsehen müssen, dass sich die Dinge von allein kaum zum Besseren wandeln würden, war die Neigung stark, wieder zu einer staatlichen Existenz zu gelangen. Das Angebot einer parlamentarischen Vertretung und einer Exekutive wenigstens für die drei Westzonen war verlockend, aber die Politiker scheuten das Odium einer feierlichen Neugründung, die zu einem Staat unter Ausschluss der sowjetischen Besatzungszone führen musste. Der Verlust der nationalen Einheit schien ein zu hoher Preis für den staatlichen Neubeginn.

Deutsche Vorbehalte

Vom 8. bis 10. Juli 1948 berieten die Ministerpräsidenten aller Westzonen-Länder ihre Antwort an die Militärgouverneure. Der Tagungsort - das Hotel Rittersturz bei Koblenz - lag in der französischen Zone. Das war eine Premiere, denn bis zum Sommer 1948 hatte das französische Besatzungsgebiet ein abgesondertes Eigenleben geführt, die dortige Militärregierung sah Verbindungen über die Grenzen ihres Einflussgebiets hinaus ungern, ganz im Gegensatz zu den Amerikanern und Briten, die ihre beiden Zonen ab Januar 1947 immer enger zusammenschlossen und das Territorium der "Bizone" allmählich zu einer Art Modellstaat entwickelten. Die Öffentlichkeit nahm, von den ökonomischen und politischen Nachwirkungen der Währungsreform elektrisiert, wenig Notiz von den Ereignissen, die die Staatsgründung einleiteten; die Schlagzeilen blieben der jungen D-Mark und der Luftbrücke ins blockierte Berlin vorbehalten.

Vor und während der Rittersturz-Konferenz hatten sich auch die Parteispitzen mit den Frankfurter Dokumenten beschäftigt. CDU und CSU äußerten sich, bei aller Skepsis, die intern herrschte, einstimmig positiv zu den alliierten Vorschlägen, wogegen sich die SPD reservierter gab. Bei den Sozialdemokraten standen sich zweiRichtungen gegenüber. Die Bürgermeister von Hamburg und Bremen und der hessische Regierungschef begrüßten die Entwicklung, die übrigen SPD- Ministerpräsidenten zeigten sich ebenso wie der Parteivorsitzende Kurt Schumacher abwartend bis ablehnend. Tatsächlich unterschied sich die Stimmung in beiden Parteien aber wenig, CDU und CSU argumentierten lediglich geschmeidiger, während die Haltung der SPD wegen ihrer betonten Prinzipientreue unnachgiebiger wirkte als sie in Wirklichkeit war.

Führende Verfassungsexperten beider Parteien waren sich einig, dass man das Provisorische der ins Auge gefassten Staatsgründung betonen müsse und dass das angekündigte Besatzungsstatut als Ausdruck alliierter Verantwortung für die deutschen Angelegenheiten im Vordergrund stehen müsse. Die Antwort der westdeutschen Ministerpräsidenten an die Alliierten bestand deshalb nach dreitägigem Ringen in Ja und Nein zugleich. Die Vollmachten wollten sie zwar annehmen, aber nicht in der Form, wie sich die Alliierten das gedacht hatten. Der Primat der drei Westmächte sollte deutlich zum Ausdruck kommen, um den Vorwurf der Preisgabe der nationalen Einheit durch die westdeutschen Politiker zu verhindern. Aus dem gleichen Grund wünschten die Westdeutschen, dass das Besatzungsstatut zuerst erlassen werden sollte. Die Ministerpräsidenten lehnten auch eine "Nationalversammlung" zur Beratung und Verabschiedung einer Verfassung ab, die durch Volksabstimmung in Kraft gesetzt werden sollte. Statt dessen sollten die Landtage ein Gremium wählen, das ein provisorisches "Grundgesetz" ausarbeiten würde. Das sollte die Entwicklung offen halten. Man wollte zu größerer Selbstständigkeit kommen, ohne die Ostzone ausdrücklich preiszugeben.

Die Militärgouverneure hatten mit einer solchen Antwort und mit Gegenvorschlägen nicht gerechnet. General Clay war zornig, sein britischer Kollege Robertson nahm es gelassener und der Vertreter

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 516

Frankreichs, General Koenig, war sogar ganz zufrieden, dass es mit der westdeutschen Staatsgründung nicht so schnell vorwärtsging. Ihre Motive waren unterschiedlich, die Zurückweisung der deutschen Antwort auf die Frankfurter Dokumente durch die drei Militärgouverneure war jedoch einmütig, und die deutschen Ministerpräsidenten mussten sich jetzt, im vollen Bewusstsein ihres begrenzten Handlungsspielraums, abermals entscheiden. Die Alliierten hatten ihnen bedeutet, dass die "Londoner Empfehlungen", die die Grundlage der Frankfurter Dokumente bildeten, als verpflichtende Handlungsanweisungen zu betrachten waren. Die Deutschen konnten sie annehmen oder ablehnen, aber nicht verändern oder deutschen Wünschen anpassen.

Kompromisssuche

Die Ministerpräsidenten suchten jetzt nach einer Lösung, die so dicht wie möglich bei ihrer Position liegen, aber auch den alliierten Vorgaben nahe genug sein sollte. Scheitern lassen wollten die Ministerpräsidenten die staatsrechtliche Neuregelung aber auf keinen Fall. Das zeigte sich auch daran, dass sie beschlossen, ein Experten-Kollegium, zusammengesetzt aus Vertretern aller elf Länder der Westzone, als Verfassungsausschuss tagen zu lassen. Der bayerische Ministerpräsident bot dazu einen ebenso idyllischen wie abgeschiedenen Platz, nämlich die Herreninsel im Chiemsee, als Verhandlungsort an. Das war die Geburtsstunde des Herrenchiemseer Verfassungskonvents, der im August 1948 den Grundgesetz-Entwurf erarbeitete.

Am 26. Juli sollte den Militärgouverneuren die endgültige deutsche Antwort unterbreitet werden. Dazu mussten Kompromisse gefunden werden, mit denen man den Alliierten soweit entgegenkam, wie es notwendig war, ohne den grundsätzlichen Vorbehalt gegen die Gründung eines deutschen Teilstaats aufzugeben. Der Begriff"Grundgesetz" musste durchgesetzt werden, und weiter erschien es unverzichtbar, dieses Grundgesetz nicht durch Volksentscheid, sondern durch die Landtage ratifizieren zu lassen: Das waren die Positionen, mit denen das Provisoriumskonzept gestützt wurde. Bestandteil dieses Konzepts war die Vorstellung, dass der auf westdeutschem Gebiet zu errichtende "Kernstaat" stellvertretend für die deutsche Nation als Gesamtheit agieren und dass sich eines Tages die sowjetische Besatzungszone anschließen würde. Die Mehrheit der westdeutschen Politiker vertrat überdies die "Magnettheorie", nach der die steigende ökonomische und politische Attraktivität der Westzonen die sowjetische Besatzungszone geradezu magnetisch anziehen werde. Das war eine kühne Konstruktion, die als Weg zur Wiedervereinigung aber vom CDU-Sprecher Konrad Adenauer ebenso wie vom SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher propagiert wurde.

Bei den Abschlussverhandlungen mit den Militärgouverneuren am 26. Juli zeichnete sich zunächst eine Ablehnung der deutschen Wünsche und ein Scheitern der Verhandlungen ab. Dem Hamburger Bürgermeister Max Brauer (SPD), Bayerns Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) und Wilhelm Kaisen, dem sozialdemokratischen Bürgermeister von Bremen, gelang es jedoch durch geschicktes Taktieren, ein alle Beteiligten befriedigendes glückliches Ende der Konferenz zu befördern. Im Namen der drei westlichen Besatzungsmächte gab General Koenig schließlich das offizielle Einverständnis zur Errichtung der Bundesrepublik.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 517 Erarbeitung des Grundgesetzes

Etliche Hürden waren zu nehmen und eine beträchtliche Menge an Kleinarbeit war auf verschiedenen administrativen Ebenen zu erledigen, ehe ein gutes Jahr später im September 1949 der erste deutsche Nachkriegsstaat ins Leben trat. Zunächst mussten die elf Länderparlamente ein gleichlautendes Gesetz beschließen, das die Zusammensetzung des "Parlamentarischen Rats", wie die Verfassunggebende Versammlung nun endgültig hieß, regelte: In indirekter Wahl wurde für jeweils 750 000 Einwohner (mindestens jedoch einer pro Land) ein Abgeordneter von den Landtagen delegiert. Das ergab 65 Mandate, zu denen noch fünf Vertreter Berlins ohne Stimmrecht kamen.

Als Tagungsort wurde die Universitätsstadt Bonn gewählt, beworben hatten sich auch Celle, Düsseldorf, Frankfurt, Karlsruhe und Köln. Die Ministerpräsidenten entschieden sich für Bonn, damit auch die Britische Zone in der Gründerzeit der Nachkriegsrepublik mit einem wichtigen Ort vertreten war. Die Entscheidung über die künftige Hauptstadt sollte damit aber keineswegs vorweggenommen werden. Frankfurt galt wegen seiner verkehrsgünstigen Mittellage, als Sitz des Bizonen-Parlaments und der Bizonen-Administration noch lange Zeit als künftige Bundeshauptstadt. In Bonn wurden in aller Eile Quartiere und Büros für die Abgeordneten geschaffen, und der Neubau der Pädagogischen Akademie - das spätere Bundeshaus am Rheinufer - als Tagungsstätte des Parlamentarischen Rats hergerichtet.

Herrenchiemseer Verfassungskonvent

Unterdessen begannen am 10. August auf der Chiemseeinsel die Sachverständigen mit der Beratung eines Verfassungsentwurfs. Der bayerische Minister Anton Pfeiffer führte den Vorsitz, jedes Land hatte einen Experten delegiert, dazu kamen etwa zwanzig weitere Teilnehmer: Rechtsgelehrte, Politiker und Verwaltungsfachleute. Der "Verfassungskonvent" - so hieß das Gremium offiziell - empfand sich als politisch neutral, die großen Parteien CDU/CSU und SPD waren etwa gleichstark vertreten. Dem Verfassungskonvent war die Aufgabe gestellt, "Richtlinien für ein Grundgesetz" zu erarbeiten, also Lösungen für die einzelnen Verfassungsprobleme zu suchen und darzustellen.

Der "Bericht über den Verfassungskonvent", den die Ministerpräsidenten als Ergebnis der Beratungen vom 10. bis 23. August eine Woche später dem Parlamentarischen Rat übergaben, war nicht nur ein imponierendes Kompendium des Verfassungsrechts, gegliedert in eine ausführliche Darstellung der zu lösenden Probleme, den "Entwurf eines Grundgesetzes" mit 149 Artikeln - viele von ihnen in alternativen Versionen formuliert - und schließlich einen Kommentar mit Einzelerläuterungen zu bestimmten Artikeln. Das bescheiden als Tätigkeitsbericht deklarierte Dokument von 95 Druckseiten war für die Debatte der folgenden Monate im Parlamentarischen Rat von kaum zu überschätzender Bedeutung: Die strittigen Probleme von Herrenchiemsee waren wenig später auch die Streitfragen in Bonn. Der Hauptunterschied zwischen Herrenchiemsee und Bonn lag darin, dass hier die Probleme theoretisch erörtert und dargelegt werden konnten, dort aber politische Entscheidungen und Kompromisse gefunden werdenmussten.

Parlamentarischer Rat

Die Verfassungsexperten waren sich einig, dass man aus den Konstruktionsfehlern der Weimarer Verfassung, die 1932/33 zum Untergang der ersten Republik erheblich beigetragen hatten, die Nutzanwendung ziehen müsse. Das beherzigten dann auch die Verfassungsmütter und -väter im Parlamentarischen Rat: Die Regierung sollte sich auf das Vertrauen einer arbeitsfähigen Mehrheit des Parlaments stützen, eine arbeitsunfähige Majorität sollte weder eine Regierungsbildung vereiteln noch eine bestehende Regierung stürzen können. Um Präsidialregierungen, wie sie das Ende der Weimarer Zeit bestimmten, zu vereiteln, sollte das Staatsoberhaupt politisch neutral und ohne Macht (also ohne die damaligen Notverordnungsrechte) sein. Von Volksbegehren rieten die Experten dringend ab, Grundgesetzänderungen, "durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung" (diese Formulierung wurde auf der Chiemseeinsel gefunden) beseitigt werden könne, sollten in Zukunft unzulässig sein.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 518

Mit der gebotenen Feierlichkeit trat der Parlamentarische Rat am 1. September 1948 in Bonn zur konstituierenden Sitzung zusammen. Die 65 Abgeordneten - je 27 stellten die Unionsparteien und die SPD, die FDP hatte fünf Sitze, und je zwei Mandate hatten die Deutsche Partei, die Zentrumspartei und die KPD - wählten nach dem Festakt den 72-jährigen CDU-Politiker Konrad Adenauer zum Präsidenten. Vorsitzender des Hauptausschusses, in dem die wesentliche Arbeit geleistet wurde, war Carlo Schmid (SPD). AnfangDezember, nach der ersten Lesung im Hauptausschuss, waren die Konturen des Grundgesetzes sichtbar, aber die Meinungen gingen noch bei vielen Problemen auseinander. Nicht einig, und zwar vielfach quer durch die Fraktionen, war man sich über die Funktion des Staatsoberhauptes, über die zweite Kammer des Parlamentes (Bundesrat oder Senat), über die Verteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern, über das Verhältnis von Kirche und Staat und insbesondere über das "Elternrecht" zur Bestimmung der religiösen Erziehung.

Im Februar 1949 war das Grundgesetz im wesentlichen fertig, aber einige Bestimmungen - vor allem die Finanzverwaltung und die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern - missfielen immer noch den Alliierten, von deren Genehmigung das Verfassungswerk letztlich abhing. Weisungsgemäß pochten sie auf den Wortlaut der Frankfurter Dokumente, dem der Grundgesetzentwurf nicht ganz entsprach. Die Länder sollten einflussreicher, die Zentralgewalt etwas schwächer sein. Aber die Zeit war jetzt auf seiten der Deutschen, und der Widerstand - vor allem in den Reihen der SPD-Fraktion - gegen die meisten alliierten Änderungswünsche zahlte sich aus. Ende April einigte sich die Abordnung des Parlamentarischen Rats mit den Militärgouverneuren. Anfang Mai wurde das Grundgesetz abschließend im Hauptausschuss beraten und am 8. Mai - am vierten Jahrestag der Kapitulation - vom Plenum verabschiedet.

Die Militärgouverneure genehmigten am 12. Mai das Verfassungswerk, das in den folgenden Tagen den elf Landtagen zur Ratifizierung vorgelegt wurde. Mit der Ausnahme Bayerns, dessen Parlamentarier sich nach 17-stündiger Debatte mit einer Mehrheit von 101 zu 63 gegen das Grundgesetz aussprachen, wurde die Verfassung in allen Ländern genehmigt. Das bayerische Nein hatte keine Konsequenzen, denn es war nicht in antidemokratischer Absicht gesprochen; man hatte in München lediglich föderalistische Vorbehalte artikulieren wollen und gleichzeitig betont, dass man an der Geltung des Grundgesetzes auch im Freistaat nicht zu rütteln gedächte. Am 23. Mai 1949 konnte daher das Grundgesetz verkündet werden, in einer festlichen Schlusssitzung des Parlamentarischen Rates in Anwesenheit der Ministerpräsidenten, von Vertretern der Militärregierungen und anderen Würdenträgern.

Entstehung der Bundesrepublik Deutschland

Das Grundgesetz trat am Tag nach seiner feierlichen Verkündigung in Kraft, am 24. Mai 1949. Mehr als die Verfassung existierte von der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Vielerorts wurde jedoch angestrengt gearbeitet, um den vorerst nur als Idee existenten Staat auch mit Verfassungsorganen und allen nötigen Einrichtungen der Verwaltung auszustatten. Einer der letzten Beschlüsse des Parlamentarischen Rats hatte am 10. Mai 1949 mit knapper Mehrheit und nicht unumstritten Bonn zur vorläufigen Hauptstadt der Bundesrepublik erkoren. Der erste Bundestag bekräftigte im November 1949 den Beschluss des Rates.

Die Besatzungsbürokratie wurde umgebaut. An die Stelle der drei Militärgouverneure sollte mit dem Inkrafttreten des Besatzungsstatuts die Alliierte Hohe Kommission treten, die hoch über Bonn auf dem Petersberg residierte und durch ihren Standort auch das Machtgefälle zwischen den Hohen Kommissaren und der Bundesregierung augenfällig dokumentierte. Denn mit der Konstituierung der Bundesrepublik endete das Besatzungsregime ja noch nicht; die Souveränitätsrechte wurden bis zum Mai 1955 noch auf dem Petersberg verwaltet. Es war freilich kein direktes Besatzungsregime mehr, sondern eine zurückhaltend geübte Kontrolle, die sicherstellen sollte, dass die Westdeutschen auf dem von den Alliierten gewünschten Weg blieben.

Bald nach der Verabschiedung des Grundgesetzes setzte der Wahlkampf ein. Die Schlacht um

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 519

Wählerstimmen wurde mit knappem Ergebnis ausgefochten zwischen der von Kurt Schumacher geführten SPD und der von Adenauer gelenkten Union aus CDU und CSU, die zusammen mit der FDP den Direktor des Wirtschaftsressorts der Bizone und künftigen Bundesminister zum erstenmal als Wahllokomotive einsetzte. Erhard entschied als Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft wesentlich das Ergebnis vom 14. August 1949, das Konrad Adenauer die erste Koalitionsabsprache ermöglichte: Der Vorsitzende der FDP, Theodor Heuss, sollte Bundespräsident werden, er selbst wollte sich um das Amt des Kanzlers bewerben.

Von den 402 Mandaten des ersten Bundestags hatten CDU und CSU 139 (31 Prozent der Wählerstimmen) errungen; die SPD gewann wider Erwarten nur 131 (29,2 Prozent), 52 Abgeordnete stellte die FDP und 17 die konservative Deutsche Partei. Ebenfalls 17 Vertreter hatte die Bayernpartei. Auch kleinere Parteien wie die "Wirtschaftliche Aufbauvereinigung" (WAV - zwölf Sitze) und die katholische Zentrumspartei (zehn Sitze) waren im Parlament vertreten; die Kommunisten waren mit 15 Abgeordneten (5,7 Prozent) präsent. Rechtsradikale gab es auch, und zwar als Parteilose sowie in den Reihen der Deutschen Konservativen Partei/ (DKP/DRP -fünf Mandate).

Am 7. September konstituierte sich der erste Deutsche Bundestag, am 12. September wählte die Bundesversammlung Theodor Heuss zum Bundespräsidenten. Am 20. September gab der fünf Tage zuvor gewählte Kanzler Konrad Adenauer seine erste Regierungserklärung ab, nachdem die Bundesregierung vereidigt worden war. Das war juristisch gesehen die Geburtsstunde der Bundesrepublik. Am folgenden Tag machte der Kanzler, begleitet von einigen Ministern, den Antrittsbesuch auf dem Petersberg bei den Hohen Kommissaren, die als letzten Konstituierungsakt das Besatzungsstatut in Kraft setzten.

Vom "Deutschen Volkskongress" zur DDR

Als Reaktion auf die Ende November 1947 bei der Londoner Außenministerkonferenz erkennbare Tendenz der Westmächte, eine westliche Teillösung des Deutschlandproblems zu suchen, wurde in der Ostzone von der SED der "Deutsche Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden" als Sammlungsbewegung initiiert. Die SED wollte damit Druck auf die Londoner Verhandlungen ausüben, die Position des sowjetischen Außenministers in London stärken, sich selbst als treibende Kraft zugunsten der deutschen Einheit profilieren, und der westlichen Seite die Schuld an der Spaltung zuweisen. Bei den anderen Parteien der Ostzone, insbesondere bei der CDU, aber auch bei Teilen der LDP, stieß die SED-Initiative auf Ablehnung. Die CDU-Vorsitzenden Jakob Kaiser und Ernst Lemmer betrachteten die Volkskongressbewegung als Propagandamanöver und weigerten sich, mit der Teilnahme an der Bewegung ihre politische Eigenständigkeit aufzugeben. Sie wurden deshalb im Dezember 1947 auf Druck der SMAD abgesetzt und durchden gefügigeren Otto Nuschke ersetzt.

Zum Ersten Deutschen Volkskongress am 6. Dezember lud die SED Vertreter von Parteien und Massenorganisationen, Betriebsräte, Bauernverbände, Künstler und Wissenschaftler aus allen Besatzungszonen nach Berlin. Eine Legitimierung der Delegierten durch Wahl fand nirgendwo statt. Die meisten der 2000 Delegierten kamen aus der SBZ und Berlin, die SED stellte allein 605 Teilnehmer. Die größte Teilnehmergruppe der Westzonen bildeten 244 Vertreter der KPD. Einige wenige andere waren trotz des Verbots durch die Westalliierten nach Berlin gereist. Dem Kongress war die Rolle eines gesamtdeutschen Vorparlaments zugedacht, er forderte von der Londoner Außenministerkonferenz die Vorbereitung eines Friedensvertrags und die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung "aus Vertretern aller demokratischen Parteien". Die Außenminister sollten eine Delegation, nämlich die SED-Vorsitzenden Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl sowie den Vorsitzenden der Liberal- Demokratischen Partei, Wilhelm Külz, empfangen undvon ihnen entsprechende Vorschläge entgegennehmen.

Der Zweite Deutsche Volkskongress, der am 17. und 18. März 1948 tagte, und dessen Eröffnung im Zeichen des 100. Jahrestags der Märzrevolution von 1848 stand, protestierte gegen die Diskussion einer Staatsgründung in den Westzonen und beschloss, im Mai/Juni 1948 ein Volksbegehren für die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 520 deutsche Einheit in allen vier Zonen durchzuführen, das in den Westzonen aber nicht erlaubt wurde.

Weiterhin bestellte der Volkskongress einen 400 Mitglieder starken "Deutschen Volksrat". Er vertrat den Anspruch, ganz Deutschland zu repräsentieren (300 Delegierte kamen aus der SBZ, 100 Delegierte aus den Westzonen). Sein wichtigster Ausschuss unter der Leitung Otto Grotewohls arbeitete in den folgenden Monaten einen Verfassungsentwurf aus. Ein Ende 1946 von der SED vorgelegtes Modell einer (gesamtdeutschen) "Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik" diente als Ausgangspunkt. Der Verfassungstext von 1946 gewährleistete außer den Grundrechten das Privateigentum, sah jedoch die Enteignung von Großgrundbesitz vor, ferner die Sozialisierung von Bodenschätzen und bestimmten Betrieben. Der Wortlaut huldigte dem Prinzip des Parlamentarismus, und zwar soweit, dass der Parlamentspräsident zugleich Staatsoberhaupt sein sollte. Der neue Verfassungsentwurf orientierte sich formal stärker am Modell der Weimarer Reichsverfassung, trug aber den von der SED propagierten gesellschaftspolitischen Zielen Rechnung. Der Verfassungsentwurf des Volksrats wurde Ende Oktober 1948 öffentlich zur Diskussion gestellt.

Einheitslistenwahl

Im März 1949, als der Deutsche Volksrat wegen der bevorstehenden Verabschiedung des Bonner Grundgesetzes den "nationalen Notstand" verkündete, sollte ein dritter Volkskongress einberufen werden, um die Verfassung zu bestätigen. Dieser Dritte Deutsche Volkskongress sollte durch Wahlen legalisiert sein. Dazu wurden am 15. und 16. Mai 1949 in der SBZ und in Ost-Berlin Wahlen angesetzt, allerdings nach dem Prinzip der Einheitsliste des "Demokratischen Blocks", in dem Parteien und Massenorganisationen zusammengeschlossen waren. 25 Prozent der Listenplätze bekam die SED, jeweils 15 Prozent erhielten CDU und LDP und entsprechend weniger die anderen Parteien und Massenorganisationen.Die Wahl war mit einer Volksabstimmung über die deutsche Einheit verbunden. Wenn die Auszählung der Stimmen korrekt war (woran viele zweifelten), dann stimmten 66,1 Prozent der 13,5 Millionen Wahlberechtigten für die Einheitsliste.

Der auf dem Dritten Volkskongress (29. und 30. Mai 1949) neu gewählte Zweite Deutsche Volksrat konstituierte sich am 7. Oktober 1949 als Provisorische Volkskammer der DDR und setzte die Verfassung in Kraft.

Regierungsbildung

Die 330 Abgeordneten der Provisorischen Volkskammer waren nach politischem Proporz zusammengerufen worden, nicht aus freier Wahl hervorgegangen. Die SED hatte 96 Sitze, Liberaldemokraten und CDU verfügten je über 46, Nationaldemokraten und Demokratischer Bauernbund über 17 bzw. 15, die restlichen Mandate hatten der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund und Massenorganisationen wie die Freie Deutsche Jugend (FDJ) inne. Einstimmig, wie für Abstimmungsergebnisse im System des "demokratischen Zentralismus" üblich, wurde ein "Gesetz über die Provisorische Regierung der DDR" beschlossen und eine Länderkammer (34 Abgeordnete der 5 Landtage) gebildet. Otto Grotewohl, einer der beiden Vorsitzenden der SED, wurde als Ministerpräsident mit der Bildung einer Regierung beauftragt.

Drei Tage später übergab in Berlin-Karlshorst der Chef der Sowjetischen Militäradministration, General Tschuikow, die von der Militärregierung ausgeübten Funktionen an die Regierung der DDR. Die SMAD wurde aufgelöst und (parallel zur Entwicklung im Westen, wo im Sommer 1949 die Militärgouverneure durch Hohe Kommissare ersetzt worden waren) durch eine Sowjetische Kontrollkommission (SKK) abgelöst. Am 11. Oktober wählten Volks- und Länderkammer gemeinsam (und wiederum einstimmig) Wilhelm Pieck, den anderen Vorsitzenden der SED, zum Präsidenten der DDR.

Am folgenden Tag bestätigte die Volkskammer die Regierung und nahm Grotewohls Regierungserklärung entgegen, in der die Freundschaft zur Sowjetunion als Grundlage der Außenpolitik, die Tradition des Antifaschismus als innere Verpflichtung und die Ankündigung von

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 521

Anstrengungen, in Industrie und Landwirtschaft das Vorkriegsniveau zu erreichen, als Ziel der Wirtschaftsplanung die wichtigsten Punkte bildeten. Zur Sinnstiftung und Rückbindung mit den Werktätigen besuchten am folgenden Tag die Mitglieder der neuen Regierung volkseigene Großbetriebe, um den Arbeitern die Staatsziele zu erläutern und sie zur Gefolgschaft zu verpflichten. Es war der 13. Oktober 1949, der zum ersten Mal als "Tag der Aktivisten" begangen wurde, als Jahrestag der Rekordleistung des Bergmanns Adolf Hennecke, der nach dem Vorbild des sowjetischen Arbeiters Stachanow von 1935 in einer wohl vorbereiteten Hochleistungsschicht mit einer Normüberbietung von 387 Prozent im Kohlebergbau ein sozialpolitisches Signal für den Arbeiter- und Bauernstaat gesetzt hatte.

Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 259) - Zwei Staatsgründungen auf deutschem Boden (http://www.bpb.de/izpb/10085/zwei-staatsgruendungen-auf-deutschem-boden)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 522

Geschichte und Erinnerung

9.4.2005

Kann man von Bombenkrieg und Vertreibung reden, ohne in falsches Aufrechnen zu verfallen? Wie sollen wir uns erinnern? Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus bildet den Kern nachkriegsdeutscher Identität. Sie definiert unser Verhältnis zu uns selbst und unseren Nachbarn, trennt und vereint Generationen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 523

Video-Interview: Der 8. Mai als europäisches Datum

25.4.2006

Was wird erinnert? Und wie kann der Einzelne teilhaben am kulturellen Gedächtnis ? Aleida Assmann meint: Vor allem Gedenktage bieten dazu die Möglichkeit. Im 8. Mai sieht sie ein europäisches Datum: einen Tag, an dem man sich trifft und die individuellen, partikularen Erfahrungsgedächtnisse kombinieren kann mit einer gemeinsamen Vision für die Zukunft.

Was wird erinnert? Und wie kann der Einzelne teilhaben am kulturellen Gedächtnis? Aleida Assmann meint: Vor allem Gedenktage bieten dazu die Möglichkeit. Im 8. Mai sieht sie ein europäisches Datum: einen Tag, an dem man sich trifft und die partikularen, individuellen Erfahrungsgedächtnisse kombinieren kann mit einer gemeinsamen Vision für die Zukunft. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (© 2006 Bundeszentrale für politische Bildung) (http://www.bpb.de/ mediathek/737/der-8-mai-als-europaeisches-datum)

Wir unterscheiden im Deutschen zwei Worte: Gedächtnis und Erinnerung. Das Erinnern vollzieht man als einzelner Mensch, wenn man Erfahrungen hat, die man verarbeitet, über die man nachdenkt und die man sich wieder zurückruft – und die man vor allem auch mit anderen Menschen teilt. Die Soziologen haben festgestellt, dass in dem Maße, wie wir uns erinnern, wie wir Erinnerungen erzählen und weitergeben, wir sie auch in uns aufbauen. Es gibt aber auch größere Wir-Gruppen. Eine Wir-Gruppe ist z.B. die Nation in der wir leben, und die Nation bildet auch so etwas wie ein Gedächtnis aus: Ein Programm, eine Selbstbindung, eine Form, die Vergangenheit präsent zu halten, von der man glaubt,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 524 dass man auf sie nicht verzichten kann, weil man sie für die Gegenwart und für die Zukunft braucht.

Während die Historiker sich in der Vergangenheit tummeln und alles Mögliche erforschen und sich aneignen, ist die Vergangenheitskonstruktion auf der Ebene der Nation sehr selektiv. Im kollektiven Gedächtnis herrscht Platzmangel. Es ist immer eine Entscheidung, was hinein kommt, die mit einem starken normativen Wert verbunden ist. Wir identifizieren uns dadurch, es ist Teil unserer Identität. Deswegen können wir auch in diesem Zusammenhang von einem Gedächtnis sprechen.

Möglichkeiten der Teilhabe sind auf der Ebene der Nation Jahrestage. In Deutschland gibt es seit 1996 den 27. Januar als einen Jahrestag im kollektiven Gedächtnis der Deutschen: die Befreiung von Auschwitz. Es gibt weitere Jahrestage, die mehr oder weniger formell sind. So hat der 3. Oktober überhaupt keine historische Relevanz. Der 9. November hingegen ist ein Datum, das im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, im Erfahrungsgedächtnis noch verankert ist, und zwar auf vielfältige Weise. So steht dieses Datum u.a. auf der einen Seite für den der Tag des Mauerfalls und damit einer friedlichen Revolution. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch das Datum der Reichspogromnacht, also ein Tag der Gewalt.

Deutschland ist natürlich keine selbstgenügsame Einheit, sondern Teil der Europäischen Union. Die Frage ist deswegen, ob auch diese Union so etwas wie ein gemeinsames Gedächtnis ausbildet. Ich persönlich dachte am 8. Mai des letzten Jahres [2005; Anm. d. Verf.] sehr stark daran, ob nicht der 8. Mai zu so etwas werden kann wie ein europäisches Datum. Der 8. Mai ist ein Datum, das man aus vielen Perspektiven erlebt hat, an dem man sich trifft und die individuellen, partikularen Erfahrungsgedächtnisse kombinieren kann mit einer gemeinsamen Vision für die Zukunft. Das wäre ideal, da Deutschland dabei ist, diesen Tag nicht mehr als Katastrophe und Niederlage zu bewerten, sondern als Tag der Befreiung.

Das Problem dabei wäre jedoch, dass man nicht berücksichtigt, dass es eine Art Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs gibt, und zwar durch die Okkupationen in Osteuropa und die Dikaturen, die dort entstanden sind, sodass man nicht sagen kann, dass dieses Datum generell für Europa gleichermaßen als Tag der Befreiung gefeiert werden kann, weil er nämlich auch schon wieder einen Teil der Unfreiheit eröffnet. Mit anderen Worten: Man muss überlegen, ob man etwas finden kann, wo sich alle treffen. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man geht ganz weit zurück in die Geschichte und schaut nach den Wurzeln der europäischen Kultur, so. z.B. Mittelmeerraum oder christliches Abendland oder jüdisch-christliche Kultur und Traditionen; oder aber es geht darum, die verworrenen und zerstrittenen Erinnerungen miteinander auszugleichen.

Interessant ist auch die Frage, ob es auf transnationaler, über Europa hinausgehender Ebene Erinnerungspunkte in der Vergangenheit gibt, die man für eine Art von Weltgesellschaft relevant machen könnte. Der Holocaust wird für Europa eine zwingende und bindende Erinnerung sein. Die Frage ist: Wie sieht es in anderen Ländern aus, die eine ganz andere Geschichte hatten? Ich denke z.B. an die Traumata der Kolonialisierung. Die postkoloniale Geschichte hat gezeigt, wie sich diese Nationen von der Kolonisierung befreit haben, nämlich durch Zerschlagung ihrer eigenen Kulturtraditionen und eine Form der Enteignung. Diese Traumata sind von anderer Qualität und können nicht alle unter der Chiffre des Holocaust subsumiert werden [Anm. d. Verf.: Frau Assmann bezieht sich hier auf Äußerungen auf dem Podium, in denen Redner berichtet hatten, dass in China die so genannte Kulturrevolution und die damit verbundene Ermordung politischer Gegner mitunter mit dem Holocaust verglichen werde].

Der Punkt ist deswegen, dass der Holocaust nicht als Erinnerungsdatum fungiert, sondern als ein Symbol für ein Trauma, das grundsätzliche Bedeutung hat und das die Zukunft der Menschen prägt in dem Sinne, dass man aus ihm die Leere zieht, Menschenrechte zu entwickeln und auch die eigenen Traditionen zu schützen, also eine Stärkung des Einzelnen erreicht innerhalb einer globalisierten Weltgesellschaft. Das könnte mit der Chiffre des Holocaust auch in den Kulturen möglich werden, die selbst nicht an dieses [Anm. d. Verf.: deutsche und europäische] Erfahrungsgedächtnis gebunden sind.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 525

Redaktion: Matthias Jung Kamera und Schnitt: Jörg Pfeiffer Das Interview entstand im Rahmen der Veranstaltung "China zwischen Vergangenheit und Zukunft" vom 22.-24. März 2006.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 526

Vortrag: Rückblick auf die Holocaustforschung Rede von Raul Hilberg

23.1.2008

Er war ein Pionier auf seinem Gebiet: Mit dem Werk "Die Vernichtung der europäischen Juden" legte Raul Hilberg den Grundstein für eine intensive Erforschung des Holocaust. Seinen letzen Vortrag hielt er am 11. Dezember 2006 auf der bpb-Konferenz "Der Holocaust im transnationalen Gedächtnis".

Holocaust-Forscher Raul Hilberg referiert über die Etappen und Prozesse auf dem Weg in die Vernichtung der europäischen Juden. (http://www.bpb.de/mediathek/308/der-weg-in-den-holocaust)

Wie hat sich die Holocaustforschung entwickelt und wie ist der Stand der Forschung heute? Der international bekannte Historiker Raul Hilberg zieht in seiner Rede eine Bilanz der Forschung und blickt zurück auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Mit seiner Dissertation "Die Vernichtung der europäischen Juden" begann seine lebenslange Beschäftigung mit dem Holocaust. Er hinterließ ein Standardwerk, das den Weg für eine intensive Holocaustforschung eröffnete.

Die Rede entstand im Rahmen der internationalen Konferenz "Der Holocaust im transnationalen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 527

Gedächtnis" der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und des Zentrums für Antisemitismusforschung am 11.12.2006 in Berlin.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 528

Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus

Von Hans Mommsen 23.3.2007 Dr. phil., geb. 1930; em. O. Professor für Neuere Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum; korrespondierendes Mitglied der British Academy und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Mitglied der deutsch-tschechischen und deutsch- slowakischen Historiker-Kommission sowie der Weiße Rose-Stiftung e.V.; Possenhofener Straße 14, 82340 Feldafing.

E-Mail: [email protected]

In den Forschungen zum NS hat eine Schwerpunktverschiebung zur Analyse des Holocaust und zur Täterforschung stattgefunden. Dabei rückt das Verhältnis von weltanschaulichen und strukturellen Faktoren in den Vordergrund.

Einleitung

Seit einigen Jahren steht die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit weniger stark im Mittelpunkt der historischen Forschung, während der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet wird, ja als Reaktion auf die Wiedervereinigung geradezu ein Übergewicht der DDR-Forschung zu verzeichnen ist. Dabei scheint die historische Perspektive des Diktaturvergleichs den Blick auf das Alltagsleben und die soziale Lage der Bevölkerung der DDR eher unterbelichtet zu haben, obwohl vor allem Lutz Niethammer und seine Mitstreiter mit der Entfaltung der Oral History wesentlich dazu beigetragen haben, diese Lücke im bislang stark von Westdeutschland her geprägten Bild der DDR auszufüllen.[1]

Bei der NS-Forschung hingegen ist eine deutliche Schwerpunktverschiebung zu konstatieren. Sie hängt einerseits damit zusammen, dass seit einer Reihe von Jahren die Judenverfolgung und der Holocaust zum zentralen Paradigma der Behandlung des Dritten Reiches geworden sind. Zwar hat sich die so genannte "Täterforschung" auch auf andere verfolgte Gruppen, etwa die Sinti und Roma, ausgeweitet, aber im Mittelpunkt steht die Frage nach der direkten und indirekten Beteiligung von Funktionsträgern des Regimes an der Judenvernichtung. Dabei tritt die individuelle Schuld und weltanschauliche Indoktrination in den Vordergrund und wird tendenziell von den politischen Prozessen, die zur "Endlösung" geführt haben, abgekoppelt. Daraus ergibt sich eine Ex-Post-Sicht, welche die einzelnen Verläufe in einen stufenförmigen Prozess rassenpolitischer Radikalisierung einordnet, der notwendig in der Shoah endet.

Parallel dazu hat sich die Zahl der Studien zur nationalsozialistischen Lagergesellschaft, insbesondere zur Geschichte der Konzentrationslager vervielfacht. Zugleich konzentriert sich die Forschung auf die Instrumente des Terrors. Neben der bahnbrechenden Studie von Michael Wildt über das Personal des Reichsicherheitshauptamtes liegt eine Fülle von Studien zu den einzelnen Apparaten im Bereich von SS und Polizei vor, die eingehende Informationen über die politisch-weltanschauliche Indoktrination der an der Vernichtungspolitik des Regimes aktiv beteiligten Tätergruppen vermitteln. Den Anfang machte die verdienstvolle Untersuchung von Christopher Browning.[2] Zugleich haben sich die verfügbaren Daten über die Repression gegen die Arbeiterschaft, in erster Linie die Zwangsarbeiter, darunter das System der Arbeitserziehungslager, entscheidend erweitert.[3] Eine ähnliche Ausweitung der Forschung ist auch für andere Politikbereiche zu verzeichnen, so für den Komplex der Euthanasie und der Eugenik. Davon ausgehend liegen aufschlussreiche Studien über die privilegierte Stellung der Ärzte und ihre aktive Unterstützung der Rassenpolitik vor. In den vergangenen Jahren ist auch der bis dahin eher vernachlässigte Bereich der Wissenschaftspolitik als

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 529

Bestandteil der NS-Politik berücksichtigt worden. Einerseits stellt sich immer klarer heraus, dass sich große Teile der Hochschullehrer und Akademiker, auch wenn sie nicht immer den vorgegebenen Linien der NS-Wissenschaftspolitik zustimmten, in den Dienst der Ostraumexpansion gestellt oder mit dem Programm rassischer Homogenisierung sympathisiert haben.[4]

Die Vorstellung, dass die Wehrmacht sich bis in die letzten Kriegsmonate hinein eine gewisse Autonomie bewahrt und von der verbrecherischen Politik des Regimes freigehalten hat, ist nicht erst durch die Hamburger Wehrmachtsausstellung vollständig widerlegt worden. Von der jüngeren Forschung ist die Mitverantwortung namentlich der Armeeführung im Einzelnen nachgewiesen worden. Auch wohlmeinende Bestrebungen, die Angehörigen der Militäropposition von dem Vorwurf freizusprechen, jedenfalls zunächst die von Hitler proklamierte Linie des "Rassenvernichtungskrieges" unterstützt und die Tätigkeit der Einsatzgruppen gebilligt zu haben, erwiesen sich als unhaltbar.[5] Vielmehr zeigen jüngste Forschungen, dass die Generalität aus unterschiedlichen Motiven heraus die Vernichtungspolitik gegenüber der Sowjetunion gedeckt und bejaht hat. Prominente Vertreter des "Anderen Deutschland" waren zumindest anfänglich in die kriminellen Zielsetzungen des Regimes verstrickt, wenngleich sie - allerdings erst sehr spät - den Entschluss zum Bruch mit Hitler und dem Führerstaat fassten.

Funktionalismus vs. Ideengeschichte

Bereits seit den 1960er Jahren hatten sich die zeitgeschichtliche Forschung und Publizistik in Deutschland zunehmend dem Schicksal der Opfer des Regimes zugewandt, wobei dieser Begriff eine zunehmend moralische Färbung gewann und in einem sehr breiten, nicht näher definierten Sinn verwandt wurde. Die Fokussierung des Erkenntnisinteresses auf die vom NS-Regime verfolgten und ideologisch ausgegrenzten Gruppen war mit einer Tendenz zur Ausblendung der politischen Prozesse verknüpft. Die Inflation des Opferbegriffs schlug seit den 1990er Jahren in verstärktes Interesse an den verantwortlichen Akteuren um. Den Einsatzpunkt stellte die monumentale Biographie von Ulrich Herbert über Werner Best dar. Fragen zur vergleichenden Typologie und Motivation der Täter traten zunehmend in den Mittelpunkt der Forschung.[6]

Zahlreiche jüngere Studien, angeregt von den Arbeiten Herberts, zielen darauf ab, mittels der Aufschlüsselung der Rolle und Motivation der "Täter" gleichsam das Bewegungsgesetz der NS-Diktatur erfassen zu können.[7] Diese Bestrebungen verknüpfen sich häufig mit einer Kritik an der funktionalistischen Schule, die durch die Hervorhebung struktureller Faktoren dazu tendiere, die schuldhafte Verstrickung der Handelnden zu verdecken. Dies reicht bis zu dem Vorwurf, die "Funktionalisten" hätten die Person Adolf Hitler nicht durch benennbare Personen oder Gruppen, sondern durch abstrakte Strukturen ersetzt und Täter und Opfer in gleicher Weise anonymisiert.[8] Damit verbindet sich die Unterstellung, der Funktionalismus sei durch "eine Tendenz zur Entsubstantialisierung der realen Geschichte" und "eine ostentative Vernachlässigung von Weltanschauung und Ideologie" gekennzeichnet.[9] Die Kontroverse reicht bis zu dem Vorwurf einer "zweiten Entnazifizierung" und der zugespitzten Polemik, es dränge sich der Eindruck auf, dass die Schuld Hitlers begrenzt werden solle[10] und dass die Akteure des "Verwaltungsmassenmords" als "willenlose Objekte" und "hilflose Befehlsempfänger" gezeichnet würden.[11]

Nimmt man die überschüssige Polemik weg, bleibt die Behauptung, die Funktionalisten hätten einer Beschönigung der NS-Verbrechen in die Hände gearbeitet und der Exkulpierung zahlreicher Funktionsträger des Regimes Vorschub geleistet. Die Zuspitzung von Dan Diner, die Funktionalisten hätten "Verantwortung" durch "Struktur" ersetzt,[12] ist jedoch absurd und endet in historischem Personalismus. Der tiefere Grund des Dissenses liegt in der ausgeprägt ideengeschichtlichen Tendenz der von Herbert ins Leben gerufenen Schule, die zugleich moralischen Gesichtspunkten verpflichtet ist.[13] Doch die zeitgeschichtliche Forschung in Deutschland ist nur in untergeordnetem Maße dafür verantwortlich zu machen, dass die Verfolgung von NS-Verbrechen nur schleppend erfolgte und die Initiative dazu bei der Justiz lag.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 530

Bei allen Verdiensten des biographiegeschichtlichen Zugriffs für ein tieferes Verständnis der Funktionsweise des NS-Herrschaftssystems stößt dieser auf methodische und sachliche Grenzen. Das gilt zunächst für die nur beschränkte Verfügbarkeit biographischer Quellen schon bei Angehörigen der Mittelklasse, während politische Einstellungen und Haltungen von Vertretern der Unterschichten nur ausnahmsweise mit individuellen Zeugnissen rekonstruiert werden können. Wichtiger erscheint, dass der größere Teil gerade der an der Gewaltentfesselung im Regime unmittelbar Beteiligten biographiegeschichtlich kaum erfassbar ist und ihre Handlungen in die Trivialität des Unsagbaren absinken, was exemplarisch in der Studie Karin Orths über die Konzentrationslager zum Ausdruck kommt.[14] Die Täterforschung - etwa in der grundlegenden Untersuchung von Michael Wildt[15] - orientiert sich an einem bestimmten Typus des NS- und SS-Funktionärs, der in der Regel einen akademischen oder doch intellektuellen Hintergrund hat. In der Masse der Fälle lassen sich über politisch-weltanschauliche Handlungsmotive jedoch keine hinreichenden Aussagen machen,[16] und es stellt sich ohnehin die Frage, welche Relevanz ihnen zukommen würde.

Ungeachtet der beträchtlichen Leistungen, welche die "Täterforschung" aufzuweisen hat, ist doch unverkennbar, dass sie an Grenzen stößt, die nicht dem Mangel an biographischen Informationen zuzuschreiben sind. Schon der Begriff des "Täters" umgreift einen Typus, der in den weltanschaulich aufgeladenen bürokratischen Apparaten des Regimes anzutreffen ist, aber auf die "Macher" im engeren Sinne - die hohen NS-Chargen - kaum angewandt werden kann, deren intellektuelle und menschliche Mediokrität sich einer sinnvollen biographischen Darstellung entzieht. Das Medium der historischen Biographie erscheint daher nur bedingt geeignet, die politisch-gesellschaftlichen Strukturen des Dritten Reiches aufzuschlüsseln, die durch eine systematische Erosion der Autonomie der Individuen zugunsten von deren instrumenteller Verfügbarkeit für die Zwecke des Regimes gekennzeichnet sind. Für die NS-Herrschaft ist es gerade charakteristisch, dass Täter durchweg als Kollektive, jedenfalls stets in bürokratischen oder kameradenhaften Zusammenhängen handeln, hinter denen die individuellen Charaktere zurücktreten.

Als ursprünglich primär juristisch determinierte Kategorie zielt der Täterbegriff auf ein sachlich abgrenzbares und individuell verantwortliches Handeln. Neben der Ermordung von Juden, Sinti und Roma stehen die Euthanasie, Menschenversuche und die Verbrechen in den Konzentrationslagern und den Repressionsapparaten des Sicherheitsdienstes, der Ordnungspolizei und der Zivilverwaltung im Vordergrund. Die zahlreichen neueren Arbeiten zu diesem Bereich[17] haben dazu beigetragen, das extreme Ausmaß der Kriminalisierung der NS-Gesellschaft aufzudecken und der älteren Vorstellung den Boden zu entziehen, nach der die Verbrechen des Regimes nur von kleinen Minderheiten im Umfeld der SS begangen worden seien. Sie zeigen zugleich, dass von einem einheitlichen Tätertypus nicht gesprochen werden kann und dass die politische Sozialisation der Vollstrecker in den Apparaten der SS, Polizei und NSDAP den maßgeblichen Faktor für die Bereitschaft darstellte, sich in den Dienst der Vernichtungspolitik zu stellen, während die völkisch-ideologische Vorprägung in der Weimarer Zeit nur von untergeordneter Bedeutung ist. In seiner Untersuchung des Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes gelangt Michael Wildt zu dem Resultat, dass der strukturelle Einfluss der "SS-Weltanschauungsbürokratie" maßgebend war, um die Täter zum ihnen abverlangten Mordhandwerk zu motivieren.[18]

Der methodische Zugriff, mittels einer vergleichenden Biographieforschung und eines wie auch immer differenzierten Täterbegriffs die für die NS-Diktatur charakteristische Gewalteskalation und Entgrenzung des Verbrechens zu erklären, ist daher nur begrenzt ergiebig. Die Dynamik des Prozesses kumulativer Radikalisierung, die für das NS-System kennzeichnend ist, gerät dabei nicht in den Blick, und die Analyse der engeren Führungsgruppe ergibt ein eher einförmiges Bild. Insofern bietet die Täterforschung keine Alternative, sondern nur eine Ergänzung der funktionalistischen Methode, die die zerstörerische Dynamik des NS-Herrschaftssystems strukturell und nicht allein ideologisch zu erklären sucht.

Die Täterforschung ist in der Regel mit einer Hervorhebung der weltanschaulichen Faktoren verbunden, und sie hat das Verdienst, nachgewiesen zu haben, dass gerade in den Verfolgungsapparaten extrem

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 531 antisemitische Einstellungen handfest gewirkt haben, wie umgekehrt die Funktionalisten dazu neigten, in der Gegenbewegung zur herrschenden Meinung den ideologischen Faktor gegenüber den systemischen und bürokratischen Bedingungen zu gering einzuschätzen. Mittlerweile haben sich in der Forschung die Standpunkte angenähert, denn es ist evident, dass weltanschauliche Motive für sich nicht ausreichten, die Eskalation der Vernichtung voranzutreiben. Um die tödliche Interaktion zu beschreiben, die sich seit 1941 zwischen den lokalen Machthabern und dem Reichssicherheitshauptamt vollzog, bedarf es einer Analyse des komplexen Zusammenwirkens rivalisierender Instanzen, auch wenn sich vor Ort ein Zusammengehen aufdrängte.[19]

Kumulative Radikalisierung

Michael Wildt hat in seiner eindrucksvollen Analyse der "Generation des Unbedingten" ein faszinierendes Psychogramm der Führungsgruppe des Reichssicherheitshauptamtes erstellt. Im Unterschied zu den politischen "Hoheitsträgern", also der engeren Funktionärselite der Partei, zeichnet sich der in den Apparaten der SS herangezüchtete Tätertypus durch technokratische Effizienz und bürokratische Disziplin aus. Er arbeitet den Typus einer spezifischen "Weltanschauungsbürokratie" heraus, deren besondere Mentalität dem kontinuierlichen Radikalisierungsprozess sowohl bezüglich der Herrschaftsmethoden wieder langfristigen Zielsetzungen zugrunde liegt, und erhebt den Anspruch, damit die "Kontroverse um Intention und Funktion" auflösen zu können.[20] Doch handelt es sich bei der Mentalität des SS-Führungskorps um einen Sonderfall der sich in den NS-Führungsgruppen durchsetzenden Bindungslosigkeit und Amoralität, die in den von Hitler gefeierten neuen Führertypen im Osten kulminierten.[21]

Die diversifizierte Forschung des vergangenen Jahrzehnts vermittelt den Eindruck einer gewissen inneren Kompaktheit des NS-Regimes, dem es gelang, fast alle Politikbereiche ideologisch zu durchdringen. Dabei tritt der hochgradig fluktuierende Charakter der NS-Politik unterhalb der ideologischen Fernziele allzu leicht in den Hintergrund. Denn der inneren Stabilisierung des NS- Herrschaftssystems bis 1938/39 folgt mit dem Ausbruch und der Ausweitung des Zweiten Weltkrieges eine schleichende Auflösung des zentralen Regierungsapparates, der in der letzten Phase des Krieges in eine zunehmende Überschneidung der Kompetenzen zwischen innerer undallgemeiner Verwaltung, Parteiapparat, Reichssicherheitshauptamt und Sonderverwaltungen überging.[22] Abgesehen davon ist das Ausmaß von Improvisation, von unkontrolliertem Wildwuchs der Sonderverwaltungen und der allenthalben um sich greifenden ungeheuren Korruption schwerlich zu unterschätzen.[23] Von den unerhörten zerstörerischen und verbrecherischen Auswirkungen der NS-Politik darf nicht auf deren innere Rationalität und Konsistenz geschlossen werden, wie überhaupt deren kurzfristig ephemerer Charakter allzu leicht übersehen wird.

Mit der Fokussierung der Forschungsdiskussion auf die Implementierung des Holocaust und die Vernichtungspolitik gegen "Fremdvölkische" ist die Frage nach den Ursachen der sich ständig steigernden Dynamik des Herrschaftssystems eher in den Hintergrund getreten. Die nach und nach alle Politikfelder erfassende weltanschauliche Durchdringung erklärt zwar, warum sich gegen die Vernichtungspolitik des Regimes keine signifikanten Widerstände bei den traditionellen Eliten wie bei den gemäßigt eingestellten Mitgliedern der NSDAP und ihrer angegliederten Verbände einstellten. Aber die Ursachen des kumulativen Radikalisierungsprozesses, der das NS-System kennzeichnet, sind nicht einfach auf ideologische Fanatisierung zu reduzieren. Damit sich die Propaganda "beim Wort nehmen" konnte, also ideologische Fernziele in reales politisches Handeln umgesetzt wurden, bedurfte es spezifischer, im politischen System selbst angelegter Faktoren.[24]

In den vergangenen Jahren ist diese Radikalisierung überwiegend auf Hitlers weltanschaulichen Fanatismus und auf dessen direkte und indirekte Eingriffe zurückgeführt worden. Dies ist die Quintessenz zweier sonst so unterschiedlich ausgerichteter Gesamtanalysen wie Saul Friedländers eindrucksvollem Werk zur Geschichte des Holocaust und Richard Evans' Geschichte des Dritten Reiches.[25] In beiden Darstellungen geht die Triebkraft des Geschehens primär von Hitler aus, wenn auch ideologische bzw. antisemitische Voreinstellungen in der Bevölkerung komplementär einwirkten.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 532

Der entscheidende Faktor liegt nach Friedländer in der "persönlichen Wirkung" Hitlers und dessen "zwanghaftem Antisemitismus", der auf eine in Deutschland schon länger herausgebildete "antijüdische Kultur" getroffen sei. Er greift auf die im Sinne seiner übergreifenden Interpretation nach nicht unbedingt notwendige Auffassung zurück, Hitler habe am 12. Dezember 1941 einen umfassenden Befehl zur Implementierung der Shoah gegeben.[26]

Gleichwohl wird die Frage, in welchem Umfang Hitler - ungeachtet seiner uneingeschränkten Vetomacht - den politischen Entscheidungsprozess der letzten Jahre des Regimes maßgebend geprägt hat und wie stark der Anteil nachgeordneter Machtträger, nicht zuletzt Heinrich Himmlers gewesen ist, nach wie vor unterschiedlich beurteilt. In seiner Hitler-Biographie hat Ian Kershaw das Wechselverhältnis zwischen den politischen Initiativen des Diktators und den Erwartungshaltungen seiner Anhänger betont und damit den Ansatz Martin Broszats fortgeführt, nach dem dieser, indem er sich an vorherrschende Ressentiments und Stimmungen anpasste, als Produkt der ihn umgebenden Gesellschaft betrachtet werden müsse.[27] In der Tat besteht weitgehende Einigkeit in der Forschung, dass von einer Interaktion zwischen der Zentrale und den Vollstreckern vor Ort auszugehen ist.[28]

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie stabil der Führerkult - insbesondere mit dem Fortgang des Ostkrieges - gewesen ist. Zwar gelang es der Goebbels'schen Propaganda, die Person Hitlers als des "Führers der Nation" zur einer übermenschlichen Figur zu machen. Sie vermochte es, Attribute nationaler Identität auf dessen Person zu übertragen und alternative nationale Identifikationsmöglichkeiten abzublocken. Dadurch wurde die Figur Hitlers von der an der Partei, den Bonzen und der SS artikulierten Kritik unter der Formel "Wenn das der Führer wüsste" von der Verantwortung für Niederlagen, Verbrechen und Missstände ausgenommen.

Gleichwohl beeinträchtigte der Krieg gegen die Sowjetunion seine Popularität, und sie ging in dem Maße zurück, in dem sich die militärischen Niederlagen nach Stalingrad häuften. Gleichwohl blieb der Führerkult gerade für diejenigen Funktionäre, die alle Brücken hinter sich abgebrochen sahen, bis zuletzt erhalten und erwies sich als wirksames Mittel, um sie zum Durchhalten zu bewegen.

"Gefälligkeitsdiktatur"?

Es ist indessen fragwürdig, die politische Tragfähigkeit der von Goebbels wirkungsvoll beschworenen "Volksgemeinschaft" zu hoch zu bewerten. Es ist bezeichnend, dass die NS-Führung, wie Götz Alys Studie über "Hitlers Volksstaat" eindrücklich zeigt,[29] die Belastungsfähigkeit der Bevölkerung vergleichsweise gering einschätzte und sich scheute, den breiten Massen erhöhte Steuern aufzuerlegen. Das Regime war stattdessen bestrebt, durch die ökonomische und finanzpolitische Ausbeutung der besetzten Länder die materielle Versorgung des Altreichs auf einem erträglichen Niveau zu halten. Für diese bis zuletzt durchgehaltene Politik besaßen die Erfahrungen der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg entscheidende Bedeutung. Um sich die Sympathien der Bevölkerung zu sichern, sorgte Martin Bormann dafür, dass die Versorgung der Bombengeschädigten und der aus den bedrohten Grenzgebieten ausgesiedelten Bevölkerung ausschließlich bei der Partei bzw. der NS-Volkswohlfahrt lag, die in ihrem Auftrag tätig war.

Detaillierte Regionalstudien wie jüngst JillStevensons Analyse von "Hitler's Home Front" in Württemberg zeigen jedoch eindrücklich, dass der Grad des innenpolitischen Konsenses bei den "Volksgenossen" sehr geteilt war, auch wenn sie sich nach außen hin dem diktatorischen Regime unterwarfen, da es keine Möglichkeit gab, ihre Resistenz politisch zu artikulieren. Es ist bemerkenswert, dass die Württemberger zwischen ihrer Loyalität zu Hitler und ihrer Einstellung zur Partei und deren regionalen Repräsentanten klar differenzierten.[30] In kirchlichen Angelegenheiten, nicht zuletzt dem Religionsunterricht, aber auch im Hinblick auf die Agrarpolitik des Regimes bestand eine eindeutige Opposition. Diese Teildistanzierung ließe sich an anderen Regionen und Lokalstudien vielfältig bestätigen.[31] Desgleichen ist das Ausmaß der Übereinstimmung mit der Politik des Regimes, von wenigen Höhepunkten wie den Siegen über Polen und Frankreich abgesehen, eher begrenzt. Es scheint daher angebracht, auf den Begriff der "Volksgemeinschaft", der ja durch die Goebbels'sche

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 533

Propaganda eingefärbt wurde, im analytischen Kontext zu verzichten.

Einige Schritte weiter ging Götz Aly in seinem kontrovers aufgenommenen Buch über "Hitlers Volksstaat". Ausgehend von der Einsicht, dass die Erfahrungen des kriegswirtschaftlichen Systems im Ersten Weltkrieg die von Hitler und seinen Gefolgsleuten eingeschlagene Strategie maßgebend beeinflusst habe, betont er die Bestrebungen des Regimes, sich durch ökonomische Konzessionen die Sympathien der lohnabhängigen Bevölkerung zu sichern. Es ist unbestreitbar, dass die NS- Führungsgruppe gerade seit der Krise nach Stalingrad an der pseudosozialistischen Linie festhielt und sich gegen steuerliche Maßnahmen zu Ungunsten der unteren Bevölkerungsschichten wandte. Das sollte aber nicht zu der Ansicht führen, die NS-Sozialpolitik habe eine Einkommensumverteilung zugunsten der Unterschicht herbeigeführt, denn die Sozialpolitik des Regimes seit den 1930er Jahren hat trotz ihrer populistischen Züge die Einkommensverhältnisse der Unterschicht im Verhältnis zur Lage von 1928 keineswegs verbessert. Neuere Untersuchungen zeigen, dass von einem durch die Politik des Regimes maßgeblich unterstützten ökonomischen Aufschwung trotz der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit keine Rede sein kann.[32]

Aly ist so weit gegangen, den Unterdrückungscharakter des Regimes zu relativieren,und spricht von einer "Gefälligkeits-" und "Zustimmungsdiktatur".[33] Er stützt sich dabei auf die bis zum Beginn des Russlandkrieges günstig ausfallenden Meinungsumfragen. In seinem jüngsten Buch neigt er indessen dazu, diese Ergebnisse zu relativieren.[34] Wie weit die Bevölkerung die Politik des Regimes, die materiellen Belastungen im Kriege möglichst niedrig zu halten, direkt und indirekt - nicht zuletzt durch öffentliche Versteigerung jüdischen Wohnungs- und Haushaltseigentums, aber auch durch materielle Vorteile für Familien, deren Väter eingezogen waren - mit dauerhafter Zustimmung honorierte, ist kaum verlässlich zu bestimmen.[35] Indessen wird man schwerlich zu weit gehen, wenn man feststellt, dass der Begriff "Zustimmungsdiktatur" den Tatbestand verdeckt, dass die Loyalität großer, aber abnehmender Teile der Bevölkerung in erster Linie durch den direkten und indirekten Unterdrückungsapparat des Regimes und die Ausschaltung jeder freien Kommunikation bedingt war. Gerade in der Endphase des Krieges trat die massive terroristische Bedrohung auch der eigenen Bevölkerung offen zu Tage. Die verhängnisvolle Rolle der Justiz, die in den bei den Reichsverteidigungskommissaren eingesetzten Sondergerichten offenen Widerstand gegen die offizielle Durchhaltepolitik mit massiven Sanktionen bestrafte, und das Tätigwerden von mehr oder weniger willkürlich urteilenden Standgerichten verwandelten nun auch das Altreich in ein großes Gefängnis.

Sicherlich wirkte noch immer der Hitler-Kult nach, aber die lokalen und regionalen Parteiführer hielten sich nur noch mit der Androhung von Gewalt an der Macht. Der NS-Staat befand sich längst in der Auflösung, bevor er unter den harten Schlägen der alliierten Armeen endgültig zerfiel. Während sich Goebbels anschickte, die für den "Werwolf" in hastig geschaffenen Ausbildungslagern zusammengezogenen HJ-Jungen für die Aufgabe zu trainieren, die "nationalsozialistische Idee" auch nach dem bevorstehenden militärischen Zusammenbruch für die kommende Generation am Leben zu erhalten, zerbröckelten die letzten Reste des Großgermanischen Reiches.

Die klägliche Rolle, die Hitler dabei spielte, tritt in dem Maße, in dem sich das geschichtliche Interesse der Zusammenbruchphase zuwendet, immer mehr ins öffentliche Bewusstsein. Die öffentliche Ironisierung des Diktators, wie sie derzeit im Film und in den Medien hervortritt, scheint ein Indikator dafür zu sein, dass die Erklärungskraft der Person, die bislang wenig hinterfragt wurde, allmählich schwindet. In diesem Zusammenhang wird man sich an die Mahnung Martin Broszats erinnern, nicht "von den riesenhaften Wirkungen auf die Ursächlichkeit der Person" Hitlers zu schließen.[36] Dies gilt umso mehr angesichts der Notwendigkeit, die Geschichte des Nationalsozialismus in den internatonalen Zusammenhang zu stellen, was sich als zukünftige Aufgabe der Forschung stellt, nachdem die Entwicklung in den von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzten oder von ihm abhängigen Ländern inzwischen weitgehend erschlossen worden ist.

Text aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 14-15/2007) (http://www.bpb.de/apuz/30541/

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 534 forschungskontroversen-zum-nationalsozialismus)

Fußnoten

1. Vgl. Lutz Niethammer, Drei Fronten, ein Fehlschlag und das Unbewußte der Aufklärung, in: Norbert Frei (Hrsg.), Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2006, S. 113ff. 2. Vgl. Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 191 und die "Endlösung" in Polen, Reinbek 1993. 3. Vgl. Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Frankfurt/M. 2003. 4. Vgl. Doris Kaufmann, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. I,1, Göttingen 2000, S. 9 - 20, sowie Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, in: ebd., Bd. I, 2, S. 557 - 584. 5. Vgl. Johannes Hürter, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006; ders./Felix Römer, Alte und neue Geschichtsbilder vom Widerstand im Ostkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 54 (2006), S. 301 - 322. 6. Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903 - 1989, Bonn 2001. 7. Vgl. Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2004. 8. Vgl. Ulrich Herbert, in German History. Some Introductory Remarks, in: Moshe Zimmermann (Hrsg.), On and under the Nazi Regime, Jerusalem 2006, S. 74. 9. Vgl. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 513. 10. Vgl. U. Herbert (Anm. 8), S. 74; N. Berg (Anm. 9), S. 513. 11. Gerhard Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 2), Göttingen 2002, S. 20ff.; Ulrich Herbert, Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des "Holocaust", in: ders. (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 - 1945, Frankfurt/M. 1998, S. 21. 12. Vgl. N. Berg (Anm. 9), S. 566. 13. Herbert verweist nachdrücklich auf die Ursprünge Bests im völkischen Lager, um dessen Rolle im SS-Apparat zu erklären. 14. Vgl. Karin Orth, Die Konzentrationslager der SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000. 15. Vgl. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 16. Vgl. Dieter Pohl, Die Ermordung der Juden im Generalgouvernement, in: U. Herbert (Anm. 11), S. 110ff. 17. Vgl. Gerhard Paul, Einleitung, in: ders. (Anm. 11); Michael Mallmann/Gerhard Paul, Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung, in: dies. (Anm.7), S. 1-32. 18. Vgl. M. Wildt (Anm. 15), S. 856ff. 19. Vgl. D. Pohl (Anm. 16), S. 113f. 20. M. Wildt (Anm. 15), S. 856f. 21. Vgl. Hans Mommsen, Der Krieg gegen die Sowjetunion und die deutsche Gesellschaft, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.), Präventivkrieg. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt/M. 2000, S. 65f. 22. Vgl. den Überblick bei Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 499ff., S. 533ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 535

23. Vgl. vor allem Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt/M. 2004. 24. Diese Formel findet sich bei Martin Broszat, SozialeMotivation und Führerbindung im Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1988, S. 32f. 25. Vgl. Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939 - 1945, München 2006; Richard J. Evans, Das Dritte Reich, Bd. 2, München 2006; dazu Hans Mommsen, Terror und Angst, in: Die Zeit, November 2006, S. 17f. 26. Vgl. Christian Gerlach, Die Wannseekonferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundentscheidung, alle Juden Europas zu vernichten, in: Werkstatt Geschichte, 6 (1997), S. 7 - 44. 27. Vgl. Ian Kershaw, Hitler 1889 - 1936, Stuttgart 1998, S. 26f.; M. Broszat (Anm. 24), S. 127ff. 28. Vgl. Ulrich Herbert, Die deutsche Militärverwaltung in Paris und die Deportation der französischen Juden, in: ders. (Anm. 11), S. 208. 29. Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005, S. 66ff. 30. Vgl. Jill Stevenson, Hitler's Home Front. Württemberg under the Nazis, London 2006. 31. Exemplarisch: Hamburg im "Dritten Reich", hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Göttingen 2005, darin vor allem Frank Bajohr, Die Zustimmungsdiktatur. Grundzüge nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg, S. 69 - 121. 32. Vgl. Ludolf Herbst. Der totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft 1939 - 1943, Stuttgart 1982, S. 207ff.; Christoph Buchheim/Jonas Scherner, Anmerkungen zum Wirtschaftssystem des "Dritten Reichs", in: Werner Abelshauser u.a. (Hrsg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 89 - 94; Christoph Buchheim, Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933 - 1945, in: Historische Zeitschrift, 282 (2006), S. 351 - 390. 33. G. Aly (Anm. 29), S. 49, S.333. 34. Vgl. Götz Aly (Hrsg.), Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2006, S. 130ff. 35. Vgl. Frank Bajohr, "Arisierung" in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933 - 1945, Hamburg 1997. 36. Vgl. M. Broszat (Anm. 24), S, 122f.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 536

Der 20. Juli 1944 - mehr als ein Tag der Besinnung und Verpflichtung

Von Peter Steinbach 9.4.2005

Dr. phil., geb. 1948; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Karlsruhe (TH); seit 1983 wissenschaftlicher Leiter der ständigen Ausstellung "Widerstand gegen den Nationalsozialismus" in Berlin, seit 1989 wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin.

Anschrift: Institut für Geschichte, Franz-Schnabel-Haus, Universität Karlsruhe (Gebäude 30.91), Kaiserstraße 12, 76131 Karlsruhe.

E-Mail: [email protected]öffentlichungen u.a.: Widerstand im Widerstreit: Die Deutschen und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Paderborn 1994, 20012; (zus. mit Johannes Tuchel) Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 2004.

Sie waren "das andere Deutschland", das gute: Die Attentäter des 20. Juli gehören fest zu unserem Selbstbild. Sie gelten als Vorkämpfer der freiheitlichen Demokratie. Die wirklichen Menschen in ihren Konflikten gehen unter diesem Bild verloren. Dafür zeigt es beispielhaft die Instrumentalisierung der Erinnerung an den Widerstand.

Stauffenberg - von der Diffamierung zur Anerkennung

Im 60. Jahr nach dem Anschlag auf Hitler macht die Konkurrenz der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten um die optimalen Sendeplätze großer Dokudramen über die Attentäter deutlich, dass die Würdigung dieser Hitler-Gegner inzwischen einen festen Ort in der historischen Erinnerung der Deutschen einnimmt. Dies war in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland keineswegs immer so. Zunächst bestimmte noch die NS-Propaganda das Bild. "Ehrgeizzerfressene Offiziere" hätten versucht, ihn zu töten, verkündete Hitler in den frühen Abendstunden des 20. Juli 1944 im Rundfunk. Die meisten Deutschen machten damals aus ihrem Abscheu gegen die Regimegegner keinen Hehl, und der Sicherheitsdienst registrierte akribisch, wie sehr die Deutschen der "Vorsehung", die Hitler vor dem Tode bewahrt habe, vertrauten.

Stauffenberg wurde damals nur insgeheim von jenen bewundert und gerechtfertigt, die dem Regime kritisch und distanziert gegenüberstanden und die wussten, dass Deutschland nur durch die militärische Niederlage von der NS-Herrschaft befreit werden konnte. Die meisten Zeitgenossen sahen nur den offenbar dilettantisch ausgeführten Versuch eines hohen Offiziers, in letzter Minute die eigene Haut und die Stellung seiner "Kaste" zu retten. Welcher Mut zur entscheidenden Tat gehörte, was der im Krieg schwer verletzte Offizier und Familienvater Stauffenberg riskierte, wollten sie weder wissen noch würdigen.

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wechselte die Perspektive. Nun wurde Stauffenberg nicht länger als Verräter diffamiert, seine Familie nicht mehr geächtet. Geachtet war der Attentäter freilich auch nicht. Viel zu spät sei der Bombenanschlag erfolgt, nicht konsequent genug sei seine Ausführung gewesen, hieß es an Stammtischen. Die meisten Deutschen lehnten es bis weit in die fünfziger Jahre strikt ab, eine Schule oder eine Straße nach ihm zu benennen. Diese Ablehnung lässt sich tiefenpsychologisch erklären, denn Fragen der Nachwachsenden nach der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern wurden in der Regel so beantwortet, dass sich fast immer eine Rechtfertigung für die Angepassten und Mitläufer ergab, die durch ihr Verhalten vieles von dem ermöglicht hatten, wogegen sich Stauffenberg gestellt hatte. Dennoch kamen seine Tat und seine Herkunft Mitte der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 537 fünfziger Jahre vielen gelegen, die den Widerstand als Ausdruck eines "anderen Deutschland" deuteten. Das Wort von dem einen Gerechten, dessen Existenz Deutschland vor dem Verderben bewahren sollte, wurde oft zitiert. Nicht selten schien es gar, als sei das Deutsche Reich das erste von den Nationalsozialisten besetzte Land gewesen - mit Stauffenberg als Freiheitskämpfer.

Die beiden Nachfolgestaaten wollten zehn Jahre nach der Niederlage einen Teil ihrer Traditionen aus dem Widerstand begründen. In der DDR sah die Führung die Sache so: In entscheidendem Maße sei der Widerstand von den Kommunisten angeleitet worden, und die Moskauer Kommunisten seien die führende Kraft des Gesamtwiderstands gewesen. Hüben las sich das anders: Die Regimegegner hätten sich der Vollmacht eines Gewissens gebeugt, das vor allem die Menschenwürde zum Maßstab gemacht habe.

Wie sollte man mit Stauffenberg umgehen? Seine Herkunft und Funktion konnte man nicht verändern. Vielleicht ließ sich seine innere Überzeugung ein wenig korrigieren? Der Potsdamer Historiker Kurt Finker, ein DDR-Historiker, deutete ihn als Attentäter, der zumindest Kontakt zu den Kommunisten gesucht habe. Natürlich hatte Stauffenberg niemals eine programmatische Nähe zu den Zielen des kommunistischen Widerstands artikuliert, so sehr er sich darum bemühte, mit Vertretern der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung wie Julius Leber und Adolf Reichwein aus dem Widerstand ohne Volk einen Widerstand aus dem Volk zu machen. Im Westen hingegen wurde Stauffenberg zunehmend als Regimegegner gezeichnet, der entschieden antikommunistisch war. Das war aber gewiss nicht sein Hauptmotiv. Vergessen wurde gern, dass er Leber ermutigt hatte, Kontakte zu kommunistischen Widerstandskämpfern zu suchen.

Warum ist es so schwer, Menschen aus den Denkvorstellungen ihrer Zeit heraus zu würdigen? Der angemessenen Würdigung von Stauffenberg stand eine Deutung im Weg, die ihn als Vorkämpfer der freiheitlich-demokratischen Grundordnung reklamierte. Kritiker betonten dagegen, dass er aus den Denkvorstellungen des Obrigkeitsstaates heraus den Weg in den Widerstand gesucht und noch bis in die letzten Wochen vor dem Attentat in der Sicherung einer deutschen Hegemonialstellung in der Mitte Europas ein wichtiges Ziel seiner Bestrebungen gesehen habe. Stauffenberg wurde zum Objekt der Kritik des bürgerlich-militärischen Widerstands und vielleicht sogar ein besonders prominentes Opfer vieler Deutscher, die sich von den Widerstandskämpfern im Umkreis des 20. Juli 1944 abwandten.

Verstellt wurde der Blick auf den Menschen Stauffenberg, auf die Leistung, Positionen zu überwinden, die er mit den Nationalsozialisten zunächst geteilt hatte. Keinen Blick hatte man für die Stufen seiner Distanzierung. So war zu lesen, er habe vor der Hakenkreuzfahne salutiert, er sei ohne Zögern in den Krieg gezogen. Das Gespür für die Dramatik, die in der Überwindung individueller Verstrickungen in die Zeitströme liegt, war nur schwach ausgeprägt - man suchte den reinen Helden, die Lichtgestalt und verfehlte die Wirklichkeit eines Lebens an der doppelten Front: von Bomben und Gestapo, von Kooperation und Konfrontation, von Gehorsam und Widerspruch.

Bekannte und Freunde betonten Stauffenbergs Entschlossenheit und Selbstlosigkeit, seine Begeisterungsfähigkeit und Konsequenz. Er wurde erst spät - 1943 - zum Motor des Widerstands in Berlin. Als er diese Funktion übernommen hatte, zögerte er nicht, sondern suchte Verbindungen, wollte die Basis des Widerstands vergrößern. Stauffenberg suchte die Verantwortung. Dass er scheiterte, lag nicht an ihm, sondern an seinen Kameraden in den Berliner Kommandos und in den Wehrkreisen, die sich am Abend des 20. Juli auf ihre Bindung durch den auf Hitler geleisteten Eid besannen und Stauffenberg verrieten.

Ein Erfolg seiner Tat hätte viele Menschen vor dem Tod bewahrt. Er wollte die Deutschen von Hitler befreien. Danach hätten die Überlebenden um die Struktur und die Prägung Deutschlands gerungen. Welches Deutschland das Resultat geworden wäre, wissen wir nicht. Stauffenberg zum Symbol des Rückwärtsgewandten zu machen, weil er aus den Horizonten seiner Zeit handelte, wäre unhistorisch. Es wäre ebenso leichtfertig, ihn zum Träger der freiheitlichen Grundordnung zu überhöhen. Diese

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 538

Ordnung war ein Resultat der Niederlage. Der Mensch Stauffenberg bleibt faszinierend. Er handelte nicht, als es zu spät war, sondern er handelte, weil er zu den wenigen gehörte, die entscheidungsfähig waren, die Verantwortung suchten und deshalb den "entscheidenden Wurf" riskierten.

"Weiße" und "schwarze Stränge" historischer Entwicklung

Der Widerstand hat sich einen Platz im Gedächtnis der Deutschen gesichert, auch in seiner Widersprüchlichkeit. Offensichtlich gehört der Streit um den "Besitz" am Widerstand seit der Befreiung von der NS-Herrschaft zu den wichtigen Voraussetzungen jeder historisch-politischen Identitätsdiskussion in Deutschland, die um "weiße" und "schwarze Stränge", um demokratische Traditionen, um "Tradition und Erbe", schließlich um den Stellenwert von "Auschwitz" im historischen Gesamtzusammenhang deutscher Geschichte kreiste.

In den fast sechzig Jahren öffentlichen Erinnerns an den Umsturzversuch des 20. Juli 1944 hat sich eine weitgehende Übereinstimmung herausgebildet. Die Regimegegner jenes Tages gelten als Persönlichkeiten, deren wesentliches Ziel vor allem die besondere Stellung der Grundrechte, des freiheitlichen Rechtsstaats, des Föderalismus und der Idee des europäischen Zusammenschlusses gewesen sein soll.

Zuvor hatte ebenso wie die Bundesrepublik, die in den offiziellen Gedenkveranstaltungen verkünden ließ, die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 hätten dafür gesorgt, dass wir die Lektion der Geschichte im Grundgesetz und beim Aufbau unseres freiheitlichen Staates angenommen hätten, auch die DDR- Führung beansprucht, Vollstrecker des Vermächtnisses antifaschistischer Widerstandskämpfer zu sein. Galt in der DDR der Widerstand als kommunistisch inspiriert und geführt, so vernachlässigten die öffentlichen Redner der Bundesrepublik den Widerstand aus der kommunistischen Arbeiterbewegung und betonten stattdessen den christlichen, vor allem aber den bürgerlichen oder militärischen Widerstand. Erst in den siebziger Jahren begann eine Überschneidung der bis dahin säuberlich geschiedenen Widerstandsbereiche - die Besitzfrage schien sich in eine gesamtdeutsche Dimension zu weiten, welche die bis dahin geübte moralische Diskriminierung durch Differenzierung von Zielen, Aktivitäten und Entwicklungsphasen gerade im wissenschaftlichen Kontext obsolet werden ließ.

Dabei wirkte sich vor allem die Einsicht aus, dass die verfassungs-, sozial- und außenpolitischen Ziele mancher Widerstandskämpfer und -gruppen keineswegs in jene Kontinuität zu rücken war, die den Widerstand im Umkreis des 20. Juli 1944 gleichsam zur Station der Vorgeschichte der Bundesrepublik und der Frühgeschichte des Grundgesetzes machen sollte. Heute ist unbestritten, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus angemessen nur als Produkt seiner Zeit zu deuten ist. Mit der Relativierung der Ziele des bürgerlichen und militärischen Widerstands öffnete sich zugleich das Interesse für alltagsgeschichtliche Dimensionen der Selbstbehauptung, der Hilfe für Verfolgte, schließlich der Desertion und des Widerstands in den letzten Kriegswochen und -tagen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 539 Streit um die Breite und Vielfalt des Widerstands

Neben der politisch geprägten, auf Selbstlegitimation der beiden deutschen Staaten zielenden Reklamation einzelner Widerstandskämpfer verstärkte sich der Eindruck, Regimegegner hätten gleichsam aus dem schützenden Geflecht von Institutionen heraus gehandelt und seien so nicht selten als Repräsentanten ihrer Einrichtungen tätig geworden. Auch hier erfolgte in den sechziger Jahren eine Korrektur, denn es zeigte sich, dass manche wichtige Repräsentanten der Kirchen immer wieder Rücksicht auf das Regime genommen und den Widerstand einzelner ihrer Glieder nicht hinreichend gedeckt oder unterstützt hatten. Dies galt für Dietrich Bonhoeffer wie für Alfred Delp, die ihren Weg bis zum Ende allein gingen. Folge einer derartigen Bemühung war es, Verbindungen von Regimegegnern zu Vertretern der Kirche hervorzuheben, ohne anzugeben, was die Kontakte bedeuteten - allein aus der Tatsache einer Begegnung wird stillschweigend auf eine innere Übereinstimmung von Regimegegner und Institution geschlossen.

Auch Familienangehörige einzelner Widerstandskämpfer erwecken heute vielfach aus großer zeitlicher Distanz zu den Ereignissen den Eindruck, sie seien in Überlegungen, Pläne, Diskussionen und Risiken der Attentäter tief eingebunden gewesen. In Wirklichkeit gingen die meisten Regimegegner außerordentlich vorsichtig vor. Sie waren bestrebt, ihre Angehörigen nicht zu gefährden - oft haben jene die Entscheidung ihres Vaters, Bruders oder Ehemannes weder verstanden noch gebilligt. Bisweilen erst in den späten fünfziger Jahren, in denen Regimegegner und Emigranten den Zeitgenossen vielfach noch als "Verräter" galten und es noch keineswegs eine selbstverständliche Ehrung der Widerstandskämpfer in der Öffentlichkeit gab, haben sie die Entscheidungen ihrer Angehörigen gebilligt und sich dazu bekannt. Dies war wenigerselbstverständlich, als es uns heute anmutet. Denn die deutsche Nachkriegsgesellschaft hegte, wie demoskopische Umfrageergebnisse zeigen, erhebliche Vorbehalte gegenüber Emigranten und Widerstandskämpfern, Verfolgten und Häftlingen.

Erst mit der Organisation regelmäßiger Gedenkveranstaltungen seit den späten fünfziger Jahren ergaben sich Veränderungen. Sie wirkten sich nicht nur auf die demoskopisch manifeste Stimmungslage der Nation aus, sondern beeinflussten auch das Selbstbewusstsein der Angehörigen. Immer öfter folgte dem Bekenntnis zum Widerstand der Appell der Angehörigen an die Nachlebenden, sich mit seiner Geschichte und vor allem mit den Zielen der Regimegegnerschaft zu beschäftigen und sie in der Breite und Vielfalt, auch in ihrer Widersprüchlichkeit und graduellen Steigerung wahrzunehmen.

Zunächst hatte sich die Tendenz einer intensiven und geradezu auf Identifikation zielenden Aneignung bei Jugendlichen bemerkbar gemacht, die in den frühen fünfziger Jahren ihren eigenen Weg zur Wirklichkeit des "Dritten Reiches" gesucht hatten. Antworten auf ihre Fragen boten vor allem zwei Bücher: das - schließlich auch dramatisierte und verfilmte - Tagebuch der Anne Frank und die Erinnerungen von Inge Aicher-Scholl an ihre Geschwister Hans und Sophie, um die sich die Münchener Widerstandsgruppe der "Weißen Rose" zusammengefunden hatte. Mehrere Auflagen erreichte das Buch "Offiziere gegen Hitler" von Fabian von Schlabrendorff. In ihm findet sich das seit den fünfziger Jahren überlieferte, durch alttestamentarische Bezüge an Intensität gewinnende Diktum, Deutschland werde wie Sodom nicht dem Untergang preisgegeben sein, wenn es zehn Gerechte in seinen Mauern berge. Dieser Satz machte den Widerstand zum Bezugspunkt der Erwartung, dass sich Deutschland durch einige seiner Angehörigen aus der Abgrundlosigkeit des Verderbnisses befreit habe, welches sich im Nationalsozialismus verkörperte. Auch Churchills (nirgends nachzuweisende, angeblich auf eine Parlamentsrede des Jahres 1946 zurückgehende) Äußerung über den Widerstand als Beleg für eine Stabilisierung der moralisch auf den Widerstand gegründeten deutschen Demokratie tat ihre Wirkung und wurde immer wieder zitiert.

Allen hämischen Bemerkungen und rechtsextremistischen Äußerungen zum Trotz hatte sich im Hinblick auf den Widerstand in den fünfziger Jahren ein breiter Konsens herausgebildet, der in den siebziger Jahren problemlos auf jene Bereiche des Widerstands ausgedehnt zu werden schien, die zunächst aus prinzipiellen, politischen oder juristischen Gründen aus dem viel beschworenen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 540 nationalen Konsens ausgeschlossen waren. Diese Übereinstimmung drückte sich auch in der Gedenkstätte zur Erinnerung an den 20. Juli 1944 aus, die in den frühen fünfziger Jahren im Innenhof des Berliner Bendlerblocks, in den späten sechziger Jahren dann als ständige Ausstellung in den Arbeitsräumen von Stauffenberg eingerichtet worden war.

Im Zuge der Arbeit an dieser konzeptionell erweiterten Ausstellung, die Breite und Vielfalt des Widerstands spiegeln sollte und das in beiden Teilen Deutschlands vorherrschende Widerstandsbild zu reflektieren hatte, brach ein grundsätzlicher Streit über den Widerstand auf. Durchgängig hatte sich unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Entwicklung der Widerstandsforschung die Frage gestellt, welcher Widerstand erinnerungs- und damit auch darstellungswürdig sei. Nach der ersten Teileröffnung der erweiterten Gedenkstätte entzündete sich Kritik an der Andeutung kirchlicher Anpassung, die unter dem Begriff "Im Sog der Zeit" den Hintergrund für die Darstellung des Widerstands aus christlichem Bekenntnis geben sollte. Dabei wurden die Konturen der Diskussionen über die Anpassung der Kirchen an Erwartungen und Forderungen des Regimes in seiner Konsolidierungsphase deutlich, die vor allem den Streit der fünfziger und sechziger Jahre über das Reichskonkordat vom Sommer 1933, die hingenommene Auflösung des politischen Katholizismus und die Lähmung des katholischen Vereins- und Verbandssystems geprägt hatten. Überraschend war, dass die Kritik mit einer Relativierung des ebenfalls ausgestellten Widerstands aus der Arbeiterbewegung einherging und die Darstellung des kommunistischen, sozialdemokratischen, sozialistischen und gewerkschaftlichen Widerstands als Versuch interpretierte, ein sozialdemokratisch inspiriertes Widerstandsverständnis zum Ausgangspunkt der thematischen Arbeit zu machen.

Damit war eine Frontstellung bezeichnet, die sich in der Folgezeit unterschiedlicher Argumente bediente, in Argumentation und Methode radikalisierte, insgesamt aber deutlich machte, dass die Beschäftigung mit dem Widerstand geschichtspolitisch immer noch von hoher Brisanz war und der Konsens einer Würdigung der gesamten Regimegegnerschaft nur so lange hielt, wie der "klassische Widerstandsbereich des 20. Juli 1944" nicht durch gleichgewichtige Erschließung anderer Themen relativiert oder einer Konkurrenz von Deutungen ausgesetzt wurde.

Es begann eine langwierige Auseinandersetzung um Bewertungen, Begriffe und Ausstellungsprinzipien, die von Einzelnen, von Gruppen und Institutionen geführt wurde. Der Grundkonflikt entzündet sich vordergründig an der Frage, ob historische Ausstellungen ein pluralistisches Geschichtsbild reflektieren oder ermöglichen sollen, insbesondere an Bildern und Kommentierung im Bereich des katholischen Widerstands. Während kein Betrachter Anstoß an einem Bild nahm, das den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm nach der Aufhebung des Hausarrests im Kreis einer den Arm zum Hitlergruß hebenden Menge zeigt, rief ein Bild mit katholischen Geistlichen, die ebenfalls den Arm erhoben hatten, heftige Proteste hervor. Kritiker wandten sich an die Schulsenatorin, die es ablehnte, Druck auf die Ausstellungsleitung auszuüben. Sie nutzte die Eröffnung einer Ausstellung über den Widerstand der katholischen Kirche im Weltanschauungskampf, um energisch vor der Diffamierung des kommunistischen Widerstands zu warnen und für ein möglichst breites Spektrum der Widerstandsgeschichte zu plädieren.

Nach der zweiten Teileröffnung - unter anderem der Einheiten über das Exil und die Widerstandsorganisation Harnack/Schulze-Boysen - wurde verlangt, eine eigenständige Ausstellungseinheit als Gegengewicht zum Widerstand aus der Arbeiterbewegung zu konzipieren und mit der Raumbezeichnung "Christdemokraten im Widerstand" einzurichten. Der Einwand, es solle kein das aktuelle Parteienspektrum spiegelndes Bild des Widerstands gezeichnet, sondern ein sich am Selbstverständnis der Regimegegner orientierendes, integrales Spektrum der Gesamtgegnerschaft präsentiert werden, vermochte nicht zu überzeugen. Es müsse gezeigt werden, "dass die politische Ordnung, die der Widerstand erreichen wollte, auch heute noch unsere Zustimmung finden kann. Widerstand gegen den Nationalsozialismus, das ist die große, einigende Formel, aber Widerstand wofür, das ist doch letztlich eine noch wichtigere Frage", meinten die Kritiker.

Der Versuch, Widerstandsziele zu unterscheiden, führte zur Gegenüberstellung von demokratisch-

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 541 antitotalitärem und kommunistisch-totalitärem Widerstand. Diese Argumentation machte einen Grundzug der "besitzergreifenden Widerstandsdiskussion" der Nachkriegszeit deutlich, bei welcher der Anspruch auf die Erinnerung einer Dimension des Widerstands mit der Abqualifizierung einer anderen einherging. Vergessen wurde meist, dass sich Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft im Laufe einer widersprüchlichen Entwicklung zu entfalten hatte.

Wandel der Erinnerung an den Widerstand

Vor allem die Erwähnung der Widerstandsgruppen um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen und deren Ehefrauen war in den fünfziger Jahren kaum opportun. Gerhard Ritter hatte sich, im Unterschied zu Hans Rothfels, in seiner Biografie von Karl Friedrich Goerdeler deutlich gegen die Würdigung der "Roten Kapelle" ausgesprochen und Verbindungen zwischen dem kommunistischen Widerstand und der SED-Führung hergestellt. Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck im Zusammenhang mit dem kommunistischen Exil als Gegner des NS-Staates als Zeitgenossen zu schildern, die, auf der Seite Stalins stehend, zugleich versuchten, das NS-Regime von außen zu bekämpfen, war umso weniger möglich, als die SED-Führung propagandistisch alles daran setzte, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus als kommunistisch geführt und von Moskau angeleitet erscheinen zu lassen. Dass es unabhängige kommunistische Widerstandsgruppen um Uhrig, Bästlein und Saefkow gab und dass das Nationalkomitee Freies Deutschland und der Bund Deutscher Offiziere zwar mit Stalins Einverständnis gebildet worden waren, aber eigenständig urteilende Anhänger aufwies, das zu erkennen weigerten sich viele Zeitgenossen.

Versuche, Hitlers Herrschaft von außen zu bekämpfen, erschienen geradezu als Parteinahme für die Interessen einer fremden Macht. Vor allem der Anspruch, Hitlers Diktatur durch die Zusammenarbeit mit einer anderen bekämpft zu haben, erregte manche Gemüter. Dies sei Verrat gewesen, wurde akzentuiert, unter der Assistenz schließlich auch rechtsextremistischer Wochenzeitungen. Die auf Besitzergreifung zielende Auseinandersetzung um Widerstandsbegriffe und Erscheinungsformen der Widerständigkeit - vor allem das "Risiko" des Kampfes innerhalb des NS-Staats wurde hervorgehoben - zeigte rasch, dass es nicht um eine reflektierte Klärung von diskussionswürdigen Grundproblemen des Verhältnisses zwischen Anpassung und Resistenz, von Selbstbehauptung und Protest, gar von Konspiration und Verschwörung bis hin zum Attentat vom 20. Juli 1944 ging, sondern vor dem Hintergrund kollektiven Durchhaltewillens oder einer bis in die letzten Tage des Krieges währenden Verstrickung vieler in die NS-Zeit um die nachträgliche Rechtfertigung persönlicher Positionen. Denn letztlich stellte sich mit der Frage nach dem Widerstand das Problem des persönlichen Verhaltens im "Dritten Reich".

Während des Braunschweiger Remer-Prozesses, den Angehörige von Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944 im Jahre 1952 gegen den damaligen SRP-Funktionär und ehemaligen Wehrmachtsmajor Otto-Ernst Remer angestrengt hatten, hob Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hervor: "Am 20. Juli 1944 war das deutsche Volk total verraten von seiner Regierung, und ein total verratenes Volk kann nicht mehr Gegenstand eines Landesverrats sein." Diese Klarstellung sollte den verbreiteten Verratsvorwurf gleichsam im Keim ersticken. Diejenigen, die sich gegen Hitler ausgesprochen und den Nationalsozialismus bekämpft hatten, sollten nicht länger als "Verräter" bezeichnet werden können. Als eigentlicher Verräter galt Bauer hingegen Hitler, dessen Verbrechen von seinen Anhängern oder willigen Gefolgsleuten nicht erkannt worden waren.

Eine weitere Differenzierung ergab sich aus der Unterscheidung von Widerstandsmotivationen, Verfolgungserfahrungen und Oppositionszielen. Sie drückte sich während der frühen fünfziger Jahre besonders deutlich in den Generalklauseln des Bundesentschädigungsgesetzes von 1953 aus. Heftige konträre Bewertungen unterschiedlicher Gruppen waren seitdem durchgängige Begleiterscheinung der Widerstandsdiskussionen. Die damit einhergehende Distanzierung vom Gesamtwiderstand wurde durch die Kritik an den Emigranten verstärkt, und zwar durch jene, die dem Nationalsozialismus und seiner Politik nach 1933 folgten oder ihr verfügbar blieben. Der Rechtfertigung des eigenen passiven Gehorsams standen dabei Hinweise auf nationale Gemeinsamkeiten, auf die angeblich von Hitler

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 542 ausgehende Faszination, auf den "Eid" oder auch auf die innere Übereinstimmung vieler mit seinen Zielen, in der Regel allerdings mit Ausnahme der Ermordung der Juden, zur Verfügung. Wurde der Widerstand in diesem Zusammenhang von ehemaligen Angepassten und Mitläufern noch kritisch- distanziert betrachtet, so lehnten viele Zeitgenossen das Exil nicht selten vollständig ab. Neben Selbstmord und Desertion galt die Emigration als einer der moralisch tiefststehenden und niedrigen Versuche, den Nationalsozialismus zu bekämpfen.

Mitte der fünfziger Jahre schien sich jedoch ein Wandel in der Beurteilung des Widerstands zu ergeben, der zum einen außen- und verteidigungspolitische Veränderungen spiegelte, zum anderen aber auch die Diskussion zwischen einer nachwachsenden Generation und der Generation ihrer Eltern über das "Dritte Reich" reflektierte. DieArgumentationsstrategie der Selbsterklärung wurde von den Zeitzeugen modifiziert: Der verbrecherische Charakter des Regimes wurde zwar nicht generell abgestritten, jedoch in der Regel von den persönlichen Lebenserfahrungen getrennt ("Nichts gesehen, nichts gewusst!") oder mit Nachkriegserfahrungen aufgerechnet: Flucht, Vertreibung, Vergehen sowjetischer Soldaten, Teilung Deutschlands und Kriegsgefangenschaft wurden abwehrend angeführt, wenn der verbrecherische Charakter des Regimes konstatiert und als politisch-moralische Herausforderung für die Zeitgenossen gedeutet wurde.

In den Kontroversen der achtziger Jahre wurde ein Grundkonflikt der Nachkriegszeit sichtbar, der unter dem Eindruck des in Gedenkfeiern zur Erinnerung an den Widerstand ritualisierten Konsenses aus dem Bewusstsein geraten war. Widerstand gegen den Nationalsozialismus zielte nicht auf die hehre Feierlichkeit von Nachgeborenen, die ihre persönlichen politischen Ziele auf den Gegensatz zum Nationalsozialismus beziehen wollten, sondern wirkte als Stachel im Fleisch der Zeitgenossen der NS-Zeit. Deshalb brachen immer wieder geschichtspolitische Kontroversen auf, die ihre Schubkraft nicht zuletzt aus der Realität des Völkermords an den Juden, der Verfolgung politischer Gegner und der mit allen Mitteln durchgesetzten Homogenisierung der Gesellschaft zogen. Mit den Verbrechen des "Dritten Reiches" wurde der Widerstand aber nicht nur historisch legitimiert, sondern er warf die grundlegende Frage nach dem Verhalten der Zeitgenossen auf. Indem sich manche der Angepassten und Gehorsamen von den moralisch krampfhaft diskreditierten Widerstandszielen, -formen und - gruppen insbesondere der politischen Linken distanzierten, rechtfertigten sie zugleich ihr eigenes Verhalten. Hinweise auf totalitäre Ziele kommunistischer Regimegegner, auf das bewusst vermiedene Risiko eines Widerstands von außen oder auf das egoistische und deshalb menschlich verwerfliche Paktieren mit fremden "Gewahrsamsmächten" sollen das persönliche Fehlverhalten der nicht zum Widerstand entschlossenen und befähigten "Mitläufer" erklären.

Was bleibt?

Inzwischen hat sich ein integrales Verständnis des Widerstands durchgesetzt. Es will die Verfolgung und Selbstbehauptungsbestrebungen von Regimegegnern, die unterschiedliche Traditionen verkörperten, auf die antipluralistische, antirechtsstaatliche, antiparlamentarische und antiliberale bzw. antimarxistische Herrschaftspraxis des Regimes beziehen. Alles andere würde das mit dem Selbstverständnis des Grundgesetzes zusammenhängende Konzept der streitbaren Demokratie rückwirkend in die NS-Zeit verlängern und dabei übersehen, dass die individuellen Grund- und Menschenrechte selbstverständlich auch dem politischen Gegner zustehen.

Es kommt nicht mehr darauf an, dass sich der Historiker als Staatsanwalt oder Weltgericht versteht, sondern er hat die Vielfalt von Herausforderungen zu begreifen, die das Jahrhundert der Diktaturen dem Individuum zumutete. Sechzig Jahre nach dem Attentat sind die Konflikte zwischen den Zeitgenossen und den Generationen ausgetragen. Zurück bleibt eine Chance: die Konfrontation mit einem Widerstand, in dem sich der Einzelne, legitimiert durch sein Gewissen, auf seine höchste Verantwortung beruft. Verkörperte sich im Widerstand nicht die Frage nach Geltungsgründen und Zielen politischer Herrschaft, die Interaktionen von Menschen prägen und rechtfertigen können, aber auch kritisierbar machen? So betrachtet, stellt sich in jedem Widerstandskämpfer eine Frage, die sich mit anderen zu einem Komplex bündelt, der Widerstandsgeschichte nur zu einem in der historisch-

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 543 politischen Deutung zu bewältigenden Bereich der Sinndiskussion und -reflexion (also nicht Sinngebung oder gar -stiftung) machen kann, wenn die Nachlebenden in der historischen Erinnerung die Pluralität des Widerstands selbst aushalten können und als Bereicherung empfinden.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 27/2004) - Der 20. Juli 1944 - mehr als ein Tag der Besinnung und Verpflichtung (http://www.bpb.de/apuz/28237/der-20-juli-1944-mehr-als-ein-tag-der-besinnung- und-verpflichtung)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 544

Die Deutschen und ihr "Drittes Reich"

Von Harald Welzer 23.3.2007 Harald Welzer ist Sozialpsychologe und Professor und Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.

Das Wissen über die verbrecherische Behandlung der Juden war im Vorfeld des Massenmordes weit verbreitet. Und manches deutet darauf hin, dass die Judenverfolgung die Zustimmungsbereitschaft zum Nationalsozialismus förderte.

Einleitung

Die gesellschaftliche Wirklichkeit des "Dritten Reiches" wird gewöhnlich durch das Prisma des Holocaust betrachtet. Der aber war erst das Ergebnis eines dramatisch beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, und der Alltag des Nationalsozialismus sieht im Blick durch dieses Prisma eigentümlich statisch und hermetisch aus. Dabei vermochte die nationalsozialistische Gesellschaft eine ungeheure psychosoziale Energie und Dynamik bei ihren Mitgliedern gerade deshalb freizusetzen, weil das "Tausendjährige Reich" von den meisten Deutschen als ein gemeinsames Projekt empfunden wurde, an dem man teilhaben wollte und auch durfte, sofern man die rassisch definierten Kriterien dafür erfüllte.

Ausgerechnet diese Gesellschaft hat bis heute keine klaren mentalitätsgeschichtlichen Konturen, was sich etwa anhand der in letzter Zeit intensiv diskutierten Frage zeigt, was die Deutschen vom Holocaust wussten und wie es um die Zustimmung zum Regime im Verlaufe seiner Herrschaft stand. Inzwischen zeichnet sich ab, dass diese Zustimmung in den Jahren nach 1933 bis zum Überfall auf die Sowjetunion kontinuierlich anwuchs, so dass es an der Zeit wäre, die gesellschaftliche Wirklichkeit des "Dritten Reiches" als ein soziales Parallelogramm zu beschreiben, in dem sich die emotionale und materielle Lage der nichtjüdischen Deutschen in dem Maße verbesserte, wie sich die Situation der "Nichtarier" verschlechterte - womit die Ausgrenzung der Juden, wie Peter Longerich argumentiert hat, nicht nur als Herrschaftszweck, sondern auch als Herrschaftsinstrument zu verstehen wäre.[1] Das bedeutet aber zugleich, dass man sich von der Vorstellung freimachen muss, es gebe bei Gesellschaftsverbrechen auf der einen Seite Täter, die Verbrechen planen, vorbereiten und ausführen, und auf der anderen Seite Unbeteiligte oder Zuschauer, die in mehr oder weniger großem Umfang von diesen Taten "wissen". Mit solchen Personenkategorien kann der Handlungszusammenhang, der schließlich in den Massenmord und in die Vernichtung führte, nicht angemessen beschrieben werden. Es gibt in einem solchen Zusammenhang keine Zuschauer, es gibt auch keine Unbeteiligten. Es gibt nur Menschen, die gemeinsam, jeder auf seine Weise - der eine intensiver und engagierter, der andere skeptischer und gleichgültiger - eine gemeinsame soziale Wirklichkeit herstellen.

Aber wie kann man rekonstruieren, was die Deutschen über den Führer, ihr Land und die Politik der Vernichtung gedacht haben? Eine moderne Umfrageforschung gab es vor 70 Jahren noch nicht, und die offiziellen Stimmungs- und Lageberichte,[2] die das Regime regelmäßig erhob, sind von nur begrenzter Aussagekraft, da sie erstens stark die subjektiven Auffassungen der Berichterstatter spiegeln und zweitens nicht nur als Untersuchungs-, sondern zugleich als Steuerungsinstrument der öffentlichen Stimmung gedacht waren und insofern erheblich verzerrt sind.[3]

Man wird sich daher mit einem Patchwork ganz unterschiedlicher Datenquellen begnügen müssen, das die Zustimmung zur Politik des Regimes, insbesondere zur Judenpolitik, in unterschiedlichen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 545

Farbtönen abbildet und das aus Beobachtungen des Alltagsverhaltens der Volksgenossinnen und Volksgenossen, aus Daten zum Wissen über den Vernichtungsprozess sowie aus retrospektiven Interview- und Umfragedaten zusammengefügt ist.

Die Struktur des Nichtwissens

Am 2. August 1914, dem Tag nach der deutschen Kriegserklärung gegen Russland, notiert Franz Kafka in Prag in seinem Tagebuch: "Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule." Das ist lediglich ein besonders prominentes Beispiel dafür, dass Ereignisse, die die Nachwelt als historische zu bewerten gelernt hat, in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens nur selten als solche empfunden werden. Wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann als Teil eines Alltags, in dem noch unendlich viel mehr wahrgenommen wird und Aufmerksamkeit beansprucht, und so geschieht es, dass selbst intelligente Zeitgenossen einen Kriegsausbruch nicht bemerkenswerter finden als den Umstand, dass man am selben Tag seinen Schwimmkurs absolviert hat.

In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart. Historische Ereignisse zeigen ihre Bedeutung erst im Nachhinein, nämlich dann, wenn sie nachhaltige Folgen gezeitigt haben oder sich, mit einem Begriff von Arnold Gehlen, als "Konsequenzerstmaligkeiten" erwiesen haben, also als präzedenzlose Ereignisse mit Tiefenwirkung für alles, was danach kam. Damit ergibt sich ein methodisches Problem, wenn man die Frage stellt, was Menschen von solch einem Ereignis wahrgenommen bzw. gewusst haben. Erstmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht wahrgenommen, weil sie neu sind, man also das, was geschieht, nicht mit Erfahrungen abgleichen kann. Aus diesem Grund haben viele jüdische Deutsche die Dimension des Ausgrenzungsprozesses nicht erkannt, dessen Opfer sie wurden.[4]

Geschichte geschieht nicht punktuell, sondern sie ist ein für die begleitende Wahrnehmung langsamer Prozess, der erst durch Begriffe wie "Zivilisationsbruch" nachträglich auf ein abruptes Ereignis verdichtet wird. Die Interpretation dessen, was Menschen vom Entstehen eines Prozesses wahrgenommen haben, der sich erst sukzessive zur Katastrophe auftürmte, ist ein äußerst vertracktes Unterfangen - auch deswegen, weil wir unsere Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung mit dem Wissen darum stellen, wie die Sache ausgegangen ist. Über dieses Wissen verfügten die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen logischerweise nicht. Norbert Elias hat es nicht zu Unrecht als eine der schwierigsten Aufgaben der Sozialwissenschaften bezeichnet, die Struktur des Nichtwissens zu rekonstruieren, die zu anderen Zeiten vorgelegen hat.[5]

Schließlich muss der Holocaust als ein genozidaler Prozess betrachtet werden, der Ende Januar 1933 begann und mit der Befreiung der Lager im Frühjahr 1945 zu Ende ging. Dabei ist der sich in unterschiedlichen Intensitätsschüben vollziehende Ausgrenzungs-, Ausschließungs-, Beraubungs- und Deportationsprozess von dem mit Kriegsbeginn 1939 experimentierten, aber mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 in aller Radikalität einsetzenden Vernichtungsprozess zu unterscheiden. Denn während die Vernichtung einer, wie Longerich sie nachgezeichnet hat, flexiblen Geheimhaltungspolitik unterlag, die ab Mitte 1942 auf ein komplizenhaftes, wenn auch ominöses Mitwissen der Deutschen setzte,[6] fanden alle Einzelschritte des sozialen Ausgrenzungsprozesses der jüdischen Deutschen in der Öffentlichkeit statt. In Deutschland vollzog sich vom Tag der so genannten Machtergreifung an ein fundamentaler Wertewandel, in dem es zunehmend als normal empfunden wurde, dass es kategorial unterschiedliche Menschengruppen gab, für die entsprechend unterschiedliche Normen des zwischenmenschlichen Umgangs auf der einen und der Rechtsetzung und -anwendung auf der anderen Seite galten.[7] Hier geht es nicht darum, was man "gewusst", sondern woran man teilgehabt hat.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 546 Der soziale Alltag der Ausgrenzung

Man kann zur Rekonstruktion des Wertewandels im nationalsozialistischen Deutschland, der sich als fortschreitende Normalisierung radikaler Ausgrenzung bezeichnen lässt, zeitgenössische Quellen heranziehen, die wie die Aufzeichnungen Sebastian Haffners, die Tagebücher Victor Klemperers oder Willy Cohns oder die Briefe Lilly Jahns auf der Mikroebene des sozialen Alltags nachzeichnen, wie in verblüffend kurzer Zeit Menschengruppen aus dem Universum der sozialen Verbindlichkeit ausgeschlossen werden - aus jenem Universum also, in dem Normen wie Gerechtigkeit, Mitleid oder Nächstenliebe noch in Kraft sind, aber nicht mehr für diejenigen gelten, die per definitionem aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Man übersieht bei der Betrachtung des nationalsozialistischen Systems häufig, dass dieses zwar ein Unrechts- und Willkürsystem gewesen ist, dass die Willkür und das Unrecht aber fast ausschließlich die Nicht-Zugehörigen traf, während die Mitglieder der Volksgemeinschaft nach wie vor in weiten Bereichen sowohl Rechtssicherheit als auch staatliche Fürsorge genossen.

So zeigt eine retrospektive Befragung mit 3 000 Personen, die in den 1990er Jahren durchgeführt wurde, dass nahezu drei Viertel der vor 1928 geborenen Befragten niemanden kannten, der aus politischen Gründen mit der Staatsgewalt in Konflikt geraten und deshalb verhaftet oder verhört worden war.[8] Noch mehr Befragte gaben an, sich selbst niemals bedroht gefühlt zu haben, und das, obwohl in derselben Befragung zu hohen Anteilen angegeben wird, dass man illegale Radiosender gehört oder Witze über Hitler und kritische Äußerungen über die Nazis gemacht habe.[9] Ein höchst bemerkenswertes Ergebnis dieser Studie liegt darin, dass sich im Nachhinein jeweils zwischen einem Drittel und mehr als der Hälfte der Befragten dazu bekennen, an den Nationalsozialismus geglaubt, Hitler bewundert und nationalsozialistische Ideale geteilt zu haben.[10]

Ein ähnliches Bild zeichnet eine Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 1985. Die Befragten, die 1945 mindestens 15 Jahre alt gewesen sein mussten, bekennen zu 58 Prozent, an den Nationalsozialismus geglaubt zu haben, 50 Prozent sahen ihre Ideale in ihm verkörpert, und 41 Prozent bewunderten den Führer.[11] Dabei zeigte sich auch, dass die Zustimmung zum NS-System mit dem Niveau des Bildungsabschlusses steigt - was dem gängigen Vorurteil zuwiderläuft, dass Bildung vor gegenmenschlichen Einstellungen schützt.[12] Mit steigender formaler Bildung stieg auch die Zustimmung zu Hitlers Welt, und die Aspekte, die seiner Politik positiv zugeschrieben werden, sind auch in dieser Studie die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Kriminalität sowie der Bau der Autobahnen. Ein Viertel der Befragten betonen noch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des "Dritten Reiches" das Gemeinschaftsgefühl, das damals geherrscht habe.[13]

Dieses freilich bezog sich auf die Mitglieder der Volksgemeinschaft, und diese wurde gerade dadurch gestiftet, dass nicht jeder zu ihr gehören konnte. Das verbreitete Gefühl, nicht bedroht zu sein und keinerlei Repression zu unterliegen, beruhte auf einem starken Gefühl der Zugehörigkeit, deren Spiegelbild die täglich demonstrierte Nicht-Zugehörigkeit von anderen Gruppen, insbesondere von Juden, war. Unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 setzte eine ungeheuer beschleunigte Praxis der Ausgrenzung der Juden ein, und zwar ohne relevanten Widerstand der Mehrheitsbevölkerung - obwohl mancher vielleicht über den "SA- und Nazipöbel" die Nase rümpfte oder die einsetzende Kaskade der antijüdischen Maßnahmen als unfein, ungehörig, übertrieben oder einfach als inhuman empfand. Was ich mit "ungeheuer beschleunigt" meine, lässt sich mit einer Auflistung von Saul Friedländer illustrieren: "Im März 1933 untersagte die Stadt Köln Juden die Benutzung städtischer Sportanlagen. Vom 3. April an mussten in Preußen Anträge von Juden auf Namensänderung dem Justizministerium vorgelegt werden (...). Am 4. April schloss der deutsche Boxer-Verband alle jüdischen Boxer aus. Am 8. April sollten alle jüdischen Dozenten und Assistenten an Universitäten des Landes Baden unverzüglich entlassen werden.

Am 18. April entschied der Gauleiter von Westfalen, dass einem Juden das Verlassen des Gefängnisses auf Kaution nur gestattet würde," wenn der Kautionssteller bereit sei, "an seiner Stelle ins Gefängnis zu gehen. Am 19. April wurde der Gebrauch des Jiddischen auf Viehmärkten in Baden verboten. Am 24. April wurde die Verwendung jüdischer Namen zum Buchstabieren im Telefonverkehr untersagt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 547

Am 8. Mai verbot es der Bürgermeister von Zweibrücken Juden, auf dem nächsten Jahrmarkt Stände zu mieten. Am 13. Mai wurde die Änderung jüdischer Namen in nichtjüdische verboten. Am 24. Mai wurde die restlose Arisierung der deutschen Turnerschaft angeordnet, wobei die vollständige arische Abstammung aller vier Großeltern gefordert wurde."[14]

Besonders bemerkenswert an dieser unvollständigen, beispielhaften Liste ist zum einen die Kreativität im Auffinden unterschiedlichster Aspekte des "Jüdischen", wie etwa bei der Buchstabierliste für den Telefonverkehr, zum anderen das freiwillige, oft vorauseilende Praktizieren antijüdischer Ausgrenzungsmaßnahmen durch Privatpersonen in Vereinsfunktionen oder durch Kommunalbeamte, welche die entsprechenden Maßnahmen durchaus nicht hätten ergreifen müssen, sondern aus freien Stücken ergriffen haben. Das verweist nicht nur auf antisoziale Bedürfnisse, die unter den neuen Verhältnissen freudig befriedigt wurden, sondern auch darauf, dass solche Maßnahmen innerhalb der entsprechenden Vereine, Verbände und Kommunen bei Nicht-Betroffenen auf Zustimmung, jedenfalls nicht auf Protest oder gar auf Widerstand stießen.

Im sozialen Alltag des Nationalsozialismus sind Maßnahmen, die andere treffen, aber von Nicht- Betroffenen zur Kenntnis genommen werden, allgegenwärtig. Wie immer auch die Gesetze und Maßnahmen bei den Volksgenossinnen und Volksgenossen ankamen - festzuhalten ist, dass sich auch in dieser frühen Phase, die ja auch für die Nicht-Betroffenen einen erheblichen Wertewandel hinsichtlich zwischenmenschlicher Umgangsformen bedeutete, keinerlei Unmut artikulierte. Aber was heißt Nicht-Betroffene? Wenn man den Vorgang der Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung als Handlungszusammenhang betrachtet, ist es logisch unmöglich, von Nicht-Betroffenen zu sprechen: Wenn eine Personengruppe auf solch schnelle, verdichtete, öffentliche und nichtöffentliche Weise aus dem Universum der moralischen Verbindlichkeit ausgeschlossen wird, dann bedeutet das umgekehrt, dass sich der wahrgenommene und gefühlte Stellenwert der Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft erhöht.

So ist es psychologisch kein Wunder, dass die praktische Umsetzung der Theorie von der Herrenmenschenrasse äußerst zustimmungsfähig war. Vor dem Hintergrund dieser in Gesetze und Maßnahmen gegossenen Theorie konnte sich noch jeder sozial deklassierte, ungelernte Arbeiter ideell jedem jüdischen Schriftsteller, Schauspieler oder Geschäftsmann überlegen fühlen, zumal dann, wenn der gesellschaftliche Prozess die faktische soziale und materielle Deklassierung der Juden durchsetzte. Die Aufwertung, die der Volksgenosse auf diese Weise erfuhr, bestand auch im Gefühl einer relativ verringerten sozialen Gefährdung - einem ganz neuen Lebensgefühl in einer exklusiven Volksgemeinschaft, zu der man nach den wissenschaftlichen Gesetzen der Rassenauslese unabänderlich gehörte und zu der die anderen genauso unabänderlich niemals gehören konnten.

Während es den einen zunehmend schlechter ging, fühlten sich die anderen immer besser. Das nationalsozialistische Projekt bot ja nicht nur eine glanzvoll ausgemalte Zukunft, sondern auch ganz handfeste Gegenwartsvorteile wie zum Beispiel exzellente Karrierechancen. Der Nationalsozialismus hatte eine extrem junge Führungselite, und nicht wenige gerade der jüngeren Volksgenossinnen und -genossen konnten große persönliche Hoffnungen mit dem Siegeszug der "arischen Rasse" verbinden.[15] Vor diesem Hintergrund ist die enorme Freisetzung von individueller und kollektiver Energie zu verstehen, die diese Gesellschaft kennzeichnete.

Seine psychosoziale Durchschlagskraft bezog das nationalsozialistische Projekt aus der unmittelbaren Umsetzung seiner ideologischen Postulate in eine greif- und fühlbare Wirklichkeit, und Interviews mit ehemaligen Volksgenossinnen und -genossen legen bis heute Zeugnis ab von der psychosozialen Attraktivität und emotionalen Bindungskraft dieses Ein- und Ausschließungsprozesses. Nicht umsonst besteht bis heute weitgehende Übereinstimmung unter den Zeitgenossen, dass das "Dritte Reich" mindestens bis zum Russlandfeldzug als "schöne Zeit" zu beschreiben sei; bei vielen geht diese Zuordnung auch noch bis weit in den Krieg hinein.[16] Ausgrenzung, Verfolgung und Beraubung der Anderen wurden kategorial nicht als solche erlebt, weil diese Anderen per definitionem gar nicht mehr dazugehörten und ihre antisoziale Behandlung den Binnenbereich der Moralität und Sozialität der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 548

Volksgemeinschaft nicht mehr berührte.

Ein besonders betrübliches Kapitel in diesem Zusammenhang bilden die so genannten Arisierungen jüdischer Geschäfte und Unternehmen sowie die öffentlichen Versteigerungen von Wert- und Einrichtungsgegenständen aus jüdischem Besitz. Während insgesamt etwa 100 000 Betriebe im Zuge der "Arisierung" ihre Besitzer wechselten, lässt sich die Beteiligung an den Versteigerungen kaum noch quantifizieren, aber anhand von Beispielen wenigstens dimensionieren. In Hamburg etwa wurden 1941 die Ladungen von 2 699 Güterwagen und 45 Schiffen mit "Judengut" versteigert; 100 000 Hamburger ersteigerten Möbel, Kleidungsstücke, Radios und Lampen, die aus etwa 30 000 jüdischen Familien stammten.[17] Hinzu kamen der vieltausendfache Besitzerwechsel von Immobilien, Autos und Kunstgegenständen. Gelegentlich wurden die Behörden mit der Bitte nach besonders begehrten Gütern bedrängt, noch bevor ihre rechtmäßigen Besitzer abtransportiert worden waren, und es werden Fälle geschildert, wo bei noch nicht deportierten Juden geklingelt wurde, damit man schon in Augenschein nehmen konnte, was man auf der bereits angesetzten Versteigerung erwerben könne.[18]

Auch hier fallen Wissen und soziale Praxis in eins, und es wird ein Handlungszusammenhang sichtbar, in dem das veränderte Normengefüge nicht von oben nach unten durchgesetzt wird, sondern in dem auf praktische und sich verschärfende Weise das Verhältnis zwischen den Menschen entsolidarisiert wird und eine neue soziale "Normalität" etabliert wird. In dieser Normalität mag es zwar ein Durchschnittsvolksgenosse noch 1941 für undenkbar halten, dass Juden umstandslos getötet werden, aber nichts Bemerkenswertes darin sehen, dass Ortsschilder verkünden, der entsprechende Ort sei "judenfrei", dass Parkbänke nicht von Juden benutzt werden dürfen und auch nicht mehr darin, dass die jüdischen Bürger entrechtet und beraubt werden.

Vor diesem Hintergrund argumentierte in einem der Kriegsverbrecherprozesse ein Beamter des Auswärtigen Amtes, Albrecht von Kassel, als er aufgefordert wurde, zu erklären, was man unter dem Begriff "Endlösung" verstanden habe:

"Dieser Ausdruck Endlösung' ist ja in verschiedenem Sinne gebraucht worden. 1936 bedeutete Endlösung ja nur, dass die Juden alle Deutschland verlassen sollten, und dabei sollten sie allerdings ausgeplündert werden; es war nicht schön, aber auch nicht verbrecherisch ...

Richter Maguire: War das soeben eine richtige Übersetzung?

Dr. Becker: Ich bitte Sie, noch einmal den Satz zu wiederholen.

Antwort: Ich habe gesagt, es war leider nicht schön, aber nicht verbrecherisch. Man wollte ihnen nicht ans Leben, sondern man wollte ihnen nur das Geld wegnehmen."[19]

In einer solchen Aussage, der sich zahllose ähnliche hinzufügen ließen, dokumentiert sich die normative Verschiebung, die zwischen 1933 und 1941 stattgefunden hatte, in aller Klarheit, und diese Verschiebung umfasst auch die Definition dessen, was als Verbrechen betrachtet wurde und was nicht.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 549 Wissen über die Massentötungen

Wissen über Verbrechen setzt voraus, dass etwas als Verbrechen definiert ist. Da sich diese Definition mit der Entwicklung der nationalsozialistischen Gesellschaft stark verschoben hatte, geht es bei der Frage, was die Deutschen vom Holocaust wussten, primär um die Massenmorde und Vernichtungsaktionen, die mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 einsetzten und schließlich in den Vernichtungslagern kulminierten.[20] Die ersten der in diesem Zusammenhang stattfindenden "Judenaktionen" betreffen die in den rückwärtigen Heeresgebieten lebenden Juden, die schon bis Ende 1941 in gigantischen Zahlen einer sich schnell professionalisierenden Mordpraxis zum Opfer fielen.[21] Informationen über diese systematischen Tötungen wurden wahrscheinlich vor allem in Form vereinzelter Gerüchte kommuniziert. Sowohl SS- wie Wehrmachtsangehörige als auch Personen aus der Zivilverwaltung und der Wirtschaft berichteten vereinzelt in Feldpostbriefen und vermutlich weit öfter in direkten Kommunikationen von der Durchführung der so genannten Judenaktionen.

Im Herbst 1941 begannen die Deportationen der noch im Lande lebenden jüdischen Deutschen, sofern diese nicht mit einem nichtjüdischen Partner verheiratet waren oder in kriegswichtiger Produktion arbeiteten. Diese Deportationen fanden in aller Öffentlichkeit statt, weil die Opfer mit der Reichsbahn abtransportiert wurden und entweder mit Lastwagen oder in größeren oder kleineren bewachten Gruppen zu den Bahnhöfen gebracht wurden. Unabhängig davon, wie die Reaktion der örtlichen Bevölkerung jeweils ausfiel, kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass die Deportationen als solche allgemein bekannt waren. Nicht selten zogen sie große Mengen Zuschauer an, es wurde geklatscht, gejohlt und kommentiert, und besonders Schulkinder taten sich durch Geschrei, Spott und Schmähungen hervor.[22] Es lässt sich freilich im Nachhinein nicht abschätzen, wie groß die Bevölkerungsanteile derjenigen gewesen sind, die das Spektakel mit eigenen Augen sehen wollten, und was die Haltung dazu auf Seiten derjenigen war, die diesen Ereignissen lieber fernblieben. Aber das Wissen darüber, dass jetzt die letzten im Land verbliebenen Juden gegen ihren Willen und unter Zwang "nach Osten" transportiert wurden, war öffentliches Wissen.

Freilich klafften die Einschätzungen darüber, was die Deportationen für die Betroffenen bedeuteten, erheblich auseinander. So schreibt bereits am 24. Oktober 1941 eine nichtjüdische Hamburgerin an ihre Tochter über die Deportation ihrer jüdischen Nachbarn: "Wohin? Russland? Polen? Jedenfalls ins Verderben, in den sicheren Tod."[23] Andere werden die Vorgänge in dem Glauben wahrgenommen haben, dass die Betroffenen zum "Arbeitseinsatz" in den Osten geschickt würden, wie es die Propaganda suggerierte, und wieder andere lehnten die Deportationen ab, weil sie zu human seien und man die Leute doch gleich vor Ort erschießen solle, anstatt "die teuren Kohlen für den Transport" aufzuwenden.[24]

Schließlich gab es zwei Nachrichtenquellen ganz gegensätzlicher Natur, die Wissen über die Massenmorde verbreiteten:[25] Es handelte sich zum einen um die alliierten Rundfunksender, namentlich die deutschsprachigen Sendungen der BBC sowie ab Ende 1942 erscheinende Artikel in der amerikanischen Presse über die systematische Vernichtung der Juden,[26] zum anderen um immer andeutungsreichere Artikel und Reden von Seiten der Führungselite des "Dritten Reiches".

Vor dem Hintergrund zahlreicher Einzelbeobachtungen und -belege solcher Art kann man mit einiger Plausibilität davon ausgehen, dass sich ab etwa Mitte 1942 ein aus Gerüchten, Andeutungen, Augenzeugenberichten und Teilinformationen bestehendes Wissen allgemein verbreitet hatte. Longerich hat argumentiert, dass es dem Regime zu diesem Zeitpunkt nicht mehr unwillkommen war, dass ein solches Wissen existierte, da die Absicht bestand, die Bevölkerung angesichts der sinkenden Siegeszuversicht in "Mithaftung" für die Verbrechen zu nehmen und Systemtreue durch Komplizenschaft zu erzeugen.

Nun war das verbreitete Wissen um die Vernichtung der europäischen Juden eben kein lexikalisches und von irgendeiner Instanz beglaubigtes Wissen, sondern hatte die hybride Form des offenen Geheimnisses.[27] Diese spezifische Wissensform verdankte sich erstens ihrer inoffiziellen und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 550 verbotenen Quellen, zweitens ihrer Strafbewehrtheit als "Greuelpropaganda" und drittens der unausgesprochenen, aber doch hinreichend deutlichen Betonung dessen, was geschah, in der Propaganda selbst. Kommunikation in der Form des offenen Geheimnisses stellt es dem auf diese Weise Wissenden frei, die Informationen als glaubhaft oder phantastisch, als authentisch oder als Feindpropaganda einzuschätzen. Es gibt ihm auch die Möglichkeit, sich im Nachhinein indifferent gegenüber dieser Art von Wissen zu verhalten: Schließlich besteht das Wesen eines Geheimnisses darin, nur von Eingeweihten gewusst zu werden.

Diese spezifische Form der Wissenskommunikation schlägt sich auch darin nieder, dass in der bereits erwähnten schriftlichen Befragung Mitte der 1990er Jahre nur etwas mehr als ein Drittel der Befragten antworteten, sie hätten schon vor Ende des Krieges "gewusst", "gehört" oder "geahnt", dass die Juden massenhaft getötet wurden.[28] Bleibt hier unklar, wie die Befragten selbst "Wissen", "Hören" und "Ahnen" definieren, bleibt umgekehrt auch offen, welches "offene Geheimnis" sich hinter jenen 62 Prozent der Befragten verbirgt, die angaben, nichts von all dem gewusst zu haben. Die Urheber dieser Studie sind übrigens unterschiedlicher Auffassung darüber, wie diese Zahlen zu interpretieren sind, und gehen schließlich von einer konservativen Schätzung von etwa einem Drittel und einer weniger konservativen von etwa der Hälfte der Bevölkerung aus, die Kenntnis von den Massenmorden hatten.[29]

Eine weitere Möglichkeit, changierende Phänomene wie Systemvertrauen, Skepsis oder Stimmung retrospektiv zu messen, besteht darin, Verhalten zu ermitteln - also etwa zu rekonstruieren, bis wann die Volksgenossen ihr Sparvermögen staatlichen Banken anvertrauten und ab wann es ihnen doch sicherer erschien, es zu privaten Geldinstituten zu tragen, oder herauszufinden versuchen, ab wann trauernde Familienangehörige mehrheitlich aufhörten, in Anzeigen mitzuteilen, der Sohn sei "für Führer, Volk und Vaterland" gefallen, und stattdessen nur noch schlicht das Vaterland oder gar kein Moment der Sinngebung mehr erwähnten. So hat Götz Aly mittels einer "Adolf-Kurve" erhoben, wie sich die Namensvorlieben von 1932 bis 1945 wandelten, wie die Zahl der Kirchenaustritte schwankte, wie sich das Sparverhalten änderte und in welchem Ausmaß der feine Unterschied im Heldentod markiert wurde. Mit den Ergebnissen solcher Untersuchungen lässt sich plausibel argumentieren, dass die Stimmung der Volksgenossinnen und -genossen zwischen 1937 und 1939 den Gipfel erreichte und erst ab 1941 rapide zu sinken begann.[30]

Eine weitere Informationsquelle für historisch vorhandenes Wissen liegt in der Analyse der latenten Gehalte von Zeitzeugenerzählungen, in denen zwischen den Zeilen und auch durchaus entgegen der Absicht der Erzähler Teile des offenen Geheimnisses offenbart werden. So fanden wir in einer unserer Interviewstudien das prägnante Beispiel einer alten Dame, die mitteilte, von der Judenverfolgung nichts wahrgenommen zu haben, aber in ihrer Erzählung die Struktur des fortschreitenden Verschwindens der Juden aus dem Alltag reproduzierte: "Ja, wir hatten ja wenig Juden. Die Geschäfte, die geschlossen wurden, daraus war ja noch nicht zu entnehmen, was in den Gaskammern geschah. Also, ja, wir hatten ganz ganz wenig Juden. Im Grunde genommen fiel das nicht so auf. Erschütternd war diese , und an unserer Schule war dann plötzlich die Tochter des Rabbiners nicht mehr da. Aber das war die einzige Jüdin an unserem Oberlyceum, die ich kannte. Und die konnte ja auch ausgewandert sein oder sonst wie. Es ist ja etlichen auch gelungen. Ob die nun inhaftiert war oder ausgewandert, das konnten wir nicht feststellen. Wir hatten ja auch keinen persönlichen Kontakt, die war sechs Jahre älter, in einer anderen Klasse, also die kannte ich nicht, und sie hätte mich auch nicht gekannt."[31]

Auf der Ebene der Erzählstruktur ist der Ausgrenzungs- und Verfolgungsprozess, in dem die Juden immer weniger werden und schließlich ganz verschwunden sind, durchaus präsent, und zahlreiche Zeitzeugenerzählungen offenbaren bei genauerer Betrachtung analoge Strukturen. Das verweist einmal mehr auf den schillernden Charakter dessen, was unter dem Begriff "Wissen über die Judenvernichtung" zu verstehen ist.

Insgesamt wird man resümieren können, dass ein Wissen über die verbrecherische Behandlung der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 551

Juden im Vorfeld der Vernichtung zu annähernd 100 Prozent verbreitet war, aber zunehmend weniger als verbrecherisch empfunden und eingeordnet wurde. Über manifeste Informationen hinsichtlich der Massenvernichtungen, die ab 1941 stattfanden, verfügten mit einiger Wahrscheinlichkeit zwischen einem Drittel und der Hälfte der Zeitgenossen, während ein nicht quantifizierbarer weiterer Anteil der Bevölkerung über Wissen in Form des offenen Geheimnisses verfügte. Diese Form des Wissens hat den Vorteil, dass man sich von ihm im Nachhinein problemlos distanzieren kann, und zwar nach innen wie nach außen.

Genau davon legt der gebetsmühlenhaft wiederholte Satz Zeugnis ab, dass man ja "nichts gewusst" habe. Leider spricht alle historische und sozialpsychologische Evidenz dafür, dass das nicht wahr ist. Noch bedrückender erscheint, dass manches darauf hindeutet, dass die Judenverfolgung die Zustimmungsbereitschaft der nichtjüdischen Deutschen zum Nationalsozialismus nicht behinderte, sondern förderte.

Text aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 14-15/2007) (http://www.bpb.de/apuz/30543/die- deutschen-und-ihr-drittes-reich)

Fußnoten

1. Vgl. Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1998. 2. Vgl. Otto Dov Kulka/Eberhard Jäckel, Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933 - 1945, Düsseldorf 2004. 3. Vgl. Peter Longerich, "Davon haben wir nichts gewusst!" Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 - 1945, München 2006, S. 38ff. 4. Vgl. Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933 - 1945, Frankfurt/M. 1992, S. 138. 5. Vgl. Norbert Elias, Was ist Soziologie?, München 2004. 6. Vgl. P. Longerich (Anm. 3), S. 263ff. 7. Vgl. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/ M. 2005, S. 48ff. 8. Vgl. Eric Johnson/Karl-Heinz Reuband, What we knew. Terror, Mass Murder and Everyday Life in , London 2005, S. 349. 9. Vgl. ebd., S. 357. 10. Vgl. ebd., S. 330ff. 11. Zit. nach Karl-Heinz Reuband, Das NS-Regime zwischen Akzeptanz und Ablehnung, in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006) 3. 12. Den möglichen Einwand, die besser Gebildeten gingen eben offener mit ihrer Vergangenheit um, kann man damit entkräften, dass der U.S. Strategic Bombing Survey, der schon 1945 zur Einschätzung der psychologischen Folgen der Bombardierung der Deutschen erhoben wurde, zum selben Befund gelangte; vgl. ebd. 13. Vgl. E. Johnson/K.-H. Reuband (Anm. 8), S. 341. 14. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998, S. 49ff. 15. Eine zeitgenössische Statistik gab das Durchschnittsalter der führenden Personen in der Partei mit 34 und im Staat mit 44 Jahren an. Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005, S. 12ff. 16. Vgl. z.B. Lutz Niethammer/Alexander von Plato, "Wir kriegen jetzt andere Zeiten", Bonn 1985; Harald Welzer/Robert Montau/Christine Plaß, "Was wir für böse Menschen sind!" Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen den Generationen, Tübingen 1997; Harald Welzer/ Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, "Opa war kein Nazi!" Nationalsozialismus und Holocaust im deutschen Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002; E. Johnson/K.-H. Reuband (Anm. 8), S. 341.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 552

17. Vgl. G. Aly (Anm. 15), S. 154. 18. Vgl. Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS- Führung und die Alliierten, München 2006, S.30ff. 19. Zit. nach Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Bd. III, Frankfurt/M. 1989, S. 1097. 20. Vgl. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt/M. 2006. 21. Vgl. Peter Klein (Hrsg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/1942, Berlin 1997. 22. Vgl. F. Bajohr/D. Pohl (Anm. 18), S. 47. 23. Privatarchiv des Autors. 24. F. Bajohr/D. Pohl (Anm. 18), S. 45. 25. Vgl. ebd., S. 57. 26. Vgl. P. Longerich (Anm. 3), S. 240. 27. Vgl. F. Bajohr/D. Pohl (Anm.18). 28. Vgl. E. Johnson/K.-H. Reuband (Anm. 8), S. 369. 29. Vgl. ebd., S. 397. 30. Vgl. Götz Aly (Hrsg.), Volkes Stimme, Frankfurt/M. 2006. 31. H. Welzer u.a. 1997 (Anm. 16), S. 69ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 553

Kollektive Erinnerung im Wandel

Von Helga Hirsch 11.4.2005 Dr. phil., geb. 1948; Studium der Germanistik und Politologie an der FU Berlin, Promotion über die polnische Opposition der Jahre 1976 - 1980; seit 1985 freie Journalistin u.a. für den WDR, den Deutschlandfunk, Arte und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"; von 1988 bis 1995 Korrespondentin der Wochenzeitung "Die Zeit" in Warschau; 2001 mit dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis ausgezeichnet.

Anschrift: Holsteinische Straße 42, 10717 Berlin.

E-Mail: [email protected]öffentlichungen u.a.: Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1945 - 1950, Berlin 1998; "Ich habe keine Schuhe nicht." Lebensläufe von polnischen, jüdischen und deutschen Grenzgängern, Hamburg 2002; Dokumentarfilme: "Späte Opfer". Deutsche in polnischen Lagern 1945 - 1950, WDR/MDR, 1999; "Der Erbfeind". Preußen/ Deutschland aus polnischer Sicht, Arte 2001.

Die Rede von "deutschen Opfern" war in Deutschland lange Zeit Tabu. Bis Mitte der 1990er: Mit einem Mal handelten zahllose Romane, Filme und Feuilletons von Bombenkrieg und Verteibung. Helga Hirsch fragt nach den Ursachen und Folgen und erzählt die Geschichte der Vertriebenen in Deutschland.

Einleitung

Mit Flucht und Vertreibung der Deutschen 1944/45 kehrt ein Thema in die öffentliche Debatte zurück, das jahrzehntelang als anstößig und rückwärtsgewandt, ja revanchistisch verpönt war. Wer sich nicht vor der Übernahme der Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes scheue und die Aussöhnung mit den Nachbarn anstrebe, so hieß es, dürfe über Deutsche als Opfer nicht reden. Allein die Vertriebenenverbände kümmerten sich um die Betroffenen - und ihre allzu einseitige Betrachtungsweise galt vielen als hinreichender Beleg für die Diskreditierung des Themas. Als gebe es nur die Alternative zwischen einem reuigen Deutschen, der die Vertreibung als Strafe für die Verbrechen des Hitler-Regimes akzeptiert, und einem Ewiggestrigen, der das Leiden der Nachkriegszeit vor sich her trägt, um über die Schuld der Kriegszeit nicht zu reden.

Seit Anfang der neunziger Jahre weicht diese Frontstellung auf. Der ehemalige deutsche Osten rückt wieder ins Gesichtsfeld. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs löste eine wahre Erinnerungsflut und eine Neugier nach unterdrückten Wahrheiten aus. Verena Dohrn und Martin Pollack etwa schilderten das untergegangene Habsburgerreich in Galizien, Ralph Giordano reiste nach Ostpreußen und beschrieb mit großer Empathie die Trauer der einstigen Bewohner, Christian von Krockow schilderte die Strapazen der Flucht, Freya Klier griff das bis dahin tabuisierte Thema der Verschleppung von Frauen in die Sowjetunion auf, Ulla Lachauer notierte ostpreußische Lebensläufe, Roswitha Schieb machte sich auf die Reise in die Heimat ihrer Eltern nach Schlesien, Andreas Kossert entfaltete das Beziehungsgeflecht von Deutschen und Polen in Masuren, Matthias Kneip fuhr mit Großmutter, Vater und Tante in deren oberschlesische Heimat, und Helga Hirsch recherchierte über die Lager für deutsche Zivilisten in Polen.[1]

Günter Grass schließlich war mit seiner Novelle "Im Krebsgang"[2] ganz sicher kein Tabubrecher mehr. Aber sein Buch bewirkte den Durchbruch. Wenn dieser Linke, der stets vor neuen deutschen Großmachtträumen gewarnt und sich der Wiedervereinigung entgegengestellt hatte, das Ausblenden des Themas als "bodenloses Versäumnis" empfand und nun Empathie für Vertreibungsopfer zuließ, dann wollten auch Zaudernde nicht mehr bestreiten, dass sich das Bekenntnis zu deutscher Schuld und die Trauer über deutsches Leid nicht widersprechen müssen, sondern zwei Seiten einer Medaille

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 554 sind.

Und so sind Flucht, Vertreibung und auch der Bombenkrieg präsent wie selten zuvor: durch Jörg Friedrichs "Der Brand"[3], im Fernsehen durch die Produktionen Guido Knopps, im Film durch "Schlesiens wilder Westen" von Ute Badura, in Talkshows, Seminaren und bei Podiumsdiskussionen. Und der Deutsche Bundestag hat die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen beschlossen, über dessen Standort heftig gestritten wird.

Das Jahrhundert der Vertreibungen

Im Rückblick ist das 20. Jahrhundert vielfach als das der Völkermorde und Vertreibungen bezeichnet worden. An seinem Beginn stand der Genozid an den Armeniern durch die Türken (1915), an seinem Ende standen "ethnische Säuberungen" im zerfallenden Jugoslawien. Dazwischen lagen allein in Europa u.a. die Zwangsdeportationen von Krimtataren, Tschetschenen, Wolgadeutschen und Einwohnern der baltischen Staaten innerhalb der Stalin'schen Sowjetunion, die Umsiedlungen von Polen aus dem okkupierten Westpolen in das Generalgouvernement, die Vernichtung der Juden durch das NS-Regime, die Vertreibung der Deutschen aus ihren Ostgebieten und der Ungarn aus der Slowakei.

Bisher haben sich Wissenschaftler und Medien nicht auf gemeinsame Bezeichnungen einigen können. Für die Armenier handelt es sich bei der Tötung ihrer Landsleute um gezielten Völkermord, für die Türken um das unbeabsichtigte Nebenprodukt von Deportationen. Deutsche sehen in den Ereignissen 1944/45 Vertreibungen, Polen hingegen eher Zwangsaussiedlungen, Tschechen oft sogar nur einen Bevölkerungs-"Abschub" (odsun). In Polen und Tschechien stoßen sich Wissenschaftler an dem angeblich zu emotionalen Terminus "Vertreibung"; die öffentliche Meinung in Deutschland hingegen reibt sich an dem sterilen Begriff der "ethnischen Säuberung". Nur in der Unterscheidung von Vertreibung und Völkermord scheint Einigkeit erreicht: Genozid, so Norman M. Naimark, meine die beabsichtigte Tötung eines Teils oder aller Mitglieder einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe; die Intention der ethnischen Säuberung bestünde hingegen darin, ein Volk und möglichst auch seine Spuren aus einem bestimmten Gebiet zu entfernen.[4] Allerdings, räumt Naimark ein, könnten sich bei Zwangsdeportationen die Grenzen zum Genozid leicht verwischen, da Menschen, die sich der Aussiedlung aus ihrer Heimat widersetzten, oft getötet würden.

Angriffe stärkerer auf schwächere Völker, die mit der Ausrottung oder Vertreibung der Schwächeren endeten, hat es immer gegeben. Im 19. und 20. Jahrhundert hat sich dieses Phänomen durch die Entstehung des Nationalismus allerdings entscheidend verändert. Die alten Reiche - Österreich- Ungarn, das Osmanische und das Zarenreich, auch Preußen-Deutschland - hatten ihre Legitimität aus der Loyalität ihrer Untertanen gegenüber den Dynastien bezogen und nicht aus der Zugehörigkeit der Bürger zu einem bestimmten Volk. In Österreich-Ungarn konnte jemand Jude sein, Deutsch sprechen und einen ungarischen Pass besitzen. Mit der Durchsetzung des Nationalstaats aber wurden jene Bürger bevorzugt, die der staatstragenden, der Titularnation angehörten. Und da die mitteleuropäische Landkarte nur wenige ethnisch homogene Territorien kannte, waren Konflikte programmiert.

Als die Pariser Vorortverträge 1919/20 den Selbstbestimmungswünschen der Völker Rechnung trugen, erfüllten sie zwar die Träume von Polen, Litauern, Esten, Letten, Tschechen, Ungarn, Kroaten, Slowenen und Serben. Aber sie enttäuschten Minderheiten, die nun in ihren Heimatländern zu unerwünschten "Fremden" wurden und vom Völkerbund geschützt werden mussten. "Versailles hatte sechzig Millionen Menschen eigene Staaten gegeben", so der britische Historiker Mark Mazower, "dafür aber weitere fünfundzwanzig Millionen zu Minderheiten gemacht."[5] Trotz Schutzverträgen wurden ihre Rechte immer wieder massiv beeinträchtigt. So kam es Anfang der zwanziger Jahre zur gewaltsamen Vertreibung von 1,35 Millionen Griechen aus Kleinasien und - im Gegenzug - von 430 000 Türken aus Griechenland. Zu Gewaltausbrüchen kam es auch bei der Grenzziehung des neu gegründeten polnischen Staates 1918/1920. Die Provinzen Posen und Westpreußen sowie große

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 555

Teile Nieder- und Oberschlesiens waren Polen ohne Abstimmung zugefallen. Ermland, Masuren, die westpreußischen Gebiete östlich der Weichsel sowie Teile Oberschlesiens blieben bei Deutschland, nachdem sich die Bevölkerung in Volksabstimmungen zu gut 60 Prozent (Oberschlesien) und zu weit über 90 Prozent (Masuren) entsprechend entschieden hatte. An der so entstandenen Grenzlinie konnte auch der dritte polnische Aufstand in Oberschlesien nichts ändern.[6]

Die 1,1 Millionen Deutschen, die im polnischen Staat mit insgesamt 27 Millionen Staatsbürgern blieben, sollten durch eine restriktive Politik verdrängt werden - u.a. mit dem Gesetz über die Staatsbürgerschaft, mit der Durchsetzung der Agrarreform, der Besetzung von Beamtenstellen und der Einschränkung des muttersprachlichen Unterrichts. Tatsächlich sind zwischen 1918 und 1931 mehrere Hunderttausend Deutsche aus Polen ausgewandert. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts kannte der Nationalitätenkampf zwischen Deutschen und Polen allerdings nur Zwangsassimilierung und Verdrängung. Erst Hitler griff zu massenhaften Zwangsumsiedlungen und zu biologischer Vernichtung, denn ihm ging es um weit mehr als ethnische Entflechtung - er wollte "Lebensraum" für das deutsche Volk. Seine rassistische Politik ging von einer Hierarchie aus, die einigen "Rassen" die Hegemonie zuerkannte und anderen das Lebensrecht absprach. Daraus leitete er das Recht des "Mutterlandes" ab, zum "Schutz der Volksgruppe" unmittelbar im Gastland zu intervenieren: Er holte das Sudetenland "" und siedelte die Tschechen ebenso aus den eingegliederten Gebieten aus wie die Polen gleich nach der Besetzung aus dem Warthegau. Während sich fortan die Polen im "Generalgouvernement" drängten, wurden auf den von ihnen geräumten Höfen und Wohnungen über eine Million (Volks-)Deutsche aus den baltischen Staaten, aus Wolhynien, Bessarabien, der Bukowina, der Dobrudscha, aus Bulgarien, Bosnien und Ungarn angesiedelt.

Es entsprach dem Geist der Zeit, wenn die in London ansässigen Exilregierungen von Polen und Tschechen für die Zeit nach dem Sieg über Hitler-Deutschland die Aussiedlung von Deutschen aus ihren Ländern forderten. Damit verfolgten sie eine ethnische Homogenisierung, die ihnen bei der Staatsgründung 1918 nicht gelungen war: In Polen bildeten die ukrainischen, jüdischen, deutschen und weißrussischen Minderheiten bis 1939 etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung; in der Tschechoslowakei stellten die Deutschen etwa 23 Prozent. Weder Churchill noch Roosevelt waren einem "Bevölkerungstransfer" grundsätzlich abgeneigt. Der Vertrag von Lausanne bildete für sie sogar eine "idée fixe".[7] Entsprechend sagte Churchill in seiner Unterhausrede am 15. Dezember 1944: "Die Vertreibung ist - soweit wir es zu überschauen vermögen - das befriedigendste und dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen wie im Fall von Elsaß-Lothringen. Es wird gründlich aufgeräumt."[8] Präsident Franklin D. Roosevelt hatte sich bereits im Frühjahr 1943 gegenüber dem britischen Außenminister Anthony Eden geäußert: "Wir wollen Vorkehrungen treffen, um die Preußen aus Ostpreußen auf die gleiche Weise zu entfernen, wie die Griechen nach dem letzten Krieg aus der Türkei entfernt wurden."[9]

Spätestens seit der Konferenz von Teheran (November 1943) war Churchill und Roosevelt klar, dass Stalin die polnischen Ostgebiete bis hin zur Curzon-Linie - die 1920 vom britischen Außenminister George Curzon vorgeschlagene sowjetisch-polnische Grenze - beanspruchte, Po-len insofern für die "wahrscheinlichen Verluste im Osten" entschädigt werden müsste. Seitdem war die Westverschiebung Polens im Prinzip eine beschlossene Sache, der Grenzverlauf wurde in Potsdam im August 1945 endgültig an Oder und westlicher Neiße festgelegt. USA und Großbritannien erklärten sich einverstanden, die "früher deutschen Gebiete" östlich davon unter polnische und das nördliche Ostpreußen unter sowjetische Verwaltung zu stellen - die endgültige Regelung der Grenzfrage sollte einer Friedenskonferenz vorbehalten bleiben. Soweit die Deutschen nicht schon vor der Front geflohen waren, war ihr "Transfer" auf "ordnungsgemäße und humane Weise" vorgesehen.

Hegten die Amerikaner zunächst Skrupel, so widersetzten sie sich doch niemals ernsthaft dem Kurs der Briten, der auf westlicher Seite treibenden Kraft der Ausweisung. Die Briten duldeten die Ausweisungspläne des tschechischen Exil-Staatspräsidenten Edvard Benes nicht nur, sie ermunterten ihn sogar zu einer möglichst weitgehenden Lösung. In der Tschechoslowakei wie in Polen machten sich im Laufe des Jahres 1944 auch die Kommunisten die Forderungen nach Vertreibung der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 556

Deutschen zu Eigen. Die prokommunistische Regierung in Lublin erklärte im Februar 1945, also noch vor der völkerrechtlichen Klärung in Potsdam, sie habe "in Ausführung des Programms, die polnische Westgrenze an die Oder und Neiße vorzuschieben, mit der Eingliederung der deutschen Vorkriegsterritorien in Polen begonnen", und der Erste Sekretär der Polnischen Kommunistischen Partei Wladyslaw Gomu|lka sprach von der Notwendigkeit der "Entdeutschung" seines Landes. Als historische Rechtfertigung ihres Anspruchs auf die "wiedergewonnenen Gebiete" diente ihnen die Herrschaft des Piastengeschlechts aus dem 10. bis 14. Jahrhundert, die sich zeitweise bis zur Oder erstreckt hatte.

Gegenüber Deutschland zogen die Sowjetunion und ihre späteren Satellitenstaaten Polen und Tschechoslowakei an einem Strang. Moskau musste die Polen und Tschechen zu nichts drängen, es brauchte sie nur gewähren zu lassen. "Wo die russischen Truppen standen", konstatiert Klaus-Dietmar Henke, "begannen die Vertreibungen deshalb als eine von den betroffenen Staaten beinahe wie eine innere Angelegenheit gehandhabte pauschale Abrechnung mit den Deutschen."[10] Alle einst von Hitler besetzten mittel- und osteuropäischen Staaten sahen in der Vertreibung der Deutschen eine Vergeltung für das NS-Regime. Die Nationalsozialisten hatten Rassismus und Nationalismus gesät; jetzt spürte Deutschland die Rache der Opfer. Gleichzeitig aber, bemerkte schon Martin Broszat, gingen die Vertreibung und die Errichtung einer polnischen Administration in den ehemaligen deutschen Ostgebieten weit über die Liquidierung des "Dritten Reiches" hinaus.[11] "Nationalismus", schreibt Naimark, "erschien als das dominierende Motiv der neuen Etappe der Staatenbildung am Ende des Zweiten Weltkriegs."[12]

Ihre Opfer wurden nicht allein die Deutschen. Polen vereinbarte einen Bevölkerungsaustausch mit der Ukraine - aus Südostpolen zogen Ukrainer in die Sowjet-Ukraine, während Polen aus den "Kresy", den ehemals polnischen Ostgebieten, in die "wiedergewonnenen Westgebiete" umgesiedelt wurden. Nachdem bis Ende 1946 aufgrund der Pogrome von Kielce, Krakau und anderen Orten noch 220 000 Juden das Land verlassen hatten, war der Anteil der Minderheiten in Polen von 32 Prozent vor dem Krieg auf drei Prozent geschrumpft. In der Tschechoslowakei sank er nach der Aussiedlung der Ungarn aus der Slowakei von 33 auf 15 Prozent, in Rumänien von 28 auf 12 Prozent.[13]

Der Verlust der Heimat

Stalingrad bedeutete die Wende: Der Aggressor wurde zum Getriebenen, und die Kriegsschauplätze, bisher vor allem auf den Territorien fremder Staaten, verlagerten sich ins Reichsgebiet. Im Juli 1944 wurden die Bewohner des Memellandes hinter die Memel evakuiert, im Oktober zogen die ersten sowjetischen Truppen in Ostpreußen ein. Entgegen dem ausdrücklichen Verbot von Gauleiter Erich Koch begaben sich die meisten Zivilisten auf eigene Faust auf die Flucht - vor allem nach den Schreckensmeldungen über die Vergewaltigungen und Ermordungen der Frauen von Nemmersdorf, das am 21. Oktober 1944 eingenommen worden war.

Die Fluchtwelle aus Ostpreußen bildete erst den Anfang. Noch weit mehr Menschen setzten sich in Bewegung, als die Rote Armee Mitte Januar 1945 ihre Großoffensive begann und über die Weichsel nach Westen stieß: Vier bis fünf Millionen flüchteten aus Danzig, Masuren, Ober- und Niederschlesien, Ostpommern und Ostbrandenburg. Hunderttausende starben an Entkräftung oder Kälte, ertranken in den Fluten der Ostsee, verbluteten nach sowjetischen und amerikanischen Bombenangriffen oder wurden von der Front überrollt und von Rotarmisten vergewaltigt.[14]

Auch in den deutschen Siedlungsgebieten im südlichen Mitteleuropa kam es von Herbst 1944 an zu massiven Evakuierungen und Fluchtbewegungen. So wurden bis März 1945 100 000 von insgesamt 140 000 Deutschen aus der Slowakei und fast alle 95 000 Deutschen aus Kroatien ins "Protektorat Böhmen und Mähren", ins Sudentenland oder nach Österreich umgesiedelt.[15] Ebenfalls im Herbst 1944 flüchtete ein großer Teil der Deutschen aus Jugoslawien, ein anderer Teil wurde evakuiert. Von insgesamt 540 000 Menschen deutscher Muttersprache in Jugoslawien befanden sich Ende 1944 rund 340 000 bereits außerhalb ihrer Heimat.[16] Von den verbliebenen Volksdeutschen wurden nach der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 557

Machtübernahme durch die jugoslawische Volksbefreiungsarmee im "Blutigen Herbst" 1944 viele Opfer von Racheaktionen durch Partisanen. Etwa 67 000 Zivilisten sollen in den Arbeits- und Vernichtungslagern umgekommen sein.[17] Aus Rumänien wurden Ende August und Anfang Oktober 1944 etwa 100 000 Volksdeutsche evakuiert. Der größere Teil der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben blieb zurück. Anfang 1945 wurden rund 75 000 zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion deportiert; viele kehrten nicht mehr nach Rumänien zurück, sondern ließen sich nach Deutschland ausweisen.[18]

Im Frühjahr 1945 kam kaum jemand unter den Flüchtenden auf die Idee, der Verlust der Heimat könnte endgültig sein. Vor allem die Reichsdeutschen aus Schlesien, Westpreußen und Pommern warteten nur das Ende der Kampfhandlungen ab. Allein nach Breslau kehrten mehrere Zehntausende zurück, insgesamt waren es über eine Million. Doch im Juni 1945 wurden die zurückströmenden Menschen schon westlich der Oder von Polen abgefangen. Damals begann die erste Phase der Vertreibung aus Polen. Diese "wilden" Aussiedlungen noch vor der Potsdamer Konferenz setzten am 20. Juni 1945 ein und dauerten ungefähr einen Monat. In diesem Zeitraum sind bis zu 400 000 Deutsche aus dem Grenzgebiet östlich von Oder und Neiße und aus Oberschlesien ausgesiedelt worden. Teilweise in Razzien von einer unvorbereiteten Armee zusammengetrieben, mussten die Menschen den Weg bis zu Oder und Neiße zu Fuß zurücklegen, und selbst für Kranke gab es keinerlei Transportmittel. Aufgrund des Einspruchs der Roten Armee, aber auch von polnischen Behörden, welche die Deutschen als Arbeitskräfte benötigten, wurden die Aussiedlungen Mitte Juli eingestellt.

Danach befanden sich noch etwa 4,5 Millionen Deutsche in Polen. Gemäß einer Anweisung des Ministeriums für öffentliche Verwaltung vom Juni 1945, der zufolge den Deutschen "das Leben derart erschwert werden" solle, dass auch die "hartnäckigsten Feinde des Polentums den Mut verlieren", in Polen zu bleiben, wurden "freiwillige Ausreisen" gefördert: durch Enteignungen, unzureichende Versorgung, Ausschluss von ärztlicher Versorgung, Ausschluss der Kinder von der Schulpflicht, durch massenhafte Beseitigung der "Spuren des Deutschtums" und durch Duldung von Diebstählen und Vergewaltigungen. Bis Ende 1945 verließen bis zu 550 000 Deutsche "freiwillig" Polen. Noch in den Zügen wurden sie ausgeraubt.

Von Februar bis Dezember 1946 erfolgten organisierte Aussiedlungen in Absprache mit den Alliierten. Etwa 1,5 Millionen Menschen kamen in die britische und - bis November 1947 - 1,84 Millionen in die sowjetische Zone. Insgesamt verließen in dieser Zeit fast 3,5 Millionen Deutsche die alten Ostgebiete.[19] Noch bis 1950 kamen vereinzelt Transporte mit Frauen, Kindern und Alten aus Ostpreußen, wo vor allem junge Frauen für die Sowjets hatten Zwangsarbeit leisten müssen, oder aus polnischen Internierungslagern wie Jaworzno und Potulice, in denen Angehörige der deutschen Minderheit zur Zwangsarbeit herangezogen worden waren. Die Deutschen, die nach 1950 in Polen blieben, wurden "polonisiert": Sie mussten polnische Namen annehmen und sich als Polen erklären.

In der Tschechoslowakei kam es vor allem in Prag, aber auch im Sudetenland gleich in den ersten Nachkriegstagen zu massenhaften Racheakten von Militär, "revolutionären Garden" und Zivilisten. Staatspräsident Benes führte am 12. Mai 1945 in Brünn aus: "Wir werden Ordnung machen unter uns, insbesondere auch hier in der Stadt Brünn mit den Deutschen und allen anderen. Mein Programm ist - ich verhehle es nicht -, dass wir die deutsche Frage in der Republik liquidieren müssen. Bei dieser Arbeit werden wir alle eure Kräfte brauchen."[20] Die Sudetendeutschen galten nicht zuletzt aufgrund der Popularität der Henlein-Partei vor dem Krieg pauschal als Verräter am tschechoslowakischen Staat und als NS-Anhänger. Entsprechend pauschal waren die Strafaktionen. Am bekanntesten wurde das Pogrom von Aussig am 31. Juli 1945, als die tschechische Bevölkerung nach einer Explosion in einem Munitionswerk eine Hetzjagd auf Deutsche veranstaltete und wahllos Frauen und Kinder umbrachte. Etwa 2 700 Personen sollen damals umgekommen sein. Auf dem Todesmarsch von Brünn (30. Mai 1945) führten Frustration und Wut von Tschechen zu 1 700 Morden unter den insgesamt 30 000 deutschen Einwohnern der Stadt. Die sog. Benes-Dekrete sahen wie die entsprechenden Erlasse der polnischen Regierung neben der Enteignung auch Zwangsarbeit für Deutsche vor. Die Rolle als Freiwild war so beängstigend und demütigend, dass selbst tschechische Quellen allein für das Jahr 1946 5558

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 558

Selbstmorde von Deutschen verzeichneten - manchmal gemeinsam von ganzen Familien in bester Sonntagskleidung verübt.[21] Nur etwa 200 000 von einst über drei Millionen Sudetendeutsche blieben in der Tschechoslowakei.

Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn begann im Januar 1946 in Ortschaften entlang der Grenze zu Österreich, in denen die donauschwäbische Bevölkerung zusammengedrängt worden war. Ursprünglich war auch hier nach dem Prinzip der Kollektivschuld die Aussiedlung der gesamten, etwa 500 000 Personen zählenden Minderheit geplant; schließlich waren etwa 117 000 von ihnen betroffen. Nach einer Unterbrechung im Juni wurden die Transporte in die amerikanische Zone im November 1946 wieder aufgenommen, im Dezember aber vollständig eingestellt.[22]

Insgesamt sind etwa 14 Millionen Deutsche aus dem Osten vertrieben worden; etwa zwei Millionen von ihnen kamen während Flucht und Vertreibung um. Die SBZ nahm 37,2 Prozent auf (4,5 Millionen), die britische Zone 32,8, die amerikanische 28,2 und die französische 1,4 Prozent - insgesamt 7,9 Millionen Menschen. 1950 stellten die Vertriebenen in der Bundesrepublik 16,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, bis 1961 stieg ihr Anteil aufgrund der Massenflucht aus der DDR sogar auf 21,5 Prozent. Jeder fünfte Bundesbürger war ein Flüchtling oder Vertriebener. Ihre rasche soziale und wirtschaftliche Integration gilt daher manchen noch heute als das eigentliche Nachkriegswunder. Wenn überhaupt, dann fielen Vertriebenenkinder im Wirtschaftswunderland positiv auf. So hielt der Soziologe Helmut Schelsky lobend fest: "(Die Flüchtlingsjugend) ist in ihrer hohen sozialen Mobilität, ihrem Anpassungs- und Durchsetzungswillen, ihrem sozialen und beruflichen Aufstiegsstreben und Leistungswillen von der einheimischen Jugend (. . .) höchstens durch die Schroffheit und das Tempo unterschieden, mit der sie in diese Verhaltensnotwendigkeiten hineingezwungen wurden."[23] Die Flüchtlingsfrage schien gelöst.

Doch heute sind wir uns dessen nicht mehr so sicher.

Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen

Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen wurde zur alleinigen Aufgabe der Deutschen erklärt, aber die Alliierten übten beträchtlichen Druck aus. Die Vertriebenen sollten sich auf keinen Fall um Forderungen nach Rückkehr in die alte Heimat scharen, sondern sich möglichst schnell assimilieren. "Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen soll ihr organisches Aufgehen in der einheimischen Bevölkerung gewährleisten", hieß es etwa im Gesetz Nr. 303 in Baden-Württemberg vom Februar 1947.[24] So wurden die "Neuen" weit verstreut in ländlichen Gebieten angesiedelt, vor allem in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern. Erst später wurden die Belastungen für die einzelnen Bundesländer gerechter verteilt. Bis in den Sommer 1948 hinein galt in den Westzonen ein generelles Koalitionsverbot für Vertriebene.[25]

In den ersten Wochen und Monaten stießen die Flüchtlinge und Vertriebenen bei den Einheimischen auf Mitgefühl: Die einen wie die anderen waren davon überzeugt, die Einquartierungen seien vorübergehend. Als sich dann abzeichnete, dass die Ostdeutschen bleiben würden, gab es vielerorts Ärger, denn die Wohnungsbewirtschaftung führte dazu, dass Alteingesessene Zimmer an Vertriebene abtreten mussten; in den westlichen Zonen lebten nun pro Quadratkilometer weit über 200 Menschen statt wie vor dem Krieg 160. Ferner bewirkte die plötzliche Konkurrenz, dass neben dem ansässigen Apotheker ein zweiter Laden in der Kleinstadt öffnete, dass schlesische Klempnermeister oder sudetendeutsche Gerber billigere Angebote unterbreiteten und sich auf dem Arbeitsmarkt Menschen bewarben, die größere Kompromisse einzugehen bereit waren als die Einheimischen. So wechselten zwei Drittel der vor dem Krieg selbständigen Vertriebenen nach 1945 den Erwerbszweig, unter den Landwirten waren es sogar 87 Prozent.[26]

Die teilweise katastrophale Unterbringung in leeren Fabrikhallen, Hotels oder in Baracken ehemaliger Zwangsarbeitslager suchte man seit 1950 durch Wohnungsprogramme abzuschaffen. Zehn Jahre nach Kriegsende existierten in der Bundesrepublik aber noch immer 3000 kriegsbedingte Lager, obwohl

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 559 vielerorts neue Siedlungen entstanden waren und viele Vertriebene dank günstiger Darlehen eigene Häuser zu bauen begannen. Die Zahlungen durch den Lastenausgleich entschädigten die Betroffenen zwar nur für einen Bruchteil ihres verlorenen Vermögens, gaben ihnen aber das Gefühl einer gewissen Genugtuung. Um die Wachstumspolitik nicht zu gefährden, erfolgten die Hauptentschädigungen allerdings nicht vor 1959. In langwierigen Prozeduren, bei denen die Angaben von speziellen Kommissionen verifiziert wurden, sind bis 1979 etwa 22 Prozent der Vermögensverluste ausgeglichen worden.[27]

Die Vertriebenen in der DDR erhielten nach der Wiedervereinigung eine einmalige Pauschalsumme von 4000 DM. In der SBZ hatte es aufgrund des Befehls Nr. 304 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) von 1946 nur eine einmalige Unterstützung für Arbeitsunfähige und Bedürftige gegeben: 300 RM für Erwachsene, 100 RM für deren Kinder. Bis 1949 waren 400 Millionen Mark für diese Vertriebenensoforthilfe ausgeschüttet worden - fast jeder zweite Vertriebene hatte davon profitiert. Ebenfalls aufgrund eines Befehls der SMAD wurden die Vertriebenen seit 1945 offiziell als "Umsiedler" bezeichnet; die SED sprach auch von "Neubürgern". So spiegelte die Wortwahl wider, dass Kritik an Vertreibung und die Erinnerung an Unrecht in der SBZ/DDR nicht erwünscht waren.

Dabei ist der Verzicht auf die deutschen Ostgebiete den deutschen Kommunisten nicht leicht gefallen.[28] Der SED-Vorsitzende Wilhelm Pieck, ein gebürtiger Gubener, warb bei den Gemeindewahlen im Herbst 1946 mit einer Revision der Oder-Neiße-Grenze: "Wir werden alles tun, damit bei den Alliierten die Grenzfrage nachgeprüft und eine ernste Korrektur an der jetzt bestehenden Verwaltung der Ostgrenze vorgenommen wird."[29] Erst nach einem Besuch der SED-Führung Ende Januar 1947 in Moskau begann sich diese Politik zu verändern - zumindest innerhalb der Parteispitze, denn der später als Konterrevolutionär inhaftierte Wolfgang Harich, ein gebürtiger Ostpreuße, gab noch im Juni 1948 im Nordwestdeutschen Rundfunk seiner Hoffnung auf eine Grenzrevision bei einer Friedenskonferenz Ausdruck. Kurz darauf wurde das Thema zum Tabu. Am 6.Juni 1950 unterzeichneten Ost-Berlin und Warschau die Deklaration über die "Grenzmarkierung an Oder und Neiße". Wer die Grenze fortan in Frage stellte, hatte mit Parteistrafen und juristischer Verfolgung zu rechnen. Landsmannschaftliche Organisationen waren verboten. Eine Organisation für Vertriebene sei, so hieß es, in der DDR überflüssig, da es sich bei den Konflikten zwischen Eingesessenen und "Umsiedlern" um soziale Probleme handele, die angesichts einer raschen "Verschmelzung" der beiden Bevölkerungsgruppen nur vorübergehenden Charakter trügen.[30]

Vielen Vertriebenen in der DDR hat die Tabuisierung ihrer Vergangenheit die Trauerarbeit erschwert. Nicht einmal ihre kulturelle Identität konnten sie in die Aufnahmegesellschaft einbringen. Als 1989 die Mauer fiel, strömten Zehntausende Schlesier, Pommern und Ostpreußen in die Versammlungen der Vertriebenenverbände: Es bestand starker Nachholbedarf, über die verlorene Heimat zu reden und das Unrecht zu benennen. Viele hatten bereits lange vorher die Konsequenzen gezogen: Von den gut vier Millionen Vertriebenen in der DDR hatten sich bis zum Mauerbau 1961 über eine Million in den Westen abgesetzt.

In den Westzonen wurde das Koalitionsverbot für Flüchtlinge und Vertriebene Ende der vierziger Jahre aufgeweicht. Zunächst hatten die Alliierten befürchtet, unter den Westpreußen, Pommern oder Sudetendeutschen könnten schnell Nationalismus und Revanchismus erstarken. Im Februar 1946 war der Versuch von Linius Kather, vor 1933 einziger Vertreter der Zentrumspartei im Stadtparlament von Königsberg, eine "Notgemeinschaft einzelner Landsmannschaften" zu gründen, von der Militärregierung untersagt worden. Und im Mai 1946 wurde sein Antrag auf Genehmigung einer "Arbeitsgemeinschaft deutscher Flüchtlinge" abgelehnt. Doch bei der evangelischen Kirche entstanden "Hilfskomitees" für Menschen aus den Vertreibungsgebieten, geleitet von Eugen Gerstenmaier; die katholische Kirche ernannte den früheren Ermländer Bischof Maximilian Kaller zum "Flüchtlingsbischof".

Der einsetzende Kalte Krieg erleichterte jedoch dann die Zulassung von Vertriebenenorganisationen. So durfte sich die "Arbeitsgemeinschaft deutscher Flüchtlinge" unter dem neuen Namen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 560

"Aufbaugemeinschaft der Kriegsgeschädigten" im März 1948 als Verein eintragen, und im April 1949 schlossen sich die Landesverbände der Heimatvertriebenen zum "Zentralverband vertriebener Deutscher" (ZvD) zusammen. Gemeinsam mit den Landsmannschaften der Sudetendeutschen und der Schlesier bildete er im November 1951 den Bund der Vertriebenen (BdV).[31]

Die "Charta der Heimatvertriebenen" vom 5. August 1950 ist ein gutes Beispiel für die Mischung aus Radikalität und Mäßigung, mit der die Vertriebenenorganisationen fortan Politik machten. Einerseits verzichtete die Charta "auf Rache und Vergeltung" und forderte die "Schaffung eines geeinten Europas, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können"; andererseits bestand sie auf dem "Recht auf Heimat" als grundlegendem Menschenrecht - als Recht auf Rückkehr verstanden. Bis in die achtziger Jahre hinein, als die schlesische Landsmannschaft ihren "Deutschlandtag" unter die Losung "Schlesien bleibt unser!" stellte, verstanden es die Vertriebenenverbände immer wieder, die Öffentlichkeit, vor allem aber die Nachbarn im Osten, mit radikalen, revanchismusverdächtigen Parolen aufzuschrecken. Dabei war es von den siebziger Jahren an still um sie geworden, seit mit der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition Aussöhnung gefragt war und nicht mehr Konfrontation. Unter den Vertriebenen gehörte schon 1965 nur knapp ein Prozent einer Landsmannschaft an.[32] Die starken Worte, so schien es Beobachtern, sollten von der schwachen Position ablenken: "Symbolische Handlungen, propagandistische Leerformeln und unrealistische Forderungen wurden zum Ersatz einer nicht realisierbaren Politik."[33]

Wesentlich kurzlebiger als der BdV erwies sich der im Januar 1950 in Schleswig-Holstein vom ehemaligen SS-Sturmbannführer Waldemar Kraft gegründete "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE). Bei der ersten Landtagswahl, an der er teilnahm (Schleswig-Holstein im Juli 1950), erreichte er überraschend 23,4 Prozent. Doch schon bei der Bundestagswahl 1953 erhielt er trotz eines Wählerpotentials von zehn Millionen Bundesbürgern mit Vertriebenen- oder Flüchtlingsstatus nur 5,9 Prozent (1,6 Millionen Stimmen), bei der Wahl 1957 schrumpfte sein Anteil auf 4,6 Prozent. Damit war der BHE, von Adenauer zuvor noch als Koalitionspartner geschätzt, nicht mehr im Parlament vertreten. Als Kommunikationsmittel zwischen den Vertriebenen dienten die Zeitungen der Landsmannschaften. Das "Ostpreußenblatt" erreichte 1959 eine Auflage von 128000, "Die Pommersche Zeitung" 53 000 (1960), "Die Sudetendeutsche Zeitung" 25 000 (1960) und "Unser Oberschlesien" 22 900 (1962). Als Lesemotive standen an erster Stelle: Heimaterinnerungen, landsmannschaftlich-familiäre Nachrichten, Unterhaltung, Lastenausgleich und Soziales.[34] Parteipolitisch hatten sich die meisten Vertriebenen der SPD oder den Unionsparteien zugewandt.

Gelungene oder erzwungene Integration?

Mitte der achtziger Jahre mehrten sich Stimmen in der sozialhistorischen Migrationsforschung, die den Integrationsprozess der Vertriebenen nicht mehr uneingeschränkt positiv beurteilten.[35] Zu schnell hatten die bedrückenden Erfahrungen ins Private oder in die abgeschlossenen Kreise von Vertriebenenverbänden gedrängt werden müssen; zu schmerzhaft war die Zurückweisung durch eine Öffentlichkeit, die nicht mit Leidensgeschichten jener bedrängt werden wollte, die persönlich am härtesten für die NS-Verbrechen zu bezahlen hatten. Die traumatischen Erlebnisse vieler Flüchtlinge und Vertriebenen sind bis heute nicht verarbeitet.[36] Das Schweigen drückte weniger eine gelungene als eine erzwungene Integration aus: Man schwieg, um nicht als "Fremder" in Distanz zu den Einheimischen zu geraten; man schwieg auch, weil man nicht mehr an die Vergangenheit denken wollte, tauchten da doch Schuldgefühle auf, weil man die Heimat und die Gräber der Eltern "im Stich gelassen" hatte. Auch Schamgefühle spielten eine Rolle, weil man in den Anfangsjahren in der neuen Heimat so abhängig und hilfsbedürftig war. Dem Stolz von Politikern - "Wir haben sie integriert!" - entsprach der Stolz der Betroffenen: "Wir haben es geschafft!"

In den ersten Jahren war das Anderssein der Flüchtlingskinder nicht zu übersehen gewesen. Die "Langeoog-Studie" - so benannt, weil sie von 1946 bis 1950 insgesamt 12 500 Kinder (die Hälfte von ihnen aus vertriebenen Familien) untersuchte, die zu Erholungskuren auf die Insel geschickt wurden - stellte für 1946 fest: Das Untergewicht von Vertriebenenkindern betrug bis zu 20 Prozent, das

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 561

Längenwachstum blieb deutlich hinter der Norm zurück, Eiweißmangel führte zu Haltungsschäden, falsche Ernährung zu schlechten Zähnen, Rachitis und erhöhter Anfälligkeit für infektiöse Krankheiten wie Tuberkulose. Nicht alle verfügten über Seife, ihre Haut war oft schmutzig, verkrustet, welk, die Kinder wirkten alt. Sie zeigten einen Mangel an Selbstvertrauen, waren misstrauisch, ernst, schweigsam und litten an mangelnder Konzentrationsfähigkeit, an Schlafstörungen, Alpträumen, Bettnässen, Sprachstörungen, Schwindel und Kopfschmerzen - all jene Symptome, die man heute als Posttraumatisches Belastungssyndrom bzw. post-traumatic stress disorder (PTSD) bezeichnet.[37]

Die "Langeoog-Studie" zeigte, dass die Kinder ab 1949 weniger von den Eindrücken der Vergangenheit erzählten, bei einigen trat sogar Erinnerungsverweigerung auf. Stattdessen drehten sich ihre Erzählungen um die Gegenwart, vor allem um aktuelle Mangelsituationen.[38] Die Kinder waren nun vor allem mit Assimilierungsprozessen beschäftigt, um einer Ausgrenzung zu entgehen: Sie lernten den bayerischen Dialekt, um für ihren schlesischen nicht mehr als "Saupreiß" beschimpft zu werden; sie legten die Tracht der Ungarndeutschen ab, um in Hessen nicht mehr als "Zigeuner" verachtet zu werden; sie hörten auf, die alte Heimat zu erwähnen, und konzentrierten sich aufs Lernen und Arbeiten. Das Land befand sich im Rausch des Wirtschaftswunders. "In ihm wurden Produktivität, Modernität, Jugend, wirtschaftliche Integration und innenpolitische Stabilität zur Obsession", schreibt der amerikanische Historiker Tony Judt.[39]

Die Kinder, denen die Funktion des Bindeglieds zwischen Flüchtlingen und Einheimischen zugewiesen wurde, gerieten in einen inneren Spagat. Die Schule und die neue Heimat setzten sie unter starken Anpassungsdruck, und auch die Eltern wollten mit ihren Kindern beweisen, dass "wir aus dem Osten so gut sind wie die Einheimischen". Aber die Eltern empfanden die Aufgabe des alten Dialekts oder die Übernahme neuer Sitten auch als Verrat. So pendelten die Kinder zwischen zwei Welten, zwei sich ausschließenden Anforderungen, denen sie nicht gleichzeitig genügen konnten. Innerlich fühlten sie sich oft zerrieben, erfüllten sie äußerlich auch alle Erwartungen.

Eine psychologische Studie kam 1964 zu dem Ergebnis, dass der körperliche Entwicklungsstand der Flüchtlingskinder durch die Versorgungsengpässe während und nach der Flucht "vermutlich nicht dauerhaft" beeinträchtigt worden sei. Krankhafte Befunde seien seltener als bei einheimischen Altersgenossen, schulische Leistungen sogar besser, und mögliche frühkindliche traumatische Erlebnisse hätten zu keiner Beeinträchtigung geführt.[40] Diese Diagnose entsprach der damals gängigen psychologischen Lehrmeinung, dass Menschen in Extremsituationen sehr stark belastbar seien und der Organismus praktisch unbegrenzte Ausgleichsmöglichkeiten besitze. Kinder verfügten danach über eine außerordentliche Elastizität, konnten schnell vergessen und sogar von Bombenangriffen und dem Anblick von Toten in ihrer Seele wenig tangiert werden, solange sie bei der Mutter seien. Einige vermuteten in der Tatsache, dass Kinder scheinbar so gut mit den Ereignissen zurechtkämen, sogar eine Spätfolge der NS-Erziehung, die das Ideal "harter" Maskulinität gepredigt hatte.[41]

Diese Auffassungen über die Belastbarkeit von Menschen wurden erst durch die Erfahrungen bei der Behandlung von Holocaust-Überlebenden ab Ende der fünfziger Jahre in Zweifel gezogen. 1961 schrieb Walter Ritter von Baeyer, ehemals beratender Psychiater der Wehrmacht und von 1955 bis 1972 Leiter der Universitätsnervenklinik in Heidelberg: "Der alte Erfahrungssatz - der Kern der bis dato herrschenden Lehre -, dass der Mensch unglaublich viel verträgt, ohne dauernden Schaden an seiner Seele zu nehmen, gilt hier nicht mehr. Davor dürfen wir nicht länger die Augen verschließen."[42] Seit den achtziger Jahren ist PTSD als Krankheitsbild beschrieben: Jemand muss in Lebensgefahr gewesen sein, unter wiederkehrenden Erinnerungsfetzen, unwillkürlichem Wiedererleben, Symptomen eines erregten Zustands wie Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Alpträumen etc. leiden und ein Verhalten entwickeln, das ihn Situationen vermeiden lässt, die an das Trauma auslösende Ereignis gedanklich oder emotional erinnern könnten. Derartige Symptome zeigen sich sogar noch Jahrzehnte nach dem auslösenden Ereignis. So wiesen etwa ein Drittel der norwegischen und niederländischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs noch 45 Jahre nach Kriegsende eine partielle PTSD auf.[43] Bei alternden Opfern des Holocaust ergab sich in den achtziger Jahren sogar eine PTSD-Beeinträchtigung von 57

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 562

Prozent.

Das Psychologische Institut in Hamburg hat 1999 erstmals eine Untersuchung unter 270 Vertriebenen durchgeführt, davon 205 Frauen. Diese waren bei der Flucht zwischen neun und 21 Jahre alt (diebefragten Männer zwischen sieben und 15). 82 Prozent hatten gehungert, 70 Prozent waren durch Beschuss und Bombardierung in Todesnähe geraten, mehr als die Hälfte der Frauen war vergewaltigt worden. Am schrecklichsten wurden Vergewaltigungen, Hinrichtungen, der Anblick von verstümmelten Toten und der Tod von Familienangehörigen erlebt. Noch zur Zeit der Befragung litten 62 Prozent unter traumabezogenen Symptomen; bei 4,8 Prozent wurde ein voll ausgeprägtes, bei 25 Prozent ein partielles PTSD festgestellt.[44]

Weit überproportional sind Vertriebene und ihre Kinder auch unter den Patienten von Schmerztherapeuten und Psychoanalytikern zu finden. Zwar gibt es noch keine systematischen Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen chronischen Schmerzen, Beziehungsstörungen, mangelndem Selbstwertgefühl und Schädigungen während Flucht und Vertreibung. Doch einige Analytiker haben erste Schlussfolgerungen gezogen.[45] Kennzeichnend für die meisten Vertriebenen (und viele ihrer Kinder) ist ein Gefühl der Wurzellosigkeit. Sie fühlen sich unruhig, getrieben, unfähig, sich irgendwo langfristig niederzulassen. Sie zeigen tendenziell eine hohe Mobilität, oder aber - gerade umgekehrt - das zwanghafte Bestreben, sich mit dem Bau eines Hauses festzukrallen. Auch im Beruf und in persönlichen Beziehungen zeigt sich, dass Vertriebene sich oft nur unter Vorbehalt einlassen - nach dem Motto: "Ich kann immer jederzeit wieder gehen." Nirgends fühlen sie sich auf Dauer heimisch, und in der Tiefe ihres Herzens bleiben sie fluchtbereit.

Dass diese Phänomene erst in jüngster Zeit ins Bewusstsein rücken, liegt auch daran, dass viele Vertriebenenkinder ins Rentenalter kommen. Plötzlich werden sie sich bewusst, wie weit sie mit einer überzogenen Leistungsorientierung, mit protestantischer Arbeitsethik und Karrieredrang ein brüchiges Selbstwertgefühl zu überdecken versuchten und sich in die Arbeit flüchteten, obwohl ihnen berufliche Erfolge häufig nur bedingte Befriedigung verschafften. Sie haben im Leben oft viel erreicht, fühlen sich aber aufgrund emotionaler Defizite und schwachen Selbstbewusstseins unzufrieden und unausgefüllt. Insofern sind noch die Kinder mit der Hypothek der Eltern belastet. Es trifft eben nicht zu, dass sich das Problem der Flucht durch das Ableben der Erlebnisgeneration von selbst erledigt. Im Unterschied zur Erlebnisgeneration ist die Generation der Kinder nicht mehr dazu erzogen worden, "die Zähne zusammenzubeißen". Das Individuum muss sich nicht immer als stark, hart und als Herr der Situation beweisen. Jemand, der sich sensibel mit seinen beschämenden, demütigenden Erlebnissen auseinandersetzt, erfährt neuerdings sogar eher Wertschätzung als einer, der Probleme hinter einer stoischen Fassade verbirgt.

Drei Phasen kollektiven Erinnerns

Der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs gehörte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu den ersten, die von einem "kollektiven Erinnern" und einem "kollektiven Gedächtnis" sprachen. Seine zentrale These besagt - sehr zugespitzt -, dass sich jede Gemeinschaft die Vergangenheit schafft, die sie für ihr Selbstbild braucht. Die Vergangenheit wird wie ein Reservoir aus Symbolen, Zeichen, "ewigen" Wahrheiten benutzt, aus denen sich das kollektive Gedächtnis identitätsstiftende Bezugspunkte heraussucht, um aktuellen und zukünftigen Zielsetzungen der Gesellschaft Sinn zu unterlegen. Aus diesem gemeinsamen Erinnern, so Jan Assmann in Anlehnung an Halbwachs, entstehe kollektive Identität: "Das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit, das wir 'kollektive Identität' nennen, beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis."[46]

Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft geht es dem kollektiven Erinnern nicht um eine detailgerechte Rekonstruktion von Fakten. Vielmehr greift das "gemeinsame Gedächtnis" auf zentrale Codes, Orte, auf Archetypen, Mythen, Feste und Riten zurück, die historische Differenzierungen weitgehend unberücksichtigt lassen. "Es nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen und

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 563 unsteten Erinnerungen, besonderen oder symbolischen, ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten und Projektionen fähig (. . .) und rückt die Erinnerung ins Sakrale", erläutert der französische Historiker Pierre Nora.[47]

Wenn die Deutschen nun nach Jahrzehnten der Tabuisierung die Vertreibung wieder zu einem Bezugspunkt ihres kollektiven Gedächtnisses machen, stellt sich die Frage: Welchen veränderten Sinn gibt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung unserem Gemeinschaftsgefühl? Inwiefern verändert sich unsere kollektive Identität? Nach den sechziger Jahren erleben wir augenblicklich die zweite Korrektur in der Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung. Für Konrad Adenauer lag im festen Bündnis mit dem Westen die Antwort auf die Bedrohung durch die Sowjetunion. Für ihn war der Antikommunismus die zentrale Lehre aus dem Nationalsozialismus: "Ich bin seit Jahr und Tag davon ausgegangen, dass das Ziel Sowjetrusslands ist, im Wege der Neutralisierung Deutschlands die Integration Europas zunichte zu machen", erklärte er im April 1952.[48] Adenauer wollte keine Sonderstellung durch Neutralität riskieren, die Bundesrepublik vielmehr fest im Westen einbinden und als Bollwerk des christlichen Abendlandes gegen die atheistische Sowjetunion ausrichten. Diese Politik der Westintegration hat ihm den Vorwurf eingetragen, der Wiedervereinigung zu wenig Gewicht beizumessen und unsensibel für den Verlust der Ostgebiete zu sein. Tatsächlich haben zunächst sehr viele Vertriebene die SPD gewählt, denn bis in die sechziger Jahre hinein warben die Sozialdemokraten vor Wahlen mit einem Deutschland in den Grenzen von 1937.

Aber auch Adenauer kam den Vertriebenen, die wenige Jahre nach der Flucht noch massenhaft zu "Tagen der Heimat" strömten, entgegen. Auf einer Kundgebung am Berliner Funkturm erklärte er Anfang Oktober 1951: "Lassen Sie mich mit letzter Klarheit sagen: Das Land jenseits der Oder-Neiße gehört für uns zu Deutschland."[49] Um sich einer Zweidrittelmehrheit für den Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sicher sein zu können, nahm er 1953 auch den BHE in die Koalition, obwohl an dessen Spitze Politiker mit nationalsozialistischer Vergangenheit standen. Adenauer wusste, dass er mit der Forderung nach Rückgewinnung der Ostgebiete bei den Alliierten auf Widerspruch stieß. Schon im November 1950 hatten ihm die drei Hohen Kommissare in Zusammenhang mit den Verhandlungen über die EVG unmissverständlich klargemacht, dass sie, wenn sie von Wiedervereinigung sprechen, nicht an die Grenzen des Reiches von 1937 dächten, sondern die "Wiedervereinigung der östlichen Zone und Berlins mit der Bundesrepublik" im Sinn hätten.[50] Faktisch endete Deutschland im Osten also damals bereits an Oder und Neiße.

Wenn die Grenzfrage in der Öffentlichkeit dennoch offen gehalten wurde, hatte das taktische Gründe. 1951 glaubten 66 Prozent der Bevölkerung, die Ostgebiete würden irgendwann wieder an Deutschland fallen. Auch um deren Erwartungen entgegenzukommen, finanzierte Vertriebenenminister Theodor Oberländer (BHE) eine mehrbändige "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- Mitteleuropa" - die erste von einer Historikerkommission seit 1951 erarbeitete wissenschaftliche Abhandlung über Flucht und Vertreibung, die vor allem auf Augenzeugenberichten, privaten Briefen und Umfragen fußt. Sie erschien zwischen 1953 und 1961. Kritiker monierten, dass der historische Kontext fehlte, und der Historiker Theodor Schieder urteilte, dass "das ganze Spektakel (. . .) ja nichts weiter als der Versuch ist, die Volksgruppen aus dem allgemeinen Gericht über die NS-Politik auszunehmen, unter das wir als sogenannte Binnendeutsche uns ja ohne weiteres stellen". Die deutschen Leiden wurden herausgestrichen und gleichzeitig das Erscheinen einer 1000-seitigen Studie über die Volkstumspolitik des NS-Staates verhindert. Man befürchtete, sie könnte von den Alliierten als "Entschuldigungszettel" für die Vertreibung genutzt werden.[51]

Was der Philosoph Hermann Lübbe 1983 anlässlich der 50. Wiederkehr der nationalsozialistischen Machtübernahme als Maßnahme "kommunikativen Beschweigens" lobte, weil es der Mehrheit des Volkes, die mit dem Nationalsozialismus verbunden gewesen sei, den Übergang in die Demokratie ermöglicht habe, stieß bei der jungen Generation in den sechziger Jahren auf Widerspruch. Aufgewühlt von den Prozessen gegen KZ-Aufseher in den Jahren 1963 bis 1965 und dem Verfahren gegen Adolf Eichmann in Jerusalem begann die 68er-Generation das Selbstverständnis der Gesellschaft in Frage zu stellen. Es empörte die Söhne und Töchter, dass ihre Eltern sich schon 1946 über das Unrecht der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 564

Alliierten gegenüber den Deutschen (die Entnazifizierung) mehr erregt hatten als über die Verbrechen der Deutschen. Es empörte sie, dass die Schuldigen rasch amnestiert, die Verwicklung von Mitläufern erst gar nicht untersucht und Organisationen wie die Wehrmacht in toto rehabilitiert worden waren. Es empörte sie auch, dass ökonomische Prosperität Vorrang hatte vor einer juristischen Bewältigung der NS-Vergangenheit und der Antikommunismus dazu diente, von der Auseinandersetzung mit der Geschichte abzulenken.

Im Laufe der sechziger Jahre fokussierte sich die Debatte auf die Frage der deutschen Schuld. Der Holocaust wurde, so der Publizist Karl Heinz Bohrer, "zum archimedischen Punkt der deutschen Geschichte". War für Adenauer das Jahr 1945 der entscheidende Bezugspunkt gewesen - und damit deutsches Leid und die Kritik am kommunistischen Unrechtsregime in Mitteleuropa -, so wählten die 68er gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt das Jahr 1933 als Ausgangspunkt ihrer Erinnerungspolitik. Brandt war der erste Kanzler, der mit dem Kniefall vor dem Warschauer Mahnmal für die Gefallenen im Ghetto-Aufstand 1943 öffentlich Reue zeigte. In dieser zweiten Phase kollektiven Erinnerns standen Fragen nach Schuld und Verantwortung der Nachgeborenen im Vordergrund. Doch indem sie die eine Einseitigkeit aufhob, verfiel die Debatte nach 1968 in eine andere: Die deutsche Nation, so die Logik, habe sich moralisch selbst vernichtet. Die Deutschen wurden nur noch verächtlich als Tätervolk wahrgenommen. Es galt als politisch unkorrekt, über Deutsche als Opfer zu sprechen, während es als korrekt galt, den Verlust der Ostgebiete als gerechte Strafe für die NS-Verbrechen zu akzeptieren. Viele sahen bereits im Erinnern an Vertreibung einen potentiell revanchistischen Akt, der einer Aussöhnung mit den Nachbarn entgegenstehe.

Um das politische Eis gegenüber den kommunistischen Staaten zu brechen, waren die Anhänger von Brandts Ostpolitik zu vielen Zugeständnissen bereit. So übernahmen sie in der nach dem Warschauer Vertrag 1970 gegründeten deutsch-polnischen Schulbuchkommission in Bezug auf die Vertreibung die polnische Sicht, empfahlen für deutsche Schulbücher die Benutzung des Begriffs "Bevölkerungstransfer" und ließen die wilden Vertreibungen ebenso unerwähnt wie die inhumane Praxis bei den organisierten Zwangsaussiedlungen.[52] Ein endloser Streit entzündete sich auch um die Ortsnamen. Liberale und Linke quälten sich mit dem polnischen "Wroc|law" und "", weil ihnen das deutsche "Breslau" und "Stettin" als Ausdruck revanchistischer Gesinnung erschien.

Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Wiedervereinigung Deutschlands befinden wir uns nun offensichtlich in einer dritten Phase kollektiven Erinnerns. Intensiver als zuvor stellt sich die Frage, was nationale Identität konstituiert, die Ost- und Westdeutsche "ein Volk" sein lässt. Dabei stellt sich heraus, dass neben der gemeinsamen Sprache und kulturellen Tradition auch die Erfahrungen von Krieg und Vertreibung zu den wichtigen gesamtdeutschen Klammern zählen. Seit 1989 ist das Land nicht nur wiedervereint. Es hat sich auch nach Osten verlagert. Die neue gesamtdeutsche Ostgrenze an Oder und Neiße ist nicht mehr undurchlässig. Dadurch, so der frühere Staatsminister für Kultur und Medien Julian Nida-Rümelin, werde es leichter, "das kulturelle Erbe im mittleren und östlichen Europa wieder selbstverständlicher zu sehen und es als Teil auch der deutschen Kulturgeschichte zu begreifen"[53]. Begegnungen sind nicht mehr geprägt durch offiziöse Geschichtsdarstellungen und obligatorische Reiseführer. Hinter der Gegenwart von Wroc|law eröffnet sich die Vergangenheit von Breslau, neben die ukrainische Literatur über Ostgalizien treten die deutschsprachigen Romane von Joseph Roth. Endlich ermöglichen private Begegnungen einen authentischen Meinungsaustausch, und zunehmend werden die bis dahin weitgehend entlang nationaler Fronten verlaufenden Diskussionen in Wissenschaft, Kultur und Politik durch individuelle Standpunkte ersetzt.

Angesichts dieser äußeren Umstände beschleunigt sich auf beiden Seiten der Grenzen ein Prozess des Umdenkens: So wie in Deutschland die einseitige Selbstwahrnehmung als Täternation einem differenzierteren Selbstbildnis wich, erhalten auch in Osteuropa die gestanzten, mythologisierten Bilder von den Opfervölkern Risse. Tschechische Historiker stellen die Frage, ob es sich bei der tschechischen Macht unter Staatspräsident Emil Hacha im "Protektorat Böhmen und Mähren" um Kollaboration gehandelt habe. Polen debattiert angesichts der Ermordung der Juden 1941 im ostpolnischen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 565

Jedwabne durch ihre polnischen Mitbürger die Mitschuld am Holocaust. Beide Länder befassen sich nun schon seit Jahren mit ihrer Rolle bei derVertreibung von Deutschen, Ukrainern und Ungarn bei Kriegsende.

In all diesen Fällen geht es nicht nur um die Aufdeckung bisher unbekannter oder tabuisierter historischer Fakten. Was diese Debatten so schmerzhaft, emotionsbeladen und mühselig macht, sind die damit einhergehenden Veränderungen im kollektiven Gedächtnis, die ganz subjektiven Erinnerungen Rechnung tragen und nicht selten von den Aussagen der großen Geschichte abweichen. Bleiben diese Einzelerfahrungen mit ihren Orten und Namen aber unberücksichtigt oder werden sie zu schnell in allgemeinere Erfahrungen übergeleitet, drohen wichtige Chancen für den gesellschaftlichen Integrationsprozess ungenutzt zu bleiben: Dann kann weder die Bitterkeit von Bürgern gemildert werden, die sich in ihrem Leid übergangen fühlen, noch können Erzählungen durch die Rekonstruktion des ganz Konkreten korrigiert werden.

Da es sich bei der augenblicklichen Debatte über Vertreibung zweifellos in erster Linie um einen Dialog der Deutschen mit sich selbst handelt, müsste das geplante Zentrum gegen Vertreibungen in erster Linie auch den Bedürfnissen der Deutschen Rechnung tragen: den Erzählungen über deutsches Leid (wieder) Raum schaffen, die Geschichte des deutschen Ostens (wieder) in Erinnerung rufen, der ganz spezifischen Verflechtungvon Täter-Opfer-Konstellationen nachgehen. Zweifellos wäre der geeignetste Ort dafür Berlin. Die Stadt ist nicht nur ein Symbol für Hitlers Rassenwahn; Berlin war auch Schauplatz des Widerstands und ein Ort, an dem Zehntausende von Flüchtlingen nach dem Krieg Unterschlupf fanden. Gerade weil ein Zentrum in Berlin dem Leid der deutschen Vertriebenen endlich die entsprechende Anerkennung zukommen ließe, würde es keineswegs die Relativierung von fremdem - polnischem, jüdischem, russischem - Leid nach sich ziehen. Denn entgegen einer weit verbreiteten Annahme müssen Opfergruppen nicht notwendigerweise in Konkurrenz zueinander stehen. Wirkliche Empathie schließt die Anerkennung fremden Leids ein. Und so, wie die Bilder aus Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre viele sensibler werden ließen für die Vertreibungsschicksale in den eigenen Familien, kann die Beschäftigung mit dem deutschen Leid auch ihre Einfühlung in die Nachbarn fördern.

Zwar war schon vor 1989 ein Anstieg der Reisen von Betroffenen in die früheren Heimatorte zu verzeichnen; doch nach Öffnung der Grenzen hat sich diese Tendenz verstärkt. Fuhren früher fast ausschließlich Busse mit Angehörigen der Erlebnisgeneration, machen sich inzwischen ganze Familien auf den Weg: Söhne, Töchter und Enkel, welche die Geburtsorte der Eltern und Großeltern und die Wurzeln der Familien kennen lernen wollen - in Ostpreußen, Schlesien, im Sudetenland, im Baltikum, in Bessarabien, Wolhynien, Rumänien, Ungarn, Russland, in Serbien oder in der Slowakei. Auch das ist ein Teil der Veränderung des kollektiven Erinnerns: Mit den Familiengeschichten kehren die Orte des verlorenen Ostens in das Gedächtnis zurück. Der Blick richtet sich nicht mehr nur nach Westen und Süden, sondern auch - wieder - nach Osten und Südosten: nicht als Räume einer neuen Begierde, sondern als Räume der Erinnerung.

In den Zeugnissen, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, zeigt sich noch manche Bitterkeit: von inzwischen sehr alten Menschen, die nicht nur die Heimat, sondern auch Ehepartner und Kinder verloren haben und die sich in der neuen Umgebung und in neuen Ehen nie mehr vollständig einrichteten. Dominierend sind jedoch andere Sichtweisen. Zum Teil versuchen sich Menschen endlich durch das Niederschreiben von traumatischen Erinnerungen zu entlasten. Zum Teil geben sie ihrer Trauer Ausdruck, wenn sie sich bei Reisen in die Geburtsorte den unwiederbringlichen Verlust noch einmal vor Augen führen: eine tiefe Kränkung, die in der Regel jedoch nicht mehr mit Wut und Hader gegenüber dem Schicksal verbunden, sondern zu einer zukunftslosen Erinnerung geworden ist. Bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation schließlich, die zwischen 30 und 60 Jahre alt sind, steht in Ost- wie in Westdeutschland die Entdeckung von bisher tabuisierten und ausgeklammerten Familiengeschichten im Vordergrund, die Suche nach Wurzeln, nach geheimnisvollen, nicht erklärbaren Familienlegenden, die Suche nach Identität.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 566

Und plötzlich stellt sich heraus, dass die Interessen der Kinder und Enkel von Vertriebenen auf frappierende Weise mit den Interessen gleichaltriger Polen, Tschechen, Ungarn oder Juden übereinstimmen: Die einen wie die anderen forschen nach Tiefenschichten von Orten und Landschaften und Geschichten, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen vorenthalten worden sind.[54] Die einen wie die anderen suchen die weißen Flecken in den Geschichten ihrer Familien und Völker auszufüllen. Diese Nachkriegskinder suchen nach untergegangenen Vergangenheiten, in denen die Geschichte ihren ganzen Reichtum und ihre ganze Vielfalt offenbart und alle Kulturgüter für alle zugänglich sind. Insofern enthält der augenblickliche Prozess im Kern nichts Beängstigendes, aber viel Befreiendes, Aufklärerisches, Heilendes.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 40-41/2003) - Kollektive Erinnerung im Wandel (http://www. bpb.de/apuz/27383/kollektive-erinnerung-im-wandel)

Fußnoten

1. Verena Dohrn, Reise nach Galizien. Grenzlandschaften des alten Europa, Berlin 2000; Martin Pollack, Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Frankfurt/M. 2001; Ralph Giordano, Ostpreußen ade. Reise durch ein melancholisches Land, Köln 1994; Christian von Krockow, Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 - 1947, Stuttgart 1997; Freya Klier, Verschleppt bis ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern, Berlin 1998; Ulla Lachauer, Ostpreußische Lebensläufe, Reinbek 1998; Roswitha Schieb, Reise durch Schlesien und Galizien. Eine Archäologie des Gefühls, Berlin 2000; Andreas Kossert, Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, Berlin 2001; Matthias Kneip, Grundsteine im Gepäck. Begegnungen mit Polen, Paderborn 2002; Helga Hirsch, Die Rache der Opfer, Berlin 1998. 2. Göttingen 2002. 3. München 2002. 4. Vgl. Norman M. Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe, London 2002, S. 3. 5. Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20.Jahrhundert, Berlin 2000, S. 70. 6. Vgl. Joachim Rogall (Hrsg.), Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen, Berlin 1996, S. 373. 7. Klaus-Dietmar Henke, Der Weg nach Potsdam. Die Alliierten und die Vertreibung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Frankfurt/M. 1995, S. 58ff. 8. Zit. bei N. Naimark (Anm. 4), S. 110. 9. Zit. bei K.-D. Henke (Anm. 7), S. 66. 10. Ebd., S. 77f. 11. Vgl. Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963, S. 307ff. 12. N. Naimark (Anm. 4), S. 137. 13. Vgl. M. Mazower (Anm. 5), S. 317. 14. Für Deutschland in den Grenzen von 1937 wird von mindestens zwei Millionen Vergewaltigungsopfern ausgegangen. Vgl. Franz W. Seidler/Alfred M. de Zayas, Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg-Berlin-Bonn 2002, S. 122. 15. Vgl. Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg (Hrsg.), Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem, Stuttgart 2002, S. 17. 16. Vgl. Donauschwäbische Kulturstiftung (Hrsg.), Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944 - 1948, München 2000, S. 66. 17. Vgl. ebd., S. 312. 18. Vgl. Das Schicksal der Deutschen in Rumänien, in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. III, München 1984, S. 64 E ff.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 567

19. Vgl. W 20. Dt. Übersetzung in: Der "Brünner Todesmarsch" 1945. Die Vertreibung und Misshandlung der Deutschen aus Brünn, Schwäbisch Gmünd 1998, S. 35. 21. Vgl. Jaroslaw Kucera, Odsunove ztraty sudetonemeckeho obyvatelstva, Prag 1992, zit. nach N. M.Naimark (Anm. 4), S. 118. 22. Vgl. Agnes Tóth, Migrationen in Ungarn 1945 - 1948, München 2001, S. 175. 23. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1963, S. 331. 24. Zit. nach: Haus der Heimat (Anm. 15), S. 26. 25. Vgl. Reinhold Schillinger, Der Lastenausgleich, in: W.Benz (Anm. 7), S. 232. 26. Vgl. Die Flucht der Deutschen, Spiegel-Spezial, 2/2002, S. 125. 27. Vgl. R. Schillinger (Anm. 25), S. 240. 28. Vgl. Andreas Malycha, "Wir haben erkannt, dass die Oder-Neiße-Grenze die Friedensgrenze ist". Die SED und die neue Ostgrenze 1945 bis1951, in: Deutschland Archiv, 33 (2000) 2, S. 193 - 207. 29. Zit. nach: Die Flucht der Deutschen (Anm. 26), S. 120. 30. Vgl. Michael Schwartz, Vertreibung und Vergangenheitspolitik. Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten, in: Deutschland Archiv, 30 (1997) 2, S. 177 - 195; ders., Tabu und Erinnerung. Zur Vertriebenen-Problematik in Politik und literarischer Öffentlichkeit der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, (2003) 1, S. 89. 31. Vgl. Hermann Weiß, Die Organisationen der Vertriebenen und ihre Presse, in: W. Benz (Anm. 7), S. 248. 32. Vgl. Dietrich Strothmann, "Schlesien bleibt unser": Vertriebenenpolitik im Rad der Geschichte, in: W. Benz (Anm. 7), S. 267. 33. Joseph Foschepoth, Die Westmächte, Adenauer und die Vertriebenen, in: W. Benz (Anm. 7), S. 105. 34. Vgl. H. Weiß (Anm. 31), S. 260. 35. Vgl. u.a. P. Lüttinger, Der Mythos der schnellen Integration, in: Zeitschrift für Soziologie, 15 (1986), S. 20 - 36. 36. Vgl. u.a. H.-W. Rautenberg, Die Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 53/1997, S. 34 - 46. 37. Vgl. E. Lippelt/ C. Keppel, Deutsche Kinder in den Jahren 1947 bis 1950, in: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, (1950) 9, S. 212 - 322. 38. Vgl. Volker Ackermann, Das Schweigen der Flüchtlingskinder, unveröff. Ms., S. 19. 39. Vgl. Tony Judt, Die Vergangenheit ist ein anderes Land. Politische Mythen im Nachkriegseuropa, in: Transit, (1993) 6, S. 100. 40. Vgl. Ursula Brandt, Flüchtlingskinder. Eine Untersuchung zu ihrer psychischen Situation, München 1964, S. 80 - 83 und 151 - 154. 41. Vgl. H. Stutte, Ärztliches Problem des Flüchtlingskindes, in: Unsere Jugend, (1950) 2, S. 214ff. 42. Zit. nach V. Ackermann (Anm. 38), S. 23. 43. Zit. nach Frauke Teegen/Verena Meister, Traumatische Erfahrungen deutscher Flüchtlinge am Ende des II. Weltkriegs und heutige Belastungsstörungen, in: Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, (2000) 13, S. 112 - 124. 44. Vgl. ebd., S. 116. 45. Vgl. u.a. Günter Jerouschek, Vertreibungsschicksale in Psychoanalysen, Vortrag im Mai 2002 in Leipzig; Uwe Langendorf, Heimatvertreibung - das stumme Thema, Vortrag im Oktober 2002 in Berlin. 46. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2002(4); Hervorhebung im Original. 47. Vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1998, S. 13. 48. Zit. nach Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, München 2000, S. 148. 49. Keesing's Archiv der Gegenwart, 1951, S. 3146. 50. J. Foschepoth (Anm. 33), S. 107. 51. Zit. nach: Mathias Beer, Das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998) 2, S. 376; ders., Die Dokumentation der Vertreibung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 568

der deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe - Entstehung - Ergebnis - Wirkung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 50 (1999) 2, S. 111. 52. Vgl. Krzysztof Ruchniewicz, Die Problematik der Aussiedlung der Deutschen aus polnischer und deutscher Sicht in Vergangenheit und Gegenwart, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 10 (2002). 53. Zit. nach: Wie viel Geschichte liegt im Osten?, hrsg. vom Deutschen Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2003, S. 10. 54. Vgl. z.B. Martha Kent, Eine Porzellanscherbe im Graben, Zürich 2003; Reinhard Jirgl, Die Unvollendeten, München 2003; Michael Zeller, Die Reise nach Samosch, Cadolzburg 2003.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 569

Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik

Von Ute Frevert 11.4.2005

Prof. Dr. phil. geb. 1954; lehrt deutsche Geschichte an der Yale University.

Anschrift: Department of History, Yale University, P.O. Box 208324, New Haven, CT 06520 - 8324, USA.

E-Mail: [email protected]öffentlichungen u.a.: (zus. mit Aleida Assmann) Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999; Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001; Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2003; (Hrsg.) Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003.

Die deutsche Erinnerung an den Nationalsozialismus hat selbst eine Geschichte. Sie beginnt mit der kollektiven "Entschuldung" in BRD und DDR. Auf die allmähliche Anerkennung der kollektiven Verantwortung folgt heute ein kommerzieller Gedächtnisboom. Aber wie könnte ein angemessenes Erinnern aussehen?

Einleitung

Deutsche Geschichte ist anstößig - vor allem dann, wenn es um den Nationalsozialismus geht. Diese Zeit gehört, anders als das Kaiserreich oder die Weimarer Republik, nicht allein den Historikern, die sich berufsmäßig damit beschäftigen. Sie gehört der Öffentlichkeit: Journalisten und Politikern, Verbandsvertretern und Schriftstellern, den Zeitzeugen und ihren Nachkommen. Um sie wird gestritten, und eben dieser Streit sichert der NS-Zeit einen privilegierten Dauerplatz auf der Bühne des öffentlichen Interesses.[1]

Worüber indes gestritten wird, verändert sich je nach den aktuellen Bedürfnissen und Standpunkten der Zeitgenossen. Abstrakt und hintergründig geht es dabei immer wieder um den Platz des "Dritten Reiches" in der nationalen Geschichtserzählung. Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität, nach Herkünften und Nachwirkungen ist, wie die Debatten der vergangenen zwei Jahrzehnte deutlich zeigen, eine eminent politische Frage, auf die es verschiedene Antworten gibt. Konkret und vordergründig tobt ein Kampf der Erinnerungen, in den die noch lebenden Zeitzeugen ebenso verwickelt sind wie ihre Kinder und Enkel. Hier geht es um die öffentliche Anerkennung eines Opferstatus, den fast alle für sich reklamieren, erlaubt er es doch, die politische Perhorreszierung des Nationalsozialismus mit einer persönlichen Erfahrung zu verbinden, die sich davon abspalten möchte, ohne den Grundkonsens zu missachten.

Dieser Grundkonsens hat sich in den historischen Debatten der vergangenen dreißig Jahre herausgebildet und umfasst alle politischen Lager - vom rechtsextremen Rand abgesehen. Er besagt, dass während des "Dritten Reiches" Verbrechen unerhörten Ausmaßes in staatlichem Auftrag und "im Namen des deutschen Volkes" begangen worden sind. Deshalb verbietet es sich gleichsam von selbst, sich dieser Epoche positiv zu erinnern. Wie weit und tief allerdings die negative Erinnerung reichen soll, was sie umfasst und was sie ausschließt, daran scheiden sich die Geister. Das private und das Familiengedächtnis verfahren dabei oft milder und großzügiger, in jedem Fall aber unkontrollierter als der öffentliche Umgang mit dem Nationalsozialismus.[2]

Letzterer steht dauerhaft auf dem Prüfstand von Kritik und Antikritik. Vor allem in den achtziger und neunziger Jahren, als in Bonn und Berlin liberal-konservative Regierungen eine normalisierende Geschichtspolitik betrieben, schlug der Dissens hohe Wellen. Das spiegelte sich in den Planungen für

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 570 ein Deutsches Historisches Museum ebenso wider wie in der öffentlichen Erregung, die1985 der deutsch-amerikanische Staatsbesuch auf dem Bitburger Soldatenfriedhof provozierte. Besonderes Misstrauen riefen die Ereignisse nach der deutsch-deutschen "Wende" 1989 hervor. Dort, wo sich wie bei der Gestaltung der Berliner "Neuen Wache" unverhohlene Zeichen einer Schlussstrichmentalität zu erkennen gaben, wurden sie von heftigen Gegenreaktionen begleitet.[3] Dabei waren nicht nur regierungsferne Intellektuelle, Historiker, Schriftsteller und Publizisten am Werk. Wie der Nationalsozialismus erinnert werden sollte, bewegte ein sehr viel größeres und breiteres Publikum - im Westen wie im Osten.

Erinnerungen: Opfer, Täter, Mittäter

Sich zu erinnern - das war spätestens seit Richard von Weizsäckers Gedenkrede zum 8. Mai 1985 ein Sesam-Öffne-Dich. Dazu trugen die in rascher Folge abgefeierten Jubiläumsjahre (Kriegsbeginn, Kriegsende, Novemberpogrom, Stalingrad, Auschwitz-Befreiung) ebenso bei wie das In-die-Jahre- Kommen der verbliebenen Zeitzeugen. Ihnen blieb nur noch eine begrenzte Spanne, um über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten, und das öffentliche Interesse an diesen Erzählungen war groß. Zugleich aber war das Interesse nicht neutral, sondern es konfrontierte die Erzählenden mit neuen, aufwühlenden Fragen nach individueller Schuld und Verantwortung.

In diesen Fragen lag der explosive Zündstoff, der die Vergangenheitsdebatten jenseits politischer Instrumentalisierung und demographischer Bedrängnis kurz vor der Jahrhundertwende noch einmal kräftig anfachte. Fragen nach persönlicher Teilhabe und Mitwirkung der Vielen waren bislang weder in der DDR noch in der alten Bundesrepublik gestellt worden. Die SBZ/DDR hatte, nach anfänglichen radikalen Entnazifizierungsaktionen in Verwaltung, Justiz, Bildung und Militär, ihre Bevölkerung kollektiv entschuldet und die Verantwortung für den Nationalsozialismus den "usual suspects" aufgebürdet: Monopolkapitalisten und Militaristen, also jenen, die im neuen sozialistischen Staat ohnehin zu Personae non gratae erklärt worden waren.

In der Bundesrepublik hingegen hatte man sich daran gewöhnt, das "Dritte Reich" als "Gewaltherrschaft" zu etikettieren und so ebenfalls die eigene Bevölkerung gewissermaßen zu entlasten. Denn selbst Schergen des Regimes konnten sich lange darauf berufen, nur Befehle ausgeführt, im "Befehlsnotstand" gehandelt zu haben. Die Masse der "kleinen Leute" nahm sich als Opfer wahr, die unter dem Nationalsozialismus und seinen Kriegsfolgen schwer gelitten hätten und deshalb für nichts verantwortlich seien.

An jener Lesart änderten auch die heftigen Attacken der antiautoritären 68er-Bewegung nicht viel. Ihre kritischen Fragen nach personellen und strukturellen Kontinuitäten mündeten rasch in eine globale Verurteilung der Vätergeneration, welche eine echte Auseinandersetzung dauerhaft blockierte. Mindestens ebenso steril und dogmatisch verlief die in der marxistischen Linken geführte Faschismus- Debatte, die schnell ins DDR-Fahrwasser abdriftete und gebetsmühlenartig den Zusammenhang ökonomischer Entwicklungen und politischer Strukturen beschwor.

Einen gänzlich neuen, bis dahin ungewohnten Ton schlug Ende der siebziger Jahre die vierteilige amerikanische TV-Serie "Holocaust" an. Ihr Erfolgsrezept bestand darin, dass sie Geschichte intimisierte und emotionalisierte. Indem sie die Judenverfolgung und -vernichtung in Deutschland und den von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas als Familiendrama inszenierte, konnten Zuschauer Empathie mit den Opfern empfinden und sich mit deren Leid identifizieren. Das bis dahin namenlose, lediglich in abstrakten Todeszahlen präsente Schicksal der jüdischen Bevölkerung bekam ein Gesicht; es wurde persönlich nachvollziehbar und damit erst "wirklich". Viele Menschen begannen damals, Kontakte zu jüdischen Überlebenden zu knüpfen und die lokale Geschichte auf jüdische Spuren hin zu durchforsten. Einladungen an Überlebende in den ehemaligen Heimatort folgten und führten zu vorsichtigen, oft herzlichen Annäherungen. Denkmalsprojekte, in welcher Form auch immer, begleiteten diesen Prozess der Wiederaneignung. Der Holocaust rückte auf diese Weise, verstärkt durch starke mediale Unterstützung, in den Mittelpunkt der individuellen und kollektiven

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 571

Auseinandersetzung. Die Geschichte des Nationalsozialismus war seit den achtziger Jahren über weite Strecken identisch mit der Geschichte der Judenvernichtung.

Annäherung an die und Empathie mit den jüdischen Opfern führten aber mittelfristig auch dazu, dass die Rolle der "normalen" Deutschen bei diesem Jahrhundertverbrechen zunehmend in den Blick geriet. Inwiefern hatte die nichtjüdische Bevölkerung mitgewirkt - durch Wegschauen, Denunziationen, Solidaritätsverweigerung? Und was war für diese kollektive Gleichgültigkeit verantwortlich gewesen? Solche Fragen tauchten etwa bei der Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer auf, die 1996 erschienen und sich wider Erwarten blendend verkauften. Der jüdische Autor, der die NS-Zeit in Dresden mit knapper Not überlebt hatte, zeichnete ein bedrückendes Bild seines Überlebenskampfes. Er hatte es nicht nur mit brutalen Gestapo-Beamten zu tun, sondern auch mit gewissenlosen, bestenfalls lethargischen, oft offen feindseligen und grausamen Mitbürgern.[4]

Noch radikaler stellte der amerikanische Historiker Daniel J. Goldhagen die Frage nach Schuld und Verantwortung. Sein zeitgleich mit Klemperers Tagebüchern veröffentlichtes Buch über "Hitlers willige Vollstrecker" nahm dezidiert von der Legende Abschied, es seien nur einige wenige gewesen, welche die Mordaktionen des NS-Regimes durchgeführt hätten. Goldhagen wies demgegenüber nach, dass die Zahl der Beteiligten ungleich größer war und, wie bereits Christopher Browning vor ihm festgestellt hatte, "ganz normale" Deutsche umfasste. Er argumentierte darüber hinaus, dass diese Männer ihre Mordtaten nicht unter Zwang, sondern zuweilen geradezu lustvoll begangen hätten, angetrieben von einem seit jeher in der deutschen Kultur verwurzelten "eliminatorischen Antisemitismus".[5]

So sehr Goldhagens Buch von Fachhistorikern gerade wegen dieser eindimensionalen Beweisführung kritisiert wurde, so großer Zustimmung erfreute es sich bei seiner Leserschaft. Seine eingängige Botschaft - alle Deutschen waren 1933 Antisemiten und deshalb auch potentielle Täter - kam an: Sie lieferte nicht nur eine einfache Erklärung für den Holocaust, sie entlastete auch die Nachgeborenen. Denn nach 1945 war jener Antisemitismus, der sich mindestens zwei Jahrhunderte lang in der deutschen Mentalität eingenistet hatte, laut Goldhagen abrupt von der Bildfläche verschwunden. Diese These nahm, überspitzt gesagt, den Charakter eines Heilswissens an, das seinen Konsumenten - sofern sie nach 1945 geboren waren oder die NS-Zeit nur als Kinder durchlebt hatten - Absolution und Erlösung versprach.

Selbstverantwortung als zivilgesellschaftliche Forderung

Die einfachen Erklärungen Goldhagens trafen den Nerv einer Gesellschaft, die es zunehmend für nötig erachtete, in Kategorien sozialer Mündigkeit zu denken. Aus dieser Sicht hatte die Weigerung der NS-Generationen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, etwas Infantiles, Unerwachsenes, Unreifes an sich. Das Bild des Opfers und Getriebenen, das die meisten Deutschen nach 1945 von sich entworfen hatten, passte nicht mehr in eine Zeit, in der sich auch die Bundesrepublik selbstbewusst als Zivilgesellschaft definierte. In einer solchen Gesellschaft rangierten Selbstorganisation und Selbsttätigkeit der Bürger an oberster Stelle. Man delegierte Verantwortung nicht an übergeordnete Stellen, sondern übte sie selber aus. Man zeigte Zivilcourage und trat für Bürger- und Menschenrechte ein.

Mit einem derart anspruchsvollen Selbstbild ausgestattet, befragten Bundesbürger der mittleren und jüngeren Jahrgänge nach 1989 nicht nur die DDR-Bürger kritisch auf ihre Mitwirkung an der "Zweiten Diktatur". Mindestens ebenso fragwürdig schien ihnen das Verhalten jener, die das "Dritte Reich" aktiv erlebt hatten und sich gleichwohl auf ihre Rolle als bloße Beobachter oder passiv Erleidende zurückzogen. Indem sie diese Lesart nicht mehr gelten ließen, sondern auf individuellen Handlungsoptionen und spielräumen beharrten, nahmen sie die ältere Generation gewissermaßen in die Pflicht, sich zumindest in der Erinnerung Rechenschaft abzulegen über eigenes Mittun und persönliche Verantwortung.

Besonders dramatisch kam diese Forderung in der Ausstellung über "Verbrechen der Wehrmacht"

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 572 zum Ausdruck. Sie räumte mit einem der letzten Tabus der NS-Erinnerung auf, der Legende von der sauberen Wehrmacht. Diese Legende war zwar von der Geschichtswissenschaft längst als solche enttarnt; in der Bevölkerung jedoch und vor allem unter den ehemaligen Kriegsteilnehmern und ihren Angehörigen hielt sie sich weitgehend unangefochten. Millionen von Soldaten waren nach wie vor der Meinung, einen "normalen" Krieg geführt zu haben; wenn es Auswüchse und Grausamkeiten gegeben hatte, dann nur auf sowjetischer Seite oder als legitime Reaktion auf feindliche Übergriffe. Fünfzig Jahre nach Kriegsende machte die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung publik, dass dem nicht so gewesen war: Neben Dokumenten über den von Anfang an verbrecherischen Charakter des Ostkrieges zeigte sie Fotomaterial aus dem Besitz einfacher Soldaten, das diese als aktive Teilnehmer oder selbstzufriedene Chronisten der Verbrechen abbildete.[6]

Diese These löste landauf, landab große Bestürzung und ebenso große Empörung aus. Viele Kriegsteilnehmer wiesen sie mit Verve von sich; manche reagierten nachdenklich und selbstkritisch. Wer an einer der überaus zahlreichen lokalen und zentralen Diskussionsveranstaltungen im Begleitprogramm der Wehrmachtsausstellung teilgenommen hat, wird die tiefe Erschütterung gespürt haben, welche die Ausstellung provozierte - in ihrer alten, angreifbaren ebenso wie in ihrer neuen, methodisch abgesicherten, aber in der Sache identischen Aussage. Auch diejenigen Soldaten, deren Einheiten nicht oder nicht unmittelbar an dem Vernichtungswerk beteiligt gewesen waren, mussten sich fragen lassen, wie sie unter anderen Umständen gehandelt hätten. Und niemand konnte mehr daran zweifeln, dass Menschen selbst dort, wo sie in einen Zwangsapparat wie das Militär eingespannt waren, über Handlungsspielräume verfügten, die sie je nach Zivilcourage und moralischer Ausstattung so oder so nutzen konnten.

In dieser ethisch-moralischen, zivilgesellschaftlichen Dimension lag die neue, aufrüttelnde Erkenntnis, welche die Wehrmachtsausstellung vermittelte und die sie zu einem zentralen geschichtspolitischen Ereignis erhob. Wie mit jener Erkenntnis umzugehen sei, war gleichwohl umstritten. In den öffentlichen, stark nachgefragten Gesprächen mit Zeitzeugen machte sich nicht selten eine moralisierende Tendenz breit, die bereits frühere Auseinandersetzungen polarisiert und gelähmt hatte. Wichtiger und ergiebiger war es demgegenüber, nicht nur "schlechtes" Verhalten zu rügen, sondern jene Institutionen zu überprüfen, die "gutes" Verhalten hätten einüben, stützen und honorieren können. Moralisch versagt, das wurde in den Debatten sehr deutlich, haben in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur die Individuen, die sich bereitwillig oder gleichgültig, jedenfalls ohne Gewissensbisse in die Terrormaschinerie einbinden ließen; versagt haben auch ihre Familien, ihre Lehrer, Pfarrer, Richter, ihre Freundeskreise, ihr soziales und konfessionelles Milieu.

Diese Einsicht lässt sich auch aus der Entschädigungsdebatte gewinnen, die 1999 begann. Hier ging es um die millionenstarke Gruppe der Zwangsarbeiter, die in der Kriegszeit in der deutschen (Land)- wirtschaft eingesetzt waren. Sie hatten bislang, sofern sie aus Polen oder der Sowjetunion stammten, keinerlei Genugtuung für ihre meist miserabel entlohnte Arbeit und die demütigende Behandlung erhalten, die ihnen in Deutschland widerfahren war. In ihren Herkunftsländern oft verfemt und als "fünfte Kolonne" der Deutschen verdächtigt, waren sie auch von der deutsch-deutschen Nachkriegsöffentlichkeit kaum wahrgenommen worden, sieht man von einzelnen lokalen Initiativen einmal ab. Gerade sie aber erlebten durch den politischen Streit um die Entschädigung einen großen Aufwind. Die Zurückhaltung und Abwehr vieler Unternehmen, sich an der Finanzierung zu beteiligen, kontrastierte mit einer auffälligen Bereitschaft breiter Kreise, die noch lebenden Zwangsarbeiter materiell zu unterstützen und sich mit ihren leidvollen Erfahrungen auseinander zu setzen.[7]

Letztere aber verweisen erneut auf das Problem der Mitwirkung und Mitverantwortung der Vielen. Wenn Briefe ehemaliger "Fremdarbeiter" fast zwanghaft von den wenigen Deutschen berichten, die ihnen freundlich gegenübertraten und ihnen das schwere Los durch kleine Gesten menschlicher Solidarität erleichterten, taucht sofort die Frage auf, warum sich denn die übergroße Mehrheit solchen Gesten verweigerte.[8]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 573 Die Rückkehr der Opfererinnerung: Flucht, Vertreibung, Bombenkrieg

Eine simple und simplifizierende Antwort ließ nicht auf sich warten: In einer Zeit, in der alle litten, fiel das Leid der anderen nicht besonders auf. Und außerdem habe man ja auch die Deutschen nach 1945 nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Man denke nur an das Leid der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und an das Schicksal deutscher Zwangsarbeiter, die 1945 für mehrere Jahre nach Sibirien, in den Ural oder ins Donezk-Becken verschleppt worden waren. Solche Entlastungsargumente, die man aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Genüge kannte, tauchen vermehrt in den jüngsten Erinnerungsdebatten auf. Wenn man sich die Initiativen und Diskussionen der vergangenen Jahre anschaut, kann man geradezu von einer Rückkehr, javon einem Rückschlag der deutschen Opfererinnerung sprechen.

Den Anfang machte Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang". Der über alle politischen Zweifel erhabene Autor und Literaturnobelpreisträger setzte der Schiffskatastrophe um die "" Ende Januar 1945 - das mit Flüchtlingen aus den Ostgebieten überfüllte ehemalige "Kraft-durch-Freude"- Kreuzfahrtschiff wurde von einem sowjetischen U-Boot versenkt - ein literarisches Denkmal, verbunden mit einer scharfen Selbstanklage, das Thema des deutschen Leides bislang ausgespart und "rechtsgestrickten" Kreisen überantwortet zu haben. Kurz darauf folgte Jörg Friedrichs Buch "Der Brand", das sich mit dem Luftkrieg gegen Deutschland beschäftigte und ein eindringliches Bild der hunderttausendfachen Bombenopfer zeichnete.[9] Das umfängliche Opus erlebte einen immensen Verkaufserfolg; Lesereisen führten seinen Autor in viele Städte, und ein mitfühlendes Publikum war ihm gewiss. Das dritte Beispiel ist die gerade anlaufende Debatte um ein Berliner Zentrum gegen Vertreibungen. Hier geht es darum, der deutschen Vertreibungsopfer bzw. Flüchtlinge zu gedenken und an ihre Leidensgeschichte nach 1945 zu erinnern.

Die erwähnten Bücher und Initiativen argumentieren explizit oder implizit damit, dass die von ihnen thematisierten Leidenserfahrungen in der bisherigen Diskussion um den Nationalsozialismus und seine Folgen unterbelichtet oder gar gänzlich ausgespart worden seien. Deshalb sei es höchste Zeit, auch sie zur Sprache zu bringen, um ein komplexes Panorama jener Jahre zu entwerfen und den Opfern Gerechtigkeit, sprich Empathie, Erinnerung und Anerkennung, widerfahren zu lassen.

Doch diese Argumentation ist nicht stimmig. Das beginnt mit der Behauptung, es gebe eine Erinnerungslücke, die zu füllen sei. Dass Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung bis dato keine Rolle in der deutsch-deutschen Erinnerungsgeschichte gespielt hätten, ist eine Legende, die dadurch nicht wahrer wird, dass sie ständig wiederholt und nachgebetet wird. In der DDR prangten an vielen Gebäuden mit Bombenschäden Gedenktafeln, welche die "angloamerikanischen Terrorbomber" namhaft machten und ihr kulturelles Zerstörungswerk anprangerten. Noch in den letzten Jahren des sozialistischen Staates schrieb der DDR-Historiker Olaf Groehler ein umfangreiches Buch über den "Bombenkrieg gegen Deutschland", das 1991 im angesehenen Akademie-Verlag erschien.

In der Bundesrepublik gab es eine Fülle lokal- und regionalgeschichtlicher Dokumentationen, Bildbände und Forschungsarbeiten, die sich mit den Flächenbombardements der Alliierten und den angerichteten Schäden beschäftigten. Freiburg, Hannover, Bremen, München, Münster, Aachen, Darmstadt, Celle, Bonn, Braunschweig und viele andere Städte samt Talsperren und Eisenbahnviadukte wurden als Angriffsziele der Bomberflotten ausführlich gewürdigt - nicht zu vergessen Berlin und selbstverständlich Dresden, das "deutsche Hiroshima".[10] Auch in den zahlreichen Oralhistory-Texten, die über die Kriegs- und Nachkriegszeit veröffentlicht wurden, spielte die Erfahrung des Bombenkrieges eine immense Rolle. Selbst die Belletristik hat sie, anders als es W. G. Sebald noch 1997 beklagte, nicht ausgeblendet, sondern ihr einige beeindruckende Werke gewidmet.

Ähnlich steht es mit dem Thema Flucht und Vertreibung. Bereits unmittelbar nach der Staatsgründung gab die Bundesregierung eine Forschungsarbeit in Auftrag, die das Leid der aus Ostmitteleuropa vertriebenen Deutschen dokumentieren und festhalten sollte. Als Weißbuch und Argumentationshilfe für zukünftige Friedensverhandlungen gedacht, erschien das fast ausschließlich auf Zeitzeugenberichten fußende mehrbändige Kompendium in den fünfziger und frühen sechziger Jahren;

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 574

1984 legte der Deutsche Taschenbuchverlag einen Nachdruck vor.[11] Darüber hinaus hielt die wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit der Vertriebenenverbände und ihrer politischen, vorwiegend konservativen Freunde das Problem wach. In den bisweilen mit Gift und Galle geführten Kontroversen um die Neue Ostpolitik der späten sechziger und der siebziger Jahre besetzte es einen ebenso prominenten Platz wie in Familienerzählungen, Literatur und Film. Nicht zuletzt die Versenkung des Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff" erlebte mehrfach mediale Bearbeitungen, lange bevor Guido Knopp das Thema für das ZDF entdeckte und quotenstark unters Fernsehvolk brachte.

Allerdings führte die außergewöhnlich rasche gesellschaftliche Integration der Flüchtlinge dazu, dass ihre leidvollen Erfahrungen zunehmend in den Hintergrund rückten und von den Erfolgsstories der Gegenwart überdeckt wurden. Das traf nicht nur auf diejenigen zu, die als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene ihre Heimat hatten verlassen müssen, sondern schloss die ältere Generation mit ein. Von den politischen Schaukämpfen der Vertriebenenfunktionäre und ihren revisionistischen Neigungen fühlten sich nur noch wenige vertreten. Selbst wenn sie die "alte Heimat" nicht vergaßen und die Reiseerleichterungen seit den siebziger Jahren zu Besuchen nutzten, waren sie doch längst in der "neuen Heimat" angekommen.

Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs nach 1989 schien dieses Kapitel der eigenen Biographie auf wundersam versöhnliche Weise abgeschlossen: Die Reisen nach Osten wurden noch häufiger und intensiver, zugleich gestalteten sich die Begegnungen vor Ort offener, reflexiver und respektvoller. Nichts bezeugt die wechselseitige mentale Abrüstung deutlicher als die Tatsache, dass man zu Wroclaw wieder Breslau sagen kann, ohne automatisch als Revanchist beschimpft zu werden und ohne dass Einheimische den Verdacht hegen, hier sei eine neue Landnahme am Werk. In der Stadt gibt es Platz für viele Erinnerungen - auch für die der Deutschen und an die Deutschen.

Wider die Skandalisierung

Diesen Platz gilt es zu füllen - und die neueste Erinnerungsoffensive trägt dem Rechnung. Sie ist im eigentlichen Sinn keine Spätfolge von Verdrängung und Respektlosigkeit, sondern Teil und vorläufiges Endprodukt jenes Gedächtnisbooms, der seit den achtziger Jahren zu beobachten ist. Sie folgt den spezifischen politischen Konjunkturen dieses Gedächtnisses, das sich zunächst mit den jüdischen Opfern beschäftigte, bevor es sich folgerichtig den Tätern und Mittätern zuwandte. Man muss nicht wie Wolf Jobst Siedler von einem "Exzess des Schuldbewusstseins" sprechen, um in den Erinnerungen an Bombentote, Flüchtlinge und Vertriebene einen neuen Pendelschlag zu erkennen.[12]

Dennoch schießt die These von einer "Verschiebung der geschichtspolitischen Fundamente der Bundesrepublik" weit übers Ziel hinaus.[13] Anstatt die Revitalisierung der deutschen Opfererinnerung zu skandalisieren, sollte man sie gleichermaßen kritisch wie unverkrampft betrachten. Dabei wären sieben Punkte zu bedenken.

Erstens: An das Leid zu erinnern, das der Krieg im eigenen Land und seine Folgen über die deutsche Zivilbevölkerung gebracht haben, ist legitim und wichtig. Dass das Thema Vertreibung durch die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien eine in Europa unerwartete und deshalb besonders bedrückende Aktualität gewonnen hat, verleiht den Erfahrungen deutscher Vertriebener und Flüchtlinge zudem eine neue Dignität. Ebenso weckt die Bombardierung irakischer Städte durch amerikanische und britische Flugzeuge fast zwangsläufig Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.

Zweitens: Solche Erinnerungen politisch stillstellen oder unterdrücken zu wollen, wäre nicht nur sinnlos, sondern auch kontraproduktiv. Gleichwohl müssen sie kritisch kommentiert werden. Erinnerungen sind vor allem dann, wenn sie öffentlich kommuniziert werden, keine bloß subjektiven Äußerungen mehr. Sie beziehen sich auch nicht nur auf Vergangenes, sondern haben ihren Ort in der Gegenwart und reflektieren auf zukünftige Ordnungen. Gerade das macht sie so bedeutungsvoll und kontrovers. Hinzu kommt, dass die Erinnerungen, um die es in der derzeitigen Debatte geht, in der Regel keine Primärerinnerungen mehr sind. Die meisten Menschen, die Bombenkrieg, Flucht oder Vertreibung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 575 bewusst erlebt und überlebt haben, leben heute nicht mehr. Erinnerungsträger wie Medien (Bücher, Film, Fernsehen) oder Institutionen (Vertriebenenverbände) treten an ihre Stelle. Gerade sie aber müssen sich fragen lassen, welche aktuellen und in die Zukunft projizierten Interessen sie verfolgen.

Aufrechnungen, Analogien, Vergleiche

Drittens: Die derzeitige Opferdiskussion steht unter dem Generalverdacht, dass Leid mit Leid, Schuld mit Schuld verrechnet werden soll. Ein solcher Aufrechnungsmodus hat eine lange, unrühmliche Tradition, in allen politischen Lagern. Ging es in der Nachkriegszeit darum, das den Deutschen im Osten angetane Unrecht gegen mögliche Reparations- und Entschädigungsforderungen aus diesen Ländern zu wenden, neigte man auf der Linken dazu, die Leiderfahrungen der Deutschen als logische Folge des vom Nationalsozialismus verursachten Unrechts zu betrachten und damit gleichsam zu rechtfertigen. Beide Positionen instrumentalisierten die "Vertriebenen" bzw. "Umgesiedelten" für politische Zwecke; umso schlimmer, dass manche Vertriebenenfunktionäre dieses Spiel bedenkenlos mitspielten und die Polarisierung weiter anheizten. Damit aber muss nun endlich Schluss sein. Die politische Großwetterlage hat sich gravierend geändert und macht die Fortsetzung der alten Grabenkämpfe ebenso überflüssig wie lächerlich. Der psychologische Reflex, auf einen massiven Schuldvorwurf mit Entlastungsargumenten zu antworten und den eigenen Opferstatus hervorzukehren, sollte sich jedenfalls nicht noch einmal dauerhaft einschleifen und erinnerungspolitisch verfestigen.

Viertens: An dieser Stelle sind Historiker gefordert, die jeweilige Gruppenerinnerung in ihren geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. Ohne die Leidenserfahrungen der Opfer zu schmälern oder abzuwerten, muss die Dynamik von Unrecht und Leid angemessen gewichtet werden. Immerhin war es das nationalsozialistische Deutschland, das mit der Vertreibung und Vernichtung ganzer Bevölkerungen begann. Ob jene Handlungskette in dem für Berlin projektierten Zentrum gegen Vertreibungen tatsächlich berücksichtigt wird, bleibt abzuwarten. Derzeit sehen die Pläne eher nach einer nationalen Nabelschau aus, die ihren Gegenstand isoliert, anstatt ihn zeitlich, räumlich und sachlich zu kontextualisieren.

Dieser Kontext ist auch für eine Geschichte des Bombenkrieges notwendig, wie Jörg Friedrich sehr wohl weiß. Coventry und Rotterdam werden in seiner Darstellung nicht unterschlagen. Dennoch gleitet sie in historischen Relativismus ab. Viele Rezensenten haben darauf hingewiesen, wie suggestiv der Autor die Erfahrungen des Flächenbombardements an diejenigen der Gaskammern heranrückt. Indem er sich derselben Begrifflichkeit bedient (Holocaust, wörtlich "Brandopfer" vs. "Der Brand"), stellt er den alliierten Bombenkrieg auf die gleiche Stufe wie die Vernichtungsorgien der Nationalsozialisten. Damit aber hat er dem Gespann Hitler/Himmler nicht nur britische Verbrechenspartner (Churchill/ Harris) beigesellt und den Deutschen die Einsamkeit der Schuld genommen. Er hat im gleichen Atemzug auch die NS-Verbrechen, speziell den Völkermord an den Juden, in ihrer Dimension eingeebnet und entdramatisiert. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ liegen jedoch Welten zwischen den alliierten Kriegszerstörungen deutscher Städte und der gezielten Vernichtung ganzer Völker aus "rassischen" Gründen.

Fünftens: Spätestens seit dem "Historikerstreit" Mitte der achtziger Jahre sind die Gefahren des Analogisierens sattsam bekannt. Geendet hat er nicht mit einem Verbot des analytischen Vergleichs, der nach wie vor zu den wichtigsten methodischen Instrumenten der Geschichtsforschung gehört und vor dem Nationalsozialismus keineswegs Halt macht. Warnschilder allerdings stellte er dort auf, wo es um implizite oder explizite Gleichsetzungen geht. In der politischen Debatte verfolgen sie gemeinhin den Zweck, ein Phänomen zu dramatisieren. Das trifft auf Friedrichs Buch ebenso zu wie auf die Äußerung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der Ende 2002 in der Vermögenssteuerdebatte davon sprach, hier solle Menschen "eine neue Form von Stern" an die Brust geheftet werden. Auch der politisch folgenreiche Vergleich des amtierenden amerikanischen Präsidenten mit Hitler, den die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin im gleichen Jahr bemühte, verschrieb sich dieser Logik der Dramatisierung. Dass damit zugleich die Politik des Nationalsozialismus verharmlost wird, scheint vielen Politikern und Publizisten immer noch nicht klar

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 576 geworden zu sein. Auch hier müssen Historiker stets von neuem Aufklärungsarbeit leisten.

Historisierung versus Moralisierung: auf der Suche nach europäischen Erinnerungsorten

Sechstens: Andererseits spricht die Tatsache, dass sich die Analogiebildung nach wie vor großer Beliebtheit erfreut und in der politischen Rhetorik ihren festen Platz behauptet, entschieden gegen die These, wonach der Nationalsozialismus in den vergangenen Jahren historisiert worden sei und für die Berliner Republik keine Rolle mehr spiele. Diese These lässt nicht nur außer Acht, dass das Thema nach wie vor einen hohen Streit- und Aufmerksamkeitswert verbucht. Sie verkennt darüber hinaus, dass Historisierung nicht zwangsläufig Entaktualisierung bedeutet und schon gar nicht identisch ist mit Entproblematisierung. Den Aufstieg und die Erfolgsbedingungen des Nationalsozialismus aus der Zeit heraus zu erklären, ihn dabei mit anderen Regimen zu vergleichen, um seine Spezifik genauer ermessen zu können - all das ist keine Verharmlosung, Entschuldigung oder Relativierung.

Begreift man Historisierung als Gegenstrategie zur Moralisierung, springen ihre Vorzüge rasch ins Auge. Gehen moralisierende Argumentationen in der Regel von der a priori behaupteten Singularität des Nationalsozialismus aus und verleihen ihm einen dämonischen, der rationalen Analyse letztlich nicht zugänglichen Charakter, beharrt der historisierende Zugriff auf der prinzipiellen Erkennbarkeit seines Gegenstandes. Große Fragen - Wie konnte das geschehen? Warum tun Menschen so etwas? - werden kleingearbeitet, das Monströse in Handlungsketten zerlegt und damit nachvollziehbar. Es wird dadurch keineswegs weniger verwerflich und "abgründig" (Reinhart Koselleck), aber es verliert die Aura des Undurchdringlichen - eine Aura, die dem distanzierenden, kritischen Begreifen alles andere als zuträglich ist und den Nationalsozialismus als das ganz Andere, Fremde mumifiziert und abspaltet. Genau genommen läuft gerade die moralisierende Ausgrenzung darauf hinaus, die Gegenwart zu entlasten und in der vorgeblichen Sicherheit des Korrekten, Guten und Richtigen einzulullen.

Siebtens: Insofern tut Historisierung auch der politischen Debatte gut und stattet sie mit selbstkritischen Obertönen aus. Indem sie auf Kontextualisierungen beharrt, könnte sie auch den aktuellen Streit um ein Zentrum gegen Vertreibungen in sachlichere und zukunftsfähigere Bahnen leiten. Dazu gehört zum einen, die Dynamik von Ursache und Wirkung, die Kausalität, zu betonen und Täter- und Opfererinnerungen zu synchronisieren. Zum anderen fordert die historische Perspektive dezidiert dazu auf, die Vertreibungserfahrung zu europäisieren. Gerade die Erkenntnis, dass "ethnische Säuberungen", wie wir Vertreibung seit den Jugoslawien-Kriegen in den neunziger Jahren nennen, keine exklusive Leidenserfahrung der Deutschen nach 1945 gewesen sind, sondern die gesamte europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts durchziehen, ließe sich dafür nutzen, über gemeinsame europäische Erinnerungsorte nachzudenken. Das könnte Breslau/Wroc|law sein, aber auch Straßburg und Lemberg und andere Städte, die im Zentrum aufgezwungener Migrationen standen.

Das Projekt gemeinsamer europäischer Erinnerungsorte ist kompliziert und überaus voraussetzungsvoll, wie die scharfen Gegenreaktionen in den betroffenen Ländern zeigen. Vielleicht muss noch mehr Zeit vergehen, bis man solche Gemeinsamkeiten annehmen kann. Der beeindruckendste transnationale Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs, das Historial de la Grande Guerre in Péronne, ist erst siebzig Jahre nach dem Kriegsende entstanden. Dennoch sollte man daran arbeiten - und damit zugleich ein Stück gelebtes Europa realisieren, anstatt sich in der eigenen Nationalgeschichte einzuigeln und die Schlachten von gestern und vorgestern immer wieder neu zu schlagen.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 40-41/2003) - Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik (http://www.bpb.de/apuz/27381/der-juengste-erinnerungsboom-in-der-kritik)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 577

Fußnoten

1. Vgl. Aleida Assmann/ Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999. 2. Dies zeigen Familiengespräche und Oral-history-Interviews: vgl. Harald Welzer u.a., "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002; Lutz Niethammer (Hrsg.), "Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll". Faschismus- Erfahrungen im Ruhrgebiet, Bonn 1983. 3. Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung, München 1995. 4. Vgl. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945, 2 Bde., Berlin 1995. 5. Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996; Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve- Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, Reinbek 1993. 6. Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 1996; Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 2002. 7. Vgl. Susanne-Sophia Spiliotis, Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Frankfurt/M. 2003. 8. Vgl. "(...) ein Teil meiner Seele ist in Brackwede". Briefe ehemaliger Zwangsarbeiterinnen in Bielefeld und Brackwede, hrsg. von Gegen Vergessen - Für Demokratie e. V., Sektion Bielefeld, Bielefeld 2003. 9. Vgl. Günter Grass, Im Krebsgang, Göttingen 2002; Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 - 1945, München 2002. 10. So der reißerische Untertitel eines Buches von Alexander McKee (Dresden 1945, Wien 1983). 11. Vgl. Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998), S. 345 - 389; ders., "Ein der wissenschaftlichen Forschung sich aufdrängender historischer Zusammenhang", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51 (2003) 1, S. 59 - 64. 12. Vgl. Wolf Jobst Siedler, Die Hoffahrt der Bußfertigen, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.4. 2001, S. 16. 13. Vgl. Lorenz Jäger, Das Böse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.11. 2002.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 578

Die Erinnerung an den Holocaust in Israel und Deutschland

Von Dan Bar-On 11.4.2005 M.A., Ph.D., geb. 1938; Professor für Psychologie an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva/Israel; Co-Direktor des Peace Research Institute in the Middle East, Beit Jala/Palästina. Department of Behavioral Sciences, Ben Gurion University of the Negev, P.O. Box 654, Beer Sheva 84105, Israel.

E-Mail: [email protected]

Nach 1945 mieden Israelis und Deutsche zunächst die Erinnerung an den Holocaust. Heute wird sie hier wie dort öffentlich betrieben – und instrumentalisiert. Am Beispiel des Palästinenser-Konfliktes erläutert Dan Bar-On die politischen und privaten Strategien des Erinnerns und Vergessens.

Einleitung

Die Kultur der Erinnerung an den Holocaust hat sich in den letzten sechs Jahrzehnten sowohl in Israel als auch in Deutschland dramatisch verändert. In den ersten Jahren nach dem Krieg wurde der Holocaust in beiden Ländern an die Seite gedrängt, denn es gab dringlichere Themen auf der Agenda: Israel hatte soeben den Unabhängigkeitskrieg beendet und eigene Kriterien für Heldentum und Verlust gefunden (die einzig die Ghetto-Kämpfer und die Partisanen erfüllen konnten), und das geteilte Deutschland wurde zum Austragungsort des Kalten Krieges. Die Strategie des Verschweigens der Vergangenheit und die Normalisierung der Gegenwart wurden in beiden Ländern verfolgt. Das versetzte die Regierungen beider Länder in die Lage, bereits 1952 ein Wiedergutmachungsabkommen zu unterzeichnen, einen Vertrag, den Israel dringend für sein wirtschaftliches Überleben und Deutschland ebenso dringend für seine moralische Rehabilitierung im Kreis der demokratischen Nationen des Westens benötigte.[1]

Erst Mitte der fünfziger Jahre verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das Yad Vashem zur offiziellen Gedenkstätte zur Erinnerung an den Holocaust bestimmte und einen jährlichen Gedenktag im April festlegte, in der Woche zwischen Passah und Unabhängigkeitstag. Noch in den siebziger Jahren war Letzterer für junge Israelis der bedeutungsvollere Feiertag; seit den frühen neunziger Jahren wurde der "Memorial Day of the Holocaust" zum bei weitem wichtigsten offiziellen Gedenktag in Israel, und zwar selbst unter den jungen israelischen Juden, deren Eltern einst aus arabischen Ländern eingewandert waren.[2] Dieser Vorgang belegt den dramatischen Wandel, der sich in Israel hinsichtlich der kollektiven Erinnerung an den Holocaust ereignet hat, und er unterstreicht dessen Rolle als Eckpfeiler der kollektivenisraelischen Identität seit den achtziger Jahren.[3]

Auch in Deutschland herrschten lange Jahre Verschweigen und Verzerrung. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche inder nationalsozialistischen Ära begangen worden waren, wurden weder im Schulunterricht behandelt, noch waren sie Teil des inoffiziellen täglichen Diskurses. In einer Erhebung unter deutschen Studierenden stellte sich noch in den frühen neunziger Jahren heraus, dass nur elf Prozent wussten oder zugaben, dass ihre Großeltern in der NSDAP gewesen waren, während 16 Prozent glaubten, jene seien im Widerstand gewesen; 49 Prozent wussten gar nichts über das Verhalten ihrer Vorfahren in jener Zeit.[4]

Vielleicht war es kein Zufall, dass ein offizieller Holocaust-Gedenktag in Deutschland erst nach der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 579

Wiedervereinigung 1990 deklariert wurde: der 27. Januar, der Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit worden war. Das zentrale Holocaust- Mahnmal in Berlin wird demnächst fertig gestellt, nach einer langen Kontroverse über Ort und Zweck: Soll die Nation, aus der die nationalsozialistischen Täter stammten, nur der jüdischen Opfer gedenken? Inwiefern tritt ein solcher Ort in Konkurrenz zu den authentischen Orten des nationalsozialistischen Terrors? Heute ist es eine offene Frage, ob das Mahnmal Teil eines jeden offiziellen Besuchs der Hauptstadt werden wird, wie es in Yad Vashem in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu bemerken, dass es sich die Deutschen erst seit kurzer Zeitgestatten, ihre eigenen Opfer zu betrauern, etwa in Dresden oder bei Flucht und Vertreibung aus dem Osten.[5] Vielleicht habendie Deutschen zu lange geglaubt, dass sie angesichts dessen, was den Opfern der Nationalsozialisten während des Holocaust geschah, kein Recht hätten, eigene Verluste zubetrauern.

Meine These lautet, dass in Israel und Deutschland die Erinnerungskultur und die Kultur des Vergessens des Holocaust eng miteinander verwoben sind. Beides geschieht auf wenigstens zwei Ebenen: zum einen auf der öffentlichen bzw. politischen Ebene, wo die Erinnerungskultur zunehmend für politische Ziele instrumentalisiert wird, zum anderen auf der individuellen Ebene, auf der das Durcharbeiten der Vergangenheit von aktuellen Anlässen abgegrenzt wird. Letzterer ist der wichtigere Prozess, aber es ist schwieriger, die Vergangenheit auf der individuellen Ebene durchzuarbeiten. Manchmal schlagen politische Bemühungen einer Überbetonung der Erinnerung an den Holocaust in ihr Gegenteil um und befördern das Vergessen auf der eher individuellen Ebene, und umgekehrt.

Weil mir die israelische Erinnerungskultur näher liegt als die deutsche, werde ich mich im Folgenden auf Israel konzentrieren. Ich hatte kürzlich die Möglichkeit, parallel die Nachwirkungen des Holocaust auf die zweiten und dritten Generationen wie auf den aktuellen israelisch-palästinensischen Konflikt zu erforschen. Einige meiner Eindrücke und Gedanken über die Wechselwirkungen werde ich nun schildern. Ich betrachte Israels aktuelle Situation als Zustand verdichteter Interaktion von Konflikten, bei denen wir nicht das Privileg haben, sie getrennt durcharbeiten zu können. Ich werde mich vor allem auf die Graswurzelebene konzentrieren.

Vergangenheit und Gegenwart trennen oder verbinden

Gewöhnlich beherrschen Bilder einer geordneten Abfolge von Wandlungsprozessen unsere Vorstellungen. Wir glauben, dass man erst die Traumata der Vergangenheit durcharbeiten müsse, bevor man die Energie aufbringt, sich der Gegenwart zuzuwenden. Oder: Man sollte zuerst aktuelle Konflikte befrieden, bevor man sich den Luxus leistet, ungelöste Konflikte der Vergangenheit zu bearbeiten. Ich bin davon überzeugt, dass die Realität viel chaotischer ist: Wir können keine der beiden Abläufe wirklich befolgen, denn wir müssen unsere gegenwärtige Situation bewältigen, während wir zur gleichen Zeitungelöste Konflikte der Vergangenheit durcharbeiten. Das gilt in besonderer Weise für den Holocaust.

Das liegt vor allem daran, dass die meisten Menschen es vorziehen, Konflikte erst gar nicht anzugehen. Wir bevorzugen ein klares Selbstbild von Harmonie und Kohärenz, und so möchten wir auch von unseren Mitmenschen wahrgenommen werden. Viele versuchen dieses Selbstbild sogar dann aufrechtzuerhalten, wenn es Signale gibt, dass es nicht mehr funktioniert, weil es nicht der Realität entspricht. Erst wenn es keine andere Wahl mehr gibt, wenn man sich einer Krise gegenübersieht oder sich in einer Sackgasse befindet, wird man gezwungen, die Konflikte im Selbst oder mit anderen anzugehen. Wenn diese Konflikte in verdichteter Interaktion auftreten, wird es umso schwieriger, sie durchzuarbeiten. Vielleicht liegt darin ein Paradoxon menschlicher Selbstreflexion: Wenn sie hilfreich wäre, wird sie vernachlässigt; wenn sie notwendig ist, ist sie häufig zu schwierig.

Israel ist ein Laboratorium der verdichteten Interaktion von Konflikten. Seit dem Jahr 2000 befinden wir uns in einer schwierigen Phase des Konflikts mit unseren Nachbarn, und die israelische Gesellschaft durchlebt zurselben Zeit eine ihrer schwersten gesellschaftlichen Identitätskrisen: säkular gegen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 580 religiös, rechts gegen links, ethnisch definierte Immigrantengruppen gegen Veteranen, Reich gegen Arm, Allmacht gegen Ohnmacht. Jeder vorstellbare Konflikt spielt sich hier ab.

Zwei meiner Studenten haben vor kurzem mit einer Gruppe von Sabras[6] und russischen Immigranten gearbeitet. Die Teilnehmenden sollten sich zwischen zwei Polen selbst verorten: Der eine bedeutete "100 Prozent Israeli", der andere "das Gegenteil". Überraschenderweise fanden sich die meisten Gruppenmitglieder irgendwo in der Mitte wieder. "Wir wissen, warum wir hier sind, aber wie kommt es, dass ihr hier seid?", fragten die Russen die Sabras. Einige der Sabras führten an, warum sie sich nicht mehr als "100 Prozent Israeli" fühlten. Was hat das zu bedeuten? Während einige die Aussage als Regression deuteten - eine Distanzierung von einer idealisierten israelischen Identität -, sahen andere darin eine Progression, eine Bewegung nach vorne, weil man nun in der Lage sei, den künstlichen Kollektivismus der Vergangenheit kritischer zu sehen und eine Identität zu wählen, anstatt in eine solche gezwungen zu werden. Jene, die zu diesem kritischen inneren Dialog fähig sind, müssen ihn unter sehr ungünstigen Bedingungen vollziehen, begleitet von äußeren Bedrohungen, die gewöhnlich mit jenen Gruppen verbunden sind, die versuchen, diesen Erneuerungsprozess aufzuhalten.

Die Vorstellung einer derart verdichteten Interaktion von Konflikten mag dem deutschen Publikum sehr fern erscheinen, denn es befindet sich ja mitten in einer erneuerten deutsch-europäischen Gesellschaft, die ihren eigenen Wohlstand und Einfluss genießt und von vergangenen oder aktuellen Konflikten kaum berührt wird. Doch aus meiner naiven Sicht haben wir mehr gemeinsam, als es von einem politischen Blickwinkel aus den Anschein hat. Unsere beiden Gesellschaften hatten die Wahl zwischen einer Normalisierung der Gegenwart und der Vergangenheit, indem schwierige Themen unterdrückt wurden, und dem Versuch, sich diesen Konflikten zu stellen und sie angemessen durchzuarbeiten. Vielleicht haben die Israelis heute diese Wahl nicht mehr, denn unsere Konflikte, ob wir wollen oder nicht, begegnen uns an jeder Straßenecke und in jeder Zeitung. Dagegen scheint es mir möglich, dass die Deutschen ihren ungelösten Konflikten nach wie vor ausweichen können oder gar behaupten können, sie existierten nicht mehr, weil ihr Einfluss auf das tägliche Leben sehr gering zu sein scheint.

Die Israelis haben lange den Schild einer überaus selbstbewussten nationalen Selbstpräsentation benutzt, die jetzt eine kritische undschmerzhafte Phase der Neubewertung durchläuft. Wir müssen bescheidener werden, in unseren Erwartungen wie im Verhältnis zu jenen, mit denen wir als Nachbarn zu leben haben. Deutschland hingegen kann sein Wiedererstarken als wichtigste wirtschaftliche und politische Macht Europas feiern, nachdem es eine lange Periode internationaler und interner Kritik durchlaufen hat. Und doch bleibt die Frage auch für die Deutschen gültig: Was haben wir zurückgelassen - unberührt, unsichtbar, noch immer ungelöst? Gibt es Themen aus der NS-Ära und dem Holocaust, die endlich angegangen werden sollten, die in der Nachkriegsgesellschaft niemals vollständig diskutiert wurden? Das gilt auch für andere europäische Gesellschaften, und dieser Umstand kann Auswirkungen auf die gesellschaftlichen und politischen Belange Europas haben. Diese Frage muss beantwortet werden, und es steht mir nicht zu, dies anstelle der deutschen Intellektuellen zu tun.

Ich werde nur einige wenige Punkte ansprechen, die ich als Beispiele für ungelöste Konflikte der Vergangenheit kennzeichne und die für Gegenwart und Zukunft Bedeutung haben. Beim ersten handelt es sich um die Identifikation mit dem Opfer und um das "Auch - wir - haben - gelitten"- Syndrom. Das sind zwei getrennte Vorgänge, die sich auf seltsame Weise gegenseitig beeinflussen - in unserer Psyche, in unserer Selbstpräsentation und in unserer Interaktion mit anderen. Mit "Identifikation" meine ich Empathie mit Opfern eines von Menschen gemachten Unheils. Diese wird häufig von einem versteckten Prozess begleitet, sich von jenen persönlich zu distanzieren: Ich kämpfe für die Rechte der Armen in Ruanda, aber ich möchte sie nicht in meinem eigenen Haus haben. Mit dem "Auch-wir- haben-gelitten"-Syndrom meine ich unsere Tendenz, eigene Leidensgeschichten zu schildern, sobald wir mit denen anderer konfrontiert werden. Dadurch schaffen wir ein psychologisches Gegengewicht gegen die Last der Asymmetrie: Sie leiden und ich nicht, insbesondere, wenn ihr Leiden in meiner Verantwortung liegt oder lag.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 581

Ich bin überrascht, wie stark diese Argumentation sein kann und welch guten Schutzschild gegen die moralische Last der Asymmetrie sie jenen bietet, die sie gebrauchen. Wir haben dieses Syndrom zum ersten Mal bei Interviews mit Deutschen entdeckt.[7] Im Krieg aufgewachsene Personen, deren Eltern nicht an den NS-Gräueln beteiligt waren, benutzen diesen Schild sogar noch häufiger als jene, deren Eltern nachgewiesenermaßen NS-Täter waren. Das liegt zunächst einmal daran, dass die Befragten ihre Lebensgeschichten, ihr Leiden im Bombenkrieg und im Hunger der Nachkriegszeit schilderten. Aber das Syndrom wurde zur Flucht vor der Realität, wenn der Befragte es von Anfang bis Ende benutzte: ein Schild, mit dem man das Leid der NS-Opfer relativieren konnte.

Es ist ein sehr kluger Schutzschild, denn er wird von persönlichen Erfahrungen gestützt, und was verschwiegen wird, kann leicht von jenen übersehen werden, die an einer ähnlichen psychologischen Störung leiden. Wir glauben, dass es zwei Arten der psychologischen und moralisch unangemessenen Reaktion gibt: solche, die das den NS-Opfern von ihren Familien und der Nation zugefügte Leid übersehen (der moralische Aspekt), und solche, die das ihnen, ihren Familien und ihrer Nation zugefügte Leid übersehen (der psychologische Aspekt). Wir haben in Deutschland deutlich mehr Menschen des ersten Typs getroffen als des zweiten. Wir haben nur sehr wenige Geschichten gehört, die beiden Aspekten zuzuordnen wären und so den Konflikt zwischen moralischer Sauberkeit und psychologischer Gesundheit unter Kontrolle haben. Das ist beileibe kein allein deutsches Problem, wie es manche gerne glauben mögen. Hier tritt ein menschlicher Defekt zutage, den ich auch in anderen, ähnlichen Situationen bemerkt habe.

Wenn wir die jüdisch-arabische Gruppe an unserer Universität betrachten, taucht dieses Thema immer wieder auf. Im Gegensatz zu den deutsch-jüdischen Nachkriegsbeziehungen - in denen der eine der Übeltäter, der "völlig Schlechte" war und der andere das Opfer, der "völlig Gute" - tendieren im israelisch- palästinensischen Konflikt beide Seiten dazu, sich selbst als Opfer der anderen Gruppe (und daher als "völlig Gute") zu sehen. Dieser Teil der Geschichte verschlingt sie, sodass sie die Verantwortung der eigenen Bevölkerungsgruppe für das Leid der anderen völlig übersehen. Mehr noch, die jüdische Gruppe sieht sich aufgrund ihrer Geschichte als berechtigter an, sich als Opfer zu fühlen: aufgrund des Holocaust sowie der Verfolgungen und Pogrome früherer Jahrhunderte. Hier liegt die Verbindung zwischen dem, was wir heute sind, und dem, was wir in der Vergangenheit waren. Weil wir die Opferrolle im Holocaust und während anderer Verfolgungen nicht genügend durchgearbeitet haben, kann sich heute ein Gefühl verstärken, ewig Opfer zu sein. Diesen Teufelskreis können wir nur mit einer sehr großen Schleife durchbrechen, die es sehr schwer hat, in das kollektive Bewusstsein zu dringen.

Die meisten Menschen neigen dazu, eine Rangfolge aufzustellen: Wir können menschliches Leid nicht einfach als Unterschied zwischen Menschen wahrnehmen, sondern versuchen immer, es als "Mehr" oder "Weniger" einzuschätzen. Wir wissen von Interviews mit Familien von Überlebenden, dass manche eine Art versteckter Skala des Leidens entwickelt haben, die aktuelle Anforderungen der Aufmerksamkeit oder Kompensation bewirkt: Die Auschwitz-Überlebenden haben mehr als jene gelitten, die sich versteckt haben, oder jene, die nach Russland flohen, oder jene, die sich nach Israel absetzen konnten und so dem Holocaust entgingen. Es ist ein schrecklicher Diskurs, unverständlich für Außenstehende, aber ein sehr mächtiger. Vor kurzem hat eine meiner Doktorandinnen drei Generationen der "Kastner-Familie" interviewt.[8] Sie fand heraus, dass die meisten Mitglieder der ersten Generation sich selbst nicht als Holocaust-Überlebende ansahen, weil sie, "verglichen mit jenen, die wirklich in Auschwitz gelitten hatten", gar nicht gelitten hätten. Das war ihr subjektiver Kontext, und sie fühlten sich noch immer schuldig, weil sie gerettet wurden. Es ist kaum vorstellbar, welche Bedeutung dieser Umstand auf ihr Leben und das ihrer Nachkommen ausübt.

Es handelt sich um eine starke und wirksame Strategie der Reparatur. Sie hilft den Menschen, einen Sinn aus dem zu gewinnen, was sie im Verhältnis zu anderen durchmachen mussten, und verleiht ihm Bedeutung für ihr weiteres Leben. Die Viktimisierung der Vergangenheit unterstützt die Viktimisierung der Gegenwart und schafft einen Teufelskreis, in dem man sich für alle Zeit verfolgt oder als Opfer wähnt. Diese Strategie ist vielleicht deshalb so erfolgreich, weil unsere Kultur das Leiden (aus einiger Entfernung) hoch einschätzt und Menschen, die gelitten haben, anerkennt, während es den Tätern

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 582 und ihrer Umgebung den Rücken zuwendet. Ist man einmal in der Psychologie des Opfers gefangen (selbst wenn es ursprünglich gerechtfertigt war), übersieht man nur allzu leicht die Möglichkeit, dass man im Leben niemals nur Opfer ist. Es ist sehr schwierig für uns alle, als Nachkommen von Überlebenden den Täter in uns zu erkennen. Mit dem Opfer in uns können wir frei reden, und zwar von Kindesbeinen an. Viel schwieriger ist es, eine innere Kommunikation mit dem Täter in uns zu beginnen. Die meisten von uns glauben, dass er gar nicht existiert.

Die Psychologie hat Werkzeuge entwickelt, um Opfern oder Überlebenden und ihren Nachkommen gerecht zu werden. Allan Young betont das Paradox, dass Vietnam-Veteranen, die während des Krieges Täter waren, zuerst als Opfer anerkannt werden mussten, um wegen Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTSD) behandelt werden zu können.[9] Andernfalls hätten sie weder Aufmerksamkeit bekommen, noch wären sie für ihren Militärdienst entschädigt worden. Es gibt kein Modell, um die Tatsache angemessen zu verstehen, dass Menschen innerhalb von wenigen Tagen die schrecklichsten Verbrechen begehen können, nachdem sie mit ihren Opfern jahrelang friedlich zusammengelebt haben, wie es etwa der Fall war in Bosnien, oder wie es Christopher Browning für die NS-Täter beschrieben hat.[10]

Ich schlage vor, dass wir uns auf die Suche nach der Beziehung der beiden Rollen in unserer Psyche machen sollten, damit man mit beiden Rollen kommunizieren und sie loslassen kann. Das bedeutet, den Kontext unserer Eltern und Großeltern zu verlassen. Wenn ich nicht mehr Opfer bin, und ebenso wenig Täter, wer bin ich dann? Eine weitere Funktion eines offenen Dialoges mit dem Opferdasein wird offenkundig: Es bedient das Bedürfnis, nicht mit schwierigen Fragen behelligt zu werden, denen wir auszuweichen versuchen.

Die jüdische säkulare Bevölkerung erleidet heute weltweit eine ihrer größten Identitätskrisen, denn der kleinste gemeinsame Nenner - die Erinnerung an Verfolgung und Völkermord - ist im Schwinden begriffen. Die Gefahr, den Holocaust zu banalisieren - eine nicht geringere Gefahr als der Revisionismus, ihn zu vergessen oder zu leugnen -, hängt mit der Tatsache zusammen, dass die säkularen Juden das einigende Band verlören, sobald er beiseite geschoben wird. Für die Israelis wurde das zur realen Gefahr, nachdem der Friedensprozess 1993 zur realistischen Möglichkeit wurde. Die Palästinenser als bedrohlichen Feind zu "verlieren" und sie stattdessen als potenzielle Partner anzusehen (ein Vorgang, den sehr viele heute mit allen Mitteln verhindern wollen) ist ein schwieriger Prozess, der alle Energien bindet. Einer meiner Studenten arbeitete als Psychologe und begleitete die gemeinsamen Patrouillen der Israel Defense Force und der palästinensischen Sicherheitskräfte. Sie hatten die Erfahrung machen müssen, aufeinander zu schießen und am nächsten Tag gemeinsam auf Streife zu gehen. Können Sie sich vorstellen, was das von den Menschen verlangt hat?

Die Aufgabe der Selbstdefinition als Verfolgte könnte einen Klärungsprozess erfordern: Was ist unsere gemeinsame Basis? In Israel lernen jüdische Kindergartenkinder bereits sehr früh, dass bei jeder Feierlichkeitjemand versucht hat, uns zu verfolgen, und dass wir diese bösen Absichten jedesMal überlebt haben. Ich glaube, dasswirunseren Kindern auch ein paarandere Dinge beibringen müssen. Dies belegt die Vorstellung einer verdichteten Interaktion von Konflikten: Es gibt keine Möglichkeit, einen Einzelkonflikt zu lösen, weil die anderen mit ihm derart eng verbunden sind.

Manche Leute würden aus dem bisher Gesagten am liebsten die Konsequenz ziehen, über den Holocaust und seine Folgen nicht mehr zu diskutieren. Das wäre der falsche Weg. Mein Augenmerk liegt auf der Banalisierung des Holocaust, auf seinem Missbrauch für tagespolitische Zwecke, etwa nach dem Motto: "Wir sollten stark sein, weil wirso viel durchgemacht haben." Wir haben diesen Vorgang zuletzt bei Siedlern im Gazastreifen beobachten können, als sie sichaus Protest gegen Sharons Abzugspläneeinen Davidstern anhefteten. Ich glaube, dass diese Leute den Holocaust missbrauchen und ihn aus seinem Kontext herauslösen, aus der Erfahrung der Menschen, die ihn durchlitten haben, mit ihrem täglichen Leid und den Gefühlen des Verlustes und der Hilflosigkeit.

Ich möchte bei meiner Auseinandersetzung mit der Banalisierung des Holocaust nicht jene

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 583 unterstützen, die ihn vergessen möchten oder behaupten, er habe sich nie ereignet. Wir sollten uns auf die ernsten, ungelösten Fragen konzentrieren, die uns der Holocaust überlassen hat. Er bietet uns die Möglichkeit, etwas über die menschliche Natur zu erfahren, was wir noch nicht verarbeitet haben, und vielleicht sind wir nicht in der Lage, es jemals zu verarbeiten: Wie können gewöhnliche Menschen anderen Derartiges antun, und zwar ohne Reue und über einen derart langen Zeitraum hinweg? Wie können andere zur Seite schauen oder sogar stumm applaudieren? Wie können Menschen ein normales Leben führen, nachdem sie die Hölle durchlitten haben? Was bedeutet Normalität, drei Generationen nachdem die Verbrechen stattfanden?

In Wirklichkeit sind wir immer noch unfähig, mit dem Holocaust angemessen umzugehen. Die Katastrophe ist so gewaltig, sie hat schmerzhafte Spuren in den Seelen der Überlebenden hinterlassen und Aspekte der Menschlichkeit und ihrer dünnen Schale ans Licht gebracht, die uns denken lassen, da wir einen Teil erfassen, würden wir nun die ganze Geschichte kennen. Durch jede Vita von Überlebenden, die wir interviewt haben, erfahre ich Dinge, die ich bis dahin nicht wusste. Unsere Hilflosigkeit ist so groß, dass die meisten es nicht aushalten können. Wir haben keine Möglichkeit, die Leere darzustellen, die Verlassenheit, die sie erzeugt hat und die Daniel Libeskind mit dem Jüdischen Museum in Berlin versucht hat darzustellen.

Es ist genau diese Leere, die Stille, die dem Holocaust folgte (bei Überlebenden wie bei Tätern, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), die so schwer zu benennen und Stück für Stück durchzuarbeiten ist. Wir können das nicht alleine leisten, und meist können wir es auch nicht in Gruppen (obwohl diese uns eine Illusion von Sicherheit und Kontrolle vermitteln mögen).

Es mangelt an fast allem, und zwar in emotionaler, kognitiver und behavioristischer Hinsicht. Einige haben Schwierigkeiten, Mitgefühl mit jenen zu empfinden, die gelitten haben, weil wir uns ihre Situation und ein Überleben darin nicht vorstellen können. Manche tendieren zur Vorstellung einer metaphysischen Welt: Weil diese Menschen zu Opfern wurden, müssen sie etwas begangen haben, was dies rechtfertigt. Andere haben nur begrenzte Einsicht, weil sie sofort an ihr eigenes Leiden denken. Aber es gibt auch Menschen, die sich dem Schmerz stellen und ihn aushalten; die ihren begrenzten Horizont verlassen und die Unendlichkeit des Anderen erfassen können.[11] Das sind die Pioniere der Begegnung mit den Opfern und ihrer Hilfe.

Auf der kognitiven Seite haben wir Schwierigkeiten, die inneren Konflikte auszuhalten. Einen Konflikt angehen und zu bewältigen ist etwas anderes, als gegen jemanden zu kämpfen oder Partei für jemanden zu ergreifen; die letzteren Verhaltensweisen sind wir gewohnt. Wir sind gerne Partei für die eine Seite, die uns näher scheint, und greifen die andere an, verleugnen oder delegitimieren sie. Dadurch werden wir zu Sklaven des Konfliktes, denn wir nehmen ihn nicht mehr in seinem ganzen Umfang wahr und versuchen, die Tatsache zu bestreiten, dass jene, die den Konflikt systematisch planten, und jene, diean seinen Auswirkungen litten, Menschen mit demselben Denken, mit Seelen und Körpern waren. Aber es gibt natürlichauch jene, die über die Fähigkeit verfügen, kognitive Kontrolle und Illusionen fahren zu lassen, die systemorientiert denken, für die kognitive Komplexität und Zweideutigkeit Herausforderung und nicht Bedrohung sind.

Schließlich können wir nur wenig tun angesichts dieser riesigen Phänomene. Selbst wenn das Böse langsam an Macht gewinnt, scheint es uns anfangs nur sehr klein zu sein, zu klein, um irgend etwas dagegen zu unternehmen. Es wird immer auch Menschen geben, die wacher und auch kognitiv darauf vorbereitet sind, eine neue, vom Menschen verursachte Katastrophe zu verhindern oder eine bereits existierende an der Ausweitung zu hindern. Es ist unsere pädagogische Aufgabe, solche Menschen in den Mittelpunkt unseres Lernens aus Erfahrungen zu stellen und sie nicht etwa zu entwerten, weilsie in unserer westlichen Wettbewerbs- und Konsumgesellschaft nicht als Gewinnergelten.

Unsere Vorstellung, wie mit verdichteten Konflikten umzugehen ist, muss deshalb die bisherigen Mängel auf drei Ebenen benennen und jene bestimmen, die besser ausgestattet sind, um mit ihnen umzugehen. In diesem Diagramm werden menschliche Fähigkeiten verzeichnet, die sich fundamental

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 584 von jenen unterscheiden, die in der Nachkriegsgesellschaft hoch gehalten wurden, die nämlich in Wirklichkeit die Vorkriegswerte fortführten - als ob sich der Holocaust nie ereignet hätte. Der Kalte Krieg hatte zu Stagnation geführt. Jetzt ist die Gelegenheit, diese Prozesse kritisch zu untersuchen, um den Holocaust als persönliche Erfahrung in den Mittelpunkt unserer Untersuchung der menschlichen Erfahrungen zu rücken. Wir müssen versuchen, diese Punkte in aller Bescheidenheit anzubringen, wann immer wir die Möglichkeit dazu sehen, bis sie akzeptiert werden. Darin sollte unsere gemeinsame Kultur der Erinnerung liegen.

Der Holocaust und der israelisch-palästinensische Konflikt

Ich bin häufig danach gefragt worden, ob ich als israelischer Jude und Wissenschaftler, der über die psychosozialen Nachwirkungen des Holocaust geforscht hat, verstehen kann, wie Menschen, die durch eine Hölle wie den Holocaust gegangen sind, bzw. ihre Nachfahren mit einer solchen Härte gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten vorgehen können. Wie kann es sein, dass die Juden, die nur sechzig Jahre zuvor von den Nationalsozialisten erniedrigt, verfolgt, ghettoisiert und ermordet wurden, heute eine ganze Bevölkerung durch Verfolgung quälen können - durch Checkpoints, Besatzung und Zerstörung von Land und Häusern, durch die Errichtung eines Zaunes, durch unterschiedsloses Schießen und Bomben? Wie ist dieses Paradoxon zu verstehen?

Die Fragesteller weisen sehr unterschiedliche Motivationen und Betroffenheiten auf. Zum einen handelt es sich um Antisemiten, die Freude dabei empfinden, Juden zu verletzen, und zwar aus zweifachen Gründen: darüber, was den Juden während des Holocaust angetan wurde und wofür die Antisemiten keinerlei Mitgefühl haben, zweitens wegen der komplizierten Position, in der sich die israelischen Juden derzeit befinden. Den Staat Israel sehen sie als Rechtfertigung für ihr apriori mit Hass verbundenes Denken an. Mit diesen Leuten diskutiere ich nicht, weil ich deren Position als unethisch und illegitim betrachte. Sie haben mit mir keine gemeinsame Kultur des Erinnerns.

Zum zweiten sind es Palästinenser oder ihre glühenden Unterstützer, die mich provozieren möchten: Sie möchten die Moralität des israelisch-jüdischen Besatzers in Frage stellen, indem sie das Argument, das gewöhnlich von Juden benutzt wird, um die totale Unterstützung für Israel zu erbitten, nämlich den Hinweis auf das, was den Juden während des Holocaust passiert ist, einfach gegen Israel kehren. Ich glaube, dass sie das Recht haben, diese Frage zu stellen, leben sie doch in unmittelbarem Kontakt mit den israelischen Juden, und sie leiden ganz sicher daran und haben bereits seit vielen Jahren gelitten. Aber nach meiner Erfahrung ist eine Diskussion dieser Fragen mit ihnen nur dann fruchtbar, wenn sie in der Lage und willens sind, nachzuvollziehen, was es bedeutet, dass die Juden durch die Hölle gingen, was es bedeutet, ein Drittel der weltweiten jüdischen Bevölkerung innerhalb von zwölf Jahren des Wahns einer "arischen" Vorherrschaft zu verlieren, während die Welt mehr oder weniger unbeteiligt zusah und es geschehen ließ.

In meiner israelisch-arabischen Studentengruppe beginnen manche arabischen Studenten das Seminar, indem sie die jüdischen Kommilitonen mit dieser Frage konfrontieren. Aber nachdem sie sich einige Geschichten von jüdischen Gruppenmitgliedern, deren Großeltern die Shoah durchgemacht hatten, angehört haben, verändert sich der Ton. Sie mögen das Verhalten der Israelis gegenüber den Palästinensern noch immer kritisieren, aber sie haben nun eine Vorstellung davon, was Juden erlitten haben und wovor sie sich noch immer fürchten. Auf ähnliche Weise erfahren jüdische Gruppenmitglieder vom Leiden der Palästinenser, wenn die arabischen Israeli erzählen, was sie von ihren Großeltern oder Eltern gehört haben, und sie denken wiederum über die eigenen Familiengeschichten nach, in denen die Geschichten der Palästinenser keinen Platz haben.

Zum dritten stellen Juden und ihre Freunde in der internationalen Gemeinschaft die erwähnten Fragen. Sie sind tief besorgt über ethische und Menschenrechtsfragen. Sie sind verletzt, sie empfinden tatsächlich Schmerz, zumindest seit 1967, als die Palästinenser unter israelische Besatzung gelangten. Sie können es nicht ertragen, in der Position eines potenziellen Gewalttäters und Besatzers zu sein. Was sie aus dem Holocaust gelernt haben, ist die universale und humanistische Lektion, nach der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 585 man Opfer und Minderheiten verteidigen sollte, wo immer sie sich befinden, einschließlich der Palästinenser. Sie leiden besonders an der arroganten israelischen und der dominanten jüdischen Diaspora-Position, sich nicht um Araber und um die Palästinenser im Besonderen zu scheren. Ich empfinde Sympathie für diese Einstellung, und einige gute Freunde teilen diese Position. Aber ich fürchte, dass diese Positionen ebenso einseitig ist wie die jüdische Gegenmeinung, mit der sie solche Schwierigkeiten haben. Denn die im Moment lauteste Gruppe in der Diaspora und unter israelischen Juden hat eine vollkommen andere Lektion aus dem Holocaust gelernt: "Wir können niemandem vertrauen, und deshalb sollten wir stark und dominant sein, weil wir nur so in dieser Welt überleben können, und wenn uns die Palästinenser im Weg sind, Pech gehabt, denn wir kümmern uns nur um uns selbst, weil sich niemand damals um uns gekümmert hat." Normalerweise stellen sie die oben erwähnten Fragen nicht.

Ich habe ein Problem mit beiden jüdischen Gruppen, den universalen Humanisten und den machtorientierten Isolationisten. Beide haben sie aus dem Holocaust nur jeweils eine Sache gelernt, und sie übertragen diese Lektion auf sehr verschiedene Realitäten. Sie erkennen nicht, wie sehr sich die Welt des Nahen Ostens heute von der in Europa vor dem Holocaust unterscheidet. Nach meiner eigenen psychologischen Terminologie haben sie den Konflikt nicht durchgearbeitet, und sie haben den Holocaust nicht genügend betrauert, um in der Lage zu sein, die heutigen Schwierigkeiten angemessen zu erkennen, ohne sich immer gleich auf den Holocaust zu beziehen. Ihre Logik wird entweder durch kognitive, rationale Werte (die Humanisten) oder durch ängstliche, racheerfüllte Emotionen (die Isolationisten) bestimmt. Die erste Gruppe kann Israels Vorgehen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten nicht akzeptieren, während die zweite keinerlei Kritik an Israels Besatzungspolitik ertragen kann, nicht einmal am Fehlverhalten der Vergangenheit. Die letztgenannte Gruppe überträgt ihre mit dem Holocaust verbundenen Aggressionen auf die Palästinenser, vielleicht als späte, unkontrollierte Schuldgefühle, weil man damals nicht genug getan habe zur Rettung derer, die hätten gerettet werden können.[12] Es gibt einen anderen Weg. Dieser wird im Moment zwischen den beiden polarisierten Meinungen zermahlen. Er wäre jedoch geeignet, mit den Schwierigkeiten angemessen umzugehen. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Trennzaun bzw. Mauer. Weil Hunderte von Israelis in den vergangenen vier Jahren von Selbstmordattentätern getötet wurden und ein Zaun diese von zivilen Zentren in Israel fern halten kann, hat Israel das Recht, seine Bevölkerung durch die Errichtung einer derartigen Barriere zu schützen. Aber weil dieser Zaun bzw. diese Mauer so gebaut wird, wie es die aktuelle israelische Regierung tut, nämlich innerhalb der Palästinensergebiete, und dadurch das alltägliche Leben für Hunderttausende von Menschen unerträglich macht, muss dieser Vorgang offen und laut kritisiert werden.

In den vergangenen vier Jahren haben Juden überall auf der Welt die Palästinenser dämonisiert, um sich nicht den wirklichen Themen zuwenden zu müssen: Israel muss die Besatzung beenden und die Siedlungen in der Westbank und in Gaza auflösen, damit die Palästinenser zu einem eigenen Staat in der Lage sind. Diese Zweistaatenlösung bedeutet nicht, dass es in der Zukunft keine Risiken mehr geben wird. Es ist nicht leicht für Juden, im Nahen Osten zu leben. Aber das bedeutet nicht, dass man alles und jedes mit dem Holocaust vergleicht, der ein anderes Ereignis zu einer anderen Zeit der Geschichte war.

Meine Kultur der Erinnerung bedeutet, kalkulierbare Risiken auf sich zu nehmen und Mitgefühl gegenüber der palästinensischen Tragödie aufzubringen, aber auch, die Palästinenser mit der unseren zu konfrontieren. Wir waren 1993 für kurze Zeit auf diesem Weg, und dahin müssen wir zurück. Wir sollten dieser Richtung Stimme und Gelegenheit geben, damit Israelis und Palästinenser erst ihre internen Schwierigkeiten austragen, bevor sie verkünden, welche Lehren sie aus der Geschichte gezogen haben.[13]

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 15/2005) - Die Erinnerung an den Holocaust in Israel und Deutschland (http://www.bpb.de/apuz/29128/die-erinnerung-an-den-holocaust-in-israel-und-

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 586 deutschland)

Übersetzung aus dem Englischen: Hans-Georg Golz, Bonn.

Fußnoten

1. Vgl. Tom Segev, The Seventh Million, Jerusalem 1992 (hebräisch/H); dt. Reinbek 1995. 2. Vgl. Dan Bar-On/O. Selah, The "vicious cycle" between current social and political attitudes and attitudes towards the Holocaust among Israeli youngsters, in: Psychologia, 2 (1991) 2, S. 126 - 138 (H). 3. Vgl. Dan Bar-On, The "Other" Within Us: Changes in the Israeli Identity from a Psychosocial Perspective, Jerusalem 1999 (H); dt. Hamburg (Körber-Stiftung) 2001. 4. Vgl. ders./P. Hare/M. Brusten/F. Beiner, "Working through" the Holocaust? Comparing questionnaire results of German and Israeli students, in: Holocaust & Genocide Studies, 7 (1993) 2, S. 230 - 246. 5. Vgl. Helga Hirsch, Schweres Gepäck, Hamburg 2003. 6. Die Sabra ist eine tropische Frucht mit einer dornigen Schale. Sie wurde zur Metapher für den in Israel geborenen Juden, dessen Äußeres häufig rau sei, der aber einen weichen Kern aufweise. 7. Vgl. Dan Bar-On/A. Gaon, "We suffered too": Nazi children's inability to relate to the suffering of the victims of the Holocaust, in: Journal of Humanistic Psychology, 31 (1991) 4, S. 77 - 95. 8. Im Frühsommer 1944 wurden mehr als 15 000 ungarische Juden anstatt nach Auschwitz zur Zwangsarbeit nach Österreich verschickt. Diese so genannten "Kastner-Juden" - Rudolf Kastner verhandelte als Leiter des zionistischen Budapester Hilfs- und Rettungskomitees mit der SS - wurden im Raum Wien und Niederösterreich zum Arbeitseinsatz verschleppt. Ende 1944 und im Frühjahr 1945 wurde ein großer Teil von ihnen nach Theresienstadt deportiert. Insgesamt 1 648 Juden, darunter Mitglieder seiner eigenen Familie, verdanken Kastner ihr Leben. Kastner wurde 1957 in Israel ermordet. In einem Gerichtsverfahren war ihm zuvor vorgeworfen worden, "mit dem Teufel" (Adolf Eichmann) verhandelt und nur jene Juden gerettet zu haben, die ihm nahe standen. Die Rettung war teuer erkauft: Kastner wusste von der bevorstehenden Vernichtung der über 450 000 ungarischen Juden, musste diese aber verschweigen. 9. Vgl. Allan Young, The Harmony of Illusions, Princeton 1996. 10. Vgl. Christopher Browning, Ordinary Men, New York 1992. 11. Vgl. Emanuel Levinas, Totality & Infinity: An Essay on Exteriority, Pittsburgh 1990 (frz. Orig. 1961). 12. Vgl. Dan Bar-On, Who counts as a Holocaust survivor? Who suffered more? Why did the Jews not take revenge on the Germans after the war?, in: Freie Assoziationen, 4 (2001) 2, S. 155 - 187. 13. Vgl. ders., Erzähl dein Leben! Meine Wege zur Dialogarbeit und politischen Verständigung, Hamburg (Körber-Stiftung) 2004.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 587

Die schwierige deutsch-polnische Vergangenheitspolitik

Von Adam Krzeminski 11.4.2005 Geb. 1945; Publizist und Redakteur der Zeitschrift "Polityka", Warschau; 1986 Gastredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit"; Vorsitzender der Polnisch-Deutschen Gesellschaft in Warschau.

Anschrift: ul. Koszykowa 35m2, 00553 Warschau/Polen.

E-Mail: [email protected]öffentlichungen u.a.: Polen im 20. Jahrhundert, München 1998(2); Deutsch-polnische Verspiegelung, Holzhausen 2001; zahlreiche Publikationen in deutschen Tages- und Wochenzeitungen, Drehbücher für historisch-politische Dokumentarfilme.

Polen war das erste Opfer der deutschen Agression, das sich zur Wehr setzte. Bis heute beobachtet man dort den deutschen Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg besonders sensibel. So löste das in Deutschland geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" großen Protest aus. Der Publizist Adam Krzeminski erläutert die Hintergründe.

Einleitung

Deine Deutschen - hörte ich nach meiner Besprechung von Jörg Friedrichs "Der Brand" - bilden sich ein, das Geschichtsgedächtnis funktioniere wie ein Fußballspiel: Die Nationalmannschaften schießen gegeneinander Tore auf dem Rasen der kollektiven Erinnerung. Dann gehen sie friedlich unter die Dusche, und später streiten sie sich beim Bier, wer gewonnen hat. Vom ganzen Zweiten Weltkrieg haben sie die Einmaligkeit der deutschen Schuld für den Holocaust verinnerlicht. Der symbolische Kirkut in der Nähe des einstigen Hitler-Bunkers ist eine Erinnerung an die jüdischen Opfer deutschen Wahns, ein in Stein gehauener Beleg für die absolute moralische Niederlage. Doch Deutsche sind verbissene Fußballer. Mit einer Walhalla der Vertriebenen wollen sie nachträglich einen moralischen Ausgleich erreichen. Danach folgt vielleicht ein Mahnmal für die Opfer der alliierten "Terrorluftangriffe". Und schließlich wird sich - gewissermaßen in der Verlängerung, 60 Jahre nach Kriegsende - erweisen, dass die Deutschen die "Weltauswahl", also die Anti-Hitler-Koalition, moralisch doch noch 2:1 geschlagen haben.

Die Sportmetapher ist schnoddrig und gehässig, doch sie spiegelt unverblümt die Verärgerung über einen Geschichtsrevisionismus wider, den viele Polen im neuen deutschen Umgang mit der Vergangenheit auszumachen glauben. Danach habe im "Historikerstreit" letztendlich doch Ernst Nolte und nicht Jürgen Habermas das letzte Wort. Für Piotr Machewicz vom Institut für Nationales Gedenken lieferte bereits die "Wehrmachtsausstellung", die in Deutschland als bilderstürmerische Demontage des Mythos von der "anständigen Wehrmacht" aufgenommen und heftig diskutiert wurde, einen Beleg für die Uminterpretierung der Geschichte des Krieges. Die Ausstellung beginne erst 1941, "als hätte Deutschland in Polen den Krieg mit Samthandschuhen geführt. Bald bekommen wir folgendes Geschichtsbild: Die Polen mordeten im Zweiten Weltkrieg Juden in Jedwabne und anderen Orten, und nach dem Krieg vertrieben sie brutal und aus eigener Initiative Deutsche. Was uns selbstverständlich erschien, verwischt sich langsam im Bewusstsein der Deutschen und Europäer"[1].

Polen ist tatsächlich ein markanter Prüfstein für die deutsche Gedächtnispolitik im 21. Jahrhundert. Es war das erste Opfer der deutschen Aggression, das sich zur Wehr setzte, und damit vom ersten Tag an Mitglied der Anti-Hitler-Koalition. Es erlitt - relativ - die größten Verluste unter den

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 588

Kriegsteilnehmern. Und ohne von den Siegermächten und somit auch den Deutschen als gleichberechtigt anerkannt zu werden, war es "Nutznießer" der schmerzlichen territorialen Verluste Deutschlands. Doch mittlerweile ist Polen in der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg peripher. Abiturienten und Studenten - behauptet Hans-Ulrich Wehler - wissen um die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, "aber wenn wir sagen, dass im Zweiten Weltkrieg jeder fünfte Pole sein Leben verlor und dass schon am Anfang des Krieges 800 000 Polen aus den von Deutschen besetzten Gebieten vertrieben wurden, dann treffen wir auf Unwissen und Verwunderung". Das Gedenken an den Überfall am 1. September 1939 und an die Verbrechen, welche die Nationalsozialisten an Polen begingen, schwinde. Festzustellen sei ein verstärktes Interesse für die eigene Vergangenheit, was zu einem neuen Opferkult und zu einer deutschen Leidensgeschichte führe. Und Hans Lemberg fügt hinzu, erst in etwa zehn Jahren werde man wissen, ob dieser Zug zur deutschen Selbstbemitleidung in einen neuen Nationalismus umschlage.

Die Beispiele für die Ausblendung der deutsch-polnischen Geschichte sind manchmal unbedeutend, manchmal beklemmend. Natürlich gibt es aufwendige deutsche TV-Dokumentationen zur polnischen Geschichte, Polnische Wochen in vielen Städten und subventionierte Buchübersetzungen. Sobald aber ein deutscher Fernsehreporter einen Dokumentarfilm dreht, in dem es nicht um Polen geht, der aber Polen streift, kommt es immer wieder zu ärgerlichen Einseitigkeiten, wie etwa in einer SWR- Reportage über die künftige EU-Grenze.[2] Der Reporter filmt in Zamosc und tadelt beiläufig die Polen, dass sie die Kirchen füllten, anstatt sich für die dort geborene Rosa Luxemburg zu begeistern. Dass aus "Himmlerstadt", wie die Nationalsozialisten diese Renaissance-Perle nannten, Tausende polnischer Kinder zur "Eindeutschung" entführt wurden, erwähnt er nicht. Die Rolle eines moralischen Anwaltes des bei den Nachbarn vermissten "richtigen Gedächtnisses" ist zu verlockend.

Die polnische Jagd auf solche "Unterlassungssünden" im deutschen Umgang mit der Geschichte mag obsessiv erscheinen. Nicht weniger obsessiv ist die wiederholte Beteuerung zumal jüngerer Deutscher, sie seien endlich "normal" und hätten das Recht, die eigenen Kriegsopfer zu betrauern, schließlich könne man von den Nachgeborenen zweiter und dritter Generation nicht erwarten, dass sie sich im Büßerhemd ständig Asche aufs Haupt streuten. Letztendlich gehe es den Polen oder Tschechen nur darum, ihren Opferstatus zu perpetuieren. Doch die Opfer seien bei weitem nicht immer so edel, wie sie sich nachträglich sähen. Und die Täter seien nicht immer nur leibhaftige Teufel, sondern Menschen, die einer Verführung durch die totalitäre Ideologie oder der Rache der Sieger zum Opfer fielen.

Es war Helga Hirsch, die - da sie vorzüglich Polnisch spricht und Polen intim kennt - mit ihren Reportagen über die unterlassene Abrechnung der Solidarnosc mit dem Kommunismus und besonders mit ihrem Buch "Die Rache der Opfer"[3] die Debatte über den tatsächlichen oder vermeintlichen deutschen Geschichtsrevisionismus in der polnischen Öffentlichkeit beeinflusste. Solange die Polen die dunklen Seiten ihrer eigenen Geschichte kritisierten - schon lange vor 1989 standen die meisten nationalen Mythen zur Disposition -, war alles gut. Dass aber eine Deutsche sich einmischt, polnische Repressalien gegen deutsche Gefangene thematisiert und die Massenvertreibungen verurteilt, wurde fast zu einem öffentlichen Ärgernis. Was für die Autorin eine Abrechnung mit den "Sünden" der "68er" war, die das Leid der Deutschen im und nach dem Krieg ausgeblendet hätten, erschien nicht wenigen in Polen als "Verrat", als typische Entdeckung der "nationalen Seele" durch einstige Linke. Für Hirsch ist es dagegen die Einsicht, dass unschuldige Kriegsopfer vergleichbar seien und jede Nation der eigenen Opfer gedenken solle. Konsequenterweise unterstützt sie das Konzept des Bundes der Vertriebenen (BdV), in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten.

Inzwischen ist das "Zentrum" zu einem internationalen Zankapfel geworden. Im Frühjahr 2002 diskutierte man noch, ob Berlin oder Breslau der bessere Standort sei, ob ein "nationaler" oder ein "europäischer" Ansatz dem vereinten Europa des 21. Jahrhunderts gerechter werde. Ein Jahr später war es ein Politikum, das fast wie ein spätes Echo der alten Stürme um Willy Brandts "neue Ostpolitik" erschien. Da verblüffte die polnische Öffentlichkeit eine repräsentative Umfrage, die eine erstaunliche Empathie für das deutsche Leid belegte. 57 Prozent der befragten Polen halten Deutsche "so wie Polen, Juden und Roma" für Kriegsopfer (während nur 36 Prozent der Deutschen dieser Meinung

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 589 sind). Zugleich sprechen sich 58 Prozent (aber nur 38 Prozent der Deutschen) überhaupt gegen ein Zentrum der Vertriebenen aus; und wenn, dann soll es lieber ein "nationales" in Berlin (26 Prozent der Polen, 33der Deutschen), kein "europäisches" außerhalb Deutschlands sein (16 Prozent der Polen, 24 der Deutschen).

Diese Umfrage empörte nicht wenige Kommentatoren. Einer der bekanntesten polnischen Publizisten sah das Übel im "frommen Versöhnungswerk"[4], durch das die junge polnische Generation die Kenntnis historischer Fakten verloren habe. Und , der legendäre, letzte noch lebende Anführer des Aufstandes im Warschauer Ghetto, forderte in einem viel beachteten Gespräch mit der Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny" die weitere Entnazifizierung Deutschlands, weil die Deutschen ihre Vergangenheit nicht nur verdrängten und verniedlichten, sondern auch in die Rolle der Opfer schlüpften. Sie seien vertrieben worden, weil sie den totalen Krieg angezettelt und geführt hätten: "Wenn im Warschauer Aufstand, in dem 20- bis 30 000 Untergrundsoldaten kämpften, 200 000 Zivilisten umkommen - gegen wen haben die Deutschen dann Krieg geführt? Bevor man den Vertriebenen ein Denkmal setzt, sollte man diejenigen beweinen, die man umgebracht hat."

Nun droht Deutschen und Polen ein regelrechter "Museumskrieg". Einer der Wegbereiter der deutsch- polnischen Verständigung, Wladyslaw Bartoszewski, der Häftling unter Hitler und unter Stalin war und 1995 als Außenminister Polens in einer großen Rede im Deutschen Bundestag auch das Leid der deutschen Vertriebenen beklagte, forderte in scharfem Ton eine dezidierte Reaktion auf ein "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin. Polen solle in Posen ein Museum der deutschen Germanisierungspolitik von der ersten Teilung Polens 1772 bis zum Ende des Krieges 1945 errichten. Sind also Deutsche und Polen wieder zurück im nationalen Zeitalter, ähnlich wie 1910, als man im zwischen Preußen, Österreich und Russland geteilten Polen einen Grunwald-Kult schuf, eine Erinnerung an 1410, als polnisch-litauische Heere die Hegemonie des deutschen Ordensstaates brachen?

Noch nicht. Der Stein des Anstoßes ist in Polen weniger die Erinnerung an die geflüchteten, vertriebenen und ausgesiedelten Deutschen. Ihr tragisches Schicksal und ihr kulturelles Erbe sind in Polen seit Jahren ein Thema der Publizistik, der wissenschaftlichen Forschung und vieler literarischer Werke. Wenn das "Zentrum gegen Vertreibungen" Emotionen erweckt, dann liegt das weniger am Gedenken als vielmehr am Urheber und Träger des Zentrums, der Lobby der Vertriebenen, die - aus polnischer Sicht - ihre Position gegenüber Polen nie aufgearbeitet hat. Jahrzehntelang von der polnischen Propaganda als Schreckgespenst aufgebaut, hat der BdV nach 1989, auch unter der Präsidentschaft von Erika Steinbach, die Positionen eines nationalen Egoismus nicht verlassen. Die Funktionäre des BdV waren noch 1990 gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Dann traten sie immer wieder mit rechtlichen, materiellen und moralischen Forderungen an Tschechien und Polen auf. Sie wetterten gegen die"Benesch-" und "Bierut-", nie aber gegen die"Stalin-Dekrete". Als Gralshüter der europäischen Erinnerung an die Vertreibungen im 20.Jahrhundert sind sie wenig glaubwürdig.

Die Debatte um das "Zentrum gegen Vertreibungen" ist nicht nur ein Teil des deutsch-polnischen oder eines deutsch-tschechischen Streites darum, was die nächsten Generationen der Deutschen über die deutsche und mitteleuropäische Geschichte wissen werden, sondern vor allem ein Aspekt des neu entfachten Erinnerungsbooms. Ist es "Geschichtsrevisionismus", empören sich die Nachgeborenen, wenn man die alliierten Bomberpiloten, die Luftschutzräume in "Gaskammern" (J. Friedrich) verwandelten, oder Russen, Polen und Tschechen, die Deutsche aus ihrer "angestammten Heimat" vertrieben, als Täter bezeichnet? Die Leidenserfahrungen der deutschen Zivilbevölkerung seien lange "tabuisiert" gewesen, es sei berechtigt, sie endlich auszusprechen. Nur ist die "Tabuisierung" eine mediengerechte Ausrede, ein Mythos. Selbst in der DDR waren weder der Bombenkrieg noch das Schicksal der "Umsiedler" und zuletzt sogar das der "Russenkinder" ein Tabu. In der Bundesrepublik gab es Bildbände, Dokumentationen, Romane und Spielfilme darüber. Dass viele Linke diese Seite des Krieges ausgeblendet haben mögen, ist dabei irrelevant, stellten sie doch nie eine Mehrheit in der deutschen Gesellschaft.

Viel erheblicher für die Neuentdeckung der Einzelschicksale, die sich weit im Osten abspielten, ist die

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 590

Öffnung der Grenzen nach 1989. Man kann reisen und mit den Menschen sprechen. Und die Menschen dort, besonders die Polen in den "ehemals deutschen Gebieten", beginnen sich für die Geschichte ihre Region zu interessieren. Sie stehen in Breslau Schlange vor deutschen Bildern ihrer Stadt und bringen im pommerschen Trieglaff zusammen mit einem Vertriebenen, Rudolf von Thadden, in der Kirche eine zweisprachige Gedenktafel an: "Zur Erinnerung an die vielen Generationen deutscher Trieglaffer, die hier lebten und glücklich waren, und mit guten Wünschen für das Wohlergehen derer, die hier heute ihre Heimat haben." Dieser versöhnliche Ton wurde in einem Kommentar in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in dem es hieß, "der Versuch, ein Vertreibungszentrum ohne und gegen die Vertriebenen zu errichten, erinnert an die sozialistische Methode, die Versöhnung mit den Brudervölkern zu verfügen"[5], sowie in zahllosen Leserbriefen konterkariert: Endlich müsse den Deutschen Gerechtigkeit widerfahren, die anderen müssten als Täter bloßgestellt werden. Das ist der Kern des neuen nationalen Egoismus und eines "postmodernen Moralismus": Man nimmt sich das Recht, die Opfer der deutschen Aggression mit allen Schwächen, Kollaborationen und Rachegelüsten zu entblößen und zugleich die "eigenen" Opfer zu verklären und in einem Mahnmal zu universalisieren. Das ist es, was man in Polen gelegentlich als moralische Usurpation, nationale Egozentrik, fehlende Empathie oder einfach als Maßlosigkeit empfindet.

Selbstverständlich ist es legitim, an das Leid der deutschen Zivilbevölkerung im und nach dem Krieg zu erinnern. Doch wie und wer? Es ist kein Geheimnis, dass in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre Dokumentationen der Vertreibungen gegen mögliche Reparationsforderungen zusammengestellt wurden: durch dieselben Experten, die nach 1939 eine brutale Germanisierungspolitik im Osten ideologisch begründet hatten. Aufgabe der Historiker ist es, wie Ute Frevert schreibt, "die jeweilige Gruppenerinnerung in ihren geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen". Sie bezweifelt, ob die Kausalität in dem für Berlin projektierten "Zentrum gegen Vertreibungen" berücksichtigt wird: "Derzeit sehen die Pläne eher nach einer nationalen Nabelschau aus, die ihren Gegenstand isoliert, anstatt ihn zeitlich, räumlich und sachlich zu kontextualisieren."[6] Diese Kontexte geraten in Deutschland immer wieder in eine Schieflage.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 40-41/2003) - Die schwierige deutsch-polnische Vergangenheitspolitik (http://www.bpb.de/apuz/27379/die-schwierige-deutsch-polnische- vergangenheitspolitik)

Fußnoten

1. Rzeczpospolita vom 28. 8. 2003; dort auch die folgenden Zitate von Wehler und Lemberg. 2. Ausgestrahlt am 27.8. 2003. 3. Berlin 1998. Anm. der Red.: Vgl. den Beitrag von Helga Hirsch in diesem Heft. 4. Stefan Bratkowski in Rzeczpospolita vom 28.8. 2003. 5. Berthold Kohler, Das letzte Kapitel, in: FAZ vom 4.8. 2003, S.1. 6. In der NZZ vom 30.8. 2003. Anm. der Red.: Vgl. den Beitrag von Ute Frevert in diesem Heft.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 591

"Nicht alle Deutschen haben ein Herz aus Stein"

Von Ulrich Pfeil 13.4.2005 Dr. phil., geb. 1966; Professor für Deutschlandstudien an der Universität Saint-Étienne; Gastwissenschaftler am Deutschen Historischen Institut Paris. Université Jean Monnet, Facultés Arts Lettres Languages, 33, rue du 11 Novembre, 42023 Saint-Étienne, Frankreich.

E-Mail: [email protected]

Gab es überhaupt deutsche Widerstandskämpfer? Jahrzehnte taten sich die Menschen in Frankreich mit dieser Vorstellung schwer. Zu sehr definierten sie sich selbst über die eigene Résistance. Erst heute finden beide Länder zu einer Geschichte eines gemeinsamen Widerstands.

Einleitung

Joseph Rovan, der 1933 nach Frankreich emigriert und nach seiner Festnahme durch die Gestapo im Juli 1944 ins KZ Dachau deportiert worden war, bevor er zu den entscheidenden Akteuren der westdeutsch-französischen Annäherung nach 1945 gehörte, berichtet rückblickend, wie er im Maquis, der französischen Partisanenbewegung, jungen Widerständlern erklärte, dass es sich beim Kampf gegen den Nationalsozialismus nicht um einen klassischen nationalen Krieg, sondern um einen internationalen Bürgerkrieg handele.[1] 60 Jahre später, im Januar 2004, verlieh die ehemalige französische Europaministerin Noëlle Lenoir dem letzten lebenden Verschwörer des 20. Juli 1944, Philipp Freiherr von Boeselager, das Kreuz der Ehrenlegion und ehrte damit nicht nur eine Person, sondern auch jene Vertreter des "anderen" Deutschlands, die dafür gesorgt hatten, "dass Licht und Hoffnung und Menschlichkeit auch in den dunkelsten Augenblicken nie ganz abhanden gekommen sind"[2]. Beide Ereignisse deuten auf ein Verständnis von Widerstand gegen Unrecht hin, dem ein universeller bzw. transnationaler Anspruch zugrunde liegt. Was damals und heute eine Selbstverständlichkeit war bzw. ist, verlor nach 1945 schnell an Geltung und musste erst mühsam und bisweilen über schmerzhafte Lernprozesse wieder erarbeitet werden. Diese verschlungenen, mit mentalen Barrieren und politischen Hindernissen verstellten Wege, auf denen sich Deutsche und Franzosen die Geschichte von Widerstand und Résistance als Teil eines gemeinsamen Selbstverständnisses aneigneten, gilt es in diesem Beitrag nachzuzeichnen.

Konkurrierende Versionen der Vergangenheit bestimmten in Frankreich wie in Deutschland nach 1945 die Erinnerungslandschaften und erschwerten eine von Konvergenz und Kooperation geprägte Interpretation des deutschen Widerstandes. Diese Feststellung legt eine vergleichende Herangehensweise nahe, um die Bedeutung von nationalen Traditionsbeständen bei gesellschaftlichen Aneignungsprozessen von Historie durch die verfremdende Linse eines Vergleichsfalls erfassen zu können. Die Vorstellung von einer unabhängigen "nationalen" Entwicklung erscheint jedoch fraglich,[3] so dass auch in diesem Beitrag ein Schwerpunkt auf die sich kreuzenden historisch-politischen Identitätsdiskussionen und diskursiven Verflechtungen zwischen Deutschland und Frankreich gelegt werden soll. Die Beschäftigung mit Widerstand und Emigration, der in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht ausreichend Rechnung getragen werden kann,[4] bietet damit nicht nur einen Einblick in die Konjunkturen der deutsch-französischen Annäherung, sondern darüber hinaus die Möglichkeit, Geschichte als konstruktive Störung in bilateralen Versöhnungsprozessen zu erfahren.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 592 Zwischen Kollektivschuldthese und völkerverbindenden Ansätzen

Die Siegermächte taten sich nach Kriegsende schwer damit, dem deutschen Widerstand moralisch- rechtliche Legitimation und politische Bedeutung zuzusprechen. Vielmehr tabuisierten sie seinen Beitrag zur Geschichte des "Dritten Reiches" und hielten an der Kollektivschuld der Deutschen fest, die auch in Frankreich die dominierende Haltung gegenüber dem östlichen Nachbarn darstellte. So hütete sich gerade Charles de Gaulle nach der libération, exkulpatorische Vorlagen zu geben, welche die Deutschen als Anreiz für einen bruchlosen Marsch in eine postfaschistische Gesellschaft auffassen bzw. zur Selbststilisierung als Opfer des NS-Regimes hätten nutzen können. Anders stellte sich schon die Situation für die französische Militärregierung in ihrer Zone dar, wo Wiederaufbau und Entnazifizierung die Identifizierung unbelasteter Deutscher aus Widerstand und Verweigerung erforderten, um sie umgehend in den Demokratisierungsprozess einzubinden.[5]

Auch in der französischen Öffentlichkeit blieb die Kollektivschuldthese nicht die einzige Reaktion, wie die Sondernummer der von Jean-Paul Sartre herausgegebenen Zeitschrift "Les Temps modernes" vom August/September 1949 dokumentiert.[6] Diese mit zeitlicher Verzögerung erschienene Ausgabe reflektierte die vielfältigen Motivationen der deutschen Widerständler und konzentrierte sich ihrem linken Anspruch folgend auf den Widerstand der Arbeiterbewegung, ohne dem 20. Juli trotz einer kritischen Würdigung die Legitimation zu verweigern. "Les Temps modernes" gehörte damit zu jenen intellektuellen Strömungen in Europa, die sich nach dem Zusammenbruch der deutschen Herrschaft an der öffentlichen Erinnerung und mentalen Auseinandersetzung mit den von den Nationalsozialisten betriebenen bzw. ausgelösten Formen von Verfolgung, Verbrechen und Widerstand beteiligten. Dieses auch in Frankreich zu beobachtende Interesse an der geistigen Überwindung des Nationalsozialismus [7] kam in der Übersetzung von Schriften zum Ausdruck, in denen überlebende Hitlergegner und Familienangehörige von Ermordeten den Nachweis eines "anderen" Deutschland erbringen wollten.[8] Darüber hinaus war es dem interessierten Leser über die französischen Ausgaben zweier autobiografischer Zeugnisse aus dem Kreis der Verschwörergruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg möglich, sich einen Eindruck von den verschlungenen Wegen zu verschaffen, die Mitglieder preußischer Adelsfamilien in den Widerstand und zum Entschluss geführt hatten, sich am Attentat vom 20. Juli 1944 zu beteiligen.[9]

Maxime Mourin,[10] der sich 1948 auf den militärischen und aristokratischen Widerstand konzentrierte und für seine Darstellung die unmittelbar nach Kriegsende erschienenen Bücher als Quellengrundlage nutzte, wies zugleich auf die Problematik dieser Schriften hin, die nicht nur die Existenz eines "anderen" Deutschlands bezeugen wollten, sondern auch von apologetischen Gedanken motiviert gewesen seien. Mourin weigerte sich, den deutschen Widerstand auf eine Stufe mit den Widerstandsbewegungen in den anderen europäischen Ländern zu stellen. Seine Vorbehalte verweisen auf die nachlassende Bindekraft der Neuordnungsgedanken aus dem europäischen Widerstand, dessen Vertreter sich noch während des Krieges für eine europäische Föderation, die friedliche Beteiligung des deutschen Volkes am europäischen Leben und die Notwendigkeit einer deutsch-französischen Versöhnung ausgesprochen hatten.[11] In der französischen Innenpolitik gerieten die auf Solidarität und Brüderlichkeit beruhenden europäischen Föderationskonzepte unter die Räder des sich deutlich herausbildenden Dualismus zwischen Gaullisten und Kommunisten und ihrer betont nationalen Politik. In dieser Hochphase instrumentalisierter Geschichtsbilder mit dem für jene Zeit so charakteristischen Bemühen um dichotomische Weltbilder gingen manche sogar so weit, die Existenz eines deutschen Widerstandes gänzlich in Frage zu stellen, wie Edgar Wolfrum schreibt: "Je geschlossener das 'Nazi-Volk' präsentiert wurde, um so eindrucksvoller ließ sich die historische Leistung der Franzosen - die Résistance und die Libération des Vaterlandes - herausstreichen."[12]

Dieser die französische Innenpolitik bestimmende geschichtspolitische Konkurrenzkampf um das Erbe der Résistance ließ in der Folge nur wenig Platz für eine Rezeption des deutschen Widerstandes, der in Frankreich in den fünfziger Jahren in Vergessenheit geriet und bis in die sechziger Jahre aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt wurde. Wie wir ausführlich sehen werden, barg der von der Résistance ausgehende Perzeptionsrahmen aber bereits die Keimzelle für einen offeneren Blick auf den deutschen Widerstand: Trotz aller parteipolitischen und ideologischen Rivalitäten, die sich um den Résistance-

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 593

Mythos als Gründungsideologie der IV. Republik rankten und den innerfranzösischen "Kalten Krieg" bestimmten, sprachen weder die Vertreter des äußeren noch die des inneren Widerstands ihren zu politischen Widersachern gewordenen ehemaligen "Kampfgenossen" die Legitimation ab.[13]

Gab es einen deutschen Widerstand?

Weil die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihren Widerständlern auch von den Franzosen als Gradmesser für gesellschaftliche Veränderungen und die politische Bewusstseinsentwicklung wahrgenommen wurde, musste es Reaktionen herausfordern, als in der Bundesrepublik ab Anfang der fünfziger Jahre der militärische Widerstand immer mehr in den Mittelpunkt gerückt wurde und Bundespräsident Theodor Heuss am 20. Juli 1954 den "Opfergang" der Männer um Stauffenberg als Voraussetzung dafür bezeichnete, dass "die Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, (...) vom besudelten deutschen Namen wieder weggewischt" worden sei.[14]

Positive Traditionsstiftung betrieb auch Konrad Adenauer, als er den vor allem moralisch gemeinten Ausspruch bei Henning von Tresckow, das Attentat gegen Hitler werde Deutschland helfen, den Weg in den Kreis der zivilisierten Nationen zurückfinden, in ein außenpolitisches Vermächtnis und die Hoffnung der Regimegegner in einen politischen Anspruch überführte.[15] Karl Dietrich Erdmann hatte den "Putsch" 1959 als Akt bezeichnet, welcher "der ältesten und opferreichsten Widerstandsbewegung in Europa ihren historischen Rang" wiedergegeben habe;[16] der nationalbewusste Emigrant Hans Rothfels sprach von "sittlichen und religiösen Antrieben" und warf gleichzeitig den Alliierten vor, den deutschen Widerstandskämpfern mit diskreditierender Ignoranz begegnet zu sein.[17] Schnell wurden diese dem damaligen bundesrepublikanischen Mainstream der Widerstandsforschung zuzuordnenden Studien ins Englische und Französische übersetzt, so dass Interpretationen, die den 20. Juli zum Höhepunkt der Widerstandsaktivitäten stilisierten, um sie "generalisierend als antitotalitäres Verhalten zu charakterisieren und undifferenziert mit der Vorstellung von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verknüpfen",[18] durch den Abbau der Sprachbarriere dem Ausland zugänglich waren.[19]

Die von der Totalitarismustheorie geprägte westdeutsche Widerstandsforschung traf in Frankreich auf einen antifaschistischen Grundkonsens, der zu intellektuellen Inkompatibilitäten und asynchronen Deutungsmustern führte. Es muss als Reaktion auf die geschichtspolitischen Debatten in der Bundesrepublik um ihre normativen Grundlagen verstanden werden,[20] dass sich Gilbert Badia, Germanist und Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, weigerte, den Männern des 20. Juli das Attribut des Widerstandskämpfers zuzugestehen, und das Widerstandsspektrum weit nach links ausdehnte. Von der Faschismustheorie der Kommunistischen Internationalen aus der Zwischenkriegszeit ausgehend, bezeichnete Badia das Attentat als "Komplott" innerhalb der auch vonihm ausschließlich ökonomisch definierten "Schicht" der "Monopolkapitalisten", die sich, als sich die Niederlage des von ihnen bis dahin mitgetragenen Krieges immer deutlicher am Horizont abgezeichnet habe, zur Tat entschlossen hätten, um durch die Ermordung Hitlers einer soziopolitischen Umwälzung zuvorzukommen. Indem er ihre zögerliche Haltung und ihren Mangel an Führung als Ursachen für das Scheitern des Attentats interpretierte, hatte er sich selbst die Vorlage gegeben, den "antifaschistischen", d.h. kommunistischen Widerstand mit seinen internationalistischen Verflechtungen in einem umso helleren Licht erstrahlen zu lassen. Das frühe Abtauchen der deutschen Kommunisten in den Untergrund unter kontinuierlicher Anleitung durch die KPD und die hohe Zahl ihrer Opfer gebe ihnen neben wenigen anderen das Recht, als Widerständler bezeichnet zu werden. Mit dieser politisch determinierten Darstellung nahm Badia Position in der deutsch-deutschen Erinnerungskonkurrenz und verortete das "andere", "bessere" Deutschland in der DDR, wo er sein Vermächtnis sorgsam gepflegt sah. Durch den Umweg über Deutschland ließ er einen Subtext einfließen, mit dem er in der innerfranzösischen Auseinandersetzung die Kommunisten als die eigentlichen Erbverwalter der Résistance darstellen konnte.

Die Reserven innerhalb der internationalen Widerstandsforschung gegen die oft apologetischen Interpretationen in der Bundesrepublik beschränkten sich aber nicht nur auf das kommunistische Lager,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 594 sondern waren auch bei "bürgerlichen" Historikern anzutreffen, wie sich auf dem ersten internationalen Kongress zur Geschichte des europäischen Widerstands im Jahre 1958 in Lüttich zeigte. Obwohl der von den Organisatoren eingeladene Helmut Krausnick vom Münchener Institut für Zeitgeschichte als unbescholtener und unangefochtener Kenner der Materie galt, kam es schon in den ersten Minuten seines Vortrags zu einem Tumult im Saal. Die Aufnahme der von ihnen als jämmerlich klein wahrgenommenen deutschen "Opposition" in den Kreis der europäischen Widerstandsbewegungen hielten nicht nur die französischen Teilnehmer für unerträglich, so dass sie den Saal unter Protest verließen.[21]

Der französische Historiker Henri Michel, Vertreter eines gaullistischen Geschichtsbildes und im Umgang mit seinen deutschen Kollegen von herablassender Art, wie einer der Gründerväter der französischen Zeitgeschichtsschreibung, François Bédarida, beobachtet hatte, baute 1961 demonstrativ einen Gegensatz zwischen dem europäischen Widerstand und der deutschen Opposition gegen Hitler auf. Deren Organisation bezeichnete er als schematisch und dürftig bezeichnet, um anschließend historischen Überhöhungen und politisch-moralischen Entlastungsstrategien ein Ende zu bereiten: "Die Opposition beschränkte sich auf Konspirationen und Komplotte. In ihre Aktionen war immer nur eine begrenzte Anzahl von Verschwörern eingebunden. Ihr Hauptziel war Adolf Hitler, von dem sie Deutschland befreien wollten, vor allem von dem Zeitpunkt an, als sich allgemein die Überzeugung breit macht, dass er Deutschland in die Niederlage führt."[22]

Die mit diesem Urteil vollzogene Entsorgung des deutschen Widerstands gibt eine Vorstellung davon, wie die Erinnerung an die années noires (1940 - 1944/45) durch die Debatten um die bundesdeutsche Wiederbewaffnung aufgefrischt worden war und auch Anfang der sechziger Jahre noch in die französische Erinnerungskultur hineinwirkte. Die Gegenwart ehemaliger Wehrmachtsgeneräle in der Bundeswehr verstand nicht nur Michel als Kontinuität des preußisch-deutschen Militarismus; sie schürte fortwährenden Argwohngegenüber dem gesellschaftlichen Milieu derVerschwörer vom 20. Juli und ihren Traditionen, die Frankreich durch seine Entnazifizierungspolitik (déprussification) nach 1945 beseitigen wollte.

Die 1955 in Frankreich von dem Résistance-Verlag "Les Éditions de Minuits" publizierten Erinnerungen von Inge Aicher-Scholl an die "Weiße Rose" sind zum einen die Ausnahme von der Regel, sie sind zum anderen aber auch als Missbilligung der westdeutschen Widerstandsforschung zu verstehen, denn mit dieser Würdigung des studentischen Widerstandes auf Augenhöhe der französischen Résistance wurde die dem 20. Juli in der Bundesrepublik zugeschriebene historische Bedeutung infrage gestellt.[23] Im Vorwort interpretierte der Philosoph Gabriel Marcel, Vertreter eines katholischen Existenzialismus, die Grundüberzeugung, dass keine Staatsmacht und keine Weltanschauung das Recht habe, die Würde des Menschen anzutasten, als universellen ethischen Wert, welcher der "Weißen Rose" den Weg in den Adelsstand des europäischen Widerstandes ebne. Zwar trug diese Übersetzung dazu bei, dass sich das französische Deutschlandbild weiter ausdifferenzieren konnte, doch kann sie auch als Absage an breite Tendenzen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit der fünfziger Jahre gedeutet werden, den Widerstand weiterhin als "Verrat" zu interpretieren.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 595 Der deutsche Widerstand in der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik in Frankreich

Die sich herausbildende symbolbeladene Bedeutung des Widerstandes für das Deutschlandbild im Ausland bewog die Verantwortlichen der auswärtigen Kulturpolitik in Bonn seit Anfang der sechziger Jahre, über regierungsamtliche Stellen und derauswärtigen Kulturarbeit verpflichtete Mittlerorganisationen Einfluss auf die Diskussionen zu gewinnen. Ausgewählte Ergebnisse der bundesdeutschen Widerstandsforschung wurden ins Englische und Französische übersetzt, um sie gezielt an ausländische Multiplikatoren zu versenden. Zu den ersten dieser Übersetzungen gehörte eine Buchausgabe der erweiterten Sondernummer der Wochenzeitung "Das Parlament" zum 20. Juli 1944,[24] die 1960 in einer von Erich Zimmermann und Hans-Adolf Jacobsen überarbeiteten Version von der Bundeszentrale für Heimatdienst, der heutigen Bundeszentrale für politische Bildung, neu herausgegeben[25] und vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zur Übersetzung in Auftrag gegeben wurde.[26]

Diese Form der Kulturarbeit erwies sich jedoch in der Folge als transnationales Auslaufmodell und wich nach und nach einer Vermittlungspraxis, die sich bereits in den sechziger Jahren durch steigende interkulturelle Sensibilität auszuzeichnen begann und einen Dialog zwischen Außen- und Innenperspektive einleitete. So veröffentlichte die Mittlerorganisation Inter Nationes 1964 eine von Richard Mönnich zusammengestellte Bibliographie in französischer und englischer Sprache, in die er vor allem Studien ausländischer Historiker zum Widerstand gegen Hitler aufgenommen hatte. Dieselbe Organisation bereitete 1966 eine Geschichte des deutschen Widerstandes von Prinz Hubertus zu Löwenstein für das anglo- und frankophone Ausland auf, so dass die Leser aus der Feder eines Vertreters der deutschen Emigration über den nationalkonservativen und militärischen Widerstand hinaus Einzelheiten über die anderen Widerstandsgruppen und die deutsche Emigration erfuhren.[27]

Diese Entwicklung deutete auf kulturpolitische Lernprozesse hin, die in den sechziger Jahren noch von mentalen Ungleichzeitigkeiten in der Arbeit der Akteure bundesdeutscher Kulturpolitik im Ausland und Aushandlungsprozessen zwischen ihnen geprägt waren. Einen Einblick in diese Praxis vermitteln die Reaktionen auf die zweiteilige Dokumentation "Ces hommes de l' espérance", welche Marianne Oswald, französische Filmautorin und ständige Mitarbeiterin von Radio-Télévision Française (RTF), aus Anlass des 20. Jahrestages des 20. Juli vorbereitet hatte. Wie wenig die französische Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt darüber wusste, konnte die Filmemacherin aus Reaktionen entnehmen, die ihr nach der Ausstrahlung in großer Anzahl zugingen. Sie berichtete bundesdeutschen Botschaftsangehörigen von Briefschreibern, die über den Bildschirm "eine ganz neue Erkenntnis über Deutschland gewannen, die sie vorher nie für möglich gehalten hätten"[28].

Im Vorfeld der beiden Sendungen (19. und 26. März 1964), in denen mit Carlo Schmid und Alfred Grosser auch zwei der wichtigsten Mittlerpersönlichkeiten des deutsch-französischen Annäherungsprozesses zu Wort kamen,[29] hatte sie beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung angefragt, ob nicht die Botschaft in Paris in Verbindung mit RTF zuvor einen Presseempfang im Centre National du Cinéma geben könne. Während diese Geste in Bonn im "Hinblick auf die Bedeutung des Filmstoffes" für angemessen gehalten wurde,[30] sahen die Diplomaten in Paris von einer solchen Veranstaltung ab. Diese Entscheidung hatte nichts mit der Thematik oder der Qualität des Films zu tun; ganz im Gegenteil: Botschafter Manfred Klaiber erinnerte sich an seine Zeit in Rom, in der er vergebens nach einem "wirkungsvollen Film" über den deutschen Widerstand Ausschau gehalten habe. Die reservierte Haltung der Botschaft sollte eher der Wirkung des Films zugute kommen, wusste Klaiber doch von den Mitarbeitern des französischen Fernsehens zu berichten, "die im allgemeinen nicht im Ruf stehen, Deutschland besonders wohl gesonnen zu sein". Aus diesem Grund wollte er Unterstellungen zuvorkommen, "es könne sich um eine von Deutschland gesteuerte oder gar finanzierte Aktion" handeln.[31] Neben der ästhetischen Qualität schien die offizielle Zurückhaltung der beachtenswerten Resonanz zugute gekommen zu sein, wie aus den Erinnerungen von Alfred Grosser hervorgeht: Als die Dokumentation am 10. November 1964 in der Pariser Sorbonne gezeigt wurde, mussten die Türen eines zweiten Hörsaales geöffnet werden, um den 1200 Interessierten ausreichenden Platz zu bieten.[32]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 596

Neben diesem neuen öffentlichen Interesse wandten sich auch Historiker in Frankreich dem deutschen Widerstand zu. Dass die Männer des 20. Juli 1944 nach Auffassung von Alain Desroches die Ehre des großen deutschen Volkes gerettet und vor der Nachwelt rehabilitiert hätten,[33] deutet auf einen Perzeptionswandel hin, der von bundesdeutschen Institutionen der politischen Bildungsarbeit aufmerksam beobachtet wurde und sich in der "offiziellen" Widerstandsdeutung niederschlug. Nachdem die Bundeszentrale für Heimatdienst in den fünfziger Jahren eher durch apologetische Deutungen aufgefallen war,[34] förderte die Öffnung der Jubiläumspublikationen für ausländische Historiker eine differenziertere Sichtweise durch die Einbeziehung anderer nationaler Traditionsbestände. Einen exemplarischen Einblick bietet der Beitrag des französischen Historikers Maurice Baumont, der 1963 eine Monographie über den 20. Juli veröffentlicht hatte, in der er mit Bezug auf Theodor Heuss die moralische Dimension des Attentates hervorgehoben und sich explizit gegen Stimmen in der Bundesrepublik und in der DDR gewandt hatte, die den "Verschwörern" den Status des Widerstandskämpfers absprachen.[35] Ein Jahr später gehörte er neben drei deutschen Historikern zu den insgesamt acht Autoren der zum 20. Jahrestag des 20. Juli veröffentlichten Ausgabe von "Aus Politik und Zeitgeschichte" unter dem Titel "Gewissen gegen Gewalt". Weniger befangen als seine bundesdeutschen Kollegen zögerte er nicht, den "leidenschaftliche(n) Widerstand der Kommunisten" [36] hervorzuheben. Die moralische und wissenschaftliche Reputation eines Maurice Baumont, der in der Zwischenkriegszeit im Völkerbund tätig war und nach 1945 als Professor an der Sorbonne zu den intimen Kennern der deutsch-französischen Beziehungen gehörte, bürgte in gewisser Weise für die westdeutschen Kollegen.

Die Internationalisierung im Spannungsfeld weltanschaulicher Konkurrenz setzte sich auch 1969 fort, als das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung eine Anthologie zum 20. Juli 1944 unter der Leitung von Hans-Adolf Jacobsen publizierte, in die auch der sowjetische Historiker Daniil Melnikow Aufnahme fand. Um die chiffrenartige Zusammenfassung des Widerstandes gegen Hitler im "20. Juli" und seine Funktion als antitotalitärer Stützpunkt eines demokratischen Nationalbewusstseins in der Bundesrepublik[37] nicht infrage zu stellen, gab Jacobsen in seinem Vorwort als "Lesehilfe" ein geschichtspolitisches Interpretationsraster vor, für dessen Rechtmäßigkeit die ausländischen Historiker - Frankreich war wiederum durch Baumont vertreten - einstehen sollten: "Denn es geht letzten Endes um die tiefere Erkenntnis, dass der Widerstand in Deutschland trotz seines Scheiterns als Symbol einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Gesinnung gesiegt hat."[38]

Es kann als Reaktion auf das weithin dominierende "antitotalitäre" Deutungsmuster verstanden werden, den Widerstandsbegriff fast singulär am 20. Juli 1944 zu orientieren, dass Historiker wie Henri Bernard und Gérard Sandoz in den folgenden Jahren neue Darstellungen vorlegten, dabei jedoch quasi als "antifaschistische" Gegenreaktion ein idealisiertes Bild zeichneten, das mehr vom politischen Bewusstsein der Autoren als vom Willen zur Historisierung bestimmt war, so dass sie die Komplexität der "Dialektik von Mitmachen und Widerstehen, von Zusammenarbeit und Verweigerung, von Loyalität und Opposition" (Klaus Hildebrand) nur ungenügend einfingen.[39]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 597 Konvergenz und Kooperation

Wenn sich auch die Widerstandsdeutungen französischer und westdeutscher Historiker in den achtziger Jahren angenähert hatten, so bedurfte es erst der deutschen Vereinigung und der Entideologisierung der Geschichtswissenschaft, um der Konvergenz in der Widerstandsforschung den Weg zu bahnen. Zu ihrer Grundlage wurde die institutionelle Vernetzung von vergleichender Forschung zu Widerstand bzw. Résistance in Deutschland und Frankreich und eine damit einhergehende Tiefen- und Breitenwirkung in der Öffentlichkeit. Ausgangspunkt war der 50. Jahrestag des 20. Juli, zu dem die deutsch-französische Zeitschrift "Documents" eine Themennummer vorlegte,[40] die am 21. Juli 1994 am Goethe-Institut in Lille vorgestellt wurde und Signalwirkung besaß.

Ein Jahr später erwuchs aus einer im September 1994 unterzeichneten Vereinbarung zwischen Paris und Berlin eine Kooperation zwischen der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und dem im März 1995 ins Leben gerufenen Mémorial du Maréchal Leclerc de Hautecloque et de la Libération de Paris - Musée Jean-Moulin. Erstes sichtbares Ergebnis dieser Zusammenarbeit war die Ausstellung "Des Allemands contre le nazisme, 1933 - 1945", die der interessierten Öffentlichkeit in einer für Frankreich adaptierten Fassung zuerst in Paris (November 1995) und dann in verschiedenen französischen Provinzstädten präsentiert wurde.[41] Das Kulturabkommen zwischen den Hauptstädten war Ausgangspunkt für ein wissenschaftliches Kolloquium, das im Mai 1996 mit Unterstützung und durch Zusammenarbeit von offiziellen Stellen und wissenschaftlichen Institutionen in Paris stattfand. Zum ersten Mal trafen sich deutsche und französische Historiker mit Zeitzeugen aus den verschiedenen Widerstandsgruppen, um zum einen aus transnationaler Sicht die Existenz eines Allemagne autre que celle du nazisme zu bezeugen, zum anderen, um das Ende verschiedener Legenden einzuläuten.[42] Dass die Anstrengungen der neunziger Jahre auf beiden Seiten des Rheins kein wissenschaftliches Strohfeuer blieben, sondern Ausgangspunkt für eine interpretative Konvergenz und eine bis heute lebendige Kooperation waren,[43] bezeugt der Sammelband über Frauen in der Résistance in Frankreich, unter ihnen auch deutsche Frauen,[44] sowie eine gerade abgeschlossene Ausstellung in Paris über Attentate gegen Hitler.[45]

Um die Forschungsergebnisse zum deutschen Widerstand der nachwachsenden Generation zugänglich zu machen, wurden in den neunziger Jahren vor allem gesellschaftliche bzw. schulische Multiplikatoren in die Erinnerungsarbeit eingebunden. Diesem Bemühen entsprach die Entscheidung, das "Dritte Reich" (1996/97) und "Widerstand und Exil" (1997/98) als Landeskundethemen in die staatlich-zentralisierten Lehrerexamina CAPES und Agrégation (Germanistik) aufzunehmen.[46] Von 2000 an legten darüber hinaus drei französische Germanisten Gesamtdarstellungen zum deutschen Widerstand vor, die von einem ideengeschichtlichen Ansatz Ursprünge und Praktiken widerständigen Verhaltens zwischen 1933 und 1945 zu erklären versuchen.[47] Während sich Gilbert Merlio und Barbara Köhn der Historisierung ihres Gegenstandes verpflichtet fühlen, stehen in der Studie von Gilbert Badia trotz aller Mäßigung im Urteil und veränderten Schwerpunktsetzungen auch heute noch politisch motivierte Fragestellungen im Vordergrund, die bei dem (in der Tat defizitären) Forschungsstand der siebziger Jahre ansetzen und mit denen der Autor einen "Ausgleich" zu von bundesdeutschen Historikern "willentlich" gelassenen Forschungslücken schaffen will. Dagegen wirkt es wie ein demonstrativer Akt gegen ideologische Vereinnahmung und politisch motivierte Einschränkungen des Widerstandsspektrums in Frankreich und Deutschland, dass die bereits 1953 erschienene Erzählung "Der lautlose Aufstand" von Günther Weisenborn 2000 in französischer Übersetzung erschien, gehörte der Autor seinerzeit doch zu den wenigen, die den Arbeiterwiderstand in ihre Erwägungen miteinbezogen.[48]

Das populärwissenschaftliche Interesse für eine résistance inconnue bzw. für Einzelschicksale unbekannter Männer und Frauen im Widerstand[49] zeugt von einem Streben nach kontinuierlicher Differenzierung des Widerstandsbildes in Frankreich[50] und dem in Deutschland festzustellenden Bemühen, das gesamte Spektrum des Kampfes gegen den Nationalsozialismus zu erfassen und dieses auch französischen Schülern zugänglich zu machen, die in ihren Geschichtsbüchern nach wie vor nur wenig über die Thematik erfahren. Zu diesem Zweck organisierten aus Anlass der Eröffnung der Ausstellung "Vom Widerstand zur Demokratie - De la Résistance à la démocratie" im Februar 2002

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 598 in Toulouse die Berliner Gedenkstätte und die Universität Toulouse-Le Mirail ein vom Deutsch- Französischen Jugendwerk[51] unterstütztes trinationales Treffen mit polnischer Beteiligung, in dem sich Studenten mit der Widerstandsarbeit von Deutschen und Polen in der Résistance beschäftigten. Der Diskussion um Widerstand im Namen universeller Werte im Spannungsfeld unterschiedlicher nationaler Interpretationen kommt in diesen Veranstaltungen nicht nur eine Brückenfunktion in die Vergangenheit zu, sondern wird von den Veranstaltern auch als identitätsstiftendes Mittel genutzt, um eine gemeinsame europäische Zukunft zu gestalten.

Widerstand als Fähigkeit zum "Nein-Sagen", weil das Gewissen keinen anderen Ausweg mehr zulässt, eine Haltung, welche in Frankreich in Charles de Gaulle (L'homme qui a dit 'non') seine Personifizierung findet, betonte auch die eingangs genannte ehemalige französische Europaministerin Noëlle Lenoir in ihrer Ansprache für Freiherr von Boeselager. Sie ordnete sie jenen Grundwerten zu, auf denen die europäische Integration beruhe. Auch wenn es aus Versöhnungsperspektive zu begrüßen ist, dass die Existenz eines "anderen" Deutschlands heute in Frankreich nicht mehr in Frage gestellt wird und dem Thema Widerstand eine grenzüberschreitende, identitäre Brückenfunktion zukommt, so sollte eine Frage nicht aus den Augen verloren werden: Warum blieb der Widerstand gegen Hitler ein "Widerstand ohne Volk", wenn nicht alle Deutschen ein Herz aus Stein hatten, wie es in einem jüngst übersetzten Zeitzeugenbericht heißt?[52]

Fazit

Dem Kampf gegen die Besatzer kam in der französischen Nachkriegsgesellschaft eine enorme politische und symbolische Bedeutung zu; er ließ die Résistance zu einem positiven Anknüpfungspunkt nationaler Identität werden. Die Durchsetzung einer neuen nationalen "Meistererzählung" mit ihren Mythen und Legenden brauchte Abgrenzung und leistete Vorschub für die Kollektivschuldthese und eine antideutsche Grundstimmung.

Dass in den transnationalen Kommunikationskanälen lange Zeit nur wenig Platz für eine angemessene Würdigung des deutschen Widerstandes zur Verfügung stand, lag nicht zuletzt auch an den Ungleichzeitigkeiten im Umgang mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Während der nationalkonservative Widerstand bzw. der 20. Juli 1944 in der Bundesrepublik als Ausdruck antitotalitären Handelns überhöht wurde, dominierte im französischen Intellektuellenmilieu eine antifaschistische Grundhaltung, die sich erst nach dem von Alexander Solschenizyn 1974 ausgelösten "Gulag-Schock" in einen antitotalitären Grundkonsens weiterentwickelte.

Diese diskursiven und intellektuellen Inkompatibilitäten versuchten Adenauer und de Gaulle seit Anfang der sechziger Jahre zu überwinden, indem sie weiterhin existierende Tabuthemen hinter einem "versöhnenden" Schlussstrichdiskurs überspielten. Die Grundlage für eine transnationale Interaktion in der Widerstandsforschung förderten sie mit dieser geschichtspolitisch motivierten Entscheidung jedoch nicht, so dass es erst eines Generationswechsels und einer damit einhergehenden Entmythologisierung bedurfte, um die Historisierung des Widerstands in den neunziger Jahren gemeinsam anzugehen.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 27/2004) - "Nicht alle Deutschen haben ein Herz aus Stein" (http://www.bpb.de/apuz/28243/nicht-alle-deutschen-haben-ein-herz-aus-stein)

Fußnoten

1. Vgl. Joseph Rovan, Des Allemands contre Hitler, in: L'Histoire, 171 (1993), S. 22 - 25.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 599

2. Zit. nach: Gerd Kröncke, Merci für den Major. Frankreich ehrt den letzten lebenden Offizier des 20. Juli, in: Süddeutsche Zeitung vom 31.1.2004; Redetext: Frankreich ehrt den deutschen Widerstand. Rede der Europaministerin Noëlle Lenoir, 28.1.2004, in: Dokumente, 60 (2004) 1, S. 105. 3. Vgl. Christoph Conrad/Sebastian Conrad (Hrsg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 17. 4. Vgl. zu den Anfängen der Beschäftigung mit dem deutschen Exil in Frankreich: Ulrich Pfeil, Die "anderen" deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949 - 1990, Köln 2004, S. 228ff. 5. Vgl. Edgar Wolfrum, Frankreich und der deutsche Widerstand gegen Hitler 1944 - 1964. Von der Aberkennung zur Anerkennung, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der 20. Juli. Das "andere Deutschland" in der Vergangenheitspolitik, Berlin 1998, S. 68 - 81, hier: S. 73ff.; Hanne Stinshoff/ Edgar Wolfrum, Résistance allemande? Der deutsche Widerstand im Gedächtnis Frankreichs 1944 - 2000, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Wahrnehmung und Wertung in Europa und den USA, Darmstadt 2002, S. 39 - 52; Bernard Ludwig, L'image de la résistance allemande en France depuis 1945, in: Bulletin d'information de la Mission historique française en Allemagne, 34 (1998), S. 44 - 54. 6. Les Temps modernes, 5 (1949) 46/47. 7. Vgl. als zeitgenössische Zusammenstellung über die Rezeption des deutschen Widerstandes im Ausland: Friedrich Siegmund-Schultze, Die deutsche Widerstandsbewegung im Spiegel der ausländischen Literatur, Stuttgart 1947. 8. Vgl. Ernst Wiechert, Le Bois des morts, Paris 1947; Eugen Kogon, L'enfer organisé. Le système des camps de concentration, Paris 1947; Hans Bernd Gisevius, Jusqu'à la lie, Paris 1947; Allen W. Dulles, L' Allemagne souterraine, Genf - Paris 1947; Günther Weisenborn, Mémorial, Paris 1950. 9. Vgl. Ulrich von Hassell, D'une autre Allemagne. Journal posthume 1938 - 1944, Paris - Neuchâtel 1946; Fabian von Schlabrendorff, Officier contre Hitler, Paris 1948. 10. Vgl. Maxime Mourin, Les complots contre Hitler (1938 - 1945), Paris 1948. 11. Vgl. Franz Knipping, Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas, München 2004, S. 38. 12. E. Wolfrum (Anm. 5), S. 72. 13. Vgl. Henry Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 19902, S. 315; Etienne François, Die späte Debatte um das Vichy-Regime und den Algerienkrieg in Frankreich, in: Martin Sabrow u.a. (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 264 - 287. 14. Theodor Heuß, Vom Recht zum Widerstand, in: ders., Geist der Politik, Frankfurt/M. 1964, S. 45 - 55. 15. Vgl. Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, Paderborn 20012, S. 372ff. 16. Karl Dietrich Erdmann, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 4, Die Zeit der Weltkriege, Stuttgart 19598, S. 306. 17. Vgl. Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Frankfurt/M. 1964, S. 15f., S. 159. 18. Gerd R. Ueberschär, Von der Einzeltat des 20. Juli 1944 zur "Volksopposition"? Stationen und Wege der westdeutschen Historiographie nach 1945, in: ders., Der 20. Juli (Anm. 5), S. 123 - 157, hier: S. 126. 19. Vgl. Gerhard Ritter, Échec au dictateur. Histoire de la Résistance allemande, Paris 1956; Wilhelm von Schramm, Les Généraux contre Hitler. Le 20 juillet à Paris, Paris 1956. 20. Vgl. Gilbert Badia, Histoire de l' Allemagne contemporaine 1933 - 1962, Paris 1962, S. 191ff. 21. Vgl. François Bédarida, Les résistants allemands, in: L' Allemagne de Hitler 1933 - 1945, Paris 1991, S. 366 - 383; ders., L' évolution historiographie, in: Christine Levisse-Touzé/Stefan Martens (Hrsg.), Des Allemands contre le nazisme. Oppositions et résistances 1933 - 1945, Paris 1997, S. 313 - 321, hier: S. 313f. 22. Henri Michel, Les mouvements clandestins en Europe (1938 - 1945), Paris 1961, S. 50. 23. Vgl. Inge Scholl, La Rose blanche. Préface de Gabriel Marcel, Paris 1955. 24. Vgl. 20. Juli 1944, hrsg. von der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bearbeiter: Hans Royce, Bonn

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 600

1953. 25. Vgl. 20. Juli 1944, hrsg. von der Bundeszentrale für Heimatdienst. Neubearbeitet und ergänzt von Erich Zimmermann und Hans-Adolf Jacobsen, Bonn 1960. 26. Vgl. Erich Zimmermann/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Germans against Hitler: July 20, 1944, Bonn 1960; dies. (Hrsg.), La résistance allemande contre Hitler: 20 juillet 1944, Bonn 1961. 27. Vgl. Prince Hubertus de Löwenstein, La résistance allemande, Bad Godesberg 1966. 28. Botschafter Manfred Klaiber an AA, 2.4.1964, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA/AA), B 24, Bd. 523, Bl. 36 - 38. 29. Vgl. Ces Hommes de l' Espérances. Une évocation de la résistance allemande au national- socialisme, Paris 1964. 30. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung an AA, 11.2.1964. PA/AA, B 24, Bd. 523, Bl. 30. 31. Bundesdeutsche Botschaft in Paris an Auswärtiges Amt, 2.4.1964, PA/AA, B 24, Bd. 523, Bl. 36 - 38. 32. Vgl. Alfred Grosser, Réflexions, in: Ch. Levisse-Touzé/St. Martens (Anm. 21), S. 343 - 351, hier: S. 343f. 33. Vgl. Alain Desroches, Opération Walkyrie. Les Patriotes Allemands contre Hitler, Paris 1966. 34. Vgl. Die Wahrheit über den 20. Juli, hrsg. von der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn 1954. 35. Vgl. Maurice Baumont, La grande conjuration contre Hitler, Paris 1963, S. 238ff. 36. Maurice Baumont, Erhebung einer Elite gegen Tyrannei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/1964, S. 20 - 23. 37. Vgl. Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 198ff. 38. Hans-Adolf Jacobsen, 20. Juli 1944. Die deutsche Opposition gegen Hitler im Urteil der ausländischen Geschichtsschreibung. Eine Anthologie, Bonn 1969, S. 6. 39. Vgl. Henri Bernard (Hrsg.), L' autre Allemagne. La résistance allemande à Hitler, Paris 1976; Gérard Sandoz, Ces Allemands qui ont défié Hitler, 1933 - 1945, Paris 1980. Alternativ verfügten französische Leser in den achtziger Jahren über das Standardwerk von Peter Hoffmann, La Résistance allemande contre Hitler, Paris 1984 (orig. München 19793). 40. Vgl. "Non à Hitler. Oppositions et résistances contre le régime nazi", in: Documents, 49 (1994) 2. 41. Vgl. den Ausstellungskatalog: Les musées de la ville de Paris (Hrsg.), Des Allemands contre le nazisme, 1933 - 1945, Paris 1995. 42. Vgl. zur Vorgeschichte des dann veröffentlichten Bandes die einleitenden Worte in: Ch. Levisse- Touzé/St. Martens (Anm. 21). 43. Es muss ebenso als Form von Anerkennung des deutschen Widerstandes gewertet werden, dass Hartmut Mehringer im Jahr 2000 für eine Überblicksdarstellung (Widerstand und Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner, München 1997) den nach einem berühmten résistant benannten Prix Philippe Vianney erhielt. 44. Vgl. Mechtild Gilzmer/Christine Levisse-Touzé/Stefan Martens (Hrsg.), Les femmes dans la Résistance en France, Paris 2003. 45. "Conjurations et attentats contre Hitler", Paris, 8. November 2003 bis 25. April 2004. 46. Vgl. die zur Vorbereitung der Studenten veröffentlichten Sammelbände: Gilbert Krebs u.a. (Hrsg.), Etat et société en Allemagne sous le IIIe Reich, Asnières 1997; François Knopper u.a. (Hrsg.), Le National-socialisme: une révolution?, Toulouse 1997; Gilbert Krebs u.a. (Hrsg.), Exil et Résistance au national-socialisme 1933 - 1945, Asnières 1998; Françoise Knopper u.a. (Hrsg.), Les résistants au IIIe Reich en Allemagne et dans l' exil. Pensée et action, Toulouse 1997; Hélène Roussel u.a. (Hrsg.), Exil, Résistance, "Autre Allemagne". L' opposition allemande au 3e Reich, Nanterre 1998. 47. Vgl. Gilbert Badia, Ces Allemands qui ont affronté Hitler, Paris 2000; Gilbert Merlio, Les résistances allemandes à Hitler, Paris 20032; Barbara Koehn, La résistance allemande contre Hitler 1933 - 1945, Paris 2003. 48. Vgl. Günther Weisenborn, Une Allemagne contre Hitler. Préface de Alfred Grosser, Paris 2000/2003. 49. Vgl. Anne Sizaire, Les roses du mal. Résistants allemands au nazisme, Lyon 1995 und Paris 2000; Gilbert Merlio, Ces Allemandes qui luttèrent contre Hitler, in: Historia, 663 (2002). 50. Vgl. Roland Pfefferkorn (Hrsg.) La résistance allemande contre le nazisme, Straßburg 1998; Un

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 601

attentat contre Hitler. Procès-verbaux des interrogatoires de Johann Georg Elser, traduction et présentation de Bénédicte Savoy, Arles 1998; http://resistanceallemande.online.fr. 51. Vgl. Hans Manfred Bock (Hrsg.), Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963 - 2003, Opladen 2003, S. 190. 52. Vgl. Marie Kahle, Tous les Allemands n'ont pas un cur de pierre. Récit de la fuite de la famille Kahle hors de l'Allemagne nazie, Paris 2001 (What would you have done? The story of the escape of the Kahle family from Nazi-Germany, London 1945).

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 602

Eine integrierte Geschichte des Holocaust

Von Saul Friedländer 23.3.2007 Dr. phil., geb. 1932; Professor für Geschichte (emeritus) an der Universität Tel Aviv/Israel und an der University of California, Los Angeles/USA.

E-Mail: [email protected]

Eine integrierte Geschichte des Holocaust ist notwendig, weil sie sich nicht auf deutsche Maßnahmen beschränken darf, meint Saul Friedländer. Und weil jüdische Wahrnehmungen ein untrennbarer Bestandteil dieser komplexen Geschichte waren.

Einleitung

Dass eine integrierte Geschichte des Holocaust notwendig ist, wurde mir erstmals im Laufe der Mitte und Ende der 1980er Jahre geführten Debatten klar. Ausschlaggebend war insbesondere die Auseinandersetzung mit Martin Broszat über das 1985 von ihm vorgelegte "Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus". Eines der Argumente Broszats richtete sich gegen die traditionelle Schwarzweißdarstellung des Dritten Reiches, an deren Stelle ein Bild in abgestuften Grautönen treten sollte. Broszats kaum verhüllter Subtext, der im Zuge unseres 1988 geführten Briefwechsels zutage trat, besagte, die Wahrnehmung der jüdischen Überlebenden von dieser Vergangenheit sei ebenso wie die ihrer Nachkommen zwar "achtenswert", aber sie stelle doch eine mythische Erinnerung dar, die einer rationalen deutschen Geschichtsschreibung ein Hindernis in den Weg lege, das zu einer Vergröberung führe.

Diese Auffassung verewigte die intellektuelle Abtrennung der Geschichte der Juden während der NS- Zeit und überließ ihre Bearbeitung bestenfalls jüdischen Historikern. Meine Arbeit,[1] mit der ich 1990 begann, sollte zeigen, dass im Hinblick auf den professionellen Umgang mit diesem Gegenstand eine Unterscheidung zwischen Historikern unterschiedlicher Herkunft nicht gerechtfertigt ist; sämtliche Historiker, die sich mit diesem Thema befassen, müssen sich über ihre unvermeidlich subjektive Herangehensweise im Klaren sein und genügend selbstkritische Einsicht aufbringen können, um diese Subjektivität unter Kontrolle zu halten. Mir kam es in erster Linie darauf an, auch die jüdische Dimension in eine integrierte historische Erzählung einzubeziehen.

In dieser kurzen Darstellung befasse ich mich zunächst mit dem Begriff einer integrierten Geschichte des Holocaust, wende mich dann einigen Entscheidungen hinsichtlich der Erzählweise und der Interpretation zu, die ein derartiger Ansatz erforderlich macht, und schildere schließlich einige Probleme, die bei dieser Form der Geschichtsdarstellung auftreten können.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 603 Integrierte Geschichte

David Moffie wurde am 18. September 1942 an der Universität Amsterdam zum Doktor der Medizin promoviert. Auf einer anlässlich dieses Ereignisses aufgenommenen Photographie stehen Professor Ariens Kappers, Moffies Doktorvater, und Professor H. T. Deelman zur Rechten des frisch gebackenen Doktors der Medizin, der Assistent D. Granaat zu seiner Linken. Ein weiteres Mitglied des Lehrkörpers, das von hinten zu sehen ist, möglicherweise der Dekan der Medizinischen Fakultät, steht ihnen gegenüber auf der anderen Seite eines großen Schreibtisches. Im undeutlich auszumachenden Hintergrund erkennt man mit Mühe die Gesichter eines Teils der Menschen, die sich in dem ziemlich kargen Saal versammelt haben und bei denen es sich zweifellos um Familienmitglieder und Freunde handelt. Die Angehörigen des Lehrkörpers sind in ihre akademischen Festgewänder gekleidet, während Moffie und Assistent Granaat einen Smoking und einen weißen Schlips tragen. Auf der linken Seite seiner Smokingjacke trägt Moffie einen handtellergroßen Judenstern, auf dem das Wort "Jood" geschrieben steht. Moffie war der letzte jüdische Student an der Universität Amsterdam in der Zeit der deutschen Besatzung. Kurze Zeit später wurde er nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Er gehörte schließlich zu den 20 Prozent der niederländischen Juden, die überlebten; derselben Statistik zufolge kam der größte Teil der bei der Zeremonie anwesenden Juden nicht mit dem Leben davon.

Das Bild wirft einige Fragen auf. Wie war es möglich, dass die Zeremonie am 18. September 1942 stattfand, obgleich jüdische Studenten mit Wirkung von diesem Datum an aus den niederländischen Universitäten ausgeschlossen wurden? Die Herausgeber des Bandes "Photography and the Holocaust" fanden die Antwort: Der letzte Tag des akademischen Jahres 1941/42 war Freitag, der 18. September 1942; das Semester 1942/43 begann am Montag, dem 21. September 1942. Die dreitägige Unterbrechung machte es möglich, dass Moffie die Doktorwürde verliehen bekam, bevor der Ausschluss jüdischer Studenten obligatorisch wurde. Mit anderen Worten: Die Universitätsbehörden erklärten sich bereit, den administrativen Kalender entgegen den Intentionen des deutschen Erlasses anzuwenden. Diese Entscheidung signalisierte eine Haltung, die an niederländischen Universitäten seit Herbst 1940 weit verbreitet war; die Photographie dokumentiert einen Akt des Trotzes, des Umgehens von Gesetzen und Verfügungen des Besatzers.

Es gibt noch mehr zu sagen. Die Deportationen aus den Niederlanden begannen am 14. Juli 1942. Fast jeden Tag verhafteten die Deutschen und die einheimische Polizei auf den Straßen niederländischer Städte Juden, um ihr wöchentliches Soll zu erfüllen. Moffie hätte an dieser öffentlichen akademischen Zeremonie nicht teilnehmen können, wenn er nicht eine der speziellen (und zeitlich beschränkten) 17 000 Ausnahmebescheinigungen erhalten hätte, welche die Deutschen dem Judenrat zuteilten. Indirekt erinnert das Bild somit an die Kontroverse um die Methoden, welche die Oberhäupter des Rates anwandten, um zumindest vorübergehend einige der Juden Amsterdams zu schützen und die große Mehrheit der niederländischen und ausländischen Juden ihrem Schicksal zu überlassen.

Das auf Moffies Jackett aufgenähte "Jood", das dem frischgebackenen Dr. med. die Ermordung verhieß, erscheint, wie wir alle wissen, nicht in Blockbuchstaben oder in irgendeiner anderen gebräuchlichen Schrift. Die Schriftzeichen waren eigens für diesen Zweck entworfen worden (und in den Sprachen der Länder, aus denen die Deportationen vorgenommen wurden, ähnlich gezeichnet: "Jude", "Juif", "Jood" usw.); sie hatten eine krumme, abstoßende und unbestimmt bedrohliche Form, die an das hebräische Alphabet erinnern und doch leicht entzifferbar bleiben sollte. Diese Aufschrift mit ihrer eigentümlichen Gestaltung lässt die auf der Photographie abgebildete Situation in ihrer Quintessenz sichtbar werden; die Deutschen waren versessen darauf, die Juden als Individuen auszurotten und das auszulöschen, was der Stern und seine Inschrift repräsentierten: "den Juden".

So vermittelt ein einziger Schnappschuss dem Betrachter eine Ahnung von einer Vielzahl von Interaktionen zwischen deutschen ideologischen Halluzinationen und Verwaltungsmaßnahmen, niederländischen Institutionen und individuellen Entscheidungen, jüdischen Institutionen und, im Mittelpunkt von alledem, dem Schicksal eines einzelnen Juden. In Worte übersetzt, in seinem Kontext erzählt, auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen interpretiert, lässt sich das Bild als metonymische Repräsentation einer Geschichte mit vielen Facetten ansehen, eines Unternehmens, das sich als eine

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 604 integrierte Geschichte des Holocaust definieren ließe.

Eine integrierte Geschichte des Holocaust ist aus mehreren Gründen notwendig. Erstens lässt sich diese Geschichte nicht auf deutsche Entscheidungen und Maßnahmen beschränken, sie muss vielmehr diejenigen von Behörden, Institutionen und den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen der besetzten Länder und der Satellitenstaaten im von Deutschen kontrollierten Europa einbeziehen. Zweitens ist es offenkundig, dass in jedem Stadium jüdische Wahrnehmungen und Reaktionen (ob kollektiv oder individuell) ein untrennbarer Bestandteil dieser Geschichte waren und man sie somit im Hinblick auf eine allgemeine historische Darstellung nicht als separaten Bereich ansehen kann. Und schließlich drittens verbessert eine gleichzeitige Darstellung von Ereignissen, die sich auf allen Ebenen und an verschiedenen Orten abgespielt haben, die Wahrnehmung der Größe, der Komplexität und wechselseitigen Verflochtenheit der gewaltigen Zahl von Komponenten dieser Geschichte. Ich will diese drei Punkte näher skizzieren.

Die Tatsache, dass die Geschichte der Vernichtung der Juden Europas nicht an den Grenzen des Deutschen Reiches Halt macht und sich nicht nur auf deutsche Entscheidungen beschränkt, brauchen wir nicht näher auszuführen. Von Bedeutung im Rahmen des großen Netzwerks aus Initiativen, Unterstützung und Hinnahme ist jedoch möglicherweise das Ausmaß der Informationen über die Vernichtung der Juden, die schon früh in ganz Europa (einschließlich Deutschlands natürlich) zur Verfügung standen. Am 18. Juni 1942 schrieb der Zahlmeister der Reserve H. K. aus Brest-Litowsk nach Hause: "In Bereza-Kartuska, wo ich Mittagsstation machte, hatte man gerade am Tage vorher etwa 1 300 Juden erschossen. (...) Männer, Frauen und Kinder mussten sich dort völlig ausziehen und wurden durch Genickschuss erledigt. Die Kleider wurden desinfiziert und wieder verwendet. Ich bin der Überzeugung: Wenn der Krieg noch länger dauert, wird man die Juden auch noch zu Wurst verarbeiten und den russischen Kriegsgefangenen oder den gelernten jüdischen Arbeitern vorsetzen müssen." Einige Monate später schrieb Soldat S. M., der auf dem Weg zur Front war, aus der Stadt Auschwitz: "Juden kommen hier, das heißt in Auschwitz, wöchentlich 7 - 8 000 an, die nach kurzem den Heldentod` sterben." Und er fügte hinzu: "Es ist doch gut, wenn man einmal in der Welt umher kommt (...)."

In Minden hatten die Einwohner das Schicksal der aus ihrer Stadt Deportierten schon im Dezember 1941 erörtert und öffentlich davon gesprochen, dass Juden, die nicht arbeitsfähig seien, erschossen würden. Einige Wochen später, im Februar 1942, notierte Bischof Wilhelm Berning aus Osnabrück, es gebe einen Plan, sämtliche Juden zu vernichten. Schon sehr bald erreichte diese Information nicht nur die Bevölkerung der osteuropäischen Länder, sondern auch Behörden in neutralen Staaten, vor allem in der Schweiz und in Schweden, sowie zentrale religiöse und humanitäre Institutionen. Solches Wissen zu einem frühen Zeitpunkt verleiht der Reaktion staatlicher Stellen im neutralen Europa ebenso wie der des Vatikans oder des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gerade zu dem Zeitpunkt, als die Vernichtung ihr volles Ausmaß erreichte - im Frühsommer 1942 -, eine zusätzliche Dimension.

Bislang ist die jüdische Dimension kaum in allgemeine Untersuchungen über diese Epoche einbezogen worden. Und wenn in der hauptsächlich nichtjüdisch orientierten Geschichtsschreibung auf diese Dimension angespielt wird, gibt es die Tendenz, dabei vorwiegend auf institutionell-kollektives jüdisches Verhalten einzugehen: auf die Entscheidungen jüdischer Führungsgruppen oder auf einige der bekanntesten Widerstandsversuche. Doch von ihrer grundlegenden historischen Bedeutung her spielte sich die Interaktion zwischen den Juden in den besetzten Ländern und den Satellitenstaaten Europas, den Deutschen und der umwohnenden Bevölkerung hauptsächlich auf einer weit elementareren Ebene ab. Von Anfang an stellten alle Schritte, die von einzelnen Juden oder jüdischen Gruppen unternommen wurden, um die Bemühungen der Nazis zu stören, ein Hindernis, wie geringfügig es auch immer gewesen sein mag, auf dem Weg zur vollständigen Vernichtung dar: ob es darum ging, Beamte, Polizisten oder Denunzianten zu bestechen, Familien dafür zu bezahlen, dass sie Kinder oder Erwachsene verstecken, in die Wälder oder ins Gebirge zu fliehen, sich in kleine Dörfer oder in große Städte zurückzuziehen, zu konvertieren, sich Widerstandsgruppen anzuschließen, Lebensmittel zu stehlen oder sonst etwas zu tun, das zum Überleben führte. Auf dieser Mikroebene müssen jüdische

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 605

Reaktionen und Initiativen untersucht und in die umfassenderen Bereiche dieser Geschichte integriert werden. Auf dieser Mikroebene ist ein großer Teil der Geschichte eine von Individuen.

Die Geschichte der Vernichtung des europäischen Judentums auf der individuellen Ebene lässt sich aus der Perspektive der Opfer nicht nur auf Grund von Aussagen vor Gericht, Interviews und Memoiren rekonstruieren, sondern auch mit Hilfe der ungewöhnlich großen Zahl von Tagebüchern (und Briefen), die während der Ereignisse geschrieben und im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte aufgefunden wurden. Diese Tagebücher und Briefe schrieben Juden aller Länder, aller Lebensbereiche, aller Altersgruppen, die entweder unter unmittelbarer deutscher Herrschaft oder mittelbar in der Sphäre der Verfolgung lebten. Selbstverständlich muss man die Tagebücher mit derselben kritischen Aufmerksamkeit benutzen wie jedes andere Dokument. Als Quellen für die Geschichte jüdischen Lebens während der Jahre der Verfolgung und Vernichtung bleiben sie jedoch unersetzlich. Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Zeugen vertrauten ihre Beobachtungen der Verschwiegenheit ihrer privaten Aufzeichnungen an. Diese Zeugnisse schildern in allen Einzelheiten die Initiativen und die alltägliche Brutalität der Täter, die Reaktionen der Bevölkerung, das Leben und die Vernichtung ihrer Gemeinden, aber sie halten auch die Welt ihres Alltags fest, die von Verzweiflung, Gerüchten, Illusionen und Hoffnung bestimmt ist, welche sich fortwährend abwechseln, meist bis zum Ende.

"Mein lieber Papa, traurige Nachrichten. Nach meiner Tante bin ich an der Reihe fortzugehen." So begann die hastig mit Bleistift geschriebene Postkarte, die die 17-jährige Louise Jacobson am 12. Februar 1943 aus Drancy an ihren Vater schickte, der sich noch in Paris aufhielt. "Ich bin sehr zuversichtlich", fuhr sie fort, "so wie alle hier. Mach Dir bitte keine Sorgen, Papa. Erstens fahren wir unter sehr guten Bedingungen los. Ich habe in dieser Woche sehr, sehr gut gegessen. Ich habe nämlich eine Berechtigung für zwei weitere Pakete erhalten. Das erste stammt von einer Freundin, die schon deportiert worden ist, und das zweite von Tante Rachel. Und dann kam ja auch noch eins von Dir, genau im richtigen Moment. (...) Wir fahren morgen früh ab. Ich bin mit Freunden zusammen, denn morgen werden sehr viele abgeholt. Ich habe meine Uhr und den Rest meiner Sachen bei zuverlässigen Leuten aus meinem Zimmer hinterlassen. Lieber Papa, ich küsse Dich hunderttausendmal von ganzem Herzen. Courage et à bientôt, Deine Tochter Louise." Am 13. Februar 1943 fuhr Louise in Transport Nr. 48 zusammen mit 1 000 anderen französischen Juden nach Auschwitz. Eine überlebende Freundin, eine Chemieingenieurin, war während der Selektion mit ihr zusammen. "Sag, du bist Chemikerin", hatte Irma geflüstert. Als Louise an der Reihe war und sie nach ihrem Beruf gefragt wurde, antwortete sie: "Studentin"; sie wurde nach links, in die Gaskammer, geschickt.

Solche persönlichen Chroniken, solche individuellen jüdischen Stimmen sind die unmittelbarsten Zeugnisse von Dimensionen laufender Ereignisse, die in anderen Quellen gewöhnlich nicht wahrgenommen werden. Wie Blitzlichter, die Teile einer Landschaft erhellen, bestätigen sie Ahnungen, sie warnen uns vor vorschnellen Verallgemeinerungen, sie durchbrechen die Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanziertheit. Häufig wiederholen sie nur das, was bekannt war, aber sie drücken es mit unvergleichlicher Eindringlichkeit aus. So brachte im Rahmen ihrer Erinnerungen an die Ermordung von etwa 12 000 Juden in Stanislawow am 12. Oktober 1941 die junge Tagebuchschreiberin Elsa Binder das Schicksal ihrer beiden Freundinnen Tamarczyk und Esterka zur Sprache: "Ich hoffe", schrieb Elsa, "dass der Tod gut zu Tamarczyk war und sie gleich geholt hat. Und dass sie nicht leiden musste wie ihre Gefährtin Esterka, bei der man mit ansehen musste, wie sie erwürgt wurde."

Schließlich erweitert die integrierte Darstellung - das ist der dritte Punkt - die historische Wahrnehmung des Holocaust um eine wesentliche Dimension; sie braucht nicht transnational zu sein. Sie kann sich auf verschiedene Ereignisse beziehen, die gewöhnlich nicht miteinander verknüpft werden und die sich zu gleicher Zeit und in ein und demselben Land abspielten. Ende Dezember 1941 war die Entscheidung zur Vernichtung aller Juden Europas gefällt worden. Zur gleichen Zeit gab die Hauptvertretung der Deutschen Evangelischen Kirche, die Kirchenkanzlei, als Reaktion auf eine stark antisemitische Erklärung einer Reihe deutschchristlicher Kirchen eine Verlautbarung heraus, in der sie getauften Juden jegliche Solidarität versagte: "Der Durchbruch des rassischen Bewusstseins in unserem Volk, verstärkt durch die Erfahrungen des Krieges und entsprechende Maßnahmen der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 606 politischen Führung, haben die Ausscheidung der Juden aus der Gemeinschaft mit uns Deutschen bewirkt. Dies ist eine unbestreitbare Tatsache, an welcher die deutschen Evangelischen Kirchen nicht achtlos vorübergehen können. Wir bitten daher im Einvernehmen mit dem Geistlichen Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche die obersten Behörden, geeignete Vorkehrungen zu treffen, dass die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben."

Die Bekennende Kirche protestierte, aber ihr Protest war der einer Minderheit und machte keine Gegenmaßnahmen erforderlich. Wenige Wochen zuvor hatten mehrere katholische Bischöfe einen Text kursieren lassen, in dem Unterstützung für konvertierte deutsche Juden, die man in den "Osten" geschickt hatte, zum Ausdruck kommen sollte. Die Mehrheit der Bischofskonferenz lehnte jeden derartigen Schritt, mochte er auch noch so zaghaft formuliert sein, ab. Selbstverständlich gingen weder Protestanten noch Katholiken auf das Schicksal der nicht getauften Juden ein. Mit anderen Worten: Als die Deportationen aus Deutschland begannen und vor allem, als die ersten Vernichtungsstätten in Betrieb genommen wurden, konnten sich Hitler und seine Helfer auf die Passivität der einzigen Gegenkraft verlassen, die einst das Regime wegen seiner verbrecherischen Politik herausgefordert hatte.

Die Gleichzeitigkeit der Entscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, und des erklärten Nichteingreifens der christlichen Kirchen zugunsten getaufter Juden stellt die Frühphase der "Endlösung" in ihren umfassenderen deutschen Kontext. Eben dieser Kontext nimmt eine weitere sowohl tragische als auch ironische Bedeutung an, denn zur selben Zeit feierten Juden im Reich und im gesamten besetzten Europa ihre bevorstehende Befreiung, weil die sowjetischen Armeen vor Moskau erste Erfolge verzeichneten. Nur in Wilna und etwas später in Warschau wurde winzigen Gruppen klar, dass die allgemeine Vernichtung gerade erst anlief.

Erzählung und Interpretation

Es mag ungewöhnlich sein, bei der Erörterung eines historischen Projekts, bei dem per Definition alle Aufmerksamkeit der Begriffsbildung und Interpretation gelten sollte, Problemen der Erzählung Raum zu geben. Tatsächlich aber haben diese Probleme mein Unternehmen beinahe zum Scheitern gebracht. Wir haben es mit Ereignissen zu tun, die sich in Deutschland, in sämtlichen besetzten Ländern und Satellitenstaaten Europas und darüber hinaus abgespielt haben. Wir haben es mit Institutionen und individuellen Stimmen, mit Ideologien und religiösen Traditionen zu tun. Keine allgemeine Geschichte des Holocaust kann der Interaktion dieser Vielfalt von Elementen gerecht werden, wenn sie sie nach Art eines Lehrbuchs isoliert nebeneinander darstellt. Wenn man das Schicksal einzelner Juden, hauptsächlich Verfasser von Tagebüchern, verfolgt, also eine Zeitspanne darstellt, die sich vom Kriegsbeginn in den meisten Fällen bis zu ihrem Lebensende erstreckt, wird eine chronologische Entfaltung des Gesamtprozesses unvermeidlich.

Plötzliche Schnitte in der Erzählung, gefolgt von abrupten Perspektivwechseln, sind Verfahrensweisen, die im Film, aber kaum in der Geschichtsschreibung üblich sind. Ich habe mich jedoch entschlossen, diese Methoden in meiner Arbeit zu verwenden, weil sie die einzig mögliche Lösung für ein anders nicht zu lösendes Dilemma darstellen. Mein Projekt erzwang überdies eine teilweise Rückkehr zur Chronik, aber, darauf hat der Historiker Dan Diner hingewiesen, nicht zu einer Form, die der Begriffsbildung vorausgegangen wäre; die Chronik blieb die einzige Zuflucht, nachdem ich andere Interpretationsrahmen ausprobiert und für unzulänglich befunden hatte. Allerdings schließt eine derartige Form der chronologisch berichtenden Darstellung parteiische Interpretationen nicht aus, und ebenso wenig können Annahmen über den allgemeinen historischen Kontext des Holocaust - etwa die Krise des Liberalismus in Europa - oder, pointierter, allgemeine Thesen über den historischen Ort der Vernichtung der Juden im breiten Spektrum der Zielsetzungen der Nazis ausgeschlossen werden.

Dieser Punkt führt mich zum Hauptproblem der Interpretation: zur zentralen Stellung des Holocaust in der Geschichte des Nationalsozialismus. Die Verfechter des Historisierungskonzepts betonten, die Verbrechen der Nazis seien zunächst deswegen in den Mittelpunkt der Geschichte des Dritten Reiches

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 607 gerückt, um den Erfordernissen der Kriegsverbrecherprozesse zu genügen. Später seien, derselben Argumentation zufolge, die Konzentration auf die verbrecherische Dimension des Dritten Reiches und seine Schwarzweißdarstellung für eine volkspädagogische Geschichtsschreibung unabdingbar geworden; außerdem sei diese Schwerpunktsetzung das Ergebnis der mythischen Erinnerung der Überlebenden. Aus dieser Sicht war 40 Jahre nach Kriegsende die Zeit reif, die verbrecherische Politik des Regimes in einen umfassenderen und differenzierteren Kontext zu stellen, in dem die Juden nicht mehr notwendigerweise im Mittelpunkt standen. Im Sinne dieses historischen Trends war die Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas nur ein sekundärer Aspekt von Maßnahmen, mit denen ganz andere Ziele verfolgt wurden, etwa die Herstellung eines neuen wirtschaftlichen und demographischen Gleichgewichts im besetzten Europa durch die Ermordung überschüssiger Bevölkerungsteile, die Neuverteilung und Dezimierung von Bevölkerungsgruppen zur Erleichterung der deutschen Kolonisierung im Osten oder, wie kürzlich ausgeführt, die systematische Ausplünderung der Juden Europas, um das Führen des Krieges zu ermöglichen, ohne die deutsche Gesellschaft allzu sehr zu belasten, oder, genauer gesagt, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele von Hitlers Volksstaat nicht zu gefährden. Eine Reihe dieser Interpretationen, insbesondere die letztgenannte, haben in Deutschland ein großes Echo gefunden.

Ein derartiger Ansatz kann jedoch keine Antwort auf grundlegende Fragen geben: Warum entschloss sich Hitler, die Juden zu vernichten, während er sie aller Besitztümer beraubte? Warum entschied er persönlich im Herbst 1943, die Deportation der Juden Dänemarks und Roms zu forcieren, obgleich beide Operationen mit großen Risiken behaftet waren (es bestand die Möglichkeit, dass es in Dänemark zu Unruhen kommen und dass der Papst öffentlich Protest einlegen würde) und ihr "Nutzen" gleich Null war? Warum schlug Himmler die wiederholten Bitten der Wehrmacht ab, jüdische Facharbeiter von der Vernichtung auszunehmen? Die sekundäre Funktion, die der antijüdischen Politik zugeschrieben wird, passt auch nicht zu scheinbar marginalen, aber bezeichnenden anderen Vorgängen: der Reichsführer SS verlangte persönlich von Finnlands Ministerpräsidenten, sein Land möge seine 30 bis 40 ausländischen Juden an die Deutschen ausliefern; im Juli 1944 wurden die kleinen, verarmten sephardischen jüdischen Gemeinden auf den Ägäischen Inseln deportiert; noch wenige Tage vor der Befreiung von Paris wurden Hunderte von jüdischen Kindern festgenommen und aus Frankreich nach Auschwitz abtransportiert.

Der einzige Ansatz, der mir in einer integrierten Geschichte des Holocaust möglich erscheint, muss die Behandlung der Juden unmittelbar ins Zentrum der Weltanschauung des Regimes und seiner Strategien rücken. "Im großen und ganzen kann man sagen", notierte Goebbels Ende April 1944 nach einem langen Gespräch mit Hitler, "dass eine langfristige Politik in diesem Krieg nur möglich ist, wenn man von der Judenfrage ausgeht." Diese Wahnvorstellung wurde von Hitlers engsten Mitarbeitern, von Dienststellen der Partei und des Staates, von Beamten und Technokraten auf allen Ebenen des Systems sowie von bedeutenden Teilen der Bevölkerung begeistert unterstützt und umgesetzt. Die "Logik", die hinter dieser judenfeindlichen Leidenschaft stand, wurde von der Propaganda ständig wiederholt. Wie Jeffrey Herf gezeigt hat, zeichnete diese Propaganda ein immer bedrohlicheres Bild "des Juden" als tödlichen und unbarmherzigen Feind des Reiches, der zu dessen Vernichtung entschlossen war. So entschied sich Hitler im Rahmen eben dieser halluzinatorischen Logik, als das Reich an beiden Fronten, im Osten wie im Westen, kämpfen musste, ohne dass Hoffnung auf einen raschen Sieg bestand und als erste Andeutungen der Niederlage erkennbar wurden, für die sofortige Vernichtung. Sonst würden, so sah er es, die Juden ebenso wie 1917/1918 Deutschland und das neue Europa von innen heraus zerstören. Als sich die militärische Lage zuspitzte, wurde die Vernichtung bis zum Äußersten beschleunigt.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 608 Beantwortbare und unbeantwortbare Fragen

Eine integrierte Geschichte führt zu vergleichenden Fragestellungen sowie zu allgemeineren Zusammenhängen, die man sonst nur undeutlich wahrnimmt. Ein wichtiges Beispiel könnte die Frage nach der jüdischen Solidarität angesichts der Katastrophe sein. Die deutsche jüdische Führung versuchte Ende 1939 und Anfang 1940, gefährdeten polnischen Juden die Emigration aus dem Reich nach Palästina zu versperren, um alle Auswanderungsmöglichkeiten deutschen Juden vorzubehalten; die alteingesessene französische jüdische Führung (das Consistoire) forderte von der Vichy-Regierung unablässig eine klare Unterscheidung zwischen einheimischen und ausländischen Juden hinsichtlich ihres Status und der ihnen zustehenden Behandlung. Die Judenräte in Polen - insbesondere in Warschau - gestanden Angehörigen der einheimischen Mittelklasse, die sich Bestechungsgelder leisten konnten, ein Bündel von Privilegien zu, während die Armen, die Flüchtlinge aus den Provinzen und die Masse derer, die über keinerlei Einfluss verfügten, zunehmend gezwungen waren, Sklavenarbeit zu verrichten, oder in Hunger und Tod getrieben wurden. Nachdem die Deportationen begonnen hatten, machten ortsansässige Juden in Lodz Front gegen Deportierte aus dem Westen. In Westerbork schützten sich deutsche Juden, die Elite des Lagers, die eng mit den deutschen Kommandanten zusammenarbeitete, damit, dass sie niederländische Juden auf die Abgangslisten setzten, während sich zuvor die niederländische jüdische Elite sicher gefühlt hatte und davon überzeugt gewesen war, dass nur Flüchtlinge (vor allem deutsche Juden) in die inländischen Lager geschickt und dann deportiert werden würden. Der Hass der getauften Juden auf ihre jüdischen Brüder im Warschauer Ghetto ist berüchtigt.

Es sollte jedoch erwähnt werden, dass ungeachtet aller Spannungen weit verbreitete Wohlfahrtsanstrengungen sowie Bildungs- und Kulturaktivitäten in vielen jüdischen Gemeinden allen offen standen. Überdies zeigte sich eine Festigung der Bindungen innerhalb kleiner Gruppen, denen ein bestimmter politischer oder religiöser Hintergrund gemeinsam war. Typische Fälle waren politische Jugendgruppen in den Ghettos, jüdische Pfadfinder in Frankreich und natürlich die eine oder andere Gruppe orthodoxer Juden. Wenn wir uns das große Bild ansehen, können wir zu dem Schluss kommen, dass meist spezifische ethnisch-kulturelle, politische oder religiöse Bindungen, die Untergruppen miteinander teilten, Vorrang vor allen Verpflichtungen hatten, die von einer gemeinsamen Jewishness herrührten.

Während Vergleiche, die zum Wesen einer integrierten Geschichte gehören, in einer Reihe von Fällen unsere Wahrnehmung grundsätzlicher Probleme fördern, werfen sie gelegentlich auch Fragen auf, die keine eindeutige Antwort zulassen. So schrieb am 27. Juni 1945 die jüdisch-österreichische Chemikerin Lise Meitner, die 1939 von Deutschland nach Schweden emigriert war, an ihren ehemaligen Kollegen und Freund Otto Hahn, der seine Arbeit im Reich fortgesetzt hatte. Nach der Feststellung, er und die wissenschaftliche Gemeinschaft in Deutschland hätten vieles über die sich verschärfende Verfolgung der Juden gewusst, fuhr Meitner fort: "Ihr habt auch alle für Nazi-Deutschland gearbeitet und habt nie auch nur passiven Widerstand versucht. Gewiss, um Euer Gewissen loszukaufen, habt Ihr hier und da einem bedrängten Menschen geholfen, aber Millionen Unschuldiger hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut." Meitners cri de cur, der an Hahn und damit an die prominentesten Naturwissenschaftler Deutschlands gerichtet war, von denen keiner ein aktives Parteimitglied, keiner in verbrecherische Aktivitäten verwickelt gewesen war, hätte ebensogut der gesamten intellektuellen und geistlichen Elite des Reiches (selbstverständlich mit einigen Ausnahmen) sowie weiten Teilen der Eliten in den besetzten Ländern und den Satellitenstaaten Europas gelten können.

Ein noch beunruhigenderer Aspekt derselben Frage zeichnet sich mit Blick auf die Haltung der christlichen Kirchen ab. In Deutschland hat - wiederum mit Ausnahme weniger, von denen keiner den höheren Rängen der evangelischen oder der katholischen Kirche angehörte - kein protestantischer Bischof, kein katholischer Prälat öffentlich gegen die Vernichtung der Juden protestiert. Als Männer guten Willens wie Bischof Konrad Preysing aus Berlin oder der württembergische Bischof Theophil Wurm, die Stimme der Bekennenden Kirche, angewiesen wurden, ihre Versuche des vertraulichen Protestes einzustellen, fügten sie sich.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 609

Und wenn wir berücksichtigen, dass sich im Allgemeinen - sieht man von begrenzten Protesten in den Niederlanden und von denjenigen mehrerer französischer Bischöfe ab, die in einigen Fällen widerrufen wurden - die deutsche Situation in den meisten Ländern des besetzten Europas wiederholte, dann erhält diese Frage ihr volles Gewicht. Dass keine nennenswerte Anzahl von Persönlichkeiten, die zur intellektuellen oder geistlichen Elite Europas zählten, öffentlich ihre Stimme gegen die Ermordung der Juden erhob, lässt sich leicht verstehen. Dass auf der gesamten europäischen Bühne nicht einmal einige wenige Stimmen in diesem Sinne laut wurden, ist verwirrend. Dass in Deutschland nicht eine einzige Persönlichkeit von Format bereit war, sich zu Wort zu melden, bleibt ebenso wie zahlreiche andere Aspekte dieser Geschichte eine fortwährende Quelle der Fassungslosigkeit.

Text aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 14-15/2007) (http://www.bpb.de/apuz/30539/eine- integrierte-geschichte-des-holocaust) Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Martin Pfeiffer, Berlin.

Fußnoten

1. Vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Erster Band: Die Jahre der Verfolgung. 1933 - 1939; zweiter Band: Die Jahre der Vernichtung. 1939 - 1945, München 1998/2006.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 610

Deutsche Vereinigung und NS-Vergangenheit

Von Jochen Fischer , Hans Karl Rupp 28.9.2005 M.A., geb. 1974; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft, Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke- Straße 6G, 35032 Marburg. E-Mail: [email protected]

Dr. phil., geb. 1940; Professor am Institut für Politikwissenschaft, Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Straße 6G, 35032 Marburg. E-Mail: [email protected]

Vom Wunsch der Deutschen nach Einheit und von ihrem Vollzug ging keine neue Gefahr im Sinne einer Wiederholung der Geschichte aus. Antisemitismus ist ein bei Durchbrechung sanktioniertes Tabu.

Einleitung

"Wegen Auschwitz keine Wiedervereinigung!" war in den Monaten vor und nach dem Fall der Mauer in Berlin eine unter westdeutschen Intellektuellen verbreitete Auffassung. Der Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Günter Grass vertrat als Gastredner auf dem SPD-Parteitag im Dezember 1989 die Auffassung, es müsse vermieden werden, dass in der Mitte Europas wieder eine Großmacht entstehe.

Ein "Einheitsstaat, dessen wechselnde Vollstrecker während nur knapp 45 Jahren anderen und uns Leid, Trümmer, Niederlagen, Millionen Flüchtlinge, Millionen Tote und die Last nicht zu bewältigender Verbrechen ins Geschichtsbuch geschrieben haben, verlangt nicht nach einer Neuauflage"[1].

Noch schärfer formulierte es Grass auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing im Februar 1990: "Das unter dem Begriff Auschwitz summierte und durch nichts zu relativierende Verbrechen Völkermord lastet auf diesem Einheitsstaat. (...) Er war die früh geschaffene Voraussetzung für Auschwitz."[2] Ähnlich äußerte sich der im Februar 1990 zum Kanzlerkandidaten der SPD bestimmte Oskar Lafontaine:

Der Nationalstaat im Allgemeinen und der deutsche im Besonderen seien historisch überholt, ja geradezu gefährlich, sollte eine Wiedervereinigung Deutschlands vor der politischen Einigung Europas und unabhängig von ihr erfolgen.[3] Das Signum "Auschwitz" wurde von Lafontaine geradezu zu einer felix culpa im Sinne des Kirchenvaters Ambrosius umgedeutet, schreibt der Historiker Heinrich August Winkler.[4]

Dagegen trat nach dem "Rausch der Einheit" eine ganze Gruppe nationalbeschwingter Publizisten und Sozialwissenschaftler von Arnulf Baring bis Rainer Zitelmann mit euphorischen Bekenntnissen und Hoffnungen hervor. Der aus der Vergessenheit wieder auftauchende Gründer und ehemalige Herausgeber des Achtundsechziger-Magazins "konkret", Klaus Rainer Röhl, meinte in einem Beitrag zum Sammelband "Die selbstbewußte Nation", endlich könne man aus den Jahrzehnten der "Umerziehung" heraustreten: "Ein halbes Jahrhundert nach dem Morgenthau-Plan und dem Anfang der großen Umerziehung beginnen Deutsche überall im Land, sich selbst wieder wahrzunehmen."[5]

Eine andere Art "befreiten" Hinter-sich-Lassens der alliierten "Umerziehung" zeigte sich schon im Winter 1990/91 in einer nach 1945 bis dahin ungekannten Welle von Gewalt und Obszönität, gerichtet gegen jüdische Synagogen, Gemeindezentren und Friedhöfe. Unmittelbar nach der Vereinigung am

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 611

3. Oktober 1990 breiteten sich Brandanschläge und Friedhofsschändungen über das vereinigte Deutschland aus; ebenso erfassten zwischen dem ersten und dem zweiten Jahrestag der deutschen Einheit Attacken auf Asylbewerberheime fast alle Teile der Republik. Der Historiker Manfred Görtemaker spricht von insgesamt 1639 Gewalttaten allein im Jahr 1992.[6] Großdemonstrationen und öffentlichkeitswirksame Aktionen und Lichterketten in den großen deutschen Städten zwischen November und Dezember 1992, an denen Hunderttausende teilnahmen, beendeten die Kette von Ausschreitungen. Die Staatsanwaltschaften, die Innenbehörden und die Polizei griffen nun früher und umfassender ein.

Zudem verbesserte sich vorübergehend die ökonomische Situation. Das erhöhte Konsumniveau in Ostdeutschland, bedingt durch die deutliche Anhebung der tariflichen Grundentlohnung "von etwa 35 auf 80 Prozent in den Jahren 1990 bis 1993"[7], sowie die Folgen des "Vereinigungsbooms" in Westdeutschland milderten den Transformationsprozess und verhinderten zunächst ein erneutes Umsichgreifen rechtsextremer Umtriebe. Dennoch wurde seither nicht nur bei ostdeutschen Landtagswahlen immer wieder ein Aufflackern offen oder tendenziell neonazistischer Wählervoten sichtbar.

Neue Außenpolitik

Eine an Grass und Lafontaine anknüpfende und sich verschärfende Kritik gipfelte - nachdem die deutsche Vereinigung nach 1990 politisch relativ konsensual, auch mit politischer Integration der SED- Nachfolgepartei PDS, gelungen war - in der erneuerten These der marxistischen Orthodoxie, nach der ein aus der Aufsicht anderer imperialistischer Mächte entlassener Staat im Monopolkapitalismus der Gegenwart selbst zu einem neuen Imperialisten werde. Damit greife er nicht nur als Konkurrent in den schon vermachteten Weltmarkt ein, sondern bereite - allein oder gemeinsam mit anderen imperialistischen Staaten - neue Menschenrechtsverletzungen in den Ländern des Südens vor. Diese in manchen altlinken Zirkeln der alten Bundesrepublik noch heute vorhandene Auffassung geht - bei aller berechtigter Kritik der terms of trade - von einem überholten Basis-Überbau-Modell aus, dem zufolge die Probleme der Ökonomie einer Gesellschaft die Politik und auch den Erfolg von Nichtregierungsorganisationen restriktiv bestimmen. Ob das weltwirtschaftliche Agieren einer Gesellschaft die Menschenrechte verletzt oder nicht, hängt entscheidend vom Agieren und vom Einfluss der jeweiligen Öffentlichkeit ab, worunter nicht nur der Stellenwert der entsprechenden Themen in den Medien eines Landes, sondern auch der Stellenwert der entsprechenden Fragen im Agieren der Zivilgesellschaft insgesamt gemeint ist. Es gab nach der deutschen Vereinigung hier prinzipiell keine neue Situation, allerdings einen vergrößerten Aktionsraum für die bundesdeutsche Außenpolitik, der von den Bundesregierungen seither auch genutzt wurde.

Doch geschah dies in Anknüpfung an alte geopolitische Konzepte, etwa in Richtung auf Gewinnung politischer und ökonomischer Vorherrschaft auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten? Trotz einiger irritierender Einzelaspekte wird man diese Frage kaum bejahen können. Die voreilige Anerkennung der sezessionistischen Staatsgründungen Kroatiens und Sloweniens gegen die Empfehlungen des EG-Vermittlers auf dem Balkan, Lord Carrington, und der Kriegseinsatz gegen Jugoslawien im Kosovokrieg lieferten - mit unterschiedlichen Begründungen - darunter: "Nie wieder Auschwitz!" - Zweifel an der Beibehaltung eines friedensorientierten außenpolitischen Kurses, wie er seit der Neuen Ostpolitik Willy Brandts prägend für die Bundesrepublik gewesen war.

Aber dies sind nur zwei Vorgänge der Außenpolitik der zweiten Phase der Regierungszeit Helmut Kohls und derjenigen von Gerhard Schröder und bis 2005. Kennzeichnender für diese Politik - die tatsächlich eher von Kontinuität als von Widersprüchen geprägt war - ist die Vielzahl der humanitären Einsätze in Ländern außerhalb Europas. 1998 etwa richtete die Bundeswehr im Südsudan zur Rettung von mehr als zweieinhalb Millionen Menschen vor dem Hungertod "eine der größten Luftbrücken aller Zeiten"[8] ein. Um die Jahrtausendwende war die Bundeswehr - ohne große Öffentlichkeit - zu dem nach den USA größten Truppensteller bei Friedensmissionen überall in der Welt geworden.[9]

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 612

Auch hier könnte man den Einsätzen eine erneuerte imperialistische Zielsetzung unterstellen. In Wirklichkeit erklärt sich der Einsatz der Bundeswehr vor allem aus Verpflichtungen, UNO- oder NATO- Beschlüsse umzusetzen, die unter anderem eine Antwort auf die Terroranschläge des 11. September 2001 geben wollen. Die Verpflichtungen ergaben sich aus dem selbstgewählten Anspruch der bundesdeutschen Außenpolitik, in Antwort auf die jahrhundertealte preußisch-deutsche Kriegspolitik, also gerade in Abwendung von dem Weg, der in den Nationalsozialismus führte, nun als "Friedensmacht" in der Welt aufzutreten.[10]

Antisemitismus nach der Vereinigung

Die ersten Umfragen nach der Vereinigung schienen die Solidarität mit dem Staat Israel angesichts des zweiten Golfkrieges vom Januar 1991 zu festigen: Die Zustimmung der Befragten zu besseren Beziehungen zu Israel erhöhte sich von 72 auf 78 Prozent.[11] Der Anteil antisemitischer Einstellungen war in Ostdeutschland sogar geringer als in Westdeutschland, wie erste Umfragen in den neuen Bundesländern ergaben.[12] Gleichwohl war der Anteil antisemitisch geprägter Antworten auf bestimmte Fragestellungen erstaunlich hoch: 44 Prozent der Westdeutschen unterstellten 1990 "den Juden" "zu viel Einfluss auf die Vorgänge in der Welt", in Ostdeutschland waren es 20 Prozent. In diesen demoskopischen Momentaufnahmen schien sich anzudeuten, dass vor allem junge Erwachsene und Jugendliche empfänglich für fremdenfeindliche und antisemitische Parolen sind.

Dabei fanden gerade bei ostdeutschen Jugendlichen antisemitische Vorgaben eine unerwartet hohe Zustimmung. Nach ersten Jugendstudien stimmten 14 Prozent der 14- bis 18-jährigen Ostdeutschen der Auffassung "Die Juden sind Deutschlands Unglück" zu, demgegenüber nur fünf Prozent der 18- bis 20-Jährigen und nur ein Prozent der 25- bis 26-Jährigen. (Vergleichsdaten zu westdeutschen Jugendlichen liegen für diese frühe Phase nicht vor.) Werner Bergmann und Rainer Erb vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin sind der Ansicht, dass die besondere Antisemitismus-Anfälligkeit ostdeutscher Jugendlicher "vor allem in den tiefgreifenden und krisenhaften Transformationsprozessen in den neuen Ländern zu suchen" sei.

Die weitere Entwicklung der Einstellung der jeweiligen Gesamtpopulation der Ost- und Westdeutschen hat sich bis zum Jahre 2003 nicht wesentlich geändert: Damals glaubten 21 Prozent der Ostdeutschen sowie 25 Prozent der Westdeutschen an einen "übergroßen jüdischen Einfluss in der Welt". Laut Bergmann und Erb hängen Verbreitung und Intensität antisemitischer Vorurteile wesentlich vom schulischen Bildungsniveau ab. "Für West- und Ostdeutschland gilt der auch sonst international nachgewiesene Trend, dass mit besserer Bildung und niedrigerem Alter antisemitische Vorurteile seltener vorkommen." Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, wertet die Umfrageergebnisse aus dem Jahre 2003 kritisch: Dass jeweils ein Viertel der Deutschen "solchen konfusen Weltverschwörungstheorien" Glauben schenke, sei ein alarmierendes Zeichen und erkläre, dass es in nicht- oder semiöffentlichem Rahmen durchaus Attacken und Hetze gegen Juden geben könne.[13]

Das Projekt "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (GMF) des Soziologen Wilhelm Heitmeyer konstatiert für die Jahre ab 2002 ein diffuseres Bild mit Blick auf die bisher festgestellte generelle Abnahme antisemitischer Vorurteile in der gesamtdeutschen Bevölkerung. Es gebe sogar - außerhalb der Öffentlichkeit - eine zu beobachtende Zunahme antisemitischer Äußerungen im privaten Milieu.[14] Bei Umfragen geht aber die Zunahme antisemitischer Vorurteile in Ostdeutschland von einem erheblich niedrigeren Niveau aus als in Westdeutschland.[15]

Es bleibt die Frage, ob die Sozialisation in der DDR - mit ihren zweifellos beträchtlichen Defiziten, was die schulische Unterweisung mit Blick auf Antisemitismus und "Drittes Reich" betrifft - tatsächlich zu jenen temporären Wahlerfolgen offen bzw. verdeckt neonazistischer Parteien geführt hat, wie sie sich besonders in den ostdeutschen Bundesländern immer wieder ereigneten. Die in der (west)-deutschen sozialwissenschaftlichen Literatur ab Mitte der neunziger Jahre dominierende These eines direkten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 613

Übergangs von der Bejahung des autoritären Systems der DDR zur Unterstützung neonazistischer Parteien und jugendlicher Schlägerbanden - u.a. unter Zuhilfenahme des Konzepts von der Autoritären Persönlichkeit, das einst Theodor W. Adorno im amerikanischen Milieu der Nachkriegszeit entwickelt hatte[16] - erweist sich als fragwürdig. Entweder haben die in den ostdeutschen Bundesländern Befragten wesentlich angepasster auf die Fragen der Interviewer reagiert als die Westdeutschen - in dem Glauben, dem Fragesteller eine von ihm persönlich positiv bewertete Antwort zu geben -, oder die bisherige Kritik an der "antizionistischen" (und damit indirekt antisemitischen) Erziehung der Jugendlichen in der DDR ist in den sozialwissenschaftlichen Studien zum "Rechtsextremismus in der DDR" erheblich überzeichnet worden.

Lägen die sozialwissenschaftlichen Studien zur offiziellen Duldung und Tradierung des Antisemitismus im Gewand des "Antizionismus" in der DDR richtig, würden sie außerdem den Umfragen zu antisemitischen Vorurteilen bei Ostdeutschen völlig widersprechen. Die Welle fremdenfeindlicher und antisemitischer Gewalt, die nach der Vereinigung besonders Ostdeutschland erfasste, ist ohne die Agitation offen neonazistischer Gruppen - auch im Skinhead-Milieu - kaum denkbar.[17] Die temporären Wahlerfolge offen oder verdeckt neonazistischer Parteien weisen die zeitweilige Mobilisierbarkeit antisemitischer bzw. rechtsextremer Einstellungsmuster nach. Der Erfolg dieser Parteien ist in ökonomischen Krisensituationen wahrscheinlicher als in Phasen subjektiv empfundener ökonomischer Prosperität. Zusätzlich können in Krisen "unpolitische" Protestwähler für NPD oder DVU gewonnen werden.

Aufbrechen der "Kommunikationslatenz"?

Die von Bergmann und Erb bereits 1986 entwickelte These von der "Kommunikationslatenz" besagt, dass einerseits antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung verbreitet seien, diese andererseits aber nicht durch das öffentliche Meinungsklima bestätigt werden. Werde diese Latenz dennoch durchbrochen, würde dies moralisch durch Achtungsentzug, in schweren Fällen auch durch rechtliche Folgen sanktioniert. "Solange Konsens in den politischen und kulturellen Eliten besteht, auch gegen 'die Stammtische' den Meinungsdruck aufrechtzuerhalten und sich antisemitischer Ressentiments nicht zu bedienen, kann dies den Antisemitismus aus der öffentlichen Kommunikation weitgehend heraushalten und langfristig die Tradierung antijüdischer Stereotype abschwächen."[18] Bricht dieser in Richtung Latenz ausgeübte öffentliche Druck auf? Für Bergmann und Heitmeyer ist diese Gefahr unter folgenden Aspekten real: Zunächst käme die Forderung nach Aufbrechen dieser "Kommunikationssperre" dem Wunsch nach "Normalisierung" entgegen, der auch von jüngeren Bundesbürgern geteilt werde. Sodann gebe es folgende Erosionselemente: "Israelkritik als Umwegkommunikation", Kritik "mächtiger Juden" in Israel und den USA, Kritik an Tabus generell, ausgehend von der jüngeren und mittleren Generation, sowie Versuche, den Holocaust und den Antisemitismus zu europäisieren.

Einschränkend kann zur These der "Kommunikationslatenz" angefügt werden, dass jene behaupteten durchgreifenden Sanktionierungen erst schrittweise durchgesetzt werden mussten. Bundeskanzler Kohl etwa ließ noch 1986 eine antisemitische Äußerung eines CSU-Bundestagsabgeordneten mit einer Rüge durchgehen.[19] Dies hatte sich spätestens bei Bekanntwerden der Rede zum Tag der Deutschen Einheit, die der Fuldaer Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann (CDU) am 3. Oktober 2003 gehalten hatte, geändert: Dessen Versuch einer "neuen", indirekten Schuldzuweisung[20] führte zum Fraktions- und bald darauf auch zum Parteiausschluss Hohmanns. Der sich mit Hohmann solidarisierende General Reinhard Günzel wurde vom Verteidigungsminister seiner Funktion enthoben und aus der Bundeswehr entlassen.[21]

Eine Auflistung der Erosionselemente erweist die These von der Kommunikationslatenz zumindest teilweise als zu pauschal: Ist es beispielsweise Ausdruck einer Verdrängungstendenz, über die Gehilfenrolle des Vichy-Regimes bei der Judendeportation zu forschen und zu schreiben? Plausibel wird der Verweis auf Erosionstendenzen im Fall Jürgen Möllemann: Hier gab es bereits vor seinem Selbstmord empörte Aufschreie, als die Schmähung des jüdischen Publizisten Michel Friedman durch

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 614 den FDP-Politiker in einigen Medien als Antisemitismus etikettiert wurde. Der in Umfragen absehbare Erfolg des Möllemann'schen "Projekts 18" deutet im Namen eines "sekundären Antisemitismus" - nicht trotz, sondern wegen Auschwitz werden Ressentiments mobilisiert[22] - auf gefährliche mögliche Entwicklungstendenzen bei künftigen Parlamentswahlen hin. Die Möllemann-Affäre verweist auf eine nach wie vor außerordentliche Labilität des Konsenses gegen Antisemitismus.

Einschnitt in die Erinnerungskultur?

Mit der Debatte um die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin wurde sichtbar, dass latent vorhandene antisemitische Tendenzen auch in Diskursen in der Berliner Republik aufschienen. Der nach einer Ausschreibung durch eine Stiftungsinitiative eingebrachte Vorschlag des New Yorker Architekten Peter Eisenman, ein Stelenfeld zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor zu installieren, sorgte für heftige Reaktionen. Die vehementeste Gegenrede hielt der Schriftsteller Martin Walser in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main 1998. Walser sah in dem monumentalen Mahnmal einen "fußballfeldgroßen Alptraum" und betonte die in seinen Augen mit dem Denkmal verbundene "Monumentalisierung der Schande".[23]

Die Worte des angesehenen Autors vor einem prominent besetzten Auditorium in der Paulskirche stießen zunächst auf wenig Widerspruch. Walser, der in seiner Rede von der deutschen Geschichte als der "unvergänglichen Schande" und von der "Moralkeule Auschwitz" gesprochen hatte, vermied selbstkritische Reflexion und verharrte in Schuldzuweisungen. Das Mahnmal für die Opfer des Holocaust wurde als moralische Anklage, als "unaufhörliche Präsentation unserer Schande" gegen "alle Deutschen" umfunktioniert, nicht aber als mahnende Erinnerung an geschehene Grausamkeiten von Deutschen betrachtet. Indem Walser aber die Vergegenwärtigung des Holocaust als Instrument der "Meinungssoldaten" herabsetzte, legitimierte er das Vergessen und etikettierte die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen als bloßes Werkzeug vermeintlich anderer Interessen.

Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, bezichtigte Walser daraufhin der "geistigen Brandstiftung"[24]. Bubis entlarvte in seiner Antwort den logischen Bruch in Walsers Rede: Wenn er sich von der Kollektivschuld distanziere, sei es nicht zu verstehen, warum Walser sich bei Filmen über Auschwitz schuldig fühle, womit Bubis die konstruierten Fronten in der Rede offen legte. Der durch Walsers Friedenspreisrede ausgelöste Diskurs um die deutsche Erinnerungskultur nach der Wiedervereinigung wurde zur Grundsatzdebatte über einen neuen Umgang mit dem Holocaust in einem neuen Deutschland. Durch die breite, zunächst mediale und später auch politische Diskussion war bald von einem "Einschnitt in die Erinnerungskultur der Bundesrepublik"[25] die Rede.

Jürgen Habermas hob die besondere Bedeutung der Initiatoren des Mahnmals hervor. Dass eine Gruppe von Deutschen parallel zum nationalen Freudentaumel der staatlichen Wiedervereinigung und fünfzig Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz eine zentrale Gedenkstätte für die von Deutschen ermordeten europäischen Juden forderte, konnte als Chance für ein im Licht der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit stehendes Selbstverständnis der Berliner Republik begriffen werden.[26] Die Stifter seien diejenigen Bürger, so erläuterte Habermas, die sich als die unmittelbare Erben einer Kultur, "in der das möglich war, vorfinden - in einem Traditionszusammenhang, den sie mit der Tätergeneration teilen"[27]. Am 25. Juni 1999 entschied der Deutsche Bundestag über die Errichtung des Mahnmals. Auch wenn in der Debatte nicht zur Diskussion stand, ob ein Mahnmal gebaut werde, sondern wie es auszusehen habe, kam es zu klaren Bekenntnissen der Bundestagsfraktionen für ein Mahnmal. Sowohl in den Reden der Debatte als auch in der Abstimmung wurde deutlich, dass zumindest 439 der 559 Abgeordneten des Deutschen Bundestages das Mahnmal nicht als "Schandmal" im Sinne Walsers begriffen.[28]

Eine Loslösung von den singulären deutschen Verbrechen der NS-Zeit ist trotz mancher Befürchtungen nach der deutschen Vereinigung nicht eingetreten - das kann man als Fazit aus der Debatte um das

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 615 am 10. Mai 2005 eingeweihte Denkmal im Zentrum der Hauptstadt ziehen. Die deutsche Erinnerungskultur hat sich mit dem deutlichen Bekenntnis zum Holocaust-Mahnmal erneuert, zumindest, was das offizielle Gedenken in der Berliner Republik betrifft; von einer vergessenen Erinnerung kann keine Rede sein. [29]

Wie ist die Beziehung von Auschwitz zur deutschen Vereinigung? Wie hat sich das Syndrom des Antisemitismus im vereinigten Deutschland entwickelt? Welche Gefahren drohen ethnischen Minderheiten, vor allem der jüdischen Minderheit, hierzulande? Wie wirken die Schatten der NS- Vergangenheit auf das wieder vereinigte Deutschland? Vom Wunsch der Deutschen nach Einheit und von ihrem Vollzug ging keine neue Gefahr im Sinne einer Wiederholung der deutschen Geschichte aus. Antisemitismus ist im offiziellen Deutschland ein durchgesetztes und bei Durchbrechung sanktioniertes Tabu. Ethnische Minderheiten sind im Deutschland des 21. Jahrhunderts gleichwohl immer wieder gefährdet - vor allem in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Krisen. Immerhin zeigt aber die breite und dauerhafte Ablehnung antisemitischer Vorurteile in Repräsentativumfragen in Ost- und Westdeutschland, unabhängig von Geschlecht und Alter, dass es bei einer Mehrheit der Deutschen eine inzwischen gefestigte Frontstellung gegen antisemitische Äußerungen und Verhaltensweisen gibt.

Text aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 40/2005) - "Deutsche Einigung und NS-Vergangenheit"

Fußnoten

1. Günter Grass auf dem Berliner Programm-Parteitag der SPD 1989. Protokoll. Berlin, 18.-20.12. 1989, Bonn 1990, S. 151. 2. Ders., Kurze Reden eines vaterlandslosen Gesellen, in: Die Zeit vom 9.2. 1990, S. 61. 3. Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933 - 1990, Bonn 2004, S. 527. Diese Position vertrat in ähnlicher Weise der französische Staatspräsident François Mitterrand, der für seine Zustimmung zur deutschen Einheit die rasche Umsetzung der europäischen Währungsunion als Gegenleistung forderte; vgl. Hans Karl Rupp, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München/Wien 2000(3), S. 298. 4. Vgl. H. A. Winkler (ebd.), S. 478. 5. Klaus Rainer Röhl, Morgenthau und Antifa. Über den Selbsthaß der Deutschen, in: Heimo Schwilk/ Ulrich Schacht (Hrsg.), Die selbstbewußte Nation. "Anschwellende Bocksgesänge" und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Berlin 1994, S. 99. 6. Vgl. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1999, S. 780. 7. Ebd., S. 775. 8. Gregor Schöllgen, Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, München 2003, S. 87. Gegenüber dem Duktus von Schöllgen ist eher die Kontinuität zu betonen; vgl. u.a. Hans Karl Rupp, Die Bundesrepublik als "Sonderweg" der europäischen Geschichte?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1999) 39 - 40, S. 12 - 20. 9. Vgl. Hans Karl Rupp, Politik nach Auschwitz. Ein Essay zur Geschichte der Bundesrepublik, Münster 2005, S. 97. 10. Der Begriff "Friedensmacht" stammt zwar von SPD-Wahlplakaten aus dem Jahre 2003 (vgl. H. K. Rupp [ebd.], S. 99), er ist aber auch als Anspruch der Kohl'schen Außenpolitik verbürgt. 11. Vgl. Michael Wolffsohn/Douglas Bokovoy, Israel, Opladen 2003(6), S. 272. 12. Vgl. Werner Bergmann/Rainer Erb, Wie antisemitisch sind die Deutschen? Meinungsumfragen 1945 - 1994, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Antisemitismus in Deutschland, München 1995, S. 47 - 63; dort auch die folgenden Angaben. 13. W. Benz (ebd.), S. 198f. 14. Vgl. Werner Bergmann/Wilhelm Heitmeyer, Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung?, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 3, Frankfurt/M. 2005, S. 224 - 238.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 616

15. Umfragen des American Jewish Committee, zitiert in: ebd., S. 232. 16. Referiert z.B. bei Julia Isabel Geyer, Rechtsextremismus bei Jugendlichen in Brandenburg, Münster 2002, S. 120ff. 17. Hans Sarkowicz ist der Ansicht, es habe sich 1991/92 "um eine logistisch gut abgestimmte Kette inszenierter Verbrechen gehandelt, die einen ,Volksaufstand` vorspiegeln sollten"; vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Rechtsextremismus in Deutschland. Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen, Frankfurt/M. 1994, S. 70. 18. Werner Bergmann/Rainer Erb, Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1986) 38, S. 225f. 19. Auf die Äußerung des CSU-Bundestagsabgeordneten Hermann Fellner, dass die Juden sich immer schnell zu Wort melden würden, wenn "in deutschen Kassen Geld klimpert", reagierte Kohl mit der Bemerkung: "Wenn ich ihn sehe, werde ich ihm sagen: Bitte formulieren Sie so nicht." Vgl. Markus A. Weingardt, Deutsche Israel- und Nahost-Politik, Frankfurt/M.-New York 2002, S. 316f. 20. Die Schlusspassage der Rede lautet: "Mit einer gewissen Berechtigung könnte man im Hinblick auf die Millionen Toten dieser ersten Revolutionsphase [in der Sowjetunion, d. V.] nach der , Täterschaft` der Juden fragen. Juden waren in großer Anzahl sowohl in derFührungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als ,Tätervolk` bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet. (...) Daher sind weder ,die Deutschen`, noch ,die Juden` ein Tätervolk. Mit vollem Recht aber kann man sagen: Die Gottlosen mit ihren gottlosen Ideologien, sie waren das Tätervolk des letzten, blutigen Jahrhunderts." (zit. auf www.kritische-solidaritaet.de). 21. Vgl. H. K. Rupp (Anm. 9), S. 106f. 22. Vgl. W. Benz (Hrsg.) (Anm. 12), S. 19. 23. Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Dankesrede beim Empfang des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11.10. 1998, abgedruckt in: Frank Schirrmacher, Die Walser-Bubis-Debatte: eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1999, S. 13. Weitere Zitate ebd., S. 11ff. 24. Ignatz Bubis, Rede des Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland am 9. 11. 1998 in der Synagoge Rykestraße in Berlin, in: ebd., S. 111. 25. Hajo Funke/Micha Brumlik/Lars Rensmann, Einleitung, in: dies., Umkämpftes Vergessen. Walser- Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtsschreibung, Berlin 2004, S. 9. 26. Bereits 1988 hatten die Publizistin Lea Rosh und der Historiker Eberhard Jäckel einen Förderkreis zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas gegründet. 27. Jürgen Habermas, Der Zeigefinger: Die Deutschen und ihr Denkmal, in: Die Zeit vom 31.3. 1999. 28. So das Abstimmungsergebnis zu dem Antrag auf Verzicht des Mahnmal-Baus (BT-Drs. 14/981); vgl. BT-Protokoll 14/48, S. 4123. 29. Vgl. Jochen Fischer, Erinnern oder Vergessen. Zur Erinnerungskultur nach der deutschen Einheit, in: H.K. Rupp (Anm. 9), S. 111 - 124.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 617

Zwei deutsche Diktaturen im 20. Jahrhundert?*

Von Richard J. Evans 11.4.2005 Dr. phil., geb. 1947; Professor of Modern History, University of Cambridge. Gonville and Caius College, Cambridge CB2 1TA, Großbritannien.

E-Mail: [email protected]

Seit der Wiedervereinigung wird das SED-Regime mit dem Nationalsozialismus verglichen, meist in moralischem Ton und aus politischen Interessen. Der Historiker Richard J. Evans wägt selber ab: Sicher waren beide Regimes Diktaturen; aber sie waren nicht beide deutsch.

Einleitung

Zwei deutsche Diktaturen im Vergleich; oder: die doppelte Vergangenheitsbewältigung: Die Debatten, die seit etwa fünfzehn Jahren zu diesem Thema in Deutschland geführt werden, sind oft eher moralisch und politisch denn wissenschaftlich und historisch geprägt. Die fortdauernde innerdeutsche Nabelschau ist, angesichts der Erfahrungen, welche die Deutschen im 20. Jahrhundert machten, durchaus verständlich. Aber es ist nicht ganz klar, inwieweit uns diese Debatten weiterführen können. Zwar scheint sich dieForschung darüber einig zu sein, dass wir viel mehr detaillierte, empirisch vergleichende Studien verschiedener Teilaspekte der DDR und des Nationalsozialismus brauchen, aber der Erkenntnisgewinn solcher Studien auf der Makroebene ist nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich. Als Außenstehender möchte ich deshalb eine andere, vergleichende Perspektive wählen; ich setze ein Fragezeichen hinter den Titel meines Textes. Ich frage nicht, ob die beiden deutschen Diktaturen tatsächlich Diktaturen waren; das ist kaum zu bestreiten. Ich frage vielmehr, ob und inwieweit sie deutsch waren.

SBZ/DDR

Die DDR-Führung versuchte ständig, ihren Staat zu legitimieren, indem sie eine Brücke zur deutschen Vergangenheit schlug, vor allem durch die heroisierende Darstellung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, deren Entwicklung von Marx und Engels über die linken Sozialdemokraten der Kaiserzeit und die 1918 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands bis in die DDR der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts als gradlinig präsentiert wurde. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) wurde als Endpunkt einer politischen Entwicklung dargestellt, die Deutsche Demokratische Republik als die historische Wunscherfüllung der arbeitenden deutschen Massen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Tatsächlich aber spielten nichtdeutsche Traditionen eine weit größere Rolle in der SED und der DDR, ja sogar in der KPD der Weimarer Zeit, als im Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED je zugegeben wurde. Vor allem gewannen mit der Gründung der KPD im Dezember 1918 wichtige Elemente der Ideologie und Praxis der russischen revolutionären Bewegung Eintritt in die deutsche Linke: unter anderem der demokratische Zentralismus, die Verachtung des parlamentarischen Systems, die Bereitschaft, massenhaft Gewalt zu entfesseln, die Manipulation des Rechtssystems, die Reduzierung von Kunst und Kultur zu politischen Werkzeugen ideologischer Indoktrination und die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 618

Die deutsche Sozialdemokratie hingegen hatte seit ihrer Gründung einen großen Respekt für demokratische Formen und Regeln gehegt und eine parlamentarische Verfassung einschließlich allgemeiner, gleicher, freier und geheimer Wahlen für Männer und Frauen, die es im Kaiserreich noch nicht gab, befürwortet; sie verurteilte die Ausübung politischer Gewalt, und sie respektierte den Rechtsstaat. Wenn deutsche Sozialdemokraten die Klassengesetze des Kaiserreichs anprangerten, so taten sie das in dem festen Glauben, dass in einem wirklichen Rechtsstaat das Recht völlig klassenunspezifisch und neutral funktionieren sollte - im Gegensatz zu der Absicht der Bolschewiki, welche die Unvermeidlichkeit, ja die historische Notwendigkeit von Klassengesetzen begrüßten, mit dem Zweck, diese als Werkzeuge der Herrschaft des Proletariats im sozialistischen Staat zu instrumentalisieren. Kunst und Kultur schließlich waren in der sozialdemokratischen Arbeiterkulturbewegung neutral und allgemeingültig; sie sollten allen Bürgerinnen und Bürgern ohne jede Einschränkung zugänglich gemacht werden und nicht nur einer wohlhabenden bürgerlich- kapitalistischen Elite vorbehalten sein.

Die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung seit Marx hatte, abgesehen von den gerade genannten Aspekten des Kommunismus, durchaus spezifisch deutsche Wurzeln. Trotzdem dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Jahre, bis diejenigen in der SED, die einen spezifisch deutschen Weg zum Sozialismus befürworteten, entweder marginalisiert oder zur Untätigkeit verdammt wurden. Die DDR wurde als Nachahmung der Sowjetunion aufgebaut; ihre Institutionen und Strukturen wurden aus Sowjetrussland importiert; ihre politischen Begriffe, ja die gesamte offizielle und offiziöse Sprache der politischen Eliten wurde sozusagen vom Russischen ins Deutsche übersetzt: Politbüro, Zentralkomitee, Agitprop. Dies widersprach dem Selbstverständnis der deutschen Arbeiterbewegung. Gleich nach dem Kriege hatte die überwiegende Mehrheit der Anhänger der SPD in allen Teilen Deutschlands, sofern sie nicht unter dem direkten und mittelbaren Druck der Besatzungsmacht in der Sowjetzone standen, eine Verschmelzung mit der KPD abgelehnt.

Der Rückhalt des SED-Regimes in der Bevölkerung selbst in dem von der Roten Armee und vom Geheimdienst NKWD beherrschten Gebiet war von Anfang an nicht groß. In den wenigen mehr oder minder freien Wahlen, die in der Sowjetischen Besatzungszone abgehalten wurden, stellte sich schon 1946 heraus, dass die SED wohl niemals eine Chance haben würde, eine absolute Mehrheit der Wählerstimmen für sich zu gewinnen. Der Übergang zur Einheitsliste und die Anwendung von Manipulation, Erpressung und Gewalt gab der SED und den Blockparteien bald die Scheinlegitimation, die sie in den Wahlen suchten. Doch der Volksaufstand von Juni 1953 verlieh den wahren Gefühlen der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung der DDR einen allzu deutlichen Ausdruck. Nach seiner Niederschlagung durch die Rote Armee war klar, dass der Preis für einen erneuten Aufstand sehr hoch sein würde. Noch wichtiger war die Erkenntnis, dass die Westmächte den Aufständischen nicht helfen würden; dafür wäre das Risiko für den Weltfrieden in den ängstlichen Anfängen des Atomzeitalters und des Kalten Krieges zu hoch gewesen.

Die Diktatur der SED, die Herrschaft von Walter Ulbricht und Erich Honecker, war also in erster Linie keine deutsche Diktatur, sondern eine einem Teil Deutschlands oktroyierte Diktatur der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie dauerte über 40 Jahre an, weil die Sowjetunion faktisch das Land weiterhin besetzt hielt, und sie ging deshalb zugrunde, weil die Sowjetunion unter Gorbatschow es für nicht mehr möglich oder ratsam hielt, die Besetzung aufrechtzuerhalten.

Selbstverständlich ist das bei weitem nicht die ganze Geschichte. Begrenzte Selbstbehauptungsversuche gegenüber der Politik der Sowjetunion gab es zu gewissen Zeitpunkten in der Geschichte. Und die DDR war nicht von Anfang an ohne jede Legitimität. Es fehlte auch nicht an Versuchen, die Identifikation der Bevölkerung mit dem Staate zu stärken, nicht nur durch die Erinnerung an die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, sondern in der "Erbe"-Debatte der achtziger Jahre vor allem durch den Versuch, Personen wie Friedrich II. oder Martin Luther für die eigene Geschichte zu reklamieren sowie vergangene Staaten wie vor allem Preußen als Vorläufer des Arbeiter-und-Bauern-Staates darzustellen. Dies geschah aber nur deshalb, weil sie auf dem Gebiet der DDR oder Teilen davon

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 619 existiert hatten. Diese Beschwörungen der Geschichte schlugen ebenso fehl wie der Versuch, ein "DDR-Bewusstsein" durch die Erinnerung an die deutsche Arbeiterbewegung zu kultivieren. Beide Versuche hatten den zwangsläufigen Effekt, die Aufmerksamkeit der DDR-Bevölkerung auf die gesamtdeutsche Geschichte zu lenken. Es war letzten Endes nicht möglich, die Geschichte des Gebietes der DDR aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Preußens oder der Protestanten auf gesamtdeutscher Ebene herauszulösen.

Wenn wir diesen Thesen zustimmen, liegt es sehr nahe, die DDR nicht in erster Linie mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich zu vergleichen, sondern mit den anderen, zur gleichen Zeit von der Sowjetunion beherrschten Ländern Ostmitteleuropas, zum Beispiel mit Polen, Ungarn, Rumänien oder der Tschechoslowakei. Auch hier gab es zu verschiedenen Zeitpunkten Umsturz- oder Reformversuche, etwa 1956 in Polen und Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei. Auch hier wäre es nur möglich gewesen, die Diktatur abzuschütteln, wenn die Sowjetunion sich zurückgezogen hätte. In allen diesen Ländern existierte ein sehr ähnliches, von der sowjetischen Besatzungsmacht aufgezwungenes Herrschafts- und Gesellschaftsmodell, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten und Durchführungsproblemen - zum Beispiel die Existenz der Scheinparteien CDU, LDP, NDP und DBD in der DDR oder der Verzicht auf die Kollektivierung der Agrarwirtschaft in Polen.

Unterschiede wie Gemeinsamkeiten bleiben ein wichtiges Forschungsthema für die vergleichende Geschichtswissenschaft. Drei große Unterschiede ragen schon auf den ersten Blick heraus. Zum einen schien die DDR-Gesellschaft nach 1953 wesentlich stabiler zu sein als andere Gesellschaftsordnungen im Ostblock, etwa in Polen oder in der Tschechoslowakei. Das Oppositionspotenzial der Bevölkerung wurde dadurch vernichtet, dass diejenigen Gruppen, vor allem aus dem Mittelstand und Bürgertum, die dem SED-Regime gegenüber am negativsten eingestellt waren, in Richtung Westen abwanderten. Deswegen war es schon vor dem Mauerbau 1961 denjenigen, die in der DDR geblieben und fast per definitionem mehr oder weniger kompromissbereit waren, möglich, eine relativ gute Karriere zu machen; die Eliten, die den Weg nach oben blockiert hätten, standen ihnen nicht mehr im Wege. Dreißig Jahre später, als die neuen Eliten den Weg für die jüngere Generation versperrten, gab es ein starkes Anwachsen der sozialen und wirtschaftlichen Unzufriedenheit dieser neuen Generationen, denen eine positive Zukunftsperspektive fast gänzlich fehlte. Es bedurfte allerdings des Rückzugs der Sowjetunion, bis diese Unzufriedenheit einen politischen Ausdruck finden und etwas bewirken konnte.

Der zweite Unterschied ist ebenfalls ein gravierender. Die anderen Ostblockstaaten stellten im Gegensatz zur DDR die Fortführung schon etablierter historischer Nationen späteren oder früheren Datums dar, wenn auch mit unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen. Den weit verbreiteten Wunsch nach Auswanderung und die Möglichkeit dazu gab es weder in Polen oder Ungarn noch in der Tschechoslowakei. Politische Instabilität und wiederholte, aber letztendlichvergebliche Demokratisierungsversuche waren die Folge.

Eine dritte wichtige Besonderheit der DDR lag darin, dass sie zunehmend Schwierigkeiten hatte, sich gegenüber der immer stärkeren Anziehungskraft der Bundesrepublik als dem eigentlichen deutschen Nationalstaat zu legitimieren. In den Anfangsjahren war es idealistischen und "progressiven" jungen Deutschen noch möglich, in der DDR den wahren Vertreter des Antifaschismus zu sehen - im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo der Versuch, eine politische und soziale Demokratie aufzubauen, welche die historische Erbschaft des Nationalsozialismus deutlich überwinden sollte, eher zögerlich zu bleiben schien.

Aber die idealistische Identifikation der DDR mit dem Antifaschismus verschwand in dem Maße, in dem sich ein demokratisches Bewusstsein und eine offene und kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der politischen Kultur der Bundesrepublik verankerte. Die politische Verkalkung der DDR-Führung, die in den achtziger Jahren zur Gerontokratie geronnen war, und die hartnäckige Weigerung der Sowjetunion sowohl 1953 als auch danach, demokratische Reformen in der DDR zu dulden, unterminierten und zerstörten schließlich die Hoffnung, dass die DDR sich als Hort antifaschistischer Werte, der Freiheit und der Gerechtigkeit etablieren könnte. Der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 620

Legitimationsverlust nicht nur des SED-Regimes, sondern der DDR als selbständiger Staat wurde immer stärker. Schließlich konnte die DDR dem Einfluss und dem ständigen Beispiel des mächtigen westlichen Nachbarn nicht entkommen. Der Rückhalt des SED-Staates in der DDR-Bevölkerung war nie sehr tief; schon lange vor seinem Ende begann er zu schrumpfen, bevor er schließlich ganz verschwand.

*Anm. der Redaktion: Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung des Eröffnungsvortrages auf der Internationalen DDR-Forschertagung in der Europäischen Akademie Otzenhausen/Saarland, gehalten am 4. November 2004.

"Drittes Reich"

In den ersten Nachkriegsjahren gab es seitens deutscher Historiker wie Gerhard Ritter den Versuch, den Nationalsozialismus als das Ergebnis des Eindringens fremder Einflüsse in die deutsche politische Kultur darzustellen. Allerdings war schon in dem berühmten Essay Friedrich Meineckes "Die deutsche Katastrophe" ansatzweise die These zu finden, dass der Nationalsozialismus einen großen Rückhalt in der deutschen Bevölkerung besessen hatte, eben deshalb, weil er auf bestimmte, weit verbreitete Vorstellungen und Traditionen in der politischen Kultur zurückgreifen konnte.

In den siebziger und achtziger Jahren fand die These eines deutschen "Sonderwegs" unter Historikern breite Zustimmung. In Deutschland, so hieß es, habe im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein autoritäres Regime geherrscht, das - anders als in den vermeintlich fortgeschritteneren, moderneren europäischen Ländern - von charismatischer Herrschaft, von einem durch die uneingeschränkte Macht der preußischen Armee geprägten Militarismus, einer starken Beamtenschaft und einem schwachen Parlament geprägt gewesen sei. Dieses autoritäre Regime habe versucht, oppositionelle Strömungen wie den Sozialismus zu unterdrücken und als Staatsfeind abzustempeln - was leicht fiel angesichts einer nur schwachen Tradition des politischen Liberalismus und eines Nationalismus, der sich allmählich in gefährlicher Weise zu Imperialismus, Rassismus und Eroberungslust entwickelte.

Während der dreißiger Jahre gewann der Nationalsozialismus nicht zuletzt deshalb eine große Anhänger- und Wählerschaft, weil er an diese Traditionen der politischen Kultur anknüpfen konnte. Zwar vermochte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, ähnlich wie die SED, in freien Wahlen keine absolute Mehrheit für sich zu gewinnen. Aber die Bereitschaft der politischen, sozialen und kulturellen Eliten, mit den Nationalsozialisten zu paktieren, war Ausdruck weit reichender ideologischer Gemeinsamkeiten. Auch die vielen Kontinuitäten - persönliche, institutionelle, kulturelle und soziale, die vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in die nationalsozialistische Zeit reichten - verliehen dem NS-Regime eine viel größere Legitimität, eine viel tiefere Verwurzelung im politischen Bewusstsein der Bevölkerung, als es die DDR je erreichen konnte. Selbst alte Sozialdemokraten begeisterten sich laut Berichten der Sopade, der sozialdemokratischen Exilorganisation, für außenpolitische Leistungen wie die Remilitarisierung des Rheinlandes oder den Anschluss Österreichs. Die vielen Kontinuitäten des sozialen Lebens und der sozialen Strukturen, das Fehlen einer sozialen Revolution, zumindest nach sowjetischem Muster wie später in der DDR, schien einer Mehrheit der Bevölkerung zu signalisieren, dass - zumindest bis 1939 - das Alltagsleben weiterging wie zuvor.

Trotzdem ist in der Sonderwegsdebatte jene These, welche die Besonderheiten Deutschlands im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert betont, überzeichnet worden. Viele Elemente des von Bismarck geschaffenen Deutschen Reiches konnte man mehr oder minder ausgeprägt auch in anderen Ländern beobachten. In Italien gab Garibaldi, der charismatische Anführer jenes Volksheers, das Italien 1859 einigen half, ein Vorbild für den späteren Diktator Mussolini ab. Auch in Spanien wurde - wie in Deutschland - die Armee nicht vom Parlament kontrolliert. In Italien, wie im Deutschen Reich, war sie nicht dem Parlament, sondern unmittelbar dem Souverän unterstellt. In Österreich-Ungarn waren das Beamtentum ähnlich stark und die parlamentarischen Institutionen in ihrer Macht ähnlich beschränkt wie in Deutschland. Im zaristischen Russland wurde der imperiale Gedanke auch auf die Innenpolitik

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 621 und auf Russlands Beziehungen zu seinen unmittelbaren Nachbarn übertragen. Das zaristische Regime unterdrückte die Sozialisten viel gnadenloser, als es in Deutschland jemals der Fall war, und stand den deutschen Behörden in nichts nach, was den Willen zur zwangsweisen Assimilation der Polen betraf. Der Liberalismus war 1914 nicht nur im Kaiserreich, sondern in allen größeren Staaten Ost- und Mitteleuropas mit Ausnahme Böhmens schwach entwickelt. Die politischen Parteien und Gruppierungen waren in Italien noch gespaltener als in Deutschland. Die Überzeugung, dass Krieg zur Erlangung politischer Ziele gerechtfertigt sei, wurde von vielen europäischen Mächten geteilt, wie der Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914mit erschreckender Deutlichkeit zeigte. Allerdings muss man konstatieren, dass inkeinem anderen Land Europas alle diese Bedingungen gleichzeitig und in demselbenAusmaß wie in Deutschland gegeben waren.

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte es die Demokratie fast überall in Europa schwer, sich zu behaupten. Verletzte Nationalgefühle, der Glaube - selbst in einer Siegernation wie Italien - den Krieg verloren zu haben, der Aufstieg eines radikalen Nationalismus, der darauf aus war, Minderheiten zu unterdrücken und Krieg als Mittel der nationalen Selbstbehauptung zu verwenden, vor allem vielleicht aber die Angst vor einer Verbreitung der bolschewistischen Revolution in Richtung Westen nährten die Verachtung für die vermeintlich schwache politische Führung der Demokratien. So wich der Parlamentarismus in vielen Ländern faschistischen, militärischen oder autoritären Diktaturen. Zwischen 1918 und 1939 kamen in Polen, Ungarn, Litauen, Estland, Lettland, Rumänien, Griechenland, Portugal, Spanien, Italien, Deutschland, Österreich und Jugoslawien autoritäre oder diktatorische Führer an die Macht, unter ihnen später so bekannte Figuren wie Mussolini, Franco, Dollfuss, Metaxas, Salazar und Pilsudski. Schon Mitte der dreißiger Jahre waren parlamentarische Demokratien eher die Ausnahmen unter den politischen Systemen auf dem europäischen Kontinent.

So war auch die Unterdrückung der persönlichen und bürgerlichen Freiheiten, die das "Dritte Reich" in Deutschland kennzeichnete, nichts Ungewöhnliches im Europa der Zwischenkriegszeit. Man könnte vielleicht einwenden, dass der Kern des nationalsozialistischen Regimes seine Rassenpolitik war. Aber auch hier, im europäischen Vergleich, ragte das "Dritte Reich" zumindest bis zum Ausbruch des Krieges nicht so deutlich heraus, wie oft behauptet wird. So war zum Beispiel der Antisemitismus, wie er von den Nationalsozialisten und der deutschen Regierung bis September 1939 propagiert und praktiziert wurde, keine einmalige Erscheinung, vor allem wenn man die antisemitische Politik anderer mittel- und ostmitteleuropäischer Länder in Betracht zieht.

In Polen, vor allem nach dem Tode des Marschalls Pilsudski und der Machtübernahme eines Militärregimes, entfaltete sich ein Antisemitismus, der mit breiter Zustimmung rechnen konnte. Von 1936 bis 1939 wurden mehr als 150 Pogrome oder gewalttätige Zwischenfälle gemeldet, wobei mindestens 350 Juden getötet und mehrere hundert verletzt wurden. Die Regierung kam dem Druck der antisemitischen, rechtsradikalen Opposition dadurch entgegen, dass sie den Anteil der jüdischen Studenten an den Hochschulen von 25 auf 8 Prozent reduzierte, jüdischen Beamten kündigte, einen Numerus clausus für jüdische Ärzte und Rechtsanwälte erließ, das Schächten verbot und 1938 weitere Maßnahmen erwog, um die jüdische Minderheit zu marginalisieren. Der Versuch der polnischen Regierung, die Zustimmung der Westmächte für eine massenhafte, forcierte Emigration der polnischen Juden zu gewinnen, war ein Hauptgrund der Einberufung der Internationalen Konferenz zur Migrationsfrage in Jahre 1938 in Evian. Zur gleichen Zeit verhandelte die polnische Regierung ohne Ergebnis mit der französischen Regierung über einen möglichen massenhaften Bevölkerungstransfer der polnischen Juden zur Insel Madagaskar, die damals französischer Kolonialbesitz war.

Unter der autoritären Herrschaft des Admirals Horthy wurde im Mai 1938 in Ungarn das so genannte Erste Jüdische Gesetz verabschiedet, wobei ein Numerus clausus für den Anteil der Juden im Berufsleben festgesetzt wurde. Kurz danach folgte das Zweite Jüdische Gesetz, worin der Anteil auf lediglich sechs Prozent festgelegt wurde und das den Juden verbot, als Lehrer, Offiziere, Beamte, Zeitungsredakteure oder Theaterintendanten zu fungieren. Anders als in Polen galten diese Gesetze auch für getaufte Juden, waren also eher rassistisch als religiös geprägt. Ähnliche Gesetze traten in Rumänien kurz vor der Machtübernahme des Königs Carol in Kraft; unter seiner 1938 etablierten

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 622

Diktatur wurde bis September 1939 mindestens 270 000 von insgesamt etwa 750 000 Juden das Bürgerrecht aberkannt, und die Regierung erwog ernsthaft, eine eigene Version der Nürnberger Rassegesetze einzubringen.

Der Prozess der Entrechtung der jüdischen Minderheit ging in Deutschland zweifellos weiter als anderswo. Nur in Deutschland wurden Gesetze, die sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nicht- Juden verboten, tatsächlich eingeführt; nur in Deutschland wurde ein Pogrom zentral, von der herrschenden Clique, inszeniert; nur in Deutschland wurden Eigentum und Lebensunterhalt der Juden durch die so genannte Arisierung der Wirtschaft systematisch vernichtet; nur in Deutschland wurde mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung ins Ausland vertrieben. Aber das Beispiel der antisemitischen Politik des "Dritten Reichs" übte Vorbildfunktion auf die Regierungen mehrerer Nachbarländer aus.

Auch in anderen Aspekten nationalsozialistischer Politik bis September 1939 wird aus dem Vergleich mit anderen Ländern ersichtlich, dass das "Dritte Reich" während der ersten Hälfte seiner Existenz durchaus kein Unikum war. Zwar wurden zum Beispiel 50 000 Homosexuelle unter dem Paragraphen 175 des Reichsstrafgesetzbuches, zum Teil in einer verschärften Fassung, verhaftet und zwei Drittel von ihnen verurteilt; nach Verbüßung ihrer Strafe wurden sie regelmäßig sofort wieder verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Doch polizeiliche Schikanen und die gesellschaftliche Diskriminierung von Homosexuellen gab es überall. Und selbst in der gleichfalls zwölfjährigen Periode von 1953 bis 1965 in der alten Bundesrepublik wurden fast 100 000 Männer unter dem gleichen Paragraphen vor Gericht gestellt, wovon etwa die Hälfte verurteilt wurde; zur gleichen Zeit untersuchte die Polizei in England etwa 3500 angebliche Fälle illegaler homosexueller Betätigung pro Jahr.

Die Sterilisierung so genannter Erbkranker im nationalsozialistischen Deutschland erfasste insgesamt etwa 360 000 Menschen, aber im Vergleich zur Bevölkerungszahl waren das kaum mehr als in Norwegen, wo 40 000 Menschen unfruchtbar gemacht wurden, oder in Schweden, wo 63 000 betroffen waren. Auch in Schweden waren unter anderem rassische Gründe maßgebend, die auch so genannte Zigeuner (bzw. Sinti und Roma) erfassten; im Übrigen war die meist polizeiliche Verfolgung der Zigeuner in Deutschland bis September 1939 durchaus mit ihrer Verfolgung in anderen europäischen Ländern vergleichbar, wenn auch das Einsperren in besondere Lager unter denkbar schlechtesten Umständen nur im "Dritten Reich" stattfand.

Deutsche Diktaturen?

Die Ähnlichkeiten zu anderen europäischen Staaten enden natürlich mit der weiteren Entwicklung der Politik des "Dritten Reiches" während des Zweiten Weltkriegs. Es gab keine Parallele in diesen Ländern zu der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten in den Jahren 1939 bis 1945. Selbst in Rumänien, wo es zu großen, einer Eigendynamik unterliegenden Vernichtungsaktionen gegen die Juden kam, gab es seitens der Regierung keinen Versuch, die Gesamtheit der rumänischen Juden ausnahmslos zu töten. Antisemitische Morde in anderen europäischen Ländern fanden überall unter dem starken Druck des "Dritten Reiches" statt, aber selbst ein antisemitisches, autoritäres Regime wie das ungarische weigerte sich trotz wiederholten Drängens bis zum Einmarsch deutscher Truppen, die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Ungarns in die Vernichtungslager abzutransportieren. Mehrere Länder haben so genannte Erbkranke und Asoziale sterilisiert, aber nur das "Dritte Reich" hat sie planmäßig ermordet. Das Gleiche gilt für Sinti und Roma, für Homosexuelle und für andere Gruppen. Anders als diese Länder war das "Dritte Reich" eine führende europäische Macht, und sein Versuch, seine Vernichtungspolitik europaweit zu verwirklichen, war einmalig. Schließlich finden sich sowohl für die Ermordung von mehr als dreieinhalb Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen seitens der Nationalsozialisten und der Wehrmacht als auch für die Bereitschaft, bis zu dreißig Millionen Slawen im Falle eines gewonnenen Krieges zu töten oder verhungern zu lassen, ebenfalls keine Parallelen in der Kriegs- und Eroberungspolitik anderer Länder, auch wenn die Bedingungen der

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 623

Kriegsgefangenschaft vieler deutscher Soldaten, etwa derjenigen, die in Stalingrad gefangen genommen wurden, so hart waren, dass sehr viele von ihnen nie mehr in die Heimat zurückkehrten.

Die Mordlust des nationalsozialistischen Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs kam nicht von ungefähr. Gewalt, Gewalttätigkeit, ja ungezügelter Hass gegen den tatsächlichen oder nur vorgeschobenen Feind gehörten zu den Charakteristika des Nationalsozialismus wie die Vorbereitung und Durchführung des Krieges, der, als radikaler Rassen- und Ideologiekrieg konzipiert, das A und O der Innen- und Außenpolitik des Dritten Reiches war. Andere europäische Länder, wie z.B. Ungarn, schauten begierig auf das Territorium der Nachbarn und bereiteten die Erweiterung der eigenen Gebiete vor, die dann schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als Teil der Aufteilung der Tschechoslowakei tatsächlich stattfand. Aber kein anderes Land strebte die Eroberung fast des gesamten Kontinents oder die rassische Neuordnung ganz Europas mit brutalsten und mörderischsten Mitteln an, wie es das nationalsozialistische Deutschland tat.

Wenn wir von der Vernichtungspolitik sprechen, liegt der Vergleich mit der Sowjetunion vor allem unter Stalins Herrschaft auf der Hand. Schon 1918 im Zuge des Roten Terrors wurden Arbeitslager errichtet. Oppositionelle wurden verhaftet, gefoltert, eingesperrt; im Laufe des Bürgerkrieges wurden zahlreiche Menschen in grausamster Weise zu Tode gemartert. Unter Stalins Herrschaft, vor allem nach der Ermordung Kirows im Jahre 1934, richtete sich der Terror zunehmend gegen die Bolschewiki selbst. Während der stalinistischen Säuberungen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, also zwischen 1929 und 1953, wurden nach zuverlässigen Schätzungen mehr als 750 000 Menschen hingerichtet; 2 750 000 starben in den Lagern. Die Selbstzerfleischung des stalinistischen Systems hatte keine Parallele im Nationalsozialismus; selbst die Ermordung Röhms und anderer führender Männer der SA Ende Juni/ Anfang Juli 1934 fand als Teil einer Stabilisierung des Regimes statt. Danach blieb die Führungsgruppe des "Dritten Reiches" fast bis zum Ende mehr oder minder stabil. Diejenigen, wie Blomberg, Fritsch oder Neurath, die aus ihren Ämtern gejagt wurden, durften in den Ruhestand gehen, fielen also nicht, wie es in der Sowjetunion zweifellos der Fall gewesen wäre, dem Genickschuss des Henkers zum Opfer.

Die Gewalttätigkeit der Nationalsozialisten richtete sich also hauptsächlich gegen Außenseiter, kurz, gegen Minderheiten in der eigenen und in anderen Gesellschaften, während sich die Gewalttätigkeit der Bolschewiki hauptsächlich gegen den inneren Feind richtete. Im Laufe des Krieges entfaltete die Wehrmacht außerdem eine Vergeltungs- und Abschreckungspolitik gegen die angeblich Partisanen unterstützende Zivilbevölkerung, die ihresgleichen selbst angesichts des äußerst brutalen Vorgehens der Roten Armee in den letzten Stadien des Krieges sucht. Massenmorde gab es sicher, von Katyn bis zu den Lagern des NKWD, aber sie sind nicht mit den genozidalen Massenmorden der Nationalsozialisten vergleichbar.

Entscheidend war die Tatsache, dass sich das stalinistische System im Laufe des Kriegs als vermeintliche Notwendigkeit angesichts eines unerbittlichen Feindes stabilisieren musste. Vor allem nach dem Tode Stalins wurde die Folter- und Tötungsmaschinerie, die in den späten dreißiger Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatte, allmählich abgebaut. Die Außenpolitik der Sowjetunion nach 1945 war vor allem defensiv: Im Gegensatz zur rasenden und schließlich selbstzerstörerischen Selbstradikalisierung des "Dritten Reiches" versank die Sowjetunion in der zweiten Phase ihrer Existenz in eine starre, verkalkte Routine. Sie war nicht mehr reformfähig und nur noch darauf gerichtet, das System aufrechtzuerhalten und gegen die Verlockungen des Kapitalismus zu verteidigen.

Die Geschichte der DDR gehört zu dieser zweiten, stabilen Phase der Geschichte des Sowjetkommunismus, auch wenn Ulbricht und mehrere seiner Genossen bereits in den Säuberungen der Zwischenkriegszeit eine zwielichtige Rolle gespielt hatten. Deshalb ist die DDR für den Vergleich zwischen rechts- und linkstotalitärer Diktatur wenig tauglich, denn es fehlte ihr weitgehend die Dynamik, die zum Totalitarismus gehört, eine Dynamik, die in der Sowjetunion der dreißiger Jahre noch so bemerkenswert war. Mit anderen Worten: Der Vergleich zwischen zwei Herrschafts- und Gesellschaftssystemen muss auch ein historischer Vergleich sein, er muss die veränderten Umstände,

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 624 die das Jahr 1945 brachte, in Betracht ziehen, er muss dem Einfluss der kollektiven Erinnerung an die nationalsozialistische Zeit auf die spätere (SED-)- Diktatur gerecht werden.

In gewissem Sinne existierte die DDR überhaupt nur deshalb, weil die Sowjetunion eine Wiederholung des nationalsozialistischen Krieges fürchtete. Der Krieg ist schließlich der Faktor, der den Vergleich der beiden Diktaturen, die auf deutschem Boden errichtet wurden, am meisten erschwert. Das Fehlen fast jeglichen Widerstandes der Bevölkerung der DDR gegen den Untergang ihres Staates steht in bemerkenswertem Kontrast zur Beharrlichkeit des Weiterkämpfens der Bevölkerung des "Dritten Reiches" auch in den letzten, hoffnungslosen Monaten des Zweiten Weltkrieges.

Das "Dritte Reich" legitimierte sich unter anderem dadurch, dass es sich mit der gesamten deutschen Nation identifizierte: Eher Patriotismus als nationalsozialistische Überzeugung war es, was viele Deutsche dazu motivierte, den Krieg wenn nicht zu begrüßen, sodoch bis zum Ende durchzustehen. Sie kämpften nicht nur für Hitler, sondern auch, vor allem in den späteren Kriegsphasen, für Deutschland. Es gelang den Nationalsozialisten, ihre Interessen als weitgehend identisch mit den Interessen der Deutschen überhaupt darzustellen. Der DDR-Elite hingegen sollte es nie gelingen, für ihre Diktatur breite Legitimität zu gewinnen, und schon gar nicht, ihren Staat als Sachwalter der Interessen der deutschen Nation zu legitimieren.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 01-02/2005) - Zwei deutsche Diktaturen im 20. Jahrhundert?Essay (http://www.bpb.de/apuz/29298/zwei-deutsche-diktaturen-im-20-jahrhundert- essay)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 625

Keine gemeinsame Erinnerung

Von Annette Leo 23.4.2005

Dr. phil., Historikerin, geb. 1948; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.

Anschrift: Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin.

E-Mail: [email protected]öffentlichungen u.a.: (Hrsg. zus. mit Peter Reif-Spirek) Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999; (zus. mit Bernd Faulenbach und Klaus Weberskirch) Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein bei Arbeitnehmern in Ost und West, Essen 2000; (Hrsg. zus. mit Peter Reif-Spirek) Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2000.

Die "Mauer in den Köpfen" trennt auch die Erinnerungen an den Nationalsozialismus. Der ostdeutsche Staat sah sich als Erbe des kommunistischen Widerstands. Im Westen erschienen Stasi und Gestapo austauschbar. Seit der Wiedervereinigung stoßen beide Bilder aufeinander – und zwingen zum schmerzhaften Umdenken.

Einleitung

Über die fortbestehende "Mauer in den Köpfen" wird periodisch immer wieder öffentlich geklagt. Während der zahlreichen Veranstaltungen anlässlich des 50. Jahrestages des 17. Juni 1953 gerieten die unterschiedlichen Erfahrungen und auch der sehr unterschiedliche Umgang mit diesem Ereignis in Ost und West so deutlich wie selten in den Blick. Eine intensive Beschäftigung mit den Erinnerungsmustern der ehemaligen DDR-Bürger und der Alt-Bundesbürger würde einen Schlüssel für viele gegenwärtige Verständigungsprobleme liefern. Vor allem an der Beurteilung und Deutung der DDR-Geschichte entzünden sich immer wieder Kontroversen. Im Sommer war das anlässlich der Präsentation einer DDR-Kunstschau in der Neuen Nationalgalerie in Berlin aufs Neue zu erleben. Aber auch die Zeit des Nationalsozialismus, die schließlich ein zentrales Stück gemeinsamer deutscher Vergangenheit darstellt, wird durchaus nicht gemeinsam erinnert.

Dieser Text fußt auf Ergebnissen verschiedener Recherchen und Interviewprojekte.[1] An zwei von ihnen war die Autorin beteiligt. Eine Schnittstelle dieser Studien bilden die Erfahrungen der Befragten in der DDR und ihre Erfahrungen mit den Erinnerungen an die DDR nach der historischen Zäsur von 1990. Welche Spuren finden sich im heutigen Bewusstsein? Eine weitere Schnittstelle ist der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der sich vor allem in den neuen Ländern verändert hat, seitdem es die DDR und ihre prägende Geschichtspolitik nicht mehr gibt.

Geschichtsbewusstsein wird hier verstanden als Gesamtheit der Formen und Inhalte des Denkens, mit denen sich eine Gruppe von Menschen in die Zeit einordnet, mit der Vergangenheit in Beziehung setzt und sich in der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft orientiert. Der Historiker Jörn Rüsen hat Geschichtsbewusstsein als "Inbegriff der mentalen Operationen" definiert, "mit denen Menschen ihre Erfahrungen vom zeitlichen Wandel in ihrer Welt und ihrer selbst so deuten, dass sie ihre Lebenspraxis in der Zeit absichtsvoll orientieren können"[2]. Ein so verstandenes Geschichtsbewusstsein ist also weit mehr als Wissen von der Geschichte, mehr auch als die Summe individueller, vergangener Erfahrungen. Der Bezugspunkt, von dem aus Geschichte betrachtet und das eigene Selbstverständnis definiert wird, ist stets die Gegenwart. Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein nehmen ebenso die individuellen Erfahrungen wie das sich wandelnde kollektive Selbstverständnis einer Gruppe, Nation

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 626 oder Generation.

Der ostdeutsche Staat entwickelte ein propagandistisch und ideologisch stark aufgeblähtes, offizielles Selbstverständnis, mit dem sich möglichst alle Bürger identifizieren sollten. Seit 1990 hat sich die Sicht auf die DDR-Vergangenheit sehr gewandelt. Einerseits verfügt die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt über sehr viel mehr präzises Wissen über Machtstrukturen und -mechanismen, über Repression und Überwachung, andererseits gibt es im Osten Tendenzen von Nostalgie, partieller Verklärung und natürlich von Verteidigung des eigenen gelebten Lebens. Das ist alles historisch noch sehr nah und sehr fragmentiert.

Über die Geschichte der DDR existiert kein kollektives Selbstverständnis in der neuen Bundesrepublik. Es gibt keinen Konsens über ihre Beurteilung, über ihre Einordnung in den deutschen und europäischen Kontext. Das macht auch die Schwierigkeit von Erinnerungsarbeit aus. Der Dissens über zentrale Fragen - etwa, ob die DDR von Anfang an und in jeder Phase ein von außen aufgezwungenes, zum Scheitern verurteiltes System war; ob sie vor allem von ihrer diktatorischen Seite definiert werden kann; welche Rolle dabei die Alltagserfahrungen der Individuen spielen, die in ihrer Mehrheit weder Täter noch Opfer von Repression waren; ob die Zweistaatlichkeit nur eine Episode in der Geschichte war oder ein wichtiger Zeitabschnitt - teilt keineswegs nur die Ost- und Westdeutschen, sondern verläuft, je nach politischer Verortung und Vorerfahrungen, quer durch diese Gruppen. Aber am deutlichsten spaltet er die Gesellschaft in ehemalige Ost- und Westdeutsche, weil es um unterschiedliche Lebenserfahrungen geht: um die Auf- oder Abwertung gelebten Lebens.

Das Erlebnis eines Bruchs

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Befragungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Ost und West ist deshalb beinahe eine Binsenweisheit: Der deutlichste Unterschied zeigt sich nicht bei den Erfahrungen in den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten in Ost und West, etwa hinsichtlich sozialistischer oder demokratischer Erziehung, unterschiedlicher Erfahrungen im Berufsleben, Qualifizierungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten, Emanzipation der Frau. Er liegt im Erlebnis eines tiefen Bruches auf der ostdeutschen Seite, der das ganze bisherige Leben infrage stellt, und das Erlebnis einer zumindest scheinbar ungebrochenen Kontinuität auf der westdeutschen Seite.

Daraus resultiert unter anderem eine unterschiedliche Erzählfreude. Bei unseren ostdeutschen Gesprächspartner/innen trafen wir auf ein viel größeres Darstellungs- und Rechtfertigungsbedürfnis als bei ihren westdeutschen KollegInnen. Auch der Wunsch, sich beim Erzählen der eigenen Biografie, in der so vieles nun infrage gestellt ist, zu vergewissern, ist bei ihnen viel ausgeprägter. Bei den westdeutschen Gesprächspartner/innen war die Bereitschaft geringer, sich einem solchen Gespräch zu stellen. Die Betreffenden haben keinen so offensichtlichen Bruch erlebt, der das eigene Leben in ein Vorher und Nachher teilte. Sie betrachten ihr Leben als Ergebnis vorwiegend individueller Erfahrungen. Gruppenerfahrungen oder gar politische Rahmenbedingungen, die das Geschehen beeinflusst haben könnten, werden seltener thematisiert, sodass es ihnen letztlich auch weniger "erzählenswert" erscheint. Außer den älteren Befragten, die den Krieg erlebt haben, hat offenbar niemand das Gefühl, über so etwas wie "Schicksal" zu verfügen. Die Ostdeutschen dagegen haben durch den biografischen Bruch eigentlich alle ein "Schicksal" erhalten, das sie zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte antreibt, aber auch zur Abwehr gegenüber beunruhigenden Erinnerungen und zur Neukonstruktion einer kohärenten biografischen Erzählung.

Die Äußerungen von West- und Ostdeutschen über die DDR unterscheiden sich durch ihre grundlegend verschiedenen Erfahrungs- und Bewertungsebenen. Während die einen die DDR vorwiegend von außen sehen - die Innensicht stammt meist nur von gelegentlichen Besuchen -, bedeutet sie für die anderen den größten Teil ihres bisherigen Lebens. Westdeutsche meinen, wenn sie über die DDR sprechen, vorwiegend das sozialistische System mit seinem Machtapparat, während die Ostdeutschen

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 627 meist ihre Lebenswelt in den Vordergrund stellen. In beiden Gruppen gibt es jeweils ein Spektrum verschiedener Auffassungen, wobei die wenigen kritisch bis oppositionell eingestellten ostdeutschen Gesprächspartner/innen der westdeutschen Sicht am nächsten kommen, während die wenigen linkssozialistisch gestimmten Gewerkschafter aus der alten Bundesrepublik in mancher Hinsicht Affinitäten zur Ostsicht erkennen lassen.

Freiheit versus Sicherheit

Einen der gravierendsten Unterschiede in der Bewertung konnten wir im Hinblick auf Demokratie und Freiheit konstatieren. Die befragten Ostdeutschen ignorieren dieses Thema überwiegend. Beispiele von Repression und Überwachung werden nur von den wenigen GesprächspartnerInnen erinnert, die dem System kritisch oder zumindest distanziert gegenübergestanden haben. Bei der Beschreibung des eigenen Lebens in der DDR werden solche Aspekte fast ausschließlich in der Verteidigung gegen eine als fremd empfundene Sicht im Rahmen des gegenwärtigen Diskurses erwähnt: "Die Mauer war zwar schmerzlich, aber sie hat unsere heile Welt geschützt"; "wir hatten zwar die Stasi, aber konnten uns abends auf die Straße trauen."

Für die Interviewpartner/innen aus dem Westen dagegen stehen Demokratie und Freiheit bzw. deren Mangel in der DDR im Vordergrund ihrer Wahrnehmung und Bewertung. Alle anderen Beobachtungen werden diesem Gesichtspunkt untergeordnet. Es verwundert deshalb nicht, dass bei Gesprächspartner/innen aus der alten Bundesrepublik die Bereitschaft zu beobachten ist, die Verhältnisse in der DDR mit denen des "Dritten Reiches" zu vergleichen und bisweilen sogar gleichzusetzen, während die Befragten aus der DDR, zumindest die Nachkriegsgenerationen, schon den Vergleich generell als unzulässig ablehnen.

Im Vordergrund der Äußerungen aus dem Osten stehen soziale Sicherheit und Fürsorge, in erster Linie die Sicherheit der Arbeitsplätze. Das gipfelt häufig in dem Bild von einer solidarischen Gemeinschaft im Betrieb und im Wohngebiet, wo die Leute füreinander da waren, da sie gleiche Interessen hatten und unter etwa gleichen sozialen Bedingungen lebten. Angesichts des zunehmenden Zerfalls dieser Gemeinschaft in Individuen mit unterschiedlichen Interessen wurde dieses Bild in den Gesprächen häufig beschworen. Natürlich muss man sich die Frage stellen, ob das tatsächlich immer so erlebt wurde, oder ob es sich hier nicht eher um ein "nachträgliches Bewusstsein" handelt, um ein rückprojiziertes Gegenbild zur Gegenwart.

Soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung, mehr noch die Kinderbetreuung spielen auch im DDR-Bild unserer westdeutschen Interviewpartner und -partnerinnen eine Rolle. Sie werden überwiegend positiv bewertet. Solche sozialen Bedingungen wünschen sich viele in ihrem eigenen Lebensbereich. Allerdings werden auch die Schattenseiten gesehen: wirtschaftliche Ineffizienz, staatlich reglementierte Kindererziehung, überhaupt das staatlich reglementierte Leben.

Eine historische Entwicklung der DDR mit unterschiedlichen Phasen sehen die Befragten aus den alten Bundesländern überwiegend nicht. Für sie blieb die DDR von ihrem Beginn bis zum Ende im Wesentlichen unverändert. Das zeugt natürlich vor allem von zu geringen Geschichtskenntnissen, um zeitliche Differenzierungen vorzunehmen. Dagegen unterscheiden die Interviewpartner/innen aus dem Osten Phasen der DDR-Geschichte, deren Einteilung und Bewertung vor allem von der Generationszugehörigkeit und den individuellen Lebenserfahrungen bestimmt wird. So kam es vor, dass etwa die fünfziger Jahre, ebenso wie die achtziger Jahre kurz vor der "Wende", sowohl als "schlimmste Zeit" angesehen werden als auch als jeweils "schönste Zeit", weil man noch Ideale hatte oder weil sich Zwänge zu lockern begannen.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 628 Die Ursachen des Scheiterns

Unterschiedliche Antworten gibt es auf die Fragen, ob die DDR ein sozialistischer Staat gewesen ist und woran sie letztlich scheiterte. Hier allerdings verläuft die Trennungslinie der Bewertungen nicht durchgängig zwischen Ost und West. Vor allem diejenigen Gesprächspartner/innen, die an ihrer Vision von einer gerechteren Gesellschaft festhalten wollen, so verschwommen sie auch sein mag, haben ein großes Bedürfnis, einen Unterschied zwischen dem DDR-System und dem eigenen sozialistischen Ideal zu behaupten. Sie sind der Meinung, dass die Grundidee von einer Funktionärsbürokratie verfälscht worden sei. Allerdings sind zum Beispiel die sozialdemokratischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus der alten Bundesrepublik überwiegend davon überzeugt, dass letztlich Sozialismus und Diktatur nicht miteinander vereinbar seien, während die Interviewpartner/innen aus dem Osten eher von Fehlern und Entgleisungen der Politiker sprechen. Für eine Minderheit von Befragten, vor allem aus der alten Bundesrepublik, sind Diktatur und Zwang dagegen dem sozialistischen System immanent, das Scheitern der DDR war deshalb folgerichtig und von Anfang an vorbestimmt.

Diejenigen Interviewpartner/innen, welche die DDR als Gesellschaft ansehen, in der eine ursprünglich akzeptable Idee verfälscht worden bzw. entgleist ist, machen - je nach persönlicher Erfahrung und politischem Standort - durchaus unterschiedliche Ursachen für den Zusammenbruch 1989 verantwortlich. Die Skala reicht von der Starrheit der überalterten Funktionäre bis zur allgemeinen Unzulänglichkeit des Menschen, der für ein solches Modell eben zu egoistisch sei. Die meistgenannten Ursachen sind jedoch wirtschaftliche Ineffizienz (Ost-Befragte) und fehlende Freiheiten (Befragte aus dem Westen). Es gibt aber auch Gesprächspartnerinnen und -partner aus der Nachkriegsgeneration Ost, die ratlos vor dieser Frage standen. Damit quäle sie sich seit 1990, bekennt etwa eine Mutter von fünf Kindern und Meisterin im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, Jahrgang 1942, SED-Mitglied. Für sie bedeutete das Ende der DDR gleichzeitig das Ende ihrer Berufstätigkeit. Sie grüble darüber nach, was schief gelaufen sei, aber sie komme zu keinem Ergebnis.

Geteilte Erinnerung an den Nationalsozialismus

Über die Geschichte von SBZ und DDR gibt es keinen Konsens der Erinnerung - nicht zwischen Ost und West, auch nicht in jedem Fall unter den Ostdeutschen, nicht einmal unter ehemaligen Bürgerrechtlern, wie die Kontroversen der vergangenen Jahre zeigen. Wie verhält es sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus? Hier ist eine Spaltung des Bewusstseins zu registrieren, die aus der Zeit der Teilung, des Kalten Krieges, der Blockauseinandersetzung stammt, als sich jede Seite des Geschichtsbildes und der Abgrenzungsargumente bediente, die der Bestätigung des eigenen Systems dienten. Das gegenseitige Aufeinanderbezogensein hörte aber spätestens in den achtziger Jahren auf. In der alten Bundesrepublik entfaltete sich, begleitet von vielen öffentlichen Debatten und einer Geschichtsbewegung von unten, ein differenziertes Bewusstsein von der NS-Vergangenheit, das die Projektionen des Kalten Krieges hinter sich ließ und alle Teile des Widerstandes und die meisten Verfolgtengruppen nach und nach einbezog. In der DDR war die Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit und das Gedenken an die ermordeten Widerstandskämpfer ein wichtiger Bezugspunkt gesellschaftlichen Erinnerns. Das auf Legitimation des eigenen Systems ausgerichtete, sehr einseitige Vergangenheitsbild blieb jedoch mit geringen Modifikationen bis 1989 erhalten, ebenso wie die Fixierung auf das Gegenmodell Bundesrepublik.

Der Historiker Jürgen Kocka spricht davon, dass die NS-Diktatur für die Ostdeutschen "anscheinend eine weniger zentrale, weniger prägende Rolle" spiele als für die Westdeutschen, die darin ein negatives Bezugssystem sehen, "an dem sie die eigene Gesellschaft messen und beurteilen"[3]. Dieser Unterschied in der Gewichtung hat zweifellos mit einem Umstand zu tun, auf den Kocka ebenfalls hinweist: Aufgrund des Antifaschismus-Konzeptes der DDR, das den Faschismus vor allem als extremste Form des Kapitalismus deutete, sahen sich die DDR-Bürger nicht in der Nachfolge des

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 629

"Dritten Reiches". Sie verstanden das belastende NS-Erbe nicht als Teil ihrer eigenen Geschichte, sondern als etwas weit Entferntes, das mit ihnen nicht viel zu tun hatte.

Zu ähnlichen Befunden kam auch unsere Studie über das Geschichtsbewusstsein, wobei man nach Generationen differenzieren muss. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Gespräche mit ehemaligen DDR-Bürgern. Ein solches "Losgelöstsein" von der belastenden Vergangenheit ließ sich am deutlichsten in Interviews mit den Vertretern der ersten Nachkriegsgeneration feststellen. Die älteren Gesprächspartner der Kriegsgeneration und die jüngeren der zweiten Nachkriegsgeneration hatten die "antifaschistische" Erziehung keineswegs uneingeschränkt verinnerlicht. Die Älteren beriefen sich vielmehr auf ihre eigenen, widersprüchlichen Erinnerungen an diese Zeit, die sich nicht völlig umdeuten ließen. Bei den Jüngeren hatte die Bindekraft der offiziellen Ideologie weitgehend nachgelassen, und das Identifikationsangebot des Antifaschismus zeigte weniger Wirkung. Die Aussagen der Vertreter der zweiten Nachkriegsgeneration ähnelten übrigens denen ihrer Altersgenossen aus der alten Bundesrepublik. Bei ihnen stellten wir fast gleichermaßen die Abwehr von tatsächlichen oder vermeintlichen Schuldvorwürfen fest, denen sie sich als Deutsche ausgesetzt sahen. Sie sprachen ebenso den Wunsch aus, dass endlich Schluss sein müsse mit der Erinnerung an die Vergangenheit.

Solche Worte waren von den Vertretern der ersten DDR-Nachkriegsgeneration nicht zu hören. Die Befragten dieser Altersgruppe bezeichneten allgemein die Erinnerung an den Nationalsozialismus als wichtige Aufgabe für die Gesellschaft. Sie wünschten sich, dass von dieser Erinnerung eine dauerhafte Mahnung für die Gegenwart ausgehe. Zweifellos hatten sie das formelhafte "Nie wieder" verinnerlicht. Eine Identifikation mit dem untergegangenen sozialistischen Staat leiteten die Betreffenden aber nicht unbedingt aus dieser Haltung ab. Doch sie hatten, solange die DDR noch existierte, offenbar das beruhigende Gefühl, auf der "richtigen Seite" zu leben, in einem System, das eine Wiederkehr des Faschismus in jedem Fall verhindern würde.

Verkoppelung der Vergangenheiten

Seit 1990 geschieht in der öffentlichen Debatte häufig eine Verkoppelung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Diskussion um die DDR-Geschichte. Das ist nicht verwunderlich. Nach der Vereinigung gab es in den neuen Bundesländern nicht nur einen radikalen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Bewertung des Sozialismus in der DDR. Auch das starre, hermetische Bild von der NS-Vergangenheit, wie es bis dahin in KZ-Gedenkstätten, Museen, Schulbüchern und Publikationen gezeichnet worden war, stand nun zur Disposition. Schließlich war dieses Vergangenheitsbild, dessen Botschaft im Sozialismus mündete, ganz wesentlich vom Legitimationsinteresse der SED-Führung geprägt worden.

Die gleichzeitige und doppelte Revision hat zweifellos mit dazu geführt, dass sich heute beide Erinnerungsschichten berühren, überlagern, vermischen, sogar in Konkurrenz miteinander treten, zumal, wenn es um Orte geht, an denen nicht nur zur NS-Zeit Menschen inhaftiert und gequält wurden, sondern die nach 1945 in der SBZ oder später in der DDR ebenfalls zu diesem Zweck genutzt wurden. Dort muss eine erstarrte, eingeengte Erinnerung neu befragt und ein bisher tabuisierter Teil der Vergangenheit in die Geschichtsarbeit einbezogen werden. Hier wäre nicht nur an die bekannten Kontroversen um die KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen zu denken, die später als sowjetische Speziallager dienten. Ich denke auch an Haftorte wie das Zuchthaus Brandenburg, das Zuchthaus Bautzen, die Gedenkstätte Münchner Platz in Dresden. Überall dort sind heute Gedenkstättenmitarbeiter wie Besucher mit der zweifachen Vergangenheit dieser Orte konfrontiert und stehen vor der Aufgabe, angemessen damit umzugehen. Es geht immer wieder um die gleichen Fragen: Sollen beide Vergangenheiten in der Darstellung völlig voneinander getrennt werden? Oder können sie in Zusammenhang gebracht oder gar miteinander verglichen werden?

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 630

Zu Beginn der neunziger Jahre habe ich als Mitglied der Expertenkommission für die Neuorientierung der Brandenburgischen Gedenkstätten diesen Konflikt ganz nah miterlebt. Es gab damals heftige Kontroversen zwischen den Opferverbänden. Das Internationale Auschwitzkomitee veröffentlichte eine große Anzeige in der "Zeit", in der die Bemühungen, in den KZ-Gedenkstätten auch an die sowjetischen Speziallager zu erinnern, als Vorbereitung "eines neuen Auschwitz" verdammt wurden. Mit derart schweren Vorwürfen wollte man in letzter Minute eine Entscheidung blockieren.

Inzwischen hat sich die Situation verändert. Zwischen den Opferverbänden, die beide Vergangenheiten repräsentieren, existiert ein zerbrechlicher Konsens. Aber direkt und indirekt geht es in den Debatten immer wieder und weiterhin um eine "Konkurrenz der Opfer". Die überlebenden Häftlinge der Nachkriegszeit fühlen sich benachteiligt, zurückgesetzt, als Opfer zweiter Klasse behandelt. Häufig beklagen sie, dass ihre Leidensorte nicht angemessen bezeichnet und beachtet werden. Das Gedenken an nationalsozialistische Verfolgung und Holocaust, wie es sich in 40 Jahren in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik etabliert hat, ist für sie der Maßstab, an dem sie den Umgang mit ihrer Leidensgeschichte messen. Die Opfer des Stalinismus, wie sie sich selbst in ihrem Dachverband nennen, beklagen, dass das Bild der SBZ/DDR, wie es in der Öffentlichkeit gezeichnet wird, viel zu freundlich und harmlos erscheine und ihre Verfolgungsgeschichte häufig ausgespart bleibe. Auf der anderen Seite äußern ehemalige DDR-Bürger, wie schon erwähnt, dass das öffentliche Bild der DDR nur noch aus Repression und Terror bestehe. Ihr normales Alltagsleben komme darin nicht vor.

Eine Verkoppelung der Debatten um DDR und Nationalsozialismus finden wir zum Beispiel in der Kontroverse um die Ehrenbürgerwürde für den Kinderarzt Jussuf Ibrahim, die in den vergangenen Jahren in Jena geführt wurde. Als der Publizist aus Frankfurt/Main Fakten über die Beteiligung des in Jena hoch verehrten Mediziners am nationalsozialistischen Mord an behinderten Kindern enthüllte und die Aberkennung von dessen Ehrenbürgerwürde forderte, wiesen Bürgerinnen und Bürger - auch Abgeordnete des Jenaer Stadtparlaments und Mitglieder von Ärztevereinigungen der Region - das als Versuch der Delegitimierung der Leistungen der DDR-Medizin vehement zurück.

Wer sich mit der DDR-Karriere von Ibrahim und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschäftigt, stößt wiederum zwangsläufig auf die Aktivitäten der Staatssicherheit, die seinerzeit viele Informationen über die NS-Belastung der betreffenden Personen zusammentrug, gleichzeitig aber dafür sorgte, dass die Dokumente unter Verschluss blieben, um das Ansehen der DDR-Medizin in der Öffentlichkeit nicht zu beschädigen. Viele Jahrzehnte lang hatte sich das Schweigen der Obrigkeit mit der Verleugnung der Bürger/innen verbunden. Als nach "Wende" und Vereinigung dieses Schweigen endlich aufbrach, meinten die Angegriffenen, es gehe vor allem um ihre Identität und ihre Lebensleistung, die es zu verteidigen galt.

Ähnlich und doch anders mag es den Fürstenberger Bürgerinnen und Bürgern während des so genannten Supermarktskandals gegangen sein. Sie waren 1991 unvermittelt als "hässliche Deutsche" in die Schlagzeilen geraten, weil sie mit einer spontanen Demonstration den umstrittenen Bau eines Supermarkts nicht weit vom Eingang des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück hatten unterstützen wollen. Auch die Fürstenberger Bevölkerung hatte sich, ähnlich wie die Jenaer, im pauschalen Antifaschismus der DDR-Zeit eingerichtet. Einmal im Jahr waren sie pflichtgemäß zur Gedenkveranstaltung hinunter an den Schwedtsee gegangen. Es war bequem, dass die Verbindung zwischen Stadt und Lager weitgehend tabuisiert war und die Erinnerung an das KZ auf ein kleines Areal zwischen Lagermauer und See begrenzt blieb.

Als nach 1990 eine neue Geschichtskonzeption nach der tatsächlichen Ausdehnung des Frauenkonzentrationslagers fragte und die bis dahin allseits gebilligte Grenze zwischen historisch belastetem und alltäglich nutzbarem Raum in der Stadt zu verschieben oder sogar ganz aufzuheben drohte, wurden in diesem Konflikt auch tiefere Erinnerungsschichten aufgewirbelt. Alte Rechtfertigungsmuster und die bisher öffentlich nicht thematisierten eigenen Leiden und die erlebte Willkür am Ende des Krieges und in der frühen Nachkriegszeit verbanden sich in dieser Situation zu

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 631 einem widersprüchlichen und explosiven Gemisch.

Auf welche Weise vor allem im familiären Dialog in den ostdeutschen Bundesländern die Vertreter/ innen der Großelterngeneration nach so vielen Jahren des Schweigens ihre Leidens- und Verfolgungserfahrungen in der Nachkriegszeit gegen die Geschichte des Nationalsozialismus setzen oder sogar dagegen aufrechnen möchten, ist in einer Publikation nachzulesen, die unter dem Titel "Opa war kein Nazi" Befragungsergebnisse von Vertretern dreier Generationen vorstellt. In der Studie von Harald Welzer und seinen Mitarbeiter/innen wurden Angehörige dreier Generationen über die Erinnerungen an die NS-Vergangenheit und die Weitergabe von Erfahrungen an Kinder und Enkel befragt.[4] Die Autorin Sabine Moller, die vor allem Familien in den ostdeutschen Bundesländern befragte, machte dabei die Entdeckung, dass die Großelterngeneration, die den Nationalsozialismus noch erlebt hat, nach dem Ende der DDR moralisch an Boden gewonnen habe und entsprechenden Einfluss auf die Enkelgeneration ausübe. Die VertreterInnen der Kriegsgeneration bräuchten heute nur auf die "Stasi" verweisen, um kritische Fragen ihrer Töchter und Söhne nach ihrem damaligen Verhalten abzuwehren.

So versuchte beispielsweise Frau Haase, eine der Befragten, im Gespräch mit ihrer Tochter und ihrem Enkel die NS-Zeit als heile Welt darzustellen, die erst mit dem Krieg zerbrochen sei. Die Tochter gab zu verstehen, dass sie anderer Auffassung sei, worauf die Mutter erwiderte: "Was du in der DDR gelernt hast, das ist doch heute nicht mehr aktuell."[5] Die Tochter von Frau Haase konnte - anders als ihre Altersgenossinnen aus dem Westen - so schnell in die Defensive gedrängt werden, weil sie ja inzwischen weiß, dass sie selbst aus einer Diktatur kommt. Sie hat das DDR-System mitgetragen oder sich zumindest darin arrangiert.

Wie weiter?

Die Geschichte der SBZ/DDR ist ein schwieriges Feld für die Erinnerungsarbeit. Es ist eine Geschichte, die historisch noch frisch ist, die sehr fragmentiert erinnert und sehr kontrovers diskutiert wird. Für die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger steht im Rückblick vor allem der eigene Alltag im Vordergrund. Der Geschichtsdiskurs in der Öffentlichkeit wird aber bestimmt vom Thema Machtstrukturen, Repression und Verfolgung. Von diesem Thema handeln die bisher eingeweihten Gedenkstätten, die aufgestellten Gedenktafeln und Denkmäler: das ehemalige Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen, das Internierungslager und Zuchthaus Bautzen, das Mauermuseum oder das Denkmal für die Opfer des 17. Juni 1953. Es gibt in der vereinigten Bundesrepublik nur ein Museum der Alltagskultur der DDR und eigentlich keines, das sich allein mit der Geschichte der DDR beschäftigt (sieht man einmal vom Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig ab, bei dem die Opposition in der DDR im Mittelpunkt steht).

Die Erinnerungsarbeit ist auch deshalb heikel, da es aufgrund eines doppelten Paradigmenwechsels in der Praxis häufig eine enge Verkoppelung der Erinnerung an die NS-Vergangenheit und an die frühe Nachkriegzeit gibt. Auf diese Weise verbinden sich gegenwärtig die Revision der antifaschistischen Erinnerungskultur und die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte auf der Ebene der Familienerzählung wie in der öffentlichen Erinnerungsarbeit zu einem widersprüchlichen Komplex, der unbedingt ernst genommen werden muss.

Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 40-41/2003) - Keine gemeinsame Erinnerung (http://www. bpb.de/apuz/27385/keine-gemeinsame-erinnerung)

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 632

Fußnoten

1. Es handelt sich um ein Projekt des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung Recklinghausen, in dessen Verlauf Mitte der neunziger Jahre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ost und West zu ihrem Geschichtsbewusstsein befragt wurden, sowie um Interviews mit Bürgerinnen und Bürgern der brandenburgischen Kleinstadt Fürstenberg Ende der neunziger Jahre über ihre Erinnerungen an das nahe gelegene Konzentrationslager Ravensbrück. Einbezogen wurde auch eine Untersuchung der Universität Hannover über die generationelle Übermittlung von Geschichte in Ost und West. Vgl. Bernd Faulenbach/Annette Leo/Klaus Weberskirch, Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in Ost- und Westdeutschland, Essen 2000; Annette Leo, "Das ist so'n zweischneidiges Schwert hier unser KZ (...)". Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in der lokalen Erinnerung, in: Dachauer Hefte, Nr. 17 (2001), S. 3ff; Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschugnall (Hrsg.), Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, München 2002. 2. Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik. Bd. I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1984, S. 48ff. 3. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 22.1. 1998. 4. Vgl. H. Welzer u.a. (Anm. 1). 5. Sabine Moller, "Du und Dein DDR-Geschichtsbild!". Der neue Blick auf die Familiengeschichte im Nationalsozialismus nach dem Ende der DDR, in: Horch und Guck, Nr. 40 (2002) 4, S. 26.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 633

Regieren nach Auschwitz

Von Gunter Hofmann 22.4.2008

Gunter Hofmann, Jahrgang 1942, leitet das Berliner Büro der "ZEIT".

Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel: Jeder Kanzler musste sich dem deutschen Verbrechen stellen. Am 18. März sprach die Bundeskanzlerin vor der Knesset. Dort hob sie hervor, dass für sie als deutsche Kanzlerin Israels Sicherheit "niemals verhandelbar" sei.

Vielleicht geht es gar nicht anders, vielleicht muss jeder deutsche Kanzler, auch jeder Präsident sich das Verhältnis zu Israel, zu Auschwitz und der Vergangenheit neu erobern. Bei dem Gedanken jedenfalls ertappte man sich, als Angela Merkel am 18. März 2008 vor dem israelischen Parlament, der Knesset, sprach. Als Ouvertüre war es gedacht, ganz ausdrücklich, dass die Deutschen noch vor Beginn der offiziellen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer "immerwährenden Verantwortung für die moralische Katastrophe in der deutschen Geschichte" ablegen. Beispiellos nannte sie den Zivilisationsbruch durch die Shoah. Mehr noch: Israels Sicherheit sei für sie als deutsche Kanzlerin "niemals verhandelbar", und wenn das so sei, "dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben", die Deutschen garantierten also das Existenzrecht. In Israel schließlich wiederholte sie auch ihr Wort, die Verantwortung, die sich aus der unhintergehbaren Vergangenheit ableite, gehöre zur deutschen "Staatsraison".

Zuvor, auch daran muss man erinnern, hatten Teile des israelischen und deutschen Kabinetts gemeinsam getagt. Das sollte auf einer gewissen Ebene "Normalität" signalisieren. Häufig war daraufhin von einem "Neuanfang" die Rede, beide Länder blickten nun gemeinsam in die Zukunft, wenn auch auf der Basis ihrer "einzigartigen" Beziehungen. Das alles soll hier auch gar nicht in Frage gestellt werden. Aber selbst hocherfreute israelische Kommentatoren erinnerten ausdrücklich daran, dass die deutsche Regierungschefin sich allein schon auf Grund ihrer Biographie das Verhältnis zu Israel noch einmal ganz grundsätzlich erschließe. Die ersten 35 Jahre ihres Lebens, so hatte sie tatsächlich in der Knesset selbst formuliert, habe sie in einem Teil Deutschlands – der DDR – verbracht, die den Nationalsozialismus als westdeutsches Problem betrachtete. Und das mag denn auch eines der Motive gewesen sein, die sie bewegten, mit einem Besuch in dem Kibbbuz Sde Boker mit dem Grab David Ben Gurions ausdrücklich zurückzukehren zu den Anfängen dieser Beziehungen. Denn tatsächlich haben der erste Premierminister Israels und der erste deutsche Kanzler 'Konrad Adenauer', "mit Vorsicht und Weitsicht" den Grundstein für die Beziehungen beider Staaten gelegt.

Die Kabinettssitzung also, tatsächlich ein "Wunder" angesichts der Vergangenheit und keineswegs normal, das Wort von der "Staatsraison", die Rede vor dem Parlament in deutscher Sprache – vieles war tatsächlich neu. Aber neu erfunden werden damit die Beziehungen zu Israel nun nicht. Und - natürlich haben seit Adenauers und Ben Gurions Zeiten auch andere Kanzler und Präsidenten in die Zukunft geblickt. Viele, Richard von Weizsäcker, Johannes Rau seien nur stellvertretend genannt, genossen sowohl wegen ihres selbstkritischen Verhältnisses zur Vergangenheit als auch wegen des zukunftsoffenen Blickes enormen Respekt in Israel. Projekte, Wirtschaftsbeziehungen, Wissenschaftlerprogramme, Kulturaustausch, alles das ist beständig intensiviert und verbessert worden, kein Verantwortlicher in Bonn und später in Berlin wollte sich nachsagen lassen, etwas versäumt zu haben. Und jeder, soviel kann man sagen, bemühte sich um den richtigen Ton.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 634

Angela Merkel entzieht das Verhältnis sozusagen jeder Normalitäts-Versuchung, und auf dieser Ebene des Außerordentlichen möchte sie dann die praktische Politik ansiedeln. Vermutlich gehört zu dem "Einzigartigen", von dem sie sprach, also gerade, dass jeder, der in der Bundesrepublik Verantwortung trägt, seine Definition des Verhältnisses, seine Sicht auf das Geschehene, seine Schlussfolgerungen für morgen selbst definieren muss. Zu groß war die Dimension des "Zivilisationsbruchs", um einfach business as usual zu machen, nichts wird normal. Jeder laboriert daran herum. Ob Deutschland die Garantieerklärung für Israels Sicherheit, die Angela Merkel abgab, einlösen könnte "in der Stunde der Bewährung", mit welchen Mitteln, ob das alles freie Hand für die Politiker in Tel Aviv bedeutet gegenüber Teheran oder der Hamas, und ob sie hinter verschlossenen Türen anders spricht als öffentlich – das alles ist eine Sache für sich. Dass sie aber mit dem Wort von der "Staatsraison" jedoch nach innen eine Verpflichtung formulierte, auch in künftigen Generationen das Bewusstsein für die Vergangenheit wachzuhalten – dazu gibt es in jedem Fall allen Grund. Das ist das neue große Problem, neben den für Israel schlicht existenziellen Dauerproblemen, das in ihre Amtszeit fällt.

Herumlaboriert an der Frage, wie er sich – und damit die Bundesrepublik – positionieren könne in diesem einzigartigen Komplex namens "Israel/Deutschland", hat auch Präsident Horst Köhler. Am 27. Januar 2005, zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, hätte er nur zu gern das Wort ergriffen beim gemeinsamen Erinnern an der Gedenkstätte. Wie die Präsidenten Israels, Polens und Russlands auch. Auch das drückte einen heimlichen Normalitätswunsch aus, unbewusst vielleicht gar. Es kam nicht dazu, es konnte nicht dazu kommen. Die Begründung hat letztlich Angela Merkel in ihrer Knesset- Rede geliefert, mit der sie – in der Tradition der Rede von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 – auf der Unvergänglichkeit der Vergangenheit, auf der Nicht-Normalität des Verhältnisses insistierte, trotz der gemeinsamen Kabinettssitzung, wie sie auch Deutsche und Franzosen gern pflegen.

Nein, es gibt Unterschiede, die sich nicht verwischen lassen. Auschwitz, Oswiecim nahe Krakau, ist der Ort des "Einmaligen", und er ist zugleich die Chiffre geworden, die in der Erinnerung vieles umschließt: den Zivilisationsbruch, das Menschheitsverbrechen an Europas Juden, das von Deutschland ausging, das große Sterben in Europa. Wie nichts anderes steht "Auschwitz" auch für die Deutschen als Täter und damit quer zu einem Zeitgeist, in dem sie als Opfer aufscheinen, bei der Flucht wie in den Brandnächten. Weshalb aber wurde diese Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 ein solcher Eckpfeiler für das Selbstverständnis der Republik? Sie kreiste, weit grundsätzlicher als die vorsichtige, tastende, politische und sehr geradlinige Rede der Kanzlerin im März 2008 um das lange gemiedene Thema "Auschwitz". In der Luft lag damals ein Hauch von Geschichts-Revisionismus, und der Wunsch mancher Historiker, aus dem Schatten der Vergangenheit herauszutreten. Was Weizsäckers Worte so bemerkenswert machte, war nicht nur seine Einsicht in die Einmaligkeit, "beispiellos in der Geschichte", was er sozusagen stellvertretend für uns alle verbindlich machte. Erstmals hob ein Präsident hervor, diese Erbschaft sei unvergänglich und als Erinnerung in der deutschen Demokratie verankert. Das wählte er als Ausdruck der "Staatsraison". Damals wurde Auschwitz konstitutiv für das Selbstverständnis: Erinnern, hieß es lange, mache schuldbeladen, jetzt hieß es, es mache frei.

Die Unwahrhaftigkeit des DDR-Antifaschismus ist eine Sache, den Staat Israel habe die DDR bis kurz vor ihrem Ende nicht einmal anerkannt, rief Angela Merkel in Tel Aviv in Erinnerung, aber um "Wahrheit" ging es auch dem Patriarchen Adenauer nicht, als dessen "Erbe" die Kanzlerin wiederum mit dem Kibbuz-Besuch hatte anknüpfen wollen. Man erinnere sich: Schon 1955 drängte Adenauer auf "Normalisierung", was quer stand zur "Einmaligkeit". Normalität hieß: Souveränität und Freiheit und Ende der Besatzung! Gerhard Schröder, Vorgänger Merkels und siebter Kanzler bis zum Herbst 2005, benutzte das Wort seltener als der Alte, aber ja, irgendwie praktizierte er diese "Normalisierung". Das "Wir sind wieder wer!" der frühen fünfziger Jahre kehrte während seiner Amtszeit in anderer Variante wieder: Schröder sprach davon, "deutsche Interessen" wahrzunehmen wie andere auch. Aber das Lamento Ludwig Erhards, der Adenauer als Kanzler nachgefolgt war, die Deutschen dürften nicht ewig

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 635 mit der "Erbsünde" leben, das hörte man von ihm nicht.

Fehlerfrei wandelte auch Schröder keineswegs über dieses verminte Feld. Der "deutsche Weg"! Was mag ihn geritten haben, als er auf die Idee kam, mit Martin Walser am 8. Mai 2002 zu disputieren? Das lud zu Missverständissen förmlich ein, als definiere er "Normalität" wie dieser - als obsessiven Traum einer geschichtsträchtigen, schicksalhaften Nation, die nur zu sich kommt, wenn ihre Schuld endlich getilgt wird. Man beschönigt nichts, wenn man sagt: Schröder war kein Geschichtslehrer. Wohl aber stand er im Schatten des Weizsäcker-Konsenses. Er wollte mit Walser reden, so wie er auch das Schloss in Berlin wieder aufbauen wollte. Aber er ließ eben auch das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins realisieren. Dieser andere Schröder kam erleichtert um Mitternacht am 1. August 2004 in sein Warschauer Hotel. Einen langen Jahrestag der Erinnerung an den Aufstand vor 60 Jahren gegen die deutschen Besatzer hatte er hinter sich. Blass war er, abgekämpft und unendlich froh, "nichts Falsches gesagt" zu haben. Die Leute auf der Straße - freundlich. "Es hätte ja auch ganz anders kommen können, und ich hätte es auch verstanden." Und dann hat ihm auch noch einer der greisen Veteranen des Aufstands seine Ehrenmedaille geschenkt! Weshalb die Vergangenheit nicht vergeht, was einzigartig an den Beziehungen, was einmalig an dem Zivilisationsbruch ist, das hat auch er in erst im Amt mit dem verborgenen Normalitätswunsch verknüpfen müssen.

Ähnlich galt das für seinen grünen "Vize". Aus "Auschwitz" hatte Schröders Außenminister Joschka Fischer lange abgeleitet, nie wieder dürften hierzulande Massenvernichtungswaffen stationiert werden und nie wieder dürfe "Krieg von deutschem Boden" ausgehen. Fast könnte man das den deutschen Nachkriegskonsens nennen. Als Minister, der die Intervention im Kosovo mitverantwortete, deutete Fischer den historischen Auftrag vollmundig um: Auschwitz heiße, nie wieder dürften wir Deutsche stumm zusehen!

Das Kosovo war nicht Auschwitz, Fischer hat die Analogie in seinem Erinnerungs-Buch längst kassiert. Aber richtig bleibt gleichwohl, dass sich keine bequeme Handlungsanleitung mehr aus der Vergangenheit ableiten lässt. Verpflichtet die "Verantwortung" für die Vergangenheit, die Haltung der israelischen Regierung zum Iran bedingungslos zu übernehmen? Das wird auch Angela Merkel kaum so sagen wollen. Fischer seinerzeit suchte weiter, was das praktisch bedeutet, die Verantwortung für die Vergangenheit nahm er ja nicht weniger ernst. So war es zu dem kleinen falschen Zungenschlag, der Auschwitz-Analogie, überhaupt erst gekommen. Wir Deutsche, zumal die Linke, predigte er, müssten begreifen, um was wir uns mit dem Mord an den Juden selbst gebracht hätten. Wenn das verstanden sei, könne es einen unverdächtigen "Patriotismus" geben.

Kam die Sehnsucht nach Normalität damals von links? Gerade seine Generation hatte sich lange gerühmt, die Jahrzehnte des "kommunikativen Beschweigens" beendet zu haben. Was unterschied Fischers Befund von dem des ersten Protests, 1968, mit dem die junge Generation seinerzeit bei den Eltern Auskunft über ihren Anteil am Geschehenen einforderte? Vielleicht nichts, aber die Welt spiegelte den Deutschen, gerade auch ihrem Außenminister, gerade zu Zeiten der rot/grünen Koalition zurück: In vielerlei Hinsicht seid ihr eine Republik "wie jede andere" auch. Normal! Mit eurer Politik der Zurückhaltung, nie wieder!, könnt ihr euch nicht daran vorbeimogeln, dass ihr praktisch Verantwortung übernehmen müsst! Ja, im Zweifel auch mit deutschen Soldaten, die nicht mehr nur defensiv eingesetzt werden, sondern sich auch "out of area", außerhalb jeder Nato-Zone, einmischen, wenn es geboten erscheint! Suchte Fischer nun deshalb nach der "Nation"? Predigte er der "Linken" deshalb, wie sie "Patriotismus" erlernen und "normal" werden könne? Gab es ein Verhältnis zur Vergangenheit, das eint, ohne einzulullen?

Die Kriege am Balkan, das Morden in Srebrenica, dann der 11. September in New York, die Intervention in Afghanistan und im Irak – in dieser neuen Welt musste die Generation sich bewegen, die geglaubt hatte, ihr waches Verhältnis zur Vergangenheit Ende der 60er Jahre könne ihr vielleicht erlauben, ein bisschen entspannter damit umzugehen. Ein schlechtes Gewissen wegen zu viel Verdrängung musste man ja nicht haben, im Gegenteil. Auch Fischer jedenfalls musste seinerzeit seine Definition dafür finden, was sich ableite aus der Vergangenheit, was sich gebiete und was sich verbiete. Schwierig

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 636 genug – denn eine Militärintervention am Kosovo war nicht gleichzusetzen mit neuem deutschem Militarismus, und das deutsche "Nein" zum Irak-Krieg war nicht ein Ausdruck von "Pazifismus". Viel schwieriger war es geworden als in den Jahren der Übersichtlichkeit bis 1989, die Vergangenheit als Maßstab zur Orientierung und Handlungsanleitung heranzuholen.

Lange genug zeigten sich in der Bundesrepublik die politischen Eliten unsicher, oft auch unanständig in Sachen Vergangenheit. Nicht nur Franz Josef Strauß (CSU) predigte, wir sollten unser Haupt nicht dauernd mit Asche bestreuen. Zum Glück löste das viel produktiven Widerspruch aus. Die Republik wurde konfliktträchtiger, aufgeweckter auch wegen der Vergangenheit. Konrad Adenauer, der "Vater" der deutsch-israelischen Wiederanknüpfung nach der Geburt des israelischen Staates, war gezwungen, Farbe zu bekennen, er musste fragen, wie "Wiedergutmachung" zumal gegenüber Israel überhaupt möglich sei. Zugleich aber sicherte er sich Mehrheiten: Schlussstrich, aber sofort! Daran hat Angela Merkel verständlicherweise nicht erinnert. Dass der Patriarch gegen Hitler stand, machte ihn unbefangener. So wurden die Volksgenossen umgewidmet in Bürger. Schon in seiner zweiten Antrittsrede, 1953, gab es keine "Ermordeten" mehr. Vom "gesunden nationalen Selbstbewusstsein" schwärmte bereits der Nachfolger Ludwig Erhard, 1963, die Zigarre qualmte, und die Auschwitz- Prozesse in Frankfurt begannen. Der Kanzler vernebelte, die Richter leisteten den größten Beitrag zur Aufklärung überhaupt. Zweifel an der "Einmaligkeit" konnte es fortan nicht mehr geben.

Es kam zur Kanzlerschaft Kiesingers (1966) und dann Brandts (1969), die auf ihre Weise herausragen: Negativ die eine, positiv die andere. Mit Kiesinger kehrten die Deutschen zu einem Normalisierungsverständnis zurück, als hätte es Auschwitz nie gegeben. Als Beamter im Auswärtigen Amt hatte er Berichte über massenhafte Judenmorde "Gräuelpropaganda" genannt. Unfassbar. Kein Wort der Scham fiel. Ihn traf die Ohrfeige Beate Klarsfelds, der Deutschen aus Paris, der Vater ihres Mannes ermordet in Auschwitz.

Brandt verkörperte die andere Unmöglichkeit. Sollten die Deutschen ihren Normalitätsbegriff so weit revidiert haben, dass ein Exilant, Soldat gegen Hitler, Kanzler werden konnte? Aus israelischer Warte blieben bis zu Angela Merkel wohl alle Kanzler, auch Brandt, ambivalente Figuren, gemessen am "Lackmustest", dem Verhältnis zu Israel in kritischen Lagen. Aus deutscher Sicht freilich erschien Brandt als der Antinazi par excellence! Still hatte er sich über die Deutschen gewundert, die nach dem Krieg wortlos in die Gräber blickten, für die sie verantwortlich waren. Den "überlebenden deutschen Demokraten" fehlte die Kraft zum Neuanfang, das war ihm klar. Er wollte nicht bitter darüber werden, war es auch nicht - nur oft melancholisch. Er schuf Fakten. "Meine Regierung nimmt die Ergebnisse der Geschichte an", kommentierte er den Warschauer Vertrag. Wortlos kniete er vor dem Ghetto- Mahnmal in Warschau.

Brandts Freunde, voran Günter Grass, hielten auch nach 1989 daran fest: "Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen Einheitsstaat aus." Die Teilung als Normalität, als Strafe für Auschwitz! Noch so große Schuld einer Nation könne nicht "durch eine zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden", erwiderte Brandt. Die Teilung wegen Auschwitz für "Normalität" zu halten galt ihm nicht als Sünde, so wenig wie ihm Pazifismus ehrenrührig erschien. Er aber blieb bei seinem "nationalen" Lebenstraum, der ihn gegen Hitler aufgebracht hatte. Für sich hatte Brandt einen unschuldigen, "linken Patriotismus" gefunden, den Joschka Fischer gerade sucht.

Brandt wollte nicht anklagen. , Leutnant im Krieg, taugte nicht zum Ankläger. Konsequent hat er beteuert, von dem Ausmaß der Verbrechen nichts gewusst zu haben. Dennoch: Geschichtsvergessen war dieser Kanzler gewiss nicht. Auschwitz ist für ihn unvergänglich. Das werde noch in zweitausend Jahren so sein, pflegt er zu sagen. Und das ist keine Floskel, nicht bei ihm. Wie man in der Biografie Hartmut Soells lernen kann, ist eine Wunde aus dieser Erfahrung des großen Falschen in seinem Leben geblieben. Rigoros zog er politische Konsequenzen und fand seine Maßstäbe. Es bleibt aber ein unaufgelöster Rest, scheinbar eine Randfrage, die nichts von Schmidts

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 637

Autorität nimmt: Die Sache mit dem jüdischen Großvater. Erst 1984 machte er das bekannt, damals war er nicht mehr Kanzler.

Sein Biograf begründet das lange Schweigen einfühlsam damit, Schmidt, mit dem Jüdischen unvertraut, sei diese Herkunft 1933 offenbart worden, also zu einer Zeit, "in der das Judesein zum Inbegriff des Negativen geworden war." Hartmut Soell fragt: "Musste er es nicht schon vor der Soldatenzeit überspielen, in die Tiefen seiner Psyche abdrängen?" Zweifel allerdings meldet der Autor an, wenn Schmidt in seinen Kindheitserinnerungen (1992) schreibt, seit dem Gespräch mit seiner Mutter über den jüdischen Großvater "war für mich entschieden, dass ich innerlich kein Nazi mehr werden konnte". "Äußerlich begeisterter Hitler-Junge, innerlich im Abseits?", fragt Soell. Schmidts ausdrücklicher Verzicht auf Geschichtspolitik, sein Vorbehalt gegenüber allem Utopischen - vermutlich ist das auch eine Antwort auf Idiosynkrasien in dem sehr deutschen Lebenslauf, der mindestens an einer Stelle nicht typisch war.

Schlichte Vergangenheitspolitik hingegen blieb dem Kanzler der Ungenauigkeit, Helmut Kohl (1982), vorbehalten. Die Debatte über das deutsche Selbstverständnis beherrschte die Köpfe in den achtziger Jahren, als wäre da vor der Einheit, die keiner vorausahnte, noch rasch etwas zu klären gewesen. Kohl ließ kaum einen Fehler aus. Ohne den Pazifismus hätte es Auschwitz nicht gegeben, funkte Heiner Geißler 1983 dazwischen. Kohl winkte das durch, wichtiger war ihm: Die Deutschen sollten bestätigt bekommen, dass sie gelernt hatten. François Mitterrand durfte es in Verdun, Ronald Reagan musste es per Handschlag über den SS-Gräbern in Bitburg attestieren. Kohl ließ den ratlosen Reagan um keinen Preis aus der Pflicht. Die zwölf Hitler-Jahre relativierten sich im diffusen Vaterlandsleuchten wie von allein. Wieder eine neue Unbefangenheit, "Wir sind wieder wer" à la Kohl. Mit keinem Wort nahm Kohl Stellung zum ideenpolitischen Skandal, den Ernst Nolte ausgelöst hatte mit seinem Versuch, die Deutschen von der Wahrheit Auschwitz zu befreien. Auch Weizsäckers Rede begriff er nicht als Chance – und als Rettung vor den Missverständnissen, denen er sich selber ausgesetzt hatte. Erst als ihm "die Geschichte" 1989 die Definitionsarbeit abnahm, gab Kohl Ruhe. Das Ende der Nachkriegszeit, das Adenauer als Ausweis der Normalisierung beschwor, nun war es da. Der Sinnstifter nahm den Hut, der Kanzler blieb und musste amerikanische Kommentatoren lesen, die "Auschwitz im Wüstensand!" schrieben, als eine deutsche Giftgasfabrik in Libyen entdeckt wurde. Die Paulskirche applaudierte Walser, Bubis nicht. Deutschland war respektiert, nichts war im Zweifel vergangen.

Könnte es sein, dass die Ära des "Beschweigens" wie auch die des "Sinnstiftens" zu Ende ist? Gelernt hat die Republik in 60 Jahren, dass Auschwitz konstitutiv bleibt, aber auf andere Weise: weil die Republik im Streit um den Zivilisationsbruch ihre eigene Geschichte gewann. Zu vermelden ist also, ohne Beschönigung, durchaus ein Erfolg. Auschwitz wird zwar "objektiv" historisiert, allein schon der Zeitläufte wegen. Im "kulturellen Gedächtnis" jedoch bleibt es gespeichert. Dafür steht nun Eisenmans Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins. Der Grundgedanke ist auch hier: Erinnern macht frei. "Historisieren" wird auch das Feld mit den Stelen, was nicht zwangsläufig relativieren heißt. Verknüpft mit dem "Ort der Erinnerung", wird Erinnern konkret. Für alle, die es wollen. Auch ein Grundmuster als Beleg könnte bleiben: Das Postnationale, weil es ein Zurück in die purgierte, vom Vergangenheitsballast befreite Nation nicht gibt.

Bleiben damit die eigenen Kinder ewig schuldbeladen im Schatten? Immer schon war diese Metapher falsch, sie wird noch falscher. Auschwitz rückt zeitlich weg, aber die Jungen können es auch näher an sich herankommen lassen, weil sie unbefangener sind. Sie können hören und lesen: Amos Oz beispielsweise, der in seinen Lebenserinnerungen schreibt, die Juden seien einmal das Herz Europas gewesen. Als "Europäer" verstanden zuallererst sie sich. Sie waren es auch. Das ist vergangen und bleibt.

Irgendwann vielleicht kann auch einmal ein deutscher Präsident zu einem Erinnerungstag x reden, wenn er unbedingt will und das für "Normalisierung" hält; und wenn die "Stunde der Bewährung", von der Angela Merkel sprach, Israel und seinen Freunden erspart bleibt. Bloß, was könnten verantwortliche Repräsentanten aus Berlin jemals anderes sagen an diesem deutschen Tatort in Polen, außer, dass

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 638

Auschwitz einfach da ist. Geschehen. Einmalig, letztlich unverstehbar.

bpb.de Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 04.10.2021) 639

Redaktion

8.11.2011

Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2005-2011 Verantwortlich gemäß § 18 Medienstaatsvertrag (MStV): Thorsten Schilling

Konzept und Redaktion Matthias Jung (verantwortlich, bpb) Tatjana Brode Tabea Reissenberger Sebastian Deterding

Online-Dossier http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialismus/

Impressum

Diensteanbieter gemäß § 5 Telemediengesetz (TMG) Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn [email protected]

bpb.de